Inhalt Monatsschrift Kinderheilkunde · Band 164 · Supplement 1 · April 2016

Monatsschr Kinderheilkd 2016 · [Suppl 1]: 164:1–120 DOI 10.1007/s00112-016-0057-3 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

Pädiatrie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) herausgegeben von A. Hinz-Wessels und T. Beddies

E. Mayatepek 3 Editorial J. Spranger 4 Grundzüge der Pädiatrie in Westdeutschland M. Radke 7 Entwicklung der Kinder- und Jugendmedizin in der DDR. Medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaften, Hochschul- und Berufungspolitik, Strukturen A. Hinz-Wessels 14 Gründung der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR im Kontext der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte

© Genehmigung mit freundl. Wauer, Roland T. Beddies Intensivtherapiestation für Risiko-, Neu- und Frühgeborene an der 21 Besetzung pädiatrischer Lehrstühle Charité, Ende der 1970er-Jahre. in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg D. Bussiek 27 „Politisch einwandfreies Personal“. Neuordnung der Erlanger Universitäts-Kinderklinik nach dem Zweiten Weltkrieg S. Topp 34 „Und jetzt nach Lambarene“. Hermann Mai – Direktor der Universitätskinderklinik Münster (1943) 1950–1970 V. Roelcke · S. Topp 41 Friedrich Hartmut Dost (1910–1985). Aspekte zu Tätigkeit und Haltung in Nationalsozialismus und Nachkriegszeit P. Osten 46 Papierchromatographie, Kaseinhydrolysat und Neugeborenenscreening. Horst Bickel und die Entwicklung von Diagnostik, Therapie und Prävention der Phenylketonurie A. Oommen-Halbach 53 Über die akademische Pädiatrie in Bonn in der Nachkriegszeit (1945–1960) und den dortigen Beginn der humangenetischen Forschung S. Doetz 59 Für „individuelle Gesundheit und Familienglück“. Humangenetische Beratung in der DDR

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 1 Inhalt Monatsschrift Kinderheilkunde · Band 164 · Supplement 1 · April 2016

S. Hahn 64 Pfl ege, Erziehung und Prophylaxe für Kinder. Staatliche Aufgabe und kritische Verantwortung der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR R. Eulitz 69 Erlebte soziale Pädiatrie in der DDR E. Fukala · B. Meißner 75 Konfessionelle Kinderkliniken in der DDR R. Wauer 82 Entwicklung der Neonatologie an der Charité 1960–1990 und das DDR-Forschungsprojekt Perinatologie V. Hofmann 88 Anfänge der Sonographie im Kindesalter und ihre Bedeutung für die medizinische Ethik bei der pränatalen Diagnostik K. Gdanietz 92 Kinderchirurgie in der DDR F. Höpner 98 Kinderchirurgie in der Bundesrepublik nach 1945 L. Hottenrott 103 Lebenswege. Sonderakten des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau (1964–1989) und Rolle der Medizin in der DDR-Heimerziehung S. Topp · K. Schepker · H. Fangerau 109 Querelle de compétence. Verhältnis von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Pädiatrie in der Nachkriegszeit 117 Bildnachweis 119 Impressum

Freier Online-Zugang

Das Supplement „Pädiatrie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin ist im Onlinearchiv der Monatsschrift Kinderheilkunde für alle Interessenten kostenlos zugänglich. www.MonatsschriftKinderheilkunde.de

2 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Ertan Mayatepek Editorial

Liebe Kolleginnen und Kollegen, stitutionsgeschichtlichen oder biografi- haben. Darüber hinaus wurden zur in- schen Ansatz verfolgen. In der Rekon- haltlichen Abrundung und Ausbalancie- zum dritten Mal seit 1994 widmet sich struktion verschiedener Lebensläufe wie rung des Heftes weitere Kolleginnen und ein Sonderheft der Monatsschrift Kinder- derjenigen von Hermann Mai, Hartmut Kollegen aus der Pädiatrie und der Medi- heilkunde der Geschichte der Kinder- Dost, Albert Viethen und Alfred Adam zingeschichte eingeladen, sich zu beteili- und Jugendmedizin in Deutschland im werdennichtnurKontinuitätenundBrü- gen. Um die Einordnung zu erleichtern, 20. Jahrhundert. Fünf Jahre nach dem che in Denkmustern und Karriereverläu- werden die Autorinnen und Autoren am Mauerfall erschien zunächst eine, wie es fen deutlich, es bildet sich darüber hinaus EndeihrerBeiträgeinbiografischenSkiz- damals hieß, Materialsammlung zur Ge- auch der schwierige Umgang mit der NS- zen kurz vorgestellt. schichtederGesellschaftfürPädiatrieder Vergangenheit in der deutschen Nach- Die DGKJ bedankt sich bei allen Au- DDR und ihrer Arbeitsgemeinschaften; kriegspädiatrie ab, der im Einzelfall bis torinnen und Autoren, vor allem bei den 2011 wurde ein Begleitheft zur Potsda- heute nachwirkt. Herausgebern Dr. Annette Hinz-Wessels mer Gedenkveranstaltung „Im Geden- Bei der Zusammenstellung des Son- und Prof. Dr. Thomas Beddies, die das ken der Kinder. Die Kinderärzte und die derheftes erschien es nicht nur wichtig, Erscheinen dieses Supplements ermög- Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“ dieBeiträgezuost-undwestdeutschen licht haben. und zur gleichnamigen Ausstellung der Themenmöglichstgleichgewichtigzube- Deutschen Gesellschaft für Kinder- und rücksichtigen. Vielmehr sollten sowohl WirwünschenIhnen,liebeLeserin,lieber Jugendmedizin (DGKJ) herausgegeben. Medizinhistoriker als auch Zeitzeugen – Leser, eine anregende und informative Das jetzt vorliegende Heft „Pädia- Kolleginnen und Kollegen aus der pädi- Lektüre. trie nach 1945 in der Bundesrepublik atrischen Praxis – zu Wort kommen. Deutschland und in der DDR“ schließt Zeitzeugen geben unmittelbar über thematisch an seine Vorgänger an, in- dieAtmosphäreunddieVerhältnisseei- dem sich einzelne Beiträge noch mit den ner Zeit Auskunft; als Partner im Be- Nachwirkungen von Krieg und NS-Ideo- mühen um eine möglichst vollständige Prof. Dr. Ertan Mayatepek logie in der deutschen Kinderheilkunde GeschichtsbetrachtungistesAufgabe der Präsident der DGKJ befassen, indem aber auch die erwähn- Historiker,aufderGrundlagederüberlie- Berlin, März 2016 te Materialsammlung zur Pädiatrie der ferten Quellen nach ihren Regeln ein Bild DDR weitergeführt und die pädiatri- der Geschichte zu entwerfen und damit Korrespondenzadresse sche Entwicklung in Westdeutschland die mündliche Überlieferung zu ergän- vergleichend miteinbezogen wird. zen und zu rahmen. Vor diesem Hinter- Prof. Dr. E. Mayatepek Das Heft mit insgesamt 19 Beiträgen grund bietet das vorliegende Heft dem Deutsche Gesellschaft für Kinder- und wird durchzweiÜberblicksdarstellungen zeitgeschichtlichinteressiertenLesereine Jugendmedizin e.V. Chausseestr. 128/129, 10115 Berlin, eingeleitet, die die unterschiedliche Ent- lebendige Mischung aus „unmittelbaren“ Deutschland wicklung und Organisation der Kinder- Erfahrungsberichten aus der Kinderheil- [email protected] heilkunde in Ost- und Westdeutschland kundeund„mittelbaren“,mitdemdistan- aufgrund der Zuordnung zu zwei mitein- ziertenBlickdesHistorikersformulierten ander konkurrierenden politischen Sys- Analysen aus der Medizingeschichte. temen erkennbar werden lassen. Weitere Die Autorinnen und Autoren sind im Artikel befassen sich mit der Genese und Wesentlichen Kolleginnen und Kollegen Entwicklung pädiatrischer Spezial- und aus der Pädiatrie und der Medizinge- Grenzgebiete wie beispielsweise der Kin- schichte, die im November 2013 und Fe- der- und Jugendpsychiatrie oder der Kin- bruar 2015 bereits an zwei Arbeitstagun- derchirurgie, die den allgemeinen Trend gen der Historischen Kommission der zur Spezialisierung in der Medizin nach DGKJ zur Zeitgeschichte der Kinderheil- 1945 abbilden. Darüber hinaus enthält kunde in der Bundesrepublik Deutsch- das Heft mehrere Beiträge, die einen in- land und der DDR aktiv teilgenommen

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 3 Pädiatrie nach 1945

Jürgen Spranger Grundzüge der Pädiatrie in Westdeutschland

Persönliche Erinnerungen Austauschtransfusionen wurden durch- Als jüngster Assistent arbeitete man geführt; 45 Jahre später, im Jahr 1993, auf der „Aufnahmestation“, dem Vorläu- Meine erste bewusste Berührung mit der stand ein französischer Herr vor meines fer der Intensivstation, weil ihre 6 Bet- Pädiatrie geht in die unmittelbare Nach- Vaters Tür und wollte sich über die sei- ten unmittelbar neben dem Zimmer des kriegszeit zurück, als mein Vater 1946 nerzeit durchgeführte Behandlung seiner Ersten Oberarztes platziert waren, der seine im Krieg verwaiste kinderärztliche neonatalen Rhesus-Inkompatibilität be- praktisch immer als Diagnostiker und Praxis in Baden-Baden wieder eröffnete. danken. Therapeut, Lehrer und Anreger bereit- Im Wartezimmer geduldeten sich aus- Im Jahr 1959 begann meine Fach- stand. Arbeitszeiten waren von 8 bis 13 gemergelte Mütter mit ihren hungrigen arztausbildung an der Universitätskin- und von 16 bis 19 Uhr, doch wer küm- Kindern. Fiebernde, schwer kranke Kin- derklinik Heidelberg. Es war die Zeit merte sich um Arbeitszeiten? Man blieb der mussten zu Hause besucht werden. der Chefarztvisiten mit weißem Schweif in der Klinik, solange es notwendig war. Um dies in jedem Fall tun zu dürfen, be- aller Oberärzte und Assistenten. Der Der Begriff der Überstunde war unbe- durfte es einer Lockerung des Fraterni- Chef beugte sich über den Patienten und kannt. Im Nachtdienst arbeitete man mit sierungsverbots, denn den Familien der empfahl seinen Oberärzten: „Schaut mal einerNachtschwesterzusammen,diedie- französischen Besatzungsmacht war es nach“. Wir Assistenten im hinteren Glied se Funktion seit unvordenklichen Zeiten untersagt, die Hilfe deutscher Ärzte in sahen nichts, verstanden wenig; Kollege ausübte, von der man sehr viel lernen Anspruchzunehmen.ErstmitderLocke- Hartmann witzelte ob des dritten Kindes konnte und derer Gewogenheit man sich rung konnten französische Mütter den mit merkwürdigen Skelettfehlbildungen: gernversicherte,um nichtunnötiginAn- deutschen Kinderarzt aufsuchen, dem sie „Es wird doch nicht Contergan sein“. spruch genommen zu werden. offenbar mehr vertrauten als ihren Mili- Contergan (Thalidomid) war das zwi- Zu den aufwendigeren Tätigkeiten ge- tärärzten. Und sie erwirkten die Freigabe schen 1957 und 1961 eingesetzte und hörte die Austauschtransfusion – 10 ml eines konfiszierten Automobils für die überaus beliebte, weil praktisch nicht rein, 10 ml raus – und die Pneumenze- kinderärztlichen Besuchsfahrten. Diese überzudosierende Beruhigungs- und phalographie, mit der man Liquor aus nahmen teilweise dramatischen Charak- Schlafmittel. dem Spinalkanal oder den Hirnventri- ter an. Rettungsdienste, Krankenwagen Es war auch die Zeit der Poliomye- keln gegen Luft austauschte, um mit und Notärzte gab es nicht. Ich erinnere litis-Station mit 15 gelähmten, teilweise konventionellen Röntgenaufnahmen die mich an die rasende Fahrt meines Va- in der „eisernen Lunge“ beatmeten Kin- Ventrikel oder die Hirnoberfläche im ters aus einem umliegenden Dorf in die dern auf der Station. Es war die Zeit, Kontrast erkennen zu können. Praxis, ein stark dehydriertes Kleinkind in der wir Diensthabenden hilflos vor Die ärztliche Hierarchie war pyra- imArmseinerMutteraufdemRück- dem nach Atem schnappenden Frühge- midal; an der Spitze der Chef, allein sitz. Die lebensrettende Infusion in der borenen standen und warten mussten, verantwortlich für Budget, Personal, Praxis erfolgte subkutan. Der unter der bis das Kind still war. Strukturentwicklung der ganzen Klinik, Flüssigkeitszufuhr anschwellende Bauch Die Poliklinik war Abbild der tägli- ihrer Vertretung in den universitären des schreienden Kindes hätte mich fast chen Praxis mit einer Fülle von Kin- Gremien. Gespräche mit ihm waren vom Medizinstudium abgehalten. dern und Eltern, die unter großen und nicht immer einfach zu erreichen – ich Die Stadt Baden-Baden stellte dann kleinen Beschwerden litten. Ein Jahr in erinnere mich an einen Kollegen, der bald eine leer stehende Villa zur Ver- der Poliklinik tätig zu sein, garantierte zu nächtlicher Stunde über das offene fügung, in der eine Kinderklinik ein- eine umfassende Weiterbildung in allge- Fenster des Sekretariats verzweifelt nach gerichtet wurde (. Abb. 1). Der tägliche meiner praktischer Pädiatrie. Wir impf- dem Verbleib seiner vor einem halben Pflegesatz betrug 2,70 DM für Säuglinge ten gegen Pocken, Tuberkulose, Diphthe- Jahr eingereichten Habilitationsschrift und Kleinkinder sowie 4,80 DM für äl- rie, Tetanus, noch nicht gegen Masern, fahndete. Drei Oberärzte mit breitem tere Kinder. Röntgenapparate und ande- Keuchhusten, Mumps, Röteln. Letztere pädiatrischem Allgemeinwissen, 2 da- re Geräte wurden angeschafft, allerdings galten als relativ gutartige Kinderkrank- von mit Sonderinteressen in Stoffwechsel mit der Maßgabe, für die Kinder preis- heiten, die jeder durchzumachen hat- und Bakteriologie, waren verantwortlich günstigere kleinere Geräte zu besorgen. te. Systematische Vorsorgeuntersuchun- für Patientenversorgung, klinische Wei- Eltern zahlten ein Drittel der Behand- genbeschränktensichaufbehördliche terbildung, Forschung, wissenschaftliche lungskosten. Der Leiter der Klinik er- Eingangsuntersuchungen in Kindergar- Anleitung und innere Verwaltung. Erste hielt eine Aufwandsentschädigung. Erste ten und Schule. Schwerpunkte zeichneten sich in der

4 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 talität von 8 % [1]. In Kliniken starben trennten Budgets, eigener Personalver- bis zu 30 % der dort aufgenommenen waltung und kollegialen Führungssyste- Neugeborenen und Säuglinge, viele da- men. Andere Kliniken behielten eine ein- von an Magen-Darm-Krankheiten. Die heitliche Verwaltungsstruktur mit auto- allgemeine Säuglingssterblichkeit betrug nom und kollegial arbeitenden Spezia- fast 10 % [2]. Bis zum Jahr 1970 ging listen nach amerikanischem Vorbild. sie auf Werte um 25 ‰ zurück; 2014 betrug sie 3,3 ‰. Der Grund für den Organisation und Entwicklung raschen Abfall nach 1948 lag in der nach- der ambulanten Pädiatrie haltigen Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse, der Hygiene, der In Deutschland gab es 2015 mehr als Säuglingsernährung, der Verfügbarkeit 20.000 Kinder- und Jugendärzte sowie neuer Medikamente und in Fortschritten Kinder- und Jugendärztinnen. Die meis- der kinderärztlichen Versorgung [3]. ten von ihnen sind Mitglied der 1883 Beispielhaft sollen hier die nach gegründeten Deutschen Gesellschaft für Kriegsende verfügbar gewordenen „neu- Kinderheilkunde. Ihre Umbenennung en“MedikamentewieStreptomycin,Kor- zur Deutschen Gesellschaft für Kinder- tison, Isoniacid, dann Breitspektrumpe- und Jugendmedizin (DGKJ) reflektiert Abb. 1 8 Villa Hohenstein, Baden-Baden, die nizilline, erste Chemotherapeutika und die Ausweitung pädiatrischer Tätigkeit 1947 zu einer Kinderklinik umgebaut wurde. neue Impfstoffe genannt werden. Mit flä- auf die gesamte Lebensphase von der Ge- (© J. Spranger, mit freundl. Genehmigung) chendeckenden Impfungen verschwan- burt bis zum Ende der körperlichen Ent- den Poliomyelitis und Diphtherie, mit wicklung. Die Gründung der Deutschen Kinderradiologie und der Epileptologie weiteren Impfungen weitgehend auch Gesellschaft für Sozialpädiatrie 1966 ab, die von habilitierten Kollegen in andere Infektionskrankheiten aus dem spiegelt die Entwicklung eines weiteren Assistenzarztfunktion geleitet wurden. pädiatrischen Alltag. Industriell gefer- – mit dem Namen Theodor Hellbrügge Mein Wechsel an die Universitätskin- tigteProdukteersetztendievonHand (1919–2014) untrennbar verbundenen – derklinik Kiel 1963 zeigte dort ähnliche, zubereitete Kuhmilch/Getreideschleim- Schwerpunkts der westdeutschen Pädia- wenn auch hierarchisch flachere Struk- Mixturen, und damit sank die Zahl der trie wider, der sich auf äußere Einflüsse turen, mit leichterem Zugang zum aufge- Durchfallerkrankungen. der kindlichen Entwicklung fokussierte. schlossenen, vielseitig interessierten und Mit dem Rückgang von Infektions- Der 1970 gegründete Berufsverband der bestens informierten Chef, mit zuneh- krankheiten konnten in den Kliniken Kinder- und Jugendärzte konzentrierte mender Subspezialisierung, einem Auf- ganze Infektionsstationen geschlossen sich ursprünglich auf die berufspoliti- bruch junger, klinisch und wissenschaft- werden. Chronische Krankheiten rück- schen Belange der Pädiatrie und ver- lich interessierter Kollegen, darunter nur tenindenMittelpunktderklinischenund tritt bis zum heutigen Tag zunehmend wenige Frauen, einer ersten selbststän- der wissenschaftlichen Aktivität4 [ ]. Es gesundheitspolitische Aspekte der ge- digen Abteilung in der Kinderklinik – entstanden onkologische, kardiologische samten Kinder- und Jugendheilkunde. der Kinderkardiologie – und 2 Assisten- und neuropädiatrische Spezialstationen, ZurKoordinierungderTätigkeitender tenindersonstOrdinarienvorbehalte- auf denen verfeinerte elektrophysikali- 3 Gesellschaften wurde 1990 die Deut- nen medizinischen Fakultät. Die mittlere sche Technologien – nicht zuletzt neue sche Akademie für Kinderheilkunde Verweildauer der kranken Kinder betrug bildgebende Verfahren und biochemi- und Jugendmedizin gegründet, mit dem 14 Tage. Aus Sorge vor eingeschleppten sche Methoden – zur Verfügung standen. Ziel einer einheitlichen Bearbeitung, Infektionen war die Besuchszeit ihrer El- Aus der „Aufnahmestation“ entwickelte Vertretung und Durchsetzung gesund- tern auf 2 Stunden am Mittwoch und sich die allgemeine und die neonatologi- heitspolitischer Belange. 2Stundenam Sonntagbegrenzt,am Mitt- sche Intensivstation, beide eng vernetzt In den vergangenen 30 Jahren hat sich wochmitGelegenheitzumArztgespräch. mit den operativen Fächern, insbesonde- die kinderärztliche Praxis strukturell und Der studentische Unterricht beschränkte re der Kinderchirurgie sowie der Kardio- inhaltlich verändert. Etwa 14.000 Päd- sich auf Frontalvorlesungen mit Vorstel- und Neurochirurgie. iater sind beruflich tätig, mehr als 8000 lungen von Patienten im Hörsaal. MitzunehmenderKomplexitätderdi- in der ambulanten Versorgung. Die Zu- agnostischen und therapeutischen Ver- nahme ihrer Zahl und die geringere Zahl Entwicklung der klinischen fahren stiegen die qualitativen und quan- von Kindern und Jugendlichen führten Pädiatrie titativen Anforderungen an die speziali- dazu, dass gegenwärtig ein Kinder- und sierten Mitarbeiter. Eigene wissenschaft- Jugendarzt ein Viertel weniger Kinder Solch persönliche Erinnerungen sind liche Gesellschaftenundspezielle Weiter- und Jugendliche zu versorgen hat als durch Zahlen und Fakten zu ergänzen. bildungsgänge wurden etabliert. In grö- 1991 (. Tab. 1). Arbeitsteilung in Praxis- Im Jahr 1948 erkrankte beinahe jedes ßeren Kliniken entstanden administrativ gemeinschaften, Gemeinschaftspraxen 100. Kind an Diphtherie mit einer Le- unabhängige Spezialabteilungen mit ge- und medizinischen Versorgungzentren

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 5 Pädiatrie nach 1945

Tab. 1 Zahl der Fachärzte und Fachärztinnen für Kinder- und Jugendmedizin [5] und der Perso- denSelbsthilfeorganisationengegründet. nen unter 20 Jahren [6] in Deutschland Die Zusammenarbeit mit diesen Orga- Fachärzte für Kinder- und 1991 2014 Veränderung nisationen ist ein weiterer Markstein der Jugendmedizin neuen Pädiatrie. Gesamt 12.187 20.204 +8017 (+65 %) Davon weiblich 6558 (54 %) 11.755 (58 %) +5197 (+79 %) Korrespondenzadresse Ambulant tätig 7356 8122 +766 (+10 %) Prof. Dr. J. Spranger Stationär tätig 3463 5596 +2133 (+62 %) Im Fuchsberg 14, 76547 Sinzheim, Deutschland Ohne Berufstätigkeit 2368 6486 +4118 (+174 %) [email protected] Kinder und Jugendliche 17,3 ⋅ 106 14,6 ⋅ 106 –2,6⋅ 106 (– 16 %) <20Jahre Jürgen Spranger, Prof. Dr. med. (em.); ehem. Ärztlicher Ein ambulant tätiger Pädiater 2923 Kinder und 2241 Kinder und – 683 (– 23,3 %) Kinder Direktor der Universitätskinderklinik Mainz. 1956/57 für Jugendliche Jugendliche und Jugendliche Sloan-Kettering Institute for Cancer Research New York; 1959–63 Kinderklinik Heidelberg; 1963–74 Ein stationär tätiger Pädiater für 6208 Kinder und 3252 Kinder und – 2956 (– 48 %) Kinder Kinderklinik Kiel; 1965 Forschungsstipendiat am Inst. Jugendliche Jugendliche und Jugendliche für Humangenetik in Münster; 1968/69 Research Associate, Children’sHospital, Harvard University Boston; 1970/71 Visiting Prof., University of Madison Children’sHospital; seit 1974 in Mainz. U.a. Mitglied reduzieren zusätzlich die Arbeitsbelas- InstitutionenzuErkennungundBehand- und ehem. Generalsekretär der Deutschen Akademie tung des einzelnen Arztes. Hausbesuche lung von Störungen der Entwicklung, des fürKinder-undJugendmedizine.V.,desDachverbands sind nur noch selten nötig; mit ihnen Verhaltens und der sozialen Interakti- der pädiatrischen Gesellschaften Deutschlands (Dt.e Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V.; verschwanden aber auch die famili- on.KonzeptionellbeziehendieseZentren Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V., Dt.e äre Einbindung des Kinderarztes und das soziale Umfeld in ihre Intervention Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin der Einblick in die häusliche Umwelt ein und ersetzen damit ein wenig die frü- e.V.). der kindlichen Patienten. Der über- her durch Hausbesuche vermittelte Nähe proportionale Zuwachs stationär tätiger zur familiären Umgebung des Kindes. Sie Literatur Fachärzte und -ärztinnen für Pädiatrie stützensichaufeinausgedehntesNetz- spiegelt die zunehmende Spezialisie- werk nichtärztlicher Dienste wie Psycho- 1. Blanke FJ (1951) Die Durchseuchungspräzession bei Diphtherie und Scharlach in einer zerstörten rung in diesem Fachgebiet wider, sagt logen, Pädagogen, Logopäden, Beschäf- Großstadt nach dem Kriege. Monatsschrift aber auch etwas aus über die geringere tigungstherapeuten, Sozialarbeitern und Kinderheilkd99:165–168 Anwesenheitspflicht der um einen Aus- andere. 2. Ratum O, Breckenkamp J (2007) Kindersterb- lichkeit und soziale Situation. Dtsch Arztebl gleich von Familie und Beruf besorgten Neben präventiven, entwicklungsdia- 1104:2950–2956 Klinikärztinnen und -ärzte. gnostischen und -therapeutischen Auf- 3. Spiess H (1949) Ernährung und Gesundheits- Inhaltlich bleibt die krankheitsbe- gaben rückt die Betreuung chronisch- verhältnisse bei Säuglingen der Nachkriegszeit. MonatsschriftKinderheilkd97:242–249 zogene Medizin Kern der ambulanten krankerKinderindenFokusderheutigen 4. Spranger J (2000) Deutsche Pädiatrie von Pädiatrie. Gleichzeitig steigt jedoch die Pädiatrie. Die Zahl jeweils seltener chro- 1845–1999. Monatsschrift Kinderheilkd Bedeutung präventivmedizinischer Auf- nischer Krankheiten nimmt mit ihrer Be- 148:573–577 5. Stichwort Kinder- und Jugendmedizin. https:// gaben und Tätigkeiten. Während sie herrschbarkeit zu. Der Schwierigkeit, sie www.gbe-bund.de.Zugegriffen:11.3.2016 schon immer eine Domäne der Kinder- zu diagnostizieren und zu behandeln, be- 6. http://de.stata.com.Zugegriffen:11.3.2016 heilkunde, beginnend mit Erziehungs- gegnet die Pädiatrie durch die neuerliche 7. Czerny A (1921) Der Arzt als Erzieher des Kindes. Deuticke,Wien,Hannover hinweisen [7], Schuluntersuchungen, Einrichtung von – oder die Teilhabe an – 8. Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen Vitamin-D-Prophylaxe und Impfungen, Zentren für seltene Krankheiten. In die- (1976) Richtlinien des Bundesausschusses der waren, rückten sie mit Einführung re- senZentrenfindenbetroffeneKinderund ÄrzteundKrankenkassenüberdieFrüherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung gelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen in häuslich betreuende Pädiater ein breites des 6. Lebensjahres. Banz 214 vom 26.4.1976 den 1970er-Jahren [8]verstärktindas Spektrum diagnostischer und therapeu- (Beilage Nr 28 vom 11.11.1976; letzte Änderung Blickfeld der Gesundheitspolitik. Früh- tischer Expertise aus den Subdisziplinen vom16.12.2010,BAnzNr40S2013vom11.3.2011) erkennung, Prävention und Behandlung der Pädiatrie und Fachgebieten der Er- kindlicher Entwicklungsstörungen wur- wachsenenmedizin. Zu ihren Aufgaben den zentrale Themen. Kamen bis in die gehört die Transition, die Sicherstellung 1980er-Jahre die Eltern noch in die kin- der Weiterbetreuung chronisch-kranker derärztliche Praxis, weil dem Kind etwas junger Menschen durch die Erwachse- fehlte, kommt man jetzt ebenso häufig nenmedizin. Eine weitere Aufgabe wird mit der Frage, ob ihm etwas fehlt. die Vernetzung der Zentren sein und Äußerer Markstein dieser Entwick- mit ihr die Erweiterung der Datenba- lung sind die seit 1968 eingerichteten so- sis zur Krankheitserkennung, der For- zialpädiatrischen Zentren, also von am- schung und der Betreuung der Patien- bulant und interdisziplinär arbeitenden ten. Für viele seltene Krankheiten wur-

6 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Michael Radke Entwicklung der Kinder- und Jugendmedizin in der DDR Medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaften, Hochschul- und Berufungspolitik, Strukturen

Präambel Medizinisch-wissenschaftliche (Wieder-)Gründungeneinenrechtlichen Gesellschaften und die Rahmen für ihre künftige Tätigkeit. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Mau- Gesellschaft für Pädiatrie in der Während das Ministerium für Ge- erfall kann ein Rückblick auf die Ent- DDR sundheitswesenderDDRnoch1950,d. h. wicklung der Pädiatrie in der vormali- einJahrnachGründungbeiderdeutscher gen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), Gründung und Existenz einer jeden Staaten 1949, die Bildung nationaler me- später in der „Ostzone“ bzw. der DDR, wissenschaftlichen Gesellschaft sind im dizinisch-wissenschaftlicher Fachgesell- Rückschlüsse darauf geben, welche Rol- Kontext der sie einbettenden gesell- schaften anstrebte, „... deren Organisati- le gesellschaftspolitische Rahmenbedin- schaftspolitischen Verhältnisse zu sehen. onsform so aufgebaut werden sollte, dass gungen hierbei spielten. Nach 12 Jahren Gleichschaltung des eine spätere Vereinigung mit der ent- Wie wichtig die Berücksichtigung die- gesamten gesellschaftlichen Lebens, ein- sprechenden westdeutschen Gesellschaft ser Verhältnisse für unser Fach innerhalb schließlich der Wissenschaft, in den möglichst geringe Schwierigkeiten mit der politischen Entwicklung im Deutsch- Jahren der Nazidiktatur und nach dem sich bringt“,änderte sich diese Haltung in land des 20. Jh.s ist, lässt sich im Großen katastrophalen Ende des Deutschen Rei- den frühen 1950er (stalinistischen) Jah- an der beispielgebenden Auseinander- ches entstanden 1949 zwei deutsche ren erheblich: Als Zäsur ist die II. Partei- setzung der DGKJ mit der Verstrickung Staaten, die in unterschiedlichen po- konferenz der Sozialistischen Einheits- vonKinderärztenindieGesundheits- litischen Bündnissystemen verankert partei Deutschlands (SED) 1952 anzuse- politik des NS-Regimes von 1933 bis waren und miteinander im Wettbewerb hen, in deren Anschluss das Ministerium 1945 in Deutschland ablesen. Es zeigt standen. für Gesundheitswesen das Konzept der sich aber auch im Umgang miteinander, In der DDR wurde – endgültig zemen- Gründung einer „Medizinische(n) Ge- wenn sich der Autor 1991 gegenüber tiert durch den Mauerbau 1961 – eine ei- einem Ordinarius für Kinderheilkunde genständigeWissenschafts-undGesund- 1 einer (west-)deutschen Universität da- heitspolitik verfolgt, die sich wesentlich Dokumentensammlung: Befehle derSowjeti- schenMilitätadministrationinDeutschlandzum für rechtfertigen sollte, wie er sich als von der in der Bundesrepublik unter- Gesundheits- und Sozialwesen, Berlin, Verlag Kinderarzt am „Kinderaufzuchtsystem schied und erhebliche Auswirkungen auf Volk und Gesundheit, 1976 (Veröffentlichung in den Kinderkrippen und Kindergärten dieExistenzundArbeitmedizinisch-wis- des Koordinierungsrates der Medizinische-wis- der DDR“ und an den dort durchge- senschaftlicher Gesellschaften hatte. An- senschaftlichenGesllschaftenderDDR,2);Göpel führten „Zwangsimpfungen“ beteiligen ders als im Westen hatte sich die Grün- H (1977) Die Rolle und Bedeutung der Befehle der SMAD für das Gesundheitswesen. In: Kühn konnte. dung von Fachgesellschaften in der DDR K (Hrsg) Ärzte an der Seite der Arbeiterklasse, Panta rhei: Heute plädiert die gesamt- an den geltenden politischen Rahmen- Verlag Volk und Gesundheit, Berlin, S 260–275; deutsche Politik für den Ausbau von bedingungen zu orientieren und konn- HandelG,KöhlerR(Hrsg)DokumentederSowe- Kindertagesstätten, und gesundheitspo- te nicht etwa als „Privatinitiative“ von jetischen Militäradministrationin Deutschland litisch Verantwortliche diskutieren mit Fachexperten auf dem Boden geltenden zum Hoch-undFachschulwesen,Zentralinstitut für Hochschulbildung, Berlin 1975, Studien zur Hinweis auf ein 2015 in Berlin an Ma- Vereinsrechts erfolgen. Hochschulentwicklung, 57; Konitzer P (1946) sern verstorbenes Kleinkind ernsthaft Juristische Voraussetzungfürdie Wie- DieAufgabenderDeutschenZentralverwaltung über die Einführung verpflichtender deraufnahme von Tätigkeiten medizi- für das Gesundheitswesen in der Sowjetischen Schutzimpfungen. nisch-wissenschaftlicher Gesellschaften Besatzungszone, Deutsches Gesundheitswesen nach 1945 in der SBZ war der Befehl 1(4); Schad G, Retzlaff M (1985) Zur Entstehung, Entwicklung und weiteren Vervollkommnung Nr. 124 der Sowjetischen Militäradmi- des Leitungssystems der Hochschulen der DDR, nistration in Deutschland (SMAD) vom Zentralinstitut für Hochschulbildung, Berlin, LiteraturbeimVerfasser 21. Mai 1947.1 Er gab den beabsichtigten InformationfürleitendeKader4,S4

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 7 Pädiatrie nach 1945

cker Universitäts-Kinderklinik Heinrich Territorium der SBZ bzw. der DDR nach Kirchmair (1906–1969; . Abb. 2)wurde. dem 8. Mai 1945 ganz selbstverständlich Im Jahr 1967 erfolgte die Umbenen- weiter. Es handelte sich insbesondere um nung der Sektion in eine Gesellschaft für die Nordwestdeutsche Gesellschaft für Pädiatrie der DDR (hierzu: Beitrag von Kinderheilkunde (s. o., Wiedergründung A. Hinz-Wessels im vorliegenden Band). 1952 in ) sowie die Sächsisch- Ihre Mitgliederzahl nahm seit Ende der Thüringische Medizinisch-wissenschaft- 1960er Jahre stark zu; 1985 betrug sie liche Gesellschaft für Kinderheilkunde. 2971. Sie wurde 1908 von Otto Soltmann Der Weg dahin war keineswegs frei gegründet sowie 1956 von Albrecht Pei- von Widersprüchen, einerseits gekenn- per (Leipzig) und Erich Häßler (Jena) zeichnet durch die Sichtweise des Staats, reaktiviert. d. h. das Diktum eigenständiger nationa- Die Sächsisch-Thüringische Medizi- ler medizinisch-wissenschaftlicher Fach- nisch-wissenschaftliche Gesellschaft für gesellschafen der DDR, und andererseits Kinderheilkunde und auch die Nord- durch das Interesse von Kinderärzten westdeutsche Gesellschaft erhielten auf und Wissenschaftlern an einer Fortset- der juristischen Grundlage des oben zungihrerMitgliedschaftoderzumindest genannten SMAD-Befehls rückwirkend Abb. 2 8 Heinrich Kirchmair, 1960er-Jah- Mitarbeit in der Deutschen Gesellschaft ihre Legitimation, da sie nach 1945 quasi re. (© Universitäts-Kinderklinik Rostock, mit für Kinderheilkunde (damaliger Name) pro forma existierten. Sie setzten ihre freundl. Genehmigung) als gesamtdeutscher Fachgesellschaft. wahrnehmbare Tätigkeit allerdings erst Die Eröffnungsreden der Präsidenten nach den erfolgten Neu- bzw. Wieder- sellschaft der DDR“ formulierte, in der der Jahrestagungen der Deutschen Ge- gründungen (s. oben) fort. die Pädiatrie in Gestalt einer Sektion vor- sellschaft für Kinderheilkunde sind hier- Aufgrund des SMAD-Befehls Nr. 124 gesehen war.2 für bezeichnend: Während Walter Keller vom 21. Mai 1947 entstanden bis 1949 Im Gegensatz dazu hielten die meis- (1894–1967) anlässlich der Jahrestagung folgende Gesellschaften, die die Fortent- ten Ärzte und Wissenschaftler gegen den 1955 in Freiburg noch „eine größere wicklung der Kinderheilkunde forcier- Willen der Staatsführung der DDR und Anzahl von Kollegen aus der Ostzone“ ten: insbesondere der Führung der SED bis begrüßen konnte und Gerhard Joppich 4 Deutsche medizinisch-wissenschaft- weit nach dem Mauerbau am 13. Au- (1903–1992) 1960 in Kassel „mit Freude liche Gesellschaft für Kinderheilkun- gust 1961 an ihrem Bemühen fest, ganz feststellt, daß unsere Freunde aus Mit- de in Thüringen, selbstverständlich am wissenschaftlichen teldeutschland in besonders großer Zahl 4 Medizinisch-wissenschaftliche Ge- Leben der jeweiligen Fachgesellschaft in erschienen waren“, bedauerte Philipp sellschaft für Innere Medizin und „Gesamtdeutschland“ teilzuhaben und Bamberger (1898–1983) 1961 in Hei- Kinderheilkunde jeweils an den Uni- deren Mitglieder zu bleiben. Dies galt delberg, dass „zahlreiche angemeldete versitäten Rostock und Greifswald, auch für die Mehrzahl der in der DDR Kollegen aus der Ostzone nicht mehr zu 4 Medizinisch-wissenschaftliche Ge- tätigen Kinderärzte. Mit der sich verfes- uns kommen konnten, weil inzwischen sellschaft für Innere Medizin, Neuro- tigenden Verankerung beider deutscher die Trennmauer errichtet“ wurde. logie, Kinderheilkunde und Grenzge- StaateninihrejeweiligenBündnis- IndenJahrennachdemMauerbaugab biete im Land Sachsen-Anhalt. systeme wurde dies allerdings immer esbiszurTeilnahmedesbereitsemeritier- problematischer, um nach dem Bau der ten Georg Oskar Harnapp (1903–1980) Wegen des Fehlens einer das gesamte Mauer auf ein Minimum an Austausch 1972 in Bad Pyrmont mit dem Vortrag Territorium der SBZ repräsentierenden zwischen Ost und West begrenzt zu „Zum Wirkungsmechanismus des Vita- Kinderärzte-Gesellschaft wurde der erste werden. min D“ keinerlei aktives Mitwirken von Pädiaterkongress nach dem Krieg, der Neben 5 weiteren war die Sektion DDR-Kollegen an den Jahrestagungen Kinderärzte aus allen Zonen Deutsch- Pädiatrie struktureller Bestandteil der der Deutschen Gesellschaft für Kinder- lands zusammenführen sollte, im Juni 1962 gegründeten Deutschen Gesell- heilkunde. 1947 in Berlin unter der Leitung von schaft für Klinische Medizin, deren Leonid Doxiades (1889–1969) von der Vizepräsident der Direktor der Rosto- Regionalgesellschaften für Deutschen Zentralverwaltung für das Kinderheilkunde in der DDR Gesundheitswesen (DZVG) organisiert. 2 Matthes T, Roland L, Spaar H (1981) Die me- AuchnachGründung derDDR wirkte dizinisch-wissenschaftlichenGesellschaftender Im Bewusstsein und auch im praktischen sich das Fehlen einer nationalen (DDR- DDR, Geschichte – Funktion – Aufgaben, Verlag Handeln der seinerzeit aktiven Persön- eigenen) Pädiatergesellschaft aus Sicht VolkundGesundheit,Berlin,Veröffentlichungen des Koordinierungsrates der medizinisch-wis- lichkeiten existierten die Strukturen und des Staats negativ aus. Das Ministerium senschaftlichenGesellschaftenderDDR,4,Teil1 Substrukturen der Deutschen Gesell- für Gesundheitswesen der DDR sah sich und2 schaft für Kinderheilkunde auf dem aus diesem Grund veranlasst, von sich

8 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 aus nationale Pädiatertagungen der DDR Kinderärztegesellschaft der DDR offen, AG in die Arbeitsgruppen Gastroentero- in den Jahren 1950, 1953 und 1956 zu z. B.: logie, Ernährung und Diabetes mellitus. organisieren. 4 die Positionierung der Fachgesell- Vorsitzende waren zumeist wissenschaft- In dieser Situation übernahm die schaftimundzumStaat(s.Satzung), lich ausgewiesene Hochschullehrer aus Sächsisch-Thüringische Medizinisch- 4 die Übernahme der Rolle einer re- einer der 9 Hochschulkinderkliniken der wissenschaftliche Gesellschaft für Kin- präsentativen Vertreterin des Faches DDR. derheilkunde (zuvor Regionalgesell- gegenüber staatlichen Entschei- Das wissenschaftliche Leben wurde schaft Süd der Gesellschaft für Pädiatrie dungsgremien, insbesondere durch Symposien geprägt, der DDR) nach ihrer Wiedergründung 4 die Organisation eines internationa- die im Jahres- bzw. Zweijahresrhythmus, in der DDR de facto die Funktion ei- len wissenschaftlichen Austausches später auch in größeren Abständen, ner „nationalen“ Fachgesellschaft – u. a. und die Vertretung der Interessen durchgeführt wurden – teilweise unter organisierte sie kontinuierlich wissen- der Pädiatrie der DDR im Ausland Beteiligung von Ärzten aus den sozialis- schaftliche Kongresse. In ihrer Satzung schlechthin, tischen Ländern Osteuropas. von 1962 (immerhin ein Jahr nach dem 4 die Einflussnahme auf die Profi- Die AG war federführend in der For- Mauerbau) geht sie aber weiter von lierung kommunikativer und kol- mulierung von Empfehlungen zu Dia- der „Einheit der Wissenschaft“ aus und lektionierender Institutionen (Zeit- gnostik und Therapie gastroenterologi- reflektierte damit ihre gesamtdeutsche schriften, Monografien, Lehr- und scher Krankheiten, zu Ernährungsfragen Sichtweise. Handbücher), sowie zur Einrichtung und zum Betrieb Der politische Druck hatte aber be- 4 die Etablierung eines eigenen peri- von Frauenmilchsammelstellen (FMS). reits durch das Ärztekommuniqué des odisch erscheinenden Organs der Diese gab es laut Gesetz in jedem Land- Politbüros vom September 1958 deutlich Fachgesellschaft, kreis, womit in der DDR mehr als 50 zugenommen, d. h. in einem Zeitraum, 4 die Formulierung und Durchsetzung derartiger Einrichtungen betrieben wur- in dem etwa 25 % aller Absolventen me- von Standards bzw. rechtsverbind- den. dizinischer Fakultäten und Akademien lichen Normen für die Weiter- und Seit 1983 war aufgrund einer Verord- der DDR in die Bundesrepublik übersie- postgraduale Ausbildung. nung der Akademie für ärztliche Fortbil- delten und viele erfahrene Fachärzte – dung der DDR der Erwerb der postgra- auch aus dem Hochschulbereich – bereits Diese das aktive Leben einer wissen- dualen Subspezialisierung pädiatrische nach Westdeutschland übergesiedelt wa- schaftlichen Gesellschaft kennzeichnen- Gastroenterologie möglich – mehr als ein ren. Als Resultat des erhöhten politischen den Merkmale und Aufgabenstellungen Jahrzehnt früher als in der (gesamtdeut- Drucks zeichneten sich auf der Weimarer wurden erst in den späten 1960er-Jahren schen) Bundesrepublik. Gesundheitskonferenz im Februar 1960 durch die Gesellschaft für Pädiatrie der Die Forschungsthemen entsprangen schärfere Konturen zur Etablierung der DDR in Angriff genommen. vornehmlich klinischen Fragestellungen; von der Politik geforderten nationalen hierbei wurde ernährungsmedizinischen medizinischen Fachgesellschaften ab. Arbeitsgemeinschaft Konzepten für kranke Säuglinge, Frühge- Eine gewisse Sonderrolle nahm Ber- „Gastroenterologie, Ernährung borene, Kinder mit Zöliakie oder Stoff- lin ein: Hier gab es in den 1950er-Jahren und Stoffwechsel“ wechselkrankheiten (z. B. Phenylketon- „Kinderärztliche Abende“, die alternie- urie, PKU) besondere Aufmerksamkeit rend von der Kinderklinik der Charité Neben der Regionalisierung der Mutter- gewidmet. Zudem erfolgte vereinzelt – (DDR) und vom Kaiserin-Auguste-Vik- gesellschaft kam es in den 1970er-Jahren und vom Staat wegen der Devisenbe- toria-Haus (KAV) in Westberlin gestaltet zu fachbezogenen Spezialisierungen in schaffung erwünscht – projektgebunde- wurden. Bis zum Mauerbau am 13. Au- Arbeitsgemeinschaften (AG), die unter ne klinische Forschung für internatio- gust 1961 war die gegenseitige Teilnah- dem Dach der Muttergesellschaft agier- nale (d. h. westliche) Unternehmen der me im jeweils anderen politischen Sek- ten. Da der Autor Kindergastroenterolo- Pharma- und Kindernahrungsindustrie. tor Berlins weitgehend komplikationslos ge ist, soll beispielhaft für andere „Toch- Besuche von Kongressen im westlichen möglich. ter“-Gesellschaften auf die kindergastro- Ausland bzw. Mitgliedschaften in inter- Die Sächsisch-Thüringische Medizi- enterologische AG verwiesen werden. Sie nationalen Organisationen, z. B. der Eu- nisch-wissenschaftliche Gesellschaft für wurde anlässlich der Jahrestagung der ropean Society for Pediatric Gastroen- Kinderheilkunde blieb aber bis etwa Mit- Gesellschaft für Pädiatrie in der DDR terology, Hepatology and Nutrition (ES- te der 1960er-Jahre die dominierende 1971 in Leipzig zunächst als AG „Ernäh- PGHAN), waren nur unter Auflagen ver- kinderärztliche Fachgesellschaft in der rung und Stoffwechsel“ gegründet. Im einzelt möglich. Die Möglichkeit, in den DDR, was dem maßgeblichen Einfluss Jahr 1979 erfolgten eine Erweiterung und Westen zu reisen, war an den Status „Rei- der Ordinarien Peiper, Häßler, Liebe die Umbenennung in AG „Gastroentero- sekader“ gekoppelt. Es versteht sich von und Weingärtner zu verdanken war. logie, Ernährung und Stoffwechsel“. Im selbst, dass die endgültige Entscheidung Gleichwohl blieben wesentliche Aspekte Jahr 1972 bestand die AG aus 25 Mitglie- hierüber in jedem Einzelfall vom Mi- eines aktiven Lebens einer Fachgesell- dern; sie wuchs bis 1989 auf 119 Mitglie- nisterium für Staatssicherheit getroffen schaft bis zur Gründung einer nationalen der. Ab 1979 erfolgte eine Aufteilung der wurde.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 9 Pädiatrie nach 1945

Etwa ab Mitte der 1980er-Jahre verlor bewerb und blockierte zudem die Nach- Medizinsystems (wie in der ehemaligen die DDR zunehmend den Anschluss an wuchsförderung. DDR) in Einklang zu bringen. Vielleicht internationale Entwicklungen der Phar- Im Prozess der politischen Wende gelänge es dann besser, gastroenterolo- maindustrie und insbesondere der Medi- 1989/1990 wurde eine turnusmäßige gisch-kranke Kinder – zumal solche mit zintechnik.DieKindergastroenterologen Neuwahl des Vorstands auf der Vollver- chronischen Krankheiten – schnell und der DDR waren daher in hohem Maß auf sammlung der AG am 11. April 1990 ausnahmslos an Kliniken und Ambulan- ihre klinische Ausbildung bei der Inter- ausgesetzt. Nach der Vereinigung der zen zu verweisen, in denen engagierte pretation von Symptomen und der For- beiden deutschen Staaten am 3. Okto- GPGE-Mitglieder tätig sind. Letztlich ist mulierung von Diagnosen angewiesen – ber 1990 erfolgte am 10. April 1991 die gute Medizin nur in guten Strukturen der Rückgriff auf hochentwickelte Me- formale Auflösung der AG „Gastroente- möglich; diesen Leitspruch hat der Au- dizintechnik (z. B. Sonographie, Endo- rologie, Ernährung und Stoffwechsel“.3 tor durch sein Berufsleben in 2 Gesund- skopie, CT) war nur in Universitätsklini- Die Mehrzahl ihrer Mitglieder engagier- heitssystemen verinnerlicht. ken und großen Bezirkskrankenhäusern te sich von diesem Zeitpunkt an in der möglich.DiesesMankowurdedurcheine Gesellschaft für Pädiatrische Gastroen- Hochschul- und Berufungspoli- vom Staat verordnete, aber auch aus fach- terologie und Ernährung (GPGE). tik, Nachwuchsentwicklung lichen Gründen selbstverständlich prak- Der Autor führte Anfang 1990 mit tizierte mehrstufige Struktur der medi- einem von der SPD-Landesorganisation Die Wiederaufnahme bzw. Fortführung zinischen Betreuung zumindest teilweise Bremen geschenkten Pentax-Gastroskop der Lehrtätigkeit der auf dem Gebiet kompensiert. Da weder materielle Inter- endoskopische Untersuchungen an der der SBZ, einschließlich Ostberlins, exis- essendieKrankenversorgungaufdenun- Universitäts-Kinderklinik Rostock ein. tierenden medizinischen Fakultäten der terschiedlichenEbenendesVersorgungs- Seinerzeit erfolgte dies noch mit ei- Universitäten Berlin, Greifswald, Hal- systems bestimmten noch monetäre Sti- nem „Lichthaus“ und einem winzigen le, Jena, Leipzig und Rostock in den muli existierten, wurden (schwer)kranke „Guckloch“, auf das ein „Teaching“ ge- Jahren 1945/1946 glich auf der Grund- Kinderinjedem Fallund frühzeitigandie setzt wurde, um Auszubildenden das lage entsprechender SMAD-Befehle de jeweils regional bzw. national geeignete Mitschauen zu ermöglichen. Die Aus- facto Neugründungen, da das bisherige Klinik transferiert. leuchtung des Mageninneren und das Rechtssystem vollständig ausgeblendet Dieses Prinzip führte binnen weniger Herstellen einer Diaphanoskopie zur wurde. Bis 1949 bestimmte die SMAD als Jahre zur Entwicklung einer ausgewie- Anlage einer perkutanen endoskopi- alleinige exekutive Gewalt auf dem Ter- senen Expertise in der Behandlung schen Gastrostomie (PEG) erinnerten ritorium Ostdeutschlands mit den weit bestimmter Krankheiten an entspre- an schummriges Kerzenlicht. über 500 Jahre alten Universitäten Leip- chenden Kliniken. Die dort tätigen Viele von den auch heute noch in zig, Rostock und Greifswald sowie den Ärzte behandelten z. B. ihre Patienten derGPGEorganisiertenKolleginnenund Universitäten in Halle und Jena sämtli- mit chronisch-entzündlichen Darmer- Kollegen aus den sog. neuen Ländern er- che Entwicklungen im Hochschulwesen. krankungen (CED) oder Hepatopathien innernsichdankbardaran,wieeinegroße Auch die Charité als Teil der Humboldt- ganz selbstverständlich simultan sta- Zahl von Kolleginnen und Kollegen aus Universität in Ostberlin unterlag den tionär und ambulant – und zwar über den alten Ländern bereitwillig beim Auf- Regularien der SMAD. Die Wiederauf- Jahre. So wurde „Medizin aus einer bau und der Profilierung der Kinderga- nahme von Lehrveranstaltungen – auch Hand“, d. h. durch immer denselben stroenterologie im östlichen Landesteil in der Medizin – konnte nur bei Erfül- Arzt zu einem Qualitätsmerkmal der Unterstützung leistete. lung der von der SMAD aufgestellten medizinischen Betreuung. Patienten mit Heute haben wir bundesweit – un- „... politischen, ideologischen und kader- chronischen Krankheiten – Kinder und abhängig von der Himmelsrichtung – mäßigen Voraussetzungen ...“ erfolgen. auch Erwachsene – wurden in einem eine anspruchsvolle Herausforderung zu Dieses Faktum sollte sich nach Grün- System sog. Dispensaire-Sprechstun- erfüllen: die flächendeckende Sicherstel- dung der DDR fortsetzen und wurde im den aufgrund personeller Expertise sehr lungeinerqualitätsgerechtenVersorgung Sinne der politischen Machtstruktur in wirkungsvoll betreut. von Kindern mit gastroenterologischen der DDR vervollkommnet – der Staat Der Mangel an Innovation in der Arz- Krankheiten, insbesondere mit chroni- (die SED) bestimmte dirigistisch und neimittelforschung und Medizintechnik schem Verlauf. zentralistisch die Besetzung sämtlicher in der DDR, der sich in den 1980er- Es stimmt nachdenklich, dass nach Lehrstühle und Hochschullehrerpositio- Jahren exponentiell verschärfte, lief der der Wiedervereinigung 1990 nicht ver- nen. Wissenschaftsentwicklung zuwider. Die sucht wurde, die wissenschaftlich-inno- In der Medizin und besonders in der zumeist unbefristete Stellenbesetzung im vative Potenz einer freiheitlich orientier- Pädiatrie gab es nach dem Krieg erhebli- Fach- und Oberarztbereich – auch an ten Gesellschaft mit einer sich in der chen Mangel an berufungsfähigen Kan- Universitätskliniken – konnte zwar als Empirie bewährten Strukturqualität des didaten für frei werdende oder bereits Qualitätsmerkmal der Patientenbetreu- frei gewordene Lehrstühle. Ererklärt sich ung angeführt werden, diente aber kaum 3 Protokoll der Mitgliederversammlung der AG u. a. aus der Entwicklung im Naziregime dem kreativen wissenschaftlichen Wett- vom11.April1990. von 1933 bis 1945 und deren Folgen

10 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Tab. 2 Habilitationen an Hochschulkinderkliniken der DDR Mainz; bis 1950 blieb der Lehrstuhl Medizinische Fakul- Zahl der 1949–1960 Habilitantenb aus „Kadermangel“ unbesetzt. tät/Akademiea abgeschlossenen 4 Jena: Lehrstuhlbesetzung durch Habilitationen Jussuf Ibrahim (1877–1953) von 1917 Berlin (Charité) 4 P.Habermann (1954) bis 1953. R. Damerow (1958) 4 Leipzig: Hier war im November 1945 E. Schmidt-Kolmer (1958) Werner Catel entlassen worden; I. Syllm-Rapoport (1959) zum 1. September 1948 wurde der Dresden 0 – Lehrstuhl durch Albrecht Peiper Erfurt 0 – (1889–1968) besetzt. Greifswald 2 H. Mannkopf (1957) 4 Rostock: Hier wechselte im Septem- W. Plenert (1960) ber 1947 Karl Klinke nach Berlin; Halle 5 J. Grimm (1953) zum 1. September 1948 wurde der F. Gümel (1957) Lehrstuhl durch Karl Stolte (s. oben) W. Ponsold (1957) besetzt (Umberufung aus Greifs- R. Zuckermann (1957) G. Verron (1958) wald). Jena 3 B. Leiber (1950) H. Patzer (1952) Die medizinischen Akademien in Erfurt, H.-H. Wittig (1957) Dresden und Magdeburg wurden erst Leipzig 7 L. Weingärtner (1952) 1954 gegründet. Die Medizinische Aka- J. Oehme (1954) demie Magdeburg war die einzige der H. Thomas (1957) 3 Akademien mit vorklinischer Ausbil- J. Dittrich (1957) dung; in Dresden und Erfurt beschränkte K. Bock (1959) V. Dietel (1959) man sich auf die klinische Ausbildung. H. Polster (1959) Wegen des Mangels an berufungsfä- Magdeburg 1 G. Schreiter (1960) higen Kandidaten wurde nach Gründung der DDR 1949 bis in die Mitte der 1960er- Rostock 2 H.-W. Ocklitz (1953) G. Erdmann (1956) Jahre hinein jeder erfolgreich Habilitierte aAlphabetische Reihenfolge unmittelbar zum Hochschullehrer (Do- bChronologische Reihenfolge zenten) berufen. Gegen Ende der 1950er- Jahre, auf dem Zenit der Abwanderungs- welle von Akademikern aller Sparten in nach der bedingungslosen Kapitulation rufungslisten berücksichtigen ließ. Den die Bundesrepublik, sah sich die Staats- des Deutschen Reiches im Mai 1945: Vorschlägen der Fakultäten folgten die führung genötigt, ähnliche Regelungen 4 Dezimierung des Lehrkörpers durch staatlichen Stellen (notgedrungen) nahe- einzuführen, wie sie im Deutschen Reich Verfolgung von jüdischen Kollegen zu ausnahmslos. vor 1933 bzw. in der Bundesrepublik gal- (besonders dramatisch in der Der- In der SBZ bestand von Mai 1945 bis ten. In der Anweisung Nr. 109 des Staats- matologie und Kinderheilkunde) und Oktober 1949 folgende Situation bei der sekretariats für das Hoch- und Fach- durch Kriegseinwirkungen, Besetzung der pädiatrischen Lehrstühle: schulwesen (SHF) vom 27. Januar 1958 4 Drängen wissenschaftlich befähigter 4 Berlin:HierhattederinderNS- wurde die Ausschreibung freier Stellen Ärzte (kaum Ärztinnen) in mili- Zeit verfolgte Wilhelm Stoeltzner die für Assistenten und Oberassistenten an tärmedizinisch verwendbare (d. h. Klinik über die unmittelbare Nach- den medizinischen Fakultäten und Aka- chirurgische) Disziplinen, kriegszeit gebracht; zum 9. Oktober demien geregelt. Die Anweisung Nr. 115 4 Ausschluss von Kandidaten, die nach- 1947 wurde der Lehrstuhl durch vom 1. November 1958 erlaubte jedem weislich Anhänger des NS-Regimes Karl Klinke (1897–1972) besetzt erfolgreich Habilitierten einer medizini- und seiner Lehren gewesen waren (Umberufung aus Rostock). schen Fakultät oder Akademie, den Ti- und kein positives Votum von den 4 Greifswald: Hier war Albrecht Peiper tel außerordentlicher Dozent zu führen.4 sog. Entnazifizierungskommissionen im März 1946 entlassen worden; zum Diese Aktionen des SHF belegen die pro- bekamen. 1. September 1946 wurde der Lehr- blematische Gesamtsituation der Nach- stuhl durch Karl Stolte (1881–1951; Trotz aller ideologischen Prämissen ist bis 1945 Breslau) und zum 30. Ju- in den 1950er-Jahren ein eindrucksvol- ni 1949 durch Hubertus Brieger 4 Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwe- ler Pragmatismus in der Berufungspoli- (1909–1978) besetzt (Neuberufung). sen: Anweisung Nr. 115 vom 1.11.1958, betr. Führen des Titels „außerordentlicher Dozent“ 4 Halle tik erkennbar, der „bürgerliche“ Wissen- :HierfolgteAlfredNitschke (a.o. Doz.), Berlin 1958, Archiv des Ministeriums schaftler und auch Kandidaten aus West- im Oktober 1946 einem Ruf nach für Hoch- und Fachschulwesen, Sachgebiet deutschland bei der Erstellung von Be- Medizin,nichtkatalogisiert

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 11 Pädiatrie nach 1945

Optionen dafür geschaffen, weitere Lehr- 31. März 1947 getroffen und folgende stühle (ordentliche Professuren) einzu- Ziele formuliert worden: richten. Durch die Einführung eines 4 „Einrichtung von genügend Ent- Diploms nach dem erfolgreich absol- bindungs- und Säuglingskliniken, vierten Hochschulstudium der Medizin Säuglingsfürsorgestellen, Krippen, und erfolgter Approbation verließen Kindergärten, Frauenmilchsammel- dieAbsolventendieHochschuleals stellen und Milchküchen ...“, Diplom-Mediziner (Dipl.-Med.). Die 4 „ ... ständige ärztliche Überwachung entsprechenden wissenschaftlichen Ar- aller Kinder und Jugendlichen in den beiten hierzu waren zwar mit den frühe- Schulen ...“, ren Promotionen weitgehend identisch, verzögerten aber die akademische Gra- Dominierende Persönlichkeit der Kin- duierung nicht unerheblich. Der Titel derkinderheilkunde in den Anfangsjah- Dr. med. (Promotion A) konnte ab Ende ren der DDR wurde Albrecht Peiper der 1960er-Jahre nur nach vorheriger (1889–1968; . Abb. 3), von 1948 bis Erlangung des Titels Dipl.-Med. erwor- 1958 Direktor der Universitätskinder- ben werden. Eine Habilitation (nach klinik Leipzig, der seinerzeit in Ost-/ der III. Hochschulreform Promotion B) Mitteldeutschland führenden Kinderkli- Abb. 3 8 Albrecht Peiper, 1950er-Jahre. (© In- setzte also die Abfassung von 3 wis- nik. In welchem Ausmaß Peiper neben stitutfürGeschichtederMedizinundEthikinder senschaftlichen Arbeiten voraus. Auch seiner Tätigkeit als Direktor der Klinik Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, dies war ein Grund dafür, dass sich die und Lehrstuhlinhaber Einfluss auf die mit freundl. Genehmigung) Graduierungen in den 1970er-Jahren Klinikstruktur nahm, wird aus den Erin- mehr als halbierten – von 33 im Jahr nerungen von Erich Häßler (1899–2005), wuchsentwicklung in den 1950er-Jahren. 1970 auf 14 im Jahr 1980. von 1953 bis 1964 Direktor der Universi- Sie traf in jeder Beziehung auch auf die In den 1980er-Jahren nahm die wis- täts-Kinderklinik Jena, deutlich: „Peiper Kinderheilkundezu,wiediegeringeZahl senschaftliche Graduierung zwar wieder war wohl der Erste in der DDR, der der in den Jahren 1949–1960 erfolgten „etwas Fahrt auf“, wurde durch den zu- in Leipzig ein besonderes Frühgebore- HabilitationenanHochschulkinderklini- nehmenden wirtschaftlichen Kollaps der nen-Haus errichtete ...“. Auch andere ken der DDR verdeutlicht (. Tab. 2). DDR in der zweiten Hälfte der 1980er- Lehrstuhlinhaber orientierten sich an Parallel zur internationalen Wissen- Jahreaberimmerschwieriger.DieBe- der wissenschaftlichen Arbeit und dem schaftsentwicklung in der Kinderheil- schaffung von Fein- und Laborchemika- Bemühen Peipers, funktionierende klini- kunde konnten durch das Engagement lien oder innovativer Labor- und Me- sche Strukturen für die Kinderheilkunde wissenschaftlichaktiverKinderärztinnen dizintechnik als Voraussetzung wissen- zu etablieren. und Kinderärzte in der DDR vordring- schaftlichenEngagementswarandieVer- Peiper engagierte sich zudem maß- liche infektiologisch-epidemiologische fügbarkeit von Devisen gebunden und geblich für die Infektionsprophylaxe Probleme erfolgreich angegangen und stellte damit sehr oft eine unüberwind- durch Schutzimpfungen. Im Jahr 1955 weitgehend gelöst werden (Bekämp- liche Hürde dar. schrieb er: fung der Tuberkulose, Poliomyelitis ZurAbwehrkindlicherInfektionskrank- u. a. Infektionskrankheiten). Die sich Albrecht Peiper als früher heiten sind Schutzimpfungen erfolgver- hier eröffnenden Felder für pädiatri- Impulsgeber der Strukturierung sprechend. ... Entsprechend dem Vor- sche Forschung (und sicher auch die der medizinischen Betreuung schlag meines Oberarztes H.-C. Hempel, Undurchlässigkeit der Mauer) führten wird jetzt in der DDR nach folgendem ab Mitte der 1960er-Jahre zu einem Bereits 1945 waren vor dem Hintergrund Impfkalender geimpft. ... Um alle Schutz- sprunghaften Ansteigen der Habilitatio- einer Säuglingssterblichkeit von 26,3 % impfungen einheitlich zu überwachen ... nen an den Hochschulkinderkliniken in der SBZ erste Strukturmaßnahmen wurde von Hempel für alle Impfungen der DDR. Ihre Zahl verdoppelte sich zum (Wieder-)Aufbau einer funktionie- ein Impfausweis vorgeschlagen und vom im Vergleich der ersten mit der zwei- renden Kinderheilkunde in Gestalt von Ministerium für Gesundheitswesen einge- ten Hälfte der 1960er-Jahre. In gleicher „Gesundheitspolitische(n) Richtlinien“ führt ... Weise erhöhte sich auch der Zuwachs des Zentralkomitees (ZK) der SED6 vom an Berufungen zum Dozenten im Fach Unter Peipers Direktorat diente die Kinderheilkunde. Leipziger Kinderklinik in der DDR als Eine weitere wesentliche Zäsur in der 5 Richter,H-J (1973)Politisch-ideologische Pro- Nachwuchs- und Hochschullehrerent- bleme bei der Entwicklung des sozialistischen wissenschaftlichenNachwuchses für die Hoch- 6 Zentralkomiteeder SED (1952) Gesundheits- wicklung stellte die III. Hochschulreform schullehrerschaft in derDDRin den Jahren 1958 politische Richtliniendes ZK der SED, Beschluss 1967/19685 dar. In ihrer Folge wurden bis 1961, Zentralinstitut für Hochschulbildung, vom 31.3.1947. In: Dokumente der SED, Dietz an allen Hochschulkinderkliniken die Berlin,StudienzurHochschulentwicklung,43 Verlag,Berlin,S359.

12 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Referenzeinrichtung und Konsultations- 4 Lues connata (Oehme: Entwick- zialbereiche, wie z. B. der Neuropädia- stelle für zentrale staatliche adminis- lung des „Leipziger Schema“ zur trie, Kinderrheumatologie und anderer, trative Einrichtungen des Gesundheits- Behandlung der Erkrankung), weckt jedenfalls Zweifel. wesens. Hervorzuheben ist sein starkes 4 Kardiologie (Bock und Gruner: Die Überzeugung, dass wieder mehr sozialpädiatrisches Engagement. Im Jahr EKG- und invasive kardiologische Gewicht auf eine von einem Sozialstaat 1959 fordert er gegenüber staatlichen Diagnostik angeborener Herzfehler), gesteuerte Daseinsvorsorge gelegt wer- Stellen: 4 Onkologie (Oehme: Aufgreifen der den muss, greift zunehmend Platz. Wel- 4 den Ausbau der Schwangerenvor- internationalen Entwicklung, An- che Strategie am Ende die leistungsfä- sorge und die Senkung der Rate der wendung der „Drei-Mittel-Therapie“ higere ist, wird sich insbesondere bei Frühgeburtlichkeit, der akuten Leukose). der notwendigen Sicherstellung der flä- 4 die Einrichtung größerer Zentren chendeckenden medizinischen Versor- für Frühgeborene, eine ausreichende Peiper war derjenige Hochschullehrer gung kranker Kinder und Jugendlicher Anzahl von Couveusen, der Kinderheilkunde der 1950er-Jahre – einer demografisch sehr bedeutsamen 4 die Schaffung von Zentren zur in der DDR, der seine Klinik am deut- Bevölkerungsgruppe – noch zeigen müs- Behandlung der „hämolytischen lichsten profilieren konnte, weit vor den sen. Krankheit der Neugeborenen“, Kliniken der Charité oder der Universität 4 eine ausreichende Produktion von Halle. Korrespondenzadresse Trockenmilch, „... eine jede Mut- Prof. Dr. M. Radke ter der Deutschen Demokratischen Resümee Republik hat ein Recht auf Trocken- Universitätsmedizin Rostock, Kinder- und Jugendklinik milch ...“, Nach mehr als 35-jähriger Tätigkeit als E.-Heydemannstr. 8, 18057 Rostock, 4 den weiteren Kampf gegen Infekti- Kinderarzt, über 10 Jahre davon in ei- Deutschland onskrankheiten. nem zentralistisch dirigierten Gesund- heitssystem an einer Universitätskinder- Michael Radke, Prof. Dr. med., geb. 1953 in Schwe- Peiper verfocht in den 1950er-Jahren klinik und mehr als 25 Jahre nach der rin, Medizinstudium 1974–1980 in Magdeburg und eine stark ausgeprägte interdisziplinäre Wende in leitender Position sowohl im Rostock, seit 1984 Weiterbildung zum Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin an der Univ.- Zusammenarbeit mit angrenzenden kommunalen als auch im Hochschulbe- Kinderklinik Rostock; 1981 Promotion; 1988 Habilitati- Disziplinen, aber auch mit scheinbar reich ist der Autor fest davon überzeugt, on; 1995 Ernennung zum apl. Prof. an der Universitäts- entfernteren Wissens- und Fachgebie- dass gute Medizin am ehesten in guten Kinderklinik Rostock; seit 1997 Chefarzt der Klinik fürKinderundJugendlicheamKlinikumErnstvon ten, wie z. B. der Milchwissenschaft, Strukturen möglich ist. Ob der zurzeit in Bergmann (Akademisches Lehrkrankenhaus der Cha- Tierzucht und Lebensmitteltechnologie, Deutschland eingeschlagene Weg, Struk- rité); seit 2003 apl. Prof. für Ernährungsmedizin an der mit dem Ziel der Verbesserung von turqualität ganz wesentlich durch Len- Universität Potsdam (Deutsches Institut für Ernäh- rungsforschung); seit 2015 Direktor der Kinder- und Säuglingsmilch. Im Sinne einer „wis- kungvonGeldströmeninGestaltvondia- Jugendklinik der Universitätsmedizin Rostock. senschaftlichen Schule“ setzten Peipers gnosebezogenen Fallgruppen (Diagnosis Mitarbeiter sein organisatorisches und Related Groups, DRG) zu erreichen, der wissenschaftliches Engagement fort, z. B. richtige ist, muss noch bewiesen werden. bezüglich: Die seit Einführung der DRG wohl weit- 4 Infektionskrankheiten (Hempel: gehend monetär zu begründende dispro- Entwicklung des Impfschemas), portionale Fehlentwicklung der Kinder- 4 Tuberkulose- und Antibiotikathera- und Jugendmedizin in Richtung Neona- pie (Weingärtner), tologie und damitzulastenwichtigerSpe-

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 13 Pädiatrie nach 1945

Annette Hinz-Wessels Gründung der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR im Kontext der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte

In der aktuellen zeithistorischen For- Nationalsozialismus (NS) ließen sich Diese Gesellschaften mussten sich in schungwirddasVerhältniszwischen die wissenschaftlichen Gesellschaften den Länderministerien registrieren las- den beiden deutschen Nachkriegsstaa- in Deutschland zumeist widerstandslos sen und durften keine ehemals aktiven ten mit dem Begriffspaar „Abgrenzung gleichschalten. Sie organisierten sich Mitglieder der Nationalsozialistischen 1 2 und Verflechtung“ charakterisiert. , Der nach dem Führerprinzip und schlos- Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) auf- vorliegende Beitrag greift diese Perspek- sen ihre jüdischen Mitglieder aus. Nach nehmen. Dem SMAD-Befehl war ein tive auf und untersucht, welche Aspekte dem Sieg über das NS-Regime unter- verbindliches Statut beigefügt, das als dieses Dualismus in der Gründungsge- standen sie den Bestimmungen des vordringliches Ziel die Fortbildung und schichte der Gesellschaft für Pädiatrie Alliierten Kontrollrats. In den westli- den Erfahrungsaustausch beschrieb, aber der DDR bis zu ihrer internationalen chen Besatzungszonen konnten viele auch „die Aufdeckung der faschistischen Anerkennung Anfang der 1970er-Jahre wissenschaftliche Gesellschaften noch in Ideologie im Bereich der Medizin und sichtbar werden. den 1940er-Jahren ihre Tätigkeit wieder deren endgültige Ausrottung“.5 Bis 1949 Seit dem 19. Jh. übernehmen wissen- aufnehmen, teilweise gründeten sie sich wurden auf der Grundlage dieses SMAD- schaftliche Gesellschaften als regionale, aufgrund der NS-Belastung ihrer Vor- Befehls insgesamt 46 medizinisch-wis- nationale und internationale Gelehrten- gängerorganisation neu. So genehmigte senschaftliche Gesellschaften registriert. zusammenschlüsse bedeutende Funktio- die britische Militärregierung auf An- nen bei der Etablierung und Entwicklung trag des Göttinger Pädiaters Hans Klein- Regionale kinderärztliche einer Fachdisziplin. Sie dienen – insbe- schmidt (1885–1977) im Februar 1948 Gesellschaften ab 1947 in der sonderedurchdieOrganisationvon die Wiederzulassung der Deutschen Ge- SBZ Tagungen und Kongressen und die Her- sellschaft für Kinderheilkunde (DGfK). ausgabe von Fachzeitschriften – nicht Anschließend bat der Schriftführer Fritz Ab Ende 1947 kam es in Jena, Ro- nur als Foren der wissenschaftlichen Goebel (1888–1950) die früheren Mit- stock, Greifswald, Leipzig und Halle Meinungsbildung und des beruflichen glieder in allen 4 Besatzungszonen sowie auch zu lokalen bzw. regionalen Zu- Erfahrungsaustausches, sondern wirken im Ausland per Zeitschriftenaufruf um sammenschlüssen von Pädiatern, die als Interessenvertretung der jeweili- Mitteilung ihrer Anschrift und warb vereinzelt Zweigstellen in anderen Städ- gen Belange und als Ansprechpartner zugleich um Neuanmeldungen.4 In der ten gründeten; gelegentlich bildeten sie von Politik, Wirtschaft und Öffentlich- Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ließ aufgrund der geringen Mitgliederzahl keit auch nach außen.3 Während des die Sowjetische Militäradministration auch gemeinsame Gesellschaften mit in Deutschland (SMAD) im Mai 1947 Vertretern anderer Fachgebiete. In Ber- 1 Der Beitrag entstand im Rahmen des von mit dem Befehl Nr. 124 die Konstitu- lin gelang dies allerdings nicht. Hier der Friede Springer Stiftung geförderten For- ierung medizinisch-wissenschaftlicher veranstalteten die Kinderärzte lediglich schungsprojektes „Pädiatrie in der SBZ und Gesellschaften zunächst auf der Ebene zwanglose Vortragsabende, die abwech- DDR 1945–1989/90“ (Projektleitung: Prof. Dr. der ostdeutschen Universitätsstädte zu. selnd in der Kinderklinik der Charité Thomas Beddies) am Institut für Geschichte der in Ostberlin und im Kaiserin-Auguste- Medizin und Ethik in der Medizin, Charite – UniversitätsmedizinBerlin. 3 Niederhut J (2007): Wissenschaftsaustausch Viktoria-Haus in Westberlin stattfanden. 2 Vgl. u. a. Wentker H (2005): Zwischen Ab- im Kalten Krieg. Die ostdeutschen Naturwissen- Angeblich, so die spätere Westberliner grenzung und Verflechtung: deutsch-deutsche schaftler und der Westen, Köln, Weimar, Wien, Geschichtenach1945.In:AusPolitikundZeitge- S.61. schichte 53, 1–2, S. 10–17; Kleßmann C (2005): 4 Hans Kleinschmidt an Fritz Goebel, 19.2.1948, 5 SMAD-Befehl Nr. 124 vom 21.5.1947 und SpaltungundVerflechtung–EinKonzeptzurin- Archiv der DGKJ, DGfK 62; Aktennotiz des Statut abgedruckt in Matthes T, Rohland L, tegrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990. Schriftführers vom 27.2.1948, abgedruckt in: Spaar H (1981): Die medizinisch-wissenschaft- In:ders.,LautzasP(Hg.):TeilungundIntegration. Historische Kommission der DGKJ (Hg.) (2008): lichen Gesellschaften der DDR. Geschich- Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte, 125JahreDeutscheGesellschaftfürKinder-und te–Funktion–Aufgaben, 2 Teile, hier Teil 2, 2. Bonn,S.20–37. Jugendmedizine.V.,Berlin,S.64. überarb.Aufl.,Berlin,S.248–250.

14 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Begründung, hatten die in Westberlin in Zusammenarbeit mit einzelnen Wis- 1883gegründeteund1948indenWestzo- ansässigen Pädiater „mit Rücksicht auf senschaftlern ausgerichtet. nen wieder zugelassene DGfK auch von die Ostberliner Ärzte“ auf eine „feste Mutmaßlich befördert durch die Be- ihren ostdeutschen Mitgliedern weiter- Organisation“ verzichtet.6 rufung des früheren Leipziger Pädiaters hinalsGesellschaftallerdeutschenPädia- BeidieserFormderlokalenundregio- Erich Häßler (1899–2005) auf den Jenaer ter betrachtet. Seit der ersten Mitglieder- nalen Vereinigungen blieb es zunächst Lehrstuhl führten die pädiatrischen Ge- versammlung der Nachkriegszeit im Au- auch nach Gründung der DDR, während sellschaften in Leipzig und Jena ab 1954 gust 1948 in Göttingen waren regelmäßig in den westlichen Besatzungszonen be- gemeinsam wissenschaftliche Veranstal- 2 ostdeutsche Pädiater im Gesamtvor- reits wieder medizinisch-wissenschaftli- tungen durch, denen sich ab 1955 die stand der DGfK vertreten.9 Die Pädiater che Fachgesellschaften mit nationalem Kinderärzte aus Halle anschlossen. Im imNordenderDDRgehörtenzudemtra- Anspruch agierten. Diese standen auch Oktober 1955 entschlossen sich die Ver- ditionsgemäß der 1952 wieder gegründe- den ostdeutschen Ärzten offen; noch in anstalter dieser Treffen zu einem organi- ten Nordwestdeutschen Gesellschaft für der frühen DDR wurde die Mitglied- satorischen Zusammenschluss als Säch- Kinderheilkunde an, die 1957 auf aus- schaft in einer traditionellen deutschen sisch-Thüringische Gesellschaft für Kin- drücklichen Wunsch ihrer ostdeutschen Fachgesellschaft seitens der ostdeutschen derheilkunde, deren offizielle Gründung Mitglieder ihre Jahrestagung in der DDR Staatsführung durchaus als Wirken im im darauffolgenden Jahr stattfand. Geo- abhielt (. Abb. 4).10 Sinne der Völkerverständigung betrach- grafisch und inhaltlich knüpfte die neue Wie eng die ostdeutschen Pädiater tet.EntsprechendderDeutschlandpolitik Gesellschaft an die 1908 gegründete Ver- zu diesem Zeitpunkt mit der DGfK der Bundesrepublik, die die DDR nicht einigung Sächsisch-Thüringischer Kin- verflochten waren, verdeutlicht die 1955 als eigenständigen Staat anerkannte, derärzte an, deren 50-jähriges Bestehen vom Gesundheitsministerium erbetene traten die westdeutschen Fachgesell- dementsprechend im März 1958 mit ei- Stellungnahme der Sektion für Geburts- schaften auch auf internationaler Ebene ner großen Tagung in Leipzig gefeiert hilfe und Säuglingsfürsorge an der Deut- mit einem gesamtdeutschen Anspruch wurde. Wesentlicher Initiator des Zu- schen Akademie der Wissenschaften zu auf, was umso einfacher war, als in der sammenschlusses war der Leipziger Päd- Berlin zu einem möglichen Eintritt der DDR in den 1950er-Jahren ein entspre- iater Albrecht Peiper (1889–1968), ein ostdeutschen kinderärztlichen Gesell- chender nationaler Konkurrenzverband auf nationaler und internationaler Ebe- schaften in die International Pediatric nur ausnahmsweise existierte. Der lo- ne anerkannter Wissenschaftler mit en- Association (IPA). Die Sektion, der fast kale bzw. regionale Aktionskreis der gen Kontakten auch zu westdeutschen alle Lehrstuhlinhaber für Pädiatrie in der ostdeutschen Gesellschaften erschwerte Kollegen. Laut Statut verfolgte die Ge- DDR angehörten, diskutierte die Anfra- die Durchführung von wissenschaft- sellschaft den Zweck, „die wissenschaft- ge und ließ das Gesundheitsministerium lichen Veranstaltungen im nationalen lichen und fachlichen Aufgaben der Kin- anschließend wissen, „daß die Frage eine oder im internationalen Rahmen, die derheilkunde zu fördern, den persönli- solchen Eintrittes ... gegenstandslos sei, üblicherweise von nationalen Fachge- chen Verkehr und Erfahrungsaustausch da die Kinderärzte beider deutscher sellschaften organisiert wurden. In Er- der Kinderärzte untereinander zu ver- Staaten gemeinsam durch die Deutsche mangelung solcher Träger beauftragten tiefen und für die Einheit der deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde bereits die ostdeutschen Machthaber einzelne WissenschaftaufdemokratischerGrund- in der ,Internationalen Vereinigung für Wissenschaftler mit der Planung und lage einzutreten“.7 Die Gesellschaft ver- Pädiatrie‘ repräsentiert sind“.11 Leitung nationaler Tagungen. Bereits anstaltete jährlich 2 Tagungen mit rund im Juli 1947 organisierte der Berliner 400 Teilnehmern, an denen sich regel- Zersplitterung der ostdeutschen Pädiater Leonid Doxiades (1889–1969) mäßig auch westdeutsche Pädiater betei- Gesellschaften für die Deutsche Zentralverwaltung ligten. Bis 1961 stieg ihre Mitgliederzahl für Gesundheitswesen einen 6-tägigen auf 350 an.8 Die Zersplitterung der wissenschaft- Pädiaterkongress in Berlin. Auch die lichen Gesellschaften war den DDR- in den Jahren 1950, 1953 und 1956 DGfK mit gesamtdeutscher Machthabern schon Anfang der 1950er- mit Beteiligung westdeutscher und aus- Ausrichtung Jahre ein Dorn im Auge, da sich die ländischer Fachkollegen veranstalteten Kinderärztetagungen der DDR wurden Für eine Gesellschaft, die sämtliche Päd- 9 Nach Auswertung der Geschäftsberichte bis vom dortigen Gesundheitsministerium iater auf dem Territorium der DDR er- Ende der 1960er-Jahre handelte es sich um die fasste, gab es aus Sicht der meisten ost- ostdeutschen Pädiater Karl Klinke, H.G. Huber deutschen Kinderärzte bis in die 1960er- (Chemnitz), Albrecht Peiper, Fritz Thoenes, Hartmut Dost, Karl Nißler, Josef Dieckhoff, 6 Gerhard Joppich an Kollegen, 9.10.1951, Jahre keinen Bedarf. Vielmehr wurde die Siegfried Liebe, Helmut Patzer,Erich Häßlerund ArchivderBerlin-BrandenburgischenAkademie Hans-WolfgangOcklitz. der Wissenschaften (ABBAW), Nachlass (NL) 10 Albrecht Peiper 33. Vgl. auch: Geschichte der 7 Statut der Sächsisch-Thüringischen Ge- Vgl. Reisebericht Dr. Hermann Pahnke, Berliner Gesellschaft für Kinder- und Jugend- sellschaft für Kinderheilkunde, Bundesarchiv 2.4.1957,LandesarchivBerlinCRep118Nr.1232. medizin in: http://www.berliner-kinderaerzte. (BArch)DQ101/729. 11 Mendel an Ministerium für Gesundheitswe- de/. 8 Vgl.Mitgliederverzeichnis1961,ebd. sen,27.2.1956,BArchDQ1/20332.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 15 Pädiatrie nach 1945

Nachdem die DDR die Mitte der 1950er-Jahre von der Sowjetunion entwi- ckelte Zwei-Staaten-Theorie als Grund- lage ihrer Deutschlandpolitik übernom- men und mit dem Mauerbau 1961 die deutsche Teilung zementiert hat- te, galten die lediglich regional oder lokal agierenden Gesellschaften nicht nur als ein Hindernis für die wissen- schaftliche Entwicklung, sondern auch für die Anerkennung der DDR in der internationalen Scientific Community. Leistungsfähige nationale Gesellschaften bildeten aus Sicht der DDR-Führung die Voraussetzung, um die wissenschaftliche Abhängigkeit von der Bundesrepublik abzubauen und selbstständige DDR- Vertretungen in internationalen Verei- nigungen durchzusetzen.14 Schon der auf der Weimarer Ge- Abb. 4 9 Tagung sundheitskonferenz im Februar 1960 der Nordwestdeut- diskutierte Perspektivplan zur Entwick- schen Gesellschaft lung der medizinischen Wissenschaft und für Kinderheilkun- des Gesundheitswesens in der DDR hat- de vom 17 bis 19. Mai 1957 in Rostock, te zur Förderung des wissenschaftli- Einladung und Ta- chen Lebens und der internationalen gungsführer.(©Uni- Zusammenarbeit die Bildung weiterer versitätsarchiv Ro- medizinischer Gesellschaften im Re- stock, mit freundl. publikmaßstab vorgesehen.15 Für die Genehmigung) Kinderheilkunde enthielt er die konkre- te Empfehlung, „beim Bestehenbleiben Gesellschaften in dieser Form nicht verfügten, fand das Konzept einer natio- der bisherigen regionalen Gesellschaften zur Unterstützung des staatlichen Ge- nalen Gesellschaft Zuspruch. Als erste ... eine Arbeitsgemeinschaft der Pädiater sundheitswesens, zur Planung der For- nationale medizinisch-wissenschaftli- der DDR im Verlauf des Jahres 1960“ schungstätigkeit oder zur Organisation che Gesellschaft gründete sich 1953 die zu gründen.16 Auchjetzttratmutmaß- wissenschaftlicher Tagungen auf natio- Gesellschaft für Orthopädie der DDR. lich nur der Hallenser Ordinarius Josef naler und internationaler Ebene heran- Im Bereich der Kinderheilkunde hatte Dieckhoff für die Gründung einer DDR- ziehen ließen. Unter dem Einfluss der das Ministerium für Gesundheitswesen Gesellschaft ein.17 Erst der Mauerbau zweiten Parteikonferenz der Sozialisti- die Koordinierung des für 1953 ange- 1961 führte zu einer grundlegenden schenEinheitsparteiDeutschlands(SED) setzten nationalen Pädiaterkongresses Änderung der Einstellung oder – wie im Juli 1952 in Berlin, die die Bedeu- zum Anlass genommen, den Vorsitzen- tung der Wissenschaft für den Aufbau den der Kinderärztegesellschaften und 13 Dieckhoff an Koch, 30.4.1952, BArch DQ des Sozialismus betont hatte, wurden Leitern der 6 Universitätskinderkliniken 1/20028. 14 im Gesundheitsministerium Pläne ent- die Zusammenfassung der vorhandenen Matthes T, Rohland L, Spaar H (1981) [wie Anm. 5], Teil 1, S. 63; Vgl. auch Positionspapiere wickelt, die zahlreichen medizinischen Gesellschaften unter einer Oberleitung des Staatssekretariats für das Hoch- und Gesellschaften an den Universitäten in bzw. die Gründung einer Pädiatriege- Fachschulwesen,BArchDR3ErsteSchicht1651. verschiedenen nationalen Fachgesell- sellschaft für die DDR vorzuschlagen.12 15 Harmsen H (Hg.) (1962): Der Perspektivplan schaften zusammenzufassen bzw. eine Auf positive Resonanz stieß diese An- zur weiteren Entwicklung der medizinischen einzige medizinische Gesellschaft der regung lediglich bei Josef Dieckhoff Wissenschaft und des Gesundheitswesens in DDR zu gründen, die sich in Sektionen (1907–1977), der 1950 von Westdeutsch- Mitteldeutschlandund in Ost-Berlin (1959/60), Hamburg,S.58. für die verschiedenen Fachrichtungen land an die Universität Halle gewechselt 16 Ebd.,S.84. gliedern sollte. Bei den lokalen Vereini- war.13 17 gungen stießen solche Gedanken jedoch Treffbericht mit GI Schmitts, 5.1.1961, Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen auf Widerstand. Lediglich in Fachgebie- 12 Koch an Brieger, Dieckhoff, Dölter, Peiper, des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen ten, die nicht oder nur vereinzelt über Ibrahim, Brugsch jun., 24.4.1952, BArch DQ Deutschen Demokratischen Republik (BStU) lokale oder regionale Gesellschaften 1/20028. AIMArbeitsvorgang19794/63,Bl.35–38.

