Geschichte Henri Guisan als Kulturträger

General Henri Guisan lebt nach wie vor in den Herzen vieler Schweizerinnen und Schweizer. Die Wahl dieser Ausnahmepersönlichkeit zum «Romand du siècle» durch die klare Mehrheit von 20000 welschen Fernsehzuschauern im Jahr 2011war kein Zufall.

Jürg Stüssi-Lauterburg te vielmehr so etwas wie die Seele des hätte sich sein Bild nicht halten können. Landes und nahm eine für die Schweiz Dieses Bild wurde von ihm selbst und Die Schweiz blieb 1939–1945 vom vollkommen aussergewöhnliche Stel- von seiner Umgebung auch sorgfältig ge- Krieg verschont. Kein Zweifel: Die Er - lung ein. pflegt. Zum Beispiel durch eine Reihe von innerung an diese Ausnahmeleistung öffentlichenVorträgen, die einen robusten schwingt nach. Verteidigung durch sittliche Kraft gemeinsamen Kern hatten: «Unser Volk 1 und materielle Gewalt und seine Armee» . Die ersten Sätze die- ses Vortrages lauteten jeweils: Die drei strategischen Phasen Dass Guisan eine solche Stellung er- «EinVolk kann sich auf zwei Arten ver- 1939–1945 reichen und sich seine Reputation halten teidigen: durch die in seinem Patriotismus Guisan prägte die drei strategischen konnte, hängt zusammen mit seiner Rol- liegende sittliche Kraft und durch die in sei- Phasen: Zuerst ordnete er die Armeestel- le als Kulturträger. Der Oberbefehlshaber ner Armee dargestellte materielle Gewalt. lung an. Sie reichte von Sargans über Zü- Die aus diesem Volke hervorgegangene Ar- rich bis aufs Plateau von Gempen (SO/ mee ist selbst wieder von zweiWerten, dem BL). Die Idee war, gemeinsam mit Frank- «Das älteste Soldatenvolk moralischen und materiellen, bedingt.» Dem reich, der letzten grossen Demokratie un- Anfang entsprach der Schluss: «Das älteste ter unseren Nachbarn, gegen einen An- Europas darf weder Soldatenvolk Europas darf weder die Schwä- griff der Nazis kämpfen zu können. Frank- die Schwäche noch die che noch die Furcht kennen! Seine Würde reich brach jedoch 1940 zusammen. Nun verbietet es ihm! Leben ist nichts, aber leben ging es darum, von der Grenze weg zu Furcht kennen! Seine Würde für sein Land ist alles.» kämpfen, vor allem aber Gotthard, Lötsch- verbietet es ihm! berg und Simplon so lange wie immer Glaubwürdigkeit des Generals möglich zu halten. Als ultima ratio sollten Leben ist nichts, aber leben als Grunderfordernis die Alpentransversalen zerstört werden. für sein Land ist alles.» Dieser Entschluss verhinderte auf Mona- Nicht Sieg, sondern Würde: Die bedeu- te hinaus, dass die Nazis über die Schweiz Guisan tungsschwere Priorität setzte, um nicht den italienischen Faschisten Kohle und nur wahr zu sein, sondern auch als wahr Stahl zukommen lassen konnten. zu gelten, beim Redner Glaubwürdigkeit Vier Jahre nach Guisans Entschluss, die verkörperte in den Augen eines grossen voraus. Glaubwürdigkeit war mit Indis- Armee ins Réduit zurück zu ziehen, lan- Teils der Schweizerinnen und Schweizer kretionen aus dem Umfeld unter keinen deten die Alliierten im Juni 1944 auf dem Werte und Lebensart. Der Waadtländer europäischen Festland. Da schickte der wurde als echt wahrgenommen, sonst General, in der dritten strategischen Pha- Guisan: der Mensch. Bild: Arte se, das Gros der Armee aus dem Réduit hinaus an die Grenze, um Neutralitätsver- letzungen zu verhindern. Den drei Pha- sen entsprachen zeitlich ungefähr Guisans Hauptquartiere Spiez und Gümligen (1. Phase), (2.Phase) und Jegens- torf (3. Phase).

Guisan als Ausnahmegestalt All das gehört zur grossen Geschichte des Landes. Guisan besteht vollauf neben den anderen drei Generälen des Bun- desstaates, Dufour, Herzog und Wille. Allein, Guisan war nicht bloss, nicht ein- mal in erster Linie der kluge strategische Entscheidungsträger. Guisan verkörper-

Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 06/2019 35 an der Spitze gebildet. Für Generalstabs- chef Jakob Labhart wurde das abgeschaff- te 4. Armeekorps wiedererrichtet und an die Spitze des Generalstabs gleichzeitig der überaus tüchtige Jakob Huber be- rufen.

Persönlicher Stab: Handlungsfreiheit wahren Der Persönliche Stab erlaubte es Guisan nicht nur, mit der nötigen Distanz und mit der nicht weniger wichtigen Stabsun- terstützung zu beurteilen, was vom Gene- ralstab kam. Er konnte so seine eigenen Entschlüsse treffen und auch das eigene Geheimnis gegen Indiskretionen in einer selbst für die damaligen Verhältnisse er- staunlichen Weise wahren. So erfuhr Lab- hart, dem Guisan dafür nicht genügend traute, nichts von den Stabsabsprachen mit den Franzosen für den Fall eines deut- schen Angriffs auf die Schweiz. Diese Ab- Guisan: der Oberbefehlshaber, sprachen waren im Winter 1939/1940 30. August 1939. Bild: SwissInfo Jakob Labhart, zu bringen. Hans Bracher, eine unerlässliche, politisch zugleich pro- Verbindungsoffizier zwischen dem Gene- blematische Eventualplanung. Noch wich- ral und dem Bundesrat, schildert seine ei- tiger war, dass sich der General im Ok- Umständen vereinbar, sondern setzte eine genen Empfehlungen an den General mit tober 1939, dem Geist der Absprachen zuverlässige nächste Umgebung des obers- der ihm eigenen Schärfe unterVerzicht auf entsprechend, für eine glaubhafte Ver- ten Chefs der Armee voraus. alle Bescheidenheit: teidigung in der Armeestellung Sargans- Guisan war an seiner Glaubwürdigkeit «Ich packe gründlich aus und schildere Zürich-Villigen AG-Plateau von Gempen genug gelegen, dass er aktiv den Übergang ihm das ganze Malaise, die unbezähmba- entschliessen konnte. vollzog aus einer nicht kongenialen Um- ren Aspirationen von Labhart, X und Y. gebung in eine kongeniale. Bei seiner Wahl Wie sich die Herren gegenseitig bekämpfen, Guisan erklärt das Réduit zum General am 30. August 1939 stand um dann doch wieder gemeinsame Front ge- dem US-Militärattaché weder ein Kommandoposten bereit noch existierten Operationspläne. Guisan be- Dieselben Vorteile – freier Entschluss gab sich in sein Haus in am Léman. «Die richtigen Leute um und gewahrtes Geheimnis – bot der Per- Zur Bundesratssitzung vom 1.September sönliche Stab auch später, nach dem Zu- 1939 brachte ihn ein eigens dafür aus - sich versammeln. sammenbruch Frankreichs. Guisans Re- geschicktes Flugzeug von -Blé - Mit Vertrauenswürdigen aktion auf die neue Lage – Réduit und cherette nach -Belp.2 Danach basier- Rütlirapport – gab der Armee einen neu- te der Oberbefehlshaber der Armee für verkehren. Mit Menschen, en Auftrag und dem einen kurzen Augen- die nächsten drei Tage offensichtlich auf die keinen anderen Ehrgeiz blick zaudernden Land neue Hoffnung dem Hotel Bellevue. Am Abend des Sonn- auf Selbstbehauptung. Das genügte nicht: tags, 3. September nahm der General vor haben, als den General Unsere Freunde in den verbleibenden De- dem Bundeshaus den Vorbeimarsch der in die Lage zu versetzen, mokratien sollten wissen, was wir taten. 3.Division ab. Montag, 4.September wur- Der General empfing, wohl im Schloss de der Umzug nach Spiez, ins Haus Olvi- das Richtige zu tun.» Gümligen, wo er seit dem 17. Oktober do vorbereitet. In Spiez hatte Guisan sein 1939 sein Hauptquartier hatte, den ame- Hauptquartier vom 5. September bis zum rikanischen Militärattaché Barnwell Rhett 17. Oktober 1939. gen den General zu machen. Um unabhän- Legge und gab ihm in – mindestens – giger gegen Intrigen zu sein und nach seiner einem Vieraugengespräch einen detail- Bemühung um eine kongeniale Auffassung die Armee zu leiten, empfehle ich lierten Abriss der Réduitstrategie.4 Dieses Umgebung dem General selbst einen kleinen Stab zu bil- Gespräch war so geheim, dass Legge, ein den, mit Logoz, Gonard oder einem anderen Veteran des Ersten Weltkriegs, die ent- Der Wegzug von Bern bezweckte pri- tüchtigem Gst Of als hauptsächlichem Ge- sprechende Depesche am amerikanischen mär, Guisan aus dem unmittelbaren Ein- hilfen.»3 Wenn auch Bracher ohne Zwei- Gesandten in Bern und am State Depar- flussbereich von als deutschfreundlich gel- fel die Selbständigkeit Guisans unter- tement in Washington vorbei direkt ans tenden und jedenfalls nicht kongenialen schätzte, so wurde doch dieser Persönli- War Office gelangen liess. Von diesem Offizieren, allen voran Generalstabschef che Stab des Generals mit Samuel Gonard wichtigen Treffen sind in den Schweizer

36 Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 06/2019 Geschichte

Papieren nur sehr geringe Spuren erhal- beachten, alles vertraute man nicht jedem ren Ehrgeiz haben, als den General in die ten. Wir kennen die Sache dank den ame- an.Was später zum Grundsatz «Kenntnis Lage zu versetzen, mutig das Richtige tun, rikanischen Archiven. nur wenn nötig» wurde, wurde von Gui- elegant das Notwendige zu sagen. san mit grösster Konsequenz und in fili- Das mögen auch andere Kommandan- Menschenkenntnis graner Detailierung beachtet. ten durch die Militärgeschichte hindurch und Vertrauen angestrebt haben. Gelungen ist es weni- Schutz der öffentlichen Person gen. Was war Guisans Geheimnis? Die Guisan brauchte Mut, das als richtig Er- Guisans Antwort ist wohl in seiner Menschlich- kannte auch unter sehr grossen Risiken zu keit zu suchen. Immer gab der General tun. Die USA waren damals zwar noch Der Schutz der öffentlichen Person Antwort, immer verständnisvoll, immer neutral, aber das Vieraugengespräch mit Guisans durch eine rigorose Geheimhal- als Freund. Seinem kranken Ersten Adju- Legge hätte, wäre es bekannt geworden, tung von Aktionen, die ihrer Natur nach tanten schrieb er in einer besonders kriti- die Stellung des Generals seinen mit der nicht an die Öffentlichkeit gehörten, war schen Phase des Aktivdiensts, er solle sich deutschen Gesandtschaft vernetzten Kri- das eine. Das andere war, dass auch ver- schonen: «La santé passe avant tout.»6 tikern gegenüber erheblich, vielleicht fatal trauliche Äusserungen wirklich vertrau- geschwächt. lich blieben. So schrieb der General sei- Von Haus zu Haus Es brauchte Kühnheit. Es brauchte auch nem bewährten ersten Adjutanten Albert Menschenkenntnis, nur Leute einzuwei- R. Mayer am 24. November 1944 aus Je- Konnte Guisan nicht schreiben, über- hen, auf die man sich unbedingt ver- genstorf, wenn sich die Parlamentarier in nahm seine Frau, Mary Guisan-Doelker, lassen konnte. In diesem Fall waren das Militärfragen, von denen sie nichts ver- diese Aufgabe: Ohne Dank blieb kein bekannte und unbekannte Amerikaner: stünden, einmischen wollten, könne er Brief, keine Notiz, keine noch so kleine Legge, der fliessend französisch sprach, ja geradesogut sein Kommando abgeben: Aufmerksamkeit. Nicht in berechnender aber auch die – für Guisan – anonymen «Si les parlementaires veulent se mêler des Weise, sondern aus innerem Anliegen, ein Kryptographen der Gesandtschaft, welche questions militaires auxquelles ils ne comp- Leben lang: Weniger als ein halbes Jahr unter Legges Anleitung arbeiteten und rennent rien! Je n’ai plus qu’à déposer mon vor seinem Tod bedankte sich der Ge- schliesslich die Adressaten imWar Office commandement.»5 neral, der sein 86. Lebensjahr angetreten in Washington. Fakt ist, dass sie alle dicht Wie sich das in der Presse gemacht hät- hatte, und sich vornahm, nur noch an hielten. Legge stand für sie gerade. te, liegt auf der Hand. Mayer war jedoch Sonntagen zu rauchen, für die ihm von Vertrauen musste man auch den einge- so zuverlässig wie Barbey, wie Legge: So seinem Ersten Adjutanten zum Geburts- weihten Schweizern, Gonards Nachfolger lange er lebte, blieb diese Äusserung ge- tag geschenkten Zigarren. Er schloss mit als Chef des Persönlichen Stabes Bernard nauso privat wie sie gemeint war. Worten: Barbey. Als Schriftsteller selber am Publi- «Mes respectueux hommages à Madame zieren interessiert, bewahrte Barbey wirk- Gute Leute versammeln Mayer et les amitiés de notre ménage au ■ liche Geheimnisse bis zum Tod. und mutig das Richtige tun vôtre.» Im Vertrauen waren Abstufungen zu Fazit: Die richtigen Leute um sich ver- 1 Henri Guisan, Unser Volk und seine Armee, Zü- sammeln. Mit Vertrauenswürdigen ver- rich: Polygraphischer Verlag AG, 1940 (eine von Schloss , ab Oktober 1944 kehren. Mit Menschen, die keinen ande- mehreren Ausgaben). 2 Peter Steiner, Nachlass Hans Bracher, Schrif- Guisans KP. Bild: WillYs Fotowerkstatt tenreihe Bibliothek am Guisanplatz Nr. 52, Bern: Bibliothek am Guisanplatz, 2013, ISBN 3-906969-51.7, Seite 109. 3 Peter Steiner, Nachlass Hans Bracher, Schriften- reihe Bibliothek am Guisanplatz Nr. 52, Bern: Bi - bliothek am Guisanplatz, 2013, ISBN 3-906969- 51.7, Seite 115. 4 Luzi Stamm und andere, A Courageous Stand, Lenzburg: Merker im Effingerhof, 2005, ISBN 3-85648-129-X, Seiten 14, 15, 84, 85. 5 Dominique M. Pedrazzini, Jürg Stüssi-Lauter- burg, Anne-Marie Volery, En toute confiance …, Brugg: Effingerhof, 1995, ISBN 3-85648-116-8, Seite 51. 6 Dominique M. Pedrazzini, Jürg Stüssi-Lauter- burg, Anne-Marie Volery, En toute confiance …, Brugg: Effingerhof, 1995, ISBN 3-85648-116-8, Seite11.

Oberst i Gst Jürg Stüssi-Lauterburg Dr. phil. 5210 Windisch

Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 06/2019 37