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ZOOLOGIE 2015 ZOOLOGIE 2015 Herausgegeben von Mitteilungen Rudolf Alexander Steinbrecht der Deutschen Zoologischen Gesellschaft . Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

107. Jahresversammlung Göttingen 11.-14. September 2014

Biohistoricum im Zoologischen Museum Alexander Koenig · Bonn Basilisken-Presse · Rangsdorf 00_Titelei Seite_1 - 4_2015_Titelei_2010.qxd 18.08.2015 13:50 Seite 1

ZOOLOGIE 2015 Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Herausgegeben von Rudolf Alexander Steinbrecht

107. Jahresversammlung Göttingen 11.-14. September 2014

Basilisken-Presse Rangsdorf 2015 00_Titelei Seite_1 - 4_2015_Titelei_2010.qxd 18.08.2015 13:50 Seite 2

Umschlagbild Das Netzwerk der Uhrneuronen im Gehirn der Taufliege Drosophila. Siehe auch den Beitrag der Gewinnerin der Karl-Ritter-von Frisch-Medaille, Prof. Charlotte Helfrich- Förster: “Von neurogenetischen Studien an Drosophila zu einem generellen Konzept innerer Uhren“

Die Mitteilungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft erscheinen einmal jährlich. Einzelhefte sind bei der Geschäftsstelle (Corneliusstr. 12, 80469 München), zum Preis von 7,00 € erhältlich.

Gestaltung: Klaus Finze ProSatz&Gestaltung, Neuburg /Donau

Druck: REISIG Druck und Service Mittelweg 5 92237 Sulzbach-Rosenberg

Copyright 2015 by Basilisken-Presse im Verlag Natur & Text in Brandenburg GmbH . Rangsdorf Printed in Bundesrepublik Deutschland ISSN 1617-1977 00_Titelei Seite_1 - 4_2015_Titelei_2010.qxd 18.08.2015 13:50 Seite 3

Inhalt

Susanne Dobler 5 Grußwort der Präsidentin der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Monika Stengl 7 Laudatio auf Charlotte Helfrich-Förster

Charlotte Helfrich-Förster 11 Von neurogenetischen Studien an Drosophila zu einem generellen Konzept Innerer Uhren

Rüdiger Hardeland 23 Zur Historie der Zoologie in Göttingen

Klaus Bartels 31 Baumeister des Lebenden - die Aristotelische „Physis“, unsere „Natur“

47 Werner-Rathmayer-Preis der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Martin Singheiser und 49 Das neue Tierschutzgesetz und Hermann Wagner seine möglichen Auswirkungen auf die tierexperimentelle Forschung

Werner A. Müller 59 Klaus Sander (1929 – 2015) und die Renaissance der Entwicklungsbiologie in Deutschland

Ewald Müller und Heinz Weigold 73 Ein Vorkämpfer für die Ökologie Zum Tode von Erwin Kulzer 23. 2. 1928 - 13. 3. 2014

Markus Affolter 75 Nachruf auf Walter J. Gehring 29. 3. 1939 – 29. 5. 2014

Irene Würdinger 83 Nachruf auf Helmut Sturm 15. 5. 1929 - 1. 1. 2015

Bert Hölldobler 87 Nachruf auf Hubert (Jim) Markl 17. 8. 1938 – 8. 1. 2015 00_Titelei Seite_1 - 4_2015_Titelei_2010.qxd 18.08.2015 13:50 Seite 4

Victor Smetacek 95 A life devoted to aquatic ecology: a tribute to Otto Kinne (30. 8. 1923 – 3. 3. 2015)

Adriaan Dorrestejin und 105 Nachruf auf Dieter Eichelberg Klaus-Jürgen Götting 27. 11. 1934 – 12. 3. 2015

Reinhold Necker 107 Nachruf auf Werner Rautenberg 1. 11. 1927 – 26. 3. 2015 01_Dobler Susanne_5-6_03_Penzlin.qxd 18.08.2015 13:52 Seite 5

Grußwort der Präsidentin der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Susanne Dobler

Liebe Mitglieder, das Jahr 2015 hat für die Deutsche Zoologi- sche Gesellschaft besondere Bedeutung, es ist das 125. Gründungsjubiläum der DZG. Aus der am 28.5.1890 von einer klei- nen Schar zoologischer Ordinarien im Kai- serreich gegründeten, wissenschaftlichen Vereinigung der deutschen Zoologen ist in- zwischen eine breit gefächerte, stark ver- jüngte und lebendige Gesellschaft mit ca. 1600 Mitgliedern geworden, die in den acht Fachgruppen die vielfältigen Aspekte moderner zoologischer Forschung reprä- sentiert. Wie auch die Tagung 2014 in Göt- tingen wieder gezeigt hat, sind die DZG- Tagungen der Ort lebhaften Austauschs zwischen allen Einzeldisziplinen der Zoolo- gie, wobei besonders erfreulich ist, dass viele junge WissenschaftlerInnen teilneh- privates Bildarchiv men und hier nicht nur Erfahrungen im Präsentieren ihrer Daten sammeln, sondern hops und Satellitensymposien im Vorfeld auch die Chance zum Knüpfen wichtiger der Tagung. Zum ersten Mal bietet die DZG wissenschaftlicher Kontakte haben. Nach in diesem Jahr auch einen Workshop zu der sehr erfolgreichen Tagung in Göttingen tierexperimentellem Arbeiten an, der der mit vielen interessanten Vorträgen, ist die seit 2015 geltenden Weiterbildungspflicht Jahrestagung in diesem Jubiläumsjahr nach für alle tierexperimentell arbeitenden For- Graz eingeladen. Das Organisationsteam scher Rechnung tragen soll. Ich hoffe, dass um Christian Sturmbauer und Heiner Rö- dieser Workshop ein Erfolg wird und sich mer hat ein abwechslungsreiches Pro- langfristig als Service für unsere Mitglieder gramm zusammengestellt, das hoffentlich an den Tagungen verankern lässt. viele Mitglieder nach Graz locken wird. Be- Das Ringen zwischen Tierversuchsgeg- sonders freuen wir uns auch auf den Fest- nern und -befürwortern geht aktuell in eine vortrag von Friedrich Barth zum 125. Jubi- neue Runde: im Mai 2015 wurde im Euro- läum. Neben dem eigentlichen Programm päischen Parlament die europaweite Bür- gibt es wiederum eine Reihe von Works- gerinitiative "Stop Vivisection" mit knapp

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1,2 Millionen UnterzeichnerInnen gehört, Besonders erfreulich ist, dass wir nach die ein völliges Verbot von Tierversuchen der letztjährigen Verleihung der Karl-Ritter- fordert. Nachdem bereits die EU-Richtlinie von-Frisch Medaille an Charlotte Helfrich- 2010/63, die 2013 in Deutschland imple- Förster auch für 2016 wieder um Nominie- mentiert wurde, sehr hohe Standards in rungen für diesen höchsten Wissen - Bezug auf das Wohlergehen der Tiere in al- schafts preis in der deutschen Zoologie bit- len Tierversuchen einfordert und große ten können. Im März diesen Jahres verstarb Schritte in Richtung Reduzierung des Tier- im Alter von 91 Jahren Otto Kinne, der sel- verbrauchs und strenger Kontrollen der ber Träger der Karl-Ritter-von-Frisch Me- durchgeführten Tierversuche gemacht hat, daille war und sich seit 2009 großzügig wäre diese Initiative ein fataler Schritt in bereit erklärt hatte, die Finanzierung des die falsche Richtung. Im Namen der DZG Preises zu übernehmen. Wir bedanken uns haben wir an die deutschen Parlamenta- sehr herzlich bei seiner Frau Helga Kinne, rier und Parlamentarierinnen appelliert, die auch für die kommende Runde die Ko- die jetzt gültige Richtlinie beizubehalten stenübernahme für die Karl-Ritter-von- und nicht weiter zu verschärfen. Am 3. Juni Frisch Medaille zugesagt hat. mußte das Europäische Parlament auf die Bei der Tagung in Graz werden aber Anhörung antworten. Zum Glück hatte der zunächst wieder unsere Nachwuchspreise massive Protest vieler Forschungsorganisa- verliehen, die wieder einmal heiß um- tionen Erfolg und der Antrag wurde abge- kämpften Walter-Arndt- und Horst-Wiehe- lehnt. In seiner Antwort stellt das Europäi- Preise sowie der Rathmeyer-Preis für ein sche Parlament aber fest, dass langfristig prämiertes zoologisches Thema beim Ju- die Abschaffung aller Tierversuche politi- gend-forscht- Wettbewerb. Ich freue mich sches Ziel sein soll. Wir werden also wei- auf eine höchst interessante Tagung mit terhin Aufklärungsarbeit zu diesem Thema vielen spannenden Vorträgen und darauf, brauchen. viele von Ihnen in Graz wiederzusehen.

Prof. Dr. Susanne Dobler Universität Hamburg Biozentrum Grindel und Zoologisches Museum Martin-Luther King-Platz 3 20146 Hamburg [email protected]

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Laudatio auf Charlotte Helfrich-Förster anlässlich der Verleihung des Karl-Ritter-von-Frisch-Preises 2014

Monika Stengl

Ich freue mich sehr darüber heute Frau Prof. Dr. Charlotte Helfrich-Förster, Leite- rin des renommierten Lehrstuhls für Neu- robiologie und Genetik der Universität Würzburg, mit einer Laudatio ehren zu dürfen. Frau Prof. Dr. Helfrich-Förster hat durch eine Vielzahl herausragender Veröffentli- chungen die Zoologie, Chronobiologie, entscheidend geprägt. Ihre international gewürdigten Arbeiten basieren auf origi- nellen Verhaltensanalysen, gekoppelt mit exakten neuroanatomischen, immunzyto- chemischen Studien, verschiedenen physiologischen Tests, in Verbindung mit kluger Kombination der molekulargeneti- Abb. 1: Die Preisträgerin Prof. Dr. Charlotte schen Vorteile von Drosophila melanoga- Helfrich-Förster mit der Präsidentin Prof. Dr. ster. Ihre Arbeiten integrieren Erkennt- Constanze Scharff (li.) und der Laudatorin nisse aus der Chronobiologie der Pflan- Prof. Dr. Monika Stengl (re.). zen und Insekten, der Neuroethologie, Foto Dr. Sabine Gießler der Neurobiologie, der Stoffwechselphy- siologie und der Neurogenetik. Ihre Ana- sters der PERIOD- und PDF-exprimieren- lysen neuropeptiderger circadianer den circadianen Schrittmacherneurone. Schrittmacherneurone der Taufliege ha- Diese zelluläre Identifikation der circadia- ben wesentliche, neue Erkenntnisse er- nen Uhrgen-exprimierenden Schrittmach- bracht zum Verständnis des zellulären erneurone im genetischen Modellorganis- Netzwerkes innerer Uhren und deren An- mus Drosophila durch Frau Dr. Helfrich- passung an cyclische Veränderungen der Förster war ein Meilenstein in der Chro- . nobiologie, der ihr internationale Aner- Zu ihrer Forschung: Der Durchbruch kennung brachte. Vor allem durch detai- ihrer chronobiologischen Arbeiten gelang lierte Verhaltensanalysen der zwei-gipfeli- Frau Dr. Helfrich-Förster mit der erstmali- gen Laufaktivität der Taufliege und akribi- gen Beschreibung des Verzweigungsmu- scher immuncytochemischer Analyse des