16 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 habers Karl Nißler (1908–1987): „Wenn glieder in Berlin und den nördlichen man eine Mauer durch Berlin baut, Bezirken für nichtausreichend.22 wird man es auch fertigbringen, die Die Pädiatrie-Ordinarien und das Gründung der wissenschaftlichen Ge- Ministerium verständigten sich darauf, sellschaften der DDR durchzusetzen“.20 einen Gründungsaufruf in den Zeit- Auf der Herbsttagung der Sächsisch- schriften humanitas und Kinderärztliche Thüringischen Gesellschaft 1961 wurde Praxis zu veröffentlichen. Die offizielle angesichts der gänzlich veränderten Si- Gründung sollte auf der Frühjahrsta- tuation seit dem 13. August 1961 über die gung der Sächsisch-Thüringischen Ge- Notwendigkeit einer DDR-Gesellschaft sellschaft im Mai 1962 in Erfurt erfolgen. diskutiert und die Beratung dieser Fra- Parallel zu diesen Initiativen in der ge mit dem Gesundheitsministerium be- Pädiatrie wurden im Gesundheitsminis- schlossen. Nach einer Vorbesprechung terium seit Herbst 1961 Vorbereitungen im Ministerium lud Lothar Weingärtner zur Gründung einer Deutschen Gesell- als aktueller Vorsitzender der Sächsisch- schaft für klinische Medizin getroffen, Thüringischen Gesellschaft alle Ordina- die sich als Dachgesellschaft in verschie- rien im November 1961 zu einer Aus- dene Sektionen nach Fachgebieten glie- sprache mit Ministeriumsvertretern ein dern sollte. Ursprünglich hatte man die und wies dabei auf die Dringlichkeit der Pädiatrie nicht in dieses Konzept einbe- Gesellschaftsgründunghin:„NachErklä- zogen, da die Pädiater augenscheinlich rung des Ministeriums für Gesundheits- zu einer eigenständigen Gründung be- wesen sollen künftighin den einzelnen reit waren. Die vorgesehene Veröffentli- Gesellschaften der Fachgebiete besonde- chungdesAufrufsverzögertesichjedoch, re Aufgaben zugeteilt werden. Diese wür- da sich die Ordinarien und das Ministe- den vermutlich von der Sächsisch-Thü- rium nicht über dessen Inhalt verständi- ringischen Gesellschaft für Kinderheil- gen konnten. Aus Sicht des Ministeriums kunde allein nicht gelöst werden kön- fehlte in dem Entwurf der Ordinarien Abb. 5 8 Erste Tagung der Sektion Pädiatrie in nen. Ferner hängt die Frage der Kon- v. a. die prinzipielle Feststellung der po- der Deutschen Gesellschaft für Klinische Medi- gressbesuche in der Zukunft weitgehend litischen Notwendigkeit einer derartigen zin, am 26. und 27. April 1963 in Rostock-War- mit einer derartigen Gesellschaftsgrün- Gründung. nemünde, Programm. (© Universitätsarchiv Ro- dung zusammen“.21 Die stockenden Verhandlungen über stock, mit freundl. Genehmigung) Bei dem Treffen waren sich die Teil- den Gründungsaufruf veranlassten das nehmer schnell über die Notwendigkeit Ministerium im Frühjahr 1962 dazu, es in der DDR-Geschichtsschreibung einernationalenDDR-Gesellschafteinig. die Pädiater doch noch in die Vor- heißt – zu einem „ideologischen Um- Erheblichen Diskussionsbedarf gab es bereitung der Deutschen Gesellschaft denkungsprozeß“ besonders bei solchen jedoch zur künftigen Stellung der Säch- für Klinische Medizin einzubeziehen. Ärzten und Wissenschaftlern, „die bis- sisch-Thüringischen Gesellschaft. Hier Die offizielle Gründung dieser Dach- her noch eine abwartende Haltung bzw. musstesichderMinisteriumsmitarbeiter, gesellschaft fand am 5. Juni 1962 im die Position eines ,Wanderers zwischen der mit dem Ziel ihrer Auflösung ange- Senatssaal der Humboldt-Universität in den Fronten‘ eingenommen hatten“.18 reist war, dem anhaltenden Widerstand Berlin statt. Nach der Plenarsitzung be- Angesichts der Abriegelung der DDR beugen. Man einigte sich darauf, dass rieten die anwesenden 150 Professoren erschien den ostdeutschen Pädiatern die Sächsisch-Thüringische Gesellschaft nach Sektionen getrennt über den jewei- die Gründung einer eigenen Gesell- Bestandteil der neuen DDR-Gesellschaft ligen Vorstand. Den politischen Auftrag, schaft unvermeidbar.19 Beispielhaft für werden solle. Den Wunsch nach einer Josef Dieckhoff, Lothar Weingärtner und die mehrheitlich resignierte Haltung weiteren Regionalgesellschaft für den Ingeborg Rapoport in den Vorstand zu der Pädiatrie-Ordinarien erscheint die Norden der DDR wies das Ministerium bringen, konnte die teilnehmende Mi- ÄußerungdesMagdeburgerLehrstuhlin- jedoch kategorisch mit dem Argument nisteriumsmitarbeiterin nur ansatzweise zurück, man wolle keine „Verewigung erfüllen. Die anwesenden Pädiater wähl- 18 Matthes T, Rohland L, Spaar H (1981) [wie derlandsmannschaftlichenAbgrenzung“ ten zwar Dieckhoff zum Vorsitzenden, Anm.5],Teil1,S.62. und halte die Zahl der potenziellen Mit- jedoch den aktuellen Vorsitzenden der 19 Vgl. Aussage von Lothar Weingärtner, o.D. In: Sächsisch-Thüringischen Gesellschaft Radke M (1987): Der Weg der Kinderheilkunde Helmut Patzer zum Stellvertreter und zur wissenschaftlich-medizinischen Disziplin 23 20 Peter Großmann zum Sekretär. in Deutschland und Studien zur Entwicklung Nißler an Weingärtner, 21.11.1961, Universi- der Pädiatrie in der DDR. Voraussetzungen, tätsarchiv(UA)HalleRep30cNr.34. Tendenzen, Institutionen, Potentiale, Diss. med. 21 Weingärtner an alle Ordinarien der DDR, 22 Aktennotiz Misgeld, 24.11.1961, BArch DQ B.Rostock1987,S.101. 14.11.1961,BArchDQ1/23211. 1/23211.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 17 Pädiatrie nach 1945

die Ansicht, dass sich Bezeichnungen wie „Sektion“bzw.„Arbeitsgemeinschaft“für den Auftritt auf internationaler Ebene nicht eigneten. Angeblich entschied man sich für den Namen Gesellschaft für Päd- iatrie der DDR v. a. aufgrund des interna- Abb. 6 9 Verlei- tional bekannteren Begriffs „Pädiatrie“.28 hung des Natio- Möglicherweise wollte man sich mit der nalpreises II. Klasse an Josef Dieckhoff Bezeichnung auch deutlich von der west- durch den Vorsit- deutschen Gesellschaft abgrenzen. zenden des Staats- Trotz des Mauerbaus und der Grün- rates der DDR, Wal- dung der Sektion Pädiatrie hatten viele ter Ulbricht, 6. Okto- DDR-Pädiater an ihrer Mitgliedschaft in ber 1963. (Fotograf: Heinz-Junge, Bun- der DGfK festgehalten. Diese verfügte desarchiv-Bildar- 1966 über insgesamt 2890 Mitglieder, chivBild183-B1006- von denen 410 in der DDR lebten.29 0007-012. © Bun- AusSichtderSEDstütztedieserZu- desarchiv-Bildar- stand den Alleinvertretungsanspruch chiv, mit freundl. Genehmigung) der westdeutschen Gesellschaften und erschwerte so die internationale Arbeit und die völkerrechtliche Anerkennung Mit einer Frühjahrstagung im April ausrichten. Ausländische Redner sollten der DDR.30 Auf der Vorstandssitzung 1963 (. Abb. 5) in Rostock trat die nurinAusnahmefällenaufihrenTa- der Sektion Pädiatrie im April 1967 Sektion erstmals öffentlich in Erschei- gungen auftreten, die ohnehin immer machte der Ministeriumsmitarbeiter nung. Die eigentliche Konstituierung stärker den Charakter von Fortbildungs- Lothar Rohland in einem Referat daher und 1. Jahrestagung der Sektion fand im veranstaltungen tragen sollten. Unter deutlich, dass der Alleinvertretungsan- Herbst 1963 in Dresden statt. Hier wurde diesen Umständen ging die Aktivität der spruch Westdeutschlands seitens der trotz kontroverser Diskussionen24 über Sächsisch-Thüringischen Gesellschaft Sektion Pädiatrie nicht gefördert werden die Notwendigkeit der Gründung das trotz aller Bemühungen seitens ihres dürfte. Allein auf der Grundlage der zuvor mit dem Gesundheitsministerium Vorstands kontinuierlich zurück. Eine Gleichberechtigung beider Gesellschaf- abgestimmte Statut verabschiedet und formale Auflösung erfolgte jedoch nicht, ten sei eine Zusammenarbeit möglich. der seit Juni 1962 vorläufig amtierende vielmehr wurde die Zustimmung der Der Vortrag Rohlands war Ausdruck des Vorstand bestätigt. Mitgliederversammlung der DDR-Ge- schärferen Abgrenzungskurses der SED Trotz des kurzfristigen Zugeständ- sellschaft im November 1969 in Erfurt in der Deutschlandfrage, der auch die nisses im Vorfeld der Sektionsgründung zur Gründung von Regionalgesellschaf- Wissenschafts- und Kulturbeziehungen verfolgte das Ministerium intern von tenalsEinverständniszumAufgehender zur Bundesrepublik bestimmte.31 Die im Anfang an den Plan, die Sächsisch- Sächsisch-Thüringischen Gesellschaft in April bzw. Mai 1967 vom Zentralkomi- Thüringische Gesellschaft nach Grün- die Regionalgesellschaften gewertet.26 Zu tee (ZK) der SED und vom Ministerrat dung der DDR-Gesellschaft eingehen zu diesem Zeitpunkt gehörten der DDR- der DDR beschlossenen „Richtlinien für lassen.25 Ihre bisherige Selbstständigkeit Gesellschaft bereits fast 1400 Mitglieder die Gestaltung der Arbeit im Bereich wurde durch eine Vielzahl an Vorga- an, 1973 hatte sie 2177, 1980 3028 und Wissenschaft und Kultur der DDR nach ben eingeschränkt. Als Untergruppe 1989 3426 Mitglieder.27 WestdeutschlandsowienachWestberlin“ der Sektion Pädiatrie musste sie ihre Satzung dem Sektionsstatut anpassen, Gesellschaft für Pädiatrie der 28 ihre Tagungsprogramme mit der Sekti- DDR 1967 Bericht des Parteigruppenorganisators Gün- ter Gudowski über die erw. Vorstandssitzung on abstimmen und an den Perspektiven der Sektion Pädiatrie am 19.10.1967, BArch DQ des Ministeriums für Gesundheitswesen Im Jahr 1967 erfolgte die Umbenennung 101/729. der Sektion Pädiatrie in eine Gesellschaft 29 Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde 23 Aktennotiz Hiltrud Sturmhöfel, o.D. [1962], fürPädiatrie derDDR.Die Initiative hier- (Hg.) (1966): Geschäftsbericht und Mitglieder- BArchDQ1/23211. zu ging nicht von den Pädiatern, sondern verzeichnis,Stand1.1.1966. 24 Dietzsch H-J (1994): Zur Chronologie und vom Gesundheitsministerium und der 30 Argumentationshinweise zur Frage der GeschichtederGesellschaftfürPädiatriederDDR Dachgesellschaft aus. Hier vertrat man Mitgliedschaft von Bürgern der Deutschen 1962–1990. In: Monatsschrift Kinderheilkunde Demokratischen Republik in medizinisch- 142(Suppl2),S.9–24. wissenschaftlichen Gesellschaften der west- 25 Aktenvermerk Fischers über Rücksprache 26 ProtokollderVorstandssitzungam23.4.1970, deutschen Bundesrepublik, o.D. [um 1970], Gen. Rohland, Gen. Dr. Schorr, Genn Fischer, ArchivDGKJ,GfPOrdner6Vorstand1970–1980. BArchDQ101/233. 10.5.1962,BArchDQ1/20788. 27 DietzschH-J(1994)[wieAnm.24],S.10. 31 NiederhutJ(2007)[wieAnm.3],S.52ff.

18 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 sahen die Lösung der gesamtdeutschen lange Zeit bekämpft. Im September 1973 Staats vertrat die DGfK die „Positi- Wissenschaftsverbindungen vor. Zu den traten schließlich beide deutsche Staaten on der Bonner Alleinvertretungsanma- beschlossenen Maßnahmen gehörte u. a. gleichzeitig der United Nations Organi- ßung“ und erkannte die Existenz einer der Austritt der ostdeutschen Mitglieder zation (UNO) bei. DDR-Gesellschaft nicht an. So war sie aus den westdeutschen Gesellschaften. Vorkämpferfürdie internationale An- nach einer für das DDR-Gesundheitsmi- Da die DDR-Wissenschaftler trotz ideo- erkennung der Gesellschaft für Pädia- nisterium verfassten Darstellung nicht logischer Überzeugungsarbeit vielfach trie der DDR war erneut Josef Dieckhoff bereit, „zu ihren Tagungen Wissen- nicht freiwillig ihre Mitgliedschaft aufga- (. Abb. 6), der sich schon früh für eine schaftler der DDR als offizielle Vertreter ben, drohten die jeweiligen Vorgesetzten eigenständige DDR-Gesellschaft einge- der DDR-Gesellschaft einzuladen und mit Disziplinarmaßnahmen oder beruf- setzt hatte. Bereits 3 Monate nach der diesen eine gleichberechtigte Teilnahme lichen Nachteilen. Zudem wurden die offiziellenGründungderSektionPädia- zu garantieren“.38 Obwohl die DGfK im wissenschaftlichen Gesellschaften in die trie reiste eine 4-köpfige Delegation un- Zuge der einsetzenden Entspannungs- Austrittskampagne eingebunden.32 Am ter seiner Leitung mit dem Auftrag zum politik im Vorfeld der Jahrestagung 23. April 1970 stellten sich die Vorstands- 10. Internationalen Kongress für Kinder- 1970 in Wiesbaden ein Eingehen auf mitglieder der Gesellschaft für Pädiatrie heilkunde in Lissabon, bei ausländischen die ostdeutsche Forderung nach einer der DDR offiziell hinter die Austritts- Fachwissenschaftlern für die Aufnahme offiziellen Einladung einer DDR-Dele- forderung und verpflichteten sich, diese der Sektion in die IPA zu werben.35 Auch gation signalisierte39 und 1971 für die in Mitgliederdiskussionen zu vertreten im Vorfeld und während des 11. Interna- Aufnahme der Gesellschaft für Pädia- und die persönlichen Konsequenzen zu tionalen Kongresses für Kinderheilkun- trie der DDR in die IPA votiert hatte, ziehen. Im Archiv der DGfK finden sich de in Tokio 1965 setzte Dieckhoff sei- kam es zu keiner Annäherung zwi- mehr als 100 Austrittserklärungen ost- ne Sondierungsgespräche – allerdings er- schen beiden Gesellschaften. Die offi- deutscher Mitglieder. Einzelne Verfasser gebnislos – fort. Erst im Zuge der SED- zielle Teilnahme einer DDR-Delegation wie beispielsweise der Oberarzt der Kin- Kampagne zur Lösung der deutsch-deut- an den Jahrestagungen der DGfK war derklinik im Kreis Zittau machten aus schen Wissenschaftsbeziehungen wurde erst 1978 möglich – nach Abschluss und ihrer Zwangslage keinen Hehl: „Auf die Aufnahme der DDR-Gesellschaft in Ratifizierung des deutsch-deutschen höhere Anweisung hin sehe ich mich die IPA ab 1968 systematisch vorbereitet, Gesundheitsabkommens.40 hiermit leider veranlaßt, meinen Austritt u. a. durch Abstimmung mit der Gesell- aus der Gesellschaft für Kinderheilkunde schaft für Pädiatrie der Tschechoslowa- Resümee der Bundesrepublik zu erklären“.33 kischen Sozialistischen Republik (ČSSR) und durch vorbereitende Gespräche mit DieGründungsgeschichtederGesell- Internationale Anerkennung Funktionsträgern der IPA. Im Sommer schaft für Pädiatrie der DDR unterlag wie und deutsch-deutsche 1971zeigtendieBemühungenschließlich die allgemeinen Wissenschaftsbeziehun- Annäherung Erfolg, als die Gesellschaft für Pädiatrie genzwischenOst-undWestdeutschland der DDR mit Zustimmung des Vertreters ab 1945 den Bedingungen der gesamtpo- Der Weg der Gesellschaft für Pädiatrie der DGfK während des 13. Internatio- litischen Entwicklung. Trotz doppelter der DDR in die 1912 gegründete inter- nalen Kongresses für Kinderheilkunde in Staatsgründung blieb die enge Verflech- nationale Pädiatervereinigung IPA voll- Wien in die IPA aufgenommen wurde.36 tung auf dem Gebiet der Wissenschaft zog sich vor dem Hintergrund der all- Wesentlich schwieriger als die inter- im Nachkriegsdeutschland zunächst be- gemeinen weltpolitischen Entwicklung, nationale Anerkennung gestalteten sich stehen. Auch die Kinderheilkunde war die der DDR im Zuge der Ost-West-Ent- die Kontakte zur westdeutschen Päd- noch bis in die 1960er-Jahre von fach- spannungzuBeginnder1970er-Jahrezur iatervereinigung. Nach dem Mauerbau lichem Austausch und traditionellen staatlichen Anerkennung auf internatio- durften ostdeutsche Pädiater mehrere Bindungen zwischen ost- und westdeut- naler Ebene verhalf. Im November 1972 JahrenichtandenTagungenderDGfK schen Pädiatern geprägt. Im Zuge ihrer wurde sie in die United Nations Edu- teilnehmen.37 In den Augen des SED- Abgrenzungs- und Anerkennungspolitik cational, Scientific and Cultural Organi- schränkte die DDR-Führung diese Ver- zation (UNESCO) und im Mai 1973 in flechtung immer mehr ein und drang 35 TreffberichtGI„Schmitz“,1.10.1962.BStUAIM die World Health Organization (WHO) Arbeitsvorgang 19794/63, Bl. 68–70; Dieckhoff darauf, die Bindungen vollständig zu aufgenommen.34 Beiden Organisationen anSefrinam24.9.1962(Abschrift).Ebd.,Bl.71f. hatte die Bundesrepublikbereitsseit1951 36 Bericht über den XIII. Internationalen Kon- angehört und die Aufnahme der DDR gressfürPädiatrieinWienvom29.8.bis4.9.1971, 38 Erfassung der DGfK mit Formblatt (1967/68), ArchivderHumboldt-Universität,DIB2110. BArchDQ101/263a. 37 39 OehmeanPatzer,18.3.1970,ArchivderDGKJ, 32 Ebd.,S.87. Vgl. Schriftwechsel im Nachlass Albrecht Peipers, z. B. Karl Nißler an Peiper, 27.6.67. OrdnerLXXVIII. 33 AustrittserklärungDr.Rudolpham14.5.1970, ABBAW NL Albrecht Peiper 36. Ausweislich der 40 Bericht über den Aufenthalt der Delegation ArchivderDGKJ,DGfKKartonLXXVIII. Eröffnungsansprachen konnten ostdeutsche derGesellschaftfürPädiatriederDDRaufder75. 34 Ludwig Mecklinger (1973): Die DDR ist Pädiatervereinzelt an Jahrestagungen derDGfK TagungderDGfKvom4.bis6.9.1978inFreiburg, MitgliedderWHO.In:humanitas13,Heft11. teilnehmen. UAGreifswald,DIB269,Bl.189–192.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 19 Pädiatrie nach 1945

lösen. Die ostdeutschen Wissenschaft- ler fügten sich dem politischen Druck, gründeten zunächst eigene nationale Gesellschaften und traten später aus den gesamtdeutschen Gesellschaften aus. Im Zuge der Internationalisierung der Wis- senschaft in den 1960er-Jahren löste die internationale Scientific Community die deutsch-deutschen Wissenschaftsbezie- hungen als Bezugsrahmen der ostdeut- schen Wissenschaftler ab.

Korrespondenzadresse

Dr. A. Hinz-Wessels Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin Thielallee 71, 14195 Berlin, Deutschland [email protected]

Annette Hinz-Wessels, Dr. phil.; Studium der Geschich- te, Politikwissenschaft und Staatsrecht in Heidelberg und Bonn, 1995 Promotion; wissenschaftliche Mitar- beiterin in verschiedenen Forschungseinrichtungen, MuseenundArchiven;seit2014wissenschaftlicheMit- arbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin und EthikinderMedizinanderCharité–Universitätsme- dizinBerlinimForschungsprojekt„PädiatrieinderSBZ und DDR 1945–1989/90“ (Friede Springer Stiftung).

20 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Thomas Beddies Besetzung pädiatrischer Lehrstühle in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg

Im Folgenden handelt es sich um den Berlin (Freie Universität) ßigen Professor ernannt worden; wahr- Versuch, einen Überblick über die Ge- scheinlich bereits kurz zuvor hatte er als schichte der universitären Pädiatrie in 4 Gerhard Joppich (1903–1992) – Chefarzt die Kinderklinik in Łódź (da- den westlichen Besatzungszonen und der 1948–1954 mals Litzmannstadt) übernommen, die Bundesrepublikvon1945biszumBeginn 4 Adalbert Loeschke (1903–1970) – er nach Verlagerung und Flucht im April der 1960er-Jahre zu geben. Der zeitliche 1954–1970 1945 in Perleberg „abwickelte“. Bevor er Bezugsrahmen wird also durch das Ende nach Berlin berufen wurde, war er einige des Zweiten Weltkriegs und die Zemen- In West-Berlin kam 1948 mit Gerhard Jahre in Mannheim kinderärztlich tätig tierung der deutschen Teilung durch den JoppicheinMannaufdenpädiatrischen gewesen. Bau der Berliner Mauer gebildet. In der Lehrstuhl der neu gegründeten Freien Im Jahr 1957 war es noch möglich, Sache geht es um die Reorganisation aka- Universität (FU), der aus heutiger Sicht dass sowohl Adalbert Loeschke (FU, demischer Strukturen und die Wieder- im Hinblick auf die Zeit der National- Westberlin) als auch Friedrich Hartmut aufnahme medizinischer Forschung und sozialismus (NS) als „belastet“ zu gel- Dost (Charité, Berlin – Hauptstadt der Lehre; es geht aber – in den Fakultäten ten hat. Zeitgenössisch erwuchsen ihm DDR) zu Mitgliedern der Deutschen und in der Fachgesellschaft – auch um aus seiner führenden Rolle in der NS- Akademie der Naturforscher Leopoldi- „Entnazifizierungen“, „Seilschaften“ und geprägten Jugendmedizin jedoch keine na in Halle gewählt wurden, und selbst „Persilscheine“; es geht um Aufbruch, Nachteile. Joppich war bereits seit 1944 nachdemMauerbaunahmLoeschke,der Anpassung und Beharrung. Direktor des Kaiserin-Auguste-Viktoria- auch „Ostverwandtschaft“ hatte, 1963 an Auf dem Gebiet der westlichen Besat- Hauses in Berlin-Charlottenburg gewe- einer kinderärztlichen Tagung in Halle zungszonen existierten vor 1945 16 Uni- sen und hatte das Haus einigermaßen un- teil. Er erstellte darüber, mutmaßlich versitätsstandorte mit pädiatrischen Kli- beschadet über das Kriegsende gebracht. für den Westberliner Verfassungsschutz, niken; später traten noch Mainz (1946), Es hätte geradezu eines Affronts bedurft, einen zweiseitigen Bericht, der in seiner Westberlin (1948) und Homburg (Saar; ihndortabzulösen.Auchseinehemaliger Personalakte heute noch vorhanden ist. 1950) hinzu. Angesichts des zur Verfü- Chef an der Kölner Kinderklinik, Hans gung stehenden Raums kann vor diesem Kleinschmidt (nach 1945 in Göttingen), Göttingen Hintergrund kaum mehr als ein kurso- hatte sich dahingehend geäußert, dass rischer Überblick über die Ausgangssi- der ehemalige hochrangige Funktionär 4 Hans Beumer (1884–1945) – tuation und die Entwicklung nach 1945 in der „Gesundheitsführung der Hitler- 1927–1945 geboten werden. Exemplarische Einzel- jugend“ und designierte Leiter einer na- 4 Hans Kleinschmidt (1885–1977; studien werden im vorliegenden Heft je- tionalsozialistischen „Akademie für Ju- . Abb. 7) – 1945–1954 doch für Bonn, Erlangen, Gießen und gendmedizin“ auf Kongressen etc. durch- 4 Gerhard Joppich (1903–1992) – Münster geboten. aus wieder präsentiert werden könnte. 1954–1972 In der „Frontstadt“ Berlin und an der „Gegengründung“ Freie Universität war Adalbert Loeschke hatte noch bei Hans sein Antikommunismus wahrscheinlich Beumer in Göttingen gelernt, bevor er wichtiger als seine NS-Vergangenheit. nach Köln zu Kleinschmidt gegangen DervorliegendeBeitragberuhtimWesentlichen AlsJoppich1954alsNachfolgerKlein- war. Beumer war im Februar 1945 ge- auf gedrucktem Material, seien es medizin- schmidts nach Göttingen wechselte, ge- storben; und es hatte sich – vielleicht historische Doktorarbeiten, seien es die in lang es ihm, seinen Mitassistenten der zufällig – getroffen, dass Hans Klein- vergangenen Jahren vermehrt entstandenen Kölner Kinderklinik, Adalbert Loeschke, schmidt (. Abb. 7), damals zwischen Historiographien deutscher Universitäten, me- dizinischer Fakultäten und Fachgesellschaften. als Nachfolger in Berlin zu etablieren. Berlin und dem Rheinland pendelnd, Eine mit Nachweisen versehene Fassung des Loeschke, wie Joppich Jahrgang 1903, 3 Tage vor dem Einmarsch der Ameri- BeitragskannbeimAutorangefordertwerden. war 1942 in Köln zum außerplanmä- kaner in Göttingen Station machte und

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 21 Pädiatrie nach 1945

Universität Leipzig, wurde von der deut- 4 Hans Knauer (1895–1952) – schen Ärzteschaft durch Verleihung der 1934–1940 Paracelsus-Medaille geehrt.“ Die Vertrei- 4 Georg Oskar Harnapp (1903–1980) – bungSiegfriedRosenbaums(1890–1969) 1940–1943 von der Leipziger Kinderklinik nach der 4 Otto Julius Ullrich (1894–1957) – Machtübernahme 1933 wurde nicht 1943–1957 erwähnt. 4 Heinz Hungerland (1905–1987) – In Göttingen fand im August 1948 1958–1973 auch der erste Nachkriegskongress der DGfK statt. Immerhin 400 Kinderärzte In Bonn war 1934 gegen den Willen aus ganz Deutschland nahmen damals der Fakultät der „alte Kämpfer“ (Mit- teil, wobei das Reisen von Ost nach West glied der Nationalsozialistischen Deut- bereits erschwert war; außerdem war im schen Arbeiterpartei, NSDAP, vor 1933) Juni1948die D-Markeingeführtworden. Hans Knauer aus Breslau auf den Lehr- Kleinschmidts Nachfolger in Göttin- stuhl für Kinderheilkunde berufen wor- gen wurde 1954 sein Schüler und frü- den. Als möglicher Grund für diese Wahl herer Mitarbeiter, der erwähnte Gerhard wird erwähnt, dass die Klinik in einem so Joppich. schlechten Zustand war, dass man glaub- te, keinen renommierten Fachvertreter Köln gewinnenzukönnen.Knauerwurde1943 entfernt (und nach 1945 als „entlastet“ 4 Hans Kleinschmidt (1885–1977) – eingestuft). Ihm folgte der fachlich bes- 1931–1944 ser beleumundete Georg O. Harnapp, der Abb. 7 8 Hans Kleinschmidt (1885–1977). (© 4 Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen aber ebenfalls von der Fakultät nicht un- Institut für Geschichte der Medizin und Ethik (1903–1971) – 1947–1970 terstützt wurde. in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Otto Julius Ullrich, der 1943 mit dem Berlin, mit freundl. Genehmigung) Die Universitätskinderklinik Köln war Lehrstuhl auch eine völlig zerstörte Kli- bis 1944 von Hans Kleinschmidt geleitet nik übernahm, galt nach 1945 als un- die dortige Kinderklinik zunächst kom- worden. Im Oktober dieses Jahres waren belastet. Er gehörte sogar dem universi- missarisch übernehmen konnte. Mitte die Klinikgebäude zerschlagen worden; tätsinternen Prüfungsausschuss an, der 1946 erteilte die britische Militärregie- bereits 1943 hatte man, wie vielerorts, über die Weiterbeschäftigung von Uni- rung die Zustimmung zur Berufung. große Teile der „Lindenburg“ evakuie- versitätsangehörigen nach 1945 befand. Auf Kleinschmidt, der in Berlin als ren müssen. Später wurde er u. a. Dekan der Medizi- Nachfolger für den 1944 plötzlich ver- Da Kleinschmidt nach dem Krieg nischen Fakultät (vgl. hierzu den Beitrag storbenen Georg Bessau vorgesehen keine Anstalten machte, an den Rhein von Oommen-Halbach im vorliegenden gewesen war und dort im Winterse- zurückzukehren, wurde 1947 Carl-Gott- Heft). mester 1944/1945 gelesen und geprüft lieb Bennholdt-Thomsen berufen, der hatte, geht 1948 die „Wiedergründung“ bis 1945 die Deutsche Kinderklinik in Düsseldorf der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- Prag geleitet hatte und in Hamburg nicht heilkunde“ (DGfK) mit Genehmigung zum Zuge gekommen war. Für Benn- 4 Fritz Goebel (1888–1950) – der britischen Besatzungsmacht zurück. holdt-Thomsen begann eine schwierige 1937–1950 Außerdem wurde er Schriftleiter der Zeit im stark zerstörten Köln, als „Preis“ 4 Karl Franz Klinke (1897–1972) – Monatsschrift für Kinderheilkunde,die winkte dann jedoch eine neue und mo- 1951–1965 1948/1949 wieder erscheinen konnte. derne Kinderklinik. Nur anzudeuten ist Man kann wohl ohne Übertreibung hier, dass Bennholdt-Thomsen aus seiner In Düsseldorf hatte Fritz Goebel, aus sagen, dass Kleinschmidt in den An- Prager Zeit als stark belastet in Bezug auf Halle kommend, 1937 Adalbert Czerny fangsjahren der bundesdeutschen Uni- die Umsetzung der NS-Rassen- und NS- (1863–1941) abgelöst, der nach der Ver- versitätspädiatrie Ton und Richtung Gesundheitspolitik bis hin zur „Vernich- treibung Albert Ecksteins den Düssel- angegeben hat und auch die Linie der tung lebensunwerten Lebens“ zu gelten dorfer Lehrstuhl vertreten hatte. Goebel, DGfK in Fragen des Umgangs mit der hat. langjähriger Schriftführer der DGfK Vergangenheit bestimmte. So heißt es (und damit mitverantwortlich für die 1961 in der Rubrik „Tagesgeschichte“ Bonn „Säuberung“ der Gesellschaft von „ras- der Monatsschrift für Kinderheilkunde: sisch“ unliebsamen Mitgliedern nach „Prof. Dr. Siegfried Rosenbaum in Tel 4 Theodor Gött (1880–1934) – 1933), richtete 1949 den zweiten Nach- Aviv (Israel), Schüler Bessaus, ehemals 1915–1934 kriegskongress der Gesellschaft aus: In Privatdozent und a.o. Professor an der seiner Eröffnungsansprache heißt es in

22 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 kei nach Deutschland denkbar wurde. Kiel Goebel äußerte sich also in eigener Sa- che gegenüber den britischen Behörden, 4 Erich Rominger (1886–1967) – als er feststellte, dass der Lehrstuhl für 1925–1954 Pädiatrie, von dem Eckstein vertrieben 4 Werner Catel (1894–1981; . Abb. 8) worden war, besetzt sei (nämlich durch – 1954–1960 ihn,wasernichterwähnte).Ecksteinging 4 Hans-Rudolf Wiedemann wie bekannt nach Hamburg, und es ist (1915–2006) – 1961–1980 nicht ohne Ironie, dass Erich Rominger als Kongresspräsident in Kiel 1950 bei- Kiel weist in der Person Erich Romingers der quasi in einem Atemzug zu geden- eine bemerkenswerte personelle Konti- ken hatte: „Besonders hart trifft uns der nuität auf dem pädiatrischen Lehrstuhl Tod zweier unserer besten Kliniker, For- auf. Rominger kann, anders als sein scher und Lehrstuhlinhaber in so kur- Nachfolger, in Bezug auf irgendwelche zem Abstand. Albert Eckstein, der erst Sympathien für den NS als unverdächtig ein halbes Jahr wieder in Deutschland gelten. In seiner Ansprache als Präsident war, hat durch seine nahezu fünfzehn- des Kongresses 1950 führte er mit Be- jährige Tätigkeit in der Türkei das Anse- dacht aus: „Manche unserer Kritiker des hen unserer deutschen Kinderheilkunde In- und Auslandes, die – uns bedauernd im Ausland gestärkt und außerordent- –davonsprechen,dasswirdieFührung lich erhöht. Fritz Goebel, unser letztjäh- in der internationalen Pädiatrie verloren riger Vorsitzender, dem unsere Gesell- hätten, scheinen mir zu übersehen, dass Abb. 8 8 Werner Catel. (© Institut für Geschich- tederMedizinundEthikinderMedizin,Charité– schaft während seiner langjährigen Tä- es heute nicht mehr zu erwarten ist, Universitätsmedizin Berlin, mit freundl. Geneh- tigkeit als Schriftführer soviel verdankt, dass eine Nation auf einem wichtigen migung) ist stets eines unserer rührigsten und im medizinischen Gebiet, wie es die Kin- In- und Ausland bekanntesten Mitglie- derheilkunde darstellt, führt. Vielmehr Bezug auf eingeworbene Industriemittel: der gewesen, der unser aller Vertrauen wünschen wir uns heute eine weltweite, „[Damit] konnten wir allen Teilnehmern uneingeschränkt genoß.“2 internationale Zusammenarbeit, in der ausderOstzone,dieunsdarumangingen, Nachfolger Goebels in Düsseldorf jede wichtige Beobachtung oder Entde- die Eisenbahnfahrt von Düsseldorf nach wurde Karl Klinke, der dafür von der ckung, gleichgültig in welchem Land sie der Zonengrenze und ein Taschengeld Ostberliner Charité an den Rhein wech- erfolgt, unserem Sonderfach so schnell von 25,– DM außerdem aushändigen. selte. wiemöglichzugutekommt... Wirwis- ... Mit besonderer Freude erfüllt uns sen ..., dass wir und die, die nach uns der starke Besuch aus der Ostzone. Münster kommen, ein bereits bestelltes, zu einem Über 200 Anfragen haben uns erreicht großen Teil durch 10 Jahre Weltkrieg und, wenn nicht alle Interessenten ge- 4 Hans Vogt (1874–1963) – 1924–1943 undeineetwaebensolangdauerndeüble kommensind,solagesnichtetwaan 4 Hermann Mai (1902–2001) – Nachkriegszeit zerstörtes Land wieder der Nichterteilung der Interzonenpässe, 1943–1970 zu beackern haben.“3 sondern an den Schwierigkeiten, die der Nachfolger Romingers wurde Werner Umrechnungskurs der Ostmark in die In Münster war bis 1943 der lang gedien- Catel (. Abb. 8). Der Bessau-Schüler Ca- Westmark verursacht.“1 Das war kurz te Hans Vogt tätig. Im Jahr 1943 über- tel hatte von der Vertreibung Siegfried vor Gründung der DDR am 7. Oktober nahm dann, aus Prag kommend, Her- Rosenbaums profitiert und 1933 den 1949. mann Mai den Lehrstuhl, der über lange Leipziger Lehrstuhl übernommen. Seit Goebel war 1945 als Rektor der Me- Jahre die Pädiatrie in Münster bestimm- 1939 war er Gutachter der sog. Kin- dizinischen Akademie eingesetzt wor- te (vgl. hierzu den Beitrag von Topp im dereuthanasie, außerdem befand sich an den. Im Jahr 1950 musste er sich mit vorliegenden Heft). seinerKlinikeine „Kinderfachabteilung“, der peinlichen Situation auseinanderset- in der Kinder aktiv getötet wurden. Er zen, dass eine Rückkehr Albert Ecksteins warb auch nach 1945 – wohl als ein- (1891–1950), des vormaligen Ordinarius ziger deutscher Kinderarzt – offensiv für Pädiatrie in Düsseldorf, aus der Tür- für die Legalisierung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Nach Catels Ausscheiden 1960, zu 1 2 Goebel F (1949) Eröffnungsansprache zur Rominger E (1951): Eröffnungsansprache zur dem auch studentische Proteste beige- 49. ordentlichen Versammlung der Deutschen 50. ordentlichen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in Düsseldorf. Gesellschaft für Kinderheilkunde in Lübeck tragen hatten, kam die Kieler Pädiatrie In: Monatsschrift fürKinderheilkunde 98 (1950), 1950.In:MonatsschriftfürKinderheilkunde99,S S1–2,S1. 1–5,S4. 3 Ebd.,S1–5,S2.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 23 Pädiatrie nach 1945

mit Hans-Rudolf Wiedemann wieder in org Bessau begonnen hatte. Linneweh kannt. Im Frühjahr 1933 trat er in die SS ruhigeres Fahrwasser. hattesichu.a.nochmitderVertreibung ein“4 (SS: Schutzstaffel der NSDAP). seines Vorgängers Ernst Freudenbergs In dem stark zerstörten Gießen stabi- Hamburg (1884–1967) auseinanderzusetzen, der lisierte sich die pädiatrische Versorgung unter schwierigen und beschämenden trotz unbestreitbarer Verdienste Fritz 4 Rudolf Degkwitz (1889–1973) – Umständen als „jüdisch versippt“ – sei- Kochs und Heinz Hungerlands erst mit 1932–1948 ne Frau war eine getaufte Jüdin – 1938 der Übernahme des Lehrstuhls durch 4 Albert Eckstein (1891–1950) – 1950 hatte in die Schweiz wechseln müssen. Dost, der 1960 von der Charité in den 4 Karl-Heinz Schäfer (1911–1985) – Freudenberg, um den man sich seitens Westen wechselte. Er leitete die Gießener 1951–1979 der DGfK intensiv bemühte, kehrte zwar Universitäts-Kinderklinik bis 1975 (vgl. nicht nach Deutschland zurück, öffnete hierzu den Beitrag von Roelcke und In Hamburg ging es nach 1945 in der der deutschen Pädiatrie aber erste Wege Topp im vorliegenden Heft). Pädiatrie zunächst recht turbulent zu. zurück auf das internationale Parkett. Im Verbunden ist dies mit der Person – Jahr 1954, dem Jahr seiner Emeritierung Heidelberg und der Persönlichkeit – von Rudolf in Basel, besuchte er die Jahrestagung in Degkwitz, der, mit Widerspruchsgeist Essen und hielt dort ein wissenschaft- 4 Ernst Moro (1874–1951) – und lebhaftem Temperament ausgestat- liches Referat. Seine aktive Teilnahme 1911–1936 tet, sich bereits mit der NS-Obrigkeit wurde von den Kollegen als „Geste der 4 Johann Duken (1889–1954) – immer wieder angelegt hatte. Als er Versöhnung“ verstanden. Auf Betreiben 1937–1945 1944/1945 eine Haftstrafe verbüßen Linnewehs wurde Freudenberg 1965 die 4 Philipp Bamberger (1898–1983) – musste, übernahm zunächst Carl-Gott- Ehrenpromotion der Universität Mar- 1946–1966 lieb Bennholdt-Thomsen den Lehrstuhl, burg verliehen. 4 Hans Opitz (1888–1971) – interim. bis er seinem nach Kriegsende zurück- kehrenden Vorgänger weichen musste. Gießen In Heidelberg hatte Ernst Moro, der in Degkwitz, der nach dem Krieg insbe- einer „Mischehe“ lebte, nach 25 Jahren sondere gegen Catel und den Hambur- 4 Hans Koeppe (1867–1939) – 1936 entnervt um seine Emeritierung ger „Euthanasie“-Täter Wilhelm Bayer 1912–1933 gebeten. Auf ihn folgte bis 1945 Johann (1900–1972) zu Felde gezogen war, 4 Johann Duken (1889–1954) – Duken, dessen unrühmliche Rolle im verzichtete 1948 jedoch resigniert und 1933–1938 Rahmen der NS-Krankenmorde in Hei- verärgert angesichts bundesdeutscher 4 Walter Keller (1894–1967) – delberg inzwischen gut untersucht ist. Restauration und ging in die USA. Als 1939–1945 Im Jahr 1945 wurde Duken interniert. In Lehrstuhlvertreter agierte zunächst sein 4 Fritz Koch (1909–1998) – interim. 2 Spruchkammerverfahren stufte man Schüler und Oberarzt Johann Baptist 1946–1951 ihn zunächst als „unbelastet“, dann als Mayer. Nachdem Eckstein unmittelbar 4 Heinz Hungerland (1905–1987) – „Mitläufer“ ein. Auf seinen Lehrstuhl nach der Berufung 1950 gestorben war, 1951–1957 kehrte er nicht mehr zurück; auch eine übernahm, aus Göttingen kommend, 4 Fritz Koch (geb. 1909) – interim. ordentliche Emeritierung erfolgte nicht. Karl-Heinz Schäfer – wiederum ein 1958–1960 Nachdem Ernst Freudenberg die Kleinschmidt-Schüler – den Lehrstuhl. 4 Friedrich Hartmut Dost (1910–1985) Übernahme des Heidelberger Lehr- – 1960–1975 stuhls abgelehnt hatte; gewann man Marburg Philipp Bamberger, der sich 1932 bei Auch in Gießen wurde der letzte Lehr- Rudolf Degkwitz in Greifswald habili- 4 Ernst Freudenberg (1884–1967) – stuhlinhaber des Dritten Reichs, Walter tiert hatte und mit diesem nach Hamburg 1922–1938 Keller, seines Amtes enthoben und so- gegangen war, um 1935 dann nach Kö- 4 Alfred Wiskott (1898–1978) – garfür2Jahreinterniert.Kellerhatte nigsberg zu wechseln. Bamberger wurde 1938/1939 1939 den nach Heidelberg wechselnden in Heidelberg, ganz abgesehen von den 4 Josef Becker (1895–1966) – Johann Duken abgelöst. In der Beurtei- allgemein schwierigen Verhältnissen, 1939–1945 lung des NS-Dozentenbundes 1938 heißt das Leben auch durch alte Strukturen 4 Friedrich Linneweh (1908–1992) – es zu Keller: „Er war ein hervorragender und Seilschaften in der Klinik schwer 1946, 1949, 1951–1975 Soldat und hat sich in der Systemzeit gemacht. Ein Skandal im Zusammen- im Abwehrkampf gegen die Kommunis- In Marburg war Josef Becker von der ten bewährt. Wenn er auch der Partei amerikanischen Besatzungsmacht ent- früher nicht angehört hat, so zeigte er 4 Zitiert nach: Eckart WU (2010) Ernst Moro fernt worden; sein Nachfolger wurde doch schon damals eine positive Ein- (1874–1951) und die „Goldenen Jahre“ der Heidelberger Pädiatrie. In: Hoffmann GF, Eckart 1946 Friedrich Linneweh, der seine Kar- stellung zur nationalsozialistischen Be- WU,OstenP(Hrsg):EntwicklungenundPerspek- riere einst als „HJ-Arzt“ (HJ: Hitler- wegung und hat dies auch öffentlich be- tivenderKinder-undJugendmedizin.150 Jahre Jugend) an der Berliner Charité bei Ge- PädiatrieinHeidelberg,Mainz,S57–74,S74.

24 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 hang mit unzureichenden Standards bei war ihm aber nicht nachzuweisen, dass 4 Alfred Wiskott (1898–1978) – Bluttransfusionen an der Klinik koste- er von den Morden in der „Kinderfach- 1939–1967 te ihn fast Lehrstuhl und Karriere. Er abteilung“ Ansbach gewusst hatte. wurde in dieser Zeit durch Hans Opitz Bereits im Herbst 1945 war Alfred In München hatte Meinhard von Pfaund- vertreten. Adam mit der Vertretung des Lehrstuhls ler die Geschicke der dortigen Kinder- und der Übernahme der Klinikleitung klinik mehr als 30 Jahre gelenkt. Im Jahr Frankfurt am Main beauftragtworden;imFrühjahr1946hat- 1939 wurde er von Alfred Wiskott ab- te er das Amt angetreten. Adam war gelöst, der seine Professur, unbehelligt 4 Bernhard de Rudder (1894–1962) – bei Moro in Heidelberg und bei Klein- von den Zeitläuften, wiederum beinah 1935 bzw. 1939–1962 schmidtinHamburgausgebildetworden. 3 Jahrzehnte innehatte (vgl. zu Wiskott Gegen erhebliche Widerstände versuch- und seiner Rolle im Rahmen der der NS- Die Universitätskinderklinik Frankfurt te er, der Klinik den „braunen Geist“ Kindereuthanasie die Beiträge von Höp- am Main stand zwischen 1935 und 1962 auszutreiben, sie zu demokratisieren und ner und Topp [zu Hermann Mai] im vor- für 25 Jahre unter der Leitung Bernhard zu modernisieren. Auf Adam folgte 1956 liegenden Heft). de Rudders, der von Greifswald nach Adolf Windorfer, der die Klink mehr als Frankfurt gewechselt war. Die Kinderkli- 20 Jahre leitete. (vgl. den Beitrag von Tübingen nik wurde während des Krieges schwer Bussiek im vorliegenden Heft). beschädigt. An einem Ausweichstandort 4 Walter Birk (1880–1954) – 1919–1948 starben bei einem Bombenangriff in ei- Würzburg 4 Alfred Nitschke (1898–1960) – ner Nacht 90 Kinder. 1948–1960 Nach 1946 lehnte de Rudder, ein 4 Hans Rietschel (1878–1970) – Pfaundler- und Rietschel-Schüler, einen 1921–1945 Auch Walter Birk fehlte nicht viel Zeit bis Ruf nach Tübingen, also von der ameri- 4 Heinrich Kirchmair (1906–1969) – zum 30-jährigen Dienstjubiläum an der kanischen in die französische Zone, ab. komm. 1946/1947 Kinderklink Tübingen, die er über den De Rudder, der bereits vor 1945 Dekan 4 Josef Ströder (1912–1993) – Zusammenbruch hinaus noch bis 1948 der Medizinischen Fakultät gewesen war, 1948–1981 führte. Seine Nachfolge trat, nachdem wurde nach dem Zusammenbruch als mehrere Wunschkandidaten der Univer- „Unbelasteter“ zusammen mit dem Phy- Hans Rietschel leitete die Würzbur- sität einen Korb gegeben hatten, Alfred siologen Bethe und dem Orthopäden ger Kinderklinik bereits seit 1917, zu- Nitschke an. Er hatte lange Zeit in Berlin Hohmann von der Besatzungsmacht mit nächst als Extraordinarius, seit 1921 gearbeitet und war dort Chefarzt des Kin- der Reorganisation der Medizinischen als Ordinarius für Kinderheilkunde. derkrankenhauses Lichtenberg gewesen. Fakultät betraut. Er starb, noch in Amt Er war auf Empfehlung Meinhard von Im Jahr 1938 hatte er die Nachfolge Fritz und Würden, unerwartet während eines Pfaundlers als Nachfolger Jussuf Ibra- Goebels in Halle angetreten; 1946 nahm Urlaubs 1962. hims (1877–1953) berufen worden. Von er zunächst einen Ruf an die Universität 1940 bis 1944 war er Dekan der Medi- Mainz an; 1948 wechselte er dann nach Erlangen zinischen Fakultät. Am 16. März 1945 Tübingen. Dort war er u. a. Dekan und zerstörtederverheerendeBombenangriff Rektor. 4 Albert Viethen (1897–1978) – auf Würzburg auch die Kinderklinik. 1939–1945 Rietschel wurde Anfang 1946 von den Mainz 4 Alfred Adam (1888–1956) – Amerikanern aus dem Dienst entfernt; 1945–1956 im Spruchkammerverfahren wurde er als 4 Alfred Nitschke (1898–1960) – 4 Adolf Windorfer (1909–1996) – Mitläufer eingestuft. Zum 1. Juli 1947 1946–1948 1956–1977 wurde der 69-Jährige in den Ruhestand 4 Ulrich Köttgen (1906–1980) – versetzt, aber nicht emeritiert. Erst nach 1949–1974 Albert Viethen hatte Erlangen (via Frei- einem langen Rechtsstreit wurde er 1953 burg und Heidelberg) zum 1. Oktober mit den Rechten eines entpflichteten Pro- An der wieder gegründeten Universität 1939 übernommen. Auch er (Mitglied fessors versehen. Sein erst 36-jähriger Mainz hatte es Nitschke also nicht gehal- von NSDAP und SS) wurde von den Nachfolger Josef Ströder – er kam von ten; vielleicht sah er dort, er hatte bereits Amerikanernverhaftet,desAmtesentho- Goebel aus Düsseldorf an den Main – in Halle nach der Position des Rektors ben und verbrachte 2 Jahre in Lagerhaft. übernahm die Klinik 1948 für mehrere gestrebt, keine ausreichenden Möglich- Im Jahr 1949 beantragte er vergeblich Jahrzehnte. keiten. Ulrich Köttgen, sein Nachfolger die Wiedereinstellung und ging schließ- in Mainz, soll in der NS-Zeit „politische lich als Chefarzt an eine Kinderklinik in München Schwierigkeiten“gehabt haben, hatte sich Berchtesgaden. Im Jahr 1963 wurde er im aber trotzdem in Münster habilitieren Ansbach-Prozessder„BeihilfezumMord 4 Meinhard von Pfaundler (1872–1947) können. In Mainz leistete er verdienst- in mehreren Fällen“ angeklagt. Letztlich – 1906–1939 volle Aufbauarbeit und richtete dort 1969

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 25 Pädiatrie nach 1945

die erste pädiatrische Intensivstation der von Kolleginnen und Kollegen und der ner Emeritierung 1954 wirkte er über sei- Bundesrepublik ein. Beteiligung an Medizinverbrechen ist ne Schüler und in verschiedenen Funk- nur wenig zu spüren. Als rühmliche tionen als graue Eminenz der bundes- Freiburg Ausnahmen sollen Rudolf Degkwitz deutschen Pädiatrie. und Alfred Adam ausdrücklich erwähnt 4 Carl Noeggerath (1876–1952) – werden. Zwar hatte auf Drängen der briti- Korrespondenzadresse 1913–1949 schen Militärregierung die in Göttingen Prof. Dr. T. Beddies 4 Walter Keller (1894–1967) – tagende Hochschulrektorenkonferenz 1952–1962 im September 1945 eine Resolution Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin verabschiedet, in der die Wiederein- Berlin In Freiburg bestimmte Carl Noeggerath setzungvonaus„rassischen“Gründen Thielallee 71, 14195 Berlin, Deutschland über Jahrzehnte nicht nur die dortige vertriebenen Professoren als „solidari- [email protected] Universitätspädiatrie, sondern wirkte sche Ehrenpflicht“ bezeichnet wurde. auch weit über die Stadt hinaus: Es Auf diese in der Folge an einzelnen ThomasBeddies,apl.Prof.Dr.phil.;StudiumderGe- ist wohl nicht übertrieben zu sagen, Universitäten und Hochschulen wieder- schichts- und Politikwissenschaften an der FU Berlin; Stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte dass er in den Jahrzehnten seiner kin- holten Erklärungen erfolgten allerdings der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin; derärztlichen Tätigkeit maßgeblich zur in der Regel – auch in der Pädiatrie Forschungsschwerpunkte im Bereich der Geschichte Entwicklung der Kinderheilkunde in – keine praktischen Schritte. Versuche, der Pädiatrie, der Psychiatrie sowie der Medizin im Nationalsozialismus; Stellvertretender Vorsitzender Deutschland beitrug und einen wesent- verfolgte Pädiater zurückzuholen, ih- der Historischen Kommission der DGKJ. lichen Beitrag auch zur internationalen nen„alsEntschuldigung“denfrüheren Geltung der deutschen Pädiatrie leistete. Lehrstuhl oder eine Alternative anzu- Zu seinen Habilitanden zählen Romin- bieten, blieben Einzelfälle (Freudenberg, ger, Eckstein, Nitschke, Viethen und Eckstein). Hungerland. Weit in seinen Siebzigern Bei der halbherzigen „Entnazifizie- trat er 1949 ab. Seine Nachfolgeregelung rung“ der Ärzteschaft spielte sicherlich gestaltete sich freilich schwierig. Man auch die Besorgnis eine Rolle, die zu einigte sich schließlich auf Walter Keller, erwartenden Versorgungs- und Ge- der als Leiter der Gießener Kinderklinik sundheitsprobleme, zumal bei Kindern, nach 1945 zwei Jahre interniert gewesen nicht in den Griff zu bekommen, so- war. dass die politische Säuberung vielerorts nicht konsequent betrieben wurde. Be- Homburg (seit 1950) merkenswertistimmerhin,dassv.a.in der amerikanischen Zone – Heidelberg, 4 Heinz Hungerland (1905–1987) – Gießen, Marburg, Erlangen und Würz- 1950–1951 burg – die Lehrstuhlinhaber der NS-Zeit 4 Johann Baptist Mayer (1907–1981) – (vorübergehend) aus ihren Stellungen 1952–1976 entfernt wurden. In der englischen Zone scheint man, wenn man an Kleinschmidt Heinz Hungerland blieb nur kurz im (Göttingen) oder Goebel (Düsseldorf) Saarland; er wechselte bereits 1951 nach denkt, weniger energisch und „pragma- Gießen und später als Nachfolger Otto tischer“ vorgegangen zu sein. Julius Ullrichs nach Bonn. Johann Bap- Hans Kleinschmidt kann als die zen- tist Mayer kam aus Hamburg; der Degk- trale Figur in der Reorganisationsphase witz-Schüler hatte sich dort in schwie- derWestpädiatrieausgemachtwerden.Er riger Zeit vor und nach dem Ende des nahm Einfluss auf die Besetzungen von Krieges bewährt und sorgte in Homburg Lehrstühlen, platzierte seine Schüler; er für personelle Kontinuität über annäh- steuerte über die Monatsschrift für Kin- rend 25 Jahre. derheilkunde Ton und Richtung der wis- senschaftlichen und auch der standespo- Resümee litischen Debatten. Noch lange nach sei-

Für die „Kinderkliniker im deutschen 5 Trümmerfeld“5 (C. Noeggerath) stand Noeggerath CT (1951) Lebenserinnerungen eines Freiburger Kinderklinikers im Deut- 1945 Arbeit statt Aufarbeitung im Mit- schen Trümmerfeld, Manuskript. Universitäts- telpunkt; von einem geistig-moralischen archiv der Albert-Ludwigs-UniversitätFreiburg Aufbruch angesichts der Vertreibung (D0014/1)

26 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Dagmar Bussiek „Politisch einwandfreies Personal“ Neuordnung der Erlanger Universitäts-Kinderklinik nach dem Zweiten Weltkrieg

„Sie können schmutziges Wasser nicht sondern drängte darüber hinaus auf eine klinik beauftragt. Er sollte bis zu seiner wegschütten, wenn Sie noch kein fri- Demokratisierung der Kinderklinik in Emeritierung 1956 in Erlangen bleiben scheshaben.“Mitdiesem–immerwieder personeller Hinsicht. und die Klinik entscheidend prägen. Der zitierten – Satz soll Konrad Adenauer Das kleine Erlangen, kaum 20 km von vorliegende Beitrag rekonstruiert diese einmal die Frage nach der Besetzung von Nürnberg entfernt, war weitgehend von Vorgänge, wobei zunächst die beiden bedeutenden Positionen des öffentlichen Bombenschäden verschont geblieben, Protagonisten Viethen und Adam im Lebens durch ehemalige Nationalsozia- erfuhr aber dennoch das Chaos und die Mittelpunkt stehen, bevor im dritten listen beantwortet haben. Die Metapher Not der ersten Nachkriegsjahre in vol- Abschnitt die Neuausrichtung der Kin- des schmutzigen Wassers für die perso- lemUmfang.NachdemEinmarschder derklinik unter Adam skizziert wird. Der nelle Kontinuität in vielen Bereichen der 3. US-Armee am 16. April 1945 wurde Aufsatz stützt sich auf Forschungsarbei- jungen Demokratie drückte ein zeitge- die ortsansässige Friedrich-Alexander- ten, die in den Jahren 2002/2003 auf nössisches Dilemma aus: Wie sollte man Universität, wie alle Bildungseinrich- Initiative des derzeitigen Klinikleiters ein neues Staatswesen aufbauen, wenn es tungen in der amerikanischen Besat- Wolfgang Rascher entstanden und 2005 an politisch unbelasteten Fachleuten in zungszone, zunächst geschlossen. Erst veröffentlicht wurden.3 sämtlichen Bereichen mangelte? Ohne Ende Oktober 1945 ließ die Militärre- größere öffentliche Diskussion einigte gierung Anträge auf Wiedereröffnung Albert Viethen, Direktor von sich die westdeutsche Nachkriegsgesell- der bayerischen Hochschulen zu. Im 1939 bis 1945 schaft darauf, das „schmutzige Wasser“ Laufe des Wintersemesters 1945/1946 weiterhin zu nutzen: ob in der Admi- nahmen die Erlanger Fakultäten nach Albert Viethen (. Abb. 9)wurdeam nistration, der Rechtspflege oder auch und nach ihre Arbeit wieder auf. Nach- 23. November 1897 in Mönchenglad- in der Medizin – überall wurden zwar dem im Frühjahr 1945 der damalige bach als Sohn eines Architekten geboren einige prominente „Nazis“ abgesetzt, Ordinarius für Kinderheilkunde Albert und katholisch getauft; er hat stets seine aber die Mehrheit der Mitläufer und Viethen durch Verhaftung seines Amtes enge kirchliche Bindung betont. Vie- Angepassten sowie auch etliche Täter enthoben worden war, übernahm sein thens Jugend fiel in die Zeit des Ersten blieben in Amt und Würden. Inso- Vorgänger Friedrich Jamin (1872–1951) Weltkriegs. Nach dem Abitur 1916 leis- fern ist der Vorgang, der sich an der vorübergehend noch einmal die Lei- tete er Kriegsdienst, wurde an der West- Kinderklinik der Friedrich-Alexander- tung der Klinik.2 Der Empfehlung des sowie auch an der Ostfront eingesetzt Universität im fränkischen Erlangen ab- Berufungsausschusses in Wiedereinstel- und 1917 zum Leutnant der Reserve be- spielte, bemerkenswert: Hier wurde nach lungsfragen der Universität Erlangen fördert. Hoch dekoriert kehrte er nach dem Zweiten Weltkrieg der Klinikleiter folgend, wurde Alfred Adam – von der Kriegsende in das Zivilleben zurück Albert Viethen (1897–1978), SS-Mann Militärregierung bereits am 24. Juli 1945 und nahm ein Medizinstudium an der und Mitglied der Nationalsozialistischen bestätigt – zum 1. Oktober 1945 mit der Universität Bonn auf; hier bestand er Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), von Vertretung des Direktors der Kinder- dem Kollegen Alfred Adam (1888–1956) abgelöst, der 1938 sein Ordinariat an 3 Während Christian A. Rexroth sich intensiv 1 SchreibenAdamsanDekanKonradSchübel, der Universitätsklinik Danzig aus politi- mit Alfred Adam beschäftigt hat (vgl. Anm. 1), 21.3.1946, zitiert nach: Rexroth C (2005): liegtvonmirselberdergrundlegendeBeitragzu schen Gründen verloren hatte. Christian Wachsam und wägend, mutig und hart. Prof. Albert Viethen vor. Vgl. Bussiek D (2005): Albert A. Rexroth, der sich intensiv mit Leben Dr. med. Alfred Adam (1888–1956). In: Rascher Viethen, Direktor der Universitäts-Kinderklinik und Werk Adams beschäftigt hat, wür- W, Wittern-Sterzel R (Hg.): Geschichte der in Erlangen 1939–1945. In: Rascher W, Wittern- digt ihn als einen der „wenigen politisch Universitäts-Kinderklinik Erlangen, Göttingen Sterzel R [wie Anm. 1], S. 125–211. Sämtliche 2005,S.213–298,hierS.287. unbelasteten Pädiater“ seiner Zeit.1 In Informationen zu Adam wie Viethen wurden 2 Zu Jamin vgl. Manuela Zapf (2005): Friedrich diesen beiden Publikationen entnommen. Im Erlangen begnügte sich Adam nicht da- Jamin (1872–1951) – Leben und Werk. In: Sinne der besseren Lesbarkeit wurden lediglich mit, an seine wissenschaftliche Arbeit der Rascher W, Wittern-Sterzel R [wie Anm. 1], wörtlicheZitategesondertimRahmenvon 1920er- und 1930er-Jahre anzuknüpfen, S.43–124. Fußnoten belegt.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 27 Pädiatrie nach 1945

rendeinerBlütephasedesHauses.Eduard bei der SS eine Tarnung. Ich habe übri- Seidler bescheinigt den Freiburger Medi- gens ein paar Mal versucht, aus der SS zinern der Weimarer Zeit ein ausgepräg- auszutreten, was mir aber nicht gelang. tes Selbstbewusstsein, das sich aus dem ... Wir Ärzte strebten nach Ruhe und Wissen um ihre hohe Bedeutung in der schlängelten uns so durch.“7 Viethen akademischen Landschaft Deutschlands machte Karriere – beruflich und auch in gespeist habe.4 Die politische Grundhal- Hitlers Eliteorganisation: 1934 SS-Un- tunganderFakultätbeschreibterals terscharführer, 1935 Scharführer, 1936 konservativ, teilweise völkisch-national, Oberscharführer, 1942 Untersturmfüh- aber bis 1933 nahezu frei von offenen rer, 1944 Obersturmführer. Mit seiner nationalsozialistischen Tendenzen. Nach jungen Familie siedelte er 1939 von Frei- der Machtübernahme habe sich aller- burg nach Erlangen über; seine Berufung dings ein „brüsker Wechsel“5 in der po- zum ordentlichen Professor für Kinder- litischen Ausrichtung und insbesondere heilkunde und Direktor der Universitäts- im Umgang mit jüdischen Kollegen voll- Kinderklinik Erlangen war von Listen- zogen. Im Rahmen einer badischen Son- platz 3 erfolgt. Praktische Erfahrungen Abb. 9 8 Albert Viethen (1897–1978). (© Uni- derregelung vom 5./6. April 1933, die – mit Leitungsfunktionen hatte er zuvor versitätskinderklinik Erlangen, mit freundl. Ge- noch vor einer entsprechenden reichs- durch Vertretungen an den Universitäts- nehmigung) weiten Gesetzgebung – die sofortige Be- Kinderkliniken Heidelberg und Halle urlaubung „nichtarischer“ und politisch sammeln können. 1920 die Vorprüfung. Seine klinische unliebsamer Beamter verfügte, wurden In Erlangen trug Viethen die Verant- Ausbildung erfolgte in Köln und Frei- an der Medizinischen Fakultät 2 Ordi- wortung für die Klinik in schwierigen burg. Im Dezember 1923 legte er in narien, 3 außerordentliche Professoren, Zeiten. Der Zweite Weltkrieg stellte die Freiburg das medizinische Staatsexamen 7 Privatdozenten und 21 Assistenten frei- ohnehin unter Platzmangel leidende Ein- ab und promovierte nur 10 Tage spä- gestellt. Viethen verdankte seine Ernen- richtung vor große Herausforderungen; termiteinerArbeitzumThema:„Die nung zum Oberarzt der Entlassung ei- Ulrich Schamberger spricht von „bald prognostische Bedeutung der Kaverne nes Kollegen, des Privatdozenten Wal- einhundertachtzigKranke[n]“inder„für bei der Lungenphthise“. Anschließend ter Heymann, der in die USA emigrie- maximal fünfzig bis siebzig Kinder ein- war er medizinischer Praktikant in der ren konnte. Bedenken gegen die näheren gerichtete[n] Klinik“8,undViethensSe- Medizinischen Klinik und in der Uni- Umstände dieser Beförderung scheint er kretärin betonte nach dem Krieg, dass versitäts-Frauenklinik Freiburg, bevor nicht gehabt zu haben, denn kurz dar- der Chef die Behandlung und Betreuung er sich für eine Laufbahn in der Pädia- auf, im November 1933, bewarb er sich der kleinen Patienten ohne Oberarzt, nur trie entschied und im Oktober 1924 an um die Mitgliedschaft in der Allgemei- mithilfe von 3 Assistenzärztinnen über- die Universitäts-Kinderklinik Freiburg nen SS, in die er am 15. Oktober 1934 nommen habe. Die große Arbeitsbelas- wechselte. Hier fand er in Carl Noegge- aufgenommen wurde. Der NSDAP trat tung in Kombination mit gesundheit- rath (1876–1952) seinen wissenschaftli- Viethen direkt nach der Aufhebung des lichen Problemen führte zu einer Ein- chen Ziehvater. Nach der Approbation Aufnahmestopps 1937 bei.6 schränkung der wissenschaftlichen Pro- 1925 war er zunächst Volontärassistent, Nach dem Krieg begründete Viethen duktivität, zumal Viethen zeitweise auch dann außerordentlicher Assistent und seinen Eintritt in die SS mit beruflichen als Stabsarzt der Reserve zur Wehrmacht von 1928 bis 1933 ordentlicher Assistent Motiven; er sei unter der Bedingung eingezogen war. Zu seinen großen Erfol- in Freiburg. Im Alter von 34 Jahren habi- beigetreten, keinen Dienst machen zu gen gehörte 1941 die Einrichtung einer litierte er sich mit der Studie „Klinische, müssen. Im Rahmen seines Entnazi- klinikeigenenSchule fürKinderkranken- röntgenologische und bakteriologische fizierungsverfahrens erklärte er 1947: schwestern. Mehrere Zeugen bescheinig- Untersuchungen an Kindern der Tuber- „Für mich bedeutete die Mitgliedschaft ten im Entnazifizierungsverfahren nach kulose-Fürsorge für Freiburg und das dem Krieg an Eides statt, dass er in den Badische Oberland“ und dem Vortrag 4 Vgl. Seidler E (1989): Alltag an der Peripherie. Jahren 1944/1945 ausländische Kinder „Röntgendiagnose und Röntgenbild der Die Medizinische Fakultät der Universität stationär und ambulant behandelt habe. Pneumonie im Kindesalter“. Er erhielt FreiburgimWinter1932/33.In:BlekerJ,Jachertz die Venia legendi für Kinderheilkunde N (Hg.): Medizin im „Dritten Reich“, Köln, und Röntgenologie und wurde im Ok- S.86–93,hierS.86. 5 tober 1933 zum Oberarzt befördert; seit SeidlerE(1989)[wieAnm.4],S.87. 7 Albert Viethen im Entnazifizierungsverfahren April 1937 führte er den Titel des nicht- 6 Um den massenhaften Zustrom politischer vor der Spruchkammer Forchheim, 5.11.1947, zitiertnachBussiek(2005)[wieAnm.3],S.126. beamteten außerordentlichen Professors Opportunisten zu stoppen, verhängte die NSDAP mit Wirkung vom 1.5.1933 einen 8 Ulrich Schamberger (1964): Geschichte und in Freiburg. Aufnahmestopp,der1937wiedergelockertund Entwicklung der Kinderheilkunde an der Viethens Karriere an der Medizini- 1939 formal aufgehoben wurde. Insbesondere Universität Erlangen, Diss. med., Erlangen- schen Fakultät Freiburg erfolgte wäh- BeamtewurdennunzumBeitrittgedrängt. Nürnberg,S.86.

28 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Nach dem Einmarsch der US-Armee Es bestand der dringende Verdacht, dass in einer in Ausmaß und Intensität kaum in Erlangen im April 1945 wurde Viethen sie im Rahmen der NS-„Euthanasie“ nachvollziehbaren Art und Weise für die aufgrund seiner Mitgliedschaft in der SS ermordet worden waren. Die Anklage Unterbringung in Ansbach engagiert; das seiner Dienststellung enthoben. Es folg- gegen Viethen lautete auf „Beihilfe zum gleiche gilt bei einem Patienten ... auch ten 2 Jahre in verschiedenen Internie- Mord“. Viethen bestand darauf, von der für die ihm unterstellte Ärztin Häußlein. rungslagern der amerikanischen Besat- Kindereuthanasie i. Allg. und den Vor- Viethens Aussage vor Gericht, er habe nie zungszone, wobei Viethen sich teilwei- gängen in Ansbach, wo 156 Kinder im Weisung erhalten, Kinder nach Ansbach se als Lagerarzt nützlich machen konn- Alter zwischen einer Woche und 16 Jah- zu verlegen, macht diese Eigenaktivität te. Nach seiner Haftentlassung musste ren starben, nichts gewusst zu haben. noch problematischer. Zum anderen war er sich am 5. November 1947 vor der Dabei erhielt er Unterstützung durch Viethen bei der Verlegung einer Patien- Spruchkammer im fränkischen Forch- einstige Klinikangestellte, die z. T. schon tin ... nicht nur in seiner Eigenschaft als heim erklären und wurde im Zuge des im Entnazifizierungsverfahren für ihn Klinikleiter, sondern auch als Angehöri- EntnazifizierungsverfahrensindieGrup- ausgesagt hatten. Am 4. Mai 1964 wurde ger der SS involviert und korrespondierte pe IV (Mitläufer) eingestuft. Über seinen er unter Überbürdung der Kosten auf persönlich mit Schuch [dem Ansbacher Anwalt strengte Viethen eine Wiederauf- die Staatskasse außer Verfolgung gesetzt. Anstaltsleiter, DB]. ... nahme des Verfahrens an; Ziel war ver- In der Begründung hieß es, dass die mutlich die Wiedererlangung der entzo- Erhebungen den gegen ihn formulierten Leben und Werk Albert Viethens soll- genen Venia legendi, für die eine Ein- Verdacht in keiner Weise bestätigt hätten. ten nicht einseitig unter dem Gesichts- stufung in die Gruppe V (Entlastete) er- Die Vorgänge wurden 2002/2003 wis- punkt seiner Anpassung an das NS-Re- forderlichwar.DasWiederaufnahmever- senschaftlich untersucht und sämtliche gime betrachtet werden; seine Leistungen fahren am 21. September 1948 endete Fälle akribisch geprüft. Die Ergebnis- als Klinikleiter in schwierigsten Zeiten mit dem gewünschten Ergebnis; die Kos- se lesen sich in der Zusammenschau verdienen Anerkennung. Pauschalverur- ten des Verfahrens wurden der Staats- folgendermaßen: teilungen – gerade auch im Hinblick auf kasse auferlegt. An seine wissenschaftli- seine Verstrickung in die Ansbacher Pati- Nach Auswertung aller vorhandenen Un- ententötungen – werden dem komplexen che Laufbahn hat Viethen dennoch nicht terlagen ist insgesamt festzustellen, dass mehr anknüpfen können, was nicht zu- und schwer durchschaubaren Sachverhalt Albert Viethen im Falle von sechs Patien- nicht gerecht.“9 letztdamitzutunhatte,dassseinErlanger ten ... eindeutig entlastet und im Falle von NachfolgerAdamseineBemühungenum zwei weiteren Patienten ... bei lückenhaf- eine Rückkehr an die Kinderklinik kon- ter Aktenlage als entlastet zu betrachten AlbertViethenstarbam27.März1978 terkarierte. Erst nach Adams Tod erhielt ist. In einem Fall ... ist eine Bewertung in Berchtesgaden im Alter von 80 Jah- Viethen 1958 vom Bayerischen Staats- aufgrund der fehlenden Unterlagen nicht ren. Sein Sohn Dr. Jürgen Viethen erin- minister für Unterricht und Kultus die mehr möglich. Elf Mal ... ist Viethen für nert sich, der Vater habe seinen 3 Kin- akademischen Rechte eines entpflichte- die Überweisung von Kindern in die Heil- dern „den Rat gegeben, nie in eine Partei 10 ten ordentlichen Professors der Universi- und Pflegeanstalt Ansbach verantwort- einzutreten.“ tät Erlangen. Er war damit berechtigt, die lich. Während vier dieser elf Kinder ... Amtsbezeichnung „ordentlicher Profes- vermutlich eines natürlichen Todes star- Alfred Adam, Direktor von sor“ mit dem Zusatz „emeritiert“ (em.) ben, wurden sieben ... mit an Sicherheit 1945/1946–1956 zu führen. grenzender Wahrscheinlichkeit mit Phe- . Abb. 10 Albert Viethen hat 1948/1949 kurz- nobarbital (Luminal*) getötet. Der Erlan- Alfred Adam ( )wurdeam fristig als niedergelassener Kinderarzt ger Klinikleiter trägt damit indirekt die 13. August 1888 in Dahmsdorf/Kreis in Erlangen gearbeitet, bevor er im Mai Mitverantwortung für ihren Tod. Sollte Lebus (Neumark), heute: Regierungs- 1949 als Chefarzt des Kinderkranken- er von der Existenz der Kinderfachabtei- bezirk Frankfurt (Oder), geboren und hauses Felicitas in Berchtesgaden (Trä- lung und von den dort durchgeführten evangelisch getauft. Kindheit und Ju- ger: Katholischer Jugendfürsorgeverein Tötungen gewusst haben, so hätte er sich gend verbrachte er in Königsberg, wo München) einen neuen Wirkungskreis in mindestens sieben Fällen der Beihilfe sein Vater als Stationsvorsteher des fand. Im Sommer 1963 holte die Ver- zum Mord schuldig gemacht. Da jedoch gangenheit ihn jedoch wieder ein. Vor kein Beweis existiert, dass Viethen über 9 Bussiek (2005) [wie Anm. 3], S. 203–205. Eine dem Landgericht Ansbach musste sich die Euthanasie im allgemeinen und die Kurzfassung dieser Forschungsergebnisse ist der Pädiater wegen Überweisung von Vorgänge in Ansbach im besonderen un- auch in der Monatsschrift für Kinderheilkunde bis zu 20 Kindern aus der Kinderklinik terrichtet war, ist er im juristischen Sinn erschienen. Vgl. Bussiek D, Castell R, Rascher W (2004): „Wir Ärzte strebten nach Ruhe und Erlangen an die „Kinderfachabteilung“ als unschuldig zu betrachten. Es gilt der der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach in schlängelten uns so durch.“ Albert Viethen Grundsatz „in dubio pro reo“. (1897–1978), Direktor der Universitätskinder- den Jahren 1942–1944 verantworten. Die Aber es bleiben Fragen und Zweifel. Zum klinik in Erlangen 1939–1945. In: Monatsschrift namentlich bekannten Kinder, 12 Jun- Kinderheilkunde152,S.992–1003. einen hat sich Viethen bei drei Patienten ... gen und 8 Mädchen im Alter bis zu 10 Persönliche Auskunft Dr. Jürgen Viethen, 5 Jahren, waren in Ansbach verstorben. zitiertnachBussiekD(2005)[wieAnm.3],S.156.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 29 Pädiatrie nach 1945

Kriegslazarett-Abteilung 54 in Üsküb ruflichwarerseit1934inderneugeschaf- (Mazedonien). Er wurde ausgezeichnet fenen Position als „Gaufachbeauftragter mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse und der Reichsarbeitsgemeinschaft für Mut- dem Hessischen Sanitätsorden. ter und Kind“ und Staatlicher Kinder- SeineersteStellenachKriegsendefand arzt in Danzig tätig. Letzteres bedeute- AdamimMärz1919alsVolontärassistent te eine enge Zusammenarbeit mit staat- am Institut für Vegetative Physiologie lichen und parteiamtlichen Stellen und der Johann-Wolfgang-Goethe-Universi- barg, wie sich bald herausstellen sollte, tät Frankfurt a. M. bei Gustav Embden. Konfliktpotenzial. Nach insgesamt 7-jähriger Grundlagen- Alfred Adam stand nicht von vornher- forschung in den Bereichen Biologie, Pa- einimoffenenWiderspruchzudenneuen thologie und Bakteriologie wandte ersich Machthabern. In einem Referat zur Ein- ab 1920 der Kinderheilkunde zu und ging führung des Reichsgesetzes „zur Verhü- als planmäßiger Assistent an die Kinder- tung erbkranken Nachwuchses“ in Dan- klinik der Ruprecht-Karls-Universität in zigam30.November1933vertratereuge- Heidelberg zu Ernst Moro. Nachdem er nischeStandpunkteundfordertedieAus- bereits 1920 die Anerkennung als Fach- dehnungderindemGesetzvorgesehenen arzt für Kinderkrankheiten erhalten hat- Sterilisation von körperlich oder geistig te, wurde er 1922 im Alter von 34 Jahren Erbkranken auch auf die schweren Fälle Abb. 10 8 Alfred Adam (1888–1956). (© Uni- mit der Arbeit „Die Biologie der Dünn- von sog. moralischem Schwachsinn (Psy- versitätskinderklinik Erlangen, mit freundl. Ge- darmcoli und ihre Beziehungen zur Pa- chopathie) mit erblicher Vorbelastung. nehmigung) thogenese der Intoxikation“ sowie dem Forciert werden solle die „Förderung der Vortrag „Zur Pathogenese und Thera- Vermehrung der Gesunden und Hoch- großen Bahnhofs tätig war. Er studier- pie der Dyspepsie“ habilitiert und erhielt wertigen, damit die kranken, minder- teMedizinanderdortigenAlbertus- die Venia legendi für Kinderheilkunde. wertigen Erblinien mit der Zeit von die- Universität und legte im Februar 1909 Von 1924 bis 1928/1929 war Adam an sen überwuchert werden.“11 Adam lobte die ärztliche Vorprüfung ab. Nach Sta- der Universitätsklinik Hamburg-Eppen- in diesem Zusammenhang die „geniale tionen an der Universität München und dorf tätig und seit 1927 Oberarzt bei Staatsführung“ für ihre Politik im Ein- erneut in Königsberg wechselte er im Hans Kleinschmidt, der sein Interesse klangmitdenmodernenNaturwissen- Sommersemester 1910 an die Fried- fürSäuglingsernährungweckte;ebenfalls schaften. Noch im Mai 1937 betonte er rich-Wilhelms-Universität Berlin und seit 1927 trug er den Titel des außer- auf der II. Tagung der „Reichsarbeits- bestand dort im Frühjahr 1912 die ärzt- planmäßigen Professors. Zum 5. Oktober gemeinschaft für Mutter und Kind“ in liche Prüfung. Anschließend war er als 1928 berief die Regierung des Freistaats Bad Wildbad, dass der Hauptsinn jeder Medizinalpraktikant an der Inneren Ab- Danzig den Pädiater zum nichtbeam- Fürsorge für Mütter und Kinder in der teilung des Krankenhauses Bethanien teten außerordentlichen Professor und „Erhaltung und Förderung des gesun- in Berlin tätig und erhielt im Frühjahr Direktor der Kinderabteilung des Städ- den deutschen Erbgutes“12 liege. Euge- 1913 die Approbation. Kurz darauf pro- tischen Krankenhauses Danzig; er trat nische Positionen waren schon vor 1933 movierte er mit der Arbeit „Nervus- diesesAmtvermutlicherstzumSommer- in der deutschen und auch der interna- recurrens-Lähmung bei Mediastinitis“ semester 1929 an und wurde gleichzei- tionalen Ärzteschaft weit verbreitet ge- und wechselte als Volontärassistent an tig in das Beamtenverhältnis übernom- wesen und können nicht als spezifisch das Institut für Experimentelle Thera- men. Bereits zu Beginn seiner Danzi- nationalsozialistisch betrachtet werden. pie am Allgemeinen Krankenhaus in ger Zeit begründete Adam die Danzi- Nach dem Zweiten Weltkrieg berichtete Hamburg-Eppendorf zu Hans Much. ger Schule für Säuglings- und Kinder- Adam,dassersichgeweigerthabe,in Dieser entsandte Adam auf eine wissen- schwestern und war maßgeblich an der schaftliche Expedition nach Jerusalem, EinrichtungderKinderseeheilstätteZop- wo er kurzfristig als Leiter der Tuber- pot beteiligt. Darüber hinaus erreichte er 11 Alfred A (1933): Erbkrankheitenim Kinderal- ter vom bevölkerungspolitischen Standpunkte. kuloseforschungsabteilung am dortigen bald eine bauliche Erweiterung für die Nach einem Referat im Auftrage des Vorstandes Internationalen Gesundheitsamt tätig Danziger Klinik, die u. a. aufgrund einer des Ärztlichen Vereins in Danzig, 1. Beiheft zum war. Die letzten Monate des Jahres 1914 damals in der Stadt grassierenden Diph- Danziger Ärzteblatt. Danzig, S. 45, zitiert nach verbrachte Adam an der Universitäts- therie- und Scharlachepidemie dringend Rexroth C (2005) [wie Anm. 1], S. 231. Dort auch Hautklinik in Berlin bei Edmund Lesser, benötigtwurde.MitSenatsbeschlussvom dasfolgendeZitat. dann begann für ihn der Krieg, den 4. Dezember 1934 wurde Adam für das 12 Alfred A (1937): Fürsorge für Mutter und Kind er von 1915 bis 1918 als Angehöriger Lehrfach „Kinderheilkunde einschließ- imFreistaatDanzig.In:BerichtüberdieII.Tagung der Reichsarbeitsgemeinschaft für Mutter und der Balkanarmee mitmachte. Von Au- lich Säuglingspflege und Klimatothera- Kind am 21. und 22. Mai 1937 in Bad Wildbad, gust 1915 bis November 1918 leitete er pie“ berufen und damit Ordinarius für Berlin, S. 78, zitiert nach Rexroth C (2005) [wie ein bakteriologisches Laboratorium der Kinderheilkunde in Danzig. Nebenbe- Anm.1],S.229.

30 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 die Partei einzutreten oder an Parteiver- ben mitbekommen, dass die Situation Die Berufung Adams zum Ordinari- sammlungen teilzunehmen, und deshalb in der Klinik meinen Vater die Arbeit us für Kinderheilkunde war für die Uni- von dem Senator für Gesundheitswei- gekostet hat. Seine Lebensposition ge- versität Erlangen in jeder Hinsicht ein sen in Danzig „mit dauernden Schika- kostet hatte. Wir haben erfahren, dass Gewinn. Adam engagierte sich nicht nur nen verfolgt“13 worden sei. Unter Druck wir verunsichert waren, gesellschaft- für den dringend notwendigen Neubau habe er sich 1938 bereit erklärt, „för- lich, wirtschaftlich. Wir haben jüdische der Klinik, sondern verschaffte der Er- derndes Mitglied“ der SS zu werden, aber Freunde gehabt und haben gewusst, langer Pädiatrie auch internationale An- schonnach3MonatenseinenRückzug dass die haben fliehen müssen. Das erkennung. In wissenschaftlicher Hin- bekannt gegeben, da er die Organisation Land verlassen mussten, weil sie ihres sicht galt sein Hauptinteresse stets der Er- als latent verbrecherisch empfunden ha- Lebensnichtmehrsicherwaren.War nährungsphysiologie des Säuglings. Sein be. Ebenso sei er 1938 genötigt worden, alles bekannt. Das haben wir als Kinder Lebenswerk Säuglings-Enteritis von 1956 Anwärter des NS-Ärztebundes zu wer- gewusst. Das haben wir nicht später wurdeweltweitrezipiert.Adamengagier- den, habe aber auch diesem nach 3 Mo- erfahren. ... Das ist also ergiebig dis- te sich in führender Position in der Deut- naten aufgrund seiner Abneigung gegen kutiert worden.“15 Eine derartig offene schen Gesellschaft für Kinderheilkunde die rassischen Tendenzen der Vereini- Gesprächsatmosphäre war zu dieser Zeit (DGfK), aus der er 1939 kommentar- gung den Rücken gekehrt. Der Austritt gewiss nicht oft anzutreffen. los ausgetreten war. Als Vorsitzender der aus einer nationalsozialistischen Orga- Im Januar 1945 musste die 4-köpfi- DGfK organisierte er deren 52. Ordent- nisation kann als große Mutleistung im ge Familie Adam aus Danzig nach Wes- liche Tagung 1952 in Bayreuth. Darü- totalitären Staat gewertet werden. Nach tenfliehen.Manlandeteimfränkischen ber hinaus vertrat er 1953 das Fach auf politischen Konflikten in Stadt und Kli- Coburg, wo Adam kurzzeitig die kin- dem VII. Internationalen Kongress für nik wurde Adam 1938 aller amtlichen derärztliche Praxis eines Kollegen über- Kinderheilkunde in Havanna und beim Pflichten entbunden und aus dem Beam- nahm. Als politisch unbelasteter Pädia- 22. Annual Meeting der American Aca- tenverhältnis entlassen. In den folgenden ter erhielt er rasch Rufe nach Hamburg demy of Pediatrics in Miami. Auf An- Jahren arbeitete er als niedergelassener und Erlangen, später auch nach Olden- trag der Medizinischen Fakultät wurde Kinderarzt in Danzig – schikaniert, über- burg. Noch im Herbst 1945 gab er Erlan- Adam über das 65. Lebensjahr hinaus wachtundmitGerüchtenkonfrontiert, gen den Vorzug und wurde im Einver- vom Bayerischen Staatsministerium für dass er im Fall des deutschen Sieges nach ständnis mit der Militärregierung vor- Unterricht und Kultus in München noch Russland verbracht oder in ein Konzen- läufig mit der Vertretung des Direktors für weitere 2 Jahre mit der Leitung der trationslager verschleppt werden würde. derUniversitäts-Kinderklinikbeauftragt. Klinik betraut. Später berichtete er, er habe Maßrege- Am 1. Februar 1946 trat er das Amt an; NachderEmeritierung,dieam31.Au- lungen durch die kassenärztliche Verei- er war 57 Jahre alt und unmittelbar zu- gust 1956 erfolgte, wollte das Ehepaar nigung erfahren, weil er weiterhin jüdi- vormitderFamilienachErlangenum- Adam nach Hamburg zurückkehren, wo sche und polnische Patienten behandelt gezogen. Mit Wirkung vom 16. Okto- es sich in den 1920er-Jahren kennenge- habe. ber 1946 wurde Adam durch das Baye- lernt hatte. Ein Grundstück war gekauft, Im Krieg scheint Adam die Möglich- rische Staatsministerium für Unterricht das Haus bezugsfertig, als Adam durch keit der Flucht aus Danzig bzw. sogar und Kultus unter Berufung in das Beam- einen Herzschlag jäh aus dem Leben ge- aus Deutschland erwogen zu haben; tenverhältnis auf die ordentliche Profes- rissenwurde.ErstarbimAltervon68Jah- sein Sohn Dr. Hans Adam berichtete, sur für Kinderheilkunde und zum Direk- ren am 19. September 1956 und wurde „dass mein Vater die ganzen Jahre im tor der Universitäts-Kinderklinik Erlan- in Blankenese beigesetzt. Krieg ein Auto namens Wanderer ... gen berufen. Zum Beamten auf Lebens- in einer Riesengarage hinter Pappwän- zeit konnte er erst nach dem endgülti- Neuordnung in der Nachkriegs- den konserviert ..., gepflegt ... und mit gen Spruchkammerbescheid und der Be- zeit Notvorräten gefüllt hatte, zum Weg- stätigung durch die Militärregierung am kommen. ... Einmal wurde überlegt, ob 15. Februar 1947 ernannt werden. Die Die Erlanger Friedrich-Alexander-Uni- wir nach Dänemark auswandern soll- Vereidigung erfolgte am 16. Juli 1947. versität wurde am 5. März 1946 als erste ten. Und da waren aber irgendwelche Das Urteil der Spruchkammer im Stadt- bayerische Hochschule förmlich wieder- Schwierigkeiten.“14 Hans Adam erinnert kreis Erlangen vom 20. Dezember 1946 eröffnet; Alfred Adam hatte sein Amt sich ferner an Hausdurchsuchungen war kurz und bündig ausgefallen: „Auf bereits einige Wochen zuvor offiziell durch die Gestapo. Seine Schwester und Grund der Angaben in Ihrem Meldebo- angetreten. Die Verhältnisse, die er in er, beide im schulpflichtigen Alter, seien gen sind Sie von dem Gesetz zur Befrei- der Klinik vorfand, waren außerordent- politisch im Bilde gewesen: „Wir ha- ung von Nationalsozialismus und Mili- lich problematisch. Die Räumlichkeiten tarismus vom 5.3.1946 nicht betroffen.“16 waren derartig überfüllt, dass sogar die 13 Alfred A (o.D.): Meine politische Einstellung, BadezimmeralsKrankenzimmergenutzt zitiertnachRexrothC(2005)[wieAnm.1],S.233. 14 Persönliche Auskunft Dr. Hans Adam, zitiert 15 Persönliche Auskunft Dr. Hans Adam, zitiert 16 Abschrift der Dienstsache vom 20.12.1946, nachRexrothC(2005)[wieAnm.1],S.241. nachRexrothC(2005)[wieAnm.1],S.236. zitiertnachRexroth(2005)wie[Anm.1],S.253.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 31 Pädiatrie nach 1945

werden mussten. Adams Amtsnachfol- ehemaliger NS-Parteigenossen zu stär- Adams Kampf für eine Demokra- ger Adolf Windorfer hat beschrieben, ken versucht und „durfte deshalb nicht tisierung der Kinderklinik blieb nicht dass „[e]ine auch nur leidliche Isolation an der Leitung der Schwesternschule ohne persönliche Folgen; Intrigen und infektiös-Kranker ... völlig ausgeschlos- teilhaben.“ Die Frau wurde offenbar Denunziationen, Diffamierung und üble sen [war]“, was dazu geführt habe, dass entlassen.20 Nachrede machten ihm zeitweise das der neue Leiter „vordringlich Pläne In Erlangen hatte Adam eine doppel- Leben schwer. Es wurde behauptet, der zur Erweiterung der Klinik betreiben te Herausforderung zu bewältigen: Auf einstige Verfolgte des NS-Regimes wäre [musste].“17 Aber auch die Personalsi- dereinenSeitemussteersoschnellwie Jude und würde nur gut zahlende Pa- tuation bereitete Adam Kopfzerbrechen. möglich einen funktionierenden Klinik- tienten behandeln. Im Laufe der Zeit In einem Schreiben an Rektor Bren- betrieb wiederherstellen, auf der ande- gab der Erfolg ihm jedoch recht: Der ner vom 1. September 1947 beklagte ren Seite wollte er so wenig wie möglich von ihm angestrengte Erweiterungsbau er u. a. einen Schlendrian unter den mit politisch belastetem Personal zusam- der Kinderklinik konnte in den 1950er- Mitarbeitern: „Ärzte, Schwestern und menarbeiten.Ineinem SchreibenanRek- Jahren errichtet werden und galt bei Verwaltungsangestellte suchten sich die tor Baumgärtel vom 6. Februar 1950 kam Fertigstellung als einer der modernsten Arbeit so bequem wie möglich zu ge- er auf das Thema zurück und sprach von Klinikbauten in der Bundesrepublik, ver- stalten, sodass die Belange der kranken „der früheren sog. ,braunen Schwestern- bunden mit einer Mütterberatungsstelle, Kinder nicht mehr gewahrt waren. ... schaft‘ an der Kinderklinik“, die mögli- einem psychologischen Untersuchungs- Drei wissenschaftliche Assistenten, die cherweise „einen gewissen Rückschluss raum und einer in Kooperation mit dem 7–11 Jahre angestellt waren, hatten nicht auf Beeinflussung bezw. Duldung durch Städtischen Jugendamt stehenden Er- mehr als ihre Doktorarbeit produziert. den ehemaligen Leiter der Klinik“ zu- ziehungsberatung für schwer erziehbare ... Im Laboratorium arbeiteten unkon- lasse: „Es hat viel Mühe gekostet, ei- Kinder. Am 10. Januar 1956 wurde der trolliert technische Assistentinnen so ner demokratischen Gesinnung in dem erste eigene Hörsaal der Universitäts- unsauber und unzuverlässig, dass es massgeblichen Teil der Schwesternschaft Kinderklinik eingeweiht. Zu dieser Zeit zu häufigen Fehldiagnosen kam. ... In Eingang zu verschaffen.“21 Der gesamte besaß Erlangen im gesamten Bundes- der Pforte versah ein, von der Ober- Umbruch, verbunden mit stärkerer In- gebiet die niedrigste Säuglingssterblich- schwester eingesetztes, ungeschultes 16- anspruchnahme der Mitarbeiter, länge- keit. Die Klinik erfuhr internationale jähriges Mädchen den verantwortlichen ren Dienstzeiten und schnellem Perso- Anerkennung und profitierte dabei von Dienst der Neuaufnahmen“18.Adam nalwechsel,wurdevonvielensodrastisch Adams Engagement in der DGfK so- berichtete von fehlender Inventarisie- empfunden, dass sich die Gewerkschaft wie seinen Auftritten auf nationalen rung in allen Bereichen einschließlich an die Universitätsleitung wandte und und internationalen Fachtagungen. Er- Instrumenten und Medikamenten, von Adam Stellung beziehen musste. Nach langen ist damit ein Musterbeispiel, häufigen Diebstählen aus Räumen, zu der Wiedereröffnung der 1941 gegrün- dass die politische Neuausrichtung nach denen nur Angestellte die Schlüssel be- deten und 1945 vorübergehend geschlos- 1945 nicht unbedingt zu qualitativen saßen, von einer trotz ausreichender senen Schule für Kinderkrankenschwes- Verschlechterungen durch Einbuße an Kohlenzufuhr nicht funktionierenden tern im Juli 1946 erklärte er, dass er sich erfahrenen Kräften führen musste, wie Heizung und von verunreinigter Säug- auch hier um „politisch einwandfreies die stillschweigende Vereinbarung der lingsnahrung. Zudem verwies er auf Personal“22 bemühthabe.Indiesem Kon- bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft Schwierigkeiten, die mit der politischen textistauchAdamsWiderstandgegendie in der Ära Adenauer lautete. Mit dem Orientierung verschiedener Mitarbeiter Rückerteilung der Venia legendi an Al- Tod Alfred Adams 1956 verloren die verbunden waren. Hierbei sprach er ex- bert Viethen zu verstehen, den er zudem fränkische Universitätsstadt und die pä- plizit die Rolle „einer kommissarischen mit pragmatischen Motiven wie der Grö- diatrische Fachwelt einen couragierten Oberschwester, die früher Partei- und ße des Hauses und den neu etablierten Gestalter der Nachkriegsjahre. Frauenschaftsmitglied war“19,an:Sie Forschungsschwerpunkten begründete. habe sich bei den politisch unbelasteten Schwesternnurschwerdurchsetzenkön- 20 nen, ihre Position durch die Einstellung Wie Rexroth erläutert, war aufgrund einer Verfügung der Militärregierung bereits unter Jamins Leitung eine Oberschwester aus dem 17 WindorferA(1985):Universitäts-Kinderklinik Dienst entlassen worden; die neu eingesetzte Erlangen von 1907–1977. In: der Kinderarzt 16, kommissarische Oberschwester, auf die sich S.73–80,hierS.74. Adam hier offensichtlich bezieht, sei jedoch 18 Schreiben Adams an Rektor Brenner, auch Parteimitglied gewesen. Vgl. Rexroth C 1.9.1947, zitiert nach Rexroth C (2005) [wie (2005)[wieAnm.1],S.249. Anm.1],S.246–248,hierS.246/47. 21 Schreiben Adams an Rektor Baumgärtel, 19 Schreiben Adams an Rektor Brenner, 6.2.1950, zitiert nach Rexroth C (2005) [wie 1.9.1947, zitiert nach Rexroth C (2005) [wie Anm.1],S.249. Anm. 1], S. 246–248, hier S. 246. Dort auch das 22 Adam zitiert nach Rexroth C (2005) [wie folgendeZitat. Anm.1],hierS.250.

32 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Korrespondenzadresse

Prof. Dr. D. Bussiek Institut für Geschichtswissenschaft & Literarische Kulturen, Leuphana Universität Lüneburg Scharnhorststr. 1, C5.216, 21335 Lüneburg, Deutschland [email protected]

DagmarBussiek,Prof.Dr.phil.;StudiumderGeschichts- und Politikwissenschaft an der Universität Kassel, Pro- motion im Fach Neuere und Neueste Geschichte, 2001–2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Uni- versität Erlangen-Nürnberg (zunächst Kinder- und Jugendpsychiatrie, dann Kinderklinik), 2003–2007 wissenschaftliche Assistentin der Universität Kassel, Habilitation, ab 2007 Juniorprofessorin der Leuphana Universität Lüneburg; dort derzeit Gastprofessur für Sozial- und Kulturgeschichte.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 33 Pädiatrie nach 1945

Sascha Topp „Und jetzt nach Lambarene“ Hermann Mai – Direktor der Universitätskinderklinik Münster (1943) 1950–1970

Das Leben des Kinderarztes Hermann Er war 27 Jahre lang Direktor der Univer- gehörte, wiederholt Benefizkonzerte ver- Mai (1902–2001) deckt das gesamte sitätsklinik in Münster. ... Er beschäftigte anstaltet worden, deren Erlöse im Sinne 20. Jh. ab. Anhand dieser Arztbiografie sich mit Problemen bei Infektions- und des besonderen Arbeitsschwerpunkts lässt sich exemplarisch die Frage verfol- rheumatischen Erkrankungen bei Kin- Mais verwendet wurden: der sich in den gen, wie Sozialisation und generationelle dern sowie mit der Säuglingssterblichkeit. 1980er-Jahren emanzipierenden Subdis- Erfahrungen über die politischen Sys- Sein Schwerpunkt lag lange Zeit auf dem ziplin Tropenpädiatrie. Erstmals hatte temwechsel von 1918, 1933 und 1945 Gebiet der Rachitis und der Ultraviolett- die DGfK auf ihrer 77. Jahrestagung hinweg für die Entwicklung von Medi- Strahlung. Geomedizinische Studien zur 1981 in Düsseldorf das Hauptthema zinern wirksam waren und auf welche UV-Strahlung gaben auch Anlass zum „Tropenpädiatrie – Kinder der Dritten Weise Persönlichkeit und individuelle ersten Besuch des Urwaldhospitals Albert Welt“ festgelegt. Mai übernahm den Motive konformistisches, opportunis- Schweitzers in Lambarene. ... Vorüberge- Ehrenvorsitz. Im Nachklang der Tagung tisches oder auch abweichendes, viel- hend übernahm er in einer für das Hos- brachten die Kollegen Hans Joachim Bre- leichtunerwartetesHandelnbegünstigen pital kritischen Zeit die Chefarztfunktion. mer (Düsseldorf) und Hermann Olbing konnten. Prof. Mai war Träger der Paracelsius Me- (Essen) den Antrag ein, eine Kommis- Der Beitrag gliedert sich in 2 Teile. daille der deutschen Ärzteschaft, verliehen sion „Pädiatrie in der Dritten Welt“ zu Der erste Abschnitt (ab 1950) greift die durch den Deutschen Ärztetag.1 gründen, dem sich auch der Münche- allgemein als positiv bewerteten Aspekte ner Sozialpädiater Theodor Hellbrügge des Lebens von Hermann Mai zwischen Wie im Nachruf beschrieben, hatte für die Deutsche Gesellschaft für Sozi- Münster und Lambarene auf, die dem sich Mai zunächst Anerkennung für alpädiatrie anschloss. Mai unterstützte aktuellen, weitgehend ungetrübten Ge- den Wiederaufbau der Münsterschen die Initiative. Nachfolgend kam es zur schichtsbild von Mai in der deutschspra- Kinderklinik verschafft. Bald galt er Durchführung tropenpädiatrischer Ar- chigen Kinderheilkunde entsprechen. als angesehene Person innerhalb der beitstagungen und der Einrichtung der Mit dem zweiten Abschnitt (bis 1949) deutschsprachigen Pädiatrie. Als Ordi- gewünschten DGfK-Kommission (Spre- soll über dieses Bild ein anderes, noch narius wurde er in den Vorstand der cher: Jürgen R. Bierich [1921–1994], nahezu unbekanntes projiziert werden, Deutschen Gesellschaft für Kinderheil- Tübingen); im Jahr 1989 wurde eine dessen problematische Bestandteile An- kunde (DGfK, heute: DGKJ) gewählt „Arbeitsgemeinschaft Tropenpädiatrie“ regungen für den aktuellen Prozess der und übte 1965 die Funktion des Vor- (ATP) gegründet. Bereits 1983 hatte historischen Reflexionsarbeit der Pädia- sitzenden aus. Seit 1970 wurde Mai die DGfK begleitend zu Jubiläumsfeier- trie und der deutschen Medizin geben in der Liste der Ehrenmitglieder der lichkeiten anlässlich ihres 100-jährigen können. DGfK aufgeführt, analog seit 1986 bei Bestehens eine Stiftung zur Unterstüt- der Deutschen Gesellschaft für Sozial- zung pädiatrischer Einsätze in der sog. Biografische Aspekte pädiatrie (heute: DGSPJ). Im Jahr 1971 Dritten Welt ins Leben gerufen, die bis verlieh die Medizinische Fakultät der heute nach Hermann Mai benannt ist. Ab 1950: Mai zwischen Münster Universität Münster Mai die Ehrendok- Einer der damaligen Mitinitiatoren der und Lambarene torwürde.Anlässlichdesbevorstehenden Hermann-Mai-Stiftung, Helmut Wolf 100. Geburtstags im Jahr 2002 plante aus Gießen, würdigte Hermann Mai in Am 27. April 2001 druckte die Zeitschrift das Kinderärzte-Orchester der DGKJ seinem persönlichen Nachruf 2001 gar Deutsches Ärzteblatt einen Nachruf auf ein Jubiläumskonzert, das nun 2001 in als „Vater der deutschen Tropenpädia- Hermann Mai ab, der wenige Tage nach ein Gedenkkonzert umgewidmet wer- trie“ (. Abb. 11).2 Vollendung seines 99. Lebensjahres ver- den musste. In der Vergangenheit waren Worauf sich diese hohe kollegiale An- storben war. Folgende Würdigung wurde unter Beteiligung Mais, der zu den Mit- erkennung gründete, führt uns zurück in ihm zuteil: begründern des Orchesters (1960, Geige) 2 Historische Unterlagen der Hermann-Mai- 1 DÄbl.98(2001)17,A1143. Stiftung,MichaelB.KrawinkelGießen.

34 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Abb. 12 9 Albert Schweitzer und Her- mann Mai bei des- senerstenBesuch im Urwaldspital, März 1956. (© Nach- lass Günter Schel- long,Münster,Foto: Clara Urquhart †, mit freundl. Geneh- Abb. 11 8 Kindersprechstunde in Lambarene, migung) undatiert. (© Nachlass Günter Schellong, Müns- ter, mit freundl. Genehmigung) die 1950er-Jahre: Mai hatte sich seit Lan- tragischen Jahrhundert“.4 Im Jahr 1953 bewogen, dort zu bleiben“, erinnert sich gem mit dem für die damalige Pädiatrie wurde SchweitzerderFriedensnobelpreis Mai. Letztendlich jedoch entschied er sich zentralen Problemfeld der Rachitiserfor- verliehen, den er ein Jahr darauf entge- zur Rückkehr nach Deutschland, . . . Und schung befasst. Über Jahrzehnte hinweg gennahm. doch erwuchs aus dieser Begegnung eine untersuchte er den Zusammenhang von Nachdem sich Mai im August 1955 an tiefe Freundschaft, die bedeutend werden UV-Strahlung, Lebensbedingungen von Schweitzer gewandt und ihm seine Studi- sollte für das Hospital im gabonesischen Kindern und dem Ausmaß dieser Man- en zur UV-Strahlung und Rachitis erläu- Urwald.6 gelerkrankung („englische Krankheit“). tert hatte,5 erhielt er im darauffolgenden Er reiste im Rahmen seiner Forschun- Jahr eine Einladung in das Urwaldspital Unbestreitbar war die Begegnung mit gen vielfach in andere Länder, um syste- in Lambarene. Romantisierend hieß es Schweitzer ein prägendes Erlebnis für matisch Lichtmessungen durchzuführen dazu 1993 nach einem Reportergespräch viele Besucher in Lambarene, wie ein und diese mit epidemiologischen Erhe- mitMaiüberdie erste Begegnungderbei- über Jahrzehnte funktionierendes glo- bungen zu korrelieren. Doch weshalb traf den Ärzte am „rive droite“ des Flusses bales System von hospitierenden oder er dabei ausgerechnet auf Albert Schweit- Ogooué (. Abb. 12): dauerhaft engagierten medizinischen zer? Hermann Mai erreicht das Hospital-Dorf Fachkräften im Spital nahelegt.7 Auch Schweitzers Engagement in Zentral- auf einem Ruderboot und war überrascht Mai arbeitete in den nachfolgenden Jah- afrika war seit den 1920er-Jahren über über den unerwartet herzlichen Empfang: ren wiederholt in den Semesterferien dieLänder-undKontinentalgrenzenhin- Schweitzer, der vielbeschäftigte Theolo- im Urwaldspital.8 Umgekehrt kam auch weg bekannt und vorbildgebend. So be- ge und Mediziner aus dem Elsaß, und Schweitzer zu Mai nach Münster, wo hauptete Karl Brandt, Hitlers chirurgi- seine Frau hießen ihn schon am Ufer am 6. Oktober 1959 ein neues Gebäu- scher Begleitarzt, im Nürnberger Ärzte- willkommen. . . . Schweitzer machte sei- de der Universitätskinderklinik unter prozess, dass er sich nach Abschluss sei- nen Gast aus Münster mit seiner Arbeit ner Ausbildung 1932 darum bemüht hät- vertraut, ..., mit seiner Philosophie und 6 TeilnachlassHermannMai,DASZ. te, Schweitzer in Lambarene zu helfen.3 seinem Lebenswerk. „Einige Zeit war ich 7 Aktuell findet am Institut für Medizinge- Das internationale Renommee Schweit- schichte der Universität Bern ein historisches zers erfuhr in den 1950er-Jahren sei- Forschungsprojekt statt unter dem Titel „Medi- nen Höhepunkt. Albert Einstein würdig- 4 Albert Schweitzer, Theologischer und philo- cal practice and international networks. Albert te Schweitzer wohl zu dessen 75. Ge- sophischer Briefwechsel 1900–1965. Werke aus Schweitzer’s Hospital Lambarene, 1913–1965“ burtstag (1950) mit der Formulierung: dem Nachlaß, München 2006; Teilnachlass Her- (Prof.HubertSteinke,Dr.HinesMabika). mann Mai, Archiv Deutsches Albert Schweitzer 8 „Endlich ein großer Mensch in diesem Universitätsarchiv Münster, u. a. Bestand 242 Zentrum [im Folgenden: DASZ], Frankfurt am Personalakten der Professoren und sonstigen Main. Beamten sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter 3 Schmidt U (2009): Hitlers Arzt Karl Brandt. 5 Teilnachlass Hermann Mai, Maison Albert und Lehrkörpermitglieder; Bestand 52, Nr. 336 MedizinundMachtimDrittenReich,Berlin. SchweitzerGunsbach. PersonalakteHermannMai.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 35 Pädiatrie nach 1945

Abb. 13 8 Hermann Mai mit symbolischem Schlüssel bei der Einweihung des Albert-Schweitzer-Hauses (Erweiterungsbau der Universitätskinderkli- Abb. 14 8 nik Münster), 6. Oktober 1959. Rechts von Albert Schweitzer: Oberarzt Wil- Albert Schweitzer erhält die Ehrendoktorwürde der Westfäli- helm Kosenow (© MedAlum Münster e.V., mit freundl. Genehmigung) schen Wilhelms-Universität Münster, 6. Oktober 1959; A. Schweitzer im Kreis der Ordinarien: hintere Reihe v.l.n.r. E. Wannenmacher (Zahnmedi- zin),W.Riehm(Ophthalmologie),H.Loebell(HNO),E.Schütz(Physiologie), Schweitzers Namen eingeweiht wurde H.Goecke (Gynäkologie),Frhr. v.Verschuer(Humangenetik),F.Mauz (Psych- (. Abb. 13). Anlässlich seines Besuches iatrie) vordere Reihe v.l.n.r: Prorektor W. Klemm (Chemie), Rektor W. Rudolph leererStuhl verlieh die Medizinische Fakultät der (evangelische Theologie), A. Schweitzer, H. Mai (Pädiatrie), :De- kanderMedizinischenFakultätP.Jordan(Dermatologie),EmeritusF.Kehrer Universität Münster dem weltbekannten (Psychiatrie). (© MedAlum Münster e.V., mit freundl. Genehmigung) Arzt einen Ehrendoktor der Medizin (. Abb. 14). Das intensive Engagement Mais setzte vesterabend der Millenniumswende zur fungsverfahrens an die Reichsuniversi- allerdings erst nach seiner Emeritierung Bedeutung Schweitzers für den eigenen tät Prag zu sehen ist. Mai war zu dem ein. Die Münstersche Zeitung titelte am Blick auf die Welt befragt, antwortete er: Zeitpunkt mit 37 Jahren bereits habili- 11. Februar 1970: „Und jetzt nach Lam- „Die Begegnung mit ihm hat meine Au- tiertundrechnetesichChancenaufeinen barene“. Gemeinsam mit seiner Ehefrau gen für viel mehr Leben geöffnet. Mich Lehrstuhl aus. Seinen Ausbildungs- und lebte Mai volle 2 Jahre in Gabun. In hatessehrgetroffen,mitwelcherHingabe politischen Werdegang beschrieb er wie dieser Zeit wurde dort ein erstes Kinder- er sein Lebenswerk betrieb.“ Schweitzer folgt (. Abb. 15): spital mit anfangs ca. 40 Betten – auch habe,soMai,dieFormulierung„Ehr- „Ich bin am 2. Januar 1902 in Mün- ausSpendendesMünsterschenKir- furcht vor dem Leben“ nicht nur erfun- chen geboren. ... Im letzten Kriegsjahr chenkreises finanziert – errichtet. Mais den, sondern auch erfüllt und bestätigt. war ich – da mit 16 Jahren noch nicht Engagement ist im breiteren Kontext Auf die abschließende Frage: „Haben Sie kriegsdienstfähig – beim „vaterländischen eines damals notwendig erscheinenden ein Vorbild?“ antwortete er allerdings: Hilfsdienst‘“ als Landarbeiter tätig. Im Modernisierungsschubs des Klinikkom- „Nicht eins! Da sind zunächst meine El- Frühjahr 1919 trat ich als Freiwilliger plexes nach Schweitzers Tod (1965) tern, aber auch meine Lehrer. Und Albert dem Freikorps Epp bei und machte im zu sehen. Während einer Krisenphase Schweitzer...“10 Verbande dieses Freikorps die Unterneh- 1975/1976 sammelte Mai gemeinsam mit mungen in München und Hamburg und Schweitzers Tochter Rhena Schweitzer- Bis 1949: München, Prag und nach dem Kappputsch im März 1920 jene Miller (1919–2009) Spenden, um das Münster im Ruhrgebiet mit (Schützenbrigade 21). Überleben der Einrichtung zu sichern. Seit meinem Studium (Chemie u. Me- Hierbei war er etwa 10 Jahre Vorsit- Hinweise darauf, welche Personen (El- dizin) in Würzburg, später in München, zender des Deutschen Hilfsvereins des tern, Lehrer) und Einflüsse auf seine Ent- betätigte ich mich politisch nicht mehr, . . . Albert-Schweitzer-Spitals.9 So führte er, wicklung als junger Mann und Medizi- Gerade weil ich aber stets das Gedanken- wie es Zeitgenossen empfanden, das ner nachhaltig wirksam waren, bietet ein gut der nationalsozialistischen Bewegung Erbe Schweitzers fort. 60 Jahre zuvor handgeschriebener Le- als das meine ansehend, weil ich von mei- Kurzum, bis ins hohe Alter von 99 Jah- benslauf Mais aus dem Frühjahr 1939. nem fanatisch antisemitisch eingestellten ren erklärte er, sich dem ärztlichen Ethos Das Dokument befindet sich in Mais Vater in diese Richtung erzogen war und Schweitzers – der „Ehrfurcht vor dem Le- Personalakte des Rasse- und Siedlungs- ausnahmslos auch die Liste der NS Be- ben“–verpflichtetzufühlen. Ineinemfür hauptamts. Der Lebenslauf wurde für die wegung bei allen Wahlen gewählt hatte, die Westfälischen Nachrichten von 2 Ab- von ihm gewünschte Aufnahme in die schämte ich mich im März 1933 meiner iturientinnengeführtenInterviewamSil- SS benötigt, die im Kontext eines Beru- bisherigen Zurückhaltung. Ich brachte es nicht über das Herz, unter die Massen der 9 TeilnachlassHermannMai,DASZ. 10 TeilnachlassHermannMai,DASZ.

36 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 ßen und Heidelberg, der in der NS-Päd- anstalt für Nahrungs- und Genußmittel. iatrie eine zentrale Rolle spielen sollte.11 Hermann Mai schloss sein Chemiestudi- Hermann Mai wurde also in einer der um in Würzburg 1925 mit der Promotion Brutstätten der NS-Bewegung als junger ab und beendete das Medizinstudium Mann geprägt. 1928 in München (. Abb. 16), doppelt Ausweislich der Personalakte des Ras- promoviert. Nach seiner Approbation se- und Siedlungshauptamts (SSO-Füh- 1929 arbeitete er von 1930 bis 1939 un- rerpersonalakten) im Bundesarchiv ge- unterbrochen am überregional angese- hörte Hermann Mai u. a. seit 1933 der henen Dr. von Haunerschen Kinderspital SA, seit 1937 der NSDAP (Nr. 4458719) in München. Dort erfolgten 1936 die Ha- und seit 1939 der SS (Nr. 353219) an. Eine bilitation und 1937 die Ernennung zum Notiz auf der parteistatistischen Erhe- Dozenten. Damit einhergehend veröf- bung von 1939 lautet: „in Übernahme in fentlichte er mehrere Beiträge in me- den SD der SS begriffen“. Demnach hatte dizinischen Fachzeitschriften, darunter sich Mai für den Sicherheitsdienst, d. h. 1933 eine erste Arbeit zur körpereigenen den Geheimdienst der SS, anwerben las- UV-Strahlung in Verbindung mit der sen. Dafür spricht auch der Eintrag „S.D. „englischen Krankheit“.14 Im Jahr 1937 H.Amt“ (Hauptamt) vom 20. April 1940; erschien Mais Habilitationsschrift in den das Datum, unter dem Mai als SS-Unter- Beiheften zum Jahrbuch für Kinderheil- sturmführer eingruppiert wurde.12 Laut kunde im Berliner Karger-Verlag.15 Mai Abb. 15 8 Hermann Mai in SA-Uniform, Trupp- einer Nachkriegsquelle war Mai als SS- nahm darin Bezug auf vielversprechende führer, ca. Mitte der 1930er-Jahre. (© Bundesar- Untersturmführer ehrenamtlicher Mit- Forschungen des russischen Histologen chiv Berlin, mit freundl. Genehmigung) arbeiter des SD-Leitabschnitts Prag und Alexander G. Gurwitsch (1874–1954). Reichenberg.13 Mais Tätigkeit für den Si- Dieser hatte Ende der 1920er-Jahre jetzt in die NSDAP strömenden zu gehen, cherheitsdienst ist beim derzeitigen Wis- postuliert, dass im Mitosevorgang der auch zur SA ging [ich] im Herbst 33 nur, sensstand jedenfalls nicht auszuschlie- Zellteilung unter spezifischen Bedin- weil ich sie als Ersatz für den fehlenden ßen. gungen ein Teil der Zellenergie in Form Wehrdienst auffasste. In der SA war ich Mais Entscheidung für ein Studium von UV-Strahlung abgegeben wird. Mai als Adjutant u. Ausbilder, seit Nov. 36 als der Chemie und Medizin in Würzburg formulierte daran anschließend eine Sturmführer tätig u. wurde i. Mai 37 in lässt auf väterliche Einflüsse schließen. Hypothese, nach der von Gurwitschs die Partei aufgenommen.“ Prof. Dr. Carl Andreas Mai (1865–1946) kohärent verstandener „mitogenetischer leitete in München die Untersuchungs- Strahlung“ – die in den 1970er-Jahren Wie viele seiner Altersgenossen der unter dem Begriff der „Biophotonen“ „Kriegsjugendgeneration“ (Detlev Peu- 11 RotzollM,HohendorfG(2010):JohannDuken erneut zur Diskussion gestellt wurde – kert, Ulrich Herbert), die zu jung für und die Kinderklinik im Nationalsozialismus. eine antirachitische Wirkung im Sin- In: Hoffmann GF, Eckart WU, Osten P (Hg.): den Einsatz im Ersten Weltkrieg waren, ne einer Selbstheilungskraft ausgehen Entwicklungen und Perspektiven der Kinder- schloss sich Mai im Zuge der November- und Jugendmedizin. 150 Jahre Pädiatrie in könnte. Ziel seiner Untersuchung war revolution mit nur 17 Jahren dem Frei- Heidelberg,Mainz,S.77–101. es, Rückschlüsse auf konstitutionelle Un- korps an. Dabei nahm er ein generati- 12 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, ehem. terschiede bei Kindern ziehen zu kön- onsprägendes Ideal in sich auf: Kamerad- BerlinDocumentCenter(BDC). nen. Um die komplexe Labormethode schaft. Das Freikorps unter der Leitung 13 Bei der Urquelle, auf die sich die Einträ- zum Nachweis der Strahlung zunächst von Franz Ritter Epp kam erstmals bei ge in einer Karteikarte aus dem Jahr 1946 an Hefekulturen und später auch im der Niederschlagung der Münchner Rä- stützen, handelt es sich um eine nach dem menschlichen Blut zu erlernen, war Mai Kriegsende durch den tschechischen Staatssi- terepublik zum Einsatz, ferner bei den cherheitsdienst aufgefundene Mitarbeiterliste an Gurwitschs Institut für experimen- Kämpfen gegen Kommunistenverbände desehemaligenSD-LeitabschnittsPrags.Securi- telle Medizin in Leningrad gereist. Seine in Hamburg sowie bei der Niederschla- tyServicesArchive(ABS)Prag,persönlicheKarte Nähe zum Nationalsozialismus hielt ihn gung der roten Ruhrarmee. Epp wur- von H. Mai, 1945–46. Die darin aufgeführte SS- offenbar nicht davon ab, in die Sow- de 1921 über seinen Vorgesetzten Ernst Mitgliedsnummer stimmt mit der in den BDC- Akten überein. Vgl. Šimůnek M (2004): Getarnt Röhm Vertrauter Hitlers. Weitere Mit- – verwischt – vergessen. Die Lebensgänge von 14 MaiH(1933):ÜberdiekörpereigeneUltravio- glieder waren Rudolf Heß sowie die Brü- Prof. Dr. med. Franz Xaver Luksch und Prof. lettstrahlung (Gurwitsch-Effekt) im Kindesalter. derGregorundOttoStrasser,diemitJo- Dr. med. Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen im In:ActaPaediatrica16,1,S.243–246. seph Goebbels eine wichtige Strömung Kontext der auf dem Gebiet des „Protekto- 15 Im selben Jahr verlegte das Verlagshaus in der NSDAP repräsentierten. Ebenfalls rates Böhmen und Mähren“ durchgeführten seinen Sitz nach Basel, um der antisemitischen NS-Euthanasie. In: Bayer K, Sparing F, Woelk Verfolgung zu entgehen. Lennert T (1995): dem Freikorps Epp gehörte übrigens Jo- W (Hg.): Universitäten und Hochschulen im Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und hannes Duken (1889–1954) an, später Nationalsozialismus und in der unmittelbaren der Karger-Verlag 1938/39. In: Monatsschrift für Professor für Kinderheilkunde in Gie- Nachkriegszeit,Stuttgart,S.125–146. Kinderheilkunde143,S.1197–1203.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 37 Pädiatrie nach 1945

fahren der Zwangssterilisation im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GVeN). Eine Publikation Mais, aus der seine Zustimmung oder programmatische Ausrichtung im Sinne der NS-Erb- und „-Gesundheitspolitik“ sprechen würde, ist nicht bekannt. Al- lerdings hatte er im August 1935 die sog. Führerschule der deutschen Ärzteschaft in Alt-Rehse besucht, in der Jungärz- te gezielt gesundheitspolitisch geschult wurden.20 Mai als Beisitzer der Kammer 2 am Erbgesundheitsgericht München Mithilfe der erhaltenen Akten des Erbge- sundheitsgerichts München lassen sich mindestens 24 Fälle im Zeitraum von April 1936 bis November 1939 identi- fizieren, in denen der Pädiater Mai als Abb. 16 8 Studentenkarte Hermann Mai, LMU München, 1926–1928. (© Universitätsarchiv Ludwig- zweiter, nichtbeamteter ärztlicher Beisit- Maximilians-Universität München (UAM), mit freundl. Genehmigung) zeranEntscheidungenüberZwangssteri- lisationen nach dem 1934 in Kraft getre- jetunion aufzubrechen; Karriere- und Meinhard von Pfaundler (1872–1947).18 tenen GVeN beteiligt war.21 Neben zwei Forschungsinteressenhattenfürihnzu Von Pfaundlers 8 Oberärzten wurden 1939 eingestellten Verfahren sowie ei- dem ZeitpunktPriorität.Obihm die jüdi- allein 6 später auf einen Lehrstuhl für nem weiteren, in dem die Sterilisierung sche Herkunft des russischen Kollegen16 Pädiatrie berufen, darunter Ernst Moro, eines „ I. Grades“ (im Sin- bekannt war, wissen wir nicht. Noch um Bernhard de Rudder, Rudolf Degkwitz, ne der Nürnberger Rassengesetze) ab- die Millenniumswende erinnerte sich Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen und gelehnt wurde – bei dieser Beschluss- Mai im erwähnten Interview lebhaft an Alfred Wiskott. Auch Hermann Mai fassung war Mai allerdings durch eine die Reiseeindrücke: „Zum ersten Mal wurde bereits früh auf 2 Berufungs- Beurlaubung nicht zugegen – entschied bin ich 1928 geflogen, mit einem zweisit- listen geführt: Neben Prag finden wir die Kammer in allen anderen Fällen für zigen offenen Flugzeug von Königsberg seinen Namen für August 1939 in der die Zwangssterilisation. nach Petersburg. Ein Abenteuerflug mit Dreiervorschlagsliste der Marburger Auf eine Besonderheit soll hier hin- Gewitter unterwegs, die Seitenruder mit medizinischen Fakultät, hierbei secun- gewiesen werden: Im Jahr 1936 sprach Draht befestigt.“ WN:„WashabenSie do loco hinter Joseph Becker (Bremen) sich Mai als Beisitzer in einem Verfah- in Petersburg gemacht?“ H.M: „Da habe und vor seinem Freund und Kolle- ren gegen die 23-jährige Maria B., die aus ich wissenschaftlich gearbeitet mit einem gen Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen Sicht der Ärzte an Schizophrenie litt, in russischen Kollegen.“17 (Frankfurt). Es war Wiskott, der Mai einem Gutachten für ihre Unfruchtbar- Nach München zurückgekehrt, wand- im Zuge der Marburger Berufungsliste machung aus. Damit überschritt er nicht te erGurwitschsMethode seriellaufBlut- ein gefälliges Gutachten ausstellte. Dar- nur in mehrfacher Hinsicht die Grenzen proben von Kindern der Münchener Kli- in formuliert Wiskott hinsichtlich Mais seiner Expertise als Spezialist für Kinder- nik an und versuchte, die Befunde mit Nähe zur „Bewegung“: „Übernahme in krankheiten (Altersgrenze, Psychiatrie). verschiedenen Krankheitsbildern statis- die SS, ist bereits auf den Sicherheits- Im Sinne des „Erbgesundheitsgesetzes“ tisch zu korrelieren. dienst des Reichsführers SS verpflichtet. und seiner Durchführungsbestimmun- Der leitende Pädiater des Dr. von Vertrauensmann der Dozentenschaft. gen waren auch Beisitzer bewusst nicht Haunerschen Spitals galt damals schon Seit 3 ½ Jahren beim Erbgesundheitsge- dafür vorgesehen, selbst Gutachten über als Begründer einer eigenen Schule: richt tätig.“19 Neu ist an dieser Stelle der Hinweis auf Mais Beteiligung an Ver- 20 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, PersonalakteH.Mai,MK43981. 16 Siehe den Beitrag von Gurwitschs Enkel: 21 BayerischesStaatsarchivMünchen.Aktendes Beloussov LV, and additional commentary by 18 Locher W, mit Beiträgen von Hadorn HB und Amtsgerichts München, Erbgesundheitsgericht Opitz JM and Gilbert SF(1997): Life of Alexander Joppich I (1996): 150 Jahre Dr. von Haunersches in Sachen Städt. Gesundheitsamt München G.Gurwitschandhisrelevantcontributiontothe Kinderspital 1846–1996. Von derMietwohnung gegen ... Vgl. auch: Christians A (2013): Amts- theoryofmorphogeneticfields.In:International zurUniversitätsklinik,München. gewalt und Volksgesundheit. Das öffentliche JournalDevelopmentalBiology41,p.771–779. 19 Universitätsarchiv Marburg am Hessischen Gesundheitswesen im nationalsozialistischen 17 TeilnachlassHermannMai,DASZ. StaatsarchivMarburg,307cNr.5221. München,Göttingen.

38 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 die betreffenden Personen zu verfassen, ein- bis zweimal wöchentlich in die Kin- Der lange Weg nach Münster um nicht die Glaubwürdigkeit und da- dertötungsstationEglfing-Haar(Leitung: Zu dieser Zeit hatte Hermann Mai, noch mit die Legitimität der Erbgesundheits- Psychiater Hermann Pfannmüller) fuhr, im Felde stehend, bereits den Ruf an gerichte infrage gestellt zu sehen.22 Et- um dort pädiatrischen Sachverstand bei die Universität Münster erhalten (1943), wa eine Woche nach der Fertigstellung der Beurteilung und Tötung der Kinder den er nach einigem Zögern formal an- desGutachtensvonMaibeschlossdas einzubringen. Mindestens zwei Dutzend nahm. Bereits im Juli 1942 war er für Erbgesundheitsgericht die Zwangssteri- Kinder wurden von diesem Arzt, Fritz den Lehrstuhl in Bonn (sowie Rostock) lisation von Maria B., die am 26. August Kühnke, getötet. Wiskott gab diese Ab- ins Spiel gebracht worden. Der Bonner 1936 durchgeführt wurde.23 Allein die- sprache 1965 im Rahmen eines Ermitt- Universitätsrektor wusste aus dem Mi- ser Fall dokumentiert, dass Mai und die lungsverfahrensgegenKühnkeoffenzu.24 nisterium für Wissenschaft, Erziehung 2. Kammer des Münchener Erbgesund- Zudem ist dokumentiert, dass mehrere und Volksbildung über Mai zu berich- heitsgerichts sogar unter Beugung der Kinder aus Wiskotts Einrichtung nach ten, dass dieser in Prag den „grossen rechtlichen Grundlagen die eugenischen Eglfing-Haar verlegt wurden, worunter und vielseitigen Aufgaben ... nicht ge- Maßnahmen am „Volkskörper“ vollzo- einige in der dortigen „Kinderfachab- wachsen sei“, „wissenschaftlich, mensch- gen. teilung“ getötet wurden.25 Ob Mai von lich, charakterlich und politisch“ aber Dreizehn der eingesehenen Verfah- diesen Vorgängen wusste, bleibt derzeit „auf das beste beurteilt“ werde.27 Mai rensunterlagen enthalten auch Doku- offen. hatte offenbar im Ministerium Unter- mente aus der Zeit nach 1945. Während Aus bislang nur teilweise rekonstru- stützer, wurde aber auch deshalb bevor- Hermann Mai bereits rund um den ierbaren Gründen bemühte sich Mai be- zugt behandelt, weil sein Festhalten an Globus seine wissenschaftlichen For- reits nach 6 Monaten intensiv, aus Prag der dienstrechtlichen Stellung in Prag schungen betrieb und so 1956 auf das wieder wegzukommen. Er war nicht län- eine von dort dringend geforderte Be- Ehepaar Schweitzer traf, kämpften die ger bereit, die auf 3 Standorte in der rufung und Direktoreneinsetzung Benn- Betroffenen seiner rassenhygienisch/ Stadt verteilte Kinderklinik mit insge- holdt-Thomsens blockierte. Als sich Mai eugenisch begründeten Entscheidungen samt600BettennebstLehrstuhlzuleiten. mit einer Berufung auf einen anderen vergeblich um eine Anerkennung als Er forcierte einen Einsatz bei der Wehr- Lehrstuhl (außer Erlangen) einverstan- Verfolgte des Nationalsozialismus. macht, der formal bis zum Kriegsende den erklärte, wurde er auf ministeriel- anhielt. So sah sich 1943 sein Stellver- len Druck hin schlicht auf die Liste in Jenseits der NS-Kinder- treter in Prag, Carl-Gottlieb Bennholdt- Münster gesetzt. Der nicht mehr voll euthanasie Thomsen,mitderKindereuthanasiekon- einsatzfähige Münstersche Lehrstuhlin- Mai entkam 2-mal der prekären Situati- frontiert;zumindestwarervonderKanz- haber Hans Vogt (1874–1963) reagierte on, sich zu dem 1940 einsetzenden NS- lei des Führers für die Leitung einer ge- entsprechend konsterniert über die Vor- Kindereuthanasieprogramm positionie- planten „Kinderfachabteilung“ in Prag gabe aus Berlin und behauptete, einen ren zu müssen: Im Herbst 1939 erreichte vorgesehen. Ob in den von Bennholdt- Pädiater namens Mai nicht einmal zu ihn der erhoffte Ruf an die Reichsuniver- Thomsen zusammengeführten Kliniken kennen.28 sität Prag, wohin er Anfang 1940 nach ei- in Prag tatsächlich Tötungen von Kin- Mais Berufung nach Münster wur- nem Einsatz im sog. „Polenfeldzug“ auf- dern durchgeführt wurden, konnte die de schließlich vom Ministerium gegen brach. Im Sommer 1940 traten die Orga- Forschung bislang nicht klären.26 die Interessen der Medizinischen Fakul- nisatoren der NS-Kindereuthanasie aus tät mit ihrem Wunschkandidaten Wal- der Berliner Kanzlei des Führers auf der ter Keller (Gießen) durchgesetzt. Trotz- Suche nach geeigneten Einrichtungen an dem gelang es bis zum Kriegsende nicht, Mais ehemalige Münchener Arbeitsstel- Mai auf die Stelle zu bekommen. Im 24 Siehe u. a. Richarz B (1987): Heilen – le heran, die zwischenzeitlich von Alfred Pflegen – Töten. Zur Alltagsgeschichte einer März 1944 argumentierte er zweifelnd, Wiskott geleitet wurde. Wiskott lehnte Heil- und Pflegeanstalt bis zum Ende des ob er nach nunmehr 4 Jahren Kriegs- zwar eine Tötung behinderter Kinder im Nationalsozialismus, Göttingen; Krischer M dienst überhaupt noch pädiatrische Kli- Dr. von Haunerschen Kinderspital ab, er- (2006): Kinderhaus. Leben und Ermordung des nik und Lehre übernehmen könne. Dar- MädchensEdithHecht,München. klärte sich jedoch bereit, einen aus Berlin aus schloss der Rektor der Westfälischen 25 HohendorfG,KochJ(2015):Sektionsbefunde benannten Kinderarzt einzustellen, der Wilhelms-Universität, bei Mai handele es von ermordeten Kindern aus der Kinderfach- abteilung Eglfing-Haar, Vortrag gehalten im sich„umeineselbstunsicherePersönlich- 22 Ley A (2004):Zwangssterilisation und Ärz- Rahmen der Tagung (Leitung: Paul Weindling): teschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Hirnforschung im Nationalsozialismus, Eutha- 27 Zit.nach:ForsbachR(2006):DieMedizinische Handelns 1934–1945, Frankfurt am Main/New nasie und die Frage der Opfer, 29.–30.11.2015, Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, York. Leopoldina Research Center for History of München,S.173. 23 BayerischesStaatsarchivMünchen.Aktendes ScienceandHistoryofAcademies,Halle. 28 Universitätsarchiv Münster,u.a. Bestand 242 Amtsgerichts München Erbgesundheitsgericht 26 Šimůnek M, Schulze D (Hg.) (2008): Die na- Personalakten der Professoren und sonstigen in Sachen Bez. Arzt bei der Polizeidirektion tionalsozialistische „Euthanasie“ im Reichsgau Beamten sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter München gegen B. Maria, Dienstmädchen, Sudetenland und Protektorat Böhmen und und Lehrkörpermitglieder; Bestand 52, Nr. 336 1936/396. Mähren1939–1945,Prag. PersonalakteHermannMai.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 39 Pädiatrie nach 1945

keit“, der sich „der ihm bevorstehenden mentiert: „Daß er [Mai] die Angaben ... Brandt ist hierbei zusätzlich inspirierend Aufgabe nicht ganz gewachsen fühlt“.29 nichtauchschonimFragebogengemacht angesichts dessen Schweitzer-Erzählung Bei Kriegsende befand sich Mai zu- hat, der im Jahre 1945 der Militärregie- im Nürnberger Ärzteprozess. nächst in Kriegsgefangenschaft. Als er rung eingereicht werden musste, beruht „Und jetzt nach Lambarene“: Unter den Lehrstuhl antreten wollte, hatte ihn ... auf derselben Charaktereigenschaft, dieseraufHermannMaibezogenenTitel- die britische Militärregierung zwischen- die ihn bewog, sich [damals, d. Verf.] zeile wird mit größerer historischer Tie- zeitlichimZugedersog.Entnazifizierung dem Curator mit einer Mitgliedschaft in fenschärfe das Ergreifen einer Art zwei- vom Dienst an der Universität suspen- der SS zu empfehlen.“ ten Chance sichtbar. Mais Kontakt zu diert und sofort interniert. Probleme be- Drei Jahre nach Kriegsende war die Schweitzer – zu der Ikone des „guten reitete ein gesondertes Untersuchungs- Neuanstellung noch immer nicht er- Arztes“ – wurde zu einer entscheiden- verfahren gegen Mai. Ihm wurde vor- reicht. Der zuständige Universitäts-Offi- den Weichenstellung in Mais zweiter Le- geworfen, in den auszufüllenden Frage- cer der britischen Militärregierung hatte benshälfte; eine Chance, die er mit einem bogen seine Mitgliedschaften in der Hit- Mai weiterhin als „unsuitable“ für den generationsspezifischen,abernunpositiv ler-Jugend(HJ),demReichsarbeitsdienst Posten vermerkt. Erst als der Vorgang gewendeten „unbedingten“33 Idealismus (RAD), der SS sowie dem SD der SS ver- vor dem High Court der britischen undpersönlicherHingabezuSchweitzers schwiegen zu haben. In einem Schreiben Control Commission for (Bie- Lebenswelt zu nutzen verstand. Mais vom 7. Oktober 1945 an den Uni- lefeld) im Januar 1949 verhandelt und versitätsrektor erläuterte er insbesondere Mai vom Vorwurf der Fragebogenfäl- Korrespondenzadresse zum unterlassenen Eintrag SS und SD, schung freigesprochen wurde, konnte Dr. S. Topp er habe diesen Organisationen nie an- dieUniversitätseineAnstellungwieder gehört, ja während seiner Wehrmachts- ernsthaft aufgreifen. Im Juli 1949 er- Institut für Geschichte der Medizin, Justus- Liebig-Universität Gießen dienstzeit gar nicht angehören dürfen. reichte Mai, unter vorauseilender Hilfe Jheringstr. 6, 35392 Gießen, Deutschland In diesem Zusammenhang kam er auch des Dekans der Medizinischen Fakul- [email protected] auf seinen Weggang aus Prag zu spre- tät, Karl Wilhelm Jötten, mithilfe eines chen: „Dies entsprach umsomehr [sic] Berufungsverfahrens beim Entnazifi- Sascha Topp, Dr. phil.; Studium 2005 der Geschichts- meiner Absicht, als ich in der sehr kur- zierungshauptausschuss Detmold, von und Kulturwissenschaften, Politikwissenschaft und zen Zeit meines Aufenthalts in Prag als Gruppe IV in Gruppe V (Entlasteter) Wirtschaftswissenschaft an der FU Berlin; 2006–2014 am Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Lie- UnbeteiligtermitEntsetzendievonDeut- eingereiht zu werden. Damit warderWeg big-Universität Gießen; 2011 Promotion (Geschichte scher Seite den Tschechen gegenüber an- für seine Einsetzung als Ordinarius für alsArgumentinderNachkriegsmedizin;2015mitdem gewandtenMethodenkennenlernte,und Kinderheilkunde frei, worüber ihn der Herbert-Lewin-Preis ausgezeichnet). Seit 2014 wis- senschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte deshalb auf gar keinen Fall der dortigen Kultusminister von Nordrhein-Westfa- und Ethik der Medizin des Uniklinikums Köln in einem SS angehören wollte.“30 Mais Äußerung len mit Schreiben vom 26. Oktober 1949 Forschungsprojekt zur historischen Entwicklung der ist mit großer Vorsicht aufzunehmen, da informierte.32 Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 1945 (DGKJP). sie vor allem der Selbstentlastung dienen Danksagung. Mein ausdrücklicher Dank für die sollte. Anders als für Bennholdt-Thom- Resümee Unterstützung gilt Annemone Christians, Ursula sen wird aber Mais damaliges Auftreten Ferdinand, Kornelia Grundmann, Astrid Ley, Annette Hinz-Wessels, Michael B. Krawinkel und der in Prag von tschechischen Pädiatern heu- Die hier vorgestellten Befunde erlauben Hermann-Mai-Stiftung, Volker Roelcke, Michal te positiv bewertet.31 noch keine umfassende historische Be- Šimůnek, Ary van Wijnen sowie Wolfgang Mai für Seitens des Rektorats der Universi- wertung der Biografie Hermann Mais. seine freundliche Bereitschaft zu einem Gespräch über seinen Vater. tät Münster fasste man im März 1948 Neben seiner dokumentierten Beteili- Mais Verhalten trocken als opportunis- gung an Zwangssterilisationen kann hier tisch auf. Handschriftlich wurde kom- nicht nahegelegt werden, dass er an ande- ren Verbrechen der NS-Medizin oder im 29 Universitätsarchiv Münster,u. a. Bestand 242 Kontext des Holocaust beteiligt war. Mais Personalakten der Professoren und sonstigen politischer und beruflicher Werdegang Beamten sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter zeigt jedoch deutlich kollektivbiografi- und Lehrkörpermitglieder; Bestand 52, Nr. 336 Personalakte Hermann Mai; Bundesarchiv sche Parallelen zu den Vertretern der Berlin-Lichterfelde, ehem. Berlin Document sog. Kriegsjugendgeneration, von de- Center(BDC). nen viele – wie Hitlers Leibarzt Karl 30 UniversitätsarchivMünster,u. a.Bestand242, Brandt oder der Pädiater Johann Duken Nr. 283 Bd. 1. Personalakten der Professoren – im NS-Staat auffällig schnell Karriere und sonstigen Beamten sowie wissenschaft- machten. Aus dieser Generation rekru- licher Mitarbeiter und Lehrkörpermitglieder; Bestand52,Nr.336PersonalakteHermannMai. tierten sich besonders viele Vertreter der 31 Historische Unterlagen der Hermann-Mai- NS-„Funktionselite“. Der Vergleich zu 33 WildtM(2003):GenerationdesUnbedingten. Stiftung, Korrespondenz mit Jan Janda (Prag), DasFührungskorpsdesReichssicherheitshaupt- MichaelB.KrawinkelGießen. 32 WieAnm.30. amts,Hamburg.

40 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Volker Roelcke · Sascha Topp Friedrich Hartmut Dost (1910–1985) Aspekte zu Tätigkeit und Haltung in Nationalsozialismus und Nachkriegszeit

Friedrich Hartmut Dost (1910–1985), ein Friedrich-Hartmut-Dost-Gedächt- gruppengleichem Plasma bei der ali- Ordinarius für Kinderheilkunde an nispreis der Deutschen Gesellschaft für mentären Säuglingsintoxikation.6 Der der Humboldt-Universität in Berlin Klinische Pharmakologie und Therapie zugehörige Aufsatz wurde 1940 in der (1953–1959) und an der Justus-Liebig- sowie ein Friedrich-Hartmut-Dost-Preis Monatsschrift für Kinderheilkunde publi- Universität Gießen (1960–1975), war für besondere Leistungen in der akade- ziert (. Abb. 17).7 Erstaunlich ist nun, nach Einschätzung seiner Kollegen aus mischen Lehre am Fachbereich Medizin dass Dost 1950 in seiner Auskunft über der Pädiatrie ein hervorragender Wis- der Universität Gießen existieren.4 die wichtigsten eigenen Publikationen senschaftler, Kliniker und Lehrer.1 In Bei dieser hohen Wertschätzung war für Kürschners Deutscher Gelehrten-Ka- einer 1999 verfassten Kurzbiografie für es sehr irritierend, als 2003 ein Eintrag lender zwar insgesamt 5 Aufsätze nennt, die Homepage des Fachbereichs Medizin zu Dost im Personenlexikon zum Dritten davon 3 aus der Zeit bis 1945 (von der Universität Gießen wurde Dost da- Reich des Journalisten Ernst Klee publi- 1934, 1937, 1941), aber nicht den von rüber hinaus ausführlich als Begründer ziert wurde. Darin hieß es, Dost sei Ober- Catel als besonders interessant bewer- des Arbeitsgebiets der Pharmakokinetik arzt an der Leipziger Universitäts-Kin- teten Aufsatz aus dem Jahr 1940.8 Das gewürdigt; nach wie vor würde dort mit derklinik gewesen, einem „Zentrum der veranlasste uns, diesen Aufsatz genauer zentralen Begriffen gearbeitet, die von Kindereuthanasie“ mit dem Euthanasie- zu analysieren. Dost geprägt worden seien.2 Demnach Protagonisten Werner Catel als Klinik- Im Folgenden werden daher 3 Fra- war Dost ein exzellenter, aber gleichzeitig direktor; weiter wurden Dosts Mitglied- genkomplexe angesprochen: bescheidener Wissenschaftler und Arzt, schaften in der Nationalsozialistischen – War Dost während der Krankentö- den seine wissenschaftliche Karriere an Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), der tungen 1939 bis 1945 in der Leipziger die Kinderkliniken der Universitäten in Sturmabteilung (SA) der NSDAP und Klinik anwesend? War er über die Tö- Leipzig, Berlin und Gießen geführt hatte. dem Nationalsozialistischen Deutschen tungen informiert und möglicherweise Durch Kriegseinsatz und Gefangenschaft Ärztebund (NSDÄB) aufgelistet.5 sogar aktiv involviert? sei diese wissenschaftliche Tätigkeit un- DostalshochgeehrterWissenschaftler – Wie verhielt sich Dost in der Nach- terbrochen worden; lediglich für die Fer- und Kliniker einerseits, Dost als potenzi- kriegszeit zur Kindereuthanasie und zu tigstellung seiner Habilitation in Leipzig eller Täter im Kontext der Krankentötun- seinem Lehrer Catel? Gibt es Anzeichen sei Dost 1940 für 6 Monate von seinem gen im Nationalsozialismus andererseits für eine kritische Selbstreflexion zur Wehrmachtseinsatz beurlaubt gewesen.3 – diese beiden widersprüchlichen Bilder Euthanasiethematik? Die Kurzbiografie endete mit der Auf- waren der Ausgangspunkt unserer Re- –WaslässtsichüberdieForschungmit zählung einer Vielzahl von Ehrungen cherchen. Serum an Kindern bei der alimentären für Dost, darunter die Ehrenmitglied- BeieinererstenorientierendenDurch- Säuglingsintoxikation herausfinden, die schaft in der Deutschen Gesellschaft für sicht von Dosts Personalakte in Leipzig von Catel 1940 als wissenschaftlich sehr Kinderheilkunde und die Ehrendoktor- ergab sich noch eine zweite auffallende interessant bewertet wurde? Würde der Medizinischen Fakultät der Diskrepanz: Im Habilitationsgutachten Universität Frankfurt. Ebenso würden für Dost aus dem Jahr 1940 nann- te sein Lehrer Werner Catel als eine 1 Gladtke E (1986): Friedrich Hartmut Dost. besonders interessante wissenschaftli- In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 111, che Arbeit Dosts Untersuchungen zur S.114–115. intravenösen Infusion von art- und 6 Universitätsarchiv (UA) Leipzig, Personalakte 2 Brockmeier D (1999): Friedrich Hartmut Dost. (PA)F.-H.Dost. In:PrivatarchivVolkerRoelcke,Gießen. 7 Dost FH (1940): Erfahrungen bei der Behand- 3 So auch die Auskunft der Familie Dost 4 Brockmeier D (1999): [wie Anm. 2]. Ähnlich lung der Intoxikation mit großen Plasmatrans- vgl. Dost F [Leserbrief]: „Vater unbeteiligt. auch:GladtkeE(1986)[wieAnm.1]. fusionen. In: Monatsschrift für Kinderheilkunde Nationalsozialistische Euthanasie an Kindern: K. 5 Klee E (2003): Das Personenlexikon zum 81,S.312–319. und die vielen anderen“. Süddeutsche Zeitung, Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? 8 Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 28.5.2008. Frankfurt/M.,S.117. (1950),7.Ausgabe,Berlin,S.367.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 41 Pädiatrie nach 1945

In der Leipziger Klinik war Dost von Oktober 1936 bis zum Kriegsende 1945 auf einer regulären Assistenzarztstelle tätig, unterbrochen von 18 Monaten in einer internistischen Abteilung am Diakonissenkrankenhaus Dresden.10 Er habilitierte sich im November 1940. Nach Abschluss der Facharztausbildung wurde ihm im Juni 1943 die Dozentur verliehen.11 Neben den ebenfalls habi- litierten Kollegen Siegfried Liebe und Hartenstein hatte Dost somit eine deut- lich hervorgehobene Position an der Klinik. Formal war Dost von 1939 bis 1945 zur Wehrmacht einberufen. Allerdings gab es für Ärzte, wie oben bereits ange- deutet und aus der medizinhistorischen Forschung bekannt, Zeiten der Beurlau- bung aus dienstlichen Gründen. Rele- vant für die hier betrachtete Fragestel- Abb. 17 9 Erste lung (Kenntnis von, aktive Beteiligung Seite des Beitrags an den Kindertötungen in der Leipzi- „Erfahrungen bei ger Klinik) ist die konkrete Anwesen- der Behandlung heit Dosts in Leipzig bzw. der Klinik. Da der Intoxikation mit großen Plas- für die insgesamt fast 6 Jahre des Krie- matransfusionen“ ges ein lückenloser Nachweis des Auf- vonF.H.Dostinder enthaltsortes von Dost unrealistisch ist, Monatsschrift für haben wir uns aus pragmatischen Grün- Kinderheilkunde , den darauf beschränkt, die aus den Quel- 1939/1940 len belegbaren Zeiten der Anwesenheit von Dost in Leipzig nach Kriegsbeginn Dost an der Kinderklinik der lich seine Sekretärin Charlotte Grohme, zusammenzustellen.12 Universität Leipzig, 1939–1945 2 Oberschwestern und mindestens 4 Neben dem in der Kurzbiografie weitere Ärzte der Klinik (Hans-Joachim auf der Gießener Homepage erwähn- DerDirektorderLeipzigerKinderklinik, Hartenstein, Hans-Christoph Hempel, ten 6-monatigen Aufenthalt 1940 ist Werner Catel, war von August 1939 bis Ernst Klemm, Hanna[h] Uflacker) für ein weiterer 4-wöchiger Aufenthalt von Mai 1945 einer der Hauptverantwort- den „Reichsausschuss“ tätig. Die Leipzi- Dost in der Leipziger Klinik im No- lichen der Kindereuthanasie: Er war ger Universitäts-Kinderklinik fungierte vember 1940 nachweisbar. Ein dritter einerseits einer von 3 Gutachtern für die darüber hinaus als Schulungseinrichtung in der Personalakte und ebenfalls durch zentraleDienststellederKindertötungen, für Ärzte, die anschließend im „Reichs- Dosts Nachkriegsaussagen dokumen- den „Reichsausschuss zur wissenschaft- ausschuss-Verfahren“ tätig wurden und tierter Aufenthalt dauerte insgesamt lichen Erfassung von erb- und anlagebe- in ihren Einrichtungen Kinder töteten.9 5 Monate, von Anfang November 1942 dingten schweren Leiden“an der Kanzlei bis Ende März 1943.13 Vermutlich ab- des Führers. Die 3 Gutachter urteilten solvierteDostdamitdieerforderliche über das Leben von reichsweit mindes- 9 Petersen HC, Zankel S (2008): ,Ein exzellenter tens ca. 5000 Kindern und Jugendlichen Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie- 10 UA Leipzig, PA F. H. Dost; Hessisches Haupt- in ca. 30 „Kinderfachabteilungen“. An- Dingen einmal absieht‘: Werner Catel und die staatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Abt. 520 BW Vergangenheitspolitik der Universität Kiel, in: dererseits wurde in der Leipziger Klinik Nr. 2478, Brief Dost an Medizinalabteilung des Lahm B, Seyde T, Ulm E (Hg.): 505 Kindereutha- Innenministeriumsv.8.2.1949. selbst zwischen ca. 1941 und 1945 im nasieverbrechen in Leipzig: Verantwortung und 11 Rahmen dieses Verfahrens eine Reihe Rezeption, Leipzig, S. 165–219; Topp S (2004): UALeipzig,PAF.H.Dost. von Kindern getötet. Zur genauen Zahl Der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen 12 UA Leipzig, PA F. H. Dost; Niedersächsisches gibt es sehr unterschiedliche Angaben Erfassung erb- und anlagebedingter schwe- Landesarchiv Hannover (NLA HA), Ermittlungs- rer Leiden“: Zur Organisation der Ermordung verfahren gegen Prof. Dr. Hans Heinze: Nds 721 und Schätzungen; die nur unvollständi- minderjähriger Kranker im Nationalsozialismus Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/8, Bd. 8; HHStAW, gen Quellen erlauben keine endgültigen 1939–1945. In: Beddies T, Hübener K (Hg.): Abt.520BWNr.2478,BriefDostanMedizinalab- Aussagen. Neben Catel waren nachweis- KinderinderNS-Psychiatrie.Berlin,S.17–54. teilungdesInnenministeriumsv.8.2.1949.

42 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Dort erklärte Catel, er habe „gegen- zen Reihe von Publikationen und stellte über meinen Stationsärzten auch vom selbst eine Kontinuität seiner Überzeu- Reichsausschuss gesprochen“. Auch die gungen und der damit verbundenen Gastärztin an der Leipziger Klinik Hil- Durchführung der Krankentötungen in degard Wesse (1911–1997) sagte 1964 der Zeit bis und ab 1945 her.17 Zentral aus, dass Catel bei einer Konferenz für für diese Rechtfertigung ist die Be- alle ärztlichen Mitarbeiter offen vom hauptung, dass die von ihm bis 1945 „Reichsausschuss-Verfahren“ im Sinne vorgenommenen Kindertötungen nach derMöglichkeiteinerTötungvon„idio- genau der gleichen sorgfältigen Abwä- tischen Kindern“ gesprochen habe. Das gung stattgefunden hätten, wie er sie in habe ihr imponiert.15 der Nachkriegszeit in den Debatten um Insgesamt kann also davon ausgegan- eine „begrenzte Euthanasie“ forderte, gen werden, dass Dost während der Kin- und dass er damit die moralische Zu- dertötungen in der Leipziger Klinik dort lässigkeit solcher Tötungen begründen anwesend war und auch von diesen Tö- könne. tungen wusste. Für eine aktive Mittäter- Das 1962 eröffnete Ermittlungsver- schaft gibt es auf der Grundlage der bis- fahren der Staatsanwaltschaft Hannover her zugänglichen Quellen keine Belege. gegen die an der NS-Kindereuthanasie Abb. 18 8 Friedrich Hartmut Dost, um 1950. Ebenso wenig lässt sich allerdings ein- beteiligten Mediziner kam zu dem Er- (© Bundesbeauftragter für die Unterlagen des deutig belegen, dass Dost nicht aktiv in gebnis, dass es sich bei den Tötungen von StaatssicherheitsdienstesderehemaligenDeut- die Tötungen involviert war. Dass Dost geistig und körperlich behinderten Kin- schen Demokratischen Republik; Zentralstelle dieTötungenbilligte,gehtausverschiede- dern im Fall von Catel nicht um Mord, Berlin, mit freundl. Genehmigung) nen Quellen der Nachkriegszeit hervor, sondern um Totschlag gehandelt habe. auf die im Folgenden eingegangen wird. Totschlag sei aber 15 Jahre nach der Tat Restzeit für die Facharztausbildung und verjährt; der Tatbestand der Kindertö- schuf so die Voraussetzung für die Do- Dosts Haltung zu den tungen selbst wurde vom Gericht als er- zentur. Krankentötungeninder wiesenbetrachtet.WegenderVerjährung Für mindestens 2 weitere Male ist Nachkriegszeit wurde Catel jedoch im Dezember 1964 nachweisbar, dass Dost auf „Heimatur- außer Strafverfolgung gesetzt.18 laub“ in Leipzig war: im Mai 1940 und im Dosts Nachkriegshaltung zu den Kran- Die z. T. sehr umfangreichen und Oktober 1943. Außerdem ist dokumen- kentötungen lässt sich am ehesten über herzlichen Briefe von Dost an Catel aus tiert, dass Dost zwischen 1940 und 1945 sein Verhältnis zu seinem Lehrer Wer- der Nachkriegszeit zeigen bezüglich der insgesamt 7 wissenschaftliche Aufsätze ner Catel rekonstruieren. Die wichtigs- Euthanasie eine auffällig ungebrochene publizierte, davon allein 3 in den Jahren ten Quellen hierzu sind einerseits der Loyalität gegenüber dem akademischen 1943 und 1944 – auch dies ein starkes Briefwechsel zwischen Dost und Catel, Lehrer. In keinem der Briefe sind kriti- Indiz dafür, dass Dost sich wiederholt andererseits eine Rezension von Dost zu scheBemerkungenDostszudenKin- an der Leipziger Klinik aufhielt, da er Catels Autobiografie.16 destötungen in der Leipziger Klinik zu die notwendigen Forschungen nicht an Schon in der unmittelbaren Nach- finden. Auch fehlen distanzierende Be- der Front hätte durchführen können kriegszeit, insbesondere aber ab 1960 merkungen zu seinen Leipziger Kollegen, (. Abb. 18). war die Beteiligung von Catel an der NS- die an der Tötung von „Reichsausschuss- Im Kontext von staatsanwaltlichen Kindereuthanasie in der Öffentlichkeit kindern“ beteiligt waren. Ermittlungen gegen Catel 1963 machte breit bekannt: So berichteten u. a. Der Im Jahr 1962 erhielt Dost von Ca- Dost selbst die folgende Aussage: „Ob Spiegel sowie Die Zeit wiederholt und tel dessen neues Buch Grenzsituationen ich schon während der Forschungsauf- ausführlich über den „Fall Catel“. Catel des Lebens,19 das im Kern eine Recht- tragsmonate in Leipzig [d. h., in der selbst rechtfertigte die Durchführung Zeit zwischen November 1942 und aktiver Euthanasie in der NS- und der 17 ToppS(2013):GeschichtealsArgumentinder März 1943; Anm. d. Verf.] von Eutha- Nachkriegszeit öffentlich in einer gan- Nachkriegsmedizin: Formen der Vergegenwär- nasie-Maßnahmen gehört habe, halte tigung der nationalsozialistischen Euthanasie ich für möglich und auch wahrschein- 14 NLA HA, Ermittlungsverfahren gegen Prof. zwischen Politisierung und Historiographie, lich ....“14 Das stimmt mit der Aussage Dr. Hans Heinze: Nds 721 Hannover Acc. 90/99 Göttingen. Nr.33/8,Bd.8. von mehreren anderen Beteiligten im 18 NLA HA, Ermittlungsverfahren gegen Prof. 15 Ebd. gleichen Ermittlungsverfahren überein: Dr. Hans Heinze: Nds 721 Hannover Acc. 90/99 16 SämtlicheZitateausderKorrespondenz Nr.33/8, Bd. 8; Petersen HC, Zankel S (2008)[wie zwischenDostundCatelfindensichimNachlass Anm.9]. 13 UALeipzig,PAF.H.Dost;NLAHA,Ermittlungs- Catel, Historisches Archiv der Dt. Gesellschaft 19 Catel W (1962): Grenzsituationen des Le- verfahren gegen Prof. Dr. Hans Heinze: Nds 721 für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), UA der bens – Beitrag zum Problem der begrenzten HannoverAcc.90/99Nr.33/8,Bd.8. Humboldt-UniversitätBerlin. Euthanasie,Nürnberg.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 43 Pädiatrie nach 1945

fertigung zur Tötung schwer behinder- wie stark Dosts eigene medizinethische Einschränkungen, die er z. B. mit Blick ter Kinder enthielt und gleichzeitig eine Position in der Begrifflichkeit und im auf den Nationalsozialismus hätte for- Rechtfertigungsschriftim Kontextderöf- kategorialen Denken von menschlichem mulieren können. fentlichen Debatte um seine Beteiligung „Lebenswert“ bzw. „Lebensunwert“ nach Noch in Dosts letzten Lebensjahren an der Kindereuthanasie im Nationalso- BindingundHocheverhaftetwar.Gleich- zeigte sich seine Übereinstimmung mit zialismus war.20 zeitig verteidigte Dost auch öffentlich Catels Haltung zur aktiven Euthanasie NachderLektüreäußerte sichDost in Catels Argumentationen: „Im Gegensatz bei Kindern: Im Januar 1981 informierte einem Brief vom 3. Mai 1962 umfassend zur heutigen Euthanasie, wie diese vom er Catel in einem Brief über die An- zum Inhalt des Buchs: Es sei eine „Auf- Bundestag als ,Reform‘ des § 218 StGB fertigung eines Manuskripts mit eigenen klärungsschrift im eigentlichen Sinne des eingeführt worden ist – und zwar unab- Überlegungen zur Euthanasie: „Werner: Wortes“. „Von denjenigen Deiner sach- hängig davon, ob ein geistig lebenswertes erschrick bitte nicht, aber ich befasse lichen Gegner wird mancher den Hut Kind zu erwarten wäre – hat sich Ca- mich z. Zt. intensiv mit dem Komplex vor ... Dir, ziehen müssen ..., der den tel lediglich um [sic] die Auslöschung ,Euthanasie‘, und natürlich in Deinem Muthat,indieserZeitderKollektivangst lebensunwerten Lebens eingesetzt“.23 Sinne. Fragt sich nur, wer ein solches und des Konformismus, das Thema mit Dost parallelisiert also die Tötung von Manuskript annimmt. Ich denke aber, Bekennermut anzupacken“. Dost schrieb Kindern, die von Ärzten als „lebensun- dass es sich um eine Frage der Formulie- weiter: „Ich glaube, wenn die Menschheit wert“ klassifiziert werden, mit der Lega- rung handelt!?“24 Für eine differenzierte das Atomzeitalter meistern sollte, daß lisierung des Schwangerschaftsabbruchs, Bewertung der späten Reflexionen Dosts [sic] bei Binding angefangen und jetzt bei dem letztlich die Mutter über die Be- zurEuthanasie wäre dasvonihm genann- zunächst bei Dir aufgehört, in einer fer- endigung des Lebens des Embryos ent- te Manuskript unverzichtbar; ob und ggf. neren Zukunft das eine Notwendigkeit scheidet, der sich noch in ihrem eige- wo es heute noch existiert, ist nicht be- werden wird, wofür Du eintrittst [näm- nen Körper und in organischer Verbin- kannt. lich die Legalisierung der ,Vernichtung dung mit diesem befindet. Die Perspek- lebensunwerten Lebens‘; Anm. d. Verf.]. tive der schwangeren Mutter findet in Dosts Forschungen zu einer Die menschliche Gesellschaft ist heute Dosts Bewertung des Schwangerschafts- neuen Therapieform bei noch nicht reif für solche Entscheidun- abbruchs keine Berücksichtigung. Statt- Säuglingsintoxikation gen, stattdessen morden sie sich gegen- dessen wird implizit der Gesetzgeber für seitig in den ewigen Kriegen gerade und die Rücksichtnahme auf diese Perspekti- In den 1930er Jahren betrug die Letalität in teuflischer Selektion diejenigen hin, ve kritisiert. Catel dagegen wird für sei- der Säuglingsintoxikation (so der zeitge- die eigentlich überlebensollten ...“21 ne Differenzierung von „lebenswertem“ nössische diagnostische Begriff) bei der Dost sieht damit eine positive Konti- und „lebensunwertem Leben“gewürdigt. Standardbehandlung um 50 %.25 Die von nuitätvonBindingsundHochesBuchDie Dost benutzt dabei ohne jegliche Distan- Dost durchgeführte Intervention mit der Freigabe der Vernichtung lebensunwerten zierung den Begriff des „lebensunwerten Infusion von art- und gruppengleichem Lebens aus dem Jahr 1920 zu Catels Plä- Lebens“,dervonBindingundHoche1920 Plasma war der Versuch, eine kurz zuvor doyerfürdieLegalisierungderKindereu- geprägt und im Nationalsozialismus als von Georg Bessau und dessen Oberarzt thanasie. Dosts inhaltliche Begründung Rechtfertigung für die Krankentötungs- Wolfgang Uhse beschriebene neue The- ist das eugenisch-rassenhygienische und programme verwendet worden war. Er rapiemethode mit geringerer Letalität26 letztlich utilitaristische Argument einer verschweigt auch wider besseres Wis- bei klarer definierten Inklusionskriteri- unerwünschten „Kontraselektion“ durch sen, dass Catel sich nicht nur für Tö- en in Bezug auf Erfolgs- und Nebenwir- Kriege, in denen die starken und wert- tungen „eingesetzt“ hat, sondern diese kungsrate zu reproduzieren. Es handel- vollen Menschen umkommen, während auch selbst durchführte und in seiner te sich also um eine „neuartige Heilbe- die Schwachen zu Hause bleiben und ver- FunktionalsGutachterinvermutlichvie- handlung“ im Sinne der Richtlinien zur schont werden. Dieser „Kontraselektion“ len weiteren Hundert Fällen mitzuver- Forschung am Menschen des Reichsin- muss, so das Argument, durch eine ge- antworten hatte. Catel selbst sprach im nenministeriums, die 1931 in Kraft ge- zielte Selektion und Vernichtung von „le- Mai 1962 von ca. 1000 Begutachtungen treten waren und die auch in der NS-Zeit bensunwertem Leben“ entgegengetreten pro Jahr, von denen er 10–20 % mit ei- durchgängig Gültigkeit hatten.27 werden. nem Pluszeichen versehen habe. Damit Im Jahr 1974 verfasste Dost eine Re- billigte Dost „die Auslöschung lebensun- zension zu Catels Autobiografie mit dem werten Lebens“, und zwar ohne jegliche 24 UA der Humboldt-Universität zu Berlin, Titel Leben im Widerstreit: Bekenntnisse Historisches Archiv der DGKJ, Nachlass Werner eines Arztes.22 Darin wurde deutlich, Catel. 22 Catel W (1974): Leben im Widerstreit – 25 Vgl. etwa Degkwitz R, Eckstein A, Freuden- Bekenntnisse eines Arztes, Nürnberg; Dost bergEetal.(1933):LehrbuchderKinderheilkun- 20 ToppS(2013)[wieAnm.17]. FH (1974) [Rezension] Werner Catel: Leben de,Berlin. 21 UA der Humboldt-Universität zu Berlin, im Widerstreit. In: Deutsche Medizinische 26 BessauG,UhseW(1939):DiePlasmatherapie Historisches Archiv der DGKJ, Nachlass Werner Wochenschrift99,S.2136–2137. der Exsikkation. In: Deutsche Medizinische Catel. 23 DostFH(1974)[wieAnm.22]. Wochenschrift65,S.1405–1410.

44 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 In den „Reichsrichtlinien“heißt es un- Resümee bereit sind, die Grenzen von moralisch ter Punkt 4: Es ist „sorgfältig zu prü- und juristisch akzeptablem Handeln zu fen und abzuwägen, ob die Schäden, die Dost war auch während der Kindertö- überschreiten.29 [durch die Anwendung einer neuartigen tungen zeitweise in der Leipziger Klinik Heilbehandlung] entstehen können, zu anwesend, ebenso ist es höchst wahr- Korrespondenzadresse dem zu erwartenden Nutzen im richtigen scheinlich, dass er schon zu dieser Zeit Prof. Dr. V. Roelcke Verhältnisstehen...“;weiterheißtesun- über die Tötungen informiert war. Für ter Punkt 6, dies (und andere Kriterien) eine aktive Beteiligung an den Tötungen Institut für Geschichte der Medizin, Justus- Liebig-Universität Gießen „ist mit ganz besonderer Sorgfalt zu prü- ergibt sich bei insgesamt unbefriedigen- Jheringstr. 6, 35392 Gießen, Deutschland fen, wenn es sich um Kinder und jugend- der Quellenlage bisher kein Anhalt. In [email protected] liche Personen unter 18 Jahren handelt“. der Nachkriegszeit zeigt sich nicht nur DanebenwerdendieAufklärungunddie dieÜbereinstimmungvonDostsHaltung Volker Roelcke, Prof. Dr. med.; Studium der Medizin, schriftliche Einwilligung der Personen, mit derjenigen Catels zur Rechtfertigung Ethnologie, Alten Geschichte und Philosophie; an denen die Intervention durchgeführt der aktiven Euthanasie, sondern auch Facharzt für Psychiatrie; Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Gießen. wird, oder ihrer juristischen Vertreter keinerlei Distanzierung von den durch Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Psychiatrie, als verpflichtende Voraussetzung für die Catel und weitere Leipziger Kollegen Medizin im Nationalsozialismus; Wechselbezie- Durchführung genannt.28 durchgeführten Tötungen im Kontext hungen zwischen Eugenik und Humangenetik; Geschichte und Ethik der Forschung am Menschen. Im Fall der von Dost durchgeführten des „Reichsausschuss-Verfahrens“. In Studie lässt sich die Frage der korrekt diesem Sinne konsequent, benutzte Dost Sascha Topp, Dr. phil.; bis 2005 Studium der eingeholten Einwilligung aufgrund der in der Nachkriegszeit auch öffentlich die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Politikwissen- schaft und Wirtschaftswissenschaft an der FU Berlin; lückenhaften Quellenlage nicht mehr von Bindung und Hoche 1920 eingeführ- 2006–2014 am Institut für Geschichte der Medizin der eindeutig rekonstruieren. Deutlich ist te Formulierung des „lebensunwertem Justus-Liebig-Universität Gießen; 2011 Promotion aber aus den detaillierten Angaben in Lebens“. (Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin; 2015 mit dem Herbert-Lewin-Preis ausgezeichnet). der Publikation selbst, dass Dost sich in Weiter zeigt sich, dass für Dost in Seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Bezug auf die Punkte 4 und 6 der Richt- zumindest einem Fall von klinischer fürGeschichteundEthikderMedizin des Uniklinikums linien nicht angemessen verhalten hat. Forschung das Wohl der untersuchten Köln in einem Forschungsprojekt zur historischen Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit Da Dost selbst für die 11 von ihm mit Kinder nachrangig war gegenüber dem 1945 (DGKJP). der neuen Methode behandelten Pro- Versuch, neues Wissen zu erlangen. Zur banden die Reihenfolge der stationären Durchführung seiner Studie über die Aufnahme und den Tag der Intervention Behandlung der Säuglingsintoxikation nach der Aufnahme angibt, lässt sich der nahm er eine gegenüber der Standard- Ablauf der Studie im Detail rekonstru- therapie massiv erhöhte Letalität in Kauf. ieren. Dabei betrug die Letalität nach Damit verstieß er gegen die auch in der dem dritten behandelten Kind 66 % NS-Zeit gültige Rechtslage zur medizi- (war also bereits höher als bei der Stan- nischen Forschung am Menschen. Dies dardtherapie), nach dem vierten Kind ist vermutlich auch der Grund, warum 75 % und nach dem fünften Kind 80 %. die zugehörige Publikation in der Selbst- Die Gesamtletalität seiner Versuchsreihe darstellung von Dost in Kürschners betrug über 70 %. Dost war selbst der Deutscher Gelehrten-Kalender von 1950 Auffassung, dass die Todesfälle (außer nicht genannt wird. im Fall des siebten Kindes) eine Fol- Diese Feststellungen ersetzen selbst- ge der Intervention waren. Auch nach verständlich keine umfassende Bewer- den zeitgenössischen staatlichen Richt- tung Dosts als Arzt, Forscher und Lehrer. linien hätte Dost die Studie spätestens Das Beispiel Dost bestätigt allerdings nach dem dritten Todesfall, d. h., nach frühere Ergebnisse medizinhistorischer dem vierten Kind in der Versuchsserie, Forschung, wonach eine Tätigkeit als abbrechen müssen. angesehener Arzt oder Wissenschaftler in der Nachkriegszeit keineswegs men- schenverachtendes Denken oder Han- deln in spezifischen politisch-sozialen Kontexten, wie etwa im Nationalsozia- lismus, ausschließt und umgekehrt. Die 29 Roelcke V (2012): Medizin im Nationalso- 27 Reichsrichtlinien für neuartige Heilbehand- Herausforderung für die Medizin heute zialismus – radikale Manifestation latenter lung und für die Vornahme wissenschaftlicher Potentiale moderner Gesellschaften? In: Fange- Versuche am Menschen (1931). In: Reichsge- besteht gerade darin, mögliche Kontex- rau H, Polianski I (Hg.): Medizin im Spiegel ihrer sundheitsblatt6(55)174–175. te und Mechanismen zu identifizieren, Geschichte, Ethik, Theorie: Schlüsselthemen, 28 Ebd. aufgrund derer „normale“ Mediziner Stuttgart,S.35–50.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 45 Pädiatrie nach 1945

Philipp Osten Papierchromatographie, Kaseinhydrolysat und Neugeborenenscreening Horst Bickel und die Entwicklung von Diagnostik, Therapie und Prävention der Phenylketonurie

Die erste wissenschaftliche Nachweis- senschaftliche Karriere begann erst in der nicht ärztlichen Fragen gegenüber war methode, mit der vor über 50 Jahren Nachkriegszeit. Bereits als Medizinstu- über das Fachliche hinaus stets anregend nahezu jeder in Ost- und Westdeutsch- dent hatte er versucht, der ideologischen für den Kollegenkreis. Seine liebenswür- land geborene Säugling wenige Tage Enge seines Heimatlands zu entkommen. dige Art ließ ihn bei Kindern, Eltern, nach der Geburt in Kontakt kam, war Ein Auslandssemester hatte ihn 1938 in Schwestern und Kollegen sehr beliebt sein. das Neugeborenenscreening auf Phenyl- die Schweiz geführt; hier hatte auch die Durch sein sicheres Auftreten erwarb er ketonurie (PKU). Seine Entwicklung ist Beziehung zu seiner späteren Frau, der sich das Vertrauen der Eltern. Dr. Bickel das Ergebnis medizinischer Forschung, BritinStellaMargaretHoodBarrs,begon- gehört ohne Zweifel zu den jungen Ärzten, privaten Engagements und politischer nen. So oft wie möglich traf sich das Paar deren Kenntnisse und Arbeitsfreudigkeit Einflussnahme. In ihr spiegelt sich die in Deutschland und in Großbritannien,2 zu den größten Hoffnungen berechtigen.4 Entstehung mikrobiologischer Nach- bis der Beginn des Zweiten Weltkriegs weismethoden ebenso wider wie die jede Kontaktmöglichkeit unterband. Das Knapp ein Jahr nach Beginn seiner enge Kooperation zwischen Pädiatern Kriegsende erlebte Bickel als Schiffsarzt Tätigkeit in Eppendorf zwang eine Tu- und Eltern. Dieser Beitrag schildert die auf dem Minensuchboot „Ubena“. Am berkulose Bickel, seine Ausbildung zum Geschichte der PKU in Westdeutschland 1. Juni 1945 trat er seine erste zivile Stelle Kinderarzt für einen Kuraufenthalt zu am Beispiel der Arbeiten des Kinderarz- als Volontärarzt an der Hamburger Uni- unterbrechen.NachseinerGenesungwar tes Horst Bickel (1918–2000; . Abb. 19). versitäts-Kinderklinik an. Sein Chef war derWegzurückaufdieStelleanderHam- In der DDR hatte Bickel in dem Er- Rudolf Degkwitz (1889–1973), der auf- burger Kinderklinik versperrt. Degkwitz nährungswissenschaftler Alwin Knapp grund der Erfahrungen mit dem Natio- hatte sich mit der Medizinischen Fakul- (Greifswald) sowie den Humangeneti- nalsozialismus (NS) entschieden für eine tät überworfen, die seinen konsequen- kern Herbert Theile (Leipzig), Gerhard radikale Umerziehung der deutschen Ju- ten Entnazifizierungskurs nicht mittrug. Machill (Greifswald) und Günther Cobet gend eintrat.3 Der junge Bickel entsprach Während Degkwitz seine Übersiedelung (Berlin) kongeniale Mitstreiter. Gemein- genau dem Bild einer von Degkwitz ge- in die USA vorbereitete, verschaffte er sam inszenierten sie einen „Wettlauf forderten neuen, weltoffenen Ärztegene- seinem Schüler eine Position an der Züri- der Systeme“ um die Einführung des ration: cherUniversitäts-KinderklinikbeiGuido Neugeborenenscreenings. Der Derma- Pflichteifer, Fleiß, Verantwortungsfreu- Fanconi (1892–1979). Dort begann Bi- tologe Klaus Schlenzka (Greifswald, digkeit und nie erlahmendes Interesse ckels Karriere als Experte für angeborene später Magdeburg) leistete Lobbyarbeit zeichnen ihn aus. Sein weltgewandtes We- Stoffwechselstörungen. bei der Parteiführung, während seine sen und seine Aufgeschlossenheit auch Die PKU ist eine autosomal-rezes- Kollegen ohne größere Rücksicht auf siv vererbte Stoffwechselstörung, die in ideologische Schranken grenzübergrei- 1 Vgl.:TheileH(2003):Erinnerungenan35Jahre Deutschland heute etwa jedes 8000- fend zusammenarbeiteten.1 Tätigkeit an der Universitätsklinik Leipzig bis 10.000ste Neugeborene betrifft. Die Im Jahr 1918 geboren, wurde Bickel (1959–1994): Eine ganz und gar subjektive Krankheit beruht auf einem Gendefekt,5 noch zum Krieg eingezogen; seine wis- Betrachtung. In: Kiess W, Riha O, Keller E der die Ausbildung eines bestimmten (Hg.): 110 Jahre Universitätsklinik und Poliklinik Enzyms (der Phenylalaninhydroxylase) für Kinder und Jugendliche in Leipzig, Basel, Eine ausführliche Fassung dieses Beitrags S.78–90. verhindert. Dieses Enzym ist notwen- erschien im Jahr 2010: Osten P (2010): Horst 2 InterviewmitSusanBickelam4.Januar2010. dig, um die in der alltäglichen Nahrung Bickel(1918–2000)undderWegzurTherapieder vorhandene Aminosäure Phenylalanin Phenylketonurie. In: Hoffmann GF, Eckart WU, 3 Zu Degkwitz vgl. van den Bussche H (1999): Osten P (Hg.): Entwicklungen und Perspektiven Rudolf Degkwitz. Die politische Kontroverse um der Kinder- und Jugendmedizin. 150 Jahre einenaußergewöhnlichenKinderarzt.In:Kinder 4 ZeugnisDegkwitzvom14.Mai1945,Universi- PädiatrieinHeidelberg,Mainz,S.139–167. undJugendarzt30,S.425–443undS.549–556. tätsarchivHeidelberg.

46 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Nahrung herzustellen, die kein Phenyl- alanin enthielt. Durch die Ausschaltung der schädlichen Noxe bzw. ihrer Vorläu- fersubstanzen sollte der Pathomechanis- mus der PKU umgangen werden. Der Weg dahin wurde jedoch erst durch wis- senschaftliche Nachweismethoden und Vergleichsuntersuchungen geebnet, an deren Entwicklung Bickel erheblichen Anteil hatte.

Papierchromatographie

Bereits mit seiner dritten Publikation als Assistenzarzt in Zürich, eingereicht am 20. Juli 1949, hatte Bickel sein For- schungsfeld gefunden. Sie behandelte ein Verfahren zur Sichtbarmachung von Aminosäuren und trug den Titel „Ein- führung in die Papierchromatographie“.6 Abb. 19 9 Horst DiesesNachweissystem,dasBickelmit Bickel als Titelheld großem Erfolg nutzen sollte, stammte der Erstausgabe der schwedischen Zeit- aus der Bekleidungsindustrie. Das in- schrift Paediatricus, ternationale Wollsekretariat, ein Zusam- 1971. (© Nutricia menschluss neuseeländischer, australi- GmbH, mit freundl. scher und südafrikanischer Schafzüch- Genehmigung) ter, sah sich durch die Neuentwicklung von Kunstfasern unter Druck gesetzt.7 Mit Stipendien förderte es deshalb seit Abb. 20 9 Ivar As- 1938 die Entwicklung von Methoden, bjørn Følling, der mit denen die Zusammensetzung von Erstbeschreiber der Wolle untersucht werden sollte. Mit rechts PKU ( )erklärt der Papierchromatographie gelang es Horst Bickel (links) anhand von Struk- den Chemikern Richard L.M. Synge turformeln, wie aus (1914–1994) und Archer J.P. Martin Phenylalanin Phe- (1910–2002) 1941 erstmals, die Art und nylbenztrauben- die annähernde Menge der in Wolle säure wird, weil die enthaltenen Aminosäuren zuverlässig zu Umwandlung in Ty- rosin blockiert ist. typisieren – eine Grundlagenforschung, (© Institut für Ge- für die sie 1952 den Nobelpreis erhiel- schichte und Ethik ten. Im Jahr 1947 machte der Londoner der Medizin, Heidel- Arzt Charles E. Dent (1911–1976) die berg [Bildarchiv], MethodedurchdieinderZeitschrift mit freundl. Geneh- Nature migung) veröffentlichte Analyse einer Kartoffel populär; er führte vor, dass sich praktisch alle biologischen Mate- in Tyrosin zu verwandeln. Zum einen sammelt sich Phenylalanin an, das zu rialen mithilfe der Methode typisieren fehlt den Patienten die lebenswichti- Phenylbrenztraubensäure abgebaut wird ließen.8 Dent hatte mit seinen Arbeiten ge Aminosäure Tyrosin, zum anderen (. Abb. 20). Diese wiederum schädigt zum Stoffwechsel unmittelbar nach Ende die Myelinscheiden des Nervengewebes 5 Zum Mechanismus des Faltungsdefekts vgl.: so vehement, dass eine zunehmende 6 GerstingSW,KemterKF,StaudiglM,MessingDD, geistige Retardierung bzw. eine Ent- Herrmann F, Bickel H, Fanconi G (1949): Einführung in die Papierchromatographie. In: Danecka MK,LaglerFB,SommerhoffCP,Roscher wicklungsverzögerung eintritt, die die AA, Muntau AC (2008): Loss of Function in Phe- HelveticaPaediatricaActa5,S.397–414. nylketonuria Is Caused by Impaired Molecular selbstständige Lebensgestaltung des Be- 7 Synge RL (1964): Applications of Partition Motions and Conformational Instability. In: The troffenen unmöglich macht. Bickels Be- Chromatography. In: Nobel Lectures. Chemistry AmericanJournalofHumanGenetics83,S.5–17. handlungskonzept bestand darin, eine 1942–1962.Amsterdam,S.374–387.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 47 Pädiatrie nach 1945

sondern es ist ein Präparat. Es kön- nen hier nicht nur die Makromoleküle der Aminosäuren für das bloße Auge sichtbar gemacht werden, sondern die gesamte Technologie des Experiments befindet sich gemeinsam mit ihnen auf dem Filterpapier.12 Zeitgleich mit seiner Veröffentlichung zum Gebrauch der Papierchromatogra- phie als Methode im klinischen Alltag überprüfte Bickel gemeinsam mit Fan- coni ein Krankheitsbild, das Fanconi be- reits in den frühen 1930er-Jahren als „ne- phrotische Form der renalen Glucosurie“ Abb. 21 9 Dents beschrieben hatte und das zu Erbrechen, Fleckenkarte der Hepatomegalie und zu rachitischen Sym- häufigsten Amino- ptomen führte.13 Eine erbliche Kompo- säuren, die Bickel für seine Untersu- nente wurde diskutiert, die Familie des chungen nutzte. ersten untersuchten Kindes stammte aus (© Institut für Ge- einem entlegenen Bündner Dorf, und Bi- schichte und Ethik ckel spürte in akribischer Anamnese die der Medizin, Heidel- Verwandtschaftsbeziehungen der Eltern berg [Bildarchiv], mit freundl. Geneh- auf. Mithilfe der Papierchromatographie migung) gelang die Klassifizierung der über den Urin ausgeschiedenen Aminosäuren. Be- des Zweiten Weltkriegs begonnen, als das Verfahren zugleich standardisiert. reits in den frühen 1960er-Jahren eta- er als Experte für Mangelernährung die Im selben Jahr führten Fanconi und blierte sich in Lehrbüchern und interna- ehemaligen Insassen des Konzentrati- Bickel seine Methode an der Züricher tionalen Publikationen der Name Fan- onslagers Bergen-Belsen betreute.9 Der Kinderklinik ein. coni-Bickel-Glykogenose für das äußerst wichtigste Schritt zur alltäglichen An- Das Prinzip der Nachweismetho- seltene Krankheitsbild. Die Benennung wendung im klinischen Labor war getan, de ist denkbar einfach: 1 Trpf. der zu mit dem Eponym Fanconi-Bickel macht als Dent eine Mustertafel erstellte, mit untersuchenden Flüssigkeit (Urin oder deutlich, dass die Befunde der Papier- deren Hilfe Aminosäuren anhand ihrer proteinfreies Blutplasmafiltrat) wird am chromatographie als hinreichende Krite- Position auf dem Filterpapier identifi- Rand eines Filterpapiers aufgebracht. rien für die Beschreibung einer Krank- ziert werden konnten.10 Mit dieser Karte Der Rand des Papiers wird in ein Lö- heitsentität anerkannt wurden. (. Abb. 21), die sein Freund Bickel liebe- sungsmittel (Phenol-Wasser-Gemisch) Noch 1949 hielt Bickel das später nach voll „Fleckentafel“ nannte,11 hatte Dent getaucht, das die in der Flüssigkeit ent- Fanconi und ihm benannte Syndrom für ein universelles Referenzsystem für die haltenen Aminosäuren langsam über „das einzige Krankheitsbild, bei dem Papierchromatographie geschaffen und das Blatt transportiert. Jedes Molekül es zu einer chronischen Aminoacidu- wandert seinem Gewicht und seiner rie kommt.“14 Er irrte. Allein in den 8 Dent, CE, Stepka W, Steward FC (1947): Ladung entsprechend mit einer eigenen folgenden 3 Jahren sollten 17 weitere Detection of the Free Amino-Acids of Plant Cells Geschwindigkeit. Nachdem der Prozess chronische Aminoacidurien beschrie- By Partition Chromatography. In: Nature 160, abgelaufen ist, wird das Papier getrock- ben werden. Aminoacidurien, also die S.682–683. net, und die Aminosäuren werden mit- 9 Neuberger A (1948): Charles Enrique Dent. hilfe eines Reagens (z. B. Ninhydrin) 12 Rheinberger H-J (2006): Epistemologie 25. August 1911–19. September 1976. In: angefärbt. Eine weitere Trennung der des Konkreten. Studien zur Geschichte der Biographical Memoirs of Fellows of the Royal modernenBiologie.Frankfurt,S.346. Society.Bd24(Nov.1978),S.15–31. Aminosäurenkonnteineinemzwei- 13 Fanconi G (1931): Die nicht diabetischen 10 ten Lauf mit Collidin-Lutidin-Wasser Dent, CE (1948): A study of the behaviour of Glykosurien und Hyperglykämien des älteren some sixty amino-acids and other ninhydrin- erzwungen werden, das man im rech- Kindes. In: Jahrbuch für Kinderheilkunde und reacting substances on phenol-;collidine’ filter- ten Winkel zum ersten Lösungsmittel physische Erziehung 133, S. 257–300. Heute ist paper chromatograms, with notes as to the applizierte. bekannt, dass die auch Glykogenose Typ 6 ge- occurrence of some of them in biological fluids. Ein Chromatogramm ist, darauf hat nannte Krankheit auf einem autosomal rezessiv In:BiochemicalJournal43,S.169–180. Hans-Jörg Rheinberger hingewiesen, vererbten, sekundären Phosphoglucomutase- 11 Bickel H (1955): Habilitationsschrift an Mangelberuht,derauseinemDefektdesMono- der Universität Marburg vom 11. Mai 1955. kein Abbild wie etwa eine Fotografie saccharid-Membrantransportes resultiert. 1996 Maschinenschriftliches Manuskript, S. 5. Bickel- oder ein Röntgenbild und kein Indikator wurde der Genlocus 3q26.1–q26.3 (Glut2 Gen) ArchivderFirmaSHS,Heilbronn. wie ein sich färbendes Lackmuspapier, identifiziert.

48 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Ausscheidung von Aminosäuren über Schwelle für pathologische Aminosäu- schen struppigen Haare, Gesichtsekzeme den Urin, sollten zum Gegenstand von renspiegelinBlutundUrinhättedefiniert und den charakteristischen, von Phenyl- Bickels Ph.D.-These, seiner Habilitati- werden können, lag zu diesem Zeitpunkt benztraubensäure herrührenden Mäuse- onsschrift und zu seinem wichtigsten noch nicht vor. geruch. Die Mutter des Kindes teilte den Forschungsgebiet überhaupt werden. Um diese aufwendige Untersuchung Enthusiasmus der Forscher für den chro- Innerhalb von nur einer Dekade sollte scheint sich Bickel in Birmingham ähn- matographischen Befund nicht. Eine Di- die neu etablierte Methode der Pa- lich offensiv bemüht zu haben wie zuvor agnose ohne Aussicht auf eine Thera- pierchromatographie das Verständnis bei Fanconi in Zürich. Der bereits eme- pie erschien ihr nutzlos. Rückblickend von angeborenen Stoffwechselkrankhei- ritierte Sir Leonard Parsons (1879–1950) schilderte Bickel seine Begegnungen mit ten vollkommen neu strukturieren und und sein Nachfolger James McIure Smel- der verzweifelten Frau: „She waited for sowohl die Pädiatrie als auch die inter- lie (1893–1961) gaben ihm Gelegenheit, me every morning before the laboratory nationale Gesundheitspolitik vor neue das Forschungsfeld eigenständig an der door, making quite clear that treatment Aufgaben stellen.15 Universitäts-Kinderklinik Birmingham was what she wanted for her child, not zu etablieren. fancy investigations.“20 Phenylketonurie Die ersten 200 Probanden waren ge- Dem von Erfolg verwöhnten Forscher sunde Kinder einer Freiluftschule in Bir- wurde klar,dass er es nicht bei der papier- Der nächste Schritt seiner Karriere führ- mingham, die Bickel und seinem Team chromatographischbestätigtenDiagnose te Bickel nach Birmingham. Mit seiner Harnproben, die vor dem ersten Früh- (. Abb. 22) belassen konnte. Verlobten, Stella Margaret Hood Barrs, stückgewonnenwordenwaren,zurUn- Zunächst hielten Hickmans und Bi- mit der er seit seiner Tuberkuloseerkran- tersuchung überließen.17 Fünfzig weitere ckel die Herstellung einer phenylalanin- kung in der Schweiz lebte, hatte er bereits ProbenvonSäuglingenundKleinkin- freien Nahrung für unmöglich, doch 2 Kinder. „1949 siedelte ich mit meiner dern sammelte er in Kindergärten und dann machte sie Louis I. Woolf vom Familie nach England über, um Sprache Privathaushalten. Great Ormond Street Hospital in Lon- und Land meiner aus England gebür- Unter den Kindern mit starker Ent- don auf ein Verfahren aufmerksam, tigen Frau kennen zu lernen“,16 schrieb wicklungsverzögerung und mentaler Re- bei dem Milcheiweiße (Kasein) mithilfe er in einem Lebenslauf. Die Gruppe je- tardierung, die an der Universitätsklinik von Aktivkohle hydrolysiert wurden. ner Biologen und Mediziner, die sich Birmingham behandelt wurden, fanden Bei niedriger Umgebungstemperatur mit der Anwendung der Papierchroma- Bickel und seine Kollegen, die pensio- spalteten sich in einem langwierigen tographie auskannten, war klein und in- nierteBiochemikerinEvelynHickmans Prozess Phenylalanin, Tryptophan und tim, und Bickel ging direkt dorthin, wo (1883–1972)18 und der Kinderarzt John Tyrosin ab: Das Verfahren stammte aus die Methode für die klinische Diagnostik W. Gerrard (1916–2013),19 bei der Su- Forschungen zur Ernährungssubstituti- zur Marktreife gebracht worden war: in che nach Aminoacidurien ein 2-jähri- on bei Hungernden nach dem Zweiten Dents chromatographische Abteilung an ges Mädchen, bei dem das Papierchro- Weltkrieg.Hickmansund Bickelwarenin der Universität London. Dent allerdings matogramm einen dicken Phenylalanin- den folgenden Wochen an ihren dicken begann damals, sich intensiv mit dem fleck zeigte. Die kleine Tochter irischer Wollpullovern und kohlegeschwärzten Vitamin-D-Mangel und mit dem Kalzi- Einwanderer, Sheila, zeigte kein Interesse Laborkitteln zu erkennen,21 bis die Fa. ummetabolismus zu befassen und über- an ihrer Umgebung, reagierte nicht auf Allen and Hanburys Ltd. ein phenylala- ließ das Feld der Aminoacidurien seinem die Ansprache der Mutter und hatte die Freund Bickel. In seinen biochemischen für unbehandelte PKU-Patienten typi- 20 Bickel H (1980): Phenylketonuria. Past, Pre- Vorarbeiten hatte Dent unterschiedliche sent, Future. In: Journal of Inherited Metabolic Disease3,S.123–132,hierS.124. Substanzen auf ihren Gehalt an Amino- 17 Bickel H (1955): Aminoacidurien und Mellitu- 21 So schildert es Jean Koch in ihrem kurzwei- säuren geprüft. Eine Bestandsaufnahme rien im Kindesalter. Med. Habilitations-Schrift, an gesunden Individuen, mit deren Hilfe ligen Buch: Koch JH (1997): Robert Guthrie. Marburg. The PKU Story. A Crucade against Mental Re- Normwerte und eine daraus ableitbare 18 Hickmans galt als „eine wundervoll inspirie- tardation. Pasadena (CA), S. 22. Ein weiteres rende Persönlichkeit, deren Laboratorium ein populärwissenschaftliches Buch zum Thema: Ort war, an dem sich Menschen unterschiedli- Schwartz Cowan R (2008): Heredity and Hope. 14 Herrmann F, Bickel H, Fanconi G (1949): cher Fachrichtungen trafen, um zu reden und The Case für Genetic Screening, Cambridge Einführung in die Papierchromatographie. In: um neue Ideen zu entwickeln“. C.G.P (1972).: (Mass), S. 121. Zu PKU und Screening im Kon- Helvetica Paediatrica Acta 5, S. 397–414, dort Evelyn M. Hickmans (Obituary). In: British Me- text der Diskursanalyse genetischer Diagnostik S.397. dical Journal 5797, S. 449. Zu Hickmans, vgl. vgl. Waldschmidt A (1996): Das Subjekt in 15 ZudenpolitischenImplikationen,diesichaus auch Rayner-Canham M; Rayner-Canham G der Humangenetik. Expertendiskurse zu Pro- derErfassungundTherapiederPhenylketonurie (2008): Chemistry was their life. Pioneering grammatik und Konzeption der genetischen im internationalen Kontext ergaben, vgl. Paul British women chemists, 1880–1949, London, Beratung 1945–1990, Münster, S. 92. Vgl. auch DB (1998): The Politics of Heredity. Essays on S.198–199. Lindee S (2005): Moments of truth in genetic Eugenics, Biomedicine, and the Nature-Nuture 19 Gerrard zog 1955 nach Kanada, wo er medicine, , S. 32. Sowie: Weingart P; Debate,NewYork,S.173–187. zum Gründungsdirektor des Department of Kroll J, Bayertz K (1988): Rasse, Blut und Gene. 16 Lebenslauf Horst Bickel vom 8. Dezember Pediatrics derneuenMedizinischenFakultät der Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in 1954.UniversitätsarchivHeidelberg. UniversitätSaskatchewanberufenwurde. Deutschland.Frankfurt/M.,S.652.

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fort, welfare and happiness of mankind“ (. Abb. 24).24 Das diätetische Behandlungsprinzip von Hickmans, Bickel und Gerrard eröff- nete einen grundsätzlich neuen Weg zur Behandlung vieler Stoffwechselerkran- kungen – nicht nur der PKU. Das macht dieses Prinzip zu einer generell bedeut- samen, therapeutischen Innovation.25 Sheila Jones (1950–1999) sollte trotz der Behandlung, die ihren Zustand wesentlich verbesserte und den Krank- heitsprozess stoppte, bleibende Schäden zurückbehalten. Bereits wenige Wochen Abb. 22 9 Papier- nach der Geburt hatte die Ernährung chromatogramm mit Muttermilch ihr Nervengewebe un- der ersten Patien- wiederbringlich zerstört. Die Arbeit tin vor Beginn der der folgenden Jahre orientierte sich an Behandlung mit phenylalaninarmer 2 Zielen: Es musste ein diagnostisches Nahrung, Oktober Verfahren entwickelt werden, um Kin- 1951. (© Institut der mit PKU rechtzeitig zu erkennen, für Geschichte und und die Herstellung der Ersatznahrung Ethik der Medizin, musste verbessert werden. Heidelberg [Bildar- chiv], mit freundl. Bickel nahm diese Forschungsfelder Genehmigung) mit nach Marburg, wo sich seine mitt- lerweile 6-köpfigen Familie 1955 nieder- ließ. Der Ph.D.-Status hätte zur Folge ge- ninarmes Hydrolysat nach ihrem Rezept nächst verabreicht und dann mit dras- habt, dass der Arzt Bickel in England nur herstellte.22 Einen Ausschnitt aus Bickels tischsichtbarenFolgen5gPhenylalanin für die Forschung und nicht in der Pati- privater Sammlung phenylalaninarmer täglich addiert wurden. Die Verschlech- entenversorgung hätte arbeiten können. Nahrung zeigt . Abb. 23. terungwarsodramatisch,dassBickelden Die an deutschen Universitäten gebote- Die Methode, Kasein auf Aktivkohle Versuch nach wenigen Tagen abbrach. ne Einheit von Forschung, Lehre und zu hydrolysieren, reproduzierte das Prin- Das Mädchen benötigte gut 3 Wochen, Klinikalltag schien ihm verlockender als zip der Papierchromatographie. Die Ei- um wieder zu dem Status zurückzukeh- die Aussicht, nur im Labor tätig zu sein. weiße trennten sich auf einem Träger- ren, den es zuvor unter der phenylalanin- Den Wechsel aus England erkaufte er sich medium. Molekularbiologische Therapie armen Kost erreicht hatte. Stolz zitierte mit der Subordination unter einen auto- und Diagnostik der PKU beruhten also Bickel in seiner Ph.D.-Arbeit aus einem ritären Ordinarius. Immerhin gestattete auf ein und demselben Verfahren. Brief der Mutter, in dem sie die Fort- ihm Friedrich Linneweh (1908–1992), Nachdem die korrekte Menge der zu schritte schilderte: sich noch 1955 zu habilitieren. Doch substituierenden Aminosäuren – Phe- Since Sheila returned home from hospital, störten Linneweh das öffentliche Enga- nylalanin blieb auch für PKU-Patienten her eyes seem brighter and livelier than be- gement für ein allgemeines Screening- eineessenzielleAminosäure,v.a.Tyrosin fore. She makes noises, as if she wants to programm und die rasch wachsende Be- musste ersetzt werden – feststand, bes- talk. She begins to notice when her name is deutung, die Bickel in gesundheitspoliti- serte sich der Zustand des Kindes. Und er called whereas before she seemed deaf. She schenRichtungsdebattenerhielt.DasKli- verschlechtertesichrapide,alsBickelpro- is interested in all food, crawls to pick up ma zwischen den beiden wurde nicht da- beweise, ohne Wissen der Eltern, der Er- a biscuit from the floor and puts it in her durch entspannt, dass ihre beiden Fami- satznahrung erneut tagesübliche Phenyl- mouth. This is the first time she has done lien in unmittelbarer Nachbarschaft zu- alanindosen hinzufügte. Die Mutter er- this.23 kannte die Bedeutung der Versuche und 24 Rayner-Canham M, Rayner-Canham G (2008) willigte ein, das Kind für eine Versuchs- Für ihre Entdeckung erhielten Bickel, [wie Anm. 18], S. 199. Weniger klangvolle reihe stationär aufnehmen zu lassen, bei Hickmans und Gerrad die „John Scott Auszeichnungen Bickels waren unter anderem der die phenylalaninarme Nahrung zu- Medal for contributions to the com- das Bundesverdienstkreuz, die Mitgliedschaft im Royal College of Physicians und in der Leo- poldina und der Heubnerpreis der Deutschen 22 Bickel H, Gerrad J, Hickmans EM (1953): Influ- GesellschaftfürKinderheilkunde. enceofPhenylalaninIntakeonPhenylketonuria. 23 Bickel H (1953): Aminoaciduria in Childhood 25 Mitteilung von Walter Nützenadel am In:TheLancet265(1953),S.812–813. (Ph.D.thesis),Birmingham,S.43. 20.Januar2010.

50 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Abb. 23 8 Bickels private Sammlung phenylalaninarmer Nahrung aus Ost- Abb. 24 8 Gerrard,HickmansundBickel(von li.)beiderVerleihungdesJohn und West. (© Philipp Osten, mit freundl. Genehmigung) Scott Award. (© Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Heidelberg [Bildarchiv], mit freundl. Genehmigung) einanderwohntenund steife gesellschaft- Schweiz übliche) Guthrie-Test funktio- nings auf PKU mit Hinweisen auf eine liche Kontakte unumgänglich waren.26 niert wie folgt: Neugeborenen wird am US-amerikanische Debatte noch einmal Eine glückliche Wendung nahm die 5. Lebenstag an der Ferse 1 Trpf. Blut massiv gefährdet. Der republikanische Einführung der Frühdiagnose der PKU abgenommen, der auf ein Filterpapier ArztSamuelP.Bessman(1921–2011)hat- durch das Engagement des US-amerika- gegeben wird, das sich nach dem Trock- te behauptet, die Zahl der angeblichen nischen Mikrobiologen Robert Guthrie nen problemlos an ein zentrales Labor PKU-Fälle hätte sich durch das Screening (1916–1995). Guthries Sohn litt an einer schicken lässt. Dort wird das Filterpapier von 1:40.000 auf 1:10.000 erhöht. Er be- ungeklärten geistigen Behinderung, was auf einen Nährboden mit 2-Thienylala- zweifelte, dass der Guthrie-Test tatsäch- seinen Vater bewog, sich für Selbsthil- nin und Bacillus subtilis gegeben. Wenn lich nur behandlungsbedürftige Kinder feverbände zu engagieren. Zum dritten im Blut Phenylalanin vorhanden ist, identifiziere. Bickel und Woolf antworte- Mal in der Geschichte der PKU nahm beginnen die Bakterien zu wachsen. In ten in Leserbriefen auf diesen Vorwurf, ein Elternteil entscheidenden Einfluss diesen Fällen wurde die einsendende der die Durchsetzung des Screenings in auf die Diagnose und die Therapie der Klinik informiert. Der einzelne Test war Europa infrage stellte. Tatsächlich konnte Krankheit. Bereits Ivar Asbjørn Følling billig,docheinflächendeckendesScreen- der Guthrie-Test falsch-positiv sein, und (1888–1964) war bei seiner Erstbeschrei- ing aller Neugeborenen durchzusetzen, er reagierte auch auf nichtpathologische bung der PKU in den 1930er-Jahren von erforderte harte Überzeugungsarbeit. Formen der PKU. Doch jedes Kind wur- Borgny und Harry Egeland, den Eltern Im Jahr 1966 erklärten sich zuerst die de intensiv nachuntersucht, bevor über erkrankter Kinder, angespornt worden. Bundesländer Nordrhein-Westfalen und die Zusammensetzung seiner Nahrung Ähnlich erging es Bickel, der von Laura Hessen bereit, das Programm zu finan- entschieden wurde. Die World Health Jones mit Nachdruck aufgefordert wur- zieren. Der Kalte Krieg und die durch ihn Organization (WHO) nahm die Debat- de, ihre Tochter zu behandeln. Guthrie beförderte Konkurrenz um eine soziale te zum Anlass, sich mit der ethischen entwickelte einen simpel zu verarbeiten- Gesundheitsversorgung förderte die Ver- Zulässigkeit von Screeninguntersuchun- den Test, mit dem die PKU bereits in breitung des Neugeborenenscreenings gen zu befassen. Ihr 1968 veröffentlich- den ersten Lebenstagen nachgewiesen in der Bundesrepublik (flächendeckend ter Report gab Richtlinien vor, die heute werden konnte. Als Bakteriologe wusste 1971) und in der DDR, wo es Anfang nur eingeschränkt befolgt werden: Laut er, dass 2-Thienylalanin wachstumshem- 1969 unter dem Namen „Massensieb- WHO muss ein Screening u. a. billig und mend auf Bakterienkulturen wirkt und testung“ eingeführt wurde.27 zuverlässig (nie falsch-negativ und sel- dass die bakterizide Wirkung der Sub- Im Frühjahr 1967, wenige Wochen ten falsch-positiv) sein. Die Krankheit, stanz durch die Zugabe von Phenylalanin vor Bickels Berufung nach Heidelberg, auf die gescreent wird, muss tatsächlich aufgehoben wurde. Der 1963 eingeführ- hatte die Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt auch behandelbar sein.28 All dies war bei te (und bis 2005 beispielsweise in der die Einführung des Neugeborenenscree- der PKU und beim Guthrie-Test gege-

26 InterviewmitSusanBickelam4.Januar2010, 27 Machill G; Knapp A (1976): Zur Populations- 28 Wilson, JMG (1968): Jungner, G.: Principles ähnlich äußerten sich Hans Helge und Walter genetik der Phenylketonurie in der DDR. In: and practice of screening for Disease (WHO Nützenadel. Humangenetik31,S.107–111. PublicHealthPapers34),Genf.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 51 Pädiatrie nach 1945

ben, der zum Prototyp des Neugebore- Papierchromatographie gelang dank nenscreenings werden sollte. Teamgeist, Weltgewandtheit und einer Bedrohlicher als der Hinweis auf vonEmpathiemitdenBetroffenenund falsch-positive Tests schien Bickel eine ihren Familien angetriebenen Ausdauer. Bemerkung Bessmans, die auf die zu- Die Einführung des Neugeborenenscree- künftigen Kinder erfolgreich behandel- nings als notwendige Voraussetzung ter PKU-Patienten anspielte. In der Tat für eine rechtzeitige Therapie war nur musste davon ausgegangen werden, dass im internationalen Verbund politisch diese Kinder mit einem Hirnschaden auf durchsetzbar. die Welt kämen, aber eben nur, wenn die Mutter während der Schwangerschaft Korrespondenzadresse keine phenylalaninarme Diät einhielt. Prof. Dr. P.Osten Es war Bickel unverständlich, wie dies als Argument gegen ein Screening angeführt Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Zentrum für Psychosoziale Medizin, werden konnte, das Menschen vor irre- UniversitätsklinikumHamburg-Eppendorf parablen Hirnschäden bewahrte.29 Bickel Martinistr. 52, 20246 Hamburg, Deutschland drängte die Landesregierungen, den Gu- [email protected] thrie-Test flächendeckend einzuführen, jede Verzögerung um ein Jahr bedeute Philipp Osten; Prof. Dr. med.; 1990–1992 Studium mehr als 100 lebenslang leidende Kinder. Neuere und Neueste Geschichte, Philosophie und Rechtswissenschaften in Bonn; 1992–1999 Studium In Heidelberg war die große deutsch- derHumanmedizininBerlin;1999–2003wissenschaft- landweit geführte PKU-Verbundstudie, licher Mitarbeiter am Berliner Institut für Geschichte die zunächst von der Volkswagenstif- der Medizin; 2003 Promotion über das Berliner Oskar- Helene-Heim; 2003–2008 wissenschaftlicher Mit- tung, dann vom Bundesministerium für arbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Forschung und Technologie gefördert Robert Bosch Stiftung, Stuttgart; 2007–2015 wissen- wurde, ein Herzenskind Bickels. Sie er- schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Heidelberg; Habilitation, 2015 langte Vorbildcharakter für viele spätere Fellow am Marsilius-Kolleg, Institute for Advanced Multizenterstudien.30 Study der Universität Heidelberg. Seit Oktober 2015 Mit Guthrie verband Bickel eine enge Kommissarischer Leiter des Instituts für Geschichte 31 undEthikderMedizinundDirektordesMedizinhistori- Freundschaft. Als der unkonventionel- schenMuseumsinHamburg;MitgliedderHistorischen le Mikrobiologe im Sommer 1969 mit Kommission der DGKJ. seiner Familie in 2 VW-Bussen um die Welt reiste, besuchte er auch Heidelberg. Nur in einer Nacht ließen sich die über- zeugten Camper, die ihr Lager vor dem Wohnhaus der Bickels an der Heidelber- ger Uferstr. 42 aufgeschlagen hatten, in ein festes Gebäude locken. Gemeinsam verfolgten die Familien vor dem Fernse- her die erste Mondlandung.32

Resümee

Die Biografie Bickels zeigt, welch über- ragende Bedeutung dem konsequenten Einsatz neuer Nachweismethoden zu- kommen kann. Die Etablierung der

29 Bickel H (1967): Phenylketonurie. Untersu- chungsprogramm umstritten. In: Deutsches Ärzteblatt64,S.583. 30 Mitteilung von Walter Nützenadel am 20.Januar2010. 31 Susan Bickel berichtet von zahlreichen BesuchenderFamilieGuthrieinMarburg. 32 KochJH(1997)[wieAnm.21],S.113.

52 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Anne Oommen-Halbach Über die akademische Pädiatrie in Bonn in der Nachkriegszeit (1945–1960) und den dortigen Beginn der humangenetischen Forschung

„Ärztliches Helfen und wissenschaftli- bach vorliegt,3 ist über ihre Nachkriegs- ter dessen Leitung (1924–1934) die Kin- ches Forschen haben sich in dieser lau- geschichte weit weniger bekannt; über die derklinik derart rasch expandierte, dass teren Persönlichkeit in edler Harmonie dortigen humangenetischen Forschun- die Raumnot zum anhaltenden Problem verbunden. Eben diese seine Persönlich- gen finden sich in der Literatur kaum wurde. Dieses Problem sollte erst unter keitwirdüberdenTodhinaussegensreich Hinweise.4 Ullrich in den 1950er-Jahren nachhaltig wirken, und sein Werk wird bleibender Im vorliegenden Beitrag interessie- gelöst werden. BesitzunsererWissenschaftsein“,schrieb ren nicht nur die wissenschaftlichen Als Gött 1933 der Nationalsozia- der nationalsozialistische (NS)-Rassen- Aktivitäten des Klinikdirektors Ull- listischen Deutschen Arbeiterpartei hygieniker Otmar Freiherr von Verschu- rich in den Nachkriegsjahren, sondern (NSDAP) beitrat, war er der erste Ordi- er(1896–1969)inseinemNekrologinder auch diejenigen seines Assistenten und narius der Medizinischen Fakultät Bonn, von ihm herausgegebenen Zeitschrift für späteren Oberarztes Karl-Heinz Degen- der Parteimitglied wurde. Nach seinem menschliche Vererbungslehre und Konsti- hardt (1920–1994). Als Quellenmaterial Tod 1934 erfolgte die Ernennung des tutionsforschung 19571 über den kurz zu- dienen Archivalien aus den Universi- Nachfolgers unter Missachtung der fa- vor verstorbenen Chefarzt der Bonner tätsarchiven Bonn und Frankfurt a. M. kultätseigenen Berufungsliste nach rein Universitätskinderklinik Otto Julius Ull- sowie den Archiven der Geschäftsstelle parteipolitischen Kriterien. So wurde rich (1894–1957).2 Dieser war 1943 auf der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Leitung der Klinik von Hans Knauer den Lehrstuhl für Pädiatrie in Bonn be- (DFG) in Bad Godesberg, der Deutschen (1895–1952) übernommen, der in seiner rufen worden, den er – ohne Unterbre- Akademie der Naturforscher Leopoldina Antrittsvorlesung „Über die Bedeutung chung–biszuseinemfrühenTodim Halle und der Max-Planck-Gesellschaft sowiedieAufgabederKinderheilkunde 64. Lebensjahr innehatte. in Berlin. im neuen Staat“ NS-Ideologie und pä- Stellt man die Frage nach der Gewich- diatrische Tätigkeitsfelder miteinander tung von personeller Kontinuität und Rückblick auf die Entwicklung verquickte.5 Das nun folgende 9-jäh- Neuanfang in der akademischen Pädia- der Kinderklinik von 1924 bis rige Direktorat Knauers wurde durch trie in Bonn nach 1945, fallen – insbe- 1943 fakultäts- und klinikinterne Streitigkei- sondere im Hinblick auf das Direktorat ten dominiert, die 1940 zur vorläufigen, Ullrichs – v. a. Kontinuitäten ins Auge. Im Gründungsjahr 1924 standen dem 1943 zur endgültigen Dienstsuspen- Für das Verständnis dieser Entwicklung ersten Chefarzt der Kinderklinik Bruno dierung Knauers führten.6 Auch unter ist der Blick auf die Jahre vor und nach Salge (1872–1924) 40 pädiatrische Betten den nun eingesetzten kommissarischen 1933 hilfreich, denn auch das Jahr 1933 zuzüglich 20 Betten für Kinder mit Infek- Vertretungen Knauers besserte sich die verursachte an der Bonner Kinderklinik tionskrankheiten im Gebäude eines ehe- Situation an der Kinderklinik nicht. kaum personelle Brüche. Während für maligen Priesterseminars zur Verfügung. die Geschichte der akademischen Päd- Nach Salges unerwartetem Tod wurde iatrie in Bonn im „Dritten Reich“ eine Theodor Gött (1880–1934) berufen, un- detaillierte Untersuchung von Ralf Fors- 5 Knauer H (1935): Über die Bedeutung sowie die Aufgaben der Kinderheilkunde im neuen 3 Forsbach R (2006): Die Medizinische Fakultät Staat, in: Ziel und Weg 4, S. 85–92, siehe 1 Verschuer O (1957/58): Otto Ullrich: der Universität Bonn im „Dritten Reich“, Bonn, auch: Höpfner H-P (1999): Die Universität Bonn 7.1.1894–22.10.1957. In: Zeitschrift für S. 163–195. Siehe auch Höpfner H-P (1992): im Dritten Reich. Akademische Biographien menschliche Vererbungslehre und Konstituti- Bonner Krankenhausgeschichte. 175 Jahre unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn, onsforschung34,S.335–339,hierS.339. Universitätskliniken,Bonn,S.87–95. S.298–301. 2 ZuUllrichvgl.LebenslaufOttoUllrich,PA9934 4 Vgl. Lentze MJ (2000): Kinderklinik und 6 Die farbliche Manipulation von Patienten und (1/2), UA Bonn; WeickerHW (1992): Otto Ullrich Poliklinik – Allgemeine Pädiatrie. In: Schott H Körpersekreten für den Studentenunterricht (1894–1957). In: Bonner Gelehrte. Beiträge (Hg.): Universitätskliniken und Medizinische führte zu einem Dienststrafverfahren gegen zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Fakultät Bonn. Festschrift zum 50jährigen Knauer.Vgl.Personalakte(PA)4181HansKnauer, Medizin,Bonn(=150JahreRheinischeFriedrich- Jubiläum des Neuanfangs auf dem Venusberg, Universitätsarchiv (UA) Bonn; Forsbach R (2006) Wilhelms-UniversitätzuBonn),S.339–349. Bonn,S.243–246,hier:S.244. [wieAnm.3],S.169–172.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 53 Pädiatrie nach 1945

trauen der Bevölkerung in die Klinik zu- 1945 beteiligt war. Bereits im Herbst 1945 rückgewinnen und die Bonner Pädiatrie wurde über die sog. Villa Windthorst in langfristig in ruhigere Fahrwasser füh- der Koblenzer Straße 119 als Standort ren sollte, sondern auch einen Chef, der einer neuen Kinderklinik nachgedacht. nach 1945 politisch haltbar war.8 Doch erst im Februar 1950 wurden die Pläne verwirklicht und der Umbau so Otto Julius Ullrich und die weit abgeschlossen, dass die bis dahin unmittelbare Nachkriegszeit an an den provisorischen Standorten ver- der Bonner Kinderklinik sorgten Patienten wieder zusammenge- führt werden konnten. Das Gebäude in Ullrich (. Abb. 25) ist den Pädiatern v. a. derjetzigenAdenauerallee119(. Abb.26 durch das (auch) nach ihm benannte und 27) beherbergt bis heute die Bonner „Ullrich-Turner-Syndrom“ ein Begriff.9 Kinderklinik. Er begann seine pädiatrische Laufbahn am Dr. von Haunerschen Kinderspital Klinische Schwerpunkte und München unter Meinhard von Pfaund- Forschungsfelder ler (1872–1947),10 der ihn weit über die ersten Assistentenjahre hinaus klinisch Das inhaltliche Spektrum der wissen- und wissenschaftlich prägen sollte. Unter schaftlichen Arbeiten Otto Ullrichs war Abb. 25 8 Otto Julius Ullrich. (© Universitäts- ihm wurde Ullrich im Alter von 31 Jahren breit und umspannte dermatologische, Kinderklinik Rostock, mit freundl. Genehmi- gung) Oberarzt und Stellvertretender Direktor infektiologische, hämatologische, ernäh- der Universitätskinderklinik, an der er rungswissenschaftliche, neurologische, insgesamt 13 Jahre tätig war. Es folgten endokrinologische und die damals so Als der pädiatrische Lehrstuhl 1943 Chefarztpositionen in Berlin (1934), Es- genannten erbpathologischen Fragestel- neu besetzt werde sollte, wurde das Be- sen (1934–1939) und an der Universitäts- lungen der Pädiatrie. rufungsverfahren vonseiten der Fakultät kinderklinik Rostock; hier übernahm er Im Folgenden wird beispielhaft ein mit besonderer Sorgfalt vorbereitet. Das etwa zeitgleich mit Kriegsausbruch den Forschungsfeld hervorgehoben, das erst- Reichserziehungsministerium entschied Lehrstuhl für Pädiatrie (1939–1943). mals in einem Aufsatz aus dem Jahr in diesem Fall für den ersten Wunsch Zum 1. Oktober 1943 erhielt Ullrich 1930 Niederschlag fand: In jenem Jahr der Fakultät und berief Ullrich, obgleich den Ruf nach Bonn, den er annahm, publizierte Ullrich „Über typische Kom- er der einzige gelistete Kandidat war, trotz der zu diesem Zeitpunkt bereits binationsbilder multipler Abartungen“11. der nicht der NSDAP angehörte. Sei- sehrhäufigenLuftangriffe,denendieKin- Vermutlich von Pfaundler angeregt, des- ne Berufung trotz fehlender Parteizu- derklinik auch schon bald zum Opfer sen phänogenetischer Ansatz bereits bei gehörigkeit verdankte Ullrich – abge- fallen sollte. Bereits im Vorjahr war sie der erstmaligen Beschreibung der später sehen von seiner unbestrittenen klini- von einigen Bomben getroffen worden, nach ihm und seiner Schülerin benann- schen und akademischen Qualifikation doch konnte der Brand rechtzeitig ge- ten Mukopolysaccharidose (Pfaundler- – allerdings nicht nur dem Versagen sei- löscht werden. Die verheerenden Angrif- Hurler-Syndrom) zum Tragen gekom- ner parteitreuen Vorgänger im Amt, son- fe imOktoberundDezember1944mach- men war, streifte er damit ein wissen- dern auch einem bereits 1936 einset- ten schließlich die Verlegung sämtlicher schaftliches Thema, das ihn bis zu seinem zenden hochschulpolitischen Kurswech- Patienten an 2 provisorische Unterkünfte Lebensende beschäftigen sollte und ihn sel: Zunehmend waren die NS-Wissen- in Bornheim und Bonn-Oberkassel not- nach dem Krieg mit den dann „human- schaftsfunktionäre zu der Erkenntnis ge- wendig. genetisch“ genannten Forschungsfeldern langt, dass eine primär politisch gelei- Mit dem Kriegsende begannen die in Berührung kommen ließen. tete Personalpolitik unter weitgehender Planungen für eine neue Kinderklinik, Unter dem Begriff des „Kombinati- Missachtung akademischer Qualifikatio- an denen Ullrich nicht nur als Direktor, onsmusters multipler Abartungen“ be- nen dem Wissenschaftssystem langfristig sondern auch als Mitglied des Stadtrats schrieb Ullrich Fehlbildungssyndrome schade.7 Auf diese Weise erhielt die Bon- mit Flügelfellbildungen am Hals (Ptery- ner Universitätskinderklinik mit Ullrich 8 Die Mitgliedschaft Ullrichs in einigen NS- gium colli), deren molekulargenetische nicht nur einen Pädiater, der das Ver- Verbänden spricht dennoch für einen gewissen Grundlagen zu diesem Zeitpunkt noch GradderSystemanpassung. nicht nachgewiesen werden konnten. 9 Vgl. Kollmann F (1992): Die Entdeckungsge- Um die Pathogenese dieser Fehlbildung 7 Grüttner M (2010): Nationalsozialistische Wis- schichte des Ullrich-Turner-Syndroms, hg. von dennoch zu erklären, übertrug Ullrich senschaftler: ein Kollektivporträt. In: Grüttner Eckert I und Hövels O, Hildesheim (= Frankfurter M, Hachtmann R et al. (Hg.): Gebrochene Wis- Beiträge zur Geschichte, Theorie und Ethik der senschaftskulturen. Universität und Politik im Medizin,Bd.13),S.36–39. 11 Ullrich O (1930): Über typische Kombinati- 20. Jahrhundert, Göttingen, S. 149–165, hier: 10 Vgl. Schleef G (1976): Die Biographie des onsbilder multipler Abartungen. In: Zeitschrift S.163. MeinhardvonPfaundler,Diss.med.München. fürKinderheilkunde,49,S.271–276.

54 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Abb. 26 8 Universitätskinderklinik Bonn in der Koblenzer Straße (heute Adenauerallee), 1952. (Landesarchiv NRW Abt. Rheinland, RWB 25672/4, Fotografie:KätheAugenstein,©StadtarchivundStadthistorischeBibliothek Bonn, mit freundl. Genehmigung) die tierexperimentellen Ergebnisse der norwegischen Biologin Kristine Bon- nevie (1872–1948) auf die Embryonal- entwicklung beim Menschen. Bonnevie, deren Studien internationales Aufse- hen erregt hatten, hatte im Mausmodell entwicklungsphysiologische Vorgänge mit Genwirkungen korreliert.12 Das Abb. 27 8 Universitätskinderklinik Bonn in der Koblenzer Straße (heute 1938 auch durch den amerikanischen Adenauerallee), 1952. (Landesarchiv NRW Abt. Rheinland, RWB 25672/9, Endokrinologen Henry Hubert Tur- Fotografie:KätheAugenstein,©StadtarchivundStadthistorischeBibliothek Bonn, mit freundl. Genehmigung) ner (1892–1970) beschriebene typische äußere Erscheinungsbild pädiatrischer Patienten mit Ullrich-Turner-Syndrom blemstellungen in der Erbpathologie des überstanden waren – humangenetische ging infolgedessen zunächst als „sym- Menschen“.In dieser Vorlesung umriss er ForschungenanseinerKinderklinikför- metrischer Status Bonnevie-Ullrich“ in nicht nur sein eigenes Forschungsgebiet, derte. die Literatur ein.13 Die molekulargene- namentlich den sog. Status Bonnevie- tische Aufklärung des Ullrich-Turner- Ullrich, sondern eröffnete ein weites Beginn der humangenetischen Syndroms 1959,14 die die pathogene- wissenschaftliches Feld der sog. Konsti- Forschung an der Kinderklinik tische Hypothese Ullrichs endgültig tutionsforschung,fürdessenErhellunger Bonn widerlegte, sollte er nicht mehr erleben. der Pädiatrie eine besondere Bedeutung Am 26. November 1943 hielt Ullrich beimaß: „Jedem Menschen wird nur das In seinem Leopoldina-Wahlvorschlag für in der alten Aula der Bonner Universität in die Wiege gelegt, was aus ihm werden Ullrich vom 21. Januar 1952 resümierte seine Antrittsvorlesung über „Gene- kann. Was aus einem Neugeborenen HansKleinschmidt(1885–1977)überdie tisch-entwicklungsphysiologische Pro- geworden ist, wenn er als Erwachsener wissenschaftliche Bedeutung des vorge- dasSteuerdesLebensschiffesselbstin schlagenenKandidaten:„Insgesamtkann die Hand nehmen muss, hängt in hohem gesagt werden, dass Herr Professor Ull- 12 Vgl.SchwerinA(2004):Experimentalisierung des Menschen. Der Genetiker Hans Nachts- Ausmaße von der Prägung der Gesamt- richdieHumangenetikinderKinderheil- heim und die vergleichende Erbpathologie konstitution ab, die sich im Wesentlichen kunde in bester Form vertritt und speziell 1920–1945,Göttingen,S.232. während der Kindheit vollzieht. So ist auf diesem Gebiete Naturforschung und 13 Vgl. Barlow JB, Levin SE (1955): The Symme- zu verstehen, daß wertvolle Beiträge auf Medizin durch sachkundige Arbeiten in trical Form of Status Bonnevie-Ullrich (Turner’s dem Gebiete der Konstitutionsforschung anerkennenswerter Weise in Verbindung Syndrome). In: British Medical Journal, April 9, von paediatrischer Seite geleistet werden gebracht hat.“16 S.890–892. konnten und geleistet worden sind.“15 14 FordCE,JonesKW,PolaniPW,deAlmeidaJC, Briggs JH (1959): A sex-chromosome anomaly Vor diesem Hintergrund erscheint es 15 Ullrich O (1943): Über genetisch-entwick- in a case of gonodal dysgenesis (Turner’s folgerichtig, dass Ullrich – nachdem die lungsphysiologische Problemstellungen in der syndrome),in:TheLancet,April4,S.711–713. entbehrungsreichen ersten Jahre in Bonn ErbpathologiedesMenschen,Bonn,S.4.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 55 Pädiatrie nach 1945

den führenden Erbpathologen vor und wie Pohlisch seit Frühjahr 1940 als T4- nach 1945 passt auch, dass Ullrich an Gutachter tätig war. Panse wurde der der Rehabilitierung des Bonner Psych- Doktorvater Degenhardts, der mit einer iater und Neurologen Kurt Pohlisch Schrift Über die ontogenetischen Grund- (1893–1955)20 mitwirkte: Pohlisch war lagen der Extremitätenmissbildungen am vom 30. Juli 1940 bis zum 6. Januar 5. April 1947 in Bonn promoviert wurde. 1941 als Gutachter im Rahmen der sog. Am 1. Juli 1947 begann der 26-jährige „Euthanasie“-Aktion „T4“ tätig gewesen, Degenhardt als Assistent seine pädia- die zu Massentötungen psychiatrischer trische Ausbildung unter Ullrich in der Patienten führte.“21 Kinderklinik, an der er in den kom- Doch sollte sich Ullrichs Interesse an menden 10 Jahren Patientenversorgung derHumangenetikauchaufdie Personal- und Forschung miteinander verband. Im aufstellung und die hieraus resultieren- Jahr 1950 ermöglichte ihm Ullrich einen de Forschung der Bonner Kinderklinik einjährigen Forschungsaufenthalt am auswirken.Diesbelegeninsbesonderedie erbbiologischen und erbpathologischen wissenschaftlichenTätigkeitenseinesAs- Institut der Deutschen Forschungshoch- sistenten und späteren Oberarztes Karl- schule (seit 1953: Max-Planck-Institut) Heinz Degenhardt (. Abb. 28).22 Dieser bei Nachtsheim24 in Berlin-Dahlem, für hatte bereits während seines Medizin- das er ein Forschungsstipendium der studiums in Bonn die Vorlesungen des DFG25 erhielt. Der Zoologe und Hu- Abb. 28 8 Karl Heinz Degenhardt. (© Universi- Psychiaters, Neurologen und Rassenhy- mangenetiker Nachtsheim hatte sich in tätsarchiv Frankfurt a. M. mit freundl. Genehmi- gienikers Friedrich Panse (1899–1973)23 den 1930er-Jahren auf sog. erbpatholo- gung) gehört, der seit 1936 die Rheinische Pro- gische Fragestellungen spezialisiert, für vinzialanstalt für psychiatrisch-neurolo- die er umfangreiche Tierexperimente an Das wissenschaftliche Interesse Ull- gische Erbforschung in Bonn leitete und Kaninchen durchführte, zu denen auch richs zeigte sich nicht nur in seinen Sauerstoffmangelversuche zählten. Seine Publikationen, sondern fand auch Nie- 18 ZuVerschuersbeispielloser„Rehabilitierung“ Zucht umfasste zeitweise 15.000 Ka- derschlag in seinem Engagement als nach den von ihm verantworteten NS-Verbre- ninchen. Von 1941 bis 1945 stand er Vorstandsmitglied der 1949 neu gegrün- chen vgl. z. B. Weiss SF (2010): After the Fall. der Abteilung für experimentelle Erb- deten „Gesellschaft für Konstitutionsfor- Political Whitewashing, Professional Posturing, pathologie am Kaiser-Wilhelm-Institut schung“.17 Zudem gehörte Ullrich dem andPersonalRefashioninginthePostwarCareer für Anthropologie, menschliche Erb- of Otmar Freiherr von Verschuer. In: Isis 101, Beirat der von Verschuer herausgege- S. 722–758; Sachse C (2002): „Persilscheinkul- lehre und Eugenik (KWI-A) in Berlin- Zeitschrift für menschliche Verer- benen tur“. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit Dahlem vor. Nachtsheim, der nicht Mit- bungs- und Konstitutionsforschung an. in derKaiser-Wilhelm/Max-Planck-Gesellschaft. glied der NSDAP geworden war, galt Darüber hinaus bildete er mit Fritz In: Weisbrod B (Hg.): Akademische Vergangen- als politisch weitgehend unbelastet und Lenz (1887–1976), Hans Nachtsheim heitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur konnte daher seine Hochschulkarriere derNachkriegszeit,Göttingen,S.217–246. (1890–1979) und von Verschuer das nach Kriegsende ohne Unterbrechung 19 WeickerH(1992)[wieAnm.2],S.347–8. deutsche Vorbereitungskomitee für den fortführen. Seine Abteilung für experi- 20 1. Internationalen Kongress für Hu- Vgl. Schmuhl H-W (2016): Die Gesellschaft mentelle Erbpathologie war die einzige Deutscher Neurologen und Psychiater im mangenetik 1956 in Kopenhagen, an Nationalsozialismus, Berlin, Heidelberg, S. 303; „humangenetische“ Forschungsstätte, 26 demerallerdingsnichtmehrpersönlich Forsbach R (2006) [wie Anm. 3], S. 195. Zu Kurt die nach 1945 weiterexistierte. Die teilnehmen konnte. Dass es außer die- Pohlisch (1893–1955) vgl. Forsbach (2006) [wie sen fachpolitischen Beziehungen auch Anm.3],S.200–213,629–640;KleeE(2012):Was 24 Zu Hans Nachtsheim (1890–1979) vgl. freundschaftliche Bande zu dem stark sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und SchwerinA(2004)[wieAnm.4]. andereBeteiligteamKranken-oderJudenmord, 18 25 Vgl. Karteikarte Karl-Heinz Degenhardt, NS-belasteten von Verschuer gab, be- Frankfurt/M.,S.165–166. Blatt 1, DFG-Archiv Bad Godesberg; siehe schrieb Heinz Weicker (1918–1991) 21 Vgl. bspw.: Rotzoll M, Hohendorf G, Fuchs auch Cottebrune A (2008): Der planbare eindrücklich in seinem Rückblick auf P, Richter P, Mundt C, Eckart WU (2010): Mensch.DieDeutscheForschungsgemeinschaft 19 Ullrichs Wirken in Bonn. Zu dieser Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion und die menschliche Vererbungswissenschaft, persönlichen und fachlichen Nähe zu „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische 1920–1970,Stuttgart,S.283–291. KonsequenzenfürdieGegenwart,Paderborn. 26 Vgl. Cottebrune A (2012): Die westdeutsche 22 Vgl. Hammerstein N (2012): Die Johann HumangenetikaufdemWegzuihreruniversitär- 16 Hans Kleinschmidt am 21.1.1952, Archiv Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am en Institutionalisierung nach 1945 – zwischen der Deutschen Akademie der Naturforscher Main, Bd. 2, Nachkriegszeit und Bundesrepublik NeuausrichtungundKontinuität.In:Cottebrune LeopoldinaHalle,MM4757. 1945–1972,Göttingen,S.442–444. A, Eckart WU (Hg.): Das Heidelberger Institut 17 Vgl. Koch G (1985): Die Gesellschaft für 23 ZuFriedrichPanse(1899–1973)vgl.Forsbach, für Humangenetik: Vorgeschichte und Aus- Konstitutionsforschung. Anfang und Ende 2006 [wie Anm. 3], S. 213–216, 640–645; Klee bau (1962–2012). Festschrift zum 50jährigen 1942–1965,Erlangen,S.60–66. (2012)[wieAnm.19],S.168. Jubiläum,Heidelberg,S.28–55,hier:S.31.

56 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Beschreibungen der Unterdruckversu- Begriff der „multiplen Abartungen“ im Die Betrachtung des humangeneti- che, die Nachtsheim an epilepsiekranken Projekttitel der DFG-Forschungsprojek- schen Schwerpunkts an der Universitäts- KindernderLandesanstaltBrandenburg- te auftauchte, lautete der Studientitel seit kinderklinik Bonn in den 1950er-Jahren Görden durchführte, haben allerdings 1953 „Untersuchungen auf dem Gebiet wäre nicht vollständig ohne die Nennung dazu beigetragen, dass das Bild des chemisch-physikalisch ausgelöster Te- Weickers: Er hatte seine pädiatrische vermeintlich NS-unbelasteten Wissen- ratogenesen“; seit 1957 erfolgten unter Ausbildung an der Universitätskinder- schaftlers im Rückblick infrage gestellt Degenhardts Projektleitung im Spezi- klinik Heidelberg absolviert und sich 27 wurde. ellen Untersuchungen zur „O2-Mangel- dort insbesondere mit Fragen der pädia- Unter Nachtsheim begann Degen- Teratogenese“. 30 trischen Hämatologie beschäftigt. Nach hardt 1950 seine tierexperimentellen Im Sommersemester 1957 habilitierte seinem Wechsel nach Bonn wandte er Untersuchungen zur Entstehung ange- sich Degenhardt für das Fach medizini- sich humangenetischen Fragestellungen borener Fehlbildungen. Hierzu versuchte sche Genetik, obgleich dieses Fach nicht zu; hierzu zählten Studien zur Verer- er zunächst, durch den Einsatz von Mito- als eigener Lehrstuhl an der Universi- bung der Osteopetrose und der Fanconi- segiften wie Colchicin angeborene Fehl- tät Bonn existierte.31 Unmittelbar nach Anämie. Darüber hinaus war Weicker bildungen bei Kaninchen experimentell seiner Habilitation wechselte er an das mit Widukind Lenz (1919–1995) an zu erzeugen und zu reproduzieren. Institut für Humangenetik Verschuers, der Aufklärung der Thalidomidembry- Nachdem die Versuche mit Mitosegiften der bereits in das Habilitationsverfahren opathie beteiligt.34 Weicker übernahm wenig signifikante Ergebnisse erzielten, in Bonn involviert gewesen war, wenn nach Ullrichs Tod kommissarisch den führte Degenhardt Sauerstoffmangelver- er auch nicht – wie von Ullrich ange- Lehrstuhl für Pädiatrie bis zu dessen suche durch. Hierbei wurden trächtige regt – als Korreferent fungiert hatte.32 Neubesetzung durch Heinz Hungerland Kaninchen im Reihenversuch in der Am Münsteraner Institut, der zu diesem (1905–1987) im Jahr 1958. zweiten Woche der Gravidität in einer Zeitpunkt größten humangenetischen Die wissenschaftliche Bedeutung der Unterdruckkammer einem mehrstündi- Forschungsstätte der Bundesrepublik, humangenetisch ausgerichteten Kinder- gen Sauerstoffmangel ausgesetzt. Die in führte Degenhardt mit DFG-Mitteln heilkunde in Bonn zeigte sich 1960, als der Folge bei den Jungtieren zu beob- die in Bonn begonnene Forschung zur der Wissenschaftsrat empfahl, an allen achtenden Fehlbildungen betrafen v. a. experimentellen Teratogenese fort. Da- medizinischen Fakultäten der Bundes- die Wirbelsäule.28 Die in Berlin-Dahlem rüber hinaus beteiligte er sich am DFG- republik Institute für Humangenetik begonnenen umfangreichen Versuche Schwerpunktprogramm „Entwicklungs- einzurichten.35 Zu den insgesamt 3 Päd- zur Teratogenese im Tierversuch führte physiologie“. Seine dortige Tätigkeit iatern, die auf neu geschaffene human- Degenhardt seit 1951, unterstützt durch unterbrach er 1959 für einen weite- genetische Lehrstühle36 berufen wurden, Sachbeihilfe der DFG, an der Bonner ren einjährigen Forschungsaufenthalt, zählten neben dem Hamburger Widu- Kinderklinik fort.29 Hier ließ Ullrich diesmal am Roscoe B. Jackson Memorial kind Lenz37 Karl-Heinz Degenhardt, der eigens für ihn ein „Tierversuchslabora- Laboratory in Bar Harbor (Maine), USA. 1961 den Ruf auf den Lehrstuhl für Ge- torium“ einrichten, an dem Degenhardt Degenhardts Forschungstätigkeiten netik der Universität Frankfurt erhielt, von 1951 bis 1957 forschte. Nachdem für in diesen Jahren erschließen sich nicht sowie Heinz Weicker, der 1964 Grün- die ersten Studien (1950/1951) noch der nur aus den überlieferten DFG-Gutach- dungsdirektor des Humangenetischen von Ullrich und von Pfaundler geprägte ten, sondern auch aus seiner Korres- Instituts der Rheinischen Friedrich- pondenz mit Nachtsheim, die ihre enge Wilhelms-Universität in Bonn wurde. 27 Vgl. Weindling PJ (2003): Genetik und Forschungskooperation zwischen 1953 MenschenversucheinDeutschland,1940–1950. und 1961 belegt.33 Hans Nachtsheim, die Kaninchen von Dahlem 34 Vgl.MF-PA406HeinzWeicker,UABonn. und die Kinder vom Bullenhuser Damm. 30 In: Schmuhl H-W (Hg.): Rassenforschung an Vgl. Karteikarte Karl-Heinz Degenhardt, Blatt 35 Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, 1–2,DFG-ArchivBadGodesberg. Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen, Göttingen, S. 245–274; Schwerin A (2004) [wie 31 Vgl. das Schreiben Verschuers anlässlich Tübingen1960. Anm.4],S.281–328. der Habilitation Degenhardts vom 13.11.1956: 36 Zwischen 1961 und 1980 wurden insgesamt 28 Vgl. Ullrich O, Gutachten zur Habilitations- „Herr Degenhardt möchte sich für das Fach der 21 Lehrstühle für Humangenetik an Hochschu- schrift des Herrn Dr. Karl-Heinz Degenhardt, ,Medizinischen Genetik‘ habilitieren. Solange len der BRD neugeschaffen. Vgl. Cottebrune A 31.12.1956 (MF-PA 40: Karl-Heinz Degenhardt, diese Fach in Bonn nicht, wie hier in Münster, (2012)[wieAnm.24],S.49–50. durch einen eigenen Lehrstuhl vertreten ist, UA Bonn). Siehe auch: Degenhardt K-H (1954): 37 Widukind Lenz (1919–1995), der Sohn des möchte ich Herrn Ullrich als Vertreter meiner Durch O2-Mangel bedingte Fehlbildungen NS-Rassenhygienikers Fritz Lenz, arbeitete Wissenschaft ansehen – ...“,MF-PA40: Karl- der Axialgradienten bei Kaninchen, in: Zeit- seit 1952 als Oberarzt an der Eppendorfer HeinzDegenhardt,UABonn. schrift für Naturforschung 9b, S. 530–536; Kinderklinik Hamburg, bis er 1961 einen Ruf auf 32 ders., (1956): Mißbildungskorrelationen durch Vgl.OttoUllrichanRobertJanker,26.11.1956, denLehrstuhlfürHumangenetikderUniversität Sauerstoffmangel im Tierexperiment. In: Die MF-PA40:Karl-HeinzDegenhardt,UABonn. Hamburg erhielt. 1965 wurde er Verschuers Naturwissenschaften43,S.525–526. 33 ArchivzurGeschichtederMax-Planck-Gesell- Nachfolger am Institut für Humangenetik in 29 Vgl. hschr. Lebenslauf Karl-Heinz Degen- schaft, Berlin, Nachlass Hans Nachtsheim, Abt. Münster.Vgl.KleeE(2012):DasPersonenlexikon hardt, 12.12.1956, MF-PA 40: Karl-Heinz Degen- III,Rep.20A.Eine weiterführende Untersuchung zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach hardt,UABonn. dieserKorrespondenzistinArbeit. 1945,Koblenz,S.367.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 57 Pädiatrie nach 1945

Resümee NS-überschatteter klassischer Eugenik und einer bis heute molekulargenetisch Die wissenschaftliche, personelle und dominierten Humangenetik.38 Ein erster räumliche Entwicklung der Bonner Kin- Brückenschlag wurde hiermit versucht. derklinik in der Nachkriegszeit wurde durch ihren Direktor Otto Ullrich maß- Korrespondenzadresse geblich geprägt. Sein wissenschaftliches Dr.A.Oommen-Halbach Interesse an humangenetischen Fra- gestellungen, das er bereits während Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf seiner pädiatrischen Ausbildung am Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, Dr. von Haunerschen Kinderspital in Deutschland München entwickelte, führte nach 1945 [email protected] zum Ausbau eines neuen wissenschaft- lichen Schwerpunkts an der Bonner Anne Oommen-Halbach, geb. 1972 in Schwerte, Kinderklinik. Ullrichs Schüler Degen- Medizinstudium in Münster und Witten/Herdecke, Facharztausbildung für Kinder- und Jugendmedizin in hardt implementierte tierexperimentelle Bonn und Hamburg. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche humangenetische Forschungen in Bonn, Mitarbeiterin am Medizinhistorischen Institut der deren Methodik er bei Nachtsheim er- Universität Bonn, seit 2016 am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine- lernt hatte, mit dem ihn seitdem eine Universität Düsseldorf. enge Forschungskooperation verband. Für Degenhardts Reihenversuche am Danksagung. Ich danke Frau Jutta Buchin, die mir die Einsichtnahme in die umfangreiche Kaninchen zur Erforschung der Missbil- Korrespondenz zwischen Nachtsheim und dungsentwicklungen in der Gravidität, Degenhardt im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft die von der DFG seit 1951 gefördert durch Kopien ermöglicht hat. Für die Bereitstellung von Bildern danke ich Herrn PD Dr. Michael Maaser wurden, ließ Ullrich ein Tierversuchs- vom Universitätsarchiv Frankfurt, Herrn Tim Glander labor in der Kinderklinik einrichten. vom Stadtarchiv Bonn und Herrn Dr. Michael Meusch Dies geschah zu einem Zeitpunkt, in vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Für die Hilfe bei der Recherche danke ich Herrn Dr. Walter dem die universitäre Disziplin „Hu- Pietrusziak (Archiv der DFG-Geschäftsstelle Bad mangenetik“ in Deutschland kaum in Godesberg) und den Mitarbeitern des Bonner Erscheinung trat, da die Institute, die Universitätsarchivs. sich vor 1945 der NS-Rassenhygiene verschrieben hatten, nach dem Krieg ih- re Daseinsberechtigung verloren hatten. An anthropologischen Instituten wur- den nach dem Krieg mit eingeschränkten Mitteln dennoch humangenetische For- schungen durchgeführt. Daneben gab es auch andere klinische Einrichtungen, an denen die Schülergeneration oftmals NS-belasteterWissenschaftlergenetische Forschungen betrieb und damit den Auf- schwung der universitären Disziplin in den 1960er-Jahren in der BRD vorbe- reitete. Dies zeigt beispielhaft der wis- senschaftliche Werdegang des Pädiaters und Humangenetikers Degenhardt. Eine weiterführende Untersuchung seiner Forschungsansätze, die sich thematisch auf der Schwelle von der Pädiatrie zur Humangenetik bewegen, erscheint damit nicht nur für die Nachkriegsgeschichte der akademischen Pädiatrie in Bonn von 38 Kröner H-P (1997): Von der Eugenik zum Interesse. Sie verspricht zugleich Ein- genetischen Screening: Zur Geschichte der Humangenetik in Deutschland. In: Petermann F, blicke in die Disziplinengeschichte der WiedebuschS,QuanteM(Hg.):Perspektivender Humangenetik der frühen Bundesrepu- Humangenetik, Paderborn [u. a.], S. 23–47, hier: blik in einer „Übergangsphase“ zwischen S.23–24.

58 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Susanne Doetz Für „individuelle Gesundheit und Familienglück“ Humangenetische Beratung in der DDR

Die Verfassung der DDR (vom 6. April klassifizierte Kinder und Jugendliche Arbeitsnormen zu erreichen vermö- 1968) postulierte „das Recht und die vor- speziellen Rehabilitationsmaßnahmen gen und dadurch ihren Lebensunterhalt nehmste Pflicht der Eltern, ihre Kinder zugeführt wurden, um ihre Integration mindestens zum Teil selbst verdienen zu gesunden und lebensfrohen, tüchti- in den Arbeitsprozess zu gewährleisten, können.“4 Ihre Nichtförderung führe – genundallseitiggebildetenMenschen,zu wurden als „bildungsunfähig“ Klassi- so Brückner – zur Verkümmerung ihrer staatsbewußten Bürgern zu erziehen.“1 fizierte in gesonderten Pflegeheimen Entwicklungspotenziale, und statt zu Im Folgenden möchte ich nicht die Er- oder psychiatrischen Einrichtungen un- relativ selbstständigen Menschen, „die ziehung zu „staatsbewussten Bürgern“ – tergebracht. Letztere waren aus dem im Rahmen ihrer Möglichkeiten unter zumal unter den Bedingungen einer Dik- Schulsystem ausgeschlossen und erhiel- bestimmten Bedingungen am gesell- tatur – problematisieren. Vielmehr soll ten keine spezielle Förderung.2 Diese schaftlichen Leben teilhaben können, die Frage nach den Folgen aufgewor- Praxis geriet Mitte der 1960er-Jahre ver- werden diese jungen Bürger zeit ihres fen werden, wenn Kinder nicht zu im stärkt in die Kritik, ausgelöst nicht zuletzt Lebens zu Pflegefällen, die eine große landläufigen Sinn „gesunden“ Menschen durch Beschwerden und Eingaben be- Belastung für die betroffenen Famili- erzogen werden konnten, weil sie eine troffener Eltern. Nun differenzierte sich en und den Staat darstellen.“5 Diese chronische Krankheit oder eine geisti- aus der Gruppe der „bildungsunfähigen“ utilitaristische, in erster Linie auf die ge oder körperliche Behinderung hatten, Kinder und Jugendlichen die Gruppe der Mobilisierung der Arbeitskraft setzende oder wenn im Fall noch nicht geborener „schulbildungsunfähigen förderungsfä- Legitimierung erfuhr im Zuge der von Kinder das Risiko dafür relativ hoch war. higen“ Kinder und Jugendlichen heraus,3 Erich Honecker proklamierten „Ein- „Geschädigte“ – so der damalige Ter- die laut Christoph Brückner (*1929), heit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ minus – Kinder und Jugendliche wurden Vorsitzender des Ausschusses für Ge- eine Transformation. Die Förderung in der DDR eingeteilt in „bildungsfähig“ sundheitswesen der Volkskammer der „Geschädigter“ wurde nun als Zeichen und „bildungsunfähig“ – eine Differen- DDR, „nach zielgerichteter Förderung eines sozialistischen Humanismus in- zierung, die auf die „Allgemeine Anord- bei bestimmten ausgewählten Arbeiten terpretiert und gefordert.6 Im Jahr 1981 nungüberdieHilfsschuleninPreußen“ und entsprechender Arbeitsorganisa- – dem UNO-Jahr der Behinderten – vom April 1938 zurückging. Während in tion zwischen 30 und 90 Prozent der schrieben der Biologe und Medizinethi- den 1950er-Jahren als „bildungsfähig“ ker Uwe Körner (*1939), der Philosoph 2 BoldorfM(2004):RehabilitationundHilfenfür Rolf Löther (*1933) und der Medizin- 1 Verfassung der Deutschen Demokratischen Behinderte. In: Bundesministerium für Gesund- historiker Achim Thom (1935–2010): Republik vom 6. April 1968, Abschnitt II, Kap. 1, heit und Soziale Sicherung und Bundesarchiv „Der Geschädigte ist für die sozialisti- Artikel38,http://www.documentarchiv.de/ddr/ (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutsch- land seit 1945, Bd. 8: Deutsche Demokratische verfddr1968.html#IIk1,26.9.2015. 4 Republik 1949–1961. Im Zeichen des Aufbaus BrücknerC(1968):Einegesamt-gesellschaftli- des Sozialismus. Bandherausgeber im Auftrag cheAufgabe.ZurProblematik„hirngeschädigtes Der Beitrag ist im Rahmen des von der Deut- Kind“.In:humanitas8,Heft20,S.6. schen Forschungsgemeinschaft geförderten des Instituts für Zeitgeschichte München-Ber- 5 Projektes „Die Etablierung humangenetischer lin: Hoffmann D, Schwartz M, Baden-Baden, Ebd. Beratungsstellenin der DDR im Spannungsfeld S.453–474,hierS.464–466. 6 Eßbach S (1979): Rehabilitationspädagogi- zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlich- 3 Wasem J, Mill D, Wilhelm J (2006): Gesund- sche Förderung schulbildungsunfähiger Kinder keit“ entstanden. Ich möchte mich an dieser heitswesen und Sicherung bei Krankheit und – Ausdruck des sozialistischen Humanismus. In: Stelle bei der DFG für die bereitgestellten im Pflegefall sowie Boldorf M: Rehabilitation humanitas 19, Heft 18, S. 15. Vgl. auch Boldorf Fördermittel bedanken. Außerdem möchte ich und Hilfen für Behinderte. In: Bundesminis- M (2008): Rehabilitation und Hilfen für Behin- meinem studentischen Mitarbeiter Nils Weigt terium für Gesundheit und Soziale Sicherung derte. In:. Bundesministerium für Gesundheit meinen Dank für seine Unterstützung bei der und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der So- und Soziale Sicherung und Bundesarchiv (Hg.), Zeitschriftenrechercheaussprechen. zialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit Deutsche Demokratische Republik 1961–1971. 1945, Bd. 10: Deutsche Demokratische Republik Der Titel ist ein Zitat aus: Wittwer B (1973): Politische Stabilisierung und wirtschaftliche 1971–1989. Bewegung in der Sozialpolitik, Medizingenetische Beratung – Zielstellung und Mobilisierung. Bandherausgeber: Kleßmann C, Erstarrung und Niedergang. Bandherausgeber: Probleme. In: Das Deutsche Gesundheitswesen Baden-Baden,S.377–428,hierS.410–425sowie Boyer C, Henke K-D u. Skyba P, Baden-Baden, 28,S.436–444,hierS.444. S.449–469,hierS.466–467. S.433–450.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 59 Pädiatrie nach 1945

sche Gesellschaft kein passives Objekt 1990 zur Gründung eines DDR eigenen Engagement einer relativ kleinen Gruppe von Mitleid und Wohltätigkeit, son- Behindertenverbands.11 von Wissenschaftlern die Humangene- dern ein Mensch, dessen Würde zu tik unter komplizierten Bedingungen respektieren und dessen Persönlichkeit Etablierung in der DDR einen Entwicklungsstand zu entwickeln ist.“7 Die Kategorie der erreicht habe, der im internationalen „bildungs- und förderungsunfähigen“ Parallel zu der Entwicklung, zumindest Vergleich auf dem Gebiet der human- Kinder blieb jedoch weiterhin bestehen einen Teil der Kinder und Jugendli- genetischen Beratung vorbildlich sei. sowie damit einhergehend die Exklu- chen mit einer Behinderung verstärkt Hinsichtlich der Zytogenetik und der sion schwerstbehinderter Kinder und in die Gesellschaft zu integrieren und biochemischen Genetik entspräche die Jugendlicher aus dem Schulsystem und Vorurteile gegen sie abzubauen, gab Entwicklung im Wesentlichen der in den dem gesellschaftlichen Leben. Darüber es Versuche, die Geburt von Kindern, fortgeschrittenen Ländern.15 Allerdings hinaus konterkarierte der Mangel an derenBehinderungeinegenetischeUrsa- bestanden große Unterschiede zwischen materiellen und personellen Ressourcen che hatte, zu verhindern. Möglich wurde den einzelnen Bezirken. Während in häufig die eigentlich intendierte Ver- dies durch die rasante Entwicklung der Berlin, Rostock und Gera ein relativ ho- besserung der Lebenswelt behinderter Molekulargenetik in den 1950er-Jahren. her Betreuungsgrad erreicht war, lagen Menschen.8 Ein weiteres Manko bestand Neue Untersuchungsmethoden gestat- die Bezirke Karl-Marx-Stadt, Suhl und in der weitgehend fehlenden Interessen- teten sehr viel präzisere Vorhersagen Schwerin deutlich unter dem Durch- vertretung der betroffenen Personen. Da über eine denkbare genetisch bedingte schnitt. Im Jahr 1985 wurden für den der sozialistische Staat davon ausging, Beeinträchtigung, als dies noch in der Bezirk Leipzig 776 Fälle registriert, für dass die Interessen der sozialistischen ersten Hälfte des Jahrhunderts möglich den Bezirk Schwerin 50, und im Bezirk Gesellschaft mit den Interessen der gewesen war. Erste Chromosomenlabo- Suhl fand krankheitsbedingt überhaupt einzelnen Mitglieder der Gesellschaft re wurden in der DDR in den 1960er- keine humangenetische Beratung statt.16 übereinstimmten,9 erschienen Selbsthil- Jahren eingerichtet, z. B. an der Haut- Das Beratungsangebot richtete sich fegruppen oder Betroffenenvertretungen klinik der Charité in Berlin oder an der v.a. an Familien, die bereits ein behinder- nicht notwendig. Der Politiker Jürgen Kinderklinik in Rostock.12 Im Zuge des tes Kind hatten, aber auch an alle, die sich Demloff (1929–?), der selbst Rollstuhl- vom Ministerium für Gesundheitswesen Gedanken über eine mögliche genetische fahrerwar,äußertesichnachdemFall 1971 in Auftrag gegebenen Forschungs- Belastung in ihrer Familie machten oder der Berliner Mauer hierzu in einem In- projektes „Humangenetik“ wurde in den um eine solche wussten und nun heira- terview: „Häufig sind Versuche, Selbst- folgenden Jahren ein flächendeckendes ten wollten.17 Die primäre Aufgabe ei- hilfegruppen zu bilden, gescheitert, weil Netz humangenetischer Beratungsstel- ner Beratungsstelle lag in der Ermittlung die Behörden die dazu notwendige Un- len geschaffen. Im Jahr 1985 existierten des genetischen Befunds und „dessen In- terstützung versagten. Auch das für uns 20 solcher Beratungsstellen; jeder Bezirk terpretation gegenüber dem Bürger oder zuständige Ministerium, das Ministeri- besaß mindestens eine. Diese waren ent- den ihn vertretenden Familienangehöri- um für Gesundheitswesen, ist bis jetzt weder an einer Universitätsklinik oder an gen bzw. Arzt.“18 Ziel der humangeneti- der Meinung gewesen, man würde sich einem Bezirkskrankenhaus angesiedelt schen Beratung war es – so die Biologin genügend um die Probleme und Belange und mit humangenetischen Speziallabo- der Geschädigten kümmern.“10 Vor die- ratorien vernetzt.13 DerJenaerAnthro- 14 Bericht über die Tagung „Probleme und semHintergrundkameserstimJanuar pologe und Humangenetiker Herbert MöglichkeitenderhumangenetischenBeratung Bach (1926–1996) beklagte noch 1974 genetisch belasteter Personen“ vom 13. bis 17. Mai 1974 in Mühlhausen/Thüringen, BArch 7 Körner U, Löther R, Thom A (1981): Sozialis- den Rückstand der DDR auf diesem Ge- DQ101/341/3,o.p. tischer Humanismus und geschädigtes Leben. biet gegenüber anderen sozialistischen 15 Bach: 1. Entwurf. Konzeption für Weiterent- 14 In: Autorenkollektiv u. Ltg. v. Presber W, Lö- Staaten. Etwa 10 Jahre später konsta- wicklung der Humangenetik. Vorlage für das ther R (Hg.), Sozialistischer Humanismus und tierte er, dass durch das außerordentliche Ministerium für Gesundheitswesen, BArch DQ Betreuung Geschädigter, Jena, S. 11–33, hier 1/26482/2,o.p. S.14. 16 Ebd.; Informationsvorlage: Stand und Pro- 8 Boldorf(2008)[wieAnm.6],S.446–448. 11 Grienitz A (1990): Auf dem Weg zur Integrati- bleme der humangenetischen Beratung in 9 Vgl. hierzu Dietl H-M (1984): Zum Verhältnis on.In:humanitas30,Heft2,S.1. der DDR mit Schlußfolgerungen, Hauptab- von Eugenik und Humangenetik. In: Autoren- 12 Witkowski R (1992): Das Wort Genetik haben teilung Medizinische Betreuung, Ministerium kollektiv u. Ltg. v. Dietl H-M (Hg.): Eugenik. wir sorgsam vermieden. In: Stein R (Hg.), Die für Gesundheitswesen, 23.12.1986, BArch DQ Entstehung und gesellschaftliche Bedingtheit, Charité 1945–1992. Ein Mythos von innen, 1/26482/2,o.p. Jena,S.79–95,hierS.87. Berlin, S. 66–72; Universitätsarchiv Rostock, 17 Körner H, Grauel E (1974): Humangenetische 10 Grienitz A (1989): Barrieren gemeinsam PersonalakteHeinrichKirchmair,Bl.98. Beratung. II. Praktische Gesichtspunkte der überwinden. Gegen Egoismus, Entmündigung 13 Informationsvorlage: Stand und Proble- Beratung. In: Zentralblatt für Gynäkologie 96, und Sparsamkeit am falschen Platz. A. Grienitz me der humangenetischen Beratung in der S. 267-272; Steinbicker V et al. (1977): Inhalt sprach mit J. Demloff, Mitglied der Berliner DDR mit Schlußfolgerungen, Hauptabteilung und technisch-organisatorischer Aufbau des Initiativgruppe zur Gründung eines Behinder- Medizinische Betreuung, Ministerium für Ge- humangenetischen Beratungsdienstes in der tenverbandes in der DDR. In: humanitas 29, sundheitswesen, 23.12.1986, Bundesarchiv DDR. In: Das Deutsche Gesundheitswesen 32, Heft24,S.9. (BArch)DQ1/26482/2,o.p. S.179–181.

60 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 – auf die Verbesserung des Gen-Pools verzichten wollen, auch die Möglichkeit zielender – Absichten.21 dazu erhalten.“24 Der positive Bezug auf Dabei hatten sich Wissenschaftler der den Terminus Eugenik, die hier v. a. DDR noch Ende der 1960er- und Anfang als individuelle Gesundheitsprophylaxe der1970er-Jahredurchauspositivaufden und weniger als populationsgenetische Begriff „Eugenik“ bezogen. So schrieb Maßnahme verstanden wird, war kei- der Genetiker Hans Stubbe in seinem neswegs DDR-spezifisch, sondern findet Geleitwort zur deutschen Ausgabe von sich beispielsweise auch unter westdeut- Curt Sterns Klassiker Grundlagen der schen Humangenetikern der damaligen Humangenetik:„WerdieVerantwortung Zeit.25 für die Gesundheit eines Volkes trägt, Genetisch bedingte Erkrankungen kann sich eugenischen Maßnahmen zur bzw.BehinderungengalteninersterLi- Verhütung und Vorbeuge erblicher Er- nie als Leid sowohl für die Betroffenen krankungen zum Wohle des Menschen als auch für ihre Familien, das es zu und der Erhaltung seiner Leistungsfä- verhindern galt.26 Die humangenetische higkeit nicht entziehen.“22 Auch in dem Beratung erhielt somit das Potenzial unter Leitung des Genetikers Jörg Schö- zugeschrieben, die individuelle Gesund- neich (*1934) verfassten Entwurf für heit und das Familienglück zu fördern. das Forschungsprojekt „Humangenetik“ „Das Glück des einzelnen steht“ – so finden sich eindeutig positive Bezüge zur der Humangenetiker und Anthropologe Eugenik.DerenZielseies,„dieKombina- Karl Sommer in dem Buch Erbkrankhei- ten und Erbberatung . Abb. 29 Abb. 29 8 Das von Karl Sommer, Oberassistent tion der im Genbestand der Population ( )–„im 27 am Institut für Anthropologie und Humangene- vorhandenen Gene zu beeinflussen und Vordergrund.“ Gleichzeitigwurdenpo- tik der Universität Jena, verfasste Buch richtete Genkombinationen zu vermeiden, die pulationsgenetische Zielstellungen nicht sich an eine breite Öffentlichkeit. (© Institut für zu Erbkrankheiten führen.“23 Dabei di- völlig ausgeblendet. Zwar wandten sich GeschichtederMedizinundEthikinderMedizin, stanzierten sich die Autoren dezidiert Humangenetiker und -genetikerinnen Charité–UniversitätsmedizinBerlin,mitfreundl. Genehmigung) von jeglichen Züchtungsutopien und explizit gegen eine Einteilung der Men- erweiterten eugenische Maßnahmen au- schen in solche mit „hochwertigem“ und ßerdem um die Mutationsprophylaxe. solche mit „minderwertigem“ Erbgut HanneloreKörner(*1941)undderPädia- MithilfeeinergenetischfundiertenFami- – angesichts der Tatsache, dass jeder ter Ernst Ludwig Grauel (1935–2005) aus lienberatung und intensivierter human- Mensch wahrscheinlich 2 bis 3 Gene be- der Berliner Charité „Eltern, die grund- genetischer Aufklärung sollte erreicht sitze, die sich im homozygoten Zustand los mißgebildeten Nachwuchs fürchten, werden, „daß Menschen, die als Träger nachteilig auswirken könnten, sei diese dieseAngstzunehmen,derZeugungund oder potentielle Überträger von Erb- Vorstellung schlichtweg unwissenschaft- Geburt genetisch kranker Kinder soweit krankheiten freiwillig auf Nachkommen lich. Ausführlich widerlegt wurden auch alsmöglichvorzubeugenundalleszutun, rassenhygienische Vorstellungen von der um belasteten Eltern zu gesundem Nach- 20 Vgl. u. a. Pelz L, Mieler W (1972): Klinische Verschlechterung des Gen-Pools über wuchszuverhelfen.Esisteinereinindivi- Zytogenetik.Jena,S.66;GedscholdJ,Steinbicker wenige Generationen hinweg.28 Die duelle, ausschließlich die Familie betref- V (1984): 10 Jahre genetische Beratung an der angestrebte Verbesserung des Gesund- Kinderklinik der Medizinischen Akademie fendeProphylaxe.“19 DieArgumentation, heitszustandes der Bevölkerung und Magdeburg. In: Pädiatrie und Grenzgebiete dass es sich bei der humangenetischen 23, S. 409–412; Körner H, Körner U (1981): 24 Ebd. Beratung und der mit ihr eng verknüpf- Medizinische und ethische Probleme in der 25 ten pränatalen Diagnostik v. a. um eine humangenetischen Beratung und pränatalen Vgl. Cottebrune A (2012): Eugenische Kon- zepte in der westdeutschen Humangenetik, geburtenfördernde bzw. lebenserhalten- Diagnostik. In: Autorenkollektiv u. Ltg. V. Körner U, Seidel K, Thom A. (Hg.) Grenzsituationen 1945–1980. In: Journal of Modern European de Maßnahme handelte, findet sich in ärztlichenHandelns,Jena,S.80–93,hierS.81. History10,S.500–518. vielen Texten der damaligen Zeit,20 eben- 21 WitkowskiR, Prokop O (1974): Genetik Erbli- 26 Vgl. u. a. Projektentwurf „Humangenetik“. so die Ablehnung jeglicher eugenischer cherSyndromeundMissbildungen.Wörterbuch Gezielte Analyse genetischer Informationsbe- für die Familienberatung. Berlin, S. 12–13; Som- stände des Menschen in ihren Wechselbezie- mer K (1978): Erbkrankheiten und Erbberatung. hungen mit der Umwelt, 21.10.1970, BArch 18 Komplexes Überführungsprogramm „Hu- Berlin, S. 81; Körner H, Körner U (1981) [wie DQ 1/3358; Witkowski R, Prokop O (1974) [wie mangenetischer Beratungsdienst“, 27.9.1977, Anm.20],S.84. Anm. 21] S. 13; Körner H, Körner U (1981) [wie BArch DQ 1/26482/2, o.p.; Vorstellungen zum 22 Stubbe H (1968): Geleitwort. In: Stern C: Anm. 20], S. 80; SommerK(1978)[wie Anm. 21], Aufbau eines humangenetischen Beratungs- GrundlagenderHumangenetik.2.dt.Aufl.,Jena. S.81–82. 27 dienstes, von V. Steinbicker, BArch DQ 109/35, 23 Projektentwurf „Humangenetik“. Gezielte SommerK(1978)[wieAnm.21],S.81. o.p. Analyse genetischer Informationsbestände des 28 WitkowskiR, Prokop O (1974) [wie Anm. 21], 19 Körner U, Grauel E (1974) [wie Anm. 17], MenscheninihrenWechselbeziehungenmitder S.12;SommerK(1978)S.49–66u.S.97–102[wie S.269. Umwelt,21.10.1970,BArchDQ1/3358. Anm.21].

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die Senkung der Säuglingssterblichkeit der genomischen Diagnostik“ stellten Befunde wurde den Ratsuchenden eine dienten dennoch als Legitimierung für die Verfasser die Kosten für die Be- Empfehlung für die weitere Familien- die Wichtigkeit der humangenetischen handlung von Menschen mit Phenyl- planung mitgeteilt. Verschiedene zeit- Beratung: „Da eine befriedigende sym- ketonurie, Duchenne-Muskeldystrophie genössische Untersuchungen kamen zu ptomatische Therapie nur in wenigen und zystischer Fibrose, die pro Pati- dem Schluss, dass die zuständigen Hu- Fällen möglich ist, kann eine Reduzie- ent im 6-stelligen Bereich angesiedelt mangenetiker/innen in der Mehrzahl rung der genetisch bedingten Morbidität waren,denKostenfürdiegenomische der Fälle nicht von eigenen Kindern ab- nur über den Weg der Prophylaxe, al- Analyse einer Familie, einschließlich rieten. Die genetische Sprechstunde an so durch rechtzeitige humangenetische einer pränatalen genomischen Diag- der Kinderklinik in Magdeburg empfahl Beratung erreicht werden. Eine ent- nostik, gegenüber. Letztere wurden mit im Untersuchungszeitraum (1. Januar scheidende Verbesserung der genetisch ca. 1500 Valutamark (bundesrepublika- 1975 bis 31. Dezember 1979) in 29 von bedingten Morbidität unserer Bevölke- nische DM) angegeben.32 Der Humange- insgesamt 1110 Fällen (3,7 %) einen rung wird nur dann zu erwarten sein, netiker Bernhard Wittwer (1936–1989) Schwangerschaftsabbruch. Die human- wenn genetisch belastete Personen unter hatte bereits 1973 darauf hingewiesen, genetische Beratungsstelle in Jena riet in Wahrung des Prinzips der Freiwilligkeit dass von 500 Menschen mindestens einer der Zeit von 1980 bis 1985 in 15 von ins- im eigenen Interesse und im Interesse mit der Betreuung eines Schwererbkran- gesamt 1009 Beratungsfällen (1,5 %) zur der Gesellschaft ihre Familienplanung ken befasst sei, woraus ersichtlich werde, Interruptio.34 Die in den Untersuchun- so gestalten, daß die Zeugung oder die „welch bedeutendes medizinisches, psy- gen verwandte Wortwahl „empfehlen“ Geburt schwer erbgeschädigter Kinder chologisches, ethisches und nicht zuletzt und „(ab)raten“ lässt auf eine klassische nach Möglichkeit verhindert wird,“29 so ökonomisches Problem hier der Lösung paternalistische Arzt-Patient-Beziehung die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen harrt.“33 schließen. Auch in anderen damaligen des Forschungsprojektes „Humangene- Texten zur humangenetischen Beratung tik“ Volker Steinbicker (*1939), Herbert Praxis war von einer Empfehlung für die Ratsu- Bach, Hans-Albrecht Freye (1923–1994), chenden die Rede. Hierbei wurde jeweils Regine Witkowski (*1934), Werner Göh- Wie gestaltete sich nun die humange- betont, dass akzeptiert werden müsse, ler (1928–2009) und Jörg Schöneich 1977 netische Beratung unter der Prämisse wenn die Ratsuchenden dieser Empfeh- in der Zeitschrift Das Deutsche Gesund- der Freiwilligkeit und dem gleichzeiti- lung nicht folgten.35 Die Empfehlung heitswesen. gen Ziel, die Geburt behinderter Kinder orientierte sich am errechneten Risiko Der Verweis auf gesellschaftliche In- möglichst zu vermeiden? für das Auftreten der jeweiligen Er- teressen war nicht DDR-spezifisch. Wie Die Mehrzahl der Ratsuchenden kam krankung oder Behinderung und ihrem die Historikerin Anne Cottebrune auf- aufgrund einer ärztlichen Überweisung; Krankheitswert. Ein Risiko um 1 % galt zeigen konnte, begründeten auch west- andere wurden von Fürsorgeeinrich- als niedrig, eines über 10 % als hoch, deutsche Humangenetiker den Bedarf an tungen sowie Ehe- und Sexualbera- und der Krankheitswert richtete sich humangenetischer Beratung keineswegs tungsstellen überwiesen oder suchten nach der Schwere der Erkrankung und allein nur mit der Verhinderung indivi- die Beratungsstelle aus eigenem An- ihrer mangelnden Therapierbarkeit.36 duellen Leidens, sondern auch mit der trieb auf. Dort erfolgten zunächst ein Verantwortung gegenüber künftigen Ge- einführendes Gespräch, danach eine de- 30 nerationen. taillierte genealogische Erhebung, und 34 SteinbickerV,GedscholdJ(1977):Genetische Gelegentlich ging die Argumentation daran schloss sich eine ausführliche Di- Familienberatungan derKinderklinik in Magde- auch noch einen Schritt weiter und be- agnostikan.Dazuwurdenggf.auch burg. In: Das Deutsche Gesundheitswesen 32, zog Kosten-Nutzen-Rechnungen ein. So Befunde früherer Untersuchungen des S. 235–238; Seidel E-M (1984): 5 Jahre geneti- sche Beratung an der Kinderklinik Magdeburg verglich der Marburger Humangenetiker Ratsuchenden und seiner Familienan- – eine Analyse. Diss. med. Magdeburg; Janitz- Gerhard Wendt (1921–1987) beispiels- gehörigen angefordert. In einigen Kli- ky E (1990): Analyse der humangenetischen weise die finanziellen Mittel, die zur niken erörterte eine aus verschiedenen Beratungsfälle der Beratungsstelle für Human- Errichtung einer humangenetischen Be- Fachärzten und Naturwissenschaftlern genetik am Institut für Anthropologie und ratungsstelle benötigt wurden, mit den zusammengesetzte Beratungskommis- Humangenetik der Friedrich-Schiller-Universi- tät Jena von 1980–1985 und Nachbefragung Kosten für die Pflege von Menschen mit sion den jeweiligen Fall. Anhand der ausgewählter Konsultantenkollektive – Aussa- 31 einer Behinderung. Auch in der DDR gen über Vorstellungsmodus und Effektivität existierten Verweise auf ökonomische 32 Entscheidungsvorlage: Konzeption zur derBeratung.Diss.med.Jena. Gründe. In einer 1987 erstellten „Kon- schrittweisen Einführung der genomischen 35 Vgl. beispielsweise Bach H (1974): Mögli- zeption zur schrittweisen Einführung Diagnostik in die humangenetische Forschung che Humangenetische Maßnahmen und ihre und hochspezialisierte Betreuung, BArch DQ Problematik. In: Geissler E et al. (Hg.), III. Küh- 1/26482/1,o.p. 29 Steinbickeretal.(1977)[wieAnm.17],S.179. lungsborner Kolloquium. Philosophische und 33 Wittwer B (1973) Medizingenetische Be- Ethische Probleme derMolekularbiologie,1974, 30 Cottebrune A (2012) [wie Anm. 25] , ratung – Zielstellung und Probleme. In: Das S. 167–179, hier S. 175; Witkowski R, Prokop O S.509–511. Deutsche Gesundheitswesen 28,S.436–444, (1974)[wieAnm.21],S.33–34;SommerK(1978) 31 Ebd.S.515–516. hier,S.436. [wieAnm.21],S.81–82.

62 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Während sich die Humangenetiker der Zeit entwickelt hatte. Auch in der für eine entsprechende Versorgung der der DDR mit ihrem Insistieren auf Frei- Bundesrepublik Deutschland verlief die über 38-jährigen Frauen hätte es eines willigkeit im Einklang mit den 1969 Entwicklungnach1945„voneinemeuge- Ausbaus der Labore bedurft.43 veröffentlichten Richtlinien des WHO nisch ausgerichteten Beratungskonzept Expert Committee on Human Genetics über eine vorwiegend präventiv gepräg- Resümee befanden, wichen sie im Hinblick auf te Beratung der einzelnen Familien hin ihreineineEmpfehlungmündendeBera- zu einem Modell der nichtdirektiven Hinsichtlich des Themas Behinderung tung hiervon ab. Das Expert Committee Beratung“40.DiestärkereVerankerung in der DDR herrschte eine für moderne sprach sich für eine Beratung aus, die eines nondirektiven Beratungsansatzes Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s so neutral wie möglich sein solle.37 Wie in den USA dürfte v. a. professionelle typische Ambivalenz. Einerseits wurde jedoch die beiden US-amerikanischen Gründe gehabt haben. Hier existierte versucht Menschen mit Behinderung Bioethiker Dorothy C. Wertz und John die eigenständige Berufsgruppe der „ge- verstärkt am gesellschaftlichen Leben C. Fletcher in ihren beiden internationa- netic counselors“, die humangenetische teilhaben zu lassen, wobei hier weniger len Studien zeigten, war die Vermittlung Beratung seit den 1970er-Jahren in ers- mit Menschenrechten als mit sozia- möglichst unverzerrter Informationen ter Linie als Kommunikationsprozess listischem Humanismus argumentiert ein Ideal, das v. a. im angloamerikani- definierte und sich dabei an dem klien- wurde und eine „disability rights move- schen Raum verbreitet war. Demnach tenzentrierten Ansatz des Psychologen ment“, wie sie aus den USA oder auch war der Anteil an direktiv Beratenden Carl Rogers orientierte.41 aus der alten Bundesrepublik bekannt sowohl in West- als auch Ostdeutschland Allerdings,diesmachendieUmfragen war, fehlte. Andererseits galt Behinde- höheralsindenUSA.DiebeidenAutoren von Weitz und Fletcher auch deutlich, rung als Leid, das sich schwer mit den werteten auch die Weitergabe einseitig herrschte unter den befragten ostdeut- Glücks- und Gesundheitsversprechen negativer oder positiver Informationen schen Humangenetikern und Humange- der – in diesem Fall – sozialistischen als direktiv. Wertz’s und Flechters Um- netikerinnen keineswegs Konsens hin- Gesellschaft vereinbaren ließ. Damit be- fragen ergaben außerdem eine höhere sichtlich der Frage der Direktivität und gann in den 1970er-Jahren in beiden Anzahl an direktiv beratenden Human- Nondirektivität. So gaben beispielsweise deutschen Staaten eine Entwicklung, genetikern und Humangenetikerinnen im Bezug auf das Down Syndrom 56 % dieheutzutageangesichtsvonSpätab- in Ost- als in Westdeutschland. Nimmt an,indiesemFallnondirektivzuberaten; brüchen und pränatalen Bluttests zur man ihre umfangreichere in den 1990er- 5 % würden dagegen positiv und 39 % Bestimmung von Trisomien weiterhin Jahren–alsonachderdeutschenWieder- negativ beraten.42 kontrovers diskutiert wird. vereinigung – durchgeführte Studie als NebendiesenFragenderinternen Grundlage, ergibt sich allerdings auch, Gestaltung beeinflussten auch externe Korrespondenzadresse dass ein direktiver Beratungsstil unter FaktorendiehumangenetischeBeratung. Dr. S. Doetz französischen oder auch griechischen Der allgegenwärtige Ressourcenmangel Humangenetikern und -genetikerinnen im DDR-Gesundheitswesen der 1980er- Institut für Geschichte der Medizin und Ethik 38 in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin noch verbreiteter war. Somit greift es Jahre wirkte sich auch auf die human- Berlin zu kurz, eine erhöhte Anzahl an direktiv genetische Beratung bzw. Diagnostik Thielallee 71, 14195 Berlin, Deutschland Beratenden allein mit einer diktato- aus. So reichten die Laborkapazitäten [email protected] rischen Staatsform erklären zu wollen, bei Weitem nicht aus, um allen Frauen zumalsichauchindenUSAdasParadig- über 35 Jahren eine pränatale zytogeneti- Susanne Doetz, Dr. med., Medizinstudium in Berlin, ma der Nondirektivität, das heutzutage sche Diagnostik zu ermöglichen. Schon wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ge- schichte der Medizin und Ethik in der Medizin der um die Idee der gemeinsamen Entschei- Charité in Berlin. Derzeitiges Forschungsprojekt: Die dungsfindung erweitert wurde,39 erst mit 39 Baty BJ (2009): Risk Communication and Etablierung humangenetischer Beratungsstellen in Decision-Making. In: Uhlmann W, Schuette J, derDDRimSpannungsfeldzwischenWissenschaft,Po- Yashar B (Hg.), A guide to genetic counseling, litik und Öffentlichkeit (gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft). 36 WitkowskiR, Prokop O (1974) [wie Anm. 21], 2.Aufl.,Hoboken,S.207–250,hierS.235–236. S.33–34. 40 Cottebrune A (2012): Von der eugenischen 37 WHO (1969): Genetic Counselling: Third Familienberatung zur Genetischen Poliklinik. ReportoftheWHOExpertCommitteeonHuman Vorgeschichte und Ausbau der Heidelberger Genetics.WldHlth.Org.techn.Rep.Ser.,No.416. Humangenetischen Beratungsstelle. In: Cotte- brune A, Eckart WU (Hg.), Das Heidelberger 38 Wertz D, Flechter J (1989): Ethics and Human Institut für Humangenetik: Vorgeschichte und Genetics: A Cross-Cultural Perspective. Berlin/ Ausbau(1962–2012).Festschriftzum50jährigen Heidelberg/New York, S. 26–31;Wertz DC, Jubiläum,Heidelberg,S.170–207,hierS.170. FletcherJC (2004): Genetics and Ethics in Global Perspective, Dordrecht, S. 38–43 u. S. 366–374; 41 Zur Geschichte der humangenetischen Cohen P et al. (1997): Genetic Counseling Beratung in den USA vgl. Stern A M (2012): Practices in Germany: A Comparison between TellingGenes.TheStoryofGeneticCounselingin 43 Herbert Bach an Edgar Harig (Stellvertre- East German and West German Geneticists. In: America,Baltimore. tender Gesundheitsminister), 10.2.1988, BArch JournalofGeneticCounseling,Vol.6,S.61–80. 42 Cohenetal.(1997)[wieAnm.38],S.67. DQ/26482/1,o.p.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 63 Pädiatrie nach 1945

Susanne Hahn Pflege, Erziehung und Prophylaxe für Kinder Staatliche Aufgabe und kritische Verantwortung der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR

Stärker noch als andere medizinische Staatenteilgenommenhatten–so1950in nachgeordneten Einrichtung des Minis- Fachdisziplinen war die Kinderheilkun- Leipzig unter dem Vorsitz von Albrecht teriums für Gesundheitswesen der DDR, de in der sozialistischen Gesellschafts- Peiper (1889–1968), 1953 ebenfalls in unterstellt. DasGeneralsekretariatwurde ordnung a priori politisch determiniert Leipzig unter der wissenschaftlichen geleitet von Lothar Rohland (geb. 1929), und widerstreitenden Einflüssen unter- Leitung von Friedrich Hartmut Dost einem Gesellschaftswissenschaftler,auch worfen. Auf der einen Seite stellte die (1910–1985) und Albrecht Peiper sowie dem Ministerium für Staatssicherheit Pädiatrie die medizinische Absicherung 1956 in Halle (Saale) unter der wissen- verpflichtet, der die politisch-ideologi- des Kindeswohls in einem fortschrittli- schaftlichen Leitung von Josef Dieckhoff sche und personalpolitische Steuerung chen Gemeinwesen in den Fokus ihrer (1907-1977). Diese Versammlungen hat- und Kontrolle wahrnahm. Wie schon Bemühungen. Auf der anderen Seite war ten noch die Hoffnung gestärkt, dass die anderenorts und in anderem Zusam- in der DDR auch die Gleichstellung der „unnatürliche Trennung“ überwunden menhang ausgeführt, geschah jedoch Frau ein wichtiges politisches Ziel, das würde und der Tag nicht mehr fern sei, die ideologische Einflussnahme nicht verfassungsrechtlich und u. a. in dem be- „an dem wir Kinderärzte aus Ost und nur in einer Richtung wie etwa Stem- reits 1950 erlassenen Mutterschutzgesetz West wieder friedlich vereint in einem pel und Abdruck, sondern drückte sich verankert war. Die Sicherung des Wohls deutschen Lande an unseren Kongressen in einem vielschichtigen Beziehungsge- der Kinder unter strenger Beachtung der teilnehmen können“. Stattdessen kam es, flecht zwischen Einzelpersönlichkeiten Gleichberechtigung der Frau war auch nachdem die Weimarer Gesundheits- und institutionellen Ebenen aus, die – für die Kinderärzte eine eminente Her- konferenz 1960 die Bildung nationaler nicht selten gleichzeitig und in ein und ausforderung. Galt es doch, diese sich DDR-Medizingesellschaften gefordert derselben Handlung oder Äußerung – häufig entgegenstehenden Ansprüche so hatte, im Juni 1962, ein knappes Jahr ideologischen Druck erzeugten, ausüb- zu erfüllen, dass letztlich beide gesichert nach dem Bau der Berliner Mauer, in ten, aushielten oder sich ihm mehr oder waren und sowohl für die Frauen als einem „Akt von oben“ zur Gründung weniger widersetzten. Die Mitglieder auch für die Kinder eine Steigerung der einer Sektion Pädiatrie bei der Gesell- der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR Lebensqualität möglich werden konnte. schaft für Klinische Medizin. Aus dieser sind in eben dieser Weise eingebunden entstand dann 1967 die Gesellschaft für gewesen, wobei hinsichtlich der wissen- Entstehung der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR. Zwei Jahre später schaftlich-inhaltlichen Arbeit Freiräume Pädiatrie gliederte sich ihr die von Eva Schmidt- existierten und eigenverantwortlich- Kolmer (1913–1991) geleitete Sektion kritisch genutzt wurden. Korporativ waren die DDR-Pädiater bis „Kinder- und Jugendgesundheitsschutz“ 1961 in das Leben der Deutschen Ge- mit den Arbeitsgemeinschaften „Mütter- Methodische Herausforderung sellschaft für Kinderheilkunde integriert beratung“ und „Krippen und Heime“ an. geblieben und hatten auch gemeinsam Im Jahr 1970 beschloss die Gesellschaft, Um zu einer Einschätzung zu gelangen, mit ihren westdeutschen Kollegen in ihre Mitglieder sollten aus der Deut- welche eigenverantwortete und kritische der vom Verlag Georg Thieme, Leipzig, schen Gesellschaft für Kinderheilkunde Haltung die Gesellschaft für Pädiatrie der herausgegebenen Zeitschrift Kinderärzt- austreten. Erst danach kam es zu einer DDR zu Pflege und Erziehung gesunder liche Praxis publiziert. Das Ministerium regelmäßigen Vorstandstätigkeit, und ab Säuglinge und Kleinkinder bezog, wur- für Gesundheitswesen der DDR hatte 1973 fungierte die Kinderärztliche Praxis den schon in den 1990er-Jahren sämtli- mehrere Kinderärztetagungen initiiert, als Organ der Gesellschaft für Pädiatrie che, damals im Kaiserin-Auguste-Vikto- an denen Pädiater aus Ost- und West- der DDR. ria-Haus,heuteimArchivderHumboldt- deutschland, dem Saarland, der Sow- Wie alle medizinisch-wissenschaft- Universität zu Berlin, aufgenommenen jetunion und anderen osteuropäischen lichen Gesellschaften der DDR war Vorstandsprotokolle von 1970 bis 1989 auch die Gesellschaft für Pädiatrie dem sowie die Jahrgänge 1950 bis 1989 der LiteraturundQuellenangabenbeider Generalsekretariat der medizinisch-wis- Zeitschrift Kinderärztliche Praxis durch- Verfasserin senschaftlichen Gesellschaften, einer gesehen, wobei bis 1961 nur die Beiträ-

64 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 möglich. Ab den 1960er-Jahren wurden die Krippen quantitativ und qualitativ ausgebaut sowie kindgerecht optimiert. Für Betreuungsaufgaben, die zunächst von Krankenschwestern und Kinder- krankenschwestern wahrgenommen wurden, konnten seit Mitte der 1970er- Jahre Krippenerzieherinnen mit einem Fachschulstudium eingesetzt werden. Nun als Tagesbetreuung und dadurch mit der Familienerziehung kombiniert, Abb. 30 9 Wö- ab 1985 mit einem „Programm für die chentlicher Rou- tinebesuch des Erziehungsarbeit in Krippen“ und Be- Bezirkskinderarztes treuungsschlüsseln von 1:5 bzw. 1:6, in einer Kinderkrip- wirkten sich die Maßnahmen förderlich peimBerlinerBezirk auf die Entwicklungsbedingungen der Prenzlauer Berg, Kinder aus. In den Krippen konnten – Zentralbild (Franke), 18. März 1971. (© unterstützt durch eine gesetzlich fixierte Bundesarchiv-Bild- Impfpflicht – prophylaktische Aufgaben archiv, mit freundl. effektiv vorgenommen werden, ables- Genehmigung) bar an hohen Durchimpfungsraten, Vorsorgeuntersuchungen, Vitamin-D- ge ostdeutscher Pädiater berücksichtigt Kinderkrippen in der DDR Prophylaxe, Screenings u. a. m. Nach- wurden. Die Fülle des gewonnenen Ma- weislich brachten sich Kinderärzte und terialskannallerdingshiernurüberblick- Widerspruch zwischen die Gesellschaft für Pädiatrie der DDR artig aufgearbeitet werden. Gleichberechtigung der Frau und in diesen Prozess immer wieder ein und Die systematische Gesamtschau, die Kindeswohl? sicherten u. a. auch die krippenärztliche durch dieses Vorgehen ermöglicht wird, Betreuung ab (. Abb. 30). steht dem methodischen Problem gegen- Die Pflege und Erziehung von Kindern Das war jedoch nicht reibungslos ver- über, das sich aus der objektiven und der in Gemeinschaftseinrichtungen ist ein laufen. Wenn es sich aus den erwähn- subjektiven Zensur allen gedruckten und zentraler Punkt, der den zunächst vor- ten Gründen auch nicht expressis ver- mehr oder weniger für die Öffentlichkeit handenen Widerspruch zwischen der bis in der wissenschaftlichen Literatur bestimmten Materials ergibt. Einige The- Gleichberechtigung der Frau und dem und den Vorstandsprotokollen der Ge- men kommen gar nicht oder nur in einer Wohl des Kindes in besonderem Maß sellschaftfürPädiatriederDDRnachwei- hinsichtlich ihrer kritischen Potenz ab- verdeutlicht. Während dieser Wider- sen lässt, hat es zunächst erhebliche Vor- geschwächten Form zum Tragen. Bis zu spruch im wissenschaftlichen Leben der behalteseitensderKinderärztebishinzur einem gewissen Grad mögen Erfahrun- Kinderärzte in den 1950er-Jahren noch Ablehnung der Kinderkrippen gegeben. gen ergänzend wirken, die die Verfasse- keine Rolle einnimmt, spiegelt er sich Offiziell gegen die Kinderkrippe Stellung rin ab etwa 1965 mit dem Mütter- und ab den 1960er-Jahren in der Zeitschrift zu nehmen, wäre politisch freilich nicht Kinderschutz in der DDR gemacht hat, Kinderärztliche Praxis und in den Vor- opportun gewesen. Doch wurden Müt- und zwar als Medizinerin, insbesonde- standsprotokollenderGesellschaftwider. ter, die einen Krippenplatz in Anspruch re Landärztin. Zu ihren Aufgaben in den Besonderes Augenmerk ist hierbei zu nahmen und arbeiteten (arbeiten muss- 1980er-Jahren gehörten auch die Kinder- richten auf die Krippen für Kinder von ten), nicht selten – auch ärztlicherseits – garten- und schulärztliche Betreuung so- 0bis3Jahren,diedemMinisteriumfür diskreditiert. wiediekinderärztlicheBasisversorgung. Gesundheitswesen unterstanden und die Aber auch als Mutter in der eigenen kin- gegen Ende der 1980er-Jahre 80 % der Kindgerechte Optimierung der derreichen Familie sammelte die Autorin Kinder dieser Altersgruppe besuchten. Betreuungsbedingungen entsprechende Erfahrungen. Hinzu traten die Kindergärten für die KinderbiszumSchuleintritt,diedemMi- War in den 1950er-Jahren die Gemein- nisterium für Volksbildung zugeordnet schaftseinrichtung für Kleinkinder noch waren und in denen fast 98 % der Kinder kein Thema für die Kinderärzte, entwi- ganztags betreut wurden. Zunächst war ckelte sich in den 1960er-Jahren eine die Unterbringung der Kleinsten v. a. für wissenschaftlich-pädiatrische Streitkul- Alleinerziehende, Schicht- und Saison- tur, die die Kinderkrippen nicht weiter arbeiterinnen und beinah ausschließlich prinzipiell infrage stellte, sondern auf in Wochenkrippen oder Dauerheimen eine kindgerechte Optimierung der Be-

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 65 Pädiatrie nach 1945

treuungsbedingungen abzielte. Gegen bidität und Mortalität im Kindes-und Ju- tens 5-malige beidseitige Anlegen wur- Ende der DDR war das Krippenwesen gendalter“ und „Infektiologie“ um die- den allgemeine Postulate und brachten so gut entwickelt, dass es untrennbar se Probleme. Die Infektdisposition und offenbar auch Erfolge. zum Leben junger Familien in der DDR -exposition, zu niedrige Raumtempera- gehörte und nur noch in konkreten turen, zu frühe Bringe- und zu späte Ab- Säuglingspflege Details kritisiert wurde, zumal gerade holzeiten der Kinder, der Schichtdienst unter den Pädiatern ein hoher Frau- derMütterundweitereFaktorenwurden EtlicheweiterepflegerischeThemenwur- enanteil wirkte. In den letzten beiden hervorgehoben. den diskutiert und im ambulanten Be- Dekaden waren vielerorts Dreiviertel reich sowie v. a. auch in den Krippen der Kinderärzte weiblich; diese Kolle- Säuglingsernährung undMütterberatungenumgesetzt,sobei- ginnen hätten ohne Kinderkrippe ihre spielsweise die Empfehlungen zum An- berufliche Entwicklung nicht nehmen Obwohl künstliche Ernährungsformen legen des Spreizwindelhöschens zur Vor- können. So heißt es im Vorstandsproto- selbstverständlich immer wieder vorge- beugung der Luxationshüfte. Kontrover- koll der Gesellschaft vom Januar 1982: stellt sowie in ihren Zusammensetzun- sen gab es, als der Dresdner Orthopä- „Die sozialpolitische und pädagogische gen und Wirkungen untersucht, kritisiert de Johannes Büschelberger (1909–1984) Bedeutung der Kinderkrippe in unserer und optimiert wurden, unterschätzten 1981 das Dyadetuch, mit dem das Tragen sozialistischen Gesellschaft ist unbestrit- die Pädiater zu keiner Zeit den Wert von Säuglingen auf der Hüfte erleichtert ten. Die Kinderkrippen garantieren die der Frauenmilch und hoben die Wich- wurde, als „eine Möglichkeit zur Wie- Gleichberechtigung der Frau und ihre tigkeit des Stillens stets hervor. Dabei derherstellung des biologisch vorgesehe- volle Entfaltung in Beruf und Familie.“ ist anzunehmen, dass der international nen Verhaltens bei der Pflege von Neuge- Nachdem in den 1960er-Jahren im- zu beobachtende Rückgang des Stillens borenen, Säuglingen und Kleinkindern“ mer wieder auf die frühen Weckzeiten, auch die DDR erfasst hatte. Während der empfahl. Klaus Jährig (1935–2011) aus die langen Anmarschwege und die damit Stillrückgang bis etwa Mitte der 1970er- Greifswald machte ihm den Vorwurf ei- verminderte Schlafdauer der Tageskrip- Jahre resignierend bedauert wurde, be- ner „formalen Biologisierung und Psy- penkinder aufmerksam gemacht worden gann danach die aktive Beeinflussung chologisierung der Medizin“, weil er ei- war, richtete man später eine ausreichen- des Stillens durch die Pädiater. Dies wur- nem simplen Determinismus verhaftet deZahlvonKinderkrippenplätzeninden de durch die Zahlung von Stillprämien sei sowie die schöpferische Seite der Per- Wohngebieten oder in großen Betrie- in den Mütterberatungen und andere sönlichkeit und ihre Rolle in der Ent- benein.AndereArbeitenwiesennach, sozialpolitische Erleichterungen für die wicklung des Individuums ignoriere. dass ein Teil der Kinder solcher Pflege- Mütter unterstützt. einrichtungen im Längen- und Massen- Im Jahr 1983 wurden die das Stil- Säuglingssterblichkeit wachstum zurückblieben und als dys- len favorisierenden Richtlinien der Eu- troph angesehen werden mussten. Der ropäischen Gesellschaft für Pädiatrische Große Bedeutung hatte der durchaus Eiweiß- und Eisenmangel dieser Kinder Gastroenterologie und Ernährung allen erfolgreiche Kampf um die Senkung der trage zu ihrer besonderen Infektionsan- Pädiatern der DDR zur Kenntnis gege- Säuglingssterblichkeit: Sie konnte von fälligkeit und Morbidität bei. Obwohl in ben. Auch die Gesellschaft für Pädia- 72,2 gestorbenen Säuglingen auf 1000 den 1970er-Jahren durch das spätere Ein- trie der DDR bekannte sich immer wie- Lebendgeborene 1950 systematisch bis treten der Kinder in die Krippe infolge derzumStillen;ihreArbeitsgemeinschaft auf 7,3 im Jahr 1990 gesenkt werden. Ab des „Babyjahrs“, die überwiegende Ta- „Gastroenterologie, Stoffwechsel und Er- 1960 untersuchten Fachkommissionen gesbetreuung und gezielte Ernährungs- nährung“ hatte bereits 1979 Empfehlun- unter Leitung der Kreis- und Bezirks- programme diese körperlichen Auswir- gen herausgegeben, die von der Überle- ärzte jeden Todesfall eines Kindes unter kungen gemindert wurden, bereitete die genheit des Stillens ausgingen. Im Jahr 16 Jahren, wozu auch eine Melde- und hohe Infektionsanfälligkeit der Kinder 1985 wurden sie nochmals zu 16 Grund- Sektionspflicht gehörte. Das galt ins- weiterhin große Sorgen. Die wesentlich regeln der Säuglingsernährung zusam- besondere für Fälle von plötzlichem höhere Morbidität der Krippen- gegen- mengefasst, von denen sich allein 8 damit Kindstod („sudden infant death“, SID). über den Hauskindern zu senken, hat- beschäftigten, dass und wie das Stillen Vor allem latente Infektionen wurden te auch eine ökonomische Dimension gefördert werden muss. Künstliche Er- dafür als mögliche Ursache angesehen, und wurde 1968 vom Generalsekreta- nährung wurde jetzt praktisch nur noch woraus die Anordnung täglicher Tempe- riat der medizinisch-wissenschaftlichen indiziert gesehen, „sollte ausnahmswei- raturmessung des Kindes vor der Auf- Gesellschaften der DDR sowie 1983 und se keine Muttermilch gegeben werden nahme in die Kinderkrippe resultierte. 1986 vom Ministerium für Gesundheits- können“. Diese Regeln brachen mit alt- In den 1970er-Jahren wurde auch die wesen der Gesellschaft für Pädiatrie als hergebrachtenPraktiken:Aufklärungder einst als eine „für die Förderung der gesundheitspolitisches Ziel angetragen. medizinischenWochenstationenundder neuromuskulären Fähigkeiten und die Aber auch unabhängig davon kümmerte jungen Mütter selbst, das Rooming-in- Entwicklung des aufrechten Ganges ... sich die Gesellschaft für Pädiatrie v. a. System, das Einschränken der Zufütte- den Neu- und Frühgeborenen zumutba- mit ihren Arbeitsgemeinschaften „Mor- rung, das Nachtstillen und das mindes- re natürliche Schlafhaltung“ angesehe-

66 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 ne Bauchlagerung für die Kinderkrippen Trinkwassers, Asbestosen durch Puder, zeitig stellte sie eine wesentliche Kom- nicht mehr empfohlen, weil sie mögli- Schadstoffgehalt in der Nahrung, Mängel ponente dar, im Zusammenhang mit ei- cherweise für den SID mit verantwortlich und Lücken in der Versorgung mit Pfle- ner Vielzahl sozialpolitischer Maßnah- sei. gematerialien oder Luftverschmutzung men die Gleichberechtigung der Frau so- und Strahlenbelastung wurden ange- wieihreBerufstätigkeitunddamitein Bedeutung der frühen Mutter- prangert.Daswarenimmerwiederauch wichtiges Ziel sozialistischer Politik zu Kind-Beziehungen Themen im Vorstand der Gesellschaft – erreichen. Die Bildung einer eigenen Ge- 1982 wurde sogar eine Luftwarnanlage sellschaft für Pädiatrie der DDR war ein In den letzten beiden Jahrzehnten der vorgeschlagen–undinPublikationen sich aus der politischen Teilung Deutsch- DDR wurde zunehmend die Bedeutung von Kinderärztliche Praxis. Diese Kri- lands ergebender Akt. Allerdings war sie der frühen Mutter-Kind-Beziehungen tiken orientierten allerdings in erster auch von der ideologisch determinierten für die Kindesentwicklung psycholo- Linie auf Schadensbegrenzung und Op- wissenschaftlichen Herausforderung be- gisch erforscht. Die Ergebnisse west- timierung der bestehenden Situation. stimmt, die Gleichberechtigung der Frau licherAutorendazuwurdenrezipiert Sie zielten weder i. Allg. noch offizi- mit dem Wohl der Kinder in die optima- und praktische Konsequenzen gezo- ell auf eine prinzipielle Änderung der le Übereinstimmung zu bringen. Die da- gen, so z. B. durch die Einführung des den genannten Problemen zugrunde lie- bei erbrachten, international anerkann- Rooming-in-Systems in der Geburts- genden politischen und ökonomischen ten Leistungen erreichten die Mitglie- hilfe, die bereits ausgeführte hohe und Verhältnisse. Im und nach dem Herbst der der Gesellschaft für Pädiatrie der nicht nur ernährungsphysiologisch be- 1989 wurde es jedoch offensichtlich, dass DDR nicht nur trotz oft widriger ma- gründete Bewertung des Stillens, die sich Forderungen nach einem demokra- terieller Bedingungen und ideologischer liberale Handhabung der Besuchszeiten tischen Umbau der Gesellschaft schon Bevormundung. Vielmehr war die sozia- in Kinderkliniken oder die Möglichkeit vorher angebahnt hatten. listische Gesellschaftsordnung mit ihrer einer stationären Mitaufnahme der Müt- hohen Wertschätzung von Mutter und ter. Diese wurde ab den 1980er-Jahren Resümee Kind, dem politischen Ziel der Gleich- durch die Rahmenkrankenhausordnung berechtigung der Frau und den zentra- zugesichert, v. a. aber durch das von Die Tätigkeit der Gesellschaft für Päd- listischen Strukturen des Gesundheits- staatlicher Seite gewährte „Babyjahr“. iatrie der DDR war im Hinblick auf die wesens hierfür eine wichtige Vorausset- PflegeundErziehunggesunderSäuglinge zung. Dies wurde von den Kinderärz- Gesellschaftspolitische und Kleinkinder, die bei etwa vier Fünf- ten und Kinderärztinnen im Verlauf der Probleme teln von ihnen in der Woche tagsüber Zeit durchaus akzeptiert und konstruk- in den Krippen stattfand, auf folgende tiv mitgestaltet. Neben vielen fachlichen In den 1970er- und 1980er-Jahren wur- Schwerpunkte gerichtet: Leistungen brachten die Kinderärzte der den weitere Probleme evident, die bis 4 Förderung der physischen und psy- DDR auch diese speziellen Kompetenzen dato offiziell weitgehend tabuisiert oder chischen Entwicklung jedes Kindes und Erfahrungen in das wiedervereinigte als negative Hinterlassenschaften bzw. durch Optimierung der Lebensbedin- Deutschland und in die wiedervereinigte überschwappende Auswüchse des Im- gungen in den Krippen (Ernährung, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und perialismus deklariert worden waren. einschließlich Stillen, Schaffung von Jugendmedizin ein. Es ist schade, dass In Wirklichkeit wurden diese Probleme Bedingungen für das Ausleben von vieles davon nach der politischen Wen- aber ebenso von der real-existierenden Mutter-Kind-Beziehungen, räum- de 1989 zunächst nicht im gebührenden sozialistischen Gesellschaft der DDR liche Ausstattung, Erziehungspro- Maß wertgeschätzt und kritisch aufge- produziert: Alkoholismus, Selbstmor- gramme, Beruf Krippenerzieherin, hoben wurde, sondern jetzt mit viel Mü- de Jugendlicher, sexueller Missbrauch, Krippenordnung), hen wieder neu aufgebaut werden muss. Vergewaltigung und die besondere Auf- 4 Prophylaxe von Erkrankungen (Impf- Denn die Gleichberechtigung der Frau merksamkeit der Pädiater erregenden schutz, Vorsorgeuntersuchungen, ist auch in der freiheitlich-demokrati- Kindesmisshandlungen. Immer deutli- Screenings, Realisierung von me- schen Grundordnung der Bundesrepu- cher trat auch zutage, dass sich mit der dizinisch begründeten Pflege- und blik Deutschland ein hoher Wert und allgemeinen ökonomischen Misere und Beobachtungsmaßnahmen), Anspruch und muss mit dem Wohl der dem ökologischen Raubbau auch für die 4 Aufdeckung, Abwendung oder we- Kinder optimal in Übereinstimmung ge- Kinder schädliche Lebensbedingungen nigstens Minderung schädlicher bracht werden. ergaben, die die erfolgreichen Bemühun- Einflüsse, die einem Kind in der gen um die Pflege und Erziehung sowie Krippe oder seiner Familie und sei- die Senkung von Morbidität und Mor- nem weiteren Umfeld widerfahren talität konterkarierten und zu schweren können. gesundheitlichen Schädigungen führ- ten. Hier erhoben die Pädiater kritisch Die Erfüllung dieser Aufgaben diente ihre Stimme: Nitratverseuchung des eindeutig dem Wohl des Kindes. Gleich-

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Susanne Hahn, Dr. med.; Medizinstudium in Leipzig, Fachärztin für innere Medizin und Fachärztin für Ge- schichte der Medizin, Zusatzstudium: Philosophie, 1985 Habilitation; praktische Erfahrungenals Landärz- tin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Hygiene-Museum Dresden, am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaf- ten und Leiterin einer medizinischen Fachschule; Spezialgebiete: medizinische Ethik, insbesondere Sterbebegleitung, Medizin im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der DDR, 5 Kinder, seit 2012 im Ruhestand.

68 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Roland Eulitz Erlebte soziale Pädiatrie in der DDR

Meine Gedanken gehen auf den Beginn lizei-Kreisamts mit unleserlicher Unter- Sieben Jahre später, im Februar 1954, eines Erlebniswegs ab der ersten Hälf- schrift. nunmehr in der DDR-Zeit, wurde eine te der 1960er-Jahre zurück, also in eine Aber auch unter diesen Voraussetzun- gesetzliche „Anordnung über die lau- DDR-Zeit. Dazu hat mein Lehrer Hel- genundsolchenBedingungenwurdein fende gesundheitliche Überwachung für mut Patzer (1919–2009) formuliert: „Die Ostdeutschland Kinderheilkunde gelehrt Kinder und Jugendliche“ erlassen, die DDR war auch ein Lebensraum mit vie- und praktiziert. Für die Kinderheilkun- im April 1979 eine Ergänzung erfuhr. len Einzelschicksalen, ein Lebensraum, de nach dem Zweiten Weltkrieg war im Hauptpunkte waren die regelmäßige Be- in dem Menschen lebten, liebten, lernten, Ostteil Deutschlands, also zunächst in urteilungdesGesundheits-undEntwick- ihren Beruf ausübten.“ Und viele können der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), lungsstandes von der Geburt bis zum stolz darauf sein, was sie unter den er- dann in der DDR, die Entscheidung be- Abschluss des Schulbesuches durch Rei- schwerenden Bedingungen einer unfle- reits im August 1945, also wenige Mo- hen- und Einzeluntersuchungen. Später xiblen, uneffektiven und diktatorischen nate nach Kriegsende, gefallen. Ein Be- wurde diese unterstützt durch einen in- Staatsform in Familie und Beruf geleis- fehl der Sowjetischen Militäradministra- haltlichen Leitfaden, der als „Standard- tet haben. Aber es muss auch klar blei- tion(SMAD)legtedeneinzuschlagenden Programm“ unter der Begleitung durch ben, dass Erinnerung in mitunter „ostal- WeghinzurEntwicklungeinesstaat- das Institut für Hygiene des Kindes- und gischer“ Vergoldung nicht dazu führen lichen Gesundheitswesens fest. Damals Jugendalters Berlin multidisziplinär ärzt- darf, plötzlich auf die erschwerenden Be- wurde die Gründung einer Zentralver- lich erarbeitet worden war.Ausführlicher dingungen stolz sein zu wollen, wie es Ri- waltung für das Gesundheitswesen in der als im „Gelben Heft“ in der Bundesre- chard Schröder einmal ausgedrückt hat. SBZ als Vorläufer des späteren Ministeri- publik wurde hier auch das Jugendalter ums für Gesundheitswesen angeordnet. einbezogen. Kinderheilkunde unter DDR- Sie machte bereits das Prinzip konse- Zum Einschätzen der Effektivität ei- Bedingungen quenter Zentralisierung deutlich. nes solch engmaschigen Kontrollsystems Das reichte von der Organisierung konnten sehr verschiedene Parameter WolltenwirdamalsbeispielsweiseFachli- des stationären und des ambulanten herangezogen werden. Wohl wissend, teratur „von drüben“ lesen, so gelang Gesundheitswesens unter Einbeziehung dass sich in der Säuglingssterblichkeit, das, wenn man nicht an einer Hochschu- der Kommunalhygiene über die Über- besonders der Spätsterblichkeit, ökono- le mit großer Bibliothek tätig war, nur wachung der Herstellung von Pharmaka misches, soziales und gesundheitspoliti- über das von manchem von uns genann- undImpfstoffenbishinzurSchaffung sches Niveau eines Staats widerspiegelt, te „Sonderdruckunwesen“. Hierzu muss- von Fachschulen, Forschungsinstituten schenkte die DDR-Führung diesem te der Autor der gewünschten Publika- und der Gründung medizinisch-wis- Zusammenhang auch als Politikum be- tion freundlicherweise auf eine vorge- senschaftlicher Gesellschaften, wie es sondere Aufmerksamkeit. Es gab die gebene, mit einer DDR-Drucknummer Patzer ausführlich beschrieben hat. Da- Sektionspflicht in jedem Kindertodes- registrierte „Sonderdruckanforderungs- nach kam im Dezember 1947, also fast fall, und manche wichtigen Aufschlüsse postkarte“ mit dem Separatum seinerAr- 2 Jahre vor Gründung der DDR, der zum Weiterführen ärztlicher und auch beit reagieren. Manchem war es trotz der Befehl der SMAD über die „Errichtung gesundheitspolitischer Arbeit haben sich deutsch-deutschen Grenze möglich, di- von Ambulanzen und Polikliniken zur ergeben. rekt an die Stelle seines Wunsches „nach Sicherstellung der ärztlichen Versorgung Die Einführung der gesetzlichen drüben“ zu fahren. Lange Zeit waren dies der deutschen Bevölkerung in der SBZ“. Pflicht zur Bacille Calmette-Guérin aber nur vom Staat DDR bestimmte Leu- Damit wurde bei den Abteilungen Ge- (BCG)-Schutzimpfung in der DDR 1952 te. Wie viele andere, so war auch ich sundheits- und Sozialwesen der Kreise führte zu einer Impfrate von etwa 90 % kein „NSW-Reisekader“ und für Reisen eine Abteilung „Pädiatrie“ sowohl für der Kinder. Für Anfang der 1960er-Jahre in das „nichtsozialistische Wirtschafts- die kurative als auch für die präventive konnte in den Berichten des Zentralin- gebiet“ (NSW) nicht zugelassen. „Die- Betreuung der Kinder verantwortlich. stituts für Hygiene, Mikrobiologie und se Entscheidung bedarf keiner Begrün- Die Mütterberatung war extra ausgewie- Epidemiologie ein deutliches Absinken dung“, lautete der Bescheid des Volkspo- sen, ebenso wie die präventiv arbeitende der Tbc-Erkrankungsraten festgestellt Abteilung „Kinder- und Jugendgesund- werden. Mit dem Rückblick auf den heitsschutz“. Impfkalender vom 18. September 1984 LiteraturbeimVerfasser und dem Hinweis auf die seit 1961 beste-

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 69 Pädiatrie nach 1945

Abb. 31 8 Spieltherapie in der Erfurter Kinderklinik, 1970er-Jahre. (© Ro- Abb. 32 8 Kinderfest in der Kinderklinik Erfurt, Station 8 und 9 im Som- land Eulitz, mit freundl. Genehmigung) mer 1970. (© Roland Eulitz, mit freundl. Genehmigung)

hende gesetzliche Pflicht zur Diphtherie- in dringender Sozialsituation – wurden psychosoziale Entwicklung der uns anver- Pertussis-Tetanus(DPT)-Impfung lässt in einem quasi familiären Milieu be- trauten Kinder einzuwirken. sich eine Aussage zum Rückgang der ge- treut, behandelt, beschult, oft über sehr meldeten Infektionskrankheiten treffen. lange, mitunter jahrelange Zeit. Hier- Beim Ehepaar Bobath unmittelbar in die Nicht allein der Impfaktivität ist dies zu gehörten auch ausländische Patienten Lehre zu gehen, war uns damals leider zu verdanken, sondern auch der Ver- (Irak, Sowjetunion). Diese Behandlungs- nicht möglich. Unsere Physiotherapeu- besserung der Lebensverhältnisse. Viele form erforderte ein Umdenken bei den tinnen erlernten deren Methode auf dem stationäre Behandlungseinrichtungen, Schwestern aus der Tbc-Zeit ebenso wie UmwegüberPragundBudapest,gelegent- insbesondere für Kinder mit tuber- bei den Ärzten, die bei Patzer arbeiteten, lich auch über den Besuch von Kollegin- kulöser Meningitis, konnten aufgrund bedeutete neue Formen des Zusammen- nen aus der damaligen Bundesrepublik sinkender Erkrankungszahlen anderen wirkens mit den Familien, aber auch im Marienstift Arnstadt, die bereits über Zwecken – wie beispielsweise der re- untereinander, bedeutete, den Gefahren die entsprechende Ausbildung verfügten. habilitativen Medizin – zur Verfügung eines Hospitalismus und der Deprivation Ähnlich verhielt es sich mit anderen the- gestellt werden. Wenn man die Vorge- entgegenzuwirken, bedeutete, auch für rapeutischen Methoden, (z. B. Vojta-Be- schichte von Rehabilitationskliniken, die alle Physiotherapeuten, Vorschulpäd- handlung), die in der Folgezeit entwickelt aus Krankenhäusern oder -abteilungen agogen, Psychologen, Lehrer, den Mut und publiziert wurden. hervorgegangen sind, betrachtet, wird zu behalten im Behandlungsprozess – Besonders wichtig erscheint mir aber im maninganzDeutschlandaufehemali- damals und heute. Rückblick, dass wir damals zu der Er- ge Tbc-Behandlungszentren stoßen, so Es war aber auch eine Zeit des Lernens kenntnis gelangten, dass bei beeinträch- auch in der DDR der 1960er-Jahre. „nicht nur in den Fragen der Rehabili- tigter Motorik die gesamte Kommunikati- tation der Behinderung, sondern über- on mit der Umwelt erschwert oder gestört Kinderklinik der Medizinischen haupt der Umgang mit der Entwicklung ist, und dass tief greifende Auswirkungen Akademie Erfurt des Kindes, also Entwicklungsdiagnose, auf die soziale, emotionale und menta- Entwicklungsphysiologie“, wie Patzer in le Entwicklung daraus resultierten. Wir In der eigenen Erinnerung bleibt die einem Interview mit dem Göttinger Me- erfuhren aber auch, welche Bedeutung stationäre Abteilung der Kinderklinik dizinsoziologen Jürgen Wilhelm bereits das Verhalten der Umwelt dabei hat, de- der Medizinischen Akademie Erfurt in in den 1990er-Jahren in einem Rückblick ren Einfluss hemmend, ausgrenzend, aber der Gustav-Freytag-Straße sehr leben- erklärte. Und weiter sagte Patzer: auch fördernd, hilfreich, ermutigend sein dig. Helmut Patzer hatte sie 1959/1960 Die Arbeitsatmosphäre in dieser Einrich- kann. in einer Villa mit Garten und Frei- tung war dadurch gekennzeichnet, dass luftliegehallen zu einer von Anfang an therapeutische Resignation und Beschrän- interdisziplinär arbeitenden Stations- kung auf rein caritative Betreuung keine Deshalb arbeiteten in diesem Haus in form mit 25 bis 30 Betten gestaltet. Die Berechtigung mehr hatten, und dass je- täglicher Abstimmung Ärzte und Kin- Liegehallen in Barackenform wurden zu der auf seinem Fachgebiet mit einer fast derschwestern, Psychologen und Päd- Schul-, Diagnostik- und Therapieräu- euphorisch zu nennenden Einstellung be- agogen der Sonderschule für Körperbe- men umfunktioniert. Kinder mit ze- müht war, immer umfassender und sach- hinderte, Physiotherapeuten zusammen rebralen Bewegungsstörungen ab dem kundiger auf die neuromotorische und (. Abb. 31 und 32). „Integration-Inklusi- Einschulungsalter – kleinere, nur selten

70 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 on-Diskussionen“ haben uns also auch gliedern, die aus ganz unterschiedlichen seiner Stelle zur Mitarbeit in die Zentra- damals schon begleitet. Tätigkeitsbereichen kamen. Dabei zeigte le Fachgruppe „Kinderneuropsychiatrie“ In diesen Jahren von 1960 bis 1969 sich, dass sich über alle 14 Bezirke der der Akademie für Ärztliche Fortbildung lebten wir mit der ständigen Sorge um DDR verteilt engagierte Pädiater, aber der DDR unter der Leitung von Ger- die zu geringe Bettenkapazität, die so vie- auch Orthopäden, um den Aufbau und hardGöllnitzberufen.Dorthabeichauch len Familien die Aufnahme ihres Kindes die Förderung von Betreuungsmöglich- Gerda Jun (*1935), Autorin des Buches in der „Gustav-Freytag-Straße“ verwehr- keiten für entwicklungsgestörte Kinder Kinder, die anders sind, kennengelernt. te. Der Name dieser Straße wurde zu ei- und ihre Familien bemühten. Ich denke nem Synonym für die Arbeit mit zerebral hier besonders an Werner Kressin in Ber- Abteilung für Entwicklungsfragen bewegungsgestörten Kindern in der ehe- lin-Buch, Brigitte Schwarzbach, die Phy- in Erfurt maligen DDR. Wie gern hätten wir auch siotherapeutin Frau Reuter in Leipzig, die schon für jüngere Kinder Möglichkeiten Kinderärzte Ingrid Weinke, Helmut Rau- Es war in den 1970er-Jahren, in denen der umfassenden Betreuung geboten. tenbach, den Neuropädiater Horst Todt die Eltern aktiv wurden und durch Ein- sowie Jochen Martin, Christina Gertler- gaben an Kreis-, Bezirks- und DDR- Betreuungsmöglichkeiten für Fiedler und weitere. Regierungsadressen Druck ausübten. entwicklungsgestörte Kinder Ein verzweifelter Unterbringungstou- und ihre Familien Subspezialisierung „Kinderneuro- rismus wurde immer deutlicher, der psychiatrie“ das Ministerium für Gesundheitswesen Aufbau und Förderung der DDR zwang, Tagesstätten und Pfle- Der Leiter der Sektion Kinderneuro- geheime statt geforderter Klinikbetten Bereits Mitte der 1950er-Jahre war eine psychiatrie an der Universität Rostock, auszubauen. All das führte Patzer dazu, Debatte zwischen dem Ministerium für Gerhard Göllnitz (1920–2003) hörte über eine ambulant arbeitende Einrich- Gesundheitswesen und dem Ministeri- den Begriff „Neuropädiatrie“ gar nicht tung nachzudenken, die er „Abteilung um für Volksbildung begonnen worden, so gern. Wohl auch deshalb nahm er für Entwicklungsfragen im Kindesalter“ die Entwicklung, Schulreife und Ver- Aktivitäten der AG Neuropädiatrie fast nannte, auch um politisierende und fehl- haltensauffälligkeit sowie die Bedeutung nicht zur Kenntnis, er blieb aber in deutende Diskussionen zu vermeiden. möglicher neurologischer Schädigung der Verbindung zu Patzer konziliant. Im Februar 1971 beauftragte er mich mit zum Thema hatte. Aufgrund dieser De- Göllnitz hatte gute Aufbau-, Koordina- der Konzeption einer solchen Institution batte und parallel zu den oben genannten tions- und Fortbildungsarbeit geleistet und ihrer Arbeitsweise. Sorgen entwickelte sich 10 Jahre später und hatte auf jeden Fall bessere Bezie- Zielvorgaben für die „Abteilung für die Idee eines Zentrums, das über die hungen zum Ministerium. Er konnte Entwicklungsfragen“ waren: bis dahin unterschiedlich ausgeprägten so, im Gegensatz zu Patzer „mit sei- 4 Fortfall der Beschränkung auf den „Dispensaire-Sprechstunden“ hinaus- ner Neuropädiatrie“, über eine Sektion Bereich der zerebralen Bewegungs- führen sollte. „Kinderneuropsychiatrie“ seiner Gesell- störungen, Mit unserer Art der Zuwendung zum schaft für Psychiatrie und Neurologie 4 möglichst zeitiger und enger Kontakt zerebral bewegungsgestörten Kind wa- der DDR eine Subspezialisierung „Kin- zur Familie des Kindes, ren wir nicht lange allein geblieben. Als derneuropsychiatrie“ durchsetzen, die 4 Zuwendungszeit für die Familie und Thüringer möchte ich an das traditions- neuropsychiatrische Fachärzte erwerben für eine größere Zahl von Familien reiche Marienstift Arnstadt, das orthopä- konnten. Dank Patzers Einsatz konnten gewinnen, disch geführte Haus am Seeberg in Go- Pädiater diese Subspezialisierung eben- 4 soziale Arbeit der Fürsorgerin be- tha, an die große stationäre Abteilung für falls erlangen, wenn auch mit wesentlich günstigen und fördern, Kinder mit Zerebralparese Egendorf bei höherem Zeitaufwand. 4 Einbeziehung von Forschung auf Weimar, an die orthopädische Abteilung Trotzdem gelang es uns, Mechthild medizin-technischem Gebiet, da- Eisenach und an die Krankenanstalten Haupt, Ingrid Müller und mir, in Erfurt mals Elektromyographie (EMG), SülzhaynimHarzerinnern.Anlaufpunk- endlich den Respekt und die offizielle Elektroenzephalographie (EEG) und te für betroffene Familien gab es auch Anerkennung als „Subspezialist Kinder- somatosensorisch-evozierte Poten- in den Bezirken Gera, Suhl, Chemnitz, neuropsychiatrie“ zu erhalten. Dies er- ziale (SSEP). damals Karl-Marx-Stadt, Halle, Leipzig, reichtenwirwohlauchdurchaktivesMit- Rostock, Greifswald, Görlitz, Magdeburg wirken an Fortbildungskursen, die von Im Jahr 1974 erfolgte die erste Publika- und Dresden. Gerhard Göllnitz und Ursula Kleinpeter tion in der Zeitschrift für Ärztliche Fort- Die von Erfurt aus organisierten jähr- (1929–2013), Professorin für Kinderneu- bildung im Gustav Fischer-Verlag, Jena, lichen Zusammenkünfte in der von Pat- ropsychiatrie an der Universität Rostock, unter dem Titel „Abteilung für Entwick- zer seit 1977 geleiteten Arbeitsgemein- geleitet wurden, und durch Mitarbeit am lungsfragen – Bericht zu einem Modell“. schaft „Neuropädiatrie“ der Gesellschaft von Rostock geführten Forschungspro- Im Jahr 1977 wurden erste Erfahrungen fürPädiatriederDDRfördertendenfach- jekt „Defektives Kind“ am 26. Septem- aus dieser Arbeit in der Zeitschrift Kin- lichen Austausch unter den rund 50 Mit- ber 1980. Mitte 1983 ließ mich Patzer an derärztliche Praxis zusammengefasst.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 71 Pädiatrie nach 1945

Letzteres klingt recht doktrinär, es ha- „normalen“ Kinderkrippe stärker zu In- ben aber nach meinem Erleben die El- tegration oder Inklusion in den Kreis tern auch ihre Sorgen und Freuden sowie entwicklungsgesunder Kinder beitragen Fragen an die Behandler aufgeschrieben, würde. und sie haben sich großenteils gern an- Im Jahr 1975 hatte der Mainzer Päd- hand der eigenen Aufzeichnungen in das iater Johannes Pechstein während sei- Gespräch eingebracht. ner Arbeit als Mitglied einer Kommis- Heute ist die Auffassung „Eltern als sion des Zweiten Deutschen Bildungs- Kotherapeuten“ nicht mehr in dem Maß rates der Bundesrepublik Deutschland wie in der zweiten Hälfte der 1980er- erstmals den Begriff „Sozialpädiatrisches Jahre vertreten. Vielmehr werden die El- Zentrum“ in einer Gutachtenmonogra- tern nun stärker als zu gewinnendes Ge- fie im Stuttgarter Klett-Verlag verwen- genüber in einer fürsorglichen Beratung det. Diesen Begriff aber konnten wir da- und Betreuung gesehen. Inzwischen gibt mals in die ehemalige DDR aus ideologi- es neue Diskussionen zu Formen der El- schen Herkunftsgründen nicht importie- ternmitarbeit auch in der Behandlung. ren, wie von verschiedener Seite deutlich Die „Mütterschulkurse“, 23 an der gemacht wurde. Aus der Erfurter Abtei- Zahl, waren eine Art von Gruppen- lung für Entwicklungsfragen ist später arbeit,dievieleElementederinder das Sozialpädiatrische Zentrum Erfurt DDR-Nomenklatur nichtvorkommen- hervorgegangen. Abb. 33 8 Anthropometrie, 1970er-Jahre. (© den Selbsthilfegruppen beinhaltete. Roland Eulitz, mit freundl. Genehmigung) Abteilung für Entwicklungspädia- Sondergruppen in Kinderkrippen trie in Cottbus Mütterschulkurse und Familienwo- chen bzw. -wochenenden UnmittelbarnachErscheineneiner„Ord- Als Parteiloser hatte ich, wie man mich nung zur Förderung geschädigter Säug- wissen ließ, zu dieser Zeit kaum Aus- Zur Unterstützung der Patientenfamilien linge und Kleinkinder in Krippen und sichten auf eine Hochschullaufbahn an wurden seit den 1970er-Jahren Mütter- Heimen“ vom 22. August 1975 (Ver- meinem bisherigen Arbeitsort. Nachdem schulkurse und Familienwochen bzw. fügungen und Mitteilungen des Mi- ich das Editorial „Entwicklungspädia- -wochenenden angeboten (. Abb. 33). nisteriums für Gesundheitswesen der trie“ des Schweizer Kinderarztes Remo Jens Dreger schrieb hierzu in seiner 1997 DDR Nr. 15/1975) wurden Lehrgänge H. Largo (*1943) in der Helvetica Pa- erschienenen Dissertation über sozial- für Krippenerzieherinnen zur Arbeit in ediatrica Acta von 1979 gelesen hatte, pädiatrische Zentren in Ost und West: „Sondergruppen von Kinderkrippen“ entschloss ich mich im „Weltjahr der Schon frühzeitig wurden in Erfurt (auch („100-Stunden-Programm“) begonnen, Behinderten“ 1981, einem Wunsch von im Schloss Sondershausen) Familienwo- die im Wesentlichen von einer Erfur- Anno Dittmer (1926–2003) entgegenzu- chenenden und Familienwochen durchge- ter Arbeitsgruppe unter der Leitung kommen.Erbotmiran,andervonihm führt und in Zusammenarbeit mit einer in der Kinderärztin Waltraud Hotze initi- geleiteten Kinderklinik des „Carl-Thiem- der Nähe gelegenen Rehabilitationsklinik iert wurden. Denn zumutbar war die Klinikum Cottbus“ eine „Abteilung für [gemeint ist die schon erwähnte Abteilung Aufnahme so kleiner Kinder in eine Entwicklungspädiatrie“ aufzubauen. Im Egendorf bei Weimar; Anm d. Verf.] wur- solche Sondergruppe nur, wenn dort Jahr 1982, also 22 Jahre vor dem Er- Ent- den in den 70er-Jahren Mütterschulkurse, qualifizierte kleinkindpädagogische und scheinen von Hans-Georg Schlacks wicklungspädiatrie diezuKeimenvonansonsteninderDDR -therapeutische Arbeit geleistet werden , begann diese, mei- ungern gesehenen Elterngruppen wur- konnte. nes Wissens erste in Deutschland so den, angeboten. Man war bestrebt, die Wir hatten zuvor in Diskussionen benannte Abteilung, ihre sozialpädia- Eltern ... in die Arbeit einzubeziehen. im Institut für Hygiene des Kindes- trische Arbeit nach weiterentwickeltem Dabei wurden diese anfangs, das ent- und Jugendalters Berlin unter Beteili- Erfurter Vorbild unter meiner Leitung. sprach den damals gültigen Standards gung von Anneliese Sälzler (1927–?), Etwas Mut brauchten wir schon, um im und war aus Gründen des Therapieman- Gerda Niebsch (*1933), Christa Grosch Bewusstsein des anfänglichen Risikos ei- gels angezeigt, als Co-Therapeuten und (1931–2011) und anderen, erreichen ner Ablehnung durch mittlere politische ,Trainer‘ (so Eulitz 1974 in seinem Be- können, dass der Gesetzgeber nicht auf und berufspolitische Funktionsträger richt zum Erfurter Modell) ihrer Kinder die Reihenfolge separater „Sonderkrip- diesen Weg zu nehmen. Wir fühlten geschult, der Therapieerfolg wurde in re- pen“ vor integrativen „Sondergruppen“ uns argwöhnisch beobachtet, auch vom gelmäßigen Wiedervorstellungen mit Hilfe setzte. Wir vertraten den Standpunkt, Ministerium für Gesundheitswesen der eines Hausaufgabenheftchens dokumen- dass die Unterbringung von Kindern DDR. Wiederholt wurden wir von dort tiert und kontrolliert. mit Entwicklungsauffälligkeiten in ei- durch Besuche geprüft, z. T. auch von ner besonderen Gruppe innerhalb einer höheren politischen Funktionsträgern

72 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 nen einen natürlich viel zu kleinen Teil der Weiterbildungszeit zum Facharzt für Kinderheilkunde erfochten, der den Weiterbildungsassistenten die Teilnah- me an den Sprechstunden der Abtei- Abb. 34 9 Ärz- lung für Entwicklungspädiatrie sicherte tefortbildung in . Abb. 34 der Abteilung Ent- ( ). Davon wurde dort vom Wei- wicklungspädiatrie terbildungsleiter, Anno Dittmer, bis 1990 der Kinderklinik dieAnnahmedesAntragsvonWeiter- im Carl-Thiem-Kli- bildungsassistenten zum Facharzt-Kol- nikum Cottbus, loquium Pädiatrie abhängig gemacht. 1980er-Jahre. (© Roland Eulitz, mit Wir meinten, dass diese Gelegenheit freundl. Genehmi- gegen Ende des Werdens zum Kinder- gung) arzt liegen sollte, weil hier vieles unter anderem Blickwinkel und in höherer ideologisch vereinnahmend gelobt. Dies einerInstitutionalisierungderSozialpäd- Sehschärfe wiedergesehen wird, dem kam besonders vor, wenn ausländische iatrie mit entsprechender Abteilung be- der werdende Kinderarzt bereits wäh- Gäste des SED-Parteitags aus Berlin standen hatten. Diese seien aber aus „ihr rend stationärer und ambulanter Arbeit angekündigt wurden – da spürten wir noch immer unerfindlichen Gründen“, begegnet ist. Besonders in diesem Stadi- deutlich die Ambivalenz der Haltungen. wie sie mitteilte, „nach Einfluss von hö- um des Kinderarztwerdens beginnt für Ironisch wurde in Kinderärztliche heren Stellen“ auf Funktionen des Kli- Entwicklungsfragen eine Faszination, Praxis (Heft 10/1983) vom damaligen nikleiters als Projekte plötzlich passé ge- die sich an den weitergeben lässt, der all- Vorsitzenden der Gesellschaft für Pädia- wesen. gemeine Pädiatrie gelernt hat. Wir sind trie der DDR, Klaus Jährig (1935–2011), Christa Groschs Bemühungen, prä- froh, dass die Weiterbildungsordnung unser Bemühen als „nunmehr auch ventive Aufgaben, die mehr und mehr nunmehr, in welcher Weise auch immer, am Baume der Kinderheilkunde aufge- Eingang fanden in die Pädiatrie, auch solchen Anspruch offiziell ausfüllen soll, brochene ...Blüte einer ,Entwicklungs- in einer Arbeitsgruppe „Sozialpädiatrie“ und hoffen, dass dazu auch sozialpädia- pädiatrie‘“ im Sinne einer Tautologie mit der klinischen Arbeit zu verbinden, trische Zentren beitragen werden. Diese kommentiert und in ihrem Anliegen blieben erfolglos in der DDR, wie sie Abteilung für Entwicklungspädiatrie missverstanden. Man unterstellte uns mir in einem Briefwechsel schrieb. Hier- im Land Brandenburg wurde seit nun die Etablierung eines Konkurrenzun- in hätte auch die Arbeitsgemeinschaft 25 Jahren als Sozialpädiatrisches Zen- ternehmens zur Kinderneuropsychiatrie „Morbidität und Mortalität“ unter Kurt trum Cottbus bis heute weitergeführt. sowie zu den Abteilungen Kinder- und Lorenz (1919–2009), Dresden, aufgehen Jugendgesundheitsschutz. Eine Erwi- können. Resümee derung darauf von Patzer wurde im Bis zu meinem Weggang aus der gleichen Heft von Kinderärztliche Pra- Lausitz 1990 waren die uns möglichen Im jetzt 26. Jahr nach der deutschen xis abgedruckt. Aus Stellungnahmen Grundsätze in der Betreuung von etwa Vereinigung lese ich noch einmal Chris- von Dittmer und Eulitz glaubte der 2500 Kindern mit Entwicklungsproble- toph Dieckmann (Jg. 1956, Filmvorfüh- Autor, eine von einer Abteilung „Ent- men und ihren Familien stabilisiert. rer, Studium der Theologie, seit 1991 Re- wicklungspädiatrie“ ausgehende Gefahr Nachsorge für junge Kinder mit ver- dakteur der Wochenzeitschrift Die Zeit), für die Kinderheilkunde zu erkennen. mehrten perinatalen Belastungen aus der in seinem Erzählband Die Liebe in Als „Deus ex machina“ für die Kin- der Region, Familienbetreuung in der der Zeit des Landfilms schreibt: derheilkunde bezeichnet, befanden wir Adoptionsvorbereitung, Fortbildung für War der Osten wirklich so, wie Sie erzäh- uns damals in einer für erweiterte Neu- Kinderärzte, Krippenerzieherinnen und len? fragen Westler manchmal, und Ost- orientierungen und Ideen in der DDR Kindergärtnerinnen gehörten dazu. Wir ler: Wie kannst Du Dir bloß alles merken? misstrauischen und für Inauguratio- erkannten, dass sich viele Symptome – Alles nicht, nur manches. Viel mehr ging nen problematischen Zeit. Das blieb mancher Entwicklungsabweichung un- verloren – immer das Wichtige, rings- uns über die Jahre des Wirkens dieser, ter guten Bedingungen für das Kind und um Anerkannte . . . [Erinnerung] bleibt vonbetroffenenFamiliengesuchtenund für die Familie spontan normalisierten. ein Magazin des Sentiments. ... Wer ihre regelmäßig besuchten Abteilung „Ent- Undesbleibtdabei,dasswiresnichtal- Auswahl achtet, dem dient die Erinne- wicklungspädiatrie“ bewusst, wäre aber lein unserem therapeutischen Bemühen rung als getreue Archivarin höchsteigener nie Grund zum Aufgeben gewesen. zuschreiben dürfen, wenn wir solches Vergangenheit. . . . Erinnerung ist weder Erst 20 Jahre nach der Wende erfuhr erfreut beobachten. praktisch noch komplett, nur wahr. Ver- ich von einer Berliner Kollegin, dass ge- Vor einem Vierteljahrhundert (1984/ allgemeinert, in Ämter gezerrt, aufgeputzt nau zu dieser Zeit um 1980 an einer 1985) haben wir in der Kinderklinik als Zeitgeist oder Theorie, verliert sie ihre großen Berliner Kinderklinik Pläne zu Cottbus in sehr intensiven Diskussio-

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 73 Pädiatrie nach 1945

Wahrheit: die Einzelexistenz des Men- schen, seine Bindung an die ungewählte Zeit.

Ich habe etwas ausgewählt aus dem erlebten Weg der Sozialpädiatrie in der ehemaligen DDR, weil auch solches in der Geschichtsschreibung nicht verges- senwerdensollte.

Korrespondenzadresse

PD Dr. R. Eulitz Kefferhäuser Str. 47, 37351 Dingelstädt, Deutschland [email protected]

Roland Eulitz, PD Dr. med habil., geb. 1937 in Gera, Thüringen; 1957–1963 Studium der Humanmedi- zin an der Universität Leipzig und der Medizinischen Akademie Erfurt; 1969 Promotion und Facharzt für Pädiatrie; 1988 Habilitation; 1991 Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie; 1963–1982 tätig an der Medizinischen Akademie Erfurt, zuletzt als Oberarzt; 1982–1991 Oberarzt an der Kinderklinik des Carl-Thiem-Klinikums Cottbus; 1991–2002 Auf- bau und Chefarzt des „Kinderzentrum im Eichsfeld – Sozialpädiatrisches Zentrum Reifenstein“

74 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Pädiatrie nach 1945

Ernst Fukala · Barbara Meißner Konfessionelle Kinderkliniken in der DDR

Sonderfall Sowjetische Dadurch sind in Ostdeutschland kirch- Republik 75 kirchliche Krankenhäuser Besatzungszone und DDR liche Rechtsträger Eigentümer von Klös- aus.8 Die kirchlichen Krankenhäuser tern, Krankenhäusern und verschiede- verfügten über insgesamt 11.076 Betten In der Sowjetunion und in den unter nen Sozialeinrichtungen geblieben.4 (ca. 6000 im evangelischen Diakoni- ihrer Hegemonie stehenden Staaten Eu- Es mag eine Rolle gespielt haben, dass schen Werk und 5000 im katholischen ropasgabesbisaufeineAusnahmekei- Christen im Widerstand gegen die fa- Deutschen Caritasverband). Dies ent- ne kirchlichen Krankenhäuser. Nur in schistische Gewaltherrschaft gestanden sprach einem Anteil von 6,7 % an der Ostdeutschland blieben nach dem Zwei- haben. Willms5 hat darauf aufmerk- gesamten Bettenzahl in Ostdeutschland.9 ten Weltkrieg, 1945 in der Sowjetischen sam gemacht, dass auch diplomatische Insgesamt gab es 10 konfessionelle Kin- Besatzungszone (SBZ) und ab 1949 in Rücksichten auf die Kirchenpolitik der derkliniken (KK) in der DDR, davon 8 der DDR, konfessionelle Krankenhäuser DDR-Regierung Einfluss genommen in evangelischer und 2 in katholischer bestehen. Dieser historische Sonderfall haben könnten. Möglicherweise wollte Trägerschaft. 10 hat verschiedene Gründe: Unmittelbar mananderWestgrenzedesMoskauer nach dem Kriegsende hatte die Sowjeti- Machtbereichs und in der unmittel- Die konfessionellen Kinderklini- sche Militäradministration in Deutsch- baren Nachbarschaft aller Besatzungs- ken land (SMAD) „akzeptiert, dass die evan- mächte im geteilten Berlin unpopuläre gelische und katholische Kirche ... auch Maßnahmen wie eine Schließung der Evangelisches Kinderhospital, Alten- im sozialen Bereich tätig wurden“.1 In beliebten kirchlichen Krankenhäuser burg (Thüringen). Im Jahr 1886 gegrün- der Anfangszeit sollen sowjetische Orts- vermeiden. Er hebt auch hervor, „dass det. Nach 1946 Ausbau bis auf 115 Betten kommandanten sogar an Neugründun- das konsequente Eintreten der evange- mit Belegbetten für Chirurgie, HNO, Au- gen von Caritas-Krankenhäusern Inter- lischen und katholischen Bischöfe mit genheilkunde und Lungenkrankheiten. essegehabthaben.2 Als1945diestaatliche den entscheidenden Leitern von Cari- Im Jahr 1968 erfolgloser Versuch des „Volkssolidarität“ unter Mitwirkung der tas und Diakonie für eine möglichst Kreisarztes, Einweisungen zur statio- Kirchen für die Betreuung von Kriegsop- unabhängige und ausschließlich christ- nären Behandlung zu unterbinden. Ab fern gegründet wurde, bestand in einer lich orientierte Sozialarbeit eine größere 1976 pädiatrische Subspezialisierungen, Zeit allgemeiner Not keine Konkurrenz Rolle gespielt haben dürfte“.6 Ludwig Ambulanz und Neonatologie. Ab 1989 zu den kirchlichen Sozialwerken. Auch Mecklinger (1919–1994), Gesundheits- mit Kinderchirurgie und Frauenklinik setzte sich die Sozialistische Einheitspar- minister der DDR von 1971 bis 1989, erstes Kinderzentrum in Thüringen. tei Deutschlands (SED) auf ihrem Ver- schrieb in seinen Erinnerungen unter der einigungsparteitag 1946 für den Schutz Überschrift „Die Kirchen hatten ihren 7 Mecklinger L (1989): Zur Umsetzung der des kirchlichen Eigentums ein.3 In der Platz“: „Auch muß darauf hingewiesen Gesundheitspolitik im Gesundheits- und So- ersten Verfassung der DDR von 1949 werden, daß den Kirchen ... mit der zialwesen der DDR Teil 1: Einleitung, Gesund- heitspolitik, Gesundheitszustand, Leitung. In: wurden in Art. 45 „das Eigentum sowie Diakonie sowie dem Caritas-Verband Ewert G, Rohland L (Hg): Veröffentlichungen/ andereRechtederReligionsgemeinschaf- ein beachtliches Feld an medizinischer Interessengemeinschaft Medizin und Gesell- ten an ihren für ... Wohltätigkeitszwecke Arbeit überlassen war“.7 schafte. V.,Berlin,H.13,S.18–19. bestimmten Anstalten ... gewährleistet“. ImJahr1989wiesdasStatistischeJahr- 8 Statistisches Jahrbuch der Deutschen De- buch der Deutschen Demokratischen mokratischen Republik 1989, Berlin 1990, XXI. Gesundheits-undSozialwesen,S.321. 1 Wilhelm G (2004): Die Diktaturen und die 9 Spaar H (1999): Das Gesundheitswesen der evangelischeKirche,Göttingen,S.213. 4 DähnH(1993):DerWegderEvangelischenKir- DDR, Quellen, Entwicklungen und Wertungen. 2 Kösters C, Tischner W (2001): Caritas in che in derDDR – Betrachtung einerschwierigen In: Das Gesundheitswesen derDDR – Eine histo- der SBZ/DDR 1945–1989 – Ergebnisse der Gratwanderung. In: Dähn H (Hg): Die Rolle der rische Bilanz für zukünftige Gesundheitspolitik Diskussion.In:KöstersC(Hg):CaritasinSBZ/DDR Kirche in der DDR – Eine erste Bilanz, München, Ewert G, Rohland L (Hg):Veröffentlichungen/ 1945–1989,München,Wien,Zürich,S.237–250. S.7–20. Interessengemeinschaft Medizin und Gesell- 3 Heise J (1982): Die Politik der SED unter 5 Willms P (2001): Teilaspekte caritativen schaft e. V., Berlin, H. 23/24, S. 56; . Willms P Einbeziehung von Gläubigen in den Aufbau des Wirkens katholischer Krankenhäuser vor und (2001)[wieAnm.5]. Sozialismus und in den Kampf um den Frieden nach der Wende. In: Christoph Kösters (Hg.) 10 Meißner B (2007): Die besondere Situation (vonderGründungderDDRimOktober1949bis Caritas in der SBZ/DDR 1945–1998, Paderborn, konfessioneller Kinderkliniken in der Sowje- zur2.ParteikonferenzderSEDimJuli1952). München,Wien,Zürich,S.189–201. tischen Besatzungszone/DDR (1945–1989), Diss.A,Humboldt-UniversitätBerlin. 6 Ebd. Dissertation,Halle,Univ.,Med.Fak.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 75 Pädiatrie nach 1945

Abb. 35 8 Diakonisse und russisches Militärhospital, um 1980. (© Ernst Fu- kala, mit freundl. Genehmigung)

Abb. 36 8 St.-Barbara-Krankenhaus in Halle/Saale (1989). (© Ernst Fukala, mit freundl. Genehmigung)

Evangelisches Krankenhaus Lutherstift mung durch den Bezirksarzt konnte derorthopädie, Ambulanz. Schließung Frankfurt/Oder (Brandenburg). Im Jahr 1973 abgewehrt werden. Ab 1976 Ultra- 1994. 1891 allgemeines Krankenhaus, ab 1899 schalldiagnostik, 1977 Umwandlung der Kinderabteilung. Evakuierung im Zwei- chirurgischen Abteilung in die selbst- Kinderklink am St. Vincenz-Kranken- ten Weltkrieg. Besetzung durch die Rote ständige Kinderchirurgische Klinik, Kin- haus, Heilbad Heiligenstadt (Thürin- Armee, Militärhospital. Erweiterung bis deranästhesie, ab 1986 Kinderradiologie, gen). Im Jahr 1966 Gründung der Kin- auf 120 Betten 1946. Ungewöhnlich enge Grundstrukturen eines Sozialpädiatri- derabteilung mit 27 und später 35 Betten. Verzahnung mit der staatlichen Kinder- schen Zentrums (. Abb. 35). AllgemeinePädiatrie,Neonatologie,Am- klinik des Bezirkskrankenhauses durch bulanz, Pflege der Kinder aus Chirurgie, Raumvermietung, Ärzte, übergreifende Kinderabteilung im Diakonissenkran- Augenheilkunde und HNO. Funktionen und Dienste, spannungsrei- kenhaus Halle/Saale (Sachsen-Anhalt). ches „Frankfurter Modell“. Pädiatrische Im Jahr 1857 Gründung des Diako- Kinderklinik des Luise-Henrietten- Subspezialisierungen, Ambulanz, Neo- nissenhauses. Bau des Säuglingshei- Stiftes, Lehnin (Brandenburg). Im Jahr natologie,Genetik,Frauenmilchsammel- mes mit 50 Betten im Klinikkomplex 1945 Notkrankenhaus, hervorgegangen stelle. Einmalig die langjährige Personal- 1911. Beschlagnahme/Verpachtung von aus einem Kinderheim von 1911, mit union des Chefarztes der Kinderklinik 250 Betten 1945, Militärhospital der 52 Betten Versorgung von Flüchtlingen, des Lutherstiftes und der Kinderklinik sowjetischen Streitkräfte bis zu deren durch Tieffliegerangriffe verwundeten des Bezirkskrankenhauses durch Hein- Abzug 1991. Konfliktreiches, z. T. aber und an Tuberkulose erkrankten Kin- rich Brückner.11 Schließung 2003. auch rücksichtsvolles Zusammenleben dern aus Berlin-Wedding. Allgemeine in einer durch Mauer und Zaun getrenn- Pädiatrie, Langzeitaufnahme (Kur) von St.-Barbara-Krankenhaus Halle/Saale ten innerstädtischen Klinik (. Abb.36).12 Kindern mit bronchopulmonalen Er- (Sachsen-Anhalt). Im Jahr 1894 Grün- Allgemeine Pädiatrie, Ambulanz. Schlie- krankungen. Die Schließung der Am- dung eines Säuglingsheimes mit „Kin- ßung 1980. bulanz konnte 1972 durch energischen derarzt“. Im Jahr 1904 Neubau eines ProtestderOberinabgewehrtwerden.Ab modernen Kinderkrankenhauses mit Kinderklinik Martha-Maria, Halle/Saale 1980 Neuropsychiatrie, Pflege operierter 55 Betten, Lazarett im Ersten Weltkrieg. (Sachsen-Anhalt). Im Jahr 1947 Grün- Kinder. Schließung 1993. In der DDR Modernisierung, 75 Bet- dung der Kinderklinik mit 25, später ten, Neonatologie, pädiatrische Sub- 82 Betten. Allgemeinpädiatrie und Kin- Kinderklinik des Stiftes Betlehem, Lud- spezialisierungen, Kindernephrologie, wigslust (Mecklenburg-Vorpommern). Ambulanz. Der Versuch einer Umwid- Im Jahr 1851 Gründung eines Kinder- 12 Radbruch C, Koch E (2011): Die Besetzung hospitals mit 20 und später 60 Betten. durch die Sowjets. In: Von der Diakonissenan- 11 Brückner H (2008): Gewundene Pfade der stalt zum Diakoniewerk Halle. Biografie einer In der DDR Funktion eines Kreiskran- Hoffnung. 37 Jahre Kinderarzt- als Anwalt der kirchlichen Institution. Diakoniewerk Halle/ kenhauses. Kinderklinik mit 69 Betten, Schwächsten,Jacobsdorf. Saale,S.188–201. allgemeine Pädiatrie, pädiatrische Sub-

76 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 spezialisierungen, Bereich für entwick- geschule und ein Schwesterwohnheim Trägers. Durch das Verbot der Alliier- lungsgestörte Kinder, Chirurgie und übernommen wurde. ten hatten Diakonie und Caritas den HNO. Eine spätere Chefärztin gehörte eigenständigen Vereinsstatus verloren. zujenenStudenten,diewegenihrer Anfänge der kirchlichen Sie wurden darum organisatorisch an Mitgliedschaft in der evangelischen Stu- Kinderkrankenhäuser die Kirchen gebunden, womit sie un- dentengemeinde 1952 exmatrikuliert ter bischöflichem Schutz standen und wurden. Nach Protesten „durfte“ sie ein Die Geschichte der ostdeutschen KK Handlungsspielräume in ihren Sozial- Jahr später weiter studieren, versehen folgt in ihren Anfängen der Entwick- einrichtungen gewannen.14 Dazu gehör- mit der offiziellen Erwartung, „das in lung der stationären Kinderheilkunde in ten neben den Krankenhäusern u. a. sie gesetzte Vertrauen der Regierung zu Deutschland. Die ersten Hospitäler ent- Heime, Kindergärten und die Schulen rechtfertigen und ihr Studium in tiefem standen im 19. Jh., als die Sozialfürsorge für Krankenpflege. Die Verhandlungen Verantwortungsbewußtsein gegenüber weder als staatliche Aufgabe empfun- wurden auf zentraler Ebene von der der Deutschen Demokratischen Repu- den wurde noch institutionalisiert war. Diakonie und der Caritas beim Ministe- blik erfolgreich zu beenden“.13 Schlie- Im vorwiegend protestantischen Osten rium für Gesundheitswesen sowie beim ßung 2004. Deutschlands waren es besonders die Zentralvorstand der Gewerkschaft Ge- evangelischen Diakonissen, die die Not sundheitswesen geführt. Auf örtlicher Kinderklinik Anna-Hospital, Schwerin von kranken und verwaisten Kindern Ebene wurde die Außenvertretung durch (Mecklenburg-Vorpommern). Im Jahr erkannten und zur Tat schritten. Sie die Geschäftsführung wahrgenommen. 1866 Gründung mit 15 Betten, 1883 sammelten Geld, gründeten Vereine Neubau. Erstes Kinderkrankenhaus in und bauten die Vorläufer der heutigen Landkarte und Konfession Mecklenburg. Diakonisches Werk. Rönt- Kinderkliniken. genanlage 1899. Enteignung im Dritten Alle Kinderkrankenhäuser haben Die staatlichen Kinderkliniken standen Reich, 1945 abgewehrter Versuch der durch die Weltkriege schwer gelitten. flächendeckend in der DDR in jeder Überführung in staatliche Trägerschaft. Sie wurden bis zum Beginn des Zwei- Kreis- und Bezirksstadt. Die KK wa- In der DDR 125 Betten, allgemeine Päd- ten Weltkriegs ständig umgebaut, um ren dagegen unregelmäßig über das iatrie, pädiatrische Subspezialisierungen, sich dem wissenschaftlichen und tech- Staatsgebiet verteilt. Abgesehen von de- Zöliakiezentrum, Ambulanz. Erfolgrei- nischen Fortschritt anzupassen. Ihre ren Rarität ist dieser Tatbestand wohl che Verhinderung der Schließung, als Bettenzahl folgte den medizinischen auch dadurch zu erklären, dass die- 1980 das Bezirkskrankenhaus eine neue und demografischen Erfordernissen (In- sez.T.traditionsreichenKlinikennur Kinderklinik errichtete. Konflikt mit fektionskrankheiten und Geburtenzahl). dort überlebten bzw. gegründet wur- staatlichen Stellen, da anlässlich eines Auf die ostdeutschen KK kam ab 1945 als den, wo sie wirklich notwendig waren. Honecker-Besuchs keine Fahnen ge- „eigenes Aufgabengebiet“ der Kampf um Fünf der 10 KK wurden erst nach 1945 hisst wurden. Schließung unter heftigem das Fortbestehen in einem zunehmend eingerichtet, als besonders dringender Protest der Bevölkerung 1994. atheistischen, sozialistischen Land mit Bedarf bestand. Auch wenn der SED- staatlichem Gesundheitswesen hinzu. Staat den Kirchen feindlich oder kritisch Kinderabteilung des Paul-Gerhard-Stif- gegenüberstand, ließ er diese für die tes, Lutherstadt Wittenberg (Sachsen- Rahmenbedingungen Bevölkerung wichtigen Maßnahmen zu. Anhalt). Ab 1948 Kinderärztin, Kin- Die gleichen Gründe mögen erklären, derstation. In der DDR das größte Kirche und Staat waren in der DDR ge- dass sich die Hälfte der Kinderkliniken evangelische Krankenhaus. Funktion trennt. In ihrer Verfassung hat die DDR inBezirksstädtenbefundenhat,inHalle/ als Kreiskrankenhaus. Kinderabteilung den Kirchen formal die Eigenständigkeit Saale allein 3 Kinderkrankenhäuser ver- mit 58 Betten, allgemeine Pädiatrie, pä- zugestanden und bei innerkirchlichen schiedener Träger, und dass Großstädte diatrische Subspezialisierungen, Diabe- Entscheidungenzumeistauchanerkannt. wie Ostberlin, Dresden und Leipzig tologie. Neonatologie. Interdisziplinäre Andererseits hatte der SED-Staat das er- ausgespart blieben. kinderchirurgische Station, Ambulanz. klärte Ziel, die gesamte gesellschaftliche Nicht verwunderlich ist das Über- Der Umgang mit staatlichen Stellen war Entwicklung bis in die letzten Einzel- wiegen evangelischer Krankenhausträ- unkompliziert durch das international heiten zu planen und zu steuern. Da ger. Denn nach Gründung der DDR beachtete Lutherjahr 1983. Der Vorsit- auch die Gesundheits- und Sozialpo- bekanntensichvondennochfast90% zende des Staatsrates der DDR, Erich litik staatlich geplant wurde, bestand der Gläubigen nur 14,5 % der katholi- Honecker (1912–1994), verfügte den hier über Jahrzehnte hinweg ein Span- schen Kirche zugehörig. Dennoch gab Bau eines neuen Schwesternhauses, das nungsfeld, in dem die Kirchen mit ihren es in Halle zwischen dem katholischen kirchlichen Würdenträgern als Hotel Krankenhäusern ihre Rechte gegenüber diente und danach für die Krankenpfle- dem Staat verteidigen mussten. Hier- 14 Pilvousek J (2001): Strukturen und Alltag der bei bestand kein Unterschied zwischen Caritas in der DDR. In: Kösters C (Hg): Caritas in 13 Bahr J: Brief des Prorektors der Universität Kliniken für Kinder oder Erwachsene der SBZ/DDR 1945–1989, Paderborn, München, Rostockv.19.Juni1955. bzw. hinsichtlich der Konfession des Wien,Zürich,S.145–181.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 77 Pädiatrie nach 1945

in ein KK wechselten, verloren sie die Charakter und die Selbstständigkeit der vorteilhafte „Intelligenzrente“. Auch hier Einrichtungen berührt wurden.17 bedurfte es langen Streitens, um eine Eine weitere finanzielle Benachteili- Angleichung zu erreichen. Ähnliche gungbestanddarin,dassdieKKpraktisch Zurücksetzungen gab es bei der Fi- keine Zuweisung für Investitionen und nanzierung der Krankenhausleistungen. Reparaturkapazitäten aus dem Staats- Die KK erhielten nur Pflegekostensätze haushalt erhielten. Es gab so gut wie (1966/1967 um 10 Mark) bewilligt, die keine Bilanzanteile für medizinische Ge- auf den Kosten des Vorjahrs beruhten, räte, für Handwerker und Baumaterial, was zu einer chronischen Unterfinan- wodurch Instandhaltung, Modernisie- zierung führte. Es entstanden Defizite, rung und Spezialisierung der KK nahezu weil nur das belegte Bett bezahlt wurde, unmöglich wurden.18 Manche Häuser weshalb Bettenzahl, Schwestern- und waren über 100 Jahre alt, seit Kriegs- Arztstellen sehr hart kalkuliert wurden. beginn hatten keine Reparaturen mehr Man konnte sich leer stehende Betten stattgefunden, und der medizinische odergeschlossene Stationennichtleisten. Dauerbetrieb hatte die Substanz aufge- Ständiger Schwestern- und Ärztemangel zehrt. Um diesen Mangel wenigstens waren eine allgemeine Begleiterschei- teilweise zu beheben, wurde z. B. bei der nung des Berufslebens in den KK. Der Caritas in Berlin eine Beschaffungsstelle verantwortliche Arzt stand immer unter eingerichtet, die den Krankenhäusern dem Druck seiner Geschäftsführung, helfen konnte. Auch unterhielten größe- Abb. 37 8 Baustelle während des laufenden Betriebs in der Kinderklinik des St.-Barbara- alle Betten zu belegen. Da dies in der re Häuser ein Baubüro und einen festen Krankenhauses Halle/Saale (1984). (© Ernst Kinder- und Jugendmedizin aus hygie- Stamm von hochgeschätzten Haushand- Fukala, mit freundl. Genehmigung) nischen Gründen unmöglich ist, und werkern. Bei größeren Baumaßnahmen sich die Ärzte der Beachtung einer konnte eine „Feierabendbrigade“ an- St.-Barbara-Krankenhaus, den beiden fachlich klar begründeten Indikation gestellt werden, die täglich nach der evangelischen Kinderkliniken und den zur stationären Aufnahme eines Kindes regulären Arbeit von 16 bis 20 Uhr und staatlichen Kinderkrankenhäusern keine verpflichtet sahen, gab es innerbetrieb- am Sonnabend arbeitete. Die Bauarbei- ernsten Zwistigkeiten oder zerstören- lich einen unauflöslichen Dauerkonflikt ten haben den stationären Betrieb zwar de Konkurrenz. Man pflegte kollegiale zwischen ihnen und ihrer Verwaltung, erheblich gestört, waren zumeist aber Kontakte und arbeitete ökumenisch der ausgehalten werden musste.16 Die die einzige Möglichkeit, ein Kranken- komplikationslos an der gemeinsamen ärztliche Forderung, dass es aus fachspe- haus zu modernisieren (. Abb. 37). Erst Aufgabe. Zum atmosphärischen Hinter- zifischen Gründen in der allgemeinen in den 1970er-Jahren gab es ein aus grund dieser Zeit gehört, dass man durch Kinderheilkunde, anders als in anderen der Bundesrepublik finanziertes Valuta- den ständigen Druck der Staatsmacht Fachgebieten, für 70 %ige Bettenauslas- Sonderbauprogramm der Kirchen, mit zusammengeschweißt wurde und sich tung 100 % Geld geben müsste, blieb dem einige Krankenhäuser rekonstruiert die meisten Mitarbeiter der KK einig unter den damaligen Verhältnissen eine wurden. waren in ihrer ablehnenden Haltung Wunschvorstellung. Über viele Jahre war gegenüber dem gemeinsamen Gegner, die Erhaltung der KK vor diesem Hinter- Medizintechnik, Verbrauchsma- der in großen Teilen ungerechten und grund dauernd gefährdet, und erst 1977 terial und Medikamente heuchlerischen SED-Diktatur. kam es zur Bewilligung kostendecken- der Pflegesätze, ohne dass der kirchliche Die Versorgung mit moderner Medizin- Finanzierung und Bauen technik und Verbrauchsmaterial war in der DDR aufgrund technischer Rück- Nach 1945 wurde in kirchlichen und in ständigkeit und Devisenknappheit im- staatlichen Krankenhäusern das Gleiche 15 Höser W (1999): Die Finanzierung des dia- mer unzureichend. Man kann es viel- konischen Auftrags in der DDR – skizziert am verdient. Im Jahr 1967 gab es im staatli- leicht als einen ausgleichenden Gerech- Diakonischen Werk Thüringen. In: HübnerI, Kai- chen Bereich Lohnerhöhungen von 20 %, ser JC (Hg.): Diakonie im geteilten Deutschland tigkeitsakt der Geschichte ansehen, dass die den KK zunächst nicht zugestanden – Zur diakonischen Arbeit unter den Bedingun- wurden. Es bedurfte hartnäckiger Ver- gen der DDR und der Teilung Deutschlands, handlungen, bis die existenzbedrohende Stuttgart,S.117–130. 17 StolteD(2001):VerhandlungenundRegelun- Schlechterstellung durch eine Vergü- 16 FukalaE(1994):90JahreSt.Barbara-Kranken- gen für die kirchlich-caritativen Einrichtungen im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens. tungsregelung ausgeglichen wurde.15 hausinHalle/Saale–100JahreKinderheilkunde mit den Grauen Schwestern v. d. hl. Elisabeth. In:ChristophKösters(Hg.)CaritasinderSBZ/DDR Auch in der Altersversorgung wurden In: St. Barbara-Krankenhaus (Hg.): 90 Jahre St. 1945–1989, Paderborn, München, Wien, Zürich, Ärzte benachteiligt. Wenn sie aus ei- Barbara-Krankenhaus Halle/Saale 1904–1994, S.72–85. ner staatlichen Gesundheitseinrichtung Halle,S.11–42. 18 WillmsP(2001)[wieAnm.5].

78 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Kinderkrankenschwestern und ihre Ausbildung

In den 2 Nachkriegsjahrzehnten gab es in den KK noch viele Diakonissen und Ordensschwestern. Sie hatten das Krankenhaus durch den Krieg gebracht und bildeten mit den Schülerinnen der häufig angegliederten Kinderkranken- Abb. 38 9 Stations- pflegeschule das unverzichtbare pflege- fasching in der Kin- derklinikdesSt.-Bar- rische Fundament. Sie hielten das Haus bara-Krankenhau- rein und lebten die Tradition der sich ses, 1977. (© Ernst aufopfernden Krankenpflege noch, denn Fukala, mit freundl. sie wohnten im Hause und waren immer Genehmigung) verfügbar(. Abb.38).Esherrschtenklare Hierarchien, Autorität war unantastbar, die KKüberdie Diakonie oderCaritasdie land schon längst die Einwegmaterialien alle Schwestern waren unter der Haube, Möglichkeit hatten, als „Geschenk-Im- durchgesetzt hatten. In dieser Situation die jahrgangsältere Schülerin herrschte port“ mit staatlicher Genehmigung mo- hat sich das viel zitierte Improvisations- über die jüngere. Dabei wurde kaum derne Instrumente und Geräte zu erhal- vermögen der DDR-Medizin entwickelt, wahrgenommen, dass zu viele beharren- ten. Die Ärzte sahen sich, da die aller- allerdings aus einer Not geboren, die de Elemente dem Zug der Zeit entge- meisten von ihnen nicht in das kapi- auch zum Schaden der Patienten werden genliefen. Das hat sich in den folgenden talistische Ausland fahren durften, auf konnte. Wofasept war das Desinfektions- Jahren besonders im Osten Deutsch- der Leipziger Messe die neuesten Geräte mittel, nach dem alle Krankenhäuser in lands gründlich gewandelt, durch die an, und man konnte einigermaßen si- der DDR „geduftet“ haben. War es nicht Gleichberechtigung der Frau, durch die cher sein, dass in 1–2 Jahren z. B. eine lieferbar, fuhr die Oberin mit 2 Päckchen Entchristlichung der Gesellschaft und neue Röntgenanlage geliefert wurde. Auf Westkaffee in das Werk nach Wolfen und die Sozialgesetzgebung. Die Diakonissen diesem Weg sind Ultraschallgeräte, Inku- kam mit einigen Wofasept-Kanistern im hatten Nachwuchssorgen, und eine Or- batoren, Überwachungsmonitore, Beat- Kofferraum zurück. densoberin sprach ganz nüchtern vom mungs- und Narkosegeräte, OP-Instru- Die Versorgung mit Medikamen- beginnenden Aussterben ihrer Kongre- mente, Endoskope u. v. a. mehr einge- ten war in der DDR ausreichend und gation. Unter jungen Frauen war der führtworden.DiesefürDDR-Verhältnis- streng geregelt. Arzneimittel über kirch- Beruf der Krankenschwester unattrak- se märchenhafte technische Ausrüstung, liche Wege zu beziehen, war i. Allg. tiv geworden, besonders aufgrund der die dennoch immer hinter den Erwar- nicht notwendig und wäre auch nicht Schichtarbeit und der, verglichen mit tungenengagierterÄrztezurückblieb,hat möglich gewesen. Spezielle Pharmaka einem Arbeitsplatz in der Produkti- zweifellos mit zur Attraktivität der KK wareninderNomenklaturCdesArz- on, schlechten Bezahlung (400 Mark). beigetragen.Nachdenkliche Kollegenha- neimittelverzeichnisses hervorgehoben, Konfessionelle Krankenhäuser bezahlten ben diese „Geschenke des Himmels“ als konnten nur von benannten Spezia- auch keine Prämien am „Tagdes Gesund- unverdientenVorteilempfunden,aberal- listen verordnet werden und wurden heitswesens“ und konnten, da sie vom le haben sie zum Nutzen ihrer Patienten von der Bezirksapotheke geliefert. Auch Staat kein Wohnraumkontingent beka- und Kollegen eingesetzt. Das St.-Barba- wurde im klinischen Alltag streng auf men, dieses beliebte Personallockmittel ra-Krankenhausz. B.verfügteschon1976 eine rationelle und rationale Therapie nicht einsetzen. Ende der 1960er-Jah- über das erste Ultraschallgerät in Halle, geachtet. Zur Not rief der Bezirksapo- re herrschte ein Schwesternmangel, der an dem auch die Universitätskollegen die theker in der Regierungsapotheke an, sich erst nach dem Inkrafttreten der Ver- neue Ultraschalldiagnostikerlerntenund und am nächsten Morgen konnte ein gütungsregelung und unter sehr hoher ihre Patienten untersuchten. Bote beim Schaffner des D-Zugs aus Ber- Beanspruchung der Schülerinnen und Medizinisches Verbrauchsmaterial lin ein kostbares Päckchen in Empfang Schwestern allmählich besserte. Nach wie z. B. Spritzen und Verbandsmaterial nehmen. Nach der Wiedervereinigung und nach wurden immer mehr „freie konnte nicht über kirchliche Stellen im- Deutschlands haben wir erfahren, dass Schwestern“ eingestellt, von denen kein portiert werden, und die KK befanden in solchen Fällen ein -Mitarbeiter christliches Bekenntnis erwartet wurde, sich mit allen anderen Krankenhäusern nach Westberlin geschickt worden war, wohl aber die aktive Unterstützung des permanent in der für die DDR typi- um das Medikament in einer Apotheke kirchlichen Auftrags der Krankenhäuser. schen Mangelsituation. Die Schwestern zu kaufen. An 5 KK wurden Kinderkrankenschwes- haben noch immer Tupfer gedreht, Zell- tern ausgebildet, in Halle am Diakonis- stoff geschnitten, Spritzen ausgekocht sen- und am St.-Barbara-Krankenhaus, und Kanülen geschärft, als sich im Aus- in Lehnin, Ludwigslust und Schwerin.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 79 Pädiatrie nach 1945

Insgesamt gab es 80 Ausbildungsplät- Verbindung zum staatlichen Halle gebracht wurden. Die schlichte ze; das St.-Barbara-Krankenhaus war Gesundheitswesen, Profilierung Menschlichkeit war wichtiger als die die einzige katholische Schule für Kin- und Ambulanz innere Ablehnung der Besatzungsmacht. derkrankenschwestern. Alle Schulen Vier der zehn bei der Wiederverei- bekamen wegen des Bildungsmonopols Im staatlichen Gesundheits- und So- nigung Deutschlands bestehenden KK des SED-Staats Schwierigkeiten. In Halle zialwesen arbeiteten die kirchlichen wurden in der SBZ bzw. in der DDR er- sollte beispielsweise 1949 eine Kranken- Krankenhäuser und Sozialeinrichtun- richtet; in Altenburg wurde hierfür sogar schwesternschule schließen, und in den gen einerseits in einem Zustand der eine staatliche Kinderklinik geschlossen. 1950er-Jahren sollte Krankenschwestern Duldung, andererseits war der Staat auf WiedieSpezialisierungeninfastallenKK in staatlichen Kliniken gekündigt wer- sie angewiesen. In der Praxis hat sich belegen, haben sich die Staatsideologen den, wenn sie eine kirchliche Ausbildung auf örtlicher Ebene ein vielfältiges Mit- nicht immer gegen lösungsorientierte abgeschlossen hatten. Bis 1973 konnte einander entwickelt. Die systematische Funktionäre durchsetzen können. So jedoch an allen alten Schwesternschulen Verzahnung eines KK mit einer staat- ist im St.-Barbara-Krankenhaus 1977 ein staatlich anerkannter Facharbeiterab- lichen Kinderklinik, wie in Frankfurt/ eine allgemein-chirurgische Abteilung schluss erworben werden. Danach wurde Oder durch den gleichen Chefarzt, stellt in eine Klinik für Kinderchirurgie um- die Berufsausbildung mittlerer medizi- eine Ausnahme dar. Andernorts, wie gewandelt worden und eine neona- nischer Fachkräfte in der DDR auf eine z. B. in Halle/Saale, war das St.-Bar- tologische Intensivtherapiestation der Fachschulausbildung angehoben, was bara-Krankenhaus in den städtischen höchsten Versorgungsstufe D (Rahmen- das Ende der klassischen Ausbildung in Aufnahmedienst (ein Wochentag) und Krankenhausordnung20)mithochspe- den KK bedeutet hätte. In Verhandlun- in den Frühgeborenen-Holdienst des zialisierter Behandlung und Nachsorge gen mit dem Gesundheitsministerium Bezirks eingebunden, der Chefarzt war entstanden. Die Grundstrukturen eines erreichte man 1975 einen tragfähigen Mitglied der Kommission zur Senkung Sozialpädiatrischen Zentrums, das es in Kompromiss. Die KK stellten ihre selbst der Säuglings- und Kindersterblichkeit der DDR nicht gab, wurden geschaffen. ausgewählten Schulabgänger für ein ein- beim Kreisarzt (amtliche Qualitätskon- Jedem staatlichen Krankenhaus in der jähriges Pflegepraktikum ein, dem sich trolle), und mehrere Ärzte versorgten im DDR war eine Poliklinik oder ein Ambu- ein 3-jähriges Fernstudium an einer Rahmen einer „Zusatzstelle“ (genehmi- latorium angeschlossen; es bestand die staatlichen Medizinischen Fachschule gungspflichtig, Freizeit) eine staatliche Einheit von stationärer und ambulanter anschloss. Dabei fanden der praktische Kinderkrippe oder Mütterberatung. Die medizinischer Betreuung. Von dieser und der theoretische Unterricht im KK Kinderärzte der verschiedenen Einrich- sinnvollen Zusammenlegung waren KK mit dessen Lehrkräften statt. Nur das tungen kannten sich und halfen sich zunächst ausgeschlossen, bis der Staat Fach Marxismus-Leninismus („ML“) z. T. wochenlang gegenseitig in Notlagen 1971 die Einrichtung von Fachambu- wurde an der Fachschule unterrich- (Krankheit, Einberufung des einzigen lanzen genehmigte. Die Mehrzahl der tet, die auch die Fachschulanerkennung Anästhesisten zur Nationalen Volksar- KK bot Dispensaire-Sprechstunden an, aussprach. Diese pragmatische Lösung mee, Grippeepidemie) in einem kollegia- in denen pädiatrische Subspezialisten war für den Staat vorteilhaft und er- len Klima, in dem es keine Gebührenord- Kinder mit seltenen und chronischen hielt den Kirchen die Möglichkeit, junge nung gab und nur fachliche Konkurrenz Erkrankungen versorgten. Menschen zu christlich geprägten Pfle- herrschte.19 Viele leitende Ärzte der gekräften auszubilden. Wie die meisten KK haben im Rahmen ihrer Möglich- Alltag und Versuch einer Bilanz Schüler und Studenten der DDR sa- keiten auch wissenschaftlich gearbeitet, hen die kirchlichen Absolventen den waren in den wissenschaftlichen Gesell- Die ärztliche Arbeit in der Klinik war Unterricht in „ML“ als entbehrlich an, schaften, auf Kongressen und Weiterbil- eine Konstante im Berufsleben; die äuße- konnten dem Pflichtfach aber nicht aus dungsveranstaltungen aktiv und nutzten ren Umstände waren oft ein Abenteuer. dem Weg gehen. In der Praxis kam es bei Spezialkenntnisse zur Profilierung ihrer Neben dem gewohnten klinischen Alltag offiziellen Anlässen der Fachschule al- Klinik. In allen KK konnten Kinderärzte des Arztes, z. B. dem unangemeldeten lerdings zu skurrilen Situationen: Wenn weitergebildet werden. Da eine Einheits- Zugang eines schwer kranken Kindes, der Fachschuldirektor in seiner Rede krankenversicherung bestand, war die gab es immer wieder entbehrliche Über- Lenin zitierte, reagierte der kirchliche Krankenhausaufnahme unbürokratisch raschungen, wie Lieferschwierigkeiten, Vertreter mit Papst- oder Bibelzitaten. und unabhängig von der Konfession. Personalmangel oder einen Wasserrohr- Die Ausbildung in einem KK dauerte Eine eigene und liebevoll betreute Kli- bruch. Weil es sie im Handel nicht gab, zwar 4 Jahre, hatte jedoch einen starken entel waren die Kinder der Offiziere wurden für die Kinderkliniken Bananen Praxisbezug und deshalb einen guten der sowjetischen Streitkräfte, die z. B. Ruf. gern in das St.-Barbara-Krankenhaus in 20 Anordnung über die Rahmen-Krankenhaus- ordnung vom 14. November 1979. Gesetzblatt 19 Fukala E: (1994): Konkurrenz, Kollegialität der Deutschen Demokratischen Republik, Ber- und Kinderheilkunde. In: der Kinderarzt (1994) lin, 15. Februar 1980, Sonderdruck Nr. 1032, 25:797–798. C8.

80 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 aus dem Zoo und Kalbfleisch aus einem schaft mit Innovationsbehinderung und Ausländern vorbehaltenen Interhotel wissenschaftlicher Isolation ausgesetzt.23 abgezweigt. Ein widersinniger Zustand Von einem Idealzustand waren die KK war das Abgeschnittensein von westdeut- in der DDR weit entfernt, das Wirken scher und internationaler Fachliteratur der Kinderheilkunde war jedoch bes- und Kongressbesuchen im kapitalisti- ser als der Staat, der ihr vom Lauf der schen Ausland.21 So kamen medizinische Geschichte zugedacht worden war.24 Fortschritte immer erst mit deutlicher Bei der deutschen Wiedervereinigung Verspätung in die DDR-Kinderheilkun- 1990 brachten die KK ein widersprüchli- de. Der Patenonkel aus Westdeutschland ches Erbe in die alte Bundesrepublik ein. schickte das neueste Lehrbuch gemein- Die Kinderärzte und -schwestern waren sam mit Blutzuckerpipetten und der zwar gut ausgebildet und arbeitsbereit, Westfreund fadendünne Silikonschläu- ihre Krankenhäuser aber schlecht einge- che für die Infusion bei Frühgeborenen. richtet, viel zu klein und oft fast baufällig. Dennoch funktionierte der Betrieb, und Alle mussten sich auf die für sie neuen die KK hatten in der Bevölkerung einen Rahmenbedingungenumstellenund,um geradezu unerklärlich guten Ruf. Er war weiterbestehen zu können, rekonstruiert sicher auf gute Arbeit zurückzuführen, oder neu gebaut werden. Das ist nicht beruhte aber z. T. auch auf ihrer Son- immer gelungen, bis 2015 sind 6 KK ge- derstellung im Gesundheitswesen. Auf schlossen worden. Es arbeiten noch die WunschderEltern,wasaberseltenvor- KK in Altenburg, St. Barbara in Halle/ kam,warfürdieSeelsorgeeinPfarrer Saale, Heilbad Heiligenstadt und Luther- vor Ort, und in den Krankenzimmern stadt Wittenberg. hing selbstverständlich ein Kruzifix. Für die öffentliche Wahrnehmung der Kir- Korrespondenzadresse chen in der DDR waren die kirchlichen Dr.E.Fukala Krankenhäuser und auch die Tracht von Diakonissen und Nonnen mindestens Dohlenweg 4, 06110 Halle/Saale, Deutschland [email protected] so wichtig wie die Gotteshäuser. Für den Staat waren die KK nützlich Ernst Fukala, Dr. med.; geb. 1939 in Mährisch-Ostrau, und notwendig, denn sie waren stabile 1945 Vertreibung, aufgewachsen in Salzwedel und Leistungsträger mit besonders motivier- Sangerhausen, 1957–1963 Medizinstudium an tenMitarbeiterinnenund Mitarbeitern.22 der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Assistenzarzt an der Uni-Kinderklinik Halle/Saale, Sie teilten mit allen Kliniken die posi- 1976–2003 Chefarzt der Kinderklinik des St. Barbara- tiven Seiten des Gesundheitsschutzes, Krankenhauses Halle/Saale. Forscht und schreibt zu wie Flächendeckung, Prophylaxeorien- Themen aus der Kinder- und Jugendmedizin, Me- dizingeschichte, Ethik und Wandern. Mitglied der tierung sowie Einheit von stationärer Historischen Kommission der DGKJ. und ambulanter Behandlung. Sie waren aber auch der allgemeinen Mangelwirt- Barbara Meißner, Dr. med.; Studium der Medizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1988–1996, Stipendiatin der Studienstiftung Cusa- nuswerk, Assistenzarztausbildung an der Klinik und 21 Fukala E (1992a): Ambulant und stationär- Poliklinik für Pädiatrische Kardiologie an der Universi- Stege und Brücken über die Kluft. Die Situation tätsklinik Halle und an der Kinderklinik des Kranken- der Kinderheilkunde in den neuen Bundeslän- hauses St. Elisabeth- und St. Barbara in Halle/Saale, dern (Teil 1). In: der Kinderarzt 23: 301–303; Facharztprüfung (Kinder- und Jugendmedizin), seit ders. (1992b): Ambulant und stationär-Stege 2004angestellteÄrztin,LeitungdesTeamsKinder-und und Brücken über die Kluft. Die Situation der Jugendgesundheit des Fachbereiches Gesundheit der Kinderheilkunde in den neuen Bundesländern Stadt Halle/Saale, 2007 Promotion zur Thematik der konfessionellenKinderklinikeninderDDR. (Teil2).In:derKinderarzt23:525–528. 22 Ernst AS (1997): Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945–1961, 23 Fukala E (1994): Zur Situation der Kinder- Münster/New York/München/Berlin; Stolte heilkunde und der Kinderärzte in der DDR. D (2001): Verhandlungen und Regelungen Monatsschr Kinderheilkd (1994) 142 (Suppl 2) für die kirchlich-caritativen Einrichtungen im S. 3–8; ders.: Kinderkliniken in den Neuen Bun- Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens. In: desländern. In: Kinder- und Jugendarzt (2000) Christoph Kösters (Hg.) Caritas in der SBZ/DDR 31:875–883. 1945–1989, Paderborn, München, Wien, Zürich, 24 Fukala E (1992a)[wie Anm. 20]; ders. (1992b) S.72–85. [wieAnm.20].

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 81 Pädiatrie nach 1945

Roland Wauer Entwicklung der Neonatologie an der Charité 1960–1990 und das DDR-Forschungsprojekt Perinatologie

Die Art. 35 und 38 der DDR-Verfassung 4 Zentralisierung der Risikogeburten Kinderklinik im Zweiten Weltkrieg zer- sowie die frühzeitige Gesetzgebung zum seit Mitte der 1970er-Jahre mit einem stört worden waren, konnte zwischen Mutter-undKinderschutzgestattetenzü- vorgeburtlichen Spezialtransport ins 1955 und 1957 unter Friedrich Hartmut gige Strukturoptimierungen im Gesund- Perinatalzentrum seit 1984/1985, Dost (1910–1985; Direktor der Universi- heitswesen. In den 1950er- und 1960er- 4 monatliche neonatologische Fort- tätskinderklinik (UKK) von 1951–1959) Jahren waren dies folgende Maßnahmen bildung für alle Ostberliner und einer der 3 im Krieg völlig zerstörten In- zur Senkung der Säuglings- und Kinder- Brandenburger Kinderkliniken, fektionspavillons zu einem 2-stöckigen sterblichkeit: 4 Tätigkeit des perinatologischen Säuglingshaus wiederaufgebaut werden. 1. Aufbau eines umfassenden Systems Forschungsprojektes, dessen Leitung In dessen unterem Stockwerk befanden der Schwangerenbetreuung, seit Gründung 1969 bis 1990 an der sich eine Säuglingsstation mit 36 Betten 2. Durchsetzung der Anstaltsgeburten, Ostberliner Charité angesiedelt war. und die Milchküche mit der Frauen- 3. Zentralisation der Entbindungen, milchsammelstelle. Die zweite Etage 4. Schaffung von Fachkommissionen Das Fachgebiet Neonatologie entstand beherbergte eine streng isolierte Sta- zur Bekämpfung der Mütter- und in den Jahren 1955 bis 1970 in den tion für Frühgeborene mit 24 Betten. Säuglingssterblichkeit mit detaillier- USA, Westeuropa und in beiden Teilen Oberärztin dieses Bereichs war seit 1959 ter Einzelfallanalyse von perinatalen Deutschlands. Drei wesentliche Gründe Ingeborg Rapoport (geb. 1912). Das Todesfällen, sind dafür zu nennen: Säuglingshaus bildete die Keimzelle der 5. Obduktionspflicht für alle Totgebore- 1. stagnierende Säuglingssterblich- Neonatologie in der Charité. Aus den nen und verstorbenen Säuglinge, keit (SST). Diese stieg in den Jah- dort in den 1960er-Jahren ausgebilde- 6. Orientierung auf den perinatologisch ren 1969/1970 in Ostberlin bzw. ten bzw. tätigen Kinderschwestern und tätigen Frauenarzt und auf die neo- 1969–1973 in Westberlin sogar wie- Kinderärzten gingen fast alle Mitarbei- natologische Subspezialisierung des der an (. Abb. 39), ter der späteren Abteilung Neonatologie Kinderarztes. 2. „Frühgeburt“ und „Asphyxie“ als hervor.3 Hauptursachen der SST in Deutsch- Bis 1970 lag die primäre Versorgung Für Ostberlin sind zusätzlich folgende land sowie der Neu- und Frühgeborenen in der Cha- Aktivitäten hervorzuheben1: 3. wissenschaftlicher Erkenntnisge- rité-Frauenklinik (UFK) in der Tuchols- winn, neu verfügbare Diagnose- ky-, Ziegel- und Monbijoustraße in den verfahren, Medizintechnik und Händen der dort tätigen Hebammen und Therapiemaßnahmen.2 Geburtshelfer. Kinderärzte wurden bei 1 WauerRR(2013):IngeRapoport–Nestorinder Problemen konsiliarisch hinzugezogen. deutschen Neonatologie: In Sitzungsberichte Neonatologie an der Charité Das änderte sich schrittweise, als mit der der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin 115; 37–59; ders. (2009): Die Entwicklung obligatorischen Tuberkuloseschutzimp- der Neonatologie als Teil der Perinatologie Institutionalisierung fung jedes Neugeborene dem Kinderarzt an der Universitätsfrauenklinik der Charité vorgestellt wurde. Frühgeborene und in Berlin-Mitte. In: David M, Ebert AD (Hg.): Schon Georg Bessau (1884–1944), Di- kranke Neugeborene wurden aus der Geschichte der Berliner Universitäts-Frauenkli- rektor der Charité-Kinderklinik von UFK in das Säuglingshaus der 1,5 km niken: Strukturen, Personen und Ereignisse in und außerhalb der Charité S. 88–130; ders. 1932 bis 1944, hatte in der Kinderklinik entfernten Kinderklinik transportiert. (2012): Säuglingssterblichkeit in Deutschland eine Frühgeborenenstation mit asepti- Nicht zuletzt die unzureichende Versor- und Berlin – Unterschiede in Ost und West. schen Bedingungen und Wärmebetten gung vor und während des Transports In: Proceedingband 2012-10 interdisziplinärer eingerichtet. Nachdem große Teile der SGA-Workshop.s.l;ders.(inVorbereitung):Säug- lings- und Kindersterblichkeit in Deutschland 3 WauerRR(2009)[wieAnm.1];GrauelL(2004): und Berlin. Unterschiede in Ost und West. In: 2 Wauer (2009) [wie Anm. 1]; ders. (2012) [wie Die Universitätskinderklinik an der Berliner Holzgreve A, von Cossel G (Hg.): 300 Jahre Anm. 1], ders. (2013) [wie Anm. 1]; ders. (in Charité. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 152, KrankenversorgunginBerlin. Vorbereitung)[wieAnm.1]. S.902–913.

82 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Der damals einflussreiche Helmut ‰ 35 Kraatz (1902–1983), Direktor der Uni- 30 versitätsfrauenklinik der Charité von 140 25 1951 bis 1970, begrüßte nach anfängli- 8 120 20 chem Widerstand Rapoports Vorschlag. SST Berlin West 15 Das Fernziel Rapoports, aus den neuen 100 SST Berlin Ost 10 Strukturen heraus ein modernes Mut- ter-und-Kind-Zentrum zu entwickeln, 80 5 SST Berlin West musste mit dem Umzug in den Neubau 60 SST Berlin Ost des Chirurgisch orientierten Zentrums SST Berlin (COZ) an der Luisenstraße 1982 aufge- 40 geben werden. Auch die Hoffnungen auf

Säuglingssterblichkeit 20 ein eigenes Gebäude für die Neonatolo- gie zerschlugen sich schon bald aufgrund 0 fehlender Baukapazität. Alternativ er- gab sich nur die invasive Variante, die Anzahl Verstorbene/1000 Lebendgeborene Abteilung Neonatologie in den beste- Jahrgang henden Räumlichkeiten der UFK und UKK zu gründen. Der dafür erforder- Abb. 39 8 Entwicklung der Säuglingssterblichkeit (SST) in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg liche Raumbedarf und Veränderungen in der Verantwortungsstruktur für die Neugeborenen riefen verständlicherwei- bedingte die hohe Frühgeborenensterb- 1. Prophylaxe, klinische Versorgung se zunächst erhebliche Widerstände der lichkeit von damals mehr als 20 %. sowie Organisation der Betreuung Kollegen der UFK hervor, auch seitens Im Perspektivplan der Charité für die von Früh- und Neugeborenen, der Parteigruppe der UFK. Trotz aller Jahre 1965–1970 wurden entsprechend 2. neonatologische Forschung, Schwierigkeiten9 wurde schließlich die denklinischenNotwendigkeiten,aktu- 3. studentische Lehre und Abteilung offiziell am 1. Februar 1970 ellen wissenschaftlichen Entwicklungen 4. Weiterbildung von Pädiatern im gegründet. und den eingetretenen Spezialisierungen Rahmen der Facharztausbildung und Vorstellungen zur Neuprofilierung der von Geburtshelfern. Aufbau Charité erarbeitet. Dieser Plan sah an der Kinderklinik 5 Extraordinariate, jedoch Gleichzeitig forderte sie einen „selb- Wie bereits von Kraatz empfohlen, wur- kein Extraordinariat „Neonatologie“ vor. ständigen Komplex Neonatologie“ auf den nach seiner Emeritierung im Bereich Dafür waren am Lehrstuhl für Geburts- dem Gelände der damaligen UFK, um derUFK3Lehrstühlemit3getrenn- hilfe und Gynäkologie 8 Extraordinariate den lebensgefährlichen Transport von ten Bereichen errichtet: 1. Klinik für geplant, davon einer für „geburtshilfliche Risikokindern vom Kreißsaal der UFK Geburtshilfe und Gynäkologie, Lehr- Pädiatrie“.4 Es kam anders. in die Kinderklinik zu vermeiden. Ra- stuhl Hans Igel (1918–2012) Leitung Im November 1968 legte Rapo- poports Konzept sah die Betreuung der 1970–1973; 2. Abteilung Neonatolo- port dem Ministerium für Hoch- und gesunden reifen Neugeborenen auf der gie, Lehrstuhl Ingeborg Rapoport, Lei- Fachschulwesen der DDR und der Wochenstation und die Errichtung eines tung 1970–1973, 3. Abteilung Poliklinik, „Kollegiumssitzung“5 der Charité eine Neubaus im Hof der UFK oder den Um- Klaus Tosetti (1916–2002), Lehrstuhl Konzeption über die „Realisierung einer bau des 3-stöckigen Ida-Simon-Hauses für ambulante Geburtshilfe und Gynä- Neonatologie an der Medizinischen Fa- vor. Hier sollten die Frühgeborenen- kologie unter besonderer Berücksich- kultät der Humboldt-Universität“ vor.6 station, die Station für pathologische tigung der sozialen Frauenheilkunde, Hauptziele des neuen Fachgebiets waren: Neugeborene, die Intensivtherapieein- Leitung 1970–1980. Somit schuf man heit sowie Labor- und Funktionsräume die Frühform eines Perinatalzentrums, für Mitarbeiter, Dokumentation, Lehre indemnachheutigerAuffassungnurdie und Forschung untergebracht werden. 4 David H (2004): ... es soll das Haus die Charité Außerdem wurden ein neonatologi- 8 Schneider N (2009): „Ist das Leben eines heissen...,Hamburg.S.656–661.Bd.2. scher Forschungsbereich und ein DDR- Frauenarztes sensationell?“ – eine kritische 5 Seit 1959 bestehender Arbeitsausschuss, weites perinatologisches Forschungspro- Würdigung des Frauenarztes, Hochschullehrers gebildet zur Entlastung der Medizinischen jekt geplant und schrittweise realisiert und Gesundheitspolitikers Prof. Dr. Helmut Fakultät; Mitglieder: Dekan, Prodekan, bei- Kraatz (1902–1983) auf der Grundlage seiner . Abb. 40 7 de Prüfungsvorsitzende, ärztlicher Direktor, ( ). Autobiographie; Diss. med. Berlin, .http://www. Verwaltungsleiter, SED Parteisekretär, Gewerk- diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_ schaftsvertreter,vgl.DavidH(2004)[wieAnm.4]. 000000010942 6 WauerRR(2013)[wieAnm.1]. 7 Ebd. 9 WauerRR(2013)[wieAnm.1].

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Abb. 41 8 Abb. 40 8 Ingeborg Rapoport mit Forschungsstudenten, 1971. (© Roland Oberarzt Dr. Roland Wauer bei einer Blutaustauschtransfusion Wauer, mit freundl. Genehmigung) auf der Neointensivstation, Mitte der 1970er-Jahre. (© Roland Wauer, mit freundl. Genehmigung)

Kinderchirurgie fehlte. Die 3 Bereiche lung erweitert und schließlich zum For- es, die wesentlichen Voraussetzungen unterstanden einem Direktorium, die schungslabor der Kinderklinik wurde. für einen ITS-Betrieb durchzusetzen: Leitung sollte in einem gleitendenden In der UFK befanden sich der Ober- zentralisierte Versorgung mit Sauerstoff Modus zwischen den 3 Lehrstuhlinha- arztbereich I (Gmyrek) mit der Inten- und Pressluft, stabiler Dreischichtpfle- bern gehandhabt werden, was sich nicht sivtherapiestation (ITS; 6 Betten) und gedienst und qualifizierter ärztlicher bewährte. Ab 1973 wurde die Abteilung 2 Stationen für gesunde Neugeborene Bereitschaftsdienst, apparative Ausstat- Neonatologie wieder in die Kinderklinik (76 Betten). Ein Teil dieser Betten wurde tung mit Monitoren, Beatmungs- und eingegliedert.10 In der weiteren Ent- ab 1975 für die ITS-Nachsorgepatienten Wärmegeräten, Verfügbarkeit adäquater wicklung der Abteilung Neonatologie und für Risikoneugeborene genutzt. Die- Labor- und Röntgendiagnostik usw.13 sindmehreremarkantePeriodenzu se Umwandlung war dringend erforder- Für eine moderne wissenschaftlich unterscheiden. lich, weil ab 1974 die Zahl der Risikoge- orientierte Arbeit war ein neonatolo- burten an der UFK stark zunahm. Die gischer Forschungsbereich essenziell. Periode 1970–1982 Intensivtherapie wurde anfänglich von Neben systematischen klinischen Stu- demFrauenarztErnst-PeterIssel,ab1972 dien lagen die Schwerpunkte auf bio- Zunächst waren die Funktionseinheiten von Wauer aufgebaut. Der Oberarztbe- chemischem und atemphysiologischem der Neonatologie in der UKK, UFK und reich II (Grauel) befand sich in der UKK Gebiet. Die zentrale Fragestellung im im Institut für Biochemie untergebracht mit 27 Betten für Frühgeborene (Stati- Bereich Biochemie war die Hypoxie.14 – Ursache für eine sich daraus ergeben- on 4), Frühgeborenen-Dispensaire und Nach biochemischen Hypoxiekriteri- de konfliktreiche Leitungsstruktur des in 18BettenfürpathologischeNeugeborene en, die eine quantitative Aussage über der UFK neu geschaffenen Gebildes.11 (Station 5). Damit wurde die Neonatolo- das Ausmaß eines prä- und intranata- Die ärztliche Leitung der Abteilung Neo- gie mit 127 Betten zur größten Abteilung len Sauerstoffmangels geben konnten, natologie bildete dagegen ein seit der der UKK, auf die mit 83 ein Drittel der wurde vorwiegend an der roten Blut- Konzeptionsphase eng zusammenarbei- 255 Planstellen der UKK entfiel. Prinzi- zelle gesucht.15 Das Atemfunktionslabor tendes Team. Ihm gehörten neben Rapo- piell blieb diese Verteilung auf 2 Berei- bestand aus dem klinischen Bereich port die beiden Oberärzte Ernst-Ludwig che, die in verschiedenen, weit voneinan- für Lungenfunktionsuntersuchungen Grauel (1935–2005) und Dieter Gmy- derentferntenGebäudekomplexenlagen, bei Früh- und Neugeborenen sowie rek (geb. 1933) sowie ab 1974 Johann auch nach dem Einzug in den Charité- 12 Gross (geb. 1939) und Roland Wauer Neubau an der Philippstraße 1982. 13 WauerRR(2009)[wieAnm.1]. (geb. 1942) an. Gross leitete das bioche- Nach der Abteilungsgründung galt 14 Rapoport I (1997): Meine ersten drei Leben, mische Forschungslabor der Neonatolo- das Hauptaugenmerk dem Aufbau einer Berlin. gie, das später zu einer Forschungsabtei- funktionierenden ITS im sog. Rundbau 15 Gross J, Dirzus I (1989): Die Laborzentralisie- der Wochenstation I. Mit Beharrlichkeit rung und die entwicklung der Pathologischen und Improvisationsbereitschaft gelang und Klinischen Biochemie an der Charité. Z. med. Lab. diagn., Bd. 30, S. 83–89; Syllm- 10 Wauer (2009) [wie Anm. 1]; ders. (2012) [wie Rapoport I., Grauel L (1979): Aus der Ar- Anm. 1], ders. (2013) [wie Anm. 1]; ders. (in 12 Wauer (2009) [wie Anm. 1]; ders. (2012) [wie beit des Forschungsprojektes „Perinatologie“ Vorbereitung)[wieAnm.1]. Anm. 1], ders. (2013) [wie Anm. 1]; ders. (in der Deutschen Demokratischen Republik. Dt. 11 WauerRR(2009)[wieAnm.1]. Vorbereitung)[wieAnm.1]. Gesundheits.-Wesen34,S.1942–1947.

84 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 einem experimentellen Labor, in dem (Leitung Wauer) bestand aus der Neo 1 helfer, Neonatologen, Humangenetiker, MessgerätefürdieklinischenLungen- (Neugeborenen-IST)mit8bis10Plätzen. Kinderchirurgen, Kinderradiologen u. a. funktionsuntersuchungen entwickelt, Diese Station war in unmittelbarer räum- interdisziplinär zusammenarbeiteten.19 gebaut und validiert wurden. Geleitet licher Nähe zum vorgeburtlichen und In diese Periode fiel auch die „Öff- wurden die Bereiche gemeinsam von Kreißsaalbereich eingepasst. Beispielhaft nung“ der Neonatologie für Eltern. In ei- Wauer und Gerd Schmalisch. In diesem waren kürzeste Transportwege zu diag- nem langjährigen Überzeugungsprozess Bereich wurde auch neue neonatologi- nostischen Funktionseinheiten Röntgen, gelanges,dieBesuchszeitenzuliberalisie- sche Gerätetechnik begutachtet, da jedes MRT, CT (gleiche Ebene), zur interven- ren und die Hygienekleidung abzuschaf- neue Gerät für den klinischen Einsatz tionellen Therapie (Herzkatheter) und zu fen, aber andererseits die strikte Hände- in der Neonatologie in der DDR erst denüberderperinatologischenEbenelie- desinfektion durchzusetzen. nach umfangreicher Sicherheitsprüfung, genden OP.Zum Bereich II gehörte auch klinischer Testung und Beratung in der die Neo 3 im Bettenhochhaus mit 40 Forschungsprojekt „Perinatolo- Arbeitsgruppe „neonatologische Medi- bis 50 Betten für gesunde Neugeborene gie“ der DDR zintechnik“ (Leiter Wauer, . Abb. 41) – eine von der Frauenklinik unabhän- der Gesellschaft für Perinatale Medizin gige, interdisziplinär arbeitende Einheit Im Jahr 1968 begann das Ministerium für der DDR vom Minister für Gesundheits- mit eigenem neonatologischem Arzt und GesundheitswesenderDDRaufgrundei- wesen zum Import freigegeben wurde.16 Pflegepersonal. Der Bereich III (Leitung ner zentralen Vorgabe, Forschungspro- Grauel) umfasste die Frühgeborenensta- jekte (FP) zu bilden, die den wissen- Periode 1982–1990 tion 4 im Säuglingshaus der Kinderklinik schaftlichen Vorlauf für die Bekämpfung und die ambulante Frühgeborenennach- epidemiologisch wichtiger gesundheits- Mit dem Einzug in den Neubau des COZ sorge. politischer Probleme erarbeiten sollten. 1982 entstand eine völlig neue Quali- Mit dem Umzug wuchs die Bedeutung Frau Prof. Rapoport erhielt den Auftrag, tät der Neonatologie und klinischen der Neonatologie innerhalb der Charité- ein neonatologisches FP zu konzipieren. Perinatologie an der Charité. Die Unter- Kinderklinik weiter. Ein Drittel der Bet- Zur gleichen Zeit wurden 4 weitere pä- bringung fast aller damals verfügbaren ten gehörte zur Neonatologie, die Zahl diatrische FP gegründet: „Humangene- diagnostischen und therapeutischen der Ärztestellen erhöhte sich auf 10 bis tik“, „defektives Kind“, „menschliche Re- Möglichkeiten unter einem Dach schuf 12 und die der pflegerischen Mitarbei- produktion“und „Gesundheitsschutz des die Voraussetzung für eine bis dahin ter wuchs auf 90. Neonatologen wurden Kinds- und Jugendalters“.Vorgehenswei- nicht mögliche Interdisziplinarität. Sie auch immer stärker in die Pflichtlehre sen und Ziele der FP waren von der Pro- eröffnete sich besonders in der radiologi- einbezogen. jektleitung zu erarbeiten und dann dem schen und sonographischen Diagnostik, Wesentlich verbesserten sich die Ministerium vorzulegen.20 in der Konsiliartätigkeit und in der inter- räumlichen und die apparativen Be- Zielstellung des FP „Neonatologie“ ventionellen Therapie der Kinderchir- dingungen für die neonatologische Lun- (seit 1971 „Perinatologie“) war es, einen urgie, Kardiologie, Kardiochirurgie, der genfunktionsdiagnostik, dagegen ging Beitrag zur Senkung der perinatalen Hals-Nasen-Ohren(HNO)-Heilkunde, die biochemische Forschungsabteilung Mortalität und Morbidität zu leisten. der Neurochirurgie und der Augenheil- der Neonatologie in das „Institut für Pa- Die Projektleitung bestand aus Rapo- kunde, die alle in den 5 Bauteilen des thologische und Klinische Biochemie“ port, dem Sekretär Gmyrek und dem Neubaus über beispielhaft kurze Wege über. Ihr Leiter, Gross, war zum Direktor Projektrat. Nach Rapoports Emeritie- erreichbar waren.17 dieses Instituts berufen worden. Das For- rung 1973 ging die Projektleitung auf Die Abteilung Neonatologie besaß im schungslabor, das sich nun zunehmend Gmyrek (1974–1977) und nach des- Neubau 3 Oberarztbereiche. Bereich I auf das Thema „biochemische Mechanis- sen Ruf an die Medizinische Akademie (Leitung Wolf Ihle) umfasste Kreißsaal menderhypoxischenHirnschädigung“ Dresden auf Grauel über. Sekretär des mit8Neugeborenenerstversorgungsplät- konzentrierte, blieb durch rege Koope- Projekts wurde 1974 Wauer. Das bis zeninjedemEntbindungsraumund2Re- ration mit der Abteilung Neonatologie 1980 selbstständige FP wurde 1981 mit animationsplätzen im zentral gelegenem eng verbunden.18 den 4 anderen pädiatrischen FP zu einer Reanimationsraum und die Station Neo Seit 1986 wurden die in Ostberlin „Hauptforschungsrichtung 30“ (HFR) 2 für Intensivbeobachtung und Frühge- pränatal diagnostizierten Fehlbildungen „Schwangerschaft und frühkindliche borenenpflege mit 24 Betten. Bereich II zur Entbindung, zur präoperativen Di- Entwicklung“ zusammengeschlossen. agnostik und zur postoperativen Inten- Bis zur Auflösung dieser HFR 1990 blieb sivtherapie in das Perinatalzentrum der die Abteilung Neonatologie der Charité 16 WauerRR(2009)[wieAnm.1]. Charité gelenkt. Hier bildete sich nach 17 Dellas G (1981) Charité – Leitungs- und be- 1983/1984 unter Rainer Bollmann die triebsorganisation des chirurgisch orientierten innovative Arbeitsgruppe „Pränatale Di- 19 Zentrums (COZ)des Bereiches Medizin (Charité) WauerRR(2009)[wieAnm.1]. der Humboldt-Universität zu Berlin. Erarbeitet agnostik und Therapie“, in der Geburts- 20 Syllm-Rapoport I (o.D.): Basisdemokratieder vom DirektoratNeubauundRekonstruktion.Als DDR – erörtert am Beispiel der Perinatologie. Manuskriptgedruckt,Berlin. 18 GrossJ,DirzusI(1989)[wieAnm.15]. QuellebeimVerfasser.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 85 Pädiatrie nach 1945

wurden die Zielstellungen des FP vom Projektrat wie folgt aktualisiert:29 4 Senkung der Frühgeburtlichkeit durch frühzeitige Identifizierung von Risikoschwangerschaften, Opti- Abb. 42 9 Ernst mierung der Wehenhemmung und Ludwig Grauel, In- rechnergestützte Geburtsüberwa- geborg Rapoport, chung. Johannes Gross und 4 Senkung der perinatalen Infektionen Roland Wauer an- lässlich der Natio- und 4 nalpreisverleihung Ausbau der kontinuierlichen Me- 1984. (© Roland taphylaxe und Rehabilitation von Wauer, mit freundl. Risikoneugeborenen. Genehmigung) Die neuen inhaltlichen Zielstellungen Sitz der Leitung der Forschungsrichtung Herz-Kreislauf- und Atemfunktion machten eine Umstrukturierung des FP „Perinatologie“.21 von Feten und Neugeborenen, erforderlich, die bei seiner Eingliederung Für die Projektleiterin Rapoport 4 Entwicklung von Surfactant-Induk- in die 1981 gegründete HFR (s. unten) waren Interdisziplinarität bei der Zu- toren, wirksam wurde.30 sammenarbeit, solide experimentell- 4 Entwicklung eines Geräts zur extra- Die konkreten Forschungsprojek- theoretische Basis, Praxisbezug in den korporalen Membranoxygenierung te der Abteilung Neonatologie waren Zielsetzungen, Partnerschaft mit einer (ECMO), selbstverständlich in den Teilkomplexen medizinischen Gesellschaft und syste- 4 Entwicklung molekularbiologischer des FP („Hyperbilirubinämie“, „Hypoxie matische Prognosearbeit unerlässlich.22 Methoden für die Perinatologie. und Hypoxiekriterien“, „pränatale Lun- Nach gründlicher Analyse der Morta- genreifeinduktion“, „Kardiorespirogra- litäts- und Morbiditätsursachen in der Für 1981 bis 1990 war Folgendes geplant: phie“ und „Atemfunktionsdiagnostik“) DDR sowie im internationalen Vergleich, 4 Biochemie der Hirnschädigung, verankert.31 nach Erfassung bereits existierender For- 4 Diagnose des Surfactant-Mangels, schungen und nach Sammlung der For- 4 klinische Studien zur Prävention des Hauptforschungsrichtung schungskapazitäten entschied man sich, Atemnotsyndroms sowie „Schwangerschaft und das FP Perinatologie in 4 Teilkomplexe 4 Einsatz von ECMO bei Früh- und frühkindliche Entwicklung“ (TK) zu unterteilen. Diese orientierten Neugeborenen.26 sich an den Hauptursachen der perina- Mit Gründung der HFR „Schwanger- talen Morbidität und Mortalität in der Die 1973 formulierten gesundheitspoli- schaft und frühkindliche Entwicklung“ DDR Ende der 1960er-Jahre.23 Bedin- tischen Ziele für den Prognosezeitraum 1981 wurde das FP Perinatologie als gungfürdie MitarbeitwardasEinreichen bis 1990 – Senkung der Frühsterblichkeit Forschungsrichtung (FR) Teil des neuen abrechenbarer, translationsorientierter auf unter 8‰, die der Totgeborenenrate Verbundes. 32 Die FR Perinatologie hatte Forschungskonzepte.24 auf unter 7‰ und die der Säuglings- der weiteren Entwicklung angepasste In einer 1973 von Rapoport und Gmy- sterblichkeit auf unter 10‰ – wurden Schwerpunkte mit nun 7 Teilkomplexen; rek erarbeiteten Prognose wurde neben wesentlich früher, nämlich 1977, 1980 sie umfasste damals ca. 240 Mitarbeiter. gesundheitspolitischen Zielen auch ein resp. 1985 erreicht.27 Für ihre Erfolge bei Nachdem die Säuglingssterblichkeit Stufenprogramm bis 1990 aufgestellt.25 der Senkung der SST erhielten Rapoport bis Mitte der 1980er-Jahre in beiden Es sah für die Periode 1976 bis 1980 fol- und ihre „Söhne“ (wie sie sie nannte), Teilen Deutschlands unter 10 ‰ gesenkt gende Schritte vor: Gmyrek, Grauel, Gross und Wauer, 1984 werden konnte, rückten gezielte und 4 produktionsreife Entwicklung medi- den DDR-Nationalpreis III. Klasse für landesweite Maßnahmen zur Qualitäts- zintechnischer Geräte zu Diagnostik, Wissenschaft und Technik. ( Abb. 42).28 sicherung in der Perinatologie in den Überwachung sowie Behandlung der Nach einer weiteren Prognose 1978 Vordergrund. Seit 1987 wurde eine sys- durch Grauel und Jochen Frenzel (Jena) tematische Perinatalerhebung (Leitung 21 Wauer RR (2013) [wie Anm. 1]; Grauel EL (2004)[wieAnm.3]. 22 Syllm-Rapoport I., Grauel L (1979) [wie 26 WauerRR(2009)[wieAnm.1]. 29 Syllm-Rapoport I, Grauel L (1979) [wie Anm.15]. 27 WauerRR(2013)[wieAnm.1]. Anm.15]. 23 Ebd. 30 Wauer RR (2009) [wie Anm. 1]; Syllm- 28 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_ 24 Wauer RR (2013) [wie Anm. 1]; ders. (2009) Rapoport,I(o.D.)[wieAnm.20]. Traeger_des_Nationalpreises_der_DDR_III._ 31 [wieAnm.1]. Klasse_fuer_Wissenschaft_und_Technik_ WauerRR(2009)[wieAnm.1]. 25 WauerRR(2013)[wieAnm.1]. 1980\char211989. 32 Ebd.

86 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Heinrich, Stralsund) betrieben, an der Gremien bestehen konnten, hatte das FP viele Kliniken der DDR sich beteiligten.33 einen unzweifelhaften Qualifizierungsef- AlleLeitungsfunktionenwarenehren- fekt, weckte Lust zur Forschung in der amtlich und ohne zusätzliche Vergütung. jüngeren Generation, erzog zur wissen- Ihre Wahrnehmung beruhte allein auf schaftlichenDisziplin,förderte deninter- dem Interesse an Forschung und Stei- disziplinären und kooperativen Arbeits- gerung des wissenschaftlichen Niveaus stil, hob ganz allgemein das methodische der medizinischen Betreuung. Vom Pro- Niveau, führte zu einer stärkeren Annä- jektrat wurden die Ergebnisse jährlich herung der klinischen und experimentel- kritisch eingeschätzt, kondensiert und lenFächerunderreichtedurchdieEinbe- mit zusammenfassenden Bemerkungen, ziehung nicht-universitärer Einrichtun- Empfehlungen und Forderungen an gen eine Anteilnahme an wissenschaftli- das Ministerium für Gesundheitswesen chenFragestellungenauchdersogenann- weitergeleitet. Neben diesen Ergebnis- ten ,Peripherie‘. Die Verschmelzung der berichten musste die Leitung des FP Geburtshelfer und Neonatologen vollzog Perinatologie jährlich Planungen für das sichorganischinderZusammenarbeitim Folgejahr an das Ministerium erstellen, FP Perinatologie.“36 eine sehr zeitaufwendige Prozedur für alle Arbeitsgruppen, besonders aber eine Korrespondenzadresse die Leitung der Neonatologie belastende Prof. Dr. R. Wauer Aufgabe. Weiterhin wurden von ihr jähr- lich wissenschaftliche Veranstaltungen, Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin so genannte Verteidigungen, organisiert, 10098 Berlin, Deutschland bei denen die Arbeitsgruppen die Er- [email protected] gebnisse ihrer Arbeit zur Diskussion stellten und einen Plan-Ist-Vergleich RolandR.Wauer,Prof.Dr.med.;geb.1942inTreuen- vornahmen.34 brietzen/Brandenburg; Abitur 1960; Medizinstudium In den 1970er-Jahren herrschte un- 1961–1963 in Sofia/Bulgarien und 1963–67 Charité/ Berlin;Promotion1969(PharmakologThema);FA-Aus- ter den im Verbund arbeitenden Ärz- bildung 1967–1971 in Zittau, Facharztprüfung in Päd- tenundWissenschaftlerneineAufbruch- iatrie 1971; seit 1972 Charité-Kinderklinik; 1974–1990 stimmung, die viele Nachwuchswissen- Sekretär des DDR-Forschungsprojektes „Perinato- logie“; 1980 Research-Grant Lund/Schweden; 1981 schaftler anzog. In der zweiten Hälfte der Habilitation (Das Atemnotsyndrom des Neugebore- 1980er-Jahre sank der Enthusiasmus, an- nen), 1982/83 und 1984 Hochschullehrer in Pädiatrie/ gesichts der Schwierigkeiten der DDR- Neonatologie an der Univ. Luanda/Angola; 1984 Do- zentur, 1984 Nationalpreis der DDR III.Kl. im Kollektiv, WirtschaftundderallgemeinenSituation 1991–94 Stellvertretender Direktor der Kinderklinik im Gesundheitswesen der DDR.35 der Charité, seit 1993 Stellvertreter des Direktors und In einer kritischen Auseinanderset- von 2001–2007 Direktor der Klinik für Neonatologie Campus Charité Mitte, 1993 Professor für das Fachge- zung mit den Inhalten und Zielen be- biet Kinderheilkunde- Neonatologie/Intensivtherapie wertete Rapoport das FP Perinatologie an der Charité, 1991–95 Sprecher des Forschungsver- retrospektiv. „Es ist ein Wunder, dass bundes „Risikoneugeborenes“ (BMBF), 1996–2001 Sprecher des Forschungsverbundes „FoSped“ (BMBF); es trotz der Mannigfaltigkeit der bear- 1999–2004 Mitglied des Fakultätsrates, 2001–2004 beiteten Themen seine Funktion erfüllte. Prodekan f. wissenschaftl. Nachwuchs der Charité, Neben einigen echten interessanten Er- 2005–2008 Beauftragter des Dekans für den wiss. Nachwuchs; Emeritierung 2007; Seitdem Gastprofes- gebnissen, die auch vor internationalen sorinArmenien,Bulgarien,Belarus,China,Kasachstan, Kirgisien, Russland und Usbekistan. 33 WauerRR(inVorbereitung)[wieAnm.1]. 34 Syllm-RapoportI(o.D.)[wieAnm.20]. 35 Analyse und Vorschläge, wie in Fortführung der Gesundheitspolitikder Partei durch höhere QualitätundEffektivitätderArbeitdiemedizini- sche und soziale Betreuung der Bevölkerung im Fünfjahrplanzeitraum bis 1995 gesichert wird, vom 11.8.1989 (BArch, DQ 1, 12097). Zitiert bei Roth H (2009): 1989/2009 – 20 Jahre Deutsche Einheit: Deutsch-deutsche Gesundheitspolitik im Einigungsprozess (I) Deutsches Ärzteblatt 2009;106(23):B-1019. 36 Syllm-RapoportI(o.D.)[wieAnm.20].

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 87 Pädiatrie nach 1945

Volker Hofmann Anfänge der Sonographie im Kindesalter und ihre Bedeutung für die medizinische Ethik bei der pränatalen Diagnostik

Die Ultraschalluntersuchung ist v. a. für z. B. bis Anfang der 1970er-Jahre nicht B-Bild-Verfahren, müssen v. a. der Ame- Patienten im Kindesalter ein besonderer möglich war, die innere Struktur von Le- rikaner Douglass Howry (1920–1969) GlücksfalldermodernenMedizingewor- ber, Milz, Nieren oder Pankreas abzubil- mit seinem „cattle tank scanner“ und den: Ohne Strahlenbelastung, ohne Be- den.Oderumgedreht:welcheFaszination der schottische Gynäkologe Ian Donald lästigung oder Gefährdung und zu ver- denjenigen erfasste, der damals erstmals (1910–1987) genannt werden. Letzte- gleichsweise geringen Kosten ist inzwi- eines dieser Organe abbilden und beur- rer entwickelte mit seinen Technikern schen überall und ohne zeitliche Verzö- teilen konnte. aus einem Materialprüfgerät den ers- gerung die bildhafte Darstellung von Or- Obwohl der Ultraschall für die Me- ten Kontakt-Compound-Scanner. Al- ganen und Geweben, ganzer Körperare- dizin bis zur Mitte des 20. Jh.s nur ge- lerdings war die Untersuchung sehr ale sowie zunehmend auch funktionel- ringe Bedeutung hatte, fand unter dem zeitaufwendig; das Bild musste langsam ler Abläufe möglich geworden. In einer Thema „Der Ultraschall in der Medi- über viele Minuten lang aufgebaut wer- Zeit der Ambivalenz technischen Fort- zin“ erstaunlicherweise bereits 1949 eine den. Die Aussagen waren oft zweifelhaft schritts ist eine neue Methode mit hoher Art Weltkongress im zerstörten Erlangen und dem Spott der Kollegen ausgesetzt. Aussagekraft und fehlender Gefährdung statt. Allerdings setzte man sich hier nur Damals fand die Sonographie keinen besonders wertvoll. Dabei handelt es sich mit der Physik, den technischen und the- Eingang in die klinische Routinedia- ja nicht nur um irgendeine neue Arbeits- rapeutischen Möglichkeiten sowie v. a. gnostik. weise, sondern um die weltweit am häu- den Grenzen der Methode auseinander. Die neuere Sonographie-Geschichte figsten eingesetzte bildgebende Diagnos- Unter den 73 Vorträgen gab es lediglich begann in Deutschland mit dem jungen tik, die inzwischen die Röntgendiagnos- 2 Beiträge, die aus dem Rahmen fielen Ingenieur Richard Soldner (1935–2012) tik weitgehend verdrängt hat, ohne dass und sich mit der Durchschallung, ähn- bei Siemens in Erlangen. Im Jahr 1960 dieswirklichwahrgenommenwordenist. lich den Röntgenstrahlen, als diagnosti- wurde ihm der Bereich Ultraschall in der Der Weg von den kaum beurteilbaren sche Möglichkeit beschäftigten. Zu die- Entwicklungsabteilung der Siemens-Rei- „Wetterkarten“ der Anfangszeit über das sen zählte ein Vortrag des Wiener Neu- niger-Werke übertragen. Er sollte die ei- erste schnelle B-Bild hin zu den mo- rologen Karl Theo Dussik (1908–1968), gentlich längst bedeutungslos geworde- dernen Hightech-Geräten war steil und der als Erster den Ultraschall als diagnos- nen Ultraschalltherapiegeräte weiterent- faszinierend. Von Leonardo da Vinci tisches Werkzeug eingesetzte. Er wollte wickeln, befasste sich aber stattdessen, stammt der Satz „Der Mensch – das den Schädel durchschallen und die Ven- nachdem er japanische Ultraschallunter- Augenwesen – braucht das Bild“. Etwas trikelabbildenundnannteseineMethode suchungen zum Brustkrebs kennenge- abgewandelt könnte man sagen: „Der „Hyperphonographie“. Aber dieser Weg lernthatte,mitderUltraschalldiagnostik. Arzt – das Augenwesen – braucht die der Durchschallung ohne Schallreflexion VonAnfanganwollteereineschnel- bildhafte Darstellung“. Und diese Ent- führte nicht weiter. le Abtastung der Schnittebenen mit ho- wicklung hin zum Bild gehört ja zu den Gute Ergebnisse lieferte dagegen das hen Wiederholungsraten erreichen und größten Errungenschaften der Medizin eindimensionale Ultraschallechoimpuls- wurde so zum Begründer der heute aus- des 20. Jh.s, beginnend mit der Rönt- verfahren, das sog. A-Bild (A: Amplitu- schließlich angewandten Realtime-Tech- gendiagnostik, gefolgt von Ultraschall, de), das schon aus der Materialprüfung nik. Bereits 1963 konnte er einen Pro- Computer- und Magnetresonanztomo- bekannt war. Aus diesem eindimensio- totyp des legendären Vidoson, des welt- graphie. nalen Echoimpulsverfahren entwickel- weit ersten schnellen B-Bildes, vorstel- Mit der Röntgendiagnostik war der ten sich 2 wichtige neue Bereiche: die len. Die revolutionäre Scan-Technik be- spektakuläre Anfang gemacht. Aber die- Echoenzephalographie und die Echokar- stand in 2 im Brennpunkt eines Para- ses bildgebende Verfahren hatte seine en- diographie. Das große Problem bestand bolspiegels rotierenden Ultraschallricht- gen Grenzen. Insbesondere war es nicht nun darin, die komplizierte Schallaus- strahlsendern. Damit wurden Schnitt- möglich, Weichteile, Gewebe und paren- breitung im menschlichen Körper zu bilder vom menschlichen Körper in so chymatöseOrganedirektabzubilden.Ich verstehen und richtig zuzuordnen. Und kurzen Zeitintervallen und so schnel- weiß nicht, ob sich heutige ärztliche Kol- hier, am Übergang vom eindimensio- ler Aufeinanderfolge (15 Bilder/s) auf ei- legen noch vorstellen können, dass es nalen A-Bild- zum 2-dimensionalen nem Bildschirm dargestellt, dass Bewe-

88 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Das gemeinsame Interesse zwischen Geburtshilfe, Pädiatrie und Kinderchir- urgie war verständlicherweise zuerst die pränatale Fehlbildungsdiagnostik: 4 in der Frühschwangerschaft im Zusammenhang mit der Diagnostik genetischer Defekte, 4 im letzten Trimenon wegen der kind- lichen Indikation zur Sectio und – Abb. 43 9 Sono- das war neu! – der Planung chirur- graphie mit Vidoson gischer Eingriffe bei korrigierbaren im St. Barbara-Kran- kenhaus Halle/S., Fehlbildungen. 1970er-Jahre. (© Volker Hofmann, Besonders das Letztere war für den Kin- mit freundl. Geneh- derchirurgen von großer Bedeutung. Am migung) häufigsten wurden anfangs Ventrikeler- weiterungen erkannt, Anenzephalus und Myelomeningozele folgten. Eine beson- dere Rolle spielten Nierenfehlbildungen, Bauchwandspalten und Darmatresien. So konnten wir 1977 pränatal die Ver- dachtsdiagnose einer Dünndarmatresie stellen. Auffällig waren dabei die messba- re Vergrößerung des Bauchumfangs, das Hydramnion und die gestauten Darm- schlingen des Fetus (. Abb. 44). Mit diesen Möglichkeiten konnte die Prog- nose derjenigen Fälle verbessert werden, die durch zusätzliche postnatale Kom- plikationen, insbesondere durch einen risikoreichen Transport, gefährdet sind (. Abb. 45). Abb. 44 8 Pränatale Diagnostik einer Darmatresie in der 34. Schwangerschaftswoche, dilatierte NachderGeburtwaranfangsdieNiere Dünndarmschlingen. Bd Bauchdecke. (© Volker Hofmann, mit freundl. Genehmigung) das „dankbarste“ Organ in der Sonogra- phie: Oberflächlich gelegen und mit dem gungsvorgänge direkt abgebildet werden der das erste Gerät klinisch einsetzte. Mit riesigen Schallkopf im Querschnitt wa- konnten. Der wesentliche Vorteil aber dem Vidoson beginnt auch die Geschich- ren sogar beide Nieren auf einem Schnitt war die Darstellung von Grauwerten im te der Ultraschalldiagnostik im Kindesal- gut abzubilden (. Abb. 46). Dieter Weit- Gegensatz zu den bisherigen bistabilen ter, denn erst mit dem schnellen B-Bild zel in Mainz hatte bereits 1974 auf die Schwarz-Weiß-Bildern,dieeineGewebe- war man wirklich imstande, Neugebore- Bedeutung der Sonographie in der Nie- differenzierungnichtzuließen.Eswarge- ne,SäuglingeundKinderzuuntersuchen. rendiagnostik hingewiesen. Insbesonde- lungen, minimale Impedanzunterschie- Daserklärtauch,warum die Sonographie re Harnabflussstörungen, zystische Fehl- de auszunutzen, um die verschiedenen von Patienten im Kindesalter ihren Ur- bildungen, Steine und Tumoren konnten Gewebe, Organe und Organgrenzen ab- sprung v. a. in Deutschland hatte. Das erkannt werden und veränderten die di- zubilden. Soldner wurde so der Begrün- St.-Barbara-Krankenhaus in Halle (Saa- agnostische Rangfolge. Wir mussten zur der der modernen Ultraschalltechnolo- le) konnte 1975 als eine der ersten Kli- Kenntnis nehmen, dass es bereits im Kin- gie.IchhabeihnbeimAufbauunseresUl- niken in der DDR in der gynäkologisch- desalter Gallensteine gab, und es stellte traschallmuseums noch kennengelernt. geburtshilflichen Abteilung mithilfe der sich heraus, dass man völlig neue Einbli- Er war als Einziger in der Lage, die alten Caritas-West ein Vidoson-Gerät aufstel- ckeindasSchädelinnerevonNeugebo- Geräte zu ergänzen und wieder funkti- len. Uns war schnell klar, dass eine der- renen und Säuglingen gewinnen konnte. onsfähig zu machen. artige bildhafte Darstellung ohne Rönt- DamalsgabesnurdasPneumenzephalo- Die ersten Untersuchungen mit dem genstrahlen nicht nur bei Ungeborenen gramm,eineinvasiveundsehrbelastende Vidoson 635 wurden – wie zu erwar- während der Schwangerschaft, sondern Untersuchung. ten – in der Geburtshilfe vorgenommen, erst recht bei Neugeborenen, Säuglin- Da dieses neue bildgebende Verfah- und es war Hans-Jürgen Holländer in gen und Kindern funktionieren musste ren sofort und ohne besondere Vorbe- der Universitätsfrauenklinik Würzburg, (. Abb. 43). reitungen zu jeder Tages- und Nachtzeit

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 89 Pädiatrie nach 1945

Abb. 45 8 „Compound scan“ einer pränatalen Omphalozele. (© Volker Hof- mann, mit freundl. Genehmigung)

einsetzbar war und direkte Ergebnisse er- brachte, war es natürlich besonders bei allen akuten Erkrankungen, Notsituatio- Abb. 46 8 Sonographieaufnahme einer Niere quer beidseits, Vidoson, nen und Unfällen einsetzbar. Jetzt konn- 1977. (© Volker Hofmann, mit freundl. Genehmigung) temannachschwerenUnfällendieOr- ganverletzungen und ihre Folgen direkt abbilden, insbesondere das Ausmaß der verständliche Bilder anzufertigen; Durch die pränatale Fehlbildungsdia- Blutung.Dadurchwurde esmöglich,dass uns stand noch keine Videotechnik gnostik und ihre Konsequenzen entstand z. B. eine Milzruptur nicht mehr in jedem zur Verfügung, und digitale Aufnah- ein unerwartetes Problem ganz anderer Fall mit einer Milzentfernung einherging men direkt vom Gerät waren noch Art. Was bis heute und immer wieder (bis zu diesem Zeitpunkt eine absolute unvorstellbar. Viele Kollegen waren neu und kontrovers diskutiert wird – Grundregel), sondern dass man abwar- daher eher belustigt als begeistert. insbesondere die Frage des Schwanger- ten und damit die Milz erhalten konnte. Und der Spott unter ärztlichen Kol- schaftsabbruchs – nahm damals seinen Ein anderes Beispiel für solche akuten legen gehört ja seit Jahrhunderten zu Anfang. Ich will versuchen, dies an einem Erkrankungen, die bis dahin nicht direkt den schönsten Emotionen. Beispiel zu erläutern. Unsere gynäkologi- diagnostiziert werden konnten, war die 4 Man hatte damals auch kaum Chan- schen Kollegen hatten pränatal bei einer Invagination (. Abb. 47)mitderMög- cen, die eigenen Untersuchungen zu Patientin in der 26. Schwangerschafts- lichkeit der sofortigen Devagination – so- präsentieren; Vortragsanmeldungen woche einen Anenzephalus des Fetus zusagen „unter Sicht“. So veränderte sich wurden nicht selten abgewiesen. diagnostiziert. Wir hatten uns in der ge- in vielen Fällen der therapeutische Weg 4 Es gab keine Vergleichsmöglichkei- meinsamen Beratung entschlossen, der von deroperativen zurkonservativen Be- ten, denn auch im englischen und Mutter diesen Befund nicht vorzuenthal- handlung mit entsprechenden Vorteilen amerikanischen Schrifttum existier- ten, angesichts des desolaten Zustands für das Kind. Und es bestand nun auch ten nur wenige Veröffentlichungen die Geburt vorzuziehen und das Neu- erstmals die Möglichkeit gezielter „unter über die Anwendung der Sonogra- geborene nicht intensivmedizinisch zu Sicht“ ausgeführter Punktionen. phie im Kindesalter. So gesehen war versorgen. Wir wollten die Mutter in Nun könnte man annehmen, alle Welt es erstaunlich und ein gewisser Wen- dieser schwierigen Situation nicht allein sei begeistert gewesen über ein bildge- depunkt, dass sich der VEB-Georg- lassen bzw. aus unserem katholischen bendes Verfahren auf ganz neuem Weg Thieme-Verlag in Leipzig schon 1979 in ein staatliches Krankenhaus verlegen. ohne Röntgenbelastung und andere ne- entschloss, in der Reihe Moderne Eine Ordensschwester im Kreißsaal be- gative Kriterien, aber das war keineswegs Pädiatrie eine Zusammenstellung auf obachtete die Geburt und meldete unser der Fall. Im Gegenteil: Die Sonographie teuer importiertem Glanzpapier zu VerhaltenandenzuständigenBischof. hatteesindieserAnfangszeitsehrschwer, drucken. Wir haben erst viel später Dieser nahm die Situation sehr ernst und sich durchzusetzen. Das hatte folgende erfahren, dass sie die weltweit erste gab sie fragend an den Vatikan weiter. Ursachen: zusammenfassende Darstellung der Kurz darauf wurde im Priesterseminar 4 Die Bilder glichen anfangs in der Tat Ultraschalldiagnostik im Kindesalter in Erfurt konspirativ – die staatlichen eher Mondlandschaften oder Wet- war. Stellen der DDR sollten nichts von die- terkarten. Es war sehr kompliziert, sen Problemen erfahren – ein Treffen

90 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Abb. 48 8 „Compound scan“ eines extremen Hydranenzephalus, pränatal in der 28. SSW. (© Volker Hofmann, mit freundl. Genehmigung)

eine beginnende Appendizitis auch bild- haft nachzuweisen, ist wahr geworden. Funktionelle Vorgänge können abgebil- det werden und – um an den Anfang Abb. 47 8 Invagination, Erstdarstellung 10/1979. (© Volker Hofmann, mit der Diagnostik zurückzukehren – die freundl. Genehmigung) Schwangerschaftsdiagnostik ergibt frü- her unvorstellbare Einblicke bereits im führender katholischer Moraltheologen, burt auf natürlichem Weg nicht zuließe ersten Trimenon der Schwangerschaft. von Kardinälen und philosophisch ar- (. Abb. 48), Hydranenzephalus, Anen- beitenden ranghohen Mitarbeitern des zephalus und ähnliche schwere zerebrale Korrespondenzadresse Vatikans und aus zahlreichen katholi- Fehlbildungen; nicht aber das Potter- Prof. Dr. V. Hofmann schen Ländern einberufen. Von unserer Syndrom oder andere Organfehlbildun- Seite nahmen der Pädiater Ernst Fukala gen. Es ging uns darum, diesen Müttern Klinik für Kinderchirurgie, St.-Barbara- Krankenhaus und der Geburtshelfer Herbert Watzek in ihren schwersten Stunden zu helfen Halle (Saale), Deutschland an dieser Sitzung teil. Das Thema kam undsiezubegleiten.DiesesVorgehengalt [email protected] damals offenbar erstmals wegen sei- für uns bis zum revolutionären Herbst ner direkten praktischen Bedeutung auf 1989. Erst mit dem sich anschließenden Volker Hofmann, Prof. Dr. med. (em.); geb. 1939 in den Tisch. Darf in einem solchen Fall Wandel der Verwaltungsstrukturen trat Dresden, Kreuzchorschule und Abitur 1957, Studium bei einem nichtlebensfähigen Kind die eine grundlegende Änderung ein. der Humanmedizin 1957–1963 an der Karl-Marx- UniversitätLeipzig,PromotionA1963undPromotionB vorzeitige Beendigung der Schwanger- Die weitere Entwicklung der Sono- 1981 in Leipzig, Landarzt im Erzgebirge 1963–1965, schaft erfolgen und, wenn ja, ist dies in graphie bis zu ihrem heutigen Stand anschließend Facharztausbildung an der Klinik für einem katholischen Krankenhaus mög- war damals nicht voraussehbar: Immer Kinderchirurgie der KMU Leipzig, 1977 Aufbau der Klinik für Kinderchirurgie am St. Barbara-Krankenhaus lich bzw. erlaubt? Nach offenen und wieder waren wir der Meinung, nun sei Halle (Saale), dort tätig bis 2003. sehr ehrlichen, fairen und emotiona- das Ende der technischen Möglichkei- len Diskussionen einigten wir uns auf ten erreicht, und immer wieder gab es eine uns sinnvoll erscheinende Lösung: neue Dimensionen. Die Geräte selbst Literatur Wenn dieses intrauterine Leben sich wurden kleiner, die Schallköpfe hand- nicht auf ein menschliches Leben hin licher und hochfrequenter, ohne dass 1. Hofmann V, Kunze G (1979) Pränatale Diag- nostik einer Jejunumatresie durch Ultraschall. Z entwickeln kann, dann, aber nur dann, die Abbildung der tieferen Regionen Kinderchir26:205–210 sei der Abbruch auch bei uns zu ver- verlorenging. Heute sind wir in der 2. Hofmann V (1981) Ultraschalldiagnostik (B-Scan) antworten. Menschliches Leben wurde Routinediagnostik bereits bei 7 MHz imKindesalter.VEBGeorgThiemeVerlag,Leipzig 3. Hofmann V, Watzek H, Klaube A (1983) Die prä- dabei definiert durch die spätere Fä- und für spezielle Fragestellungen bei natale Ultraschalldiagnostik von Fehlbildungen higkeit zur Kommunikation selbst in 14 MHz, sogar bis 20 MHz, angekom- und ihre chirurgischen Konsequenzen – ein neues niedrigster Form, gebunden an die Ent- men.DielateraleNahauflösungwird KapitelKinderchirurgie.ZKinderchir38:141–151 4. Weitzel D, Tröger T, Straub E (1977) Renal wicklung des Großhirns. Also gehörten immer besser und liegt bereits unter Sonography in Pediatric Patients. Pediatr Radiol zu den erlaubten Indikationen: extremer 0,5 mm. Dazu kam die Einführung der 6:19–26 Hydrozephalus mit minimaler Hirnrin- farbcodierten Dopplersonographie mit 5. WeitzelD,DinkelE,DittrichMM(1984)Pädiatrische Ultraschalldiagnostik.Springer,Berlin de und progressiv sich vergrößerndem der Möglichkeit, selbst feinste Gefäße ab- Ventrikel und Kopfumfang, was eine Ge- zubilden. Der alte Traum der Chirurgen,

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 91 Pädiatrie nach 1945

Kurt Gdanietz Kinderchirurgie in der DDR

Kinderchirurgie in Deutschland mie nach Weber-Ramstedt zur Behand- Werk in Deutsch. Trotz dieser frühen und seinen Nachbarländern bis lungderhypertrophischenPylorussteno- Arbeiten wurde, um mit dem Nestor 1945 se desSäuglings.5 In Frankreich sind ähn- der deutschen Kinderchirurgie, Fritz liche Entwicklungen zu beobachten. Hier Rehbein (1911–1991), zu sprechen, „das Die ältesten Spuren dessen, was wir heu- publizierte Édouard Francis Kirmisson eigentliche Neuland der Kinderchirurgie te als Kinderchirurgie bezeichnen, was (1848–1927), Professor für Kinderchir- erst Ende der 30er-Jahre und während aber als Entität noch gar nicht vorhan- urgie und Orthopädie an der medizini- des Zweiten Weltkrieges in den USA be- denwar,führeninDeutschlandzudem schen Fakultät Paris, 1899 das 613 Seiten treten“. Für deutsche Chirurgen war eine Dresdner Arzt und Chirurgen Karl Jo- starke Lehrbuch der chirurgischen Krank- selbstständige Kinderchirurgie zu der seph Oehme (1752–1783).1 Als Zwanzig- heiten angeborenen Ursprungs.6 In Polen Zeit noch nicht vorstellbar; sie fühlten jährigerveröffentlichte er1773auf 64Sei- erschien 1901 das Buch Choroby chir- sich gegenüber einer Aufsplitterung des ten die Arbeit De morbis recens natorum urgiczne wieku dziecięcego (Chirurgische Faches gefeit, „obwohl kleinere Gruppen chirurgicis.2 Zu Oehmes Zeit waren Ope- Krankheiten im Kindesalter) von Hilary vonSondergebietenderChirurgienach rationen ein Wagnis. Den Chirurgen war Schramm (1857–1940), Dozent an der mehr Selbständigkeit riefen.“10 bewusst, dass sie sich auf noch wenig er- Universität Lwów. Lwów (Lemberg) ge- In der erstmals gelungenen End-zu- kundetem Terrain bewegten, ohne wirk- hörte zu den ersten Städten in Europa, End-Anastomose einer Ösophagusa- liche Schmerzausschaltung, ohne Blut- die über ein Kinderkrankenhaus mit ei- tresie, die das Kind überlebte (Haight und Flüssigkeitsersatz. Das änderte sich ner kinderchirurgischen Abteilung von 1941)11, sieht Rehbein die Geburtsstunde mitEinführungderNarkose1846.Undso ca. 45 Betten verfügten.7 der modernen Kinderchirurgie. Im Jahr erfuhren Eingriffe bei Kindern Ende des DerBerlinerChirurgundHochschul- 1913 aber hatte Richter schon ein Kind 19. und zu Beginn des 20. Jh.s ihren ers- lehrer Erwin Gohrbandt (1890–1965) operiert, bei dem er statt einer End-zu- ten Qualitätssprung. Bücher, die der Kin- veröffentlichte 1928 das Buch Chirur- End-Anastomose eine Ösophago- und derchirurgie allein gewidmet sind, zeu- gische Krankheiten im Kindesalter8 und Gastrostomie anlegte, und nach 26 Jah- gendavon,z.B.dasHandbuchvonGer- Richard Drachter (1883–1936) 1930 das ren, 1939, gelang Shaw bereits die End- hardt von 1880 mit vielen kinderchir- weltweit erste kinderchirurgische Lehr- zu-End-Anastomose. Jedoch hat keines urgischen Kapiteln hervorragender zeit- buch Chirurgie des Kindesalters,9 nach der Kinder überlebt.12 genössischer Chirurgen.3 Im Jahr 1894 Karewskis Werk das zweite umfassende Der Krieg in Europa ließ die Entwick- veröffentlichte der Arzt am Jüdischen lung der Kinderchirurgie stagnieren; die Krankenhaus Berlin Ferdinand Karewski 5 WeberW(1910):UebereinetechnischeNeue- deutsche medizinische Wissenschaft war (1858–1923) das Buch Die chirurgischen rung bei der Operation der Pylorusstenose des ins Stocken geraten, war isoliert. Krankheiten des Kindesalters und zeich- Säuglings.BKW,47/17-BerlinAugustHirschwald pp. 763–765 Quelle Internet; Ramstedt WC netedarinauf762Seiteneinumfassendes (1913): Die Operation der angeborenen Pylo- Bild vom Stand der Kinderchirurgie der russtenose. In: Zentralblatt für Chirurgie 40, Zeit.4 Manch Einzelerfolg hält bis heute S. 3–4; Borgwardt G (1992): Conrad Ramstedt an,z. B.dieseit1913jedemKinderchirur- (1867–1963).In:ZentralblattfürKinderchirurgie gen und Pädiater bekannte Pyloromyoto- 1,S.185–187. 6 Kirmisson É (1899): Lehrbuch der chirurgi- 10 Steinau H-U, Bauer H (Hg.) et al. (2011): schen Krankheiten angeborenen Ursprungs, Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933–1945 1 Klimpel V (1996): Zu den Anfängen der Stuttgart. Kinderchirurgie in Dresden. In: Zentralblatt für Die Präsidenten. Heidelberg, S 246 linke 7 Schramm H (1901): Choroby chirurgiczne Kinderchirurgie5,S.190–195. Kolumne. wieku diecięcego. Buchhandlung Altenberg 11 Haight C, Towsley HA (1943): Congenital 2 Oehme KJ (1773): De morbis recens natorum Lwów. Pers. Mitteilung Prof Cz Stoba, ehem atresia of the esophagus with tracheoesopha- chirurgicis.Leipzig. DirektorderMedizinischenAkademieGdańsk. geal fistula: Extrapleural ligation of fistula and 3 Gerhardt, C (1880 und 1887): Handbuch der 8 Gohrbandt E, Karger P, Bergmann E (1928): end-to-end-anastomosis of esophageal seg- Kinderkrankheiten, 6. Bd., I. und II. Abt., Die Chirurgische Krankheiten im Kindesalter, Frei- ments. In: Surgery, Gynecology & Obstetrics 76, chirurgischenErkrankungenIundII,Tübingen. burgimBreisgau. S.672–688. 4 Karewski F (1894): Die chirurgischen 9 DrachterR,GrossmannJR(1930):Chirurgiedes 12 RichterHM(1988):ShawR.In:Ösophagus.In: Krankheiten des Kindesalters, Stutt- Kindesalters. (= von Pfaundler M, Schlossmann Tischer W, Gdanietz K (Hg.): Kinderchirurgie für gart, siehe https://archive.org/details/ A (Hg.): Handbuch der Kinderheilkunde 9), 3. die klinische Praxis, Leipzig, S. 99–105, hier S. diechirurgische00karegoog. Aufl.,Leipzig. 101;323,324.

92 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Abb. 50 9 Hein- rich Klose bei der Visite im Kranken- haus Friedrichshain, links Ilse Krause, 10. Dezember 1956. (© Kurt Gdanietz, mit freundl. Geneh- migung)

von Chirurgen vorgenommen, was sich richshain, Heinrich Klose (1879–1968; erst Ende 1956 änderte. Ohnehin war bis . Abb. 50), vortrug. Dieser erlegte sei- Abb. 49 8 Fritz Meißner, um 1958. (© Kurt Gda- nietz, mit freundl. Genehmigung) Mitte der 1950er-Jahre nicht erkennbar, ner damals 39-jährigen Oberärztin Ilse ob eine selbstständige Kinderchirurgie Krause auf, den in der Kindermedizin überhaupt einmal Wirklichkeit werden neuen Weg zu gehen. Sie trat ihn am Kinderchirurgie in der SBZ und könnte. 1. Juni 1956 an: „die erste Kinderchirur- der DDR Die unter der Leitung Fritz Meiß- gin in Deutschland, war ,Marschallin der ners (1920–2004) am 1. Oktober 1958 Medizin‘, aber nicht herrschend, sondern Die historischen Wurzeln der Kinder- in Leipzig gegründete eigenständige dienend“, beschrieb Waldemar Hecker chirurgie liegen in der 1889 gegründeten Kinderchirurgische Klinik (. Abb. 49) (1922–2008, München) ihr Ansehen. chirurgischen Kinderabteilung der Leip- entwickelte sich zur Leitklinik für den Ihr Andenken bewahrt die Deutsche ziger Medizinischen Fakultät und in der universitären Bereich, die am 10. De- Gesellschaft für Kinderchirurgie im Ilse- 1956 gegründeten Kinderchirurgischen zember 1956 in Berlin-Buch gegründete Krause-Nachwuchspreis. Klinik im Städtischen Hufeland-Kran- Kinderchirurgischen Klinik, Ilse Krause Fritz Meißner und Ilse Krause waren kenhaus Berlin-Buch (Berlin-Ost).13 (1917–1984; . Abb. 50), zur Leitkli- beideherausragendeChirurgen,inspirie- Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nik für den nichtuniversitären Bereich. rende, dynamische Kliniker, Kinderchir- war die Kinderchirurgie in rascher Ent- Leipzig setzte eine Tradition fort; für urgen der ersten Stunde und Wegbereiter wicklungbegriffen.VierStrömungenför- Berlin-Buch war es ein Neubeginn. Bei- moderner Kinderchirurgie. Meißner gab derten ihre Gestaltung, die weder glatt de Einrichtungen hatten Pädiater als auf der Jubiläumsveranstaltung anläss- noch dornenfrei verlief: der Anteil chir- Geburtshelfer. In Leipzig war es Johann lich des 25-jährigen Bestehens der Kli- urgischer Erkrankungen an der Säug- Otto Leonhard Heubner (1843–1926), nik für Kinderchirurgie der Karl-Marx- lings- und Kindersterblichkeit, der Vor- der 1888 mit Robert Hermann Till- Universität, Leipzig, zu erkennen, dass sprung anderer Länder, die sich anbah- manns (1844–1927) einen „Verein zur er ursprünglich nicht vorhatte, Kinder- nenden Spezialisierungen in der Chirur- Errichtung und Erhaltung eines Kin- chirurg zu werden. Der für die Über- gie und das Recht des Kindes auf seinen derkrankenhauses“ gründete. Das 1891 nahme der Leitung der am 1. Oktober Operateur. entstandene Haus hatte 132 Betten, in 1958 gegründeten Kinderchirurgischen In der Sowjetischen Besatzungszo- dem Tillmanns bis 1919 die chirurgi- Klinik „auserwählte Kollege beantwor- ne (SBZ) wurden operative Eingriffe bei sche Kinderstation leitete.14 In Berlin- tete die ehrenvolle Berufung damit, dass KindernzunächstinhergebrachterWeise Buch war es Heinrich Robert Kirchmair er in den Zug stieg und nach Bremen (1906–1969), der 1956 von einem länge- fuhr. Dort ist er angekommen und ge- ren Aufenthalt aus Bagdad mit der Idee blieben. Mich ereilte dann das Schicksal“ 13 Noack-Wiemers F (2005): Robert Hermann zurückkehrt war, in Berlin eine Kinder- und die Nachricht seines Chefs Herbert Tillmanns (1844–1927) ein Pionier der Kinder- chirurgische Klinik ins Leben zu rufen. Uebermuth (1901–1986): „Lieber Herr chirurgieinLeipzig.Diss.med.Leipzig;MeißnerF (1965):KlinikundAmbulanzfürKinderchirurgie. DarübersprachermitdemLeiterder Meißner, Sie machen ab sofort Dienst In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx- Abteilung für Gesundheitswesen beim Universität Leipzig 14, S. 173–176; Bennek J Magistrat von Groß-Berlin, der den Ge- (2014): Kinderchirurgie in Leipzig. Bilder Doku- danken dem Direktor der Chirurgischen 15 Meißner F (1984): Festrede anlässlich der menteundErinnerungenzuraltenundneueren Klinik im Krankenhaus in Berlin-Fried- Jubiläumsveranstaltung 25 Jahre Klinik für Geschichte, Leipzig; Gdanietz K (1997): Die Kinderchirurgie Leipzig. In: Bennek J: Kinder- Entwicklung der Kinderchirurgie in der DDR – chirurgie in Leipzig. Bilder Dokumente und 1949bis1990.In:PädiatrieundGrenzgebiete36, 14 Noack-Wiemers F (2005) [wie Anm. 13]; ErinnerungenzuraltenundneuerenGeschichte, S.95–106. BennekJ(2014)[wieAnm.13]. Leipzig,S27–35.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 93 Pädiatrie nach 1945

Weimarer Konferenz – gische Einrichtungen. Nachwuchs wurde Arbeitsgemeinschaft ausgebildet. Da erschreckte die Nach- Kinderchirurgie 1964–1968 richt, dass laut eines Beschlusses vom 17. November 1966, der Facharzt für Im Jahr 1960 fand in Weimar eine Ge- Kinderchirurgie abgeschafft sei.17 Aus sundheitskonferenz statt, auf der ein Per- eigenem Erleben musste zur Kenntnis spektivplan zur Entwicklung der medizi- genommen werden, dass die neue Fach- nischen Wissenschaft und des Gesund- arztordnung am 1. Februar 1967 ohne heitswesens in der DDR beraten und der Berücksichtigung der Kinderchirurgie Beschluss gefasst wurde, neue fachspezi- erlassen worden war. Das bedeutete eine fische medizinische Gesellschaften, Sek- Abkehr vom Geist der Weimarer Kon- tionen und Arbeitsgemeinschaften (AG) ferenz. Obwohl die weitere Entwicklung zu gründen. Was die Kinderchirurgie be- nicht abzusehen war, richteten Helmut trifft, war dies sicherlich auch der Tat- Richter 1967 am Bezirkskrankenhaus sache geschuldet, dass in Polen ein das Potsdam und Werner Fritz 1968 an ganze Land überziehendes Netz von etwa der Universität Halle kinderchirurgische 30 kinderchirurgischen Abteilungen und Abteilungen ein. Ihr Voranschreiten er- Polikliniken errichtet worden war und es möglichtenletztendlichihrevorgesetzten in der Union der Sozialistischen Sowjet- chirurgischen Ordinarien, die überzeugt republiken(UdSSR)seit1932einenLehr- waren,dassohne Spezialisierungdie Chi- Abb. 51 8 Ilse Krause bei einer Operation, Ende stuhlfürKinderchirurgiegab.Esgaltalso, rurgie ihren hohen Ansprüchen nicht der 1960er-Jahre. (© Kurt Gdanietz, mit freundl. Genehmigung) die günstige Stunde der Beschlussfassung mehr gerecht werden konnte. von Weimar zu nutzen und kinderchir- Aus den genannten 7 Einrichtungen urgisch tätige Ärzte zu einen. Das dauerte waren bis dato über 200 wissenschaftli- in der Oststr.“ (Klinikstandort).15 Krau- 4 Jahre. In abgesprochener Gemeinsam- che Arbeiten und ebenso viele Vorträge se erging es ähnlich, sie folgte dem vä- keit mit Leitern bereits funktionieren- hervorgegangen, die, mit bereits ge- terlichen Rat ihres Chefs, den man auch der kinderchirurgischer Einrichtungen – wonnenen diagnostischen, pathophysio- Befehl nennen könnte: „Mein gutes Kind, Fritz Meißner (Leipzig), Ilse Krause (Ber- logischen und innovativen operativen das machst du.“ lin-Buch; . Abb.51),WalterSchmitt(Ro- Erkenntnissen, Pessimismusszenarien Weitere kinderchirurgische Einrich- stock), Günther Bellmann (1921–1974, entgegentraten. Das blieb ministeriellen tungen entstanden 1958 und 1959 Dresden) – etablierte Meißner am 4. Ju- Stellen nicht verborgen und führte zu ei- am Bezirkskrankenhaus in Karl-Marx- ni 1964 die AG für Kinderchirurgie, die nem neuerlichen Konferenzprogramm. Stadt (Chemnitz) unter Wolfgang Popp 2 Jahre später, am 21. und 22. Oktober (1923–2011) und an der Universität Ro- 1966 in Reinhardsbrunn, Thüringen, ihr Berliner Konferenz – Sektion stock unter Walter Schmitt (1911–2005). erstesSymposionausrichtete.Kassandra- Kinderchirurgie 1968–1985 Damit erhöhte sich die Wahrscheinlich- rufe habennichtgefehlt, wie schonaufder keit, ein mit kinderchirurgischer Gestal- 61. Tagung der Deutschen Gesellschaft Der nächste Abschnitt im zeitlichen tungskompetenz ausgestattetes Fach als für Chirurgie 1937, wo vor „von immer Ablauf der Entwicklung der Kinder- diagnostisch-therapeutische Einheit er- wieder zutage tretender Sucht, die Chi- chirurgie in der DDR beginnt mit der schaffenzukönnen.FürdiesesZielsuchte rurgie in kleinste Einzelkünste zu spal- am 22. November 1968 gegründeten der praxiserfahrene Direktor der Chir- ten“, gewarnt wurde.16 Dass Kinder von SektionimRahmenderGesellschaft urgischen Universitätsklinik Rostock, Geburt an den für sie kompetenten Chi- für Chirurgie der DDR. Zeitgleich fand Walter Schmitt, 1958 Chirurgenkollegen rurgen brauchen, wurde nur allmählich die Berliner Konferenz statt, an der ein zu gewinnen: „Wenn man dem Neu- verstanden. Meißner sollte recht behal- Vertreter des Ministeriums für Gesund- geborenen, Säugling und Kleinkind das ten: „... und wir werden noch viele Un- heitswesen, Vertreter des Vorstands der Recht auf beste chirurgische Behandlung terredungen haben, um die traditionsge- Gesellschaft für Chirurgie und Pädiatrie zubilligt, muss man feststellen, dass hier bundenen Chirurgen von den Vorzügen teilnahmen.BesprochenwurdedieSitua- vielerorts bis heute eine therapeutische einer um ihrer selbst willen betriebenen tion der Kinderchirurgie mit folgenden Lücke klafft. Man kann die Säuglings- Kinderchirurgie zu überzeugen.“ Ergebnissen: und Kleinkinderchirurgie nicht auf ir- Im Jahr 1966 existierten an den Uni- 4 Das Ministerium für Gesundheitswe- gendwelchen chirurgischen Abteilungen versitäten Leipzig und Rostock, an der sen ist am Ausbau einer qualifizierten ,so nebenbei‘ von irgendwelchem Ope- Medizinischen Akademie Dresden sowie rateur mit erledigen lassen. Das bringt an den Bezirkskrankenhäusern Berlin- 17 EisenbergU(2013):FacharztfürNeurochirur- dem Operateur Nackenschläge und die Buchund Karl-Marx-Stadt kinderchirur- gieinderDDR–einPolitikum?In:Schriftenreihe kleinen Patienten recht häufig auf den der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Friedhof “. 16 SteinauH-U,BauerH(2011)[wieAnm.10]. Nervenheilkunde13,S.146.

94 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 spezialisierten chirurgischen Ver- errichtet, die von Fachkinderchirurgen arztanerkennung. Das galt für bereits sorgung von Kindern interessiert geleitet wurden. etablierte Fächer; eine Kinderchirurgie und erwartet Vorschläge von den Parallel zur Kinderchirurgie entwi- war ja erst im Entstehen. Im Ausnahme- Kinderchirurgen. ckelte sich die Kinderanästhesie. Sie erst verfahren wurde den Chirurgen Krause 4 Die Gesellschaft für Chirurgie verschaffte dem „Neuland Kinderchirur- und Meißner die Anerkennung als Fach- schließt sich der Forderung an, gie“ endgültige Entfaltungsmöglichkei- arzt für Kinderchirurgie erteilt, da sie in sofern noch nicht geschehen, endlich ten. Seit Beginn der 1960er-Jahre haben eigener Verantwortung die Kinderchir- an allen chirurgischen Universitäts- beide Entitäten eine gemeinsame Medi- urgie in der DDR initiiert hatten und zur und Akademiekliniken und an allen zingeschichte. Auf Initiative von Krause Ausbildung künftiger Kinderchirurgen Bezirkskrankenhäusern kinderchir- war am 1. April 1969 in Berlin-Buch die diestaatlicheLegitimationbenötigten, urgische Fachabteilungen zu errich- erste Kinderintensivtherapiestation der in Berlin ab 1958. Die 1966 verordnete ten, die von Fachkinderchirurgen zu DDR unter Leitung der Anästhesistin facharztlose Zeit dauerte 8 Jahre. Durch leiten sind. Ingeborg Schneider mit ihren beiden die Berliner Konferenz 1968 bekräftigt, 4 Die Gesellschaft für Pädiatrie fordert Mitarbeiterinnen Hannelore Dege und erhielt der Facharzt schließlich 6 Jahre die Wiedereinführung des „Facharz- Ursula Bienioßek gegründet worden – später mit § 3 der Anordnung Nr. 1 vom tes für Kinderchirurgie“ und erwartet nur 8 Tage später als die erste Einrich- 23. Mai 1974 über die Weiterbildung eine kontinuierliche Versorgung der tung dieser Art in der Bundesrepublik an der Ärzte und Zahnärzte Gesetzeskraft. in den Kinderkliniken und -abtei- der Universität Mainz. Das Ministerium Seit 1974 oblag die Organisation der lungen liegenden chirurgisch zu für Gesundheit hinkte diesen Initiativen Facharztaus- und Weiterbildung der behandelnden Patienten durch den gewaltig hinterher, erst 7 Jahre später „Akademie für ärztliche Fortbildung der Facharzt.18 wurde 1976 der Beschluss gefasst, „die DDR“ mit Sitz in Berlin-Lichtenberg. medizinische Spezialbehandlung und Unmittelbar nach Wiedereinführung Damit hatten die Kinderchirurgen Ver- -betreuung auf dem Gebiet der Intensiv- des Facharztes wurde hier die „Zentrale bündete auf dem Weg zur Selbstständig- therapie, ... der Kinderchirurgie durch Fachkommission für Kinderchirurgie“ keit. Die Ungewissheit darüber, ob der Profilierung vorhandener Kapazitäten gebildet. Sie bestand aus dem Vorsit- Facharzt für Kinderchirurgie erworben voranzutreiben.“19 Von 3 Klinikleitern zenden Tischer (Greifswald) und den werden könne, hielt die Mediziner nicht wurde daraufhin ein Netz- und Struk- Mitgliedern Meißner (Leipzig), Krau- davon ab, die Ausbildung in einer der turplan erstellt, der die Forderungen se und Gdanietz (beide Berlin-Buch), bisherigen 7 Einrichtungen fortzusetzen der Berliner Konferenz umsetzte und Isa Poppe (Rostock), Schickedanz (Je- bzw. zu beginnen. Die Ergebnisse der die flächendeckende kinderchirurgische na), Gottschalk (Erfurt) und Winrich Berliner Konferenz (1968) wurden mit Versorgung verwirklichte. Dazu bei- Mothes (Schwerin), dem späteren ersten Leben erfüllt. Im Jahr 1969 errichtete die getragen hat auch die von Anbeginn Gesamtdeutschen Präsidenten der Deut- Universität Greifswald den zweiten Lehr- gepflegte interdisziplinäre Zusammen- schen Gesellschaft für Kinderchirurgie stuhl für Kinderchirurgie in der DDR arbeit, besonders mit Pädiatern, die z. B. (DGKCH). Am 13. Dezember 1974 fand und besetzte ihn mit Wolfram Alfred Jo- am 30. März 1981 zum Zentrum für die erste Facharztprüfung statt. Sie war chen Tischer (1930–2015). Im darauf- Kindermedizin in Leipzig führte. notwendig, denn mehrere Ärzte warte- folgenden Jahr ernannte die Medizini- ten darauf, ihre Facharztanerkennung sche Akademie Magdeburg Karl-Hein- Facharztaus- und Weiterbildung erwerben zu können. Die Weiterbildung rich Römer (1920–2010) zum Professor erfolgte an ausgewählten Einrichtungen mit Lehrstuhl für Kinderchirurgie, und Seit 1955 war die Ausbildung zum Fach- mit Voll- bzw. Teilberechtigung. 1977 folgten die Berufungen von Eckart arzt durch das Ministerium für Gesund- Zur Ausbildung gehörten Weiterbil- Gottschalk zum Professor mit Lehrstuhl heitswesen gesetzlich geregelt.20 Fach- dungslehrgänge, die darauf abzielten, an die Medizinische Akademie Erfurt so- arztanwärter durchliefen eine einjährige theoretisches und praktisches Wissen zu wie von Herbert Schickedanz zum Pro- Pflichtassistentenzeit, anschließend eine vertiefen. Die einwöchigen Lehrgänge fessor mit Lehrstuhl an die Universität 5-jährige fachspezifische Ausbildung fanden jährlich statt und wurden, der Jena. In den 1970er-Jahren entstanden und erhielten auf Antrag, später erst Weiterbildungszeit entsprechend, von 17 weitere kinderchirurgische Einheiten, nach bestandener Prüfung, die Fach- jedem Facharztkandidaten durchlaufen. womit die Forderung der Gesellschaft für Die Themen waren so gewählt, dass der Chirurgie auf der Berliner Konferenz er- 19 Fischer E, Rohland L, Tutzke D (1979): Für Teilnehmer annähernd den gesamten füllt war: Endlich waren an allen Chirur- das Wohl des Menschen Bd. II: Dokumente Stoff der Kinderchirurgie einmal hör- gischen Universitäts- und Akademiekli- zur Gesundheitspolitik der Sozialistischen te und ihm internationale Kenntnisse EinheitsparteiDeutschlands,Berlin,S.176. niken und an allen Bezirkskrankenhäu- weitergegeben wurden. Die Teilnahme 20 sernkinderchirurgischeFachabteilungen Schickedanz H (1982): Gegenwärtige und war kostenlos, es erfolgte eine Freistel- künftige Aspekte der Kinderchirurgie. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich lung vom Klinikdienst; Übernachtungs- Schiller Universität Jena, Math Nr R 31. Jg. H 3, und Fahrtkosten wurden erstattet. Diese 18 GdanietzK(1997)[wieAnm.13]. S.525–530. Lehrgänge rief Meißner ins Leben, der

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 95 Pädiatrie nach 1945

Tschechoslowakei, Bulgarien. Es kamen 33 Vorträge zu Gehör, 13 aus der Bun- desrepublik, 10 aus der DDR.21 Tagungen (. Abb. 52), Symposien und Kongresse folgten. An Universitäten und Akademien Abb. 52 9 Vier- wurden Vorlesungen gehalten und Kur- te Tagung der se durchgeführt. Krause führte die kin- Kinderchirurgen der DDR in der Kon- derchirurgische Vorlesungstätigkeit in gresshalle am Berli- der Berliner Charité ein. Innovatio- ner Alexanderplatz, nen in der Kindermedizin waren die September 1969. „Fachschwester für Intensivmedizin im (© Kurt Gdanietz, Kindesalter“, wofür Ausbildungspro- mit freundl. Geneh- migung) gramme in Leipzig erarbeitet worden sind, und ambulante Operationen im Kindesalter, die ihren Anfang in der erste fand vom 6. bis 11. Juni 1966 in on in eine Gesellschaft zu stellen. Dieser Kinderchirurgischen Klinik in Berlin- LeipzigundinderFolgeunterseiner wurde auf der Vorstandssitzung der Ge- Buch 1966 nahmen. Während am 13. Ja- Ägide bis 1986 ohne Unterbrechung sellschaft für Chirurgie am 31. Oktober nuar 1979 auf der wissenschaftlichen statt. Nach seiner Emeritierung gingen 1983 vom Vorsitzenden der Sektion be- Sitzung in Mainz noch über „Gesichts- 1987 Organisation und Leitung an Gda- gründet. Nach eineinhalbstündiger Dis- punkte zum ambulanten Operieren“, nietz (Berlin-Buch) mit Lehrstuhl an der kussion beendete zur Verblüffung aller zum „Stellenwert“, zu „denkbaren In- Akademie. der sich bis dahin zurückhaltende Vor- dikationen“, zu „Schwerpunkten“ und Einen anderen Charakter der Wei- sitzende der Chirurgischen Gesellschaft zu anderen Themen vorgetragen und terbildung hatte das von Meißner am Prof.Dr.Dr.h.c.HelmutWolff(Cha- diskutiert wurden, konnte bereits über 13. Dezember 1972 angeregte Konsulta- rité) die Debatte: „Nachdem wir die Be- eine 13-jährige Erfahrung mit ambulan- tionstreffen. Auf ihm wurden schwierige gründungvonHerrnGdanietzgehörtha- ten Operationen durch Kinderchirurgen oder schwer lösbare Fälle diskutiert. Das ben, sollten wir die Kinderchirurgie in der DDR berichtet werden. Ärzte unter- Treffen fand an wechselnden Orten ein- die Selbständigkeit entlassen. Ich werde richteten in Fachschulen und bildeten mal jährlich statt und wurde nach der dem Präsidenten der Gesellschaft für Kli- Operationsschwestern aus. politischen Wende 1989 von Gottschalk nische Medizin unseren Beschluss mit- bis 1999 alle 2 Jahre in Erfurt fortgesetzt. teilen.“ Am 19. Oktober 1985 fand die Resümee Kinderchirurgie ist Alterschirurgie, Gründungsversammlung im Kongress- die sich den Lebensabschnitten anzu- zentrum des Berliner Palasthotels un- Seit 1957/1958 gab es in Kreisen und Be- passen hat. Diagnostische Verfahren ter der Leitung von Schickedanz (Jena) zirken Kommissionen zur Bekämpfung gleichen sich nicht immer, Operati- statt. Meißner wurde erster Vorsitzender der Säuglings- und Kindersterblichkeit. onstechniken variieren. Im „Neuland der Gesellschaft für Kinderchirurgie der Betrug die Säuglingssterblichkeit bei Kinderchirurgie“ gab es Probleme zu DDR. Gründung der DDR 78,3 ‰, so lag lösen, wofür AG gegründet wurden. sie 1989 bei 7,6 ‰.22 Daran hat auch Es gab eine AG, die sich mit Tumo- Wissenschaftliche Tätigkeit die Kinderchirurgie mitgewirkt. Nicht ren befasste, eine mit der Chirurgie des immer war die Arbeit leicht, beson- Harntrakts, der Kindertraumatologie, Für die ersten 8 Jahre seit Gründung der ders infolge des Fortgangs von Ärzten dem Hospitalismus und der Zukunft DDR liegen nur wenige Publikationen und medizinischem Personal bei offe- der Kinderchirurgie als AG Prognose. vor.ErstimneuntenJahrfandenam26. nen Grenzen bis zum 13. August 1961. Die AG haben die Entwicklung voran- und 27. September 1958 ein kinderchir- In der Frühe wusste man oft nicht, getrieben und waren eine Grundlage des urgisches Symposion mit internationa- wer im Laufe des Tages noch kam. fachlichen Fortschritts. ler Beteiligung in Rostock statt, das vom Atraumatisches Naht- und Einweg- Ordinarius der Chirurgischen Univer- material hätte den Kindern gutgetan; Gesellschaft für Kinderchirurgie sitätsklinik, Walter Schmitt, organisiert Ultraschallgeräte, CT und MRT waren der DDR 1985 – Ziel der und wissenschaftlich geleitet wurde. Die Entwicklung Grenzen zur Bundesrepublik und zu Ber- 21 Schmitt W (1959): Kinderchirurgisches Sym- lin-West waren noch offen. Aus der Bun- posionam26./27.9.1958inRostock,Berlin. Am 26. Oktober 1982 beauftragten die desrepublik haben u. a. Anton Obernie- 22 Syllm-Rapoport I (1974): 25 Jahre Bekämp- MitgliederdenVorstandderSektionKin- dermayr (München) und Rehbein (Bre- fung der Säuglingssterblichkeit in der DDR – derchirurgie, die Teil der Chirurgie war, men) teilgenommen, ferner Vertreter aus Ergebnisse und Aufgaben. In: Kinderärztliche einen Antrag auf Umwandlung der Sekti- Schweden, England, Österreich, Ungarn, Praxis42,S.433–438.

96 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 nicht überall verfügbar. Fachzeitschrif- Korrespondenzadresse ten ausländischer Verlage konnten nur in umständlichen und zeitaufwendigen Prof. Dr. K. Gdanietz VerfahrenüberBibliothekenausgelie- Gudvanger Str. 21, 10439 Berlin, Deutschland hen werden. Der Mangel traf auch das [email protected] Gesundheitswesen, im Gegensatz zur Bundesrepublik, deren Wirtschaft sich KurtGdanietz,Prof.Dr.med.;geb.1928inDanzig; schneller entwickelte, „bedingt durch 1950–1955 Medizinstudium an der Humboldt-Univer- sität Berlin, Facharzt für Chirurgie und Kinderchirurgie, geringere Reparationsleistungen und ehemaliger Direktor der Kinderchirurgischen Klinik im durch den Marshallplan, während der Klinikum Berlin-Buch. wirtschaftliche Neuaufbau in der DDR durch erhebliche Reparationsleistungen an die im Krieg schwer zerstörte Sow- jetunion erschwert wurde.“23 Doch hatte der Mangel nicht zu anderen Behand- lungsergebnissen geführt als in Ländern mit freier Marktwirtschaft. Und eines war während der 34-jährigen kinder- chirurgischen Tätigkeit in den 41 Jahren des zentral und straff organisierten Ge- sundheitswesens erreicht: die flächen- deckende Versorgung der 15 Bezirke durch Kinderchirurgen. Dazu äußerte sich Hecker (München – Ehrenprä- sident der DGKCH 2004–2008) 1997 Meißner gegenüber (Ehrenpräsident der DGKCH 1990–2004): „Die Entwicklung der Kinderchirurgie bei euch war viel zielstrebiger, viel planmäßiger als bei uns. Bei euch war das so, wenn man die Administration überzeugt hat, dann haben die eine Verordnung erlassen, jeder Bezirk richtet eine kinderchirur- gische Abteilung ein, und sie wurde eingerichtet!“24 NachderWiedervereinigungDeutsch- lands trat die Gesellschaft für Kinder- chirurgie der DDR am 17. November 1990 der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie bei.

23 Werkentin F (2014): 1952 – Ein Schick- sals- und Schlüsseljahr der DDR – Geschich- te. In: Querschnitt einer Diktatur Die DDR 1952–1962–1972–1982. Landesbeauftragter fürdieUnterlagendesStaatssicherheitsdienstes derehemaligenDDRSchriftenreihe33,S.6. 24 Hecker WCh (1997): Interview. In: Deutsche Gesellschaft fürKinderchirurgie – Mitteilungen, Heft1–2.S33.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 97 Pädiatrie nach 1945

Frank Höpner Kinderchirurgie in der Bundesrepublik nach 1945

Kurt Gdanietz hat zu Beginn seines Bei- 2. In Deutschland gab es zwar auch Da gab es schon mal einen im Kof- trags über die Kinderchirurgie in der vor 1945 eine Reihe von kinder- ferraum versteckten Kinderchirurgen DDR bereits Allgemeines zur Entwick- chirurgischen Abteilungen mit z. T. und Märsche durch den verschneiten lung unseres Fachgebiets gesagt. Daher ehrwürdiger Geschichte. Bemühun- Wald über Österreichs Grenzen hinweg. kann sich der Autor in seinem Bericht gen um eine Strukturierung, um Lange blieben Obergurgl in Österreich über die Aspekte in der Bundesrepublik wissenschaftliche Gesellschaften, um und Pécs, Budapest oder Szeged in Un- auf folgende 3 einleitende Bemerkungen Kongresse und Tagungen oder um garn unsere Treffpunkte. Diejenigen, beschränken: einen Facharzt für Kinderchirurgie die ihre kinderchirurgische Karriere nur 1. Mit der Frage, wer denn die Kinder fanden aber erst nach 1945 statt. Es nach Westen ausrichteten, haben etwas operieren solle, ging man früher fehlten Strukturen. Wer nun die vor- versäumt. durchaus unterschiedlich um. August anstehende Darstellung von Gdanietz von Hauner (1811–1884), Gründer mit den vorliegenden Ausführungen Die „AG“ und Oberniedermayr des Dr. von Haunerschen Kinder- vergleicht, wird feststellen, dass zeit- spitals in München, operierte bis gleich oder nur leicht zeitverschoben In der 1964 genehmigten Satzung der 1849 selbst: Abszesse, Hautaffektio- in West und Ost im Prinzip dieselben Deutschen Gesellschaft für Kinderchir- nen, inkarzerierte Leistenhernien, Dinge abliefen. Denn die Zeit war reif urgie der Bundesrepublik lautet die Prä- Hydrozelen und Nabelbrüche. Aus dafür. ambel: „Am 17. April 1963 wurde die Hamburg und Köln wird Ähnli- 3. Für die DDR hat Gdanietz bereits Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kinder- ches berichtet. Die meisten Kinder 1997 eine umfassende Darstellung chirurgen in der Deutschen Gesellschaft aber wurden in der „vorkinderchir- der Geschichte der Kinderchirurgie für Chirurgie in eine selbstständige urgischen“ Zeit naturgemäß von nach 1945 vorgelegt. Wolfgang Haße, Gesellschaft umgewandelt.“ Das hatte Chirurgen operiert, entweder in der seit den Anfängen dabei war, hat eine Vorgeschichte. Am 21. Septem- ChirurgischenKlinikenoderineiner dies 2013 für Westberlin getan. Die ber 1957 hatte Anton Oberniedermayr Kinderklinik, in die ein Chirurg „ab- vorliegenden Ausführungen können (1899–1986; . Abb. 53), Leiter der Kin- gestellt“ war oder in die ein Chirurg zu einer Chronik für die Geschichte derchirurgie im Dr. von Haunerschen zum Operieren kam. Ottmar von An- der Kinderchirurgie in der Bundes- Kinderspital, zu einem „Treffen west- gerer (1850–1918), der chirurgischen republik nach 1945 nur beitragen. deutscher Kinderchirurgen“ eingeladen. Poliklinik zugehörig, hatte an der Denn sie sind vom Erleben der be- Neben„OB“,wieergenanntwurde,waren Dr. von Haunerschen Kinderklinik schriebenen Personen bestimmt, also Fritz Rehbein (1911–1991; . Abb. 54), von 1886 bis 1891 eine chirurgische subjektiv und keinesfalls vollständig. Waldemar C. Hecker (1922–2008) und Oberarztstelle inne und stritt sich Wolfgang A. Maier (1927–2011) dabei. dort heftig mit dem Pädiater Ranke, Grenzen und Kinderchirurgen Über alle wird noch zu reden sein. Es der seinerseits Kinder in eine chirur- entstand die in der Präambel erwähn- gische Praxis überwies. Später geriet Gdanietz hat das Treffen in Rostock 1958 te „AG“, deren Mitglieder sich unter er mit seinem Nachfolger Wilhelm erwähnt, an dem westdeutsche Kinder- Leitung Oberniedermayrs in der Folge Herzog (1850–1931; Inhaber des chirurgen noch teilnehmen konnten. mehrmals trafen. ersten Extraordinariats für Kinder- Dann wurden die offiziellen Möglich- An verschiedenen Kinderkliniken chirurgie 1910) in Konflikt, weil er keiten immer geringer; die Mauer wurde und chirurgischen Kliniken etablierten trotz anderslautender Abmachung gebaut. Einige Kinderchirurgen in der sich mittlerweile kinderchirurgische Ab- weiterhinKinderinderchirurgi- DDR erhielten den begehrten Reiseka- teilungen, oft ohne offiziellen Charakter. schen Klinik operierte. Es hat einen derstatus und konnten noch ins kapita- Im Jahr 1963 landete Oberniedermayr gewissen Reiz, dass Dinge, die uns listische Ausland fahren. Heute darf man auf der Präsidiumssitzung der Deutschen heute gelegentlich beschäftigen, un- sagen: Auf legale und auf illegale Weise Gesellschaft für Chirurgie einen Über- seren Altvorderen keineswegs fremd gelang es den Kinderchirurgen in West- raschungscoup und verkündete ohne waren. und Ostdeutschland nicht nur, per Post jede vorherige Absprache mit Kolle- und Telefon in Verbindung zu bleiben, gen die Gründung einer selbstständigen sondern auch gemeinsame Treffen zu or- Gesellschaft für Kinderchirurgie. Die LiteraturbeimVerfasser ganisieren und Literatur auszutauschen.

98 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 verdienstkreuz 1. Klasse. Im Jahr 1959 hatte er eine a.o.-Professur, 1966 das per- sönliche Ordinariat für Kinderchirurgie erhalten. Mitarbeiter haben ihn als äußerst kor- rekt, streng, distanziert, aber auch für- sorglich erlebt. Seine Autorität war un- bestritten; undenkbar, dass er einen Kol- legen geduzt hätte. Die Kinderchirurgen haben ihn 1967 zum ersten Ehrenpräsi- denten ernannt und ihn mit der Ober- niedermayr-Ehren-, später Gedächtnis- vorlesung gewürdigt. Sie wurde ab 1999 nicht mehr fortgeführt, als die Diskus- sion um seine Person begonnen hatte. Anton Oberniedermayr emeritierte 1968 und starb 1986 in Starnberg.

Erster gewählter Präsident: Fritz Rehbein Abb. 53 8 AntonOberniedermayr(1899–1986). Abb. 54 8 Fritz Rehbein (1911–1991). (© Klinik (© Frank Höpner, mit freundl. Genehmigung) für Kinderchirurgie und Kinderurologie Bremen, Neben Stuttgart (1882), Köln (1883) und mit freundl. Genehmigung) München (1886) gehörte auch Bremen zu den Städten im Westen Deutsch- Verblüffung war so groß, dass sich kein wurde OB sein Nachfolger. Er setzte sich lands, die bereits im späten 19. Jh. Widerspruch regte. stets für die gute Zusammenarbeit mit über kinderchirurgische Einrichtungen Seitdem war „OB“ der Gründungsprä- Kinderärzten und Chirurgen ein. Er rea- verfügten. Im Jahr 1882 wurde hier sident. Erneut lud er nach München ein, lisierte seine Vorstellung von einer Kin- ein „chirurgischer Pavillon“ innerhalb und es kam zu der denkwürdigen Sit- derchirurgie mit breitem Spektrum, das der Kinderklinik erbaut. Die Operatio- zung vom 3. April 1964, die Hecker laut auch die Kinderorthopädie umfasste. nen führten Ärzte der Chirurgischen einer Aufzeichnung als Gründungsver- Oberniedermayr wurde 1945 seines Klinik aus. Weltgeltung erlangte die sammlung der Deutschen Gesellschaft Amtes enthoben, weil er der National- Kinderchirurgie in Bremen nach dem für Kinderchirurgie bezeichnete. „OB“ sozialistischen Deutsche Arbeiterpartei Zweiten Weltkrieg durch Fritz Rehbein, wollte, dass ein Vorsitzender durch Wahl (NSDAP) und verschiedenen NS-Or- den ersten gewählten Präsidenten der bestimmt würde, und schlug den abwe- ganisationen angehört hatte. Von der Deutschen Gesellschaft für Kinderchir- senden Fritz Rehbein aus Bremen vor, Spruchkammer wurde er als Mitläufer urgie nach dem Gründungspräsidenten der einstimmig gewählt wurde. eingestuft und zur Zahlung von 2000 Oberniedermayr. Oberniedermayr und Ein Ausschuss hatte die erste Satzung Reichsmark Sühnegeld verurteilt. Erst Rehbein waren 2 völlig unterschiedliche – sie war von erfrischender Kürze – eine neue Untersuchung legt den Ver- Persönlichkeiten, die aber bewiesen, wie vorbereitet. Sie wurde einstimmig ver- dacht sehr nahe, dass er ebenso wie sein man loyal und in gegenseitigem Re- abschiedet. In ihr ist festgehalten, die Kollege Alfred Wiskott (1898–1978) spekt gemeinsam ein Ziel, nämlich in Verbindung zur Deutschen Gesellschaft über die Tötungsanstalt Eglfing-Haar, Westdeutschland die Kinderchirurgie zu für Kinderheilkunde und zur Deutschen wohin Kinder auch aus seiner Abteilung etablieren, erreichen kann. Gesellschaft für Chirurgie pfleglich zu überwiesen wurden, Bescheid gewusst Rehbein war 1946 in Göttingen Fach- behandeln. Unterzeichnet ist sie neben hat. arzt für Chirurgie und Orthopädie ge- den beiden Protagonisten Obernieder- Im Jahr 1954 wurde er als Leiter der worden, und sein Mentor, der Leiter der mayr und Rehbein auch von den späteren Kinderchirurgie der Dr. von Hauner- Göttinger Chirurgischen Klinik und ehe- Präsidenten Singer (*1920) und Maier. schen Kinderklinik wieder eingesetzt. mals überzeugte Nationalsozialist Rudolf Anton Oberniedermayr, 1899 gebo- Er hat sich sehr um behinderte Kinder Stich (1875–1960), hatte ihm die zu ope- ren, einer deutschnational gesonnenen gekümmert und seine Klinik zu einem rierenden Kinder anvertraut. Familie entstammend, war erst Assis- Zentrum der Hydrozephalus- und Spina- Auch Rehbein war Mitglied der tenz-, dann Oberarzt von Richard Drach- bifida-Chirurgie gemacht. Die Zerris- NSDAP gewesen, durfte aber nach dem ter(1883–1936)anderchirurgischenAb- senheit seiner Generation kommt in Krieg in Göttingen ohne Unterbrechung teilung des Dr. von Haunerschen Kin- zwei Auszeichnungen zum Ausdruck, weiterarbeiten, weil er sich offensichtlich derspitals. Als Drachter an einer nicht- die er erhielt: 1935 das Ehrenkreuz für nicht parteipolitisch betätigt hatte. Von erkannten Appendicitis perforata starb, Frontkämpfer und 1970 das Bundes- 1951 bis 1976 leitete er die Kinderchir-

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Abb. 55 9 Fritz Rehbein (3. von links) bei einer Ope- ration. (© Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie Bre- men, mit freundl. Genehmigung)

urgieinBremenMitte.NachWestund gliedschaft der Deutschen Gesellschaft Ost knüpfte er ein – so würde man für Kinderheilkunde erfreuen konnten. Abb. 56 8 heute sagen – kinderchirurgisches Netz, Esgibtnichts,wasRehbeinsBuchOpe- Waldemar Hecker (1922–2008). (© Frank Höpner, mit freundl. Genehmigung) und seine Klinik wurde ein Mekka für rationen im Kindesalter (1976) gleich- Kinderchirurgen aus aller Welt. Im Jahr kommt. Wenn andere von einer Naht 1964 gründete er zusammen mit Gerhard sprechen, beschreibt Rehbein die Art Dr. von Haunerschen Kinderchirurgie, Joppich (1903–1992) und Karl-August des Fadens, der Nadel, des Einstichs, des soweit die bzw. der Einzelne stimmfähig Bushe (1921–1999) die Zeitschrift für Ausstichs, des Knotens, wie dieser zu war, auf den Weg machen: Es stand die Kinderchirurgie und Grenzgebiete, deren knüpfen und der Faden abzuschneiden Wahl an, und Hecker (. Abb. 56)hatte Schriftleitung er 1983 nach 19 Jahren ist (. Abb. 55). Wohl dem, der ein Ex- beschlossen, Präsident der Gesellschaft an Alexander Holschneider weitergab. emplar des vergriffenen Buchs hat und zu werden. Er wurde es. Hecker, erster Zeichen internationaler Anerkennung auch weitergibt. Fritz Rehbein starb 1991 Inhaber eines ordentlichen Ordinariats war die Ausrichtung des Kongresses in Bremen. für Kinderchirurgie in Westdeutschland, der „British Association of Paediatric war unermüdlich in Sachen Standespoli- Surgeons“ 1967 in Bremen, damals der Nachfolger tik für die Kinderchirurgie tätig. Er ver- Eliteclub der europäischen Kinderchir- folgte seit Langem einen Plan. Der Fach- urgen. Die erste erfolgreiche Operation Rehbeins Nachfolger auf dem Präsiden- arzt für Kinderchirurgie musste geschaf- eines Kindes mit Ösophagusatresie in tenstuhl war von 1970 bis 1973 sein fen werden. Bisher war nur der Erwerb Deutschland ist ebenso mit seinem Na- Schüler Werner Armin Herbert Axel einer Zusatzbezeichnung „Kinderchirur- men verknüpft wie die Inauguration von Ekesparre (1919–1998). Der pom- gie“ zum Facharzt für Chirurgie möglich. neuer Operationsmethoden, z. B. beim mersche Edelmann hatte zu festigen und DenMarschdurchdie Institutionenhatte Megakolon. zu institutionalisieren, was die beiden er schon früh begonnen, und nach weni- Rehbein, geb. 1911 in Westuffeln bei Überväter ersonnen hatten. Das mach- gen Jahren war er Delegierter beim Deut- Kassel, war bescheiden, nie laut. Die te seine Amtszeit weniger spektakulär, schen Ärztetag. Er blieb es über fast zwei Zahl seiner Auszeichnungen zu nennen, aber nicht weniger erfolgreich. Von 1958 Jahrzehnte. Unermüdlich war er dabei, würde den gegebenen Rahmen sprengen. bis 1984 leitete er die Kinderchirurgie die Weichen für den Facharzt für Kin- Genannt sein sollen nur die Paracelsus- des Kinderkrankenhauses Walddörfer derchirurgie zu stellen, und 1992 erfolgte Medaille als höchste Auszeichnung der in Hamburg-Duvenstedt. Er war der der entsprechende Beschluss. Deutschen Ärzteschaft (1978) und die Philosoph unter den Präsidenten. Sein Selbst kein Forscher, hat Hecker Ehrenmedaille der Deutschen Gesell- 1981 in Warschau auf dem Kinderchir- gleichwohl die AG „Kinderchirurgische schaft für Kinderchirurgie (1976), die urgenkongress gehaltener Vortrag „Die Forschung“ initiiert und die Reihe Pro- als höchste Ehrung unserer Gesellschaft Zeit – der Raum in dem wir leben“ gress in Pediatric Surgery mitbegründet. 1992 in „Fritz-Rehbein-Ehrenmedail- hätte wohl auch auf einer Tagung von Was sich Hecker vorgenommen hat- le“ umbenannt wurde. Rehbein ist der Geisteswissenschaftlern bestanden. te, setzte er, meist mit Erfolg, durch. einzige deutsche Kinderchirurg, der Im Jahr 1972 hielten die Deutsche Ge- „Ihre Bemühungen interessieren mich die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen sellschaft für Kinderheilkunde und die nicht, mich interessiert nur Ihr Erfolg“, Gesellschaft für Chirurgie erhielt. Er Deutsche Gesellschaft für Kinderchirur- war einer seiner gefürchteten Sprüche. und Oberniedermayr waren die beiden gie ihren gemeinsamen Jahreskongress Um Ziele zu erreichen, schloss der Tak- Kinderchirurgen, die sich der Ehrenmit- in Bad Pyrmont ab. Bis auf eine Stall- tiker alle möglichen Allianzen. Er war wachemusstesichdieMannschaftder oft unbeherrscht und auch nicht immer

100 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 lag ihm die Zusammenarbeit mit den Chirurgen besonders am Herzen. Eine Ausbildung zum Kinderchirurgen, ohne die Chirurgie am Erwachsenen gelernt zu haben, hielt er für falsch. Der Bayer würde sagen, Flach war ein Abb. 57 9 Präsi- „Grantler“;aberdahinterverbargsichein denten im Hörsaal großes Herz v. a. für die Kinder und ih- (1971): Andreas re Eltern, aber auch für die Mitarbeiter. Flach, Anton Ober- niedermayr(1. Reihe Flach starb nach schwerer Krankheit am v. links) Heinz Sin- 30.Oktober2006.Kurzzuvorwarernoch ger, Wolfgang Maier mit der höchsten Ehrung, die die deut- 2. Reihe v. links ( ). sche Kinderchirurgie zu vergeben hat, Dazwischen Ilse der Fritz-Rehbein-Medaille, ausgezeich- Coerdt und Theodor Hockerts. (© Frank net worden. Höpner, mit freundl. Auf Flach folgte Wolfgang A. Mai- Genehmigung) er (1927–2011; . Abb. 57). Von 1983 bis 1987 war er Präsident der Fachgesell- gerecht, griff sogar, wie weiland Sauer- stürmer Hecker der zurückhaltende, schaft. Die Verbindung mit den Freun- bruch, in Familienplanungen ein, wenn aber dennoch bestimmte Heinz Singer den und Kollegen in der DDR war ihm er das für nötig erachtete. Mit Klaus Her- (geb. 1920; . Abb. 57). Er war erster stets ein wichtiges Thema. Er reiste ger- mann Betke, dem pädiatrischen Partner, Sekretär der Gesellschaft gewesen, hatte ne und schuf Verbindungen in zahlreiche der ihm die vollständige Selbstständig- also stille Kärrnerarbeit geleistet. Als Länder. Das führte 1992 zur Präsident- keit beschafft hatte, gab es keinerlei Dis- Präsident (1976–1979) dachte er weit schaftdesWeltverbandesderKinderchir- sonanzen. Betke, von sanfter und den- über den Tellerrand hinaus. Er war urgen. Dem von ihm mitgegründeten, noch konsequenter Autorität, nie laut Schriftführer und Vorstandsmitglied der damals noch eigenständigen Berufsver- werdend, Heckers chirurgische Kompe- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftli- band – später schloss man sich den Chi- tenzbewundernd,wusste ihnzunehmen, chen Medizinischen Fachgesellschaften rurgen an – stand er jahrelang vor. Auf und Hecker wusste es zu danken. Dem e. V. (AWMF), war im Gründerkreis der seine charmante Weise erreichte er viel. Autor ist wichtig, hinzuzufügen: Hecker Internationalen Gesellschaft der Uro- Die Kinderchirurgie des Stadtklinikums war morgens der Erste in seiner Klinik logen und anderer fachübergreifender Karlsruhe, als deren Geburtsjahr 1920 und abends der Letzte. Er kannte jedes Institutionen. Mit seiner Mitgliedschaft gilt, hat er von 1964 bis 1992 geleitet. Sei- Kind. Jeden schwierigen Fall, wenn er im Arbeitskreis „Ärzte-Juristen“ betrat ne besondere Fürsorge galt behinderten innerhalb seines Vermögens lag, mach- er für die Kinderchirurgen Neuland. Kindern. In München waren es die Opfer te er zur Chefsache. Er gab den Vertre- Singer war von 1965 bis 1982 Leiter der Contergankatastrophe, in Karlsruhe tern der Teilgebiete Selbstständigkeit. Er der Kinderchirurgie in München Schwa- die Kinder mit Spina bifida und Hydro- nahm von den Reichen viel und operierte bing. Er folgte Helmut Simon, der 1963 zephalus. andere umsonst. Er führte zum Unwillen mit zwei Zimmern in der Chirurgischen Der geprüfte Skilehrer, parkettsiche- anderer Ordinarien als Erster ein Pool- Abteilung begonnen hatte und 1964 ge- re Charmeur, umsichtige Schlichter bei System ein, das die Mitarbeiter an den storben war. Differenzen innerhalb der Gesellschaft, Erlösen beteiligte. Dass er nach dem Tod Singers Nachfolger war von 1979 bis erfolgreichePräsident,glänzendeRedner von Fritz Meißner 2004 Ehrenpräsident 1983 der ehemals erste Facharzt für An- und Schreiber, der begnadete Stehgreif- der Deutschen Gesellschaft für Kinder- ästhesie Schleswig-Holsteins, Andreas dichter starb am 26. Januar 2011. chirurgie wurde, bezeichnete er als einen Flach (1921–2006; . Abb. 57), der bei Hier endet unsere Chronik vorläufig, der Höhepunkte seines Lebens. Schwach Max Grob in Zürich das Fach gelernt denn in die Amtszeit des nächsten Präsi- und hilflos geworden, musste er in den und dann in Tübingen eine kinderchir- denten, Roland Daum (1929–2009), fällt letzten Lebensjahren erkennen, dass bis urgische Abteilung aufgebaut hatte. Die die Wiedervereinigung auch der Kinder- auf wenige Ausnahmen seine vermeint- Übernahme des neu geschaffenen Lehr- chirurgen am 17. November 1990. Nicht lichen Freundschaften Zweckbündnisse stuhls für Kinderchirurgie in Tübingen mehr getrennt in Bundesrepublik und gewesen waren. Er vereinsamte; wenige 1966 verstand Flach weniger als Aner- DDR wird sie eine gemeinsame Fortset- kümmerten sich um ihn. Hecker, der so kennung für sich selbst als vielmehr für zung zu finden. viel für die Kinderchirurgie getan hatte, das von ihm vertretene Fachgebiet. Als starb am 27. Mai 2008. Präsident war ihm stets die Pflege der Resümee und Ausblick So wie auf Rehbein mit von Eke- Kinderchirurgie als akademisches Fach sparre ein Mann folgte, der stabilisierte wichtig. Ohne die Partnerschaft mit Die anfängliche Bemerkung, in den bei- und bewahrte, folgte auf den Himmels- den Kinderärzten zu vernachlässigen, den deutschen Staaten sei die Entwick-

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lung im Prinzip gleich abgelaufen, be- Korrespondenzadresse darf einer Ergänzung. Nie hat es in der Bundesrepublik im Gegensatz zur DDR Prof. Dr. F. Höpner eine Weisung von oben gegeben, kin- Reismühlerstr. 41, 82131 Gauting, Deutschland derchirurgische Abteilungen einzurich- ten, was dort die flächendeckende Ver- FrankHöpner,Prof.Dr.med.;geb.1939inPirnabei sorgung sehr begünstigt hat. So war man Dresden;Abitur1958amHumanistischenGymnasium in Aschaffenburg; 1958–1961 Studium der evange- hier, noch mehr als dort, neben der In- lischen Theologie und Germanistik in Heidelberg, itiative Einzelner auf Partnerschaften an- 1961–1966 Studium der Medizin in Heidelberg und gewiesen. Dabei zeigte sich, dass die Part- München, 1967 Promotion am Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung in Heidelberg, 1967–1970 nerschaftmitderKinderheilkundefürdie am Marienstift Braunschweig und der Evangelischen Kinderchirurgie von existenzieller Be- Kinderklinik Lippstadt, 1970–1982 am Dr. von Hauner- deutung war und ist. schen Kinderspital München; Habilitation; 1982–2004 Leitung der Kinderchirurgie München-Schwabing. Neben der für bestimmte Behand- lungen notwendigen Zentralisierung und den heute so wichtigen Maßnah- men der Qualitätssicherung und den Fragen der Ausbildung bleibt die noch unbefriedigende Flächendeckung eine zentrale Aufgabe. Dabei spielen die niedergelassenen Kinderchirurginnen und Kinderchirurgen, von denen bisher nicht die Rede war, eine erhebliche Rol- le. Niederlassungen von Ärzten, die sich ausschließlich der Chirurgie am Kind widmeten, hat es schon Ende des 19. Jh.s gegeben. In München bestanden 1960 drei kinderchirurgische Praxen. Heute zählt der Berufsverband der niederge- lassenen Kinderchirurgen 85 Praxen. Vierzehn weitere, die mit chirurgischen Praxen liiert sind, kommen hinzu. Von manchen Klinikleitern wurden die Nie- derlassungen lange kritisch beäugt. Das ist vorbei; Zusammenarbeit ist gefragt. Es gibt heute 84 kinderchirurgische Abteilungen und zusätzlich 64 klinische kinderchirurgische Einheiten unter- schiedlicher Größe. Die Kinderchirurgie ist 32-mal an Universitäten vertreten, 16-mal in Form von C4-, C3-, W3- oder W2-Professuren. Die Leitung ist 48-mal Frauen anvertraut bei einem weiblichen Mitgliederanteil von 37 %. Es wird Zeit für eine Präsidentin. Die Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendme- dizin macht es uns nach 64 Männern gerade vor. Die Entwicklung der Kinderchirur- gie wird weitergehen. In erster Linie mit unserem Partner Kinderheilkunde, aber auch mit unserem Partner Chirur- gie. Kinderheilkunde mit chirurgischen Mitteln zu betreiben, ist weiter das Ziel.

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Laura Hottenrott Lebenswege Sonderakten des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau (1964–1989) und Rolle der Medizin in der DDR-Heimerziehung

Fürsorgediskurs renzrahmen für die Legitimierung der Die Heimerziehung orientierte sich am Eingriffe und wurde von den vorherr- Konzept der „Kollektiverziehung“, das Die Heimerziehung gilt in der neue- schenden politischen Ideologien und der sowjetische Pädagoge Anton Sem- ren sozialgeschichtlichen Forschung als Programmen bestimmt.5 jonowitsch Makarenko (1888–1939) ein Paradebeispiel der Sozialdisziplinie- entwickelt hatte. Bereits in der Heim- rung.1 Dabei waren es v. a. unter dem Geschlossener Jugendwerkhof verordnung von 1951 wurde dieses als Sammelbegriff der „Verwahrlosung“ Torgau im DDR-Heimsystem grundlegendes Prinzip der Heimerzie- subsumierbare Verhaltensweisen von hung verankert.8 Jugendlichen, die seit 1876 die Anord- In der DDR waren die Jugendhilfe Die Heime der Jugendhilfe glieder- nung von „Zwangserziehung“ begrün- und die Heimerziehung nach sowje- ten sich in Normalkinderheime, Jugend- deten und den Diskurs um „Devianz“ tischem Vorbild dem Ministerium für wohnheime für „elternlose“ und „erzie- und „Schwererziehbarkeit“ bis weit in Volksbildung unterstellt. Lediglich die hungsgefährdete“sowieSpezialheimefür diezweiteHälftedes20.Jh.shinein Säuglingsheime und die Einrichtungen „schwer erziehbare“ Minderjährige. Ne- charakterisierten.2 Spezialdiskurse der für „bildungsunfähige schwachsinnige“ ben durchschnittlich etwa 30.000 Heim- Sozialpolitik, der Pädagogik, der Psych- Kinder unterstanden dem Ministerium plätzen in Normalkinderheimen gab es iatrie und der Justiz bestimmten die Für- für Gesundheitswesen.6 In den Jugend- rund 7000 Plätze in Spezialheimen der sorgepraxis und insbesondere die Heim- hilfeheimen richtete sich die Erziehung Jugendhilfe. Das Gesundheitswesen ver- erziehung. Lehrer und Jugendfürsorger, an denselben staatlichen Vorgaben aus, fügte 1989 dagegen nur über etwa 5000 Ärzte und Heimerzieher übersetzten die auch für allgemeinbildende Schulen Heimplätze.9 diese in den Alltag und griffen dadurch galten. Höchstes Ziel war die Erziehung In den Spezialheimen der Jugend- „erheblich und mit nachhaltigen Folgen zur „sozialistischen Persönlichkeit“,7 die hilfe sollten „fehlentwickelte“ Kinder in das Leben von Familien und Indivi- zugleich als Bezugsgröße für die Normie- und Jugendliche umerzogen werden.10 duen“ ein.3 Dabei fanden „Sozialpolitik, rung abweichenden Verhaltens diente. Dazu zählten die Spezialkinderheime Fürsorgeerziehung und deren beson- fürKinderundJugendlichevonder1. deres Instrument der Heimerziehung 5 Ebd.S.13. bis zur 10. Klasse, die Jugendwerkhö- ... vorwiegend gegenüber denjenigen 6 Bundesarchiv (BArch) DR 2/60997: Erste fe für jugendliche Schulabgänger, die statt, die als ,sozial schwach‘, ,materiell Durchführungsbestimmung zur Verordnung Aufnahmeheime, die Durchgangsheime arm‘ und/oder ,kulturell benachteiligt‘ überHeimerziehungvonKindernundJugendli- der Bezirke, die Sonderheime für „stark galten.“4 Gleichzeitig variierte der Refe- chen,27.November1951,darinwurdezwischen „bildungsfähigen schwachsinnigen“ (Volksbil- 8 dung) und „bildungsunfähigen schwachsin- Wapler F (2012): Rechtsfragen der Heimerzie- 1 Frings B, Kaminsky U (2012): Gehorsam –Ord- nigen“ (Gesundheitswesen) Minderjährigen hunginderDDR,Expertise 1.In:DerBeauftragte nung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung unterschieden.Vgl.dazuBarschS(2007):Geistig der Bundesregierung für die neuen Bundeslän- 1945–1975,Münster,S.4. behinderte Menschen in der DDR. Erziehung – der (Hg.): Aufarbeitung der Heimerziehung in 2 Korzilius S (2005): „Asoziale“ und „Parasiten“ Bildung – Betreuung. Lehren und Lernen mit der DDR. Die Expertisen, Berlin März, S. 5–123 imRechtderSBZ/DDR:RandgruppenimSozialis- behindertenMenschen,Bd12,Oberhausen. (83). mus zwischen Repression und Ausgrenzung. In: 9 7 Die „allseitig entwickelte sozialistische Per- Krause, H-U (2004): Fazit einer Utopie. Heim- DiestelkampB,Eckert,Ju.a.(Hg.):Arbeitenzur sönlichkeit“ sollte sich durch „revolutionäres erziehung in der DDR – eine Rekonstruktion, GeschichtedesRechts,Bd4,Köln,S.33;vgl.auch Kämpfertum, durch hohes sozialistisches Be- FreiburgimBreisgau,S.157. EilertJ(2012):PsychologiederMenschenrechte. wußtsein, durch die volle Entfaltung ihrer 10 „Die Pädagogen der Spezialheime haben Menschenrechtsverletzungen im deutschen produktiven und intellektuellen,ihrer sozialen, das humanistische Anliegen in den Mittelpunkt Heimsystem1945bis1973,Göttingen,S.44. politischen und moralischen, ihrer künstle- ihrer Arbeit zu rücken, alle Minderjährigen, 3 Sieder R, Smioski A (2012): Gewalt ge- rischen und physischen Beziehungen und die sich fehlentwickeln umzuerziehen“, BArch genKinderinErziehungsheimenderStadt Betätigungsweisen und durch eine dadurch DR 2/28162, Zusammenfassung der Ergebnisse Wien. Endbericht, im Auftrag der Stadt Wien, mögliche Individualität“ auszeichnen. Zitiert eines Seminars der Zentralstelle Spezialheime Wien2012,S.12. nach Laabs, H-J u. a. (Hg.): Pädagogisches über die Fehlentwicklung Minderjähriger, 4 Ebd. Wörterbuch,Berlin1987,S.18f. Tagungs-Protokollam25.2.1965.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 103 Pädiatrie nach 1945

Abb. 58 8 Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, Verwaltungsgebäude mitSchleusungsbereich,um1978.DasFotohatdieUntersuchungskommis- sionwährendderBegehungdesGJWHimJahr1990zusammenmitweiteren Fotos im Spindeines Erziehers gefunden.Die Aufnahmenstammenvermut- lich aus den 1970erJahren (anhand von Kleidung, Frisuren und Wachhütten auf der Mauer ermittelt). Es sind die einzigen Fotos, die den Originalzustand des GJWH dokumentieren. (© Archiv Dokumentations- und Informations- zentrumTorgau, mit freundl. Genehmigung)

verhaltensauffällige“ Minderjährige und der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau Abb. 59 8 Arrestzelle des Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, 1990. (GJWH Torgau, . Abb. 58) als Diszipli- Während der Begehung der Untersuchungskommission 1990 dokumen- nareinrichtung. tierte die Fotografin Erdmute Bräunlich u. a. eine Einzelarrestzelle im GJWH. (Gabriele Beyler, Vorstandsvorsitzende Initiativgruppe GJWH Torgau e. V., Der GJWH Torgau war als Einrich- © Stiftung Fotoarchiv Erdmute Bräunlich, mit freundl. Genehmigung) tung für „Dauerausreißer“ konzipiert. Im Jahr 1964 nahm er in einem fluchtsiche- ren Gebäude, das 1901 als Militärarrest- einer richterlichen Verfügung bedurfte hungsheim Freistatt14 in der Bundesre- anstalt errichtet worden war und nach es nicht.12 Die Unterbringung war auf publik – als „Endstation“ im DDR-Erzie- Gründung der DDR als Jugendgefäng- sechs Monate begrenzt, wobei der Zeit- hungssystem. nis gedient hatte, seinen Betrieb auf. Bis punkt der Entlassung im Ermessen der zu seiner Auflösung im November 1989 Heimleitung lag und vom Verhalten der DDR-Heimerziehung – durchliefen 4000 Jugendliche im Alter Jugendlichen abhängig gemacht wurde. medizinische Aspekte von 14 bis 18 Jahren den GJWH Torgau, Eine Einweisung nach Torgau war be- nicht wenige von ihnen mehrmals.11 wusst als „schockartige Unterbrechung Die bisherige Forschung zur DDR- Mit seiner Schleuse, der hohen Mau- des Lebensweges“ angelegt.13 Mit seinen Heimerziehung fokussierte überwie- er und vergitterten Fenstern glichen Ge- lediglich 60 Plätzen (40 Jungen, 20 Mäd- genddiepolitischeGrundausrichtung bäude und innere Struktur einer Haftan- chen) diente der GJWH Torgau zugleich der Erziehungstheorie und -praxis in stalt. Eingewiesen wurden jedoch keine der Abschreckung: Eine drohende Ein- den Heimen der Jugendhilfe. Als letzte verurteilten Straftäter, sondern Jugendli- weisung wirkte als erzieherisches Druck- Etappe im Umerziehungsprozess wurde che, die gegen die Regelkataloge in ande- mittel in allen anderen Spezialheimen v. a. der rigide Alltag in den Spezial- ren Spezialheimen der DDR-Jugendhil- fort.InseinerspeziellenFunktionalsDis- heimen beleuchtet (. Abb. 59). Dabei fe verstoßen oder sich dort auf sonstige ziplinareinrichtung galt der GJWH Tor- ging es insbesondere um die Frage nach Weise unangepasst verhalten hatten. Die gau – etwa vergleichbar mit dem Erzie- systembedingter, struktureller und insti- Direktoren der Spezialheime beantrag- tutionellerGewalt.DierepressivenStruk- ten ihre Verlegung nach Torgau direkt turen der DDR-Heimerziehung können 12 Die Zustimmung konnte formlos, auch tele- beimMinisteriumfürVolksbildung,dem fonisch erfolgen, vgl. Formblätter Sonderakten deshalb mittlerweile als vergleichswei- derGJWHTorgauunmittelbarunterstellt GJWH,ArchivderGedenkstätteGJWHTorgau. se umfassend erforscht gelten.15 Auch war. Für die Aufnahme der Jugendlichen 13 BArch DR 2/23477/Kopie Archiv Gedenkstät- die alltäglichen Abläufe, die Lebensbe- genügte die ministerielle Zustimmung; te GJWH Torgau: Schreiben der Zentralstelle für dingungen, die materielle Versorgung Spezialheime an die Ministerin der Justiz Dr. und Ausstattung der Heime wurden Hilde Benjamin am 11.5.1964: „Die Erfahrung 11 Insgesamtsind4058Einweisungenzwischen besagt, daß es eine Kategorie von Jugendlichen Gründung und Auflösung im Belegungsbuch gibt, bei denen es auf eine schockartige Unter- 14 Aktuellbesonders bekannt geworden durch verzeichnet, allerdings sind Zweit- und Drittein- brechung ihres Lebensweges und nicht auf den den gleichnamigen Kinofilm „Freistatt“ von weisungenmitgezählt. zwangsweisenNeubeginnankommt...“. MarcBrummund,Deutschland2015.

104 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 im Zuge exemplarischer Regionalstu- („Infiltrationsthese“). Diese Erklärungs- zur Prophylaxe, Diagnostik, Therapie, dien detailreich untersucht,16 Aspekte muster wurden bis zum Mauerfall ge- Rehabilitation und Nachsorge psychisch der medizinischen Versorgung blieben pflegt, allerdings bald durch medizi- entwicklungsgestörter Kinder und Ju- dabei allerdings weitgehend unbeachtet. nische Erklärungsansätze ergänzt.19 In gendlicher“, der bereits in den 1950er- Und auch über die Heime des Gesund- den Jugendhilfeakten wird häufig eine Jahren angeordnet worden war.23 Die heitswesens wissen wir vergleichsweise „frühkindliche Hirnschädigung“ als Ur- Leitung der Einrichtungen auf Kreisebe- wenig. Punktuell aufgegriffen wurde sache einer Fehlentwicklung genannt. ne lag jeweils bei einem Kinderneu- die Frage nach der Verabreichung von Anfang der 1950er-Jahre erschienen eu- ropsychiater. Die Überweisung erfolgte Psychopharmaka in Jugendhilfeheimen; ropaweit zahlreiche Publikationen zum nach Kriterien, die sich gleichfalls in den systematische Untersuchungen folgten Psychosyndrom nach leichtem früh- Jugendhilfeakten widerspiegeln. Erfasst jedoch bislang nicht.17 Einflussbereiche kindlichem Hirnschaden in Ost und und betreut wurden u. a. „Kinder mit und Handlungsfelder der Medizin in West. 20 Für die DDR waren insbeson- dem Verdacht auf eine Hirnschädigung der Heimerziehung waren allerdings dere die Arbeiten von Gerhard Göllnitz im Säuglings-, Kleinkind-, Vorschulal- vielschichtig und wurden bestimmt von (1920–2003) einschlägig, der 1958 in ter“, „Schulkinder mit Verhaltensstö- EntwicklungeninangrenzendenFeldern Rostock den ersten Lehrstuhl für Kin- rungen und Leistungsminderungen bei (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Rehabi- der- und Jugendneuropsychiatrie in der Verdacht auf eine hirnorganische Ätio- litationspädagogik und Pädiatrie).18 Dies DDR erhielt.21 Wissenschaftlich be- logie“, ferner „suizidgefährdete, Kinder zeigt sich beispielsweise bei den Erklä- fassteersichv.a.mitderBedeutung mit dem Verdacht der Entwicklung ei- rungsmustern für „normabweichendes der frühkindlichen Hirnschädigung in nes epileptischen Anfallsleidens.“ Da es Verhalten“: Erscheinungsformen der der Kinderpsychiatrie. Sein Konzept sich aus Sicht der Ärzte um Kinder mit „Verwahrlosung“ oder „Schwererzieh- der „minimalen cerebralen Dysfunkti- „Verwahrlosungstendenzen und Krimi- barkeit“ wurden offiziell als „dem So- on“ (MCD) wies in der Symptomatik nalitätsgefährdung“ bzw. um Kinder aus zialismus wesensfremd“ deklariert und deutliche Übereinstimmungen mit Er- „sozial insuffizienten Familien“ handelte, galten zunächst als „Relikt der bürgerli- scheinungsformen auf, die auch der bestand eine enge Zusammenarbeit mit chenGesellschaft“(„Rudimententhese“), „Schwererziehbarkeit“ zugeschrieben dem Referat Jugendhilfe.24 später als Folge „westlicher Einflüsse“ wurden.22 Parallel zu dieser Entwicklung kam Die Zusammenarbeit zwischen den Kritik an der schulpolitischen Festlegung 15 Vgl. zum Forschungsstand Laudien K, Sachse Ministerien für Volksbildung und für der „Bildungsunfähigkeit“ auf. Rehabi- C (2012): Erziehungsvorstellungen in der Gesundheitswesen bei der Betreuung litationspädagogische Programme für Heimerziehung der DDR. In: Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer von psychisch entwicklungsgestörten „bildungsunfähige, aber förderfähige“ (Hg.): Aufarbeitung der Heimerziehung in der Kindern und Jugendlichen wurde u. a. Kinder und Jugendliche wurden auf DDR.Expertise2,Berlin,S.224–297. durch das Gesetz über das einheitli- den Weg gebracht. Für die rehabilitative 16 Vgl. zu den Lebensbedingungen der Kinder che sozialistische Bildungssystem vom BildunggabeszunächstKompetenzstrei- in Heimen der DDR-Jugendhilfe insbesondere 25. Februar 1965 geregelt: „Das Ministe- tigkeiten zwischen dem Ministerium für Sachse C, (2010): Der letzte Schliff. Jugendhilfe rium für Volksbildung gewährleistet in Volksbildung und dem Ministerium für im Dienst der Disziplinierung von Kindern 25 und Jugendlichen (1945–1989), Schwerin; Zusammenarbeit mit dem Ministerium Gesundheitswesen. Ein Ministerrats- ders. (2013): Ziel Umerziehung. Spezialheime für Gesundheitswesen die Bildung und beschluss von 1969 über die „Maßnah- der DDR-Jugendhilfe 1945–1989 in Sachsen, Erziehung der physisch bzw. psychisch men zur Förderung, Beschulung und Leipzig,S.59ff. Geschädigten. Dazu gehört u. a. eine Betreuung geschädigter Kinder und Ju- 17 Laudien K, Sachse C, (2012) [wie Anm. 15], systematische Früherfassung der Ge- gendlicher sowie psychisch behinderter S. 248 ff; Hottenrott L (2012): „Roter Stern schädigten.“ Seit Ende der 1960er-Jahre Erwachsener“ führte zum Auf- und Aus- – Wir folgen deiner Spur“. Umerziehung im erfolgte der DDR-weite Ausbau „der bau eines Systems rehabilitationspädago- Kombinat der Sonderheime für Psychodiagno- stik und pädagogisch-psychologische Therapie ambulanten psychiatrischen Betreuung (1964–1987). Eine Bestandsaufnahme. In: In- 23 „Anordnung über die Durchführung der psychiatrischen Betreuung von Kindern und itiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof 19 KorziliusS(2005)[wieAnm.2],S.329ff. Torgau e. V., Torgau, S. 21 ff. Jugendlichen“ vom 15. Mai 1954. Entsprechend 20 NeumärkerK-J(2007):StrukturundFunktion. der prophylaktischen Grundausrichtung des 18 Die bisherigen Monographien behandeln Die Rolle des Nervensystems in der Kinder- DDR-Gesundheitswesens sah die Anordnung überwiegend die Zeit bis zum Mauerbau. Vgl. undJugendneuropsychiatrie.In:Kinze,Wolfram eine Erfassung und ambulante Betreuung zur Kinder- und Jugendpsychiatrie Castell R (Hg.), Entwicklungslinien in der Kinder- und „psychisch fehlentwickelter“ Kinder und Ju- et al. (2003): Geschichte der Kinder- und Ju- Jugendpsychiatrie, Schriftenreihe zur Medizin- gendlicher in jedem Kreis der DDR vor, vgl. dazu gendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren Geschichte,Bd.14,Berlin-Brandenburg,S.67–82 BarschS(2007)[wieAnm.6],S.154ff. 1937 bis 1961, Göttingen; vgl. auch zu den (77). 24 Entwicklungen in der psychiatrisch-pädagogi- Jun G (1979): Erfahrungen der Dispensaire- 21 schen Ausrichtung des Erziehungshilfesystems Göllnitz G (1981): Stand und Entwicklung Betreuung in der Kinder- und Jugendneu- der DDR Methner A (2014): Die Wurzeln des derKinderneuropsychiatrie.In:Psychiat.Neurol. ropsychiatrie. In: Zeitschrift für die gesamte DDR-Erziehungshilfesystems unter besonderer Med.Psychol.,Leipzig33,10,S.606–609(606). Hygiene,25(1979),Heft6,S.476–480(478). Berücksichtigung des Zeitraums 1945–1952, 22 Neumärker K-J (2007) [wie Anm. 20], S. 78; 25 Vgl. auch Sachse C (2013) [wie Anm. 16], Berlin. vgl.auchCastellR(2003)[wieAnm.18],S.126ff. S.107.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 105 Pädiatrie nach 1945

zuletzt die Kapazitäten vorhandener Einrichtungen, sodass es immer wie- der auch zu Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten zwischen Volksbildung und Gesundheitswesen kam.28 Die Be- deutung medizinischer Aspekte in der Heimkarriere wird im Folgenden an 2 Einzelfällen aufgezeigt. Kinder und Jugendliche, die sich aus Sicht von Eltern, Lehrern, Ärzten oder Heimerziehern besonders auffällig ver- hielten, wurden häufig vor einer Heim- einweisung oder Verlegung in einer kin- derpsychiatrischenEinrichtungstationär untersucht. Im Jahr 1976 hielt sich die damals 13-jährige Sandra (Name geän- dert) aus dem Spezialkinderheim Halle- Kröllwitz für mehrere Monate zur sta- tionären Diagnostik in der kinderneu- ropsychiatrischen Aufnahmestation im Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Eberswalde auf. In der dort verfassten Epikrise (. Abb. 60)hießes: „Sandra ist ein einfach debiles, hirnge- schädigtes Mädchen aus sehr ungünsti- gensozialenVerhältnissen....Ihregröß- te Schwäche ist ihre Unbeherrschtheit. Deshalb und wegen ihres Schwachsinns, Abb. 60 8 Exemplarisch: Epikrise, medikamentöse Behandlung und Heimstationen einer Jugendli- kommt sie schnell in Situationen, in de- chen im GJWH Torgau, 29. Januar 1980. (© Bundesarchiv, mit freundl. Genehmigung) nen sie nicht durchsieht, sodass sie sich angegriffenfühltund dann... mitstarkem gischer Förderstätten im Gesundheits- Weg durch die Heime – Affekt reagiert. Es ist in solchen Situatio- und Sozialwesen.26 Dazu gehörten Ta- Sonderakten des GJWH Torgau nen völlig falsch, streng und hart auf sie gesstätten, rehabilitationspädagogische zu reagieren ... Sie leidet darunter, dass Wochen- und Dauerheime sowie re- Das Zusammenwirken von Jugendhilfe sie kein Zuhause hat“.29 Auf Empfehlung habilitationspädagogische Abteilungen und Medizin zeigt sich auf der Mikro- des Ärztlichen Direktors in Eberswalde an Fachkrankenhäusern für Neurologie ebene der Heimakten. Die ab 1970/1971 erfolgte anschließend ihre Einweisung in und Psychiatrie.27 regelhaft angelegten Sonderakten des dasSpezialkinderheim Stolpe,wosie wei- GJWH Torgau liefern nicht nur einen tere zwei Jahre blieb. Nach kurzzeitiger tiefen Einblick in die Einweisungspraxis Entlassung wurde erneut Heimerziehung der DDR-Jugendhilfe, sondern spie- angeordnet, dieses Mal im Jugendwerk- geln neben dem sozialdisziplinierenden hof Gebesee. Von Gebesee aus erfolgte Zugriff auch die Rolle der Medizin in 1979 ihre Einweisung in den GJWH Tor- der Heimerziehung wider. Pädagogi- gau, in den sie bis 1981 noch zwei weite- sche und medizinische Sammelbegrif- re Male aufgenommen wurde. Insgesamt 26 Becker K-P, Große K-D (2007): 60 Jahre fe („verwahrlost“, „schwer erziehbar“, verbrachte sie 16 Monate in Torgau. Sie Pädagogik für Behinderte. An der Humboldt- „schwachsinnig“, „hirngeschädigt“), die erhielt laut Sonderakte Prothazin (Pro- Universität zu Berlin. Ein geschichtlicherAbriss, ® Münster,S.56. eine Heimeinweisung begründen konn- methazin) und Tisercin® (Levomepro- 27 Eßbach S und Autorenkollektiv (1981): Ein ten, brachten immer auch Unschärfen mazin). Das Krankenblatt in ihrer Son- Kind kann keine Schule besuchen – hat es über- hervor, die sich auf die Lebenswege der haupt eine Entwicklungschance?Eine Informa- Kinder auswirkten: Viele Jugendliche im 28 SachseC(2013)[wieAnm.16],S.107. tion zur Bildung und Erziehung schulisch nicht GJWH Torgau hatten zuvor über Jahre 29 mehr bildbarer, rehabilitationspädagogischje- zahlreiche Heime und Einrichtungen Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau – Samm- doch noch förderungsfähiger hirngeschädigter lungsbestandSonderakten/KopieBArchDR203: Kinder, Berlin, S. 44 f; Poore C (2007): Disability der Volksbildung und des Gesundheits- Bericht Bezirkskrankenhausfür Psychiatrie und in the Twentieth-Century German Culture, Ann wesens durchlaufen. Mitbestimmend Neurologie Eberswalde an Spezialkinderheim Arbor,S.258ff. blieben in der Einweisungspraxis nicht Stolpe,1976.

106 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 und Verhaltensauffälligkeiten“ folgten bald seine Ausschulung und Einweisung in den Jugendwerkhof Hennickendorf, einen Jugendwerkhof mit Hilfsschu- le. Hier wurde er in eine JWH-eigene Werkstatt integriert. Weil er mehrmals von dort flüchtete, wurde er in den GJWH Torgau verlegt. Dort blieb er über 3 Monate, wurde anschließend wieder zurückverlegt und schließlich ins Elternhaus entlassen. Er erhielt laut Akte das Neuroleptikum Sinophenin® (Promazin) und das Antiepileptikum Finlepsin® (Carbamazepin).Ineinem Gutachten in der Sonderakte hieß es, dassessich„beidemJugendlichenumein Zustandsbild nach frühkindlicher Hirn- schädigungbeiVerdachtaufEntwicklung eines epileptischen Anfalleidens“ han- dele und deshalb „eine medikamentöse Einstellung mit Antiepileptika“ erfolgt sei.32 Im GJWH Torgau erhielt er keine Medikamente. Die Begründung dafür lautete, dass die im „Jugendwerkhof [Hennickendorf] geschilderten Verhal- tensweisen ... im Jugendwerkhof Torgau nur sehr gedämpft“ aufgetreten wären und der Junge „... im wesentlichen un- auffällig“ gewesen sei. Dazu hieß es weiter, „daß ihm auf Grund des hier [in Torgau] herrschenden strengen inneren Regime auch oft die Entscheidung, ob er Abb. 61 8 Medikamentöse Einstellung eines Jugendlichen vor seiner Einweisung in den GJWH Tor- gewillt [sei], die Norm einzuhalten oder gau, 1986. (© Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau, mit freundl. Genehmigung) nicht, abgenommen“ worden wäre.33 Eine medizinische Begründung für das derakte enthält genaue Angaben zur Ver- wurdederJungelautAktezuHause Absetzen der Medikamente findet sich ordnung und zur Dosierung der Me- misshandelt. Seine Einschulung erfolg- nicht. Das erwähnte „innere Regime“ dikamente. Dazu hieß es, dass sie sich te ein Jahr verspätet. Aufgrund seines in Torgau spiegelt sich ausgesprochen „bei mehrmaliger Einnahme zeitweilig „auffälligen Verhaltens“ wurde er ein zynisch in den Meldungen der Erzieher ruhig“ verhielt. Die Erzieher in Torgau Jahr später zur stationären Diagnos- wider: Der Jugendliche „... macht keinen isolierten das Mädchen dennoch mehr- tik in das „Kombinat der Sonderheime guten Eindruck. Wimmert herum und mals im Arrest: 3 Tage „wegen Störung für Psychodiagnostik und pädagogisch- geht einem auf die Nerven“, hieß es da des Gruppenablaufs“,5 Tage „wegen Ver- psychologische Therapie“31 eingewiesen, beispielsweise. Wegen „Störungen des stoßes gegen den Arbeitsschutz im Wie- nachdem er zuvor schon in der psychia- Produktionsablaufs“ erhielt er eine Ar- derholungsfall“, 4 Tage wegen „Medika- trischen Klinik Berlin-Buch begutachtet reststrafe. Der Erzieher vermerkte dazu: mentenmissbrauch“.Siehatteoffenbarih- worden war. Im Jahr 1982 verlegte ihn „Bei der Arrestierung machte er ,ein Faß re Tabletten nicht genommen.30 die Jugendhilfe in ein Spezialkinderheim auf‘.“34 Der 1970 geborene Andreas (Name für Hilfsschüler. Wegen „Unbeherrscht- Die Auswertung einer größeren Stich- geändert) verbrachte seine ersten drei heit, Hang zur Pyromanie, Diebstählen probe überlieferter Sonderakten ergab Lebensjahre in einer Wochenkrippe, für den Zeitraum von 1970 bis 1989 kam anschließend in den Kindergarten 31 und in den Schulhort. Im Vorschulalter DasKombinatderSonderheimewarebenfalls 32 BArchDR203SonderaktenGJWHTorgau: 1964 als zentrale Einrichtung der Volksbildung Pädagogisch-psychologischesGutachten,1986. für Kinder und Jugendliche mit starken Verhal- 33 30 Archiv der Gedenkstätte GJWH Torgau – tensstörungen eingerichtet worden. Es bestand Ebd. Sammlungsbestand Sonderakten (Kopie BArch aus vier Heimen und einem Aufnahmeheim in 34 Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau; BArch DR DR203). Berlin. 203SonderaktenGJWH.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 107 Pädiatrie nach 1945

zahlreiche vergleichbare Fälle (. Abb. 60 gendwerkhöfe verlegt; der letzte Ju- Korrespondenzadresse und 61).35 Der langjährige Leiter des gendliche verließ den GJWH Torgau GJWH, Horst Kretzschmar (1938–1989), am 17. November 1989.39 Nach Aus- L. Hottenrott beklagte Ende der 1970er-Jahre die Ein- sagen damaliger Erzieherinnen folgten Institut für Geschichte der Medizin und Ethik weisung von „verhaltensgestörten Ju- unmittelbar Umbaumaßnahmen: Git- in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin gendlichen“, die „im Gruppenprozess ter und Sichtblenden an den Fenstern Berlin Thielallee 71, 14195 Berlin, Deutschland keinerlei Einordnungsbereitschaft“ zeig- wurden entfernt, die alten Gefängnis- [email protected] ten, „sich gegen jegliche disziplinarische türen ausgewechselt.40 Auf Drängen Forderung“ sperrten, ferner durch „un- örtlicher Repräsentanten der Bürgerbe- Laura Hottenrott, M.A., Historikerin in Berlin, wissen- motivierte Tobsuchtsanfälle [und] totale wegung konstituierte sich im August schaftlicheMitarbeiterinamInstitutfürGeschichteder Ausfälle des Risikogefühls Jugendli- 1990 aus Mitgliedern des Kreistags und MedizinundEthikinderMedizin,Charité,Forschungs-, che und Erwachsene“ gefährdeten und der Stadtverordnetenversammlung Tor- Ausstellungs- und Zeitzeugenprojekte zur NS- und DDR-Geschichte, u. a. Koautorin der Dauerausstellung „selbst suizidgefährdet“ waren. Die Stö- gau sowie Vertretern von Schule, Polizei der Gedenkstätte GJWH Torgau, zuletzt wissenschaft- rungen beschrieb Kretzschmar als „psy- und Kinder- und Jugendpsychiatrie ein liche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Klinische chologisch nicht erfassbar“.36 In einer unabhängiger Untersuchungsausschuss Arzneimittelforschung in der DDR, 1961–1989“,pro- moviert zum Thema DDR-Heimerziehung, speziell Arbeitsgruppe mit 2 weiteren Erziehern zum GJWH Torgau. Der Abschluss- zum GJWH Torgau sowie dem Zusammenwirken von entwarf er eine pädagogische Konzep- bericht bewertete die Erziehungspraxis Jugendhilfe und Psychiatrie. tion zur Arbeit mit verhaltensgestörten im GJWH Torgau als schweren Ver- Jugendlichen, die ihre Unterbringung in stoß gegen die Menschenrechte, da „aus geschützten Unterkünften und Werkstät- dem Selbstverständnis sozialistischer ten vorsah. Sie sollten außerdem von der Pädagogik heraus Umerziehung und po- Gruppe isoliert, aber keinesfalls mehr litisch-ideologische Indoktrination als arretiert werden. 37 Die Konzeption wur- geeignete Mittel der Erziehung“ gegolten de bis zur Auflösung des GJWH Torgau hätten, um faktisch besonders fürsorge- nicht umgesetzt. bedürftige Jugendliche einer Gesellschaft zu disziplinieren und zu unterdrücken. Ende des GJWH Torgau Den Jungen und Mädchen sei eine ange- messene psychologische Betreuung und Im November 1989 veranlasste das Sozialfürsorge verweigert worden, den Ministerium für Volksbildung telefo- Pädagogen und Erziehern habe es an nisch und ohne Angabe von Gründen einer entsprechenden Spezialausbildung die Auflösung des GJWH Torgau; eine gefehlt.41 schriftliche Anweisung erfolgte nicht.38 Heute steht der GJWH Torgau sym- DieInsassenwurdeninihreStammju- bolisch für die repressive Seite des DDR- Erziehungssystems.Darüberhinausspie- gelt er als Erziehungsort gewissermaßen 35 Ebd. zeitlos die Grenzen der Sozialdisziplinie- rung wider.42 36 BArch DR 2/12295 Bd. 2 v. 2: Schreiben Horst Kretzschmar an Ministerium für Volksbildung, 4.12.1978. 37 BArch DR 2/12295 Bd. 2 v. 2: Entwurf einer pädagogischen Konzeption zur Arbeit 39 Hottenrott L (2013): „Ich will als Mensch mit verhaltensgestörten Jugendlichen, GJWH entlassen werden“. In: DAMALS 7/2013, S. 45 f Torgau, etwa 1978; vgl. auch erste Ansätze (46). therapeutischer Maßnahmen in: Zimmermann 40 V (2005): Den neuen Menschen schaffen. Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau (1990): Die Umerziehung von schwererziehbaren Abschlußbericht des unabhängigen Untersu- und straffälligen Jugendlichen in der DDR chungsausschusses zu Vorgängen im ehema- (1945–1990),Köln,Weimar,Wien,S.234–237. ligen Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, S.9f. 38 Dienstakte 7916-23/3-1, Abschlußbericht 41 desLKASachsenzurProblematikdes„Geschlos- Ebd. senen Jugendwerkhofs Torgau ...“ Juni 1996, 42 Vgl.GatzemannA(2009):DerJugendwerkhof S.14,S.28/29.In:Wiedorn,H(2002):Stellungund Torgau.Das Ende derErziehung.In:Voigt,Dieter Aufgaben des Geschlossenen Jugendwerkhofs (Hg.), Studien zur DDR-Gesellschaft, Bd 11, Torgau,BundesarchivBerlin,S. o.A. Berlin,S.165ff.

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Sascha Topp · Klaus Schepker · Heiner Fangerau Querelle de compétence Verhältnis von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Pädiatrie in der Nachkriegszeit

Ich weiß, Sie sind kein Freund der bösen terhin einen „Minderwertigkeitsgedan- Die Kinder- und Jugendpsychia- Kinder- und Jugendpsychiater. Aber ich ken“ enthielt.2 3. Das Schreiben führt uns trie erlebte jedenfalls nach 1945 einen glaube, wir haben sehr viele Berührungs- zudem personelle Nachwirkungen der bemerkenswerten Aufschwung. Unter punkte, die es uns ermöglichen würden, NS-Zeit vor Augen: Catels Berufung auf maßgeblicher Beteiligung Villingers als uns gelegentlich zusammenzufinden. Als den Marburger Lehrstuhl für Pädiatrie Marburger Ordinarius für Psychiatrie alter Pfaundler-Schüler stehe ich der Päd- war 1950 vom Hessischen Kultusminis- und Neurologie wurde eine neue Fach- iatrie innerlich sehr nahe und würde ger- terium wegen seiner Verantwortlichkeit gesellschaft (1950), die Deutsche Ver- ne mich einmal mit Ihnen unterhalten, im NS-Kindertötungsprogramm abge- einigung für Jugendpsychiatrie (DVJ) zumal es uns ja sr. Zt nicht gelungen lehnt worden,3 und für Villinger ist die gegründet. Ein bundesweit erstes Ex- ist, Sie hierher zu bekommen. ... [Ich gutachterliche Beteiligung an der Tötung traordinariat für Kinder- und Jugend- bin] seit Jahrzehnten kinder- und jugend- von Psychiatriepatienten im Rahmen der psychiatrie (1954 Villingers Mitarbeiter psychiatrisch tätig, immer neben der allg. sog. Euthanasie-Aktion „T4“ dokumen- Hermann Stutte, 1909–1982, Ordinariat Psychiatrie und Neurologie und immer tiert. Zwar konnte Villinger 1953 als 1963) wurde eingerichtet und ein wissen- mit Blick auf Vererbung, Konstitution und Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher schaftliches Periodikum, das Jahrbuch Erziehung (das letztere im Anschluss an Neurologen und Psychiater (GDNP) für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzge- unsere grossen Pädagogen), ... (Werner noch unwidersprochen behaupten, diese biete, herausgegeben. Zudem gelang es, Villinger am 18. August 1959 an Werner Fachgesellschaft habe „stets und eindeu- den durch Nationalsozialismus (NS) und Catel)1 tig“ die NS-Euthanasie abgelehnt.4 Doch Krieg verloren gegangenen Anschluss an 1960 wurden die Justizbehörden auf ihn die internationale „scientific commu- Dem Schreiben des Marburger Kin- aufmerksam, woraufhin es zu Anhörun- nity“ wiederherzustellen. Dabei voll- der- und Jugendpsychiaters Werner gen kam. Im Jahr darauf verunglückte zogen sich diese Professionalisierungs- Villinger (1887–1961) an den Kieler er nahe Innsbruck tödlich. Bergunglück und Institutionalisierungsschritte5 un- Ordinarius für Pädiatrie Werner Catel oder Suizid? Die Frage wurde schon ter fachlich-verbandsorganisatorischer (1894–1981) sind hinsichtlich der Frage damals in Kollegenkreisen aufgeworfen Ablösung von den beiden „Mutterwis- nach dem Verhältnis beider Disziplinen und blieb seitdem unbeantwortet. senschaften“ (Stutte, 1982)6 Pädiatrie nach 1945 folgende Anhaltspunkte zu und Psychiatrie/Neurologie. entnehmen: 1. Die Beziehung zwischen DervorliegendeBeitraggehtderFrage beiden Fächern entwickelte sich offen- nach, wie sich im Detail dieser histori- 2 Holtkamp M (2002): Werner Villinger bar nicht konfliktfrei; ursächlich dafür (1887–1961). Die Kontinuität des Minder- sche Prozess bezüglich der genannten waren Kompetenzstreitigkeiten über wertigkeitsgedankens in der Sozial- und Ju- Bezugssysteme gestaltete. Zwei Jahresta- die professionelle Zuständigkeit für das gendpsychiatrie,Husum. gungen der Deutschen Gesellschaft für „Grenzobjekt“ des kranken und normab- 3 GrundmannK(2006):„Vergangenheitsbewäl- Kinderheilkunde (DGfK) unter Einbin- weichenden Kindes. 2. Villinger umriss tigung“ nach dem 2. Weltkrieg – zur Berufungs- mit den genannten wissenschaftlichen praxisanderMarburgerMedizinischenFakultät. Werner Catel als Bewerber um den Marburger 5 Schwerpunkten „Vererbung, Konstituti- Fangerau H, Imhof C (2015): Medizinische Lehrstuhl für Kinderheilkunde. In: Benno Hafe- Spezialisierung. Wege der Urologie in beiden on und Erziehung“ ein fortgesetzt euge- neger, Wolfram Schäfer (Hg.), Marburg in den deutschen Staaten und die Gründung der nisch begründetes Profil der Kinder- und Nachkriegsjahren, 3. Entwicklungen in Politik, Deutschen Gesellschaft für Urologie der DDR. Jugendpsychiatrie, das im Kern auch wei- KulturundArchitektur,Marburg,S.47–68. In: Halling T, Moll F, Fangerau H (Hg.): Urologie 4 ToppS(2013):GeschichtealsArgumentinder 1945–1990. Entwicklung und Vernetzung der Nachkriegsmedizin. Formen der Vergegenwär- Medizin in beiden deutschen Staaten, Berlin 1 Villinger an Catel, 18.8.1959, Archiv der DGKJ tigung der nationalsozialistischen Euthanasie u. a.,S.21–34. im Universitätsarchiv derHumboldt-Universität zwischen Politisierung und Historiographie, 6 Stutte H (1982): Die fachgeschichtliche Berlin, Nachlass Catel, Karton VIII, Briefwechsel Göttingen; Schmuhl H-W (2016): Die Gesell- Bedeutungdes1.Kinderpsychiatrie-Kongresses Buchstabe A–Z. Unterstreichungen im Original, schaft Deutscher Neurologen und Psychiater im 1937 in Paris. In: Zeitschrift für Kinder- und Urhebernichtsicher. Nationalsozialismus,Berlinu.a. Jugendpsychiatrie10,S.275–285.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 109 Pädiatrie nach 1945

dung kinder- und jugendpsychiatrisch „Zum Problem Psychopathie – Neuro- Wie die kleine Delegation um Vil- arbeitender Kollegen, die in den 1950er- pathie – Neurose“). Darin brachte er ein linger die Ereignisse in Lübeck unter- Jahren stattfanden, dienen als Beispiel: mediatorisches Moment ein, wie es uns einander bewertete, wissen wir nicht. In die Kongresse 1950 in Lübeck (Vor- auch in seinem Schreiben an Catel begeg- der Nachlese der Lübecker Sektion hielt sitz: Erich Rominger, 1886–1967) sowie net. Strategisch vermittelnd formulierte Moritz Tramer (1882–1963) aus Bern, 1954 in Essen (Vorsitz: Otto Bossert, er: „1. Ohne Psychologie des Kindesalters Nestor der europäischen Kinderpsychia- 1887–1968). Hiervon ausgehend wird keine Kinderpsychiatrie: aber wir meinen: trie, allerdings fest: „Die Pädiater blieben die Entwicklung bis in die 1960er-Jahre auch keine Pädiatrie. ... 2. Ohne Pädia- überwiegend bei der Bezeichnung Psy- nachgezeichnet. trie keine Kinderpsychiatrie....DieErfül- chopathologie und scheinen meist noch lung dieser Forderung ... ist nur mög- die Kinderpsychiatrie zu scheuen. ... Die Erster Versuch der Annäherung lich durch eine enge und verständnisvol- Kinderpsychiatrie findet ... bei dendeut- le Zusammenarbeit von Pädiatrie und schen Pädiatern und anscheinend auch DGfK-Tagung in Lübeck 1950 Psychiatrie. Wir bedürfen dringend der den österreichischen [gemeint war der gegenseitigen Hilfe und Ergänzung.“8 Wiener Pädiater und Förderer der Heil- Hinsichtlich der Motive für einen in- Der Eröffnungsrede des DGfK-Ta- pädagogik Hans Asperger (1906–1980); tensiveren wissenschaftlichen Austausch gungspräsidenten Rominger sind dage- Anm. d. Verf.] nicht die volle Anerken- zeigt sich beim ersten Treffen in der ge- gen Hinweise zum Selbstverständnis der nung als Sondergebiet der Medizin im meinsamen Sektion „Psychopathologie Pädiatrie zu entnehmen. Der Feststel- Gegensatz zu ihren Fachkollegen in zahl- des Kindesalters“, anlässlich der 50. Jah- lung, dass die Kinderheilkunde eines der reichen anderen Ländern. Das haben wir restagung der Kinderärzte in Lübeck im 4 klinischen Hauptfächer sei, folgte die zur Kenntnis zu nehmen.“ Dennoch wer- Juni 1950, bereits jenes Muster, das sich Erläuterung, dass sie „die oft geforderte de,soTramer,dieKinderpsychiatrie„zei- auch 4 Jahre später in Essen wiederfinden und viel im Munde geführte Ganzheits- gen, daß ihre Selbstständigkeit vollauf lässt: Beide „Seiten“ hatten das Interesse, betrachtung immer als selbstverständlich begründet ist.“10 Nur knapp 2 Wochen mit solch einer Sektion das jeweils eige- geübt hat und Spaltungen etwa in so- nach der Lübecker Tagung wurde die ne Profil zu stärken. Seitens der DGfK matische und psychosomatische Kreise nächste Stufe der Etablierung der bun- konnte mithilfe neuester Forschungsbei- bei uns nicht aktuell sind ...“ Bezüg- desdeutschen Kinder- und Jugendpsych- träge der eigene Kompetenzanspruch be- lich schwer erziehbarer Kinder hätten iatrie eingeleitet. züglich Minderjähriger mit psychischen die Eltern „ein Recht zu fordern, daß Störungen bekräftigt werden. Für die teil- der erfahrene Fachkinderarzt zugezogen Deutsche Vereinigung für nehmenden Kinder- und Jugendpsych- wird.“ Unter Verweis auf die fortschritt- Jugendpsychiatrie iater bot sich die Gelegenheit, eine brei- liche Versorgungsstruktur in den USA tere wissenschaftliche Öffentlichkeit zu formulierte er: „Nach unseren moder- Und: strategischer Brückenschlag erreichen. Die ausgewachsene Verbands- nen Erfahrungen und Anschauungen zur Pädiatrie (C.-G. Bennholdt- struktur der weitaus älteren (1883) und genügt es nicht mehr, die pädagogische Thomsen) größeren DGfK (1950: 888 Mitglieder; und ärztliche Betreuung unserer Kinder 1954: 1432 Mitglieder)7 erschien hier- allein solchen Personen anzuvertrauen, Die DVJ kann als Ausgründung aus dem für besonders geeignet, während die DVJ die gewissermaßen im Blitzkurs in der Interessenverband der Erwachsenen- 1954 erst 103 Mitglieder zählte. Kinder-Psychologie, der Kinder-Psych- psychiater (GDNP) gedeutet werden. DasProgrammzeugtdavon,dassZahl iatrie und der Kinderheilkunde nur Die Pädiatrie spielte dabei zunächst undAuswahlderVorträgenahezuparitä- oberflächlich ausgebildet sind.“ Und: eine unbedeutende Rolle. Im Rahmen tisch unter beiden Fachvertretergruppen Allein in den „Kinderanstalten wird der der dritten GDNP-Nachkriegstagung in aufgeteilt wurden. Die 2 Hauptvorträge Kinderarzt die erste wichtige Untersu- Göttingen brachte Villinger den Antrag übernahmen der Frankfurter (a. M.) Or- chung durchführen und entscheiden, ein, einen Arbeitskreis „Jugendpsychia- dinarius für Pädiatrie Bernhard de Rud- ob das Kind gesund oder krank ist, trie“ einzurichten,11 der am 23. Septem- der (1894–1962) sowie Villinger. Erste- und wird die Rücküberweisung an den ber 1949 in der Sitzung des erweiterten rem als Repräsentanten der einladenden Pädagogen, eine Erziehungsanstalt, ein Vorstands der GDNP gebilligt wurde.12 Fachgesellschaft kam die Eröffnung un- Landschulheim oder an den Kinder- ter dem Titel der gemeinsamen Sektion Psychiater vornehmen.“9 zu. Villinger gab einen Überblick über 9 RomingerE(1951):Eröffnungsansprache.Ver- handlungen der 50. ordentlichen Versammlung „Abnorme seelische Reaktionen im Kin- 8 Villinger W (1951): Abnorme seelische der Deutschen Gesellschaft für Kinderheil- desalter“ (Untertitel der Druckfassung: Reaktionen im Kindesalter. (Zum Problem kunde in Lübeck 1950. In: Monatsschrift für Psychopathie, Neuropathie, Neurose). In: Mo- Kinderheilkunde99,1,S.1–5. natsschrift fürKinderheilkunde 99, 3, S. 93–102, 10 7 Historische Kommission der DGfKJ (Hg.) teilweisezit. in Castell R, Nedoschill J, Rupps M, CastellRetal.(2003)[wieAnm.8],S.89. (2008): 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Bussiek D (2003): Geschichte der Kinder- und 11 Ehrhardt H (1972): 130 Jahre Deutsche Ge- Kinder- und Jugendmedizin e. V. 1883–2008. Jugendpsychiatrie inDeutschlandindenJahren sellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, JubiläumspublikationderDGfKJ,Berlin. 1937bis1961,Göttingen. Wiesbaden,S.18.

110 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Zeitgleich kam am Rande dieser Ver- gegenkommen gegenüber den pädia- die forcierte Gründung der DVJ waren anstaltung ein Treffen von Gleichgesinn- trischen [Wieder-]Gründungsmitglie- Fakten geschaffen worden, mit denen die teninderPrivatwohnungdesGöttinger dern.)“16 pädiatrische Fachgesellschaft DGfK nun Landesjugendheimleiters Walter Gerson Sollte hierin ein wahrer Kern enthal- umzugehen hatte. (1899–1971)zustande.13 Im kleinenKreis ten sein, kann er sich nur auf eine Person Nachhaltig bedeutsam für die bilate- in der Göttinger Bürgerstr. 25 wurde der auf der Marburger Gründungsmitglie- rale Beziehung wurde der Aspekt päd- Schritt einer Fachgesellschaftsgründung derliste bezogen haben. Denn neben iatrischer Expertise innerhalb der frisch in den Blick genommen. Wenn auch Villingers eigenen – übrigens nur 2 je gegründeten DVJ. Einige Mitglieder wa- die Gästerunde im Hause Gerson noch vierteljährigen – pädiatrischen Weiter- ren durchaus gewillt, Kinderärzten die unbekannt ist, so ist doch anzuneh- bildungen 1922/1923 in München bei Aufnahme in die DVJ zu ermöglichen. men, dass sie sich im Wesentlichen Karl Seitz und Meinhard von Pfaundler,17 Gründungsmitglied Max Eyrich (Ebin- mit dem Personenkreis deckte, der im hatte nur Anna Leiter (1901–1990, wahr- gen, 1897–1962) sprach sich unverblümt darauffolgenden Jahr in Marburg die scheinlich Gründungsmitglied DGKH dagegen aus, mit der Begründung, dass Gründung der Fachgesellschaft vollzog. 1940) zusätzlich zum Facharzt für Psych- „bei einer generellen Einbeziehung ... Das Protokoll vom 21. und 22. Okto- iatrie und Neurologie auch einen Titel für die Gefahr der zahlenmässigen Über- ber 1950 weist ein „Jugendpsychiater- Kinderheilkunde vorzuweisen. Ihr Na- füllung der Gesellschaft mit Pädiatern Treffen“ mit 19 Teilnehmern (sowie mefindetsichdennauchinderDGfK- bestünde.“22 Eyrichs disziplinäre Über- 6 zeitweiligen wissenschaftlichen Gäs- Mitgliederliste von 1949 bis 1954. Da- fremdungsangst ist möglicherweise als ten aus der Marburger Klinik) unter neben wird nur noch Franz Günther Reminiszenz an die DGKH-Gründung Villingers Leitung aus. Laut Mitschrift von Stockert (1899–1967) ab 1948/1949 1940 in Wien aufzufassen, bei der ne- sollte der Verband „Gesellschaft für als Mitglied der DGfK aufgeführt, ob- benvielenHeil-undSonderpädagogen Jugendpsychiatrie, Heilpädagogik und wohl ein pädiatrischer Facharzttitel für weitausmehrPädiateralsKinderpsych- Jugendpsychologie“ genannt werden.14 ihn nicht belegt ist.18 Der ebenfalls in iater anwesend gewesen waren.23 Es Wie der Titelentwurf erkennen lässt, war Marburg anwesende Berliner Jugend- war nun von Stockert, der während der zu diesem Zeitpunkt ein ausgeprägter psychiater Gerhard Kujath (1908–1978) Stuttgarter Schloss-Café-Sitzung des- programmatischer Rückbezug zur 1940 erlangte die Facharztanerkennung für halb vorschlug, „einen an den Zielen in Wien unter Paul Schröder (Leipzig, Pädiatrie erst 1958.19 der Gesellschaft interessierten Pädiater“ 1873–1941) gegründeten Vorläuferorga- Am26.September1951,wiederumim in den Vorstand zu kooptieren.24 Als nisation, der „Deutschen Gesellschaft für organisatorischen Rahmen einer GDNP- einziger Kandidat wurde der Ordina- Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik“ Jahrestagung (Stuttgart), verabschiedete rius Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen (DGKH), im Gespräch.15 Dazu hieß es die Mitgliederversammlung unter Villin- (1903–1971), Direktor der Universitäts- in der Selbsthistorisierung Stuttes aus ger im Stuttgarter Schloss-Café die zwi- kinderklinik Köln-Marienburg (1947), dem Jahr 1982 unter Vernachlässigung schenzeitlich vorbereitete Satzung unter benannt. Bennholdt-Thomsen, in der der tatsächlichen Ereignisabfolge: „Als dem endgültigen Namen „Deutsche Ver- akademischen Schule Pfaundlers und sie[dieDGKH;Anm.derVerf.]sich einigung für Jugendpsychiatrie“.20 Damit de Rudders ausgebildet, gehörte seit 1950 unter W. VILLINGER wieder for- war auch der in Marburg noch diskutier- 1947 dem Deutschen Ausschuss für mierte, geschah dies – ohne Liaison mit te namentliche Bezug zur Heilpädago- Erziehungs- und Bildungsfragen sowie der inzwischen ebenfalls weitgehend gik und zur Psychologie fallen gelassen seit 1948 dem Vorstand der Deutschen universitär verselbständigten Heilpäd- worden. Der GDNP-Vorsitzende Ernst Gesellschaft für Konstitutionsforschung agogik – als ,Deutsche Vereinigung für Kretschmer (1888–1964) hieß die jun- an.25 Für seine Kooptierung in den DVJ- Jugendpsychiatrie‘. (Die Weglassung der ge Fachgesellschaft trotzdem süffisant als Vorstand dürften seine wissenschaftli- Kinderpsychiatrie im Titel war ein Ent- „Fähnlein der Heilpädagogik“ unter dem chen Arbeiten zur Chorea minor und die Dach der GDNP willkommen.21 Durch seriellen Untersuchungen zum Problem 12 Gesellschaft Deutscher Neurologen der „Acceleration“ und „Retardierung“ 16 StutteH(1982)[wieAnm.6],S.281. und Psychiater Tagung in Göttingen vom Minderjähriger ausschlaggebend gewe- 22.–25. September 1949. In: Zentralblatt für die 17 HoltkampM(2002)[wieAnm.2]. ges. Neurologie und Psychiatrie, 108 (1950) 6/7, 18 Archiv der DGKJ im Universitätsarchiv der 22 Protokoll über die Versammlung der „Deut- S.332. Humboldt-Universität Berlin. Karton LXIII, schen Vereinigung für Jugendpsychiatrie“ am 13 Castelletal.(2003)[wieAnm.8],S.88. Geschäftsberichte 1949–55, Karton DGKJ e. V. 26.9.1951 in Stuttgart (Schloss-Café) anlässlich 14 Castelletal.(2003)[wieAnm.8],S.91. CCXXXVIII. der Jahreshauptversammlung der Gesellschaft 19 Deutscher Neurologen und Psychiater, Archiv 15 Archiv der DGKJ im Universitätsarchiv der ZurEntstehungderDGKH:Castelletal.(2003) Humboldt-Universität Berlin, Karton KAVH derDGKJP. [wie Anm. 8]; Schepker K, Fangerau H (2016): Kujath. 23 Castell R et al. (2003)[wie Anm. 8]; Schepker/ Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für 20 CastellRetal.(2003)[wieAnm.8],S.98. Fangerau,(2016)[wieAnm.15]. Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik. Der Weg 24 vonPaulSchröderzumGründungsvorsitzenden. 21 Stutte H (1967): Soziale Aufgaben der Protokoll26.9.1951[wieAnm.22]. In: Zeitschrift fürKinder- und Jugendpsychiatrie Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Jahrbuch für 25 Personalakte Bennholdt-Thomsen, Universi- undPsychotherapie44,S.1–9. Jugendpsychiatrie,V,S.175–185. tätsarchivKöln,Zug.571Nr.8.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 111 Pädiatrie nach 1945

Privatwohnung. Das Verhältnis beider Fachgesellschaften war dort dezidiert In- halt der Verhandlungen. Villinger hielt für sich als Notiz fest: „Die Pediater [sic] legen besonderen Wert darauf, dass dieser erste Tag eine eindrucksvolle Bekundung ihres Bestrebens darstelle, mit der Kinderpsychiatrie zusammen- zuarbeiten und zu einem fruchtbaren Austausch zu kommen. Bei den Ver- handlungen kam zwischen den Zeilen Abb. 62 9 Plat- das Bestreben zum Vorschein, zwar die tenhülle: Carl Bennholdt-Thom- Kinder- und Jugendpsychiatrie als eine sen spricht zur besondere Disziplin anzuerkennen, aber seelischen Führung doch zu betonen, dass die Pediater auf kranker Kinder.(© diesem Gebiete gleichfalls etwas zu bie- Archiv der Deut- ten hätten. Ausserdem liess man auch schen Gesellschaft für Kinder- und gelegentlich durchblicken, dass es für un- Jugendmedizin sere zahlenmässig so kleine Vereinigung [DGKJ], mit freundl. ein Vorteil sei, unsere Tagung mit der Genehmigung) der Kinderärzte zusammenzulegen und gewissermassen den Auftackt [sic] für sen sein, die für Kinder- und Jugend- scher Stellen, die Diagnostik und The- die Gesamttagung bilden zu können.“29 psychiater z. B. bezüglich der „Pubertas rapie geistiger und seelischer Störungen Die Verhandlungsdetails umfassten praecox“ (Stutte) von Interesse waren. Er bei Kindern in ihren Aufgabenbereich a) den thematischen Zuschnitt in Form nahm die Wahl an.26 Mit diesem Schritt einzubeziehen.“27 Die Diskussion über der Referate, b) die Räumlichkeiten, war eine personelle „Brücke“ im Grenz- die disziplinäre Abgrenzung entzündete c)dieFinanzierungsfragesowied)die bereich beider Disziplinen geschlagen. sich konkret an der Fach- und Wei- anschließende Publikation der Beiträge. Bennholdt-Thomsen entwickelte sich terbildung. Von der noch in Lübeck Für die bereits ausgehandelten The- neben Villinger, von Stockert und de vertretenen selbstbewussten Position menschwerpunkte 1. Der Einfluss der Rudder mittelfristig zu einem zentra- war nicht mehr die Rede, was sich auch Präpubertät auf die Entwicklung des Kin- len Knotenpunkt in der pädiatrisch- in der neuen Begriffsverwendung „Kin- des und 2. Die Bedeutung der Kriegs- kinderpsychiatrischen Verflechtungs- derpsychiatrie“ ausdrückt. und Nachkriegszeit für die Entwicklung struktur (. Abb. 62). Als Stutte sich 1953 bei de Rudder er- des Kindes war man übereingekommen, kundigte, ob für das Jahr 1954 weiterhin diese mit einer personellen Doppelung Gemeinsame Tagung in Essen Interesse an einer bereits vorbesproche- abzudecken. Bosserts Essener Oberarzt 1954 nen gemeinsamen Jahrestagung bestün- Karl-Heinz Bleckmann und Stutte über- de, zeigte sich dieser überzeugt, „dass nahmen die Feinabstimmung. So schrieb Verhandlungen mit Konfliktpoten- unsere Gesellschaft durchaus zu einer BleckmannandenMarburgerKollegen, zial engen Zusammenarbeit mit der Deut- dass man sich im eigenen Referat (Bos- schen Vereinigung für Jugendpsychiatrie sert und Bleckmann) auf vergleichende Die Bestrebungen der Kinder- und Ju- jederzeit bereit“ sei. De Rudder musste Zahlen für die Altersstufen von 0 bis gendpsychiater blieben den Pädiatern aber die Anfrage an den für das Ge- 14 Jahren konzentrieren werde. Be- nicht verborgen. Im Geschäftsbericht schäftsjahr 1954 designierten Tagungs- züglich des Schwerpunkts Kriegs- und 1953 (Jahreskongress Bad Kissingen: präsidenten Otto Bossert weiterleiten.28 Nachkriegsauswirkungen definierte er: Bernhard de Rudder) hieß es: „Es wird Zur konkreten Abstimmung trafen sich „Die körperlichen Entwicklungsstörun- über die Stellung unseres Faches zur Anfang 1954 Bossert, Villinger und genwürdenwirnuramRandeerwähnen, Kinderpsychiatrie gesprochen. Wir mei- Bennholdt-Thomsen in dessen Kölner desgleichen würden wir auf rein psych- nen: Der Kinderarzt ist für das ganze iatrische Fragen nicht eingehen (u. a. Kind da. Mit Besorgnis beobachten wir 27 Archiv der DGKJ im Universitätsarchiv der würden wir nicht näher eingehen auf die Bemühungen einzelner psychiatri- Humboldt-Universität Berlin, Geschäftsbericht die Frage der organischen cerebralen 1953,KartonLXIII,KartonDGKJe. V.CCXXXVIII. Schädigung nach längerer Dystrophie, 28 Stutte an de Rudder, 12.8.1953, de Rudder ferner würden wir nicht eingehen auf 26 Siehe Begleitschreiben Bennholdt-Thomsen anStutte,14.8.1953,UniversitätsarchivMarburg zurÜbersendungdervonihmunterschriebenen (UAM),TeilnachlassH.Stutte(TNL),309/54,Nr.1: die ganze Problematik der Pubertät. Satzung an DVJ-Kassenwart Walter Gerson, KongressEssen6.-7.9.54u.Mitgl.–Versammlung 23.11.1951,ArchivderDGKJP. v.7.9.54. 29 UAM,TNLStutte,309/54,Nr.1.

112 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 größte Resonanz in Essen hervorgerufen (. Abb. 64): der öffentliche Abendvor- trag unter dem Titel „Die Bedeutung der Massenmedia (Comic books, Radio und Fernsehen) für das Entstehen der kind- lichen Neurose.“ Die Kinderpsycholo- ginundspätereKinderpsychiaterinHilde Lachmann-Mosse (1912–1982, Oberärz- tininderLafargueClinic,NewYork, Leiter: Dr. Fredric Wertham) hatte 1953 den Kontakt zur GDNP (Schriftführer: Helmut E. Ehrhardt [1914–1997], Vor- sitz: Villinger) gesucht und sich für deren Tagungen in Vorschlag gebracht. Lach- mann-Mosse entstammte einer Berliner Bankier-undVerlegerfamilie.IhrBruder, der Historiker George Lachmann-Mos- se, wurde in der Bundesrepublik durch seine Arbeiten zur Geschichte des Na- tionalsozialismus bekannt. Sie selbst war Abb. 63 9 Pro- 1933, um der Verfolgung zu entgehen, gramm der 54. Ta- mit ihrer Mutter in die Schweiz (Basel) gung der DGfK 1954 emigriert, wo sie ihr Medizinstudium be- in Essen. (© Archiv der Deutschen Ge- endete. Im Jahr 1938 siedelte sie, ein Jahr sellschaftfürKinder- vor ihrem Bruder, in die USA über.34 und Jugendmedizin In ihrem Vortrag illustrierte Lach- [DGKJ], mit freundl. mann-Mosse das Phänomen der Ge- Genehmigung) waltverherrlichung in dem seit Mitte der 1930er-Jahre zunehmend verbreiteten (Auch spezielle Ausführungen über gung auf dem Kongreß-Programm. ...“ Genre der Comic-Heftserien und legte Jugendkriminalität möchten wir dem (. Abb. 63). Aber: „Selbstverständlich ursächliche Zusammenhänge zu neuro- psychiatrischen Sektor zuweisen).“30 soll dadurch die Kordialität auf unse- tischen Entwicklungen minderjähriger Allgemein war man seitens der DVJ rer ersten gemeinsamen Tagung nicht Konsumenten bis hin zu gesteigerter unzufrieden mit der Gewichtung der leiden.“32 Kriminalität nahe. Ihre Erläuterungen Programmanteile zwischen den beiden Nach der Tagung versuchte Stutte, die lösten in Essen derartiges Interesse und Kooperationspartnern. Ein Postskrip- Wogen wieder zu glätten, indem er ver- Bestürzung aus, dass es als Nachklang des tum in einem Brief Stuttes an Eyrich söhnlich auf das Ereignis zurückblickte. Kongresses zu einer gemeinsamen Stel- lautet: „Dass unsere Vereinigung in dem Gegenüber Bossert hob er die „wertvol- lungnahme beider Fachgesellschaften Programm etwas stiefmütterlich behan- le und vortreffliche Vorbereitung“ her- kam. Bossert und DGfK-Schriftführer delt worden ist von Seiten der Pädiater vor.DieEtikettebliebgewahrt,under Johannes Jochims (1899–1965) verein- habe ich bereits Professor Bennholdt- erklärte: „Das Echo unserer gemeinsa- nahmten umgehend die Thematik für Thomsen, der in unserem Vorstand und men Veranstaltung war überall ein äu- die Pädiatrie und sandten einen Ent- im Ausschuss des Vorstandes der Gesell- ßerst erfreuliches, und uns Jugendpsych- wurf an die DVJ zur Unterzeichnung. schaft für Kinderheilkunde ist, ziemlich iaternistvorallemevidentgeworden,daß Man sei, so der Wortlaut der Erklärung, deutlich geschrieben. Leider lässt es sich wir im Grunde doch die gleiche Spra- vom „unheilvolle[n] Einfluss ... der nachträglich nicht wieder gutmachen.“31 che sprechen und sehr viele gemeinsame sich auch bei uns stetig ausbreitenden Zwei Wochen später wurden auch die Aufgabenhaben,dieeineimmerwei- sogenannten Comic books auf Verro- Essener pädiatrischen Kongressorgani- tere Intensivierung der Zusammenarbeit hung und Kriminalität von Kindern satoren von Stutte kritisiert: „Wir bedau- rechtfertigt.“33 und Jugendlichen überzeugt“, weshalb ern natürlich die optische Beschneidung Bezüglich des „Echos“ hatte ein von unserer jugendpsychiatrischen Vereini- der DVJ eingebrachter Beitrag die wohl 34 Kraus E (1999): Die Familie Mosse. Deutsch- jüdischesBürgertumim19.und20.Jahrhundert, 30 Bleckmann an Stutte, 1.5.1954, UAM, TNL 32 Stutte an Bleckmann, 24.8.54, UAM, TNL München; Bresges W (2000): Hilde L. Mosse Stutte,309/54,Nr.1. Stutte,309/54,Nr.1. (1912–1982). Leben und Werk, Köln Univ.- 31 Stutte an Eyrich, 9.8.54, UAM, TNL Stutte, 33 Stutte an Bossert, 9.9.1954, UAM, TNL Stutte, Diss.; sowie: http://www.rodagroup.com/hilde. 309/54,Nr.1. 309/54,Nr.1. html(19.11.2015).

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 113 Pädiatrie nach 1945

Abb. 64 9 Presseartikel zum Vortrag von Hilde Lachmann-Mosse

man die Bundesregierung bitte, „alle – „nicht zuletzt auch im Hinblick auf ausstehenden Kongresskostenanteil zu ihr zweckmässig erscheinenden Schritte den ... von beiden Seiten immer wieder erlassen, sofern diese für die Veröffent- zur Ausschaltung dieser Jugendlektüre bekundeten Willen zu engerer wissen- lichung ihrer 4 Referate – darunter auch zu ergreifen“.35 Die Erklärung wurde an schaftlicher Zusammenarbeit in der ein Beitrag des Rostocker Kinderpsych- verschiedene Ministerien und (Fürsor- Zukunft.“ Von Stockert, der über Stuttes iaters Gerhard Göllnitz (1920–2003) – ge-)Verbände versandt. Schreiben informiert war, fand dieses aufkommen würde.37 Daneben blieben die Beteiligung der „ausgezeichnet“. Es sei „genau richtig, DVJ an den Kongresskosten und der daßmannichtnurdieHyperaesthesieder Nachwirkungen Abdruck der Beiträge der gesonderten Pädiater dauernd berücksichtigt, son- DVJ-Sektion am zweiten Kongresstag dern ihnen klarmacht, daß sie sich auch „Gesicht der Kinderpsychiatrie“ in der Monatsschrift für Kinderheilkunde kollegial verhalten sollen, wenn sie eine und Facharztfrage zunächst offen. Als Letzteres von Jochims Symbiose so dringend wünschen.“36 Jo- infrage gestellt wurde, konterte Stutte chims, Hans Kleinschmidt (1885–1977) Nach Essen setzte sich innerhalb der mit dem Argument, welches Befrem- als Hauptherausgeber der Monatsschrift DVJ die Debatte über das Verhältnis den wohl die Nichtübernahme unter für Kinderheilkunde und Stutte einig- von Psychiatrie und Pädiatrie fort. Vil- den DVJ-Mitgliedern auslösen würde ten sich darauf, der DVJ ihren noch lingers Postulat „Kompetenzdifferenzen

35 Jochims an Villinger, 26.9.1954, UAM, TNL 36 Stutte an Jochims, 24.9.54 und von Stockert 37 MonatsschriftfürKinderheilkunde103(1955) Stutte,309/54,Nr.1. anStutte,6.10.54,UAM,TNLStutte,309/54,Nr.1. 2,S.91–96.

114 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 seien heute ... inopportun“, so in der Ernst Lorenz, 1901–1975) ist zu entneh- pich, 1903–1992) erging eine weitere Vorstandssitzung am 6. Januar 1955, men, dass Kinder- und Jugendpsychiater Stellungnahme. Man konstatierte, dass konnte dabei nicht über die Divergen- bereits einen ersten Vorstoß unternom- sich die Kinderpsychiatrie in manchen zen hinweghelfen. Bennholdt-Thomsen men hatten, bis zur Etablierung des Ländern bereits von der Kinderheilkun- kritisierte, dass in der DVJ die Päd- gewünschten Facharztes wenigstens ein de getrennt habe; diese Entwicklung iatrie noch immer unterrepräsentiert von der DVJ zu vergebendes „Prädikat“ schien unumkehrbar zu sein. Zudem sei. Die Kinderpsychiatrie habe noch anerkennen zu lassen. Mit diesem Ansin- ließen sich aber auch nichtärztliche Kin- „kein eigenes Gesicht“, was Villinger nenhattensie„andieständigeKonferenz derpsychologen als Psychotherapeuten wiederum dazu herausforderte, an die der Facharztausschußvorsitzenden der nieder, woran sie niemand hindern kön- längere Tradition der Methoden, theore- Landesärztekammern den Antrag ge- ne, so Joppich: „Dagegen dürfen weder tischen Grundlagen sowie Institutionen stellt, in den § 35 (Praxisschilder) ... Psychiater noch Kinderärzte eine solche zu erinnern, die sehr wohl der Kin- der Berufsordnung für die deutschen Fachbezeichnung führen. Die Deutsche derpsychiatrie „den Charakter einer Ärzte die Zusatzbezeichnung ,Kinder- Gesellschaft für Kinderheilkunde hat selbstständigen medizinischen Diszi- und Jugendpsychiatrie‘ aufzunehmen.“40 sich daher ... der Vereinigung für Ju- plin“ verleihen würden. Abschließend Der Antrag vom 19. September 1956 war gendpsychiatrie [sic!] angeschlossen, kamerallerdingsunterdemEindruck allerdings aus der Marburger Univer- welche durch die Bundesärztekammer äußerer Anfechtungen erneut zu einer sitätsnervenklinik Villingers und da- eine Änderung der Vorschriften herbei- vermittelnden Position: „Im Interesse mit ohne Abstimmung mit Bennholdt- führen soll.“43 Der gemeinsame „Geg- einer engen Zusammenarbeit mit der Thomsen oder der DGfK erfolgt, was ner“ zwang zur Allianz, bei allen – teils deutschen Kinderheilkunde, die nicht dieser in der DVJ-Vorstandssitzung im bis heute – fortbestehenden Kompe- zuletzt wegen der Einmischung nicht- Januar 1957 monierte. Villinger verwies tenzstreitigkeiten. Bis zur Anerkennung ärztlicher Wissenschaftszweige in die auf den angeblich hohen Zeitdruck, der eines Facharzttitels 1968 sollten noch Aufgaben der Kinderpsychiatrie erfor- eine Rücksprache nicht mehr zugelassen einige Jahre vergehen. derlich sei, soll dem gegebenenfalls auf habe.41 Die DGfK erklärte ihrerseits Kooperative Jahrestagungen kamen Seiten der Pädiater bestehenden Wunsch nun gegenüber der ständigen Konfe- nach Essen vorerst nicht mehr zustande. nach stärkererVertretung in unsererVer- renz: „Gegen die ... Zusatzbezeichnung Villinger verunglückte – wie erwähnt einigung durchaus entgegengekommen ,Kinder- und Jugendpsychiatrie‘ an prak- – bei Innsbruck, wo die DVJ 1961 auf werden.“38 tizierende Ärzte werden ... nur dann Einladung Aspergers ihre wissenschaft- Seit Längerem debattierte man über keine Einwendungen erhoben, wenn liche Tagung abhielt. Eine Annäherung die mögliche Etablierung eines Facharz- der ... Bewerber ... über eine der psy- neuer Qualität lässt sich erst für die zwei- tes für Kinder- und Jugendpsychiatrie. chiatrischen mindestens ebenbürtige te Hälfte der 1960er-Jahre nachweisen. Einigkeit bestand insoweit, als dass Letz- pädiatrische Ausbildung verfügt. ... Des Noch 1965 hielt die DGfK unter dem terer im Sinne der Qualitäts- und In- Weiteren muß gefordert werden, daß, Vorsitzenden Hermann Mai (Münster) teressensicherung notwendig sei. Doch ebenso wie es Fachärzten für Neurologie ihren Kongress auf Norderney mit dem der Teufel steckte im Detail, nämlich und Psychiatrie gestattet werden soll, ... Themenschwerpunkt „Kinderpsychia- in der konzeptionellen Ausbalancierung mit gleichem Recht auch Fachärzten für trie“ ohne Beteiligung der DVJ ab. Aber pädiatrischer und (kinder- und jugend-) Kinderkrankheiten diese Zusatzbezeich- für das Jahr 1966 unter Adalbert Loesch- psychiatrischer Ausbildungsteile. Man nung zugebilligt werden muß, falls sie ke (Berlin, 1903–1970) wurde wieder ein beschloss 1955, mithilfe eines DVJ-Aus- über eine entsprechende Ausbildung in kombinierter Kongress vorbereitet. Bei schusses gemeinsame Richtlinien für die Neurologie und Psychiatrie verfügen.“42 der Begrüßung der Gäste behauptete Ausbildung zum Kinder- und Jugend- Ein Jahr darauf beim Kasseler DGfK- Loeschke, dass sich die DVJ, wie andere psychiater zu entwerfen, „um damit der Jahreskongress (Vorsitz: Gerhard Jop- Nachbargesellschaften auch, aus der Kin- ubiquitären, für das Ansehen des Faches derheilkunde heraus entwickelt habe.44 und auch der Sache abträglichen Ten- Zudem brachte er in Berlin, übrigens denz, daß sich mangelhaft vorgebildete 40 DGfK Geschäftsbericht über die 57. Ta- auf Wunsch der DVJ, den Antrag ein, und qualifizierte Ärzte als Kinder- und gung in Graz und Mitgliederverzeichnis(Stand: diese als „außerordentliches Mitglied“ 16.9.1959), Archiv der DGKJ im Universi- Jugendpsychiater ausgeben, entgegen zu tätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin. 39 treten.“ KartonLXIII,Geschäftsberichte1949–55,Karton 43 DGfK Geschäftsbericht über die 59. Tagung Dem Geschäftsbericht der DGfK CCXXXVIII. in Kassel und Mitgliederverzeichnis (Stand: zur Jahrestagung in Graz 1958 (Vorsitz: 41 Protokoll, 10.1.1957, nebst Antrag vom 15.2.61) Archiv der DGKJ im Universitätsarchiv 19.9.1956,UAM,TNLStutte,Nr.15. der Humboldt-Universität Berlin. Karton LXIII, 42 DGfK Geschäftsbericht über die 57. Tagung Geschäftsberichte 1949–55, Karton DGKJ e. V. 38 Protokoll Vorstandssitzung der DVJ vom in Graz und Mitgliederverzeichnis, (Stand: CCXXXVIII. 6.1.1955,Marburg,UAM,TNLStutte,Nr.12. 16.9.1959), Archiv der DGKJ im Universitätsar- 44 Windorfer A, Schlenk R (1978): Die Deut- 39 Stutte anMitgliederdesAusschussesunddie chiv der Humboldt-Universität Berlin. Karton sche Gesellschaft für Kinderheilkunde. Ihre Vorstandsmitglieder, 12.1.55, UAM, TNL Stutte, LXIII, Geschäftsberichte 1949–55, Karton DGKJ Entstehung und historische Entwicklung, Berlin Nr.12. e. V.CCXXXVIII. u. a.

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 115 Pädiatrie nach 1945

in die DGfK aufzunehmen. So band das Betätigungsfeld der Therapie min- sich die DVJ korporativ an den pä- derjähriger Patienten drängten. diatrischen Fachverband.45 Bennholdt- Thomsen wurde 1963 zum Ehrenmit- Korrespondenzadresse glied der DVJ und Hermann Stutte im Gegenzug 1979 zum Ehrenmitglied der Dr.S.Topp DGfK gewählt. Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Universitätsstr. 1, 40225 Düsseldorf, Resümee Deutschland [email protected] In der „querelle de compétence“ zwi- schen Pädiatrie und Kinder- und Ju- Sascha Topp, Dr. phil.; 2005 Studium der Geschichts- gendpsychiatrie über die disziplinären und Kulturwissenschaften, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft an der FU Berlin; 2006–2014 Grenzbereiche waren nicht nur die kon- am Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Lie- trären Kompetenzansprüche und bei- big-Universität Gießen; 2011 Promotion (Geschichte derseitigen strategischen Ausrichtungen alsArgumentinderNachkriegsmedizin;2015mitdem Herbert-Lewin-Preis ausgezeichnet). Seit 2014 wis- ineinander verwoben. Allgemein cha- senschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte rakteristisch ist auch eine dialektische und Ethik der Medizin des Uniklinikums Köln in einem Dynamik aus fachlich-institutioneller Forschungsprojekt zur historischen Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 1945 (DGKJP). Abgrenzung einerseits und Kooperati- onsbemühungen andererseits. Koope- Klaus Schepker, Studium der Sprachwissenschaft, rative Manöver wie die gemeinsamen Pädagogik und Politikwissenschaft an der Leibniz- Universität-Hannover. Seit April 2014 Promovend am Kongresse in Lübeck und Essen konnten Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin allerdings die Konfliktpotenziale kaum derUniversitätUlm.SeitOktober2014Projektleiter abschwächen. Komplementäre Verein- des von der DGKJP geförderten Forschungsprojektes zur Geschichte der Fachgesellschaft mit 2-jähriger nahmungsversuche, personelle Brücken, Laufzeit (DGKJP). In dieser Funktion freier Mitarbeiter Inkorporationen, temporäre Allianzen des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin oder symbolische Anerkennung des der Universität Köln, seit Januar 2016 des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Gegenübers – diese Elemente waren Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ausdruck der disziplinspezifischen, mal verbindenden, mal trennenden Selbst- Heiner Fangerau, Prof. Dr. med.; Studium der Medizin 46 an der Ruhr-Universität Bochum. Im Jahr 2000 Pro- konstitution und Identitätsstiftung. motion mit einer Arbeit zur Geschichte der Rassenhy- Sie begleiteten in den 1950er-Jahren giene/Eugenik; nach kurzer klinischer Tätigkeit in der den Prozess der innermedizinischen Neurologie und Psychiatrie 2002/2003 wissenschaft- Diversifizierung, hier in Gestalt der licher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Georg-August-Universität Göttingen; „Sonderdisziplin“ (Stutte, 1982) Kinder- 2003–2008 wissenschaftlicher Assistent am Institut und Jugendpsychiatrie. Im Rückblick für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Uni- versität Düsseldorf. Habilitation 2007; 2008–2014 erweist sich insbesondere die konflikt- Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik beladene Frage nach dem Facharzt als der Medizin der Universität Ulm, bis Dezember 2015 Objekt komplexer Überschneidungen. in gleicher Funktion am Kölner Institut für Geschichte und Ethik der Medizin tätig. Seit Januar 2016 Direk- Trotz zunehmender Vernetzung blieb es tor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der aber – neben der Kulturkritik an den Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Massenmedien (Comics) – primär bei einer Interessengemeinsamkeit: dem be- rufsständischen Schulterschluss gegen nichtärztliche Akteure, die zusätzlich in

45 Archiv der DGKJ im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Karton KAVH/ DGKJ:Kongress1966inBerlin. 46 Fangerau H (2011): Urologie im Nationalso- zialismus. Eine medizinische Fachgesellschaft zwischenProfessionalisierungundVertreibung. In:KrischelM,MollF,BellmannJu.a.(Hg.), Urologen im Nationalsozialismus. Zwischen AnpassungundVertreibung,Berlin,S.13–21.

116 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Bildnachweis: Soweit nicht gesondert ausgewiesen, liegen die Bildrechte bei den jeweiligen Autoren der Beiträge.

Archiv der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Berlin: Topp/Schepker/Fangerau Abb. 62+63 | Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau/ Jugendhilfe-Akten Bestand 101: Hottenrott Abb. 61 | Bundesarchiv: Topp Abb. 15 (SA 400002818); Hottenrott Abb. 60 (Bestand DR 203) | Bundesar- chiv-Bildarchiv: Hinz-Wessels (Bild 183-B1006-0007-012, Heinz Junge), Abb. 6, Hahn (Bild 183-K0318-1005-002, Klaus Franke)Abb. 30 | Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: Roelcke/Topp Abb. 17 | Dokumentations- und Informationszentrum Torgau: Hottenrott Abb. 58, Abb. 59 (Stiftung Fotoarchiv Erdmute Bräunlich) | Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin: Radke Abb. 3, Beddies Abb. 7+8, Doetz Abb. 29 | Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Heidelberg (Bildarchiv): Osten Abb. 20, 21, 22, 24 | Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie, Bremen: Höpner Abb. 54+55 | MedAlum e.V., Münster: Topp Abb. 13+14 | Monatsschrift für Kinderheilkunde: Roelcke/Topp Abb. 18 | Nachlass Günther Schellong, Münster: Topp Abb. 11+12 | Nutricia GmbH, Erlangen: Osten Abb. 19 | Roland Wauer, Berlin: Cover-Foto | Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn/Landesarchiv Nordrhein-Westfalen: Oommen-Halbach Abb. 26+27 | Universitätsarchiv Frankfurt/M.: Oommen-Halbach Abb. 28 | Universitätsarchiv Ludwig-Maximilians-Universität München: Topp Abb. 16 | Universi- tätsarchiv Rostock: Hinz-Wessels Abb. 4+5 | Universitätskinderklinik Erlangen: Bussiek Abb. 9+10 | Universitäts-Kinderklinik Rostock (Ltg.: Prof. Dr. Michael Radke): Oommen-Halbach Abb 25, Radke Abb. 2

Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 117 Monatsschrift Kinderheilkunde

Organ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) Organ der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ)

Feder füh ren de Schriftlei ter / Editors-in-chief Pädiatrie aktuell / Trends in pediatrics Prof. Dr. G. Hansen, Zentrum Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Prof. Dr. J. Freihorst, Aalen • Prof. Dr. R. Kerbl, Leoben Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie, Dr. G. Krandick, Oberhaching • Dr. P. Voitl, Wien Medizinische Hochschule Hannover Für die DGKJ Prof. Dr. R. Kerbl, LKH Leoben-Eisenerz, Prof. Dr. E. Mayatepek, Düsseldorf (Präsident) Abteilung für Kinder und Jugendliche Prof. Dr. M. Weiß, Köln (Mitteilungen) Prof. Dr. F. Zepp, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsmedizin, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Für die ÖGKJ Prof. Dr. W. Sperl, Salzburg (Präsident) Rubrikherausgeber / Section editors Prof. Dr. R. Kerbl, Leoben (Mitteilungen) Leitthema / Main topic (Review articles) Wissenschaft li cher Bei rat / Advisory board Prof. Dr. G. Hansen, Hannover • Prof. Dr. R. Kerbl, Leoben Prof. Dr. C. Bührer, Berlin • Prof. Dr. K.-M. Debatin, Ulm Prof. Dr. F. Zepp, Mainz Prof. Dr. J. Dötsch, Köln • Prof. Dr. J. Fuchs, Tübingen Originalien (Kasuistik, Klinik und Forschung)/ Prof. Dr. M. Gahr, Dresden • Prof. Dr. J. Gärtner, Göttingen Original articles (Case reports, clinic and research) Prof. Dr. A. Grüters, Berlin • Prof. Dr. E. Hamelmann, Bielefeld Prof. Dr. B. Koletzko, München • Prof. Dr. T. Lücke, Bochum Prof. Dr. F. Heinen, München • Prof. Dr. G. F. Hoff mann, Heidelberg Prof. Dr. E. Mayatepek, Düsseldorf • Prof. Dr. N. Wagner, Aachen Prof. Dr. P.F. Hoyer, Essen • Prof. Dr. H.-I. Huppertz, Bremen Prof. Dr. S. Wirth, Wuppertal • Prof. Dr. F. Zepp, Mainz Prof. Dr. W. Kiess, Leipzig • Prof. Dr. C. Klein, München Prof. Dr. M. Knuf, Wiesbaden/Mainz Konsensuspapiere / Consensus papers Prof. Dr. I. Krägeloh-Mann, Tübingen • Prof. Dr. H.-H. Kramer, Kiel Prof. Dr. A. Borkhardt, Düsseldorf • Prof. Dr. S. Wirth, Wuppertal Prof. Dr. H. Krude, Berlin • Prof. Dr. J. Liese, Würzburg Handlungsempfehlungen / Clinical pathways Prof. Dr. M.A. Mall, Heidelberg • Prof. Dr. E. Mayatepek, Düsseldorf Prof. Dr. A. Borkhardt, Düsseldorf • Prof. Dr. S. Wirth, Wuppertal Prof. Dr. A.C. Muntau, Hamburg • Prof. Dr. C. Niemeyer, Freiburg Prof. Dr. H. Omran, Münster • Prof. Dr. C. Poets, Tübingen Bild und Fall / Photo essay Prof. Dr. J. Riedler, Schwarzach • PD Dr. B. Rodeck, Osnabrück Prof. Dr. L.T. Weber, Köln Prof. Dr. H. Schroten, Mannheim Arzneimitteltherapie / Drug therapy Prof. Dr. M. Schulte-Markwort, Hamburg PD Dr. F. Lagler, Salzburg Prof. Dr. F. H. Sennhauser, Zürich • Prof. Dr. C.P. Speer, Würzburg Prof. Dr. Dr. h.c. W. Rascher, Erlangen Prof. Dr. U. Spiekerkötter, Freiburg Prof. Dr. M. Schwab, Stuttgart Prof. Dr. R. Trollmann, Erlangen • Prof. Dr. K. Ullrich, Hamburg Prof. Dr. B. Urlesberger, Graz • Prof. Dr. D. von Schweinitz, München Notfälle im Kindes- und Jugendalter Prof. Dr. U. Wahn, Berlin • Prof. Dr. M. Weiß, Köln Dr. O. Heinzel, Tübingen • Dr. F. Hoff mann, München Prof. Dr. K.-P. Zimmer, Gießen Prof. Dr. T. Nicolai, München Begründet 1903 und herausgegeben von CME Zertifi zierte Fortbildung / Continuing medical education Prof. Dr. H. Ashby, Manchester • Prof. Dr. A. Czerny, Breslau • Prof. Dr. A. Johannessen, Kristiania/Oslo • Prof. Dr. A. Marfan, Paris • Prof. Dr. R. Berner, Dresden • Prof. Dr. B. Koletzko, München Prof. Dr. G. Mya, Florenz • redigiert von Prof. Dr. A. Keller, Bonn Prof. Dr. W. Sperl, Salzburg

Zielsetzung der Zeitschrift Aims & Scope Monatsschrift Kinderheilkunde ist ein international angesehenes Publikationsorgan. Die Monatsschrift Kinderheilkunde is an internationally respected journal covering all areas Zeitschrift bietet aktuelle Fortbildung für alle niedergelassenen und in der Klinik tätigen of pediatrics and juvenile medicine. The focus is on prevention, diagnostic approaches, Pädiater. Inhaltlich werden alle Bereiche der Kinderheilkunde und Jugendmedizin praxisnah management of complications, and current therapy strategies. The journal provides infor- abgedeckt. Im Vordergrund stehen Prävention, diagnostische Vorgehensweisen und Kom- mation for all pediatricians working in practical and clinical environments and scientists plikationsmanagement sowie moderne Therapiestrategien. who are particularly interested in issues of pediatrics. Umfassende Übersichtsarbeiten zu einem aktuellen Schwerpunktthema sind das Kernstück Freely submitted original papers allow the presentation of important clinical studies and jeder Ausgabe. Im Mittelpunkt steht dabei gesichertes Wissen zu Diagnostik und Therapie serve scientifi c exchange. mit hoher Relevanz für die tägliche Arbeit. Der Leser erhält konkrete Handlungsempfehlun- Comprehensive reviews on a specifi c topical issue focus on providing evidenced based gen und kann seinen Kenntnisstand anhand eines Fragenkatalogs überprüfen. information on diagnostics and therapy. Frei eingereichte Originalien ermöglichen die Präsentation wichtiger klinischer Studien und Review articles under the rubric “Continuing Medical Education” present verifi ed results dienen dem wissenschaftlichen Austausch. of scientifi c research and their integration into daily practice. Beiträge der Rubrik „CME Zertifi zierte Fortbildung“ bieten gesicherte Ergebnisse wissenschaft- Review: All articles of Monatsschrift Kinderheilkunde are reviewed. Original papers and licher Forschung und machen ärztliche Erfahrung für die tägliche Praxis nutzbar. Nach Lek türe case reports undergo a peer review process. der Beiträge kann der Leser sein erworbenes Wissen über prüfen und online CME-Punkte Declaration of Helsinki: All manuscripts submitted for publication presenting results from erwerben. Die Rubrik orientiert sich an der Weiterbildungsordnung des Fachgebiets. studies on probands or patients must comply with the Declaration of Helsinki. Die Rubriken „Bild des Monats“, „Pädiatrie aktuell“, „Arzneimitteltherapie“ und ein „Leser- Indexed in Science Citation Index Expanded, EMBASE and Scopus. forum“ runden das redaktionelle Konzept ab.

118 Monatsschrift Kinderheilkunde · Supplement 1 · 2016 Monatsschrift Kinderheilkunde

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