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circadianen Netzwerkes entwickelte Frau Frau Helfrich-Förster hat als Anerken- Dr. Helfrich-Förster als erste das „Mor- nung ihrer wichtigen wissenschaftlichen ning-Evening-Oszillator-Modell“. Dieses Leistungen bereits mehrere Preise erhal- Modell schlägt vor, dass eine Gruppe cir- ten wie den Attempto-Preis der Univer- cadianer Schrittmacherneurone die mor- sität Tübingen, „Aschoffs Ruler“, den gendliche Aktivitätsphase (Morgen-Oszil- Aschoff-Honma Preis vom „Council der lator) der Tiere steuern. Eine andere Honma Life-Science Foundation“ in Japan Gruppe Uhrgen-exprimierender dorsaler und die Ariens-Kapper-Medaille der Eu- Neurone steuern als „Abend-Oszillator“ ropäischen Gesellschaft für Biologische den abendlichen Aktivitätsgipfel. Rhythmen (European Biological Rhythms Morgen- und Abend-Oszillatoren wer- Society). den durch Licht entweder beschleunigt Wenn eine Frau herausragende Preise oder gehemmt. Durch diese Licht-gesteu- erhält, gibt es häufig zwei Reaktionen: erten Phasenverschiebungen passt der Die der Neider: „Die hat den Preis ja Organismus sich an die sich im Laufe des nur erhalten, weil sie eine Frau ist und ei- Jahres verändernde Photoperiode an, die nen Frauenbonus bekommen hat.“ Lichtdauer pro Tag. Die der Bewunderer: „Obwohl sie Frau In vielen exzellenten Publikationen se- und Mutter ist, hat sie all das leisten kön- zierte sie mit ihrer Arbeitsgruppe das nen. Wie hat sie das nur geschafft?“ zelluläre Netzwerk circadianer Schritt- Wer mit der wissenschaftlichen Arbeit macherneurone und ihrer Lichteingänge von Frau Helfrich-Förster vertraut ist, bei D. melanogaster. In ihren originellen, weiß, dass Sie keinen Frauenbonus kritischen Review-Artikeln stellte Frau Dr. braucht, um Preise oder Stellen zu erhal- Helfrich-Förster die oft widersprüchlichen ten! Publikationen in der circadianen Rhyth- Zu ihrer Person: Wie hat sie das alles musforschung in logisch-schlüssige, oft nur so hervorragend geschafft? neue Zusammenhänge, die von anderen Frau Förster hat an den Universitäten Forschern so nicht immer realisiert wor- Stuttgart und Tübingen studiert und be- den waren. Ihre vielzitierten Reviewartikel gann bereits in Ihrer Diplomarbeit und steuern so entscheidend zum Verständnis Doktorarbeit in den 80iger Jahren in der grundlegender chronobiologischer Fra- Chronobiologie zu arbeiten, zuerst an gestellungen bei. Mit sicherem wissen- Pflanzen, dann an Insekten. Während ih- schaftlichem Instinkt konzentriert sich res Studiums und ihrer wissenschaftlichen Frau Helfrich-Förster immer auf die we- Arbeiten in Tübingen wurde Sie beson- sentlichen, wichtigen Fragestellungen; ders geprägt von ihren Mentoren Prof. Dr. wie z.B. die Verhaltens-Analyse unter na- Wolfgang Engelmann und Prof. Dr. Erwin türlichen Umwelt-Bedingungen. Dabei Bünning, einem der großen Entdecker sind es aus ihrer Sicht nicht ihre beson- der inneren Uhren von Organismen und ders hochrangig-publizierten Arbeiten, dem Mitbegründer der Chronobiologie. die ihre wichtigsten Erkenntnisse lieferten Frau Helfrich-Förster hatte das Glück, alle und die sie am spannendsten findet. drei großen Begründer der Chronobiolo-

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gie persönlich kennenzulernen: Erwin Bünning, Jürgen Aschoff und Colin Pitten- drigh! Von ihren bahnbrechenden Origi- nalveröffentlichungen und in erster Linie persönlich von Bünnings Schüler Wolf- gang Engelmann erlernte Frau Förster die Grundzüge wissenschaftlichen Den- kens. Sie wurde aus erster Hand vertraut mit den Denkmodellen der Chronobiolo- gie. Aber, was am wichtigsten ist: Sie kann und tut das, was allen großen Den- kern zu eigen ist: Sie hinterfragt allge- mein anerkannte Erkenntnisse, auch wis- Abb. 2: Die Preisträgerin im Gespräch mit dem Ehrenmitglied Prof. Dr. Rüdiger Wehner senschaftliche Dogmen. Sie benutzt in Foto Dr. Sabine Gießler erster Linie ihren eigenen Verstand, sie hat eigene, originelle Ideen und entwik- tionstoleranz und einem untrüglichen In- kelt eigene Denkmodelle. Sie läuft nicht stinkt für die wesentlichen wissenschaft- einfach mit der Masse auf den ausgetre- lichen Fragestellungen gelang es ihr, al- tenen Pfaden der Wissenschaft… len Widrigkeiten zum Trotz, wieder in der Nach der Geburt ihrer zwei Kinder Wissenschaft Fuß zu fassen. Dies gelang (1985 und 1987) unterbrach Frau Förster mit verschiedenen Stipendien wie dem für mehrere Jahre ihre wissenschaftliche Wiedereinstiegsstipendium aus dem Arbeit (1987-93). Sie hatte keine bezahlte Hochschulsonderprogramm II, einem Stelle, kein Einkommen und widmete sich Forschungsstipendium und dem Margare- vor allem putzend, kochend, pflegend ih- te-von-Wrangell-Habilitationsstipendium rer Familie. Getragen von einer nie-verlö- des Landes Baden-Württemberg. Im De- schenden Leidenschaft für die Chrono- zember 2000 erfolgte ihre Habilitation für biologie und einem überdurchschnitt- das Fach Zoologie an der Universität Tü- lichen, durch Hausarbeit unbefriedigten bingen. Frau Förster nahm die örtliche Intellekt konnte sie sich mit der Mutterrol- Trennung von ihrem Mann und ihren Kin- le allein nicht zufrieden geben. Mit uner- dern, die in Tübingen blieben, auf sich schütterlicher Willensstärke und eiserner und trat eine Vertretungsprofessur in Re- Selbstdisziplin arbeitete sie auch wäh- gensburg an, auf der sie schließlich dau- rend der Elternzeit halbtags unentgeltlich erhaft eingestellt wurde (2001-2009). im Institut und brachte so manches ange- Seit 2009 führt Frau Dr. Helfrich-För- fangene Experiment mit nach Hause, um ster den renommierten Lehrstuhl für Neu- es nach dem Versorgen der Familie im robiologie und Genetik der Universität Keller ihres Hauses fertigzustellen. Mit Würzburg. Bereits 2012 gelang ihr als ungebrochener Liebe für die Wissen- Hauptinitiatorin und Leiterin die Einrich- schaft, fokussierter, geduldiger Zielstre- tung eines SFBs zur Chronobiologie in bigkeit, hoher Belastbarkeit und Frustra- Würzburg. Durch ihn wird nicht nur die

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Chronobiologie in Deutschland wieder zentin, vor allem wegen ihres breiten und sichtbarer, es entsteht auch mit ihm wie- tiefen Wissens. Aber auch ihre Empathie, der ein neuer Schwerpunkt Insektenneu- ihre Menschenliebe und ihre eigene Be- robiologie-Neuroethologie in Würzburg. geisterung und Freude an der Wissen- Bei allen wissenschaftlichen Leistun- schaft machen sie zu einer exzellenten gen und ihrer beeindruckenden Produkti- Lehrerin, die auch Studenten begeistern vität bleibt Frau Förster immer beschei- kann. den und freundlich. Sie ist eine sehr ge- Zusammenfassend ist zu sagen: Frau fragte, sehr integere und sachliche Gut- Prof. Dr. Helfrich Förster beeindruckt achterin. Sie hat ihren Mitarbeitern und nicht nur durch ihre exzellente Forschung Kollegen gegenüber einen kollegialen, sondern auch durch ihre integere, groß- leisen Führungsstil und erreicht ohne ag- zügige Persönlichkeit. Sie erhält heute für gressives Dominanzgebaren die ihr wich- Ihre besonderen Leistungen die Karl-Rit- tigen Ziele. Sie ist eine inspirierende Do- ter-von-Frisch Medaille.

Prof. Dr. Monika Stengl Universität Kassel, Institut für Biologie Heinrich-Plett-Straße 40 34132 Kassel [email protected]

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Von neurogenetischen Studien an Drosophila zu einem generellen Konzept Innerer Uhren

Charlotte Helfrich-Förster

Es ist eine sehr große Ehre, die Karl-Rit- biologischer Prozesse. Neben dem bei ter-von-Frisch Medaille verliehen zu be- Bienen gut erforschten Zeitsinn verleihen kommen. Für mich gilt dies in ganz be- Innere Uhren ihren Besitzern auch die sonderer Weise, da Karl von Frisch u.a. Möglichkeit, die Tageslänge zu messen am Zeitsinn der Honigbiene und damit in- und sich so rechtzeitig auf den kommen- direkt an Inneren Uhren, die mich seit den Winter vorzubereiten. Damit werden mehr als 30 Jahren faszinieren, gearbeitet sie überlebenswichtig. Geraten Innere hat. Während seiner Studien zur Tanzspra- Uhren beim Menschen aus dem Takt, führt che und Orientierung von Bienen fand er, dies zu Krankheiten, die von Schlafstörun- dass die Tiere ihre Innere Uhr zur zeit- gen, Depressionen, dem metabolischen kompensierten Sonnenkompassorientie- Syndrom bis hin zu Krebs reichen. Allen rung nutzen (von Frisch, 1965). Inneren Uhren ist gemeinsam, dass sie Mein Interesse an Inneren Uhren wurde auch in Abwesenheit der physikalischen während des Grundstudiums der Biologie Rhythmen – auch als externe Zeitgeber in Tübingen geweckt, nachdem ich ein Se- bezeichnet – weiterlaufen (freilaufen), und minar von Hans Erkert über Innere Uhren zwar mit einer ihnen eigenen Geschwin- bei Säugetieren und eine Vorlesung von digkeit, die in der Regel ein wenig vom Wolfgang Engelmann über Pflanzenuhren externen Rhythmus abweicht. Am besten besucht hatte. Von da an war ich Dauerhö- untersucht sind die Tagesuhren. Sie laufen rerin bei Wolfgang Engelmann, der jedes mit einem endogenen Takt (= Perioden- Semester Vorlesungen über Innere Uhren länge) von ungefähr 24 Stunden und wer- mit wechselnden Inhalten anbot. Letztend- den deshalb auch als circadiane Uhren lich arbeitete ich während meiner Diplom- bezeichnet (aus dem lateinischen „circa“ und Doktorarbeit in seinem Labor an der und „dies“ (Tag)). Hier schreibe ich nur Inneren Uhr von Fliegen. Bis heute bin ich über circadiane Uhren. diesem Thema treu geblieben. Was ist so Als ich meine Diplomarbeit 1981 be- interessant an Fliegen-Uhren, dass man gann, wurden Innere Uhren noch weitge- sich mehr als 30 Jahre dafür begeistern hend als „Black Box“ dargestellt, und man kann? Darüber möchte ich in diesem Arti- versuchte durch verschiedenste Manipu- kel kurz berichten. Ein ausführlicherer lation etwas über ihre Funktionsweise Übersichtsartikel mit umfassendem Litera- herauszubekommen. Es war bekannt, turverzeichnis findet sich in Helfrich-För- dass Tiere ein übergeordnetes circadia- ster (2014). nes Schrittmacherzentrum im Gehirn be- Generell kontrollieren Innere Uhren sitzen. Weiterhin stand seit Bünnings Kreu- den Zeitablauf vieler wiederkehrender zungsversuchen an Bohnen fest, dass die

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Geschwindigkeit, mit der Innere Uhren (solKS68) Mutanten zu testen, da diesen laufen, genetisch determiniert ist (Bün- andere Neurone in den optischen Loben ning, 1935). 1971 war es schließlich Kon- fehlten als den so1 Mutanten. Seinen opka und Benzer gelungen, bei Drosophi- Untersuchungen zufolge gab es nur einen la die ersten Uhr-Mutanten zu isolieren, Typ von Neuronen, der beiden Mutanten die kurzperiodischen periodshort (pers), gemeinsam war, und dies waren große die langperiodischen periodlong (perl) Medulla-Tangential Neurone. Doch auch und die arrhythmischen periodnull (per0) die Mehrheit der solKS68 Mutanten erwies Mutanten. Wie das period Gen wirkt und sich als rhythmisch. Wir schlossen daraus, wo es im Gehirn exprimiert wird, war je- dass die Innere Uhr der Taufliege entwe- doch noch völlig unklar. Da Drosophila der nicht in den optischen Loben liegt, bestens dafür geeignet schien, die neuro- oder dass die großen Medulla-Tangential nalen und molekularen Grundlagen Inne- Neurone eine wichtige Rolle spielen rer Uhren zu erforschen, stellte ich mir in (Helfrich und Engelmann, 1983). meiner Diplomarbeit die Aufgabe, die La- Ich gab nicht auf und untersuchte in ge der Inneren Uhr im Gehirn mit Hilfe meiner Doktorarbeit weitere strukturelle von Gehirnstrukturmutanten aufzuklären. Mutanten mit Defiziten in den optischen In einer Doktorarbeit war gezeigt wor- Loben, u.a. auch die Doppelmutante den, dass manche augenlose Drosophila- solKS68;so1. Wie vorhergesagt besaß die- Mutanten (sine oculis1 (so1)) mit kleinen se Mutante nur noch die großen Medulla- optischen Loben arrhythmisch waren, al- Tangential Neurone und hatte infolgedes- so ihre Innere Uhr verloren zu haben sen winzige Reste der optischen Loben schienen, während andere einen norma- (~5% der wildtypischen Größe; Abb. 1B). len Rhythmus hatten. Um herauszufinden, Zu meiner Überraschung wiesen ob die Arrhythmie mit dem Fehlen einer solKS68;so1 Doppelmutanten ein völlig an- bestimmten Region in den optischen Lo- deres Aktivitätsmuster auf als alle zuvor ben einherging, registrierte ich die rhyth- untersuchten Mutanten: Sobald sie in mische Aktivität hunderter von so1 Mu- Dauerdunkelbedingungen entlassen wur- tanten und untersuchte ihre Gehirne an- den, zeigten sie zwei simultan freilaufen- schließend histologisch (Abb. 1). Zu mei- de Aktivitätskomponenten, eine mit lan- ner großen Enttäuschung fand ich, dass ger und eine mit kurzer Periodenlänge die optischen Loben bei allen augenlosen (Abb. 1C). so1 Mutanten gleich groß waren und dass Ich schloss hieraus, dass die Aktivitäts- die große Mehrheit der Tiere unter Dau- rhythmik von mindestens zwei circadia- erdunkel rhythmisch war. Lediglich ihre nen Oszillatoren kontrolliert wird und endogene Periodenlänge war länger als dass die optischen Loben möglicher- die von Wildtyp-Fliegen (Abb. 1C). Karl- weise dazu dienen, diese Oszillatoren Friedrich Fischbach untersuchte zu die- miteinander zu koppeln (Helfrich, 1986). ser Zeit die Entwicklung der optischen Die großen Medulla-Tangential Neurone Loben anhand verschiedener Mutanten waren gute Kandidaten für eine solche und schlug mir vor, auch small optic lobes Rolle, da anzunehmen war, dass ihre Pro-

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Abb. 1: Lokalisierung der Inneren Uhr mit Hilfe von augenlosen Mutanten. A: Köpfe vom Wildtyp und einer augenlosen Fliege. B: Herauspräparierte Gehirne vom Wildtyp (oben), von einer sine oculis 1 (so1) Mutante und von einer small optic lobesKS68;sine oculis 1 (solKS68;so1) Doppelmu- tante. Der optische Lobus der so1 Mutante hat ~40% der Größe des wildtypischen optischen Lobus, bei der Doppelmutante hat er nur noch ~5% der wildtypischen Größe und ist praktisch unsichtbar. C: Aktogramme von typischen individuellen Fliegen, die die Aktivitätsrhythmik im 12:12 Licht-Dunkel-Wechsel (LD) und unter konstanter Dunkelheit (DD) zeigen. Im LD zeigen al- le drei Fliegen ein bimodales Aktivitätsmuster mit Aktivitätsgipfeln am Morgen und Abend, wo- bei Morgen und Abendaktivität von der solKS68;so1 Doppelmutante deutlich weiter auseinander liegen. Im DD ist die endogene Periodenlänge der so1 Mutante signifikant länger als die der Wildtyp-Fliege, während die solKS68;so1 Doppelmutante zwei freilaufende Aktivitätskomponen- ten aufweist, eine mit kurzer und eine mit langer Periodenlänge. D: Ein Antikörper gegen das Neuropeptid „Pigment-Dispersing Factor“ (PDF) färbt 8 Neurone pro Gehirnhemisphäre, die beide in der akzessorischen Medulla (aMe) verzweigen. Vier der Neurone haben große Zell- körper (l-LNv) und sind Medulla-Tangential Neurone; sie bilden ein tangentiales Netzwerk in der distalen Medulla und verbinden die aMe beider Gehirnhemisphären. Die vier anderen Neurone haben kleine Zellkörper (s-LNv) und projizieren ins dorsale Zentralgehirn. Bei der so1 Mutante ist das Netzwerk der großen PDF Neurone (l-LNv) dichter als beim Wildtyp, bei der solKS68;so1 Doppelmutante folgen die großen PDF-Neurone den Projektionen der kleinen ins dorsale Zentralgehirn (Helfrich-Förster, 2014).

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jektionen infolge der Winzigkeit der opti- Netzwerk in der Medulla zu bilden schen Loben bei solKS68;so1 Doppelmu- (Abb.1D). Zusätzlich zu den vier großen tanten verändert sind; aber damals hatte PDF-Neuronen färbte der Antikörper ich keine Möglichkeit, diese Neurone hi- noch vier Neuronen mit kleineren Zellkör- stologisch zu markieren. Während meiner pern, die ins Zentralgehirn projizierten, Mutterschaft, entdeckten Dushay et al. und die ich ab jetzt kleine PDF-Neurone (1989) die erste arrhythmische optische- nennen möchte (Abb. 1D). Auch diese Loben-Mutante. Diese Mutante wurde dis- vier kleinen PDF-Neurone fehlten in connected (disco1) genannt, da bei ihr die disco1 Mutanten. Aber waren die großen Augen während der frühen Entwick- und kleinen PDF-Neurone deshalb Uhr- lung keinen Kontakt zum Gehirn herstel- Neurone? Streng genommen nicht. Es len können und als Konsequenz praktisch fehlte noch der Nachweis, dass sie auch alle Neuronen der optischen Loben ster- das period Gen und das zugehörige Peri- ben. Die Arrhythmie von disco1 Mutanten od Protein (PER) exprimieren. Inzwischen zeigte, dass die optischen Loben mit gro- gab es einen Antikörper gegen PER so- ßer Sicherheit doch das circadiane wie transgene Fliegen, die die ß-Galakto- Schrittmacherzentrum beherbergen und sidase als Reporter für PER exprimierten. dass die großen Medulla-Tangential Neu- Doppelmarkierungen zeigten, dass die rone hierin ein wichtige Rolle spielen PDF Neurone tatsächlich eine Untergrup- könnten. pe der PER-exprimierenden Uhr-Neurone Der nächste logische Schritt war, ei- darstellen (Helfrich-Förster, 1995). Sie ge- nen Antikörper zu finden, der die großen hören zu den sogenannten Lateralen Uhr- Medulla-Tangential Neurone markiert, um Neuronen (LN), die alle ein kleines Neu- mehr über ihre Anatomie und Funktion zu ropil an der Basis der Medulla, die akzes - erfahren. Dies konnte ich in Zusammen- sorische Medulla (aMe) innervieren arbeit mit Uwe Homberg verwirklichen. (Abb. 2; Helfrich-Förster, 1997; Kaneko et Ein Antikörper gegen das Neuropeptid al., 1997). Die aMe hatte sich inzwischen „Pigment-Dispersing Factor“ (PDF) färbte als das circadiane Schrittmacherzentrum tatsächlich vier große Medulla-Tangential von vielen Insekten herausgestellt (zu- Neurone pro Gehirnhemisphäre im Ge- sammengefasst in Helfrich- Förster et al., hirn der Fliege, die ich im Folgenden als 1998), und sie weist erstaunliche anatomi- große PDF-Neuronen bezeichnen werde sche und funktionelle Parallelitäten zum (Abb. 1D; Helfrich-Förster und Homberg, Schrittmacherzentrum der Säugetiere auf 1993). Passend zu den vorhergehenden (Helfrich-Förster, 2004). Ergebnissen waren die Projektionen die- Die Morphologie von Drosophilas Uhr- ser Neurone in solKS68;so1 Doppelmu- Neuronen haben meine Mitarbeiter und tanten stark verändert, und die Neurone ich inzwischen genauer analysiert und fehlten völlig in disco1 Mutanten. Bei mehrfach beschrieben (z.B. Helfrich-För- solKS68;so1 Doppelmutanten projizierten ster et al., 2007), weshalb ich an dieser die großen Medulla-Tangential Neuronen Stelle nicht weiter darauf eingehen möch- ins Zentralgehirn anstatt ein tangentiales te. Viel interessanter ist die Frage, warum

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Abb. 2: Das Netzwerk der Uhrneuronen im Gehirn der Taufliege. Die Uhrneuronen werden konventionell in Laterale Neurone (s-LNv, fünfte s-LNv, LNd, LPN) und Dorsale Neurone (DN1, DN2, DN3) eingeteilt. Die meisten Uhrneurone projizieren in die akzessorische Medulla (aMe) und ins dorsale Gehirn. Die großen und kleinen PDF-Neurone (l-LNv und s-LNv) sind auf dem Umschlagbild in hellblauen Farbtönen dargestellt. Die großen PDF-Neurone bekommen mögli- cherweise über das tangentiale Netzwerk in der distalen Medulla direkte oder indirekte Licht- eingänge vom Komplexauge (hier sind exemplarisch zwei Photorezeptorzellen, R8 und R1-6 dargestellt). Außerdem wird die akzessorische Medulla vom extraretinalen Hofbauer-Buchner Äuglein (H-B Äuglein) innerviert (Helfrich-Förster et al., 2007).

Mutanten mit vielen abnormalen Verzwei- steuert werden. Diese zwei Oszillatoren gungen der großen PDF-Neuronen im reagieren unterschiedlich auf Licht. Wäh- Zentralgehirn zwei simultan freilaufende rend die Morgenoszillatoren durch Licht rhythmische Aktivitätskomponenten auf- beschleunigt werden, werden die Abend- weisen. Ist dies eine Besonderheit der oszillatoren durch Licht verlangsamt. Mutanten, oder hat es eine generelle Be- Bringt man die Tiere nun in Dauerlicht - deutung? Tatsächlich war ein solches Ver- eine sehr unnatürliche Bedingung für halten schon lange als „Interne Desyn- nachtaktive Nager - läuft der Morgenos- chronisation“ bekannt und wurde bei ver - zillator mit kurzer Periodenlänge und der schiedenen Tieren beobachtet, insbeson- Abendoszillator mit langer Periodenlän- dere aber bei nachtaktiven Nagern, die ge, und es kommt zu der beschriebenen im Dauerlicht gehalten wurden (Pitten- internen Desynchronisation. Interessan- drigh, 1974). 1976 postulierten Pitten- terweise scheint das Zwei-Oszillatoren drigh und Daan das Zwei-Oszillatoren Modell nicht auf nachtaktive Nager be- Modell, in dem sie davon ausgehen, dass schränkt zu sein, sondern allgemeine Morgen- und Abendaktivität der Tiere von Gültigkeit zu besitzen. Viele Tiere haben zwei unterschiedlichen Oszillatoren ge- zwei Hauptaktivitätsgipfel, einen am Mor-

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gen und einen am Abend (Aschoff, 1966). Auch die Taufliege hat zwei Aktivitäts- Konsistent mit dem Zwei-Oszillatoren Mo- maxima, die jeweils an den Morgen und dell wird der Morgenoszillator durch die Abend gekoppelt sind und deren Phasen- lange Photoperiode im Sommer be- beziehung sich deshalb an langen Som- schleunigt und der Abendoszillator ver- mertagen ändert (Rieger et al., 2003; langsamt. Auf diese Weise schiebt sich 2012). Diese zwei Aktivitätsmaxima schei- die Morgenaktivität im Sommer in den nen auch von zwei unterschiedlichen Os- frühen Morgen und die Abendaktivität in zillatoren gesteuert zu werden, da sie in den späten Abend, und tagaktive Tiere seltenen Fällen unter Dauerdunkelbedin- vermeiden es, während der Mittagshitze gungen außer Phase geraten (Helfrich- aktiv zu sein (Abb.3). Damit erklärt das Förster, 2000). Aber wie sieht es unter Zwei-Oszillatoren Modell die jahreszeitli- Dauerlichtbedingungen aus? Hier weist che Anpassung der Aktivität. Es kann die Fliege eine Besonderheit auf, die bei aber auch den Mechanismus der Tages- Säugetieren und selbst bei vielen ande- längenmessung erklären, denn der zeitli- ren Insekten nicht zu finden ist. Die Fliege che Abstand zwischen Morgen- und besitzt das Blaulicht-empfindliche Foto- Abendaktivität (bzw. zwischen der Pha- pigment Cryptochrom (CRY) in ihren Uhr- senlage von Morgen- und Abendoszilla- Neuronen (Yoshii et al., 2008). Lichtakti- tor) ist ein gutes Maß für die Tageslänge viertes CRY interagiert mit dem (Abb. 3) und kann benutzt werden, um Uhrenprotein Timeless (TIM) und führt zu den kommenden Winter oder Frühling dessen Degradation, was letztendlich vorauszuahnen. Diese Art der Tageslän- zum Stillstand der molekularen Oszillatio- genmessung ist als „Internes Koinzidenz nen in den Uhr-Neuronen führt und die Modell“ in die Literatur eingegangen (Pit- Fliegen unter Dauerlichtbedingungen ar- tendrigh, 1972). rhythmisch macht (Stanewsky et al., 1998; Emery et al, 2000). Deshalb ist es nahezu unmöglich, bei Wildtyp-Fliegen eine interne Desynchronisation zwischen Mor- gen- und Abendoszillatoren durch Dauer- licht hervorzurufen. Lediglich unter ex- trem schwachem Dauerlicht kann man die zwei mit unterschiedlicher Perioden- länge freilaufenden Aktivitätskomponen- ten manchmal sehen (Abb. 4A). Sie sind Abb. 3: Die Morgen und Abendaktivität von aber immer deutlich sichtbar in Mutan- vielen Tieren passt sich an die Tageslänge an. Im Kurztag liegen Morgen- (M) und ten, die kein funktionelles CRY haben Abendaktivität (A) nahe beieinander, während (Abb. 4B), was dafür spricht, dass das sie im Langtag durch eine ausgedehnte Mit- Zwei-Oszillatoren Modell für die Taufliege tagspause getrennt sind (siehe Pfeile). Der genauso gilt wie für den Säuger (Rieger Abstand von M und A kann auch zur Messung der Tageslänge benutzt werden (internes et al., 2006). Parallel zu unserer Dauer- Koinzidenzmodell). lichtstudie gelang es den Arbeitsgruppen

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von Michael Rosbash und Franco- is Rouyer, den Morgen- und Abendoszillatoren eine anatomi- sche Basis zu geben: Stoleru et al. (2004) ablatierten Untergruppen der Uhrneurone durch selektive Expression eines Zelltodgens und Grima et al. (2004) exprimierten PER in Untergruppen der Uhrneu- rone von per0 Mutanten. Beide Gruppen fanden, dass die Mor- genaktivität verschwand, wenn die kleinen PDF-Neurone fehlten oder kein PER exprimierten, während die Abendaktivität verschwand, wenn eine Uhr-Neuronengruppe dorsal von den kleinen PDF-Neu- ronen (die LNd) nicht funktionell war (Abb. 5). Unsere Dauerlicht- versuche zeigten, dass die kleinen PDF-Neuronen (= Morgenoszilla- toren) mit kurzer Periodenlänge freiliefen, während drei der LNd und die sogenannte fünfte s-LNv Zelle (= Abendoszillatoren) mit langer Periodenlänge freiliefen (Abb. 4C; Abb. 4: Im Dauerlicht (LL) desynchronisieren Morgen- und Abendoszillatoren, da Licht den Rieger et al., 2006). Damit stimmten unse- Morgenoszillator beschleunigt und den Aben- re Ergebnisse weitgehend mit denen von doszillator verlangsamt. A: Wildtyp-Fliege im Stoleru et al. (2004) und Grima et al. LL von 0,25 μW/cm2. Höhere Lichtintensitäten (2004) überein und zusammen bestätigen machen die Tiere arrhythmisch. B: Mutante ohne funktionelles Cryptochrom (cryb Mu- die Versuche das Zwei-Oszillatoren Mo- tante) im Dauerlicht von 500 μW/cm2. Die dell von Pittendrigh und Daan (1976). Fliege zeigt interne Desynchronisation in zwei Aber was hat das Ganze mit der inter- freilaufende Aktivitätskomponenten. C: Im- nen Desynchronisation der augenlosen munfärbungen von vielen cryb Mutanten zu den in B mit roten und blauen Quadraten an- solKS68;so1 Doppelmutanten zu tun? Lau- gegebenen Zeitpunkten zeigten, dass die s- fen bei diesen Tieren ebenso die Morgen- LNv und vier dorsale Neuronen (rot) die kurz- oszillatoren (kleinen PDF-Neurone) mit periodische Komponente kontrollieren, kurzer Periode frei, während die Abend- während die fünfte s-LNv und drei LNd (blau) oszillatoren (3 LN und die fünfte s-LN ) die langperiodische Komponente kontrollie- d v ren. Mögliche Lichteingänge über die Kom- mit langer Periode freilaufen? Ja, wir fan- plexaugen und die l-LNv sind als gelbe Pfeile den, dass genau dies der Fall war (Yoshii angedeutet (Helfrich-Förster, 2014).

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intensitäten zu beobachten ist (Rieger et al., 2003; Rieger et al., 2006). PDF von den großen PDF Neuronen könnte also die Lichtwirkung vermitteln. Interessanter- weise ist PDF der großen PDF-Neuronen amidiert und deshalb besonders aktiv, während das der kleinen nicht amidiert ist (Park et al., 2008). Verschiedene Studien bestätigen die Rolle der großen PDF-Neurone im Licht- eingang der Inneren Uhr: Die großen PDF-Neurone bekommen Input von den Fotorezeptorzellen der Komplexaugen, sowie von extraretinalen Fotorezeptorzel- Abb. 5 Morgen- und Abendneurone nach len, den Hofbauer-Buchner Äuglein (Abb. Grima et al. (2004) und Stoleru et al. (2004). 2; Helfrich-Förster et al., 2002; 2007). Bei genetischer Ablation der s-LNv ver- Außerdem sind sie selbst lichtsensitiv schwand die Morgenaktivität der Fliegen, und erhöhen ihre elektrische Aktivität bei während die Abendaktivität verschwand, Lichteinfall, sogar wenn sie von den Au- wenn die LNd außer Funktion gesetzt wurden. Die Rolle der fünften s-LNv als Abendoszilla- gen abgekoppelt sind (Fogle et al., 2011). tor wurde von den Autoren nicht erkannt Die großen PDF-Neurone werden auch (Helfrich-Förster, 2014). als „Arousal“-Neurone bezeichnet, da sie für eine schnelle durch Licht vermittelte et al., 2009). Betrachtet man das Aktivitäts- Aktivierung der Fliegen verantwortlich muster der in Abbildung 1 abgebildeten sind (Shang et al., 2008; Sheeba et al., solKS68;so1 Doppelmutante genauer, so 2008). Übererregt man die großen PDF- sieht man, dass Morgen- und Abendakti- Neurone elektrisch, so schlafen die Tiere vität dieses Tieres bereits im Licht-Dun- nachts weniger (Parisky et al., 2008). Ei- kel-Wechsel weiter auseinander liegen nen ähnlichen Effekt bekommt man, wenn als bei der gezeigten Wildtypfliege. Dies man die Tiere nachts schwachem Licht ist typisch für alle Mutanten dieses Geno- aussetzt (Bachleitner et al. 2007). typs und korreliert mit der Anzahl von All dies spricht dafür, dass PDF der PDF-Verzweigungen im Zentralgehirn großen PDF-Neuronen ein wichtiger (Wülbeck et al., 2008). Es sieht also so Licht-vermittelnder Faktor für die anderen aus, als ob PDF ganz ähnlich wie Licht die Uhrneuronen ist. Offensichtlich kann PDF Morgenoszillatoren beschleunigt und die die Geschwindigkeit der Morgenoszilla- Abendoszillatoren verlangsamt. Damit lie- toren erhöhen und die der Abendoszilla- gen Morgen- und Abendaktivität bereits toren erniedrigen. Damit sollte PDF wich- in einem Licht-Dunkel Wechsel von 12:12 tig für die Anpassung der Fliegen an Stunden weit auseinander, so wie es beim lange Sommertage sein. Tatsächlich sind Wildtyp im Langtag oder bei hohen Licht- Pdf0 Mutanten nicht mehr in der Lage ihre

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Abendaktivität mit zunehmender Tages- möglich. Schwieriger zu beantworten ist länge an den Abend zu koppeln (Yoshii et die Frage, wie in den Morgenneuronen al., 2009). Das gleiche gilt für augenlose die molekularen Oszillationen beschleu- Mutanten (Rieger et al., 2003). nigt werden und in den Abendneuronen Nach allem bisher gesagten aktiviert verlangsamt werden. Duvall und Taghert Licht die großen PDF Neuronen und sti- (2012, 2013) fanden einen ersten Hinweis: muliert auf diese Weise die PDF Sekre- Morgen- und Abendneurone benutzen tion. PDF wirkt dann auf die Morgen- und verschiedene Adenylatzyklasen. Die un- Abendoszillatoren und verändert deren terschiedliche postsynaptische Wirkung Geschwindigkeit. Noch nicht ganz geklärt von PDF könnte also auf unterschiedliche ist, wie PDF das macht. Wie die Gruppe Signalkomponenten in Morgen- und von Paul Taghert zeigen konnte wirkt PDF Abendneuronen zurückzuführen sein. über G-Protein-gekoppelte Rezeptoren Auch wenn bis jetzt nicht völlig geklärt und erhöht den cAMP-Spiegel in den ist, wie das Neuropeptid PDF Morgen- postsynaptischen Neuronen (Shafer et al., und Abendoszillatoren im Gehirn der 2008). Die gleiche Arbeitsgruppe konnte Fliege beeinflusst, so haben unsere neu- auch zeigen, dass sich PDF-Rezeptoren rogenetischen Untersuchungen gezeigt, auf den vier Morgenoszillatorzellen (klei- dass das für nachtaktive Nager aufgestell- ne PDF-Neurone) und den vier Abendos- te Zwei-Oszillatoren Modell auch für die zillatorzellen (fünfte s-LNv und drei LNd) Fliege gilt und damit eine breite Basis hat. befinden und deshalb eine Beeinflussung Selbst Einzeller wie der Dinoflagellat beider Oszillatoren durch PDF möglich ist Gonyaulax polyedra besitzen zwei Uhren (Im und Taghert, 2010). Aber wie erreicht (diesmal in ein und derselben Zelle), die das PDF-Signal die molekulare Uhr und unterschiedlich auf Licht reagieren (Roen- wie kann der erhöhte cAMP-Spiegel in neberg und Morse, 1993). Zwei Oszillato- manchen Zellen die Uhr beschleunigen ren mit verschiedenen Eigenschaften und in anderen verlangsamen? Bei der scheinen also ein generelles Konzept von Beantwortung der ersten Frage können circadianen Systemen darzustellen. Befunde bei Säugern helfen. Hier aktiviert Mehrzeller haben die Möglichkeit die cAMP die Proteinkinase A. Deren regula- beiden Uhren auf verschiedene Zellen zu torische Untereinheit wandert in den Zell- verteilen, was natürlich nicht ausschließt, kern und phosphoryliert dort CREB, das dass sie zusätzlich zwei Uhren in jeder dann an CRE Sequenzen „upstream“ vom Zelle haben. Noch sind nicht alle Feinhei- period Gen bindet und dessen Transkrip- ten des Zwei-Oszillatoren Modells ge- tion aktiviert (Tischkau et al., 2003). Da klärt. Es gibt viele Hinweise, dass es we- auch die upstream Region des Drosophila sentlich komplizierter ist als hier period Gens CRE-artige Sequenzen be- dargestellt (siehe Helfrich-Förster, 2009; sitzt und Mutationen im dCREB2 Gen die Yoshii et al., 2012). Geschwindigkeit der freilaufenden Uhr Letztendlich bleiben faszinierende Pa- verändern (Belvin et al., 1999), ist ein rallelitäten zwischen dem circadianen ähnlicher Mechanismus bei der Taufliege Schrittmacherzentrum der Fliege und

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dem des Säugers. So hat man Morgen- Aschoff J (1966) Circadian activity pattern with und Abendneurone inzwischen auch im two peaks. Ecology 47: 657-662. Bachleitner W, Kempinger L, Wülbeck C, Schrittmacherzentrum des Säugers iden- Rieger D, Helfrich-Förster C (2007) Moon- tifiziert (Inagaki et al., 2007), und das light shifts the endogenous clock of Neuropeptid PDF hat im „Vasoactive Inte- Drosophila melanogaster. Proc Natl Acad stinal Polypeptid“ VIP ein funktionelles Sci U S A 104: 3538-3543. Analog gefunden (zusammengefasst in Belvin MP, Zhou H, Yin JC (1999) The Drosophila dCREB2 gene affects the circa- An et al., 2013). Die Rezeptoren für PDF dian clock. Neuron 22: 777-787. und VIP sind sogar miteinander homolog Bünning E (1935) Zur Kenntnis der erblichen und ihre Aktivierung führt in beiden Fäl- Tagesperiodizität bei den Primärblättern len zu einem Anstieg von cAMP im post- von Phaseolus multiflorus. In: Jahrbuch für Wissenschaftliche Botanik. Band 81, S. synaptischen Neuron. Damit bleibt die 411ff. Forschung an der Inneren Uhr der Fliege Dushay MS, Rosbash M, Hall JC (1989) The auch für den Menschen spannend. disconnected visual system mutations in Die Autorin dankt ihren Mitarbeitern Drosophila melanogaster drastically dis- und Kollegen für die fruchtbare Zusam- rupt circadian rhythms. J Biol Rhythms 4: 1-27. menarbeit. Ein besonderer Dank gilt mei- Duvall LB, Taghert PH (2012) The circadian nem Doktorvater Wolfgang Engelmann neuropeptide PDF signals preferentially für seine bis heute währende freund- through a specific adenylate cyclase iso- schaftliche Begleitung und seine mitrei- form AC3 in M pacemakers of Drosophila. PLoS Biol 10: e1001337. ßende Begeisterung für das Fach Chro- Duvall LB, Taghert PH (2013) E and M circadi- nobiologie. Meiner Familie danke ich für an pacemaker neurons use different PDF die liebevolle Förderung bzw. das gedul- receptor signalosome components in dige Mittragen meiner Forschungsakti- Drosophila. J Biol Rhythms 28: 239-248. Emery P, Stanewsky R, Hall JC, Rosbash M vitäten. Der Deutschen Forschungsge- (2000) A unique circadian-rhythm pho- meinschaft danke ich für die langjährige toreceptor. Nature 404: 456-457. Förderung meiner Forschung, ebenso wie Fogle KJ, Parson KG, Dahm NA, Holmes TC der Europäischen Gemeinschaft und dem (2011) CRYPTOCHROME is a blue-light Land Baden-Württemberg. Mein herz- sensor that regulates neuronal firing rate. Science: 331, 1409-1413. licher Dank gilt auch der DZG für die Ver- Grima B, Chelot E, Xia R, Rouyer F (2004) leihung des Preises und insbesondere Morning and evening peaks of activity re- Monika Stengl für ihre Laudatio. ly on different clock neurons of the Drosophila brain. Nature 431: 869-873. Helfrich C (1986) Role of the optic lobes in the regulation of the locomotor activity rhythm Literatur: of Drosophila melanogaster: behavioral analysis of neural mutants. J Neurogenet 3: An S, Harang R, Meeker K, Granados-Fuentes 321-343. D, Tsai CA, Mazuski C, Kim J, Doyle FJ, 3rd, Helfrich C, Engelmann W (1983) Circadian Petzold LR, Herzog ED (2013) A neu- rhythm of the locomotor activity in ropeptide speeds circadian entrainment Drosophila melanogaster and its mutants by reducing intercellular synchrony. Proc "sine oculis" and "small optic lobes". Physi- Natl Acad Sci U S A 110: E4355-4361. ol Entomol 8: 257-272.

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Helfrich-Förster C (1995) The period clock Im SH, Taghert PH (2010) PDF receptor ex- gene is expressed in central nervous sys- pression reveals direct interactions be- tem neurons which also produce a neu- tween circadian oscillators in Drosophila. J ropeptide that reveals the projections of Comp Neurol 518, 1925-1945. circadian pacemaker cells within the brain Inagaki N, Honma S, Ono D, Tanahashi Y, Hon- of Drosophila melanogaster. Proc Natl ma K (2007) Separate oscillating cell Acad Sci U S A 92: 612-616. groups in mouse suprachismatic nucleus Helfrich-Förster C (1997). Development of couple photoperiodically to the onset and pigment-dispersing hormone-immunore- end of daily activity. Proc Natl Acad Sci active neurons in the nervous system of 104: 7664-7669. Drosophila melanogaster. J Comp Neurol Kaneko M, Helfrich-Förster C, Hall JC (1997) 380: 335-354. Spatial and temporal expression of the pe- Helfrich-Förster C (2000) Differential control of riod and timeless genes in the developing morning and evening components in the nervous system of Drosophila: newly activity rhythm of Drosophila identified pacemaker candidates and nov- melanogaster--sex-specific differences el features of clock gene product cycling. J suggest a different quality of activity. J Biol Neurosci 17: 6745-6760. Rhythms 15: 135-154. Konopka RJ, Benzer S (1971) Clock mutants of Helfrich-Förster C (2004) The circadian clock Drosophila melanogaster. Proc Natl Acad in the brain: a structural and functional Sci U S A 68: 2112-2116. Parisky KM, Agosto J, Pulver SR, Shang Y, Kuk- comparison between mammals and in- lin E, Hodge JJ, Kang K, Liu X, Garrity PA., sects. J Comp Physiol A 190, 601-630. Rosbash M, Griffith LC (2008) PDF cells Helfrich-Förster C (2009) Does the morning are a GABA-responsive wake-promoting and evening oscillator model fit better for component of the Drosophila sleep circuit. flies or mice? J Biol Rhythms 24: 259-270. Neuron 60: 672-682. Helfrich-Förster C (2014) From neurogenetic Park D, Shafer OT, Shepherd SP, Suh H, Trigg studies in the fly brain to a concept in circa- JS, Taghert PH (2008) The Drosophila ba- dian biology. J Neurogenetics 28: 329-347. sic helix-loop-helix protein DIMMED di- Helfrich-Förster C, Edwards T, Yasuyama K, rectly activates PHM, a gene encoding a Wisotzki B, Schneuwly S, Stanewsky R, neuropeptide-amidating enzyme. Mol Cell Meinertzhagen IA, Hofbauer A (2002) The Biol 28: 410-421. extraretinal eyelet of Drosophila: develop- Pittendrigh C (1972) Circadian surfaces and ment, ultrastructure, and putative circadian the diversity of possible roles of circadian function. J Neurosci 22: 9255-9266. organization in photoperiodic induction. Helfrich-Förster C, Homberg U (1993) Pig- Proc Natl Acad Sci USA 69: 2734-2737. ment-dispersing hormone-immunoreac- Pittendrigh C (1974) Circadian oscillations in tive neurons in the nervous system of cells and the circadian organization of wild-type Drosophila melanogaster and of multioscillator systems: In: The neuro- several mutants with altered circadian sciences, third study program (ed. FO rhythmicity. J Comp Neurol 337: 177-190. Schmitt, FG Worden), pp. 437-458. Boston: Helfrich-Förster C, Shafer OT, Wülbeck C, M.I.T. press. Grieshaber E, Rieger D, Taghert P (2007) Pittendrigh C, Daan S (1976) A functional Development and morphology of the analysis of circadian pacemakers in noc- clock-gene-expressing lateral neurons of turnal rodents. V. Pacemaker structure: A Drosophila melanogaster. J Comp Neurol clock for all seasons. J Comp Physiol [A] 500: 47-70. 106: 333-355. Helfrich-Förster C, Stengl M, Homberg U Rieger D, Peschel N, Dusik V, Glotz S, Helfrich- (1998) Organization of the circadian sys- Förster (2012) The ability to entrain to tem in insects. Chronobiol Int 15: 567-594. long photoperiods differs between three

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Prof. Dr. Charlotte Helfrich-Förster Universität Würzburg Biozentrum, Theodor-Boveri-Institut Neurobiologie und Genetik Am Hubland 97074 Würzburg [email protected]

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Zur Historie der Zoologie in Göttingen

Rüdiger Hardeland

Die Zoologie lässt sich in Göttingen bis in der Vorlesungen über Naturgeschichte die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu- hielt. Seine Sammlung war Ausgangs- rückverfolgen. Über die Anfänge bis zur punkt des späteren Zoologischen Mu- Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts seums und spielte somit in der hiesigen ist auf der Jahrestagung der DZG 1966 Zoologie eine entscheidende Rolle. berichtet worden (Birukow & Ax, 1967), Johann Christian Polycarp Erxleben so dass für diese Spanne unnötige Wie- (22.06.1744 – 19.08.1777), etwas jünger derholungen vemieden und die Akzente als Büttner, wurde bereits mit einer zoo- neu gesetzt werden sollen. Im 18. Jahr- logischen Dissertation an der Philosophi- hundert war die Zoologie zunächst noch schen Fakultät promoviert. Er war übri- kein eigenständiges akademisches Fach. gens Sohn von Dorothea Christiane Wohl aber gab es schon Vorlesungen zu Erxleben, der ersten in Deutschland zum diesem Thema, allerdings üblicherweise Doktor der Medizin promovierten Frau. eingebunden in den größeren Rahmen Er wurde 1775 an der Philosophischen der Naturgeschichte. Vertreten wurde die- Fakultät Professor für Physik und Tierheil- ses Gebiet von Professoren der Philoso- kunde, eine uns heute seltsam erschei- phischen oder auch der Medizinischen nende Kombination. Er gilt als Begründer Fakultät. der Veterinärmedizin. Gleichwohl hat er In wissenschaftsgeschichtlicher Hin- auch originär zoologische Werke ver- sicht ist jene Zeit geprägt von Entdek- fasst, von denen ich nur zwei erwähnen kungsreisen, oft auf dem Hintergrund des möchte: "Anfangsgründe der Naturlehre" fortschreitenden Kolonialismus, und so (1772) und "Systema regni animalis" werden Objekte der verschiedensten Art (1777). Also auch unsere Taxonomen aus fremden Ländern gesammelt und wis- können sich auf ihn berufen. senschaftlich eingeordnet. Sammlungen Einen wesentlichen Schub erhielten umfassen damals nicht nur zoologische die zoologische wie auch die anthropolo- Präparate, sondern ebenfalls botanische, gische Wissenschaft sodann durch eine anthropologische, ethnologische, paläon- herausragende Persönlichkeit, die als Be- tologische und mineralogische. Eine sol- gründer dieser beiden Fachgebiete als che vielfältige Naturalienammlung steht wissenschaftliche Disziplinen gelten kann: auch am Anfang der Göttinger Zoologie. Johann Friedrich Blumenbach (11.05.1752 Christian Wilhelm Büttner (27.02.1716 – 22.01.1840; Abb. 1), dessen Andenken – 08.10.1801) legte eine derartige Samm- wir in der Namensgebung unseres Institu- lung an. Er war 1758 ao. Professor, von tes würdigen. 1763 bis 1783 o. Professor an der Philoso- Blumenbach hatte bei Büttner Naturge- phischen Fakultät und hierorts der Erste, schichte gehört. Er wurde mit einer an-

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mit Unterschieden zwischen mensch- lichen Populationen befasste, als Begrün- der der Rassenlehre gesehen, einem Ge- biet, welches in Deutschland später in Abb. 1: Johann Friedrich unverzeihlicher Weise missbraucht wur- Blumenbach de. Aber gerade Blumenbach lehnte ras- (Büste im sistische Ansichten entschieden ab. Vehe- Institut, Berliner ment widersprach er anderen, wie Str. 28). Samuel Thomas von Soemmering und Foto: Bildarchiv Christoph Meiners, die aus äußerlichen Rainer Willmann. und anatomischen Unterschieden eine Unterlegenheit bestimmter Völker ablei- thropologischen Dissertation promoviert. ten zu können glaubten. Nach seiner Ernennung 1776 zunächst Zwei Persönlichkeiten stehen für die zum ao. Professor an der Medizinischen Zeit nach Blumenbach, Arnold Adolf Bert- Fakultät wurde ihm die Leitung der Bütt- hold (26.02.1803 – 03.01.1861) und Ru- nerschen Sammlungen übertragen. Von dolf Wagner (30.06.1805 – 13.05.1864). 1778 bis 1835 wirkte er sodann als o. Pro- Berthold, ab 1836 o. Professor für physio- fessor. Mit ungeheurer Tatkraft und nicht logische Anatomie und Naturgeschichte, zuletzt durch eine, auch internationale, wurde die Leitung der zoologischen wissenschaftliche Vernetzung mit den Sammlung übertragen. Diese war also Größen seiner Zeit gelang es ihm, diese von den Sammlungen der anderen Fach- Sammlungen quantitativ erheblich zu er- gebiete abgetrennt worden, ein weiterer weitern und hohe qualitative Standards zu Schritt zur Eigenständigkeit der Zoologie. erreichen. Sie wurden später Grundstock Außer seinen verschiedene Tiergruppen der Zoologischen und Geologischen Mu- betreffenden Arbeiten führte Berthold da- seen. In der Lehre vertrat er die Gebiete mals bahnbrechende Untersuchungen zur Anatomie, Physiologie und Naturge- Unterdrückung der männlichen Entwick- schichte. lung bei kastrierten Küken durch, Experi- Bezüglich seiner wissenschaftlichen mente, die ihm später den Ruf eines Be- Ansichten sind seine entwicklungsbiologi- gründers der Endokrinologie einbrach- sche and seine anthropologische Position ten. der besonderen Erwähnung wert. Zum Obwohl Berthold als Sammlungsleiter einen war er entschiedener Kritiker von die Arbeit von Blumenbach fortführte, Urzeugung und Präformationslehre und wurde er dennoch nicht zu seinem Nach- stellte sich damit gegen vorherrschende folger berufen. Dies blieb Rudolf Wagner Strömungen seiner Zeit. Wesentliche Ar- vorbehalten, der 1840 eine o. Professur gumente gegen die Präformationslehre für Zoologie, Physiologie und verglei- zog er aus Fehlbildungen in der Entwick- chende Anatomie erhielt. Wenn auch lung von Menschen und auch der von innerhalb der Medizinischen Fakultät, so Hühnern. Zweitens wurde er, der er sich erscheint doch hier erstmals in Göttingen

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der Begriff "Zoologie" in einer Denomina- (07.01.1833 – 25.01.1870) starb bereits tion. etwa zwei Jahre nach seiner Berufung. Nach dem Tod Wagners erfolgte eine Immerhin hatte er den Neubau initiiert, grundlegende strukturelle Änderung: dessen Errichtung er nicht mehr erleben Zoologie und Physiologie, zuvor in der sollte. Carl Claus (02.01.1835 – Medizinischen Fakultät vereint, wurden 18.01.1899) verließ Göttingen bereits im voneinander getrennt. Während die Jahr 1873 in Richtung Wien. Sein Nachfol- Physiologie in der Medizin verblieb, wur- ger wurde Ernst Ehlers (11.11.1835 – de die Zoologie der Philosophischen Fa- 31.12.1925), der dann aber die Göttinger kultät zugeordnet. Nur einen guten Monat Zoologie von 1874 bis nach dem Ersten nach Wagners Tod, am 16. Juni 1864, wur- Weltkrieg (1919) prägen sollte. In seine de ein nunmehr selbstständiges Zoologi- Anfangszeit fiel die Fertigstellung des Ge- sches Institut gegründet. bäudes Berliner Straße 28. Ernst Ehlers Die hernach berufenen Professoren beschäftigte sich insbesondere mit Anne- für Zoologie standen allerdings vor einem liden, vermehrte die zoologische Samm- erheblichen technischen Problem. Die lung auf diesem Gebiet erheblich, so Sammlungen ebenso wie das neue Insti- dass sein Nachfolger im Scherz von ei- tut waren in dem inzwischen baufälligen nem "Wald von Würmern" sprach, den er Gebäude des damaligen "Academischen hinterlassen habe. Ehlers wurde u.a. Her- Museums" untergebracht, welches die ausgeber der "Zeitschrift für wissen- fortwährend steigende Zahl der Objekte schaftliche Zoologie" und war 1894/95 nicht mehr angemessen aufnehmen Präsident der DZG. konnte und zudem einem Erweiterungs- Auf Ehlers folgte dann eine herausra- bau der Universitätsbibliothek weichen gende Phase der Göttinger Zoologie, an sollte. Ein neues, eigenes Gebäude wur- der vor allem sein direkter Nachfolger, de nunmehr unerlässlich. Alfred Kühn (22.04.1885 – 22.11.1968), Es dauerte dann bis zum Jahr 1877, entscheidenden Anteil hatte. Alfred Kühn bis dieses Gebäude errichtet war, mit ei- ist über Jahrzehnte hinweg jedem Zoolo- nem Teil für die zoologischen, einem an- gen bekannt gewesen, nicht nur wegen deren für die geologischen Sammlungen. des von ihm begründeten Lehrbuchs für Allen, die die Göttinger Zoologie schon Anfänger, sondern auch wegen weiterer etwas länger kennen, ist dieser Ort an Bücher und anderer bedeutender Publi- der Berliner Straße 28 wohlvertraut. Bis in kationen. Am wichtigsten erscheinen mir die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts jedoch seine Impulse für neue wissen- war dies "die Zoologie" schlechthin, bis schaftliche Ansätze auf den Feldern der schließlich diverse Ausgliederungen der Entwicklungsbiologie und der Genetik. räumlichen Einheit ein Ende setzten. Göttingen verließ er 1937 infolge eines Von den ersten drei Professoren für Rufs an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Zoologie in der Philosophischen Fakultät Biologie in Berlin-Dahlem. Nach dem sind zwei nur sehr kurze Zeit im Amt ge- Krieg erhielt er einen Lehrstuhl an der wesen. Wilhelm Moritz Keferstein Universität Tübingen und wurde später

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zugleich Direktor am dortigen Max- die Genetik mit einem Stoffwechselweg Planck-Institut für Biologie. zusammengeführt zu haben (Grossbach, Auf Kühn folgte in Göttingen sein Schü- 2008). Diese Verbindung zweier zuvor ler Karl Henke (03.10.1895 – 14.09.1956), getrennter Gebiete, Genetik und Bioche- der den Lehrstuhl bis zu seinem Tode in- mie, hat sich als unvergleichlich fruchtbar nehatte. Nach dem Weltkrieg fiel ihm die erwiesen und ist aus heutiger Perspektive Aufgabe zu, das in Teilen zerstörte Zoolo- nicht mehr wegzudenken. Als Jude hat gische Institut wieder aufzubauen. In wis- Ernst Caspari Deutschland rechtzeitig senschaftlicher Hinsicht schlossen sich verlassen und später äußerst erfolgreich seine Arbeiten thematisch großenteils an in den USA gearbeitet. Hier in Göttingen jene von Alfred Kühn an, mit dem er ja hatten wir noch die Freude, Ernst Caspari auch gemeinsam publiziert hatte. Aber im Rahmen eines kleinen Symposiums über die vor allem an Ephestia und Droso- seine Goldene Doktorurkunde überrei- phila studierten entwicklungsbiologi- chen zu dürfen. Seit einigen Jahren ehren schen und genetischen Aspekte hinaus wir ihn durch die Benennung des Gebäu- fanden auch neue Felder Platz in seiner des des Göttinger Zentrums für Moleku- Forschung. Zu nennen wären hier verhal- lare Biowissenschaften als Ernst-Caspari- tensphysiologische Arbeiten, etwa zur Haus, in dem auch eine Abteilung Lichtorientierung bei Rollasseln. unseres Instituts untergebracht ist. Es würde sicherlich der lokalen Ge- Der andere, an den ich hier erinnern schichte eines Faches nicht gerecht wer- möchte, war Hansjochem Autrum den, würde man sich auf die Genealogie (06.02.1907 – 23.08.2003), der zu Henkes der jeweiligen Institutsdirektoren be- Zeiten in Göttingen arbeitete (1945 - schränken. Auf alle hier ehemals Tätigen 1952). In seinen frühen Studien identifi- kann im Rahmen eines kurzen geschicht- zierte er die verschiedenen Typen der lichen Abrisses nicht eingegangen wer- Schallwahrnehmung, ihrer Organe und den, auch wenn sie zur Forschung am Ort demonstrierte die geradezu unfassliche wichtige Beiträge geleistet haben. Gleich- Empfindlichkeit von Vibrationsrezeptoren, wohl sei zumindest an zwei herausragen- die z.T. auf Amplituden im Picometerbe- de Wissenschaftler aus den Zeiten von reich ansprechen, an der Grenze des Kühn und Henke erinnert, die zwar nach physikalisch Möglichen, was auch die wenigen Jahren Göttingen verließen, aber hiesigen Physiker fasziniert hat. Nachdem deren Arbeiten am Anfang ihrer jeweili- er Göttingen in Richtung Würzburg ver- gen Karriere die Forschung in hohem Ma- lassen hatte, übernahm er 1958 den Lehr- ße beeinflussten und die hernach eine stuhl von Karl von Frisch in München und eminente Rolle spielten. wurde zu einem der einflussreichsten Der eine von ihnen war Ernst Wolf- Zoologen in unserem Land. Unsere Ma- gang Caspari (24.10.1909 – 1984; in Göt- thematisch-Naturwissenschaftlichen Fa- tingen 1931 - 1935), damals Mitarbeiter kultäten haben ihm, auf Antrag aus der von Kühn. Casparis herausragende Lei- Zoologie, 1986 die Ehrendoktorwürde stung für die Wissenschaft besteht darin, verliehen.

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Die bei Henke bereits erkennbare Hin- ter nach Ulm berufen wurde und vielen wendung zu verhaltensphysiologischen Zoologen bekannt sein dürfte. Außerdem Themen war von Bedeutung für seine existierte ein "Labor für Elektronenmikro- Nachfolge, die 1958 Georg Birukow skopie" unter Friedrich-Wilhelm Schlote, (25.09.1910 – 17.10.1985; in Göttingen bis das nach dessen Berufung nach Aachen 1978) antrat. Die zuvor in Göttingen so in eine "Abteilung für Zellbiologie" umge- bedeutende Entwicklungsbiologie war wandelt wurde, zuerst unter der Leitung damit aber nicht verwaist, weil Kühns von Jost-Bernhard Walther. Ebenfalls dem Schüler Hans Piepho (10.05.1909 – 1993), Institut zugehörig war eine "Anthropologi- zuletzt, ab 1967, als o. Professor hier ar- sche Forschungssstelle" unter Gerhard beitete. Die 60er Jahre können als der Be- Heberer. Im II. Zoologischen Institut wur- ginn einer wichtigen institutionellen Di- de 1971 eine eigene "Abteilung für Öko- versifizierung angesehen werden. Mit der logie" gegründet, welche zunächst von Berufung von Peter Ax (29.03.1927 – Werner Funke bis zu dessen Berufung 02.05.2013) auf einen zweiten Zoologi- nach Ulm geleitet wurde. schen Lehrstuhl im Jahr 1961, aus der Mitte der 80er Jahre war die fachliche Sicht des Autors ein Glücksfall für die Differenzierung noch weiter vorange- Göttinger Zoologie, wurde die fachliche schritten. Am I. Zoologischen Institut wa- Differenzierung in einen physiologisch- ren im Zoophysiologischen Bereich inzwi- ethologischen sowie entwicklungsbiologi- schen 4 Professoren tätig, mit Norbert schen und einen phylogenetisch-morpho- Elsner (11.10.1940 – 16.06.2011) als logischen sowie ökologischen Bereich Nachfolger von Georg Birukow. Die be- durch Gründung zweier unabhängiger reits erwähnte Abteilung für Zellbiologie Institute festgeschrieben. Peter Ax, zu- war etabliert, nunmehr unter der Leitung nächst durch seine Arbeiten zur Sandlück- von Friedrich-Wilhelm Schürmann. Am II. enfauna bekannt geworden, wurde später Zoologischen Institut waren im morpholo- zum entschiedenen Verfechter einer kla- gisch-phylogenetischen Bereich neben distisch-konsequenten Phylogenetik. Er Peter Ax zwei weitere Professoren tätig; blieb über seine Emeritierung 1992 hin- die Abteilung für Ökologie wurde inzwi- aus bis 2013 am Institut tätig. Es ist eine schen von Matthias Schaefer geleitet. Aus Freude zu wissen, dass die DZG die Erin- dem Lehrstuhl von Hans Piepho war das nerung an ihn durch eine "Peter Ax Lectu- III. Zoologische Institut - Entwicklungsbio- re" hochhält. logie hervorgegangen, mit Ulrich Gross- Die fachliche Differenzierung schritt in bach als Ordinarius sowie Christel Podu- den Instituten zunehmend voran und hatte fal. Weitere Professoren kamen in der Folgen für die Gründung weiterer Institu- Folge hinzu, z.T. durch Kooptierung. In te. Um 1964 umfasste das I. Zoologische der Nachfolge der Anthropologischen Institut außer den Arbeitsgruppen von Forschungsstelle war mit der Berufung Georg Birukow und Hans Piepho eine von Christian Vogel ein eigenständiges mehr stoffwechselphysiologisch orientier- Institut für Anthropologie gegründet wor- te Gruppe um Detlef Bückmann, der spä- den. Hernach wurde eine zweite Profes-

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sur zugeordnet, auf die Bernd Herrmann wird sich an diese Veranstaltungen lebhaft berufen wurde. erinnern. Norbert Elsner hat auch hier- Unter Bezug auf jene Zeit verdienen durch zur Bekanntheit der Göttinger Zoo- zwei weitere Facetten der Geschichte der logie in hohem Maße beigetragen. Inzwi- Göttinger Zoologie der Erwähnung. Im schen werden diese Tagungen von der Winter 1981/82 machte eine junge ameri- German Neuroscience Society getragen kanische Studentin ein Praktikum bei Ul- und finden noch immer statt, aber nur je- rich Grossbach, wo sie wohl zum ersten des zweite Jahr in Göttingen. Innerhalb Mal Chromosomen unmittelbar zu sehen Göttingens machte sich Norbert Elsner bekam. Es war niemand anders als Carol auch einen Namen durch die Organisa- Greider. Später sagte sie : “This expe- tion interdisziplinärer Ringvorlesungen rience with Chironomus polytene chromo- sowie die Herausgabe von Buchpublika- somes gave me an appreciation for the tionen hierzu, eine Tätigkeit, die er bis beauty of chromosomes.“ In den USA wenige Monate vor seinem Tode ausübte. führte sie bahnbrechende Arbeiten über Nachdem die fortschreitende fachliche die Telomere und die Telomerasen durch, Diversifizierung innerhalb der Göttinger wofür sie 2009 den Nobelpreis erhielt. Zoologie zunächst die Zentrifugalkräfte Ohne dass die Göttinger Zoologie mit befördert und die Trennung in mehrere fremden Federn geschmückt werden soll, Institute nach sich gezogen hatte, gewann so ist dennoch festzuhalten, dass wir uns, die Einsicht an Raum, dass größere Ein- und allen voran natürlich Herr Grossbach, heiten einen höheren Gestaltungsspiel- über diese Ehrung außerordentlich ge- raum ermöglichen, z.B. bei Neuberufun- freut haben. gen. Zudem besitzt eine größere Einheit Zum zweiten sind in der Geschichte ein höheres inneruniversitäres Gewicht. der Göttinger Zoologie die Neurobiolo- Die Folge war eine Wiedervereinigung gentagungen besonders hervorzuheben. von Instituten, jedoch mit einer neuen Ab- Diese, zunächst von Ernst Florey und Otto teilungsstruktur (Tab. 1). Dies betraf 1998 Creutzfeld ins Leben gerufen, wurden die ehemaligen I. und II. Zoologischen In- dann zwischen 1982 und 2003 von Nor- stitute sowie das Institut für Anthropolo- bert Elsner organisiert, was er zwar übli- gie. Nach der Emeritierung von Ulrich cherweise mit einem anderen Kollegen Grossbach wurde unter seinem Nachfol- gemeinsam tat, wobei aber die techni- ger Ernst A. Wimmer auch dieser Bereich sche Durchführung vor Ort weitgehend in das Gesamtinstitut einbezogen, für das durch ihn erfolgte. Diese Tätigkeit war für man sich inzwischen auf den Namen "Jo- ihn zeit- und energieraubend. Nicht nur hann-Friedrich-Blumenbach-Institut für seine Arbeitsgruppe, sondern sogar sei- Zoologie und Anthropologie" geeinigt hat- ne Familie waren hierin eingebunden. Un- te. ter Elsners Federführung wuchs die Zahl Diese formale organisatorische Verei- der Teilnehmer von zunächst ca. 150 auf nigung war hingegen keineswegs mit ei- über 1.500 (s.a. Ronacher, 2012). So man- ner räumlichen Zusammenführung ver- cher auf der Zoologentagung Anwesende bunden. In der Folge geschah genau das

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Gegenteil: Inzwischen ist das Institut auf erbaut worden war, wird erneut im We- sieben verschiedene Standorte verteilt sentlichen als Museum genutzt werden. (Tab. 2). Gründe hierfür sind z.T. in Neu- Und zweitens werden die zoologischen berufungen zu suchen, mit den entspre- Sammlungen, die einst von anderen chenden Erfordernissen für geeignete Sammlungen getrennt wurden, wieder moderne Laborräume, z.T. aber auch in mit einigen von diesen zusammengeführt. Quervernetzungen mit anderen For- Die räumliche Aufsplitterung der Göt- schungsinstituten wie etwa dem Deut- tinger Zoologie hat verschiedene Seiten. schen Primatenzentrum und dem Bern- Positiv ist natürlich der Zugewinn an mo- stein Center for Computational Neuro- dernen Laborflächen. Aber eine Gemein- science. Die Verbindung mit dem Deut- samkeit, wie wir sie von früher, etwa in ei- schen Primatenzentrum verdient beson- nem Zoologischen Kolloquium für alle dere Hervorhebung, insbesondere als Institutsmitglieder kannten, ist gegenwär- durch die beteiligten Kollegen, die sich tig kaum realisierbar. Gleichwohl verhin- großenteils auch mit nichthumanen Pri- dert dies keine Zusammenarbeit, wo sie maten beschäftigen, die Anthropologie, denn gewollt ist. Vernetzungen mit ande- für die sie z.T. ebenfalls eine Denomina- ren Arbeitsgruppen sind heute Standard, tion besitzen, inhaltlich wieder näher an ob innerhalb des Instituts, mit anderen die Zoologie herangerückt ist. Göttinger Forschungsinstituten oder an- In Zukunft wird es nach dem Willen derweitig in der Welt. Und wer sich im der Universitätsleitung zu weiteren Verla- Alltag nicht unbedingt dazu aufraffen gerungen aus dem "Stammsitz" Berliner kann, einen interessanten Vortrag aus ei- Straße 28 kommen. Die freiwerdenden nem anderen zoologische Feld zu besu- Räumlichkeiten sollen hernach für ein chen, obwohl er oder sie den Verlust an Universitätsmuseum unter dem Namen Gemeinsamkeit als Mangel empfindet, so "Haus des Wissens" genutzt werden. In bietet die Tagung der DZG doch eine gewisser Weise schließt sich hier der hervorragende Gelegenheit, nicht allein Kreis und zwar in doppelter Hinsicht. Ein Vorträge aus dem eigenen Gebiet zu hö- Gebäude, das vornehmlich als Museum ren, sondern - vermutlich mit persönli-

Tabelle 1. Die Wieder- vereinigung der Institu- te 1998 und 2003, unter Einrichtung einer neuen inneren Struktur mit Ab- teilungen und autono- men Arbeitsgruppen (AG). Aufgeführt sind nur die damaligen Pro- fessoren der Biologi- schen Fakultät im akti- ven Dienst.

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Tabelle 2. Das Johann- Friedrich-Blumenbach-In- stitut für Zoologie und An- thropologie im Jahr 2014 an den diversen Standor- ten seiner Abteilungen.

chem Gewinn - auch die Fortschritte in Grossbach, U. (2008): Ernst Casparis Pionier- den anderen Bereichen in Erfahrung zu leistung. BioSpektrum 14: 662 – 663. Ronacher, B. (2012): Nachruf auf Norbert bringen. Elsner 11.10.1940 – 16.6.2011. In: Zoolo- gie 2012, Mitteilungen der Deutschen Zo- Literatur ologischen Gesellschaft (R.A. Steinbrecht, Hrg.), Basilisken-Presse, Rangsdorf, pp. Birukow, G. & Ax, P. (1967): Aus der 59-63. Geschichte der Zoologie in Göttingen. Zool. Anz., Suppl. 30: 48-53.

Prof. Dr. Rüdiger Hardeland Johann-Friedrich-Blumenbach-Institut für Zoologie und Anthropologie Georg-August-Universität Göttingen Berliner Str. 28 37073 Göttingen [email protected]

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Baumeisterin des Lebenden – die Aristotelische „Physis“, unsere „Natur“

Klaus Bartels

Vortrag an der 107. Jahrestagung der gebracht hat, selbst eine geradeso ingeni- Deutschen Zoologischen Gesellschaft in öse Natura fabra. der Aula der Georg-August-Universität Aristoteles und die Zoologie: das Göttingen am 12. September 2014 scheint vielen so weit voneinander wie A und Z im Alphabet. In Athen aus Platons Seit vierundzwanzig Jahrhunderten „Akademie“ hervorgegangen, ist Aristote- zählen die griechischen, Aristotelischen les in seiner eigenen Schule, dem „Peri- Begriffe „physis“ und „téchne“, entspre- patos“, zum Begründer einer systema- chend dem modernen Begriffspaar „Na- tischen zoologischen Wissenschaft gewor- tur“ und „Technik“, zu den Leitbegriffen den und bis in die Neuzeit hinein das unseres Weltverständnisses. Da deutet die überragende Haupt dieser Wissenschaft physis auf den Naturprozess, wie er sich geblieben. In der Antike hat Aristoteles in der unbelebten und der belebten Na- keine Fortsetzer annähernd vergleichba- tur ohne menschliches Eingreifen um uns ren Ranges gehabt; erst die Goethezeit herum und mit uns vollzieht, von der – da- hat wieder an ihn angeknüpft. Aristoteles mals ruhend gedachten – Erde unter un- war gerade so sehr Zoologe wie Philo- seren Füssen samt allem, was da grünt soph; von seinen Schriften – überliefert und blüht, kreucht und fleucht, bis hinauf sind nur die Vorlesungsmanuskripte – zu den – damals göttlich gedachten – betrifft gut ein Fünftel die Zoologie im kreisenden Sternen über unseren Köpfen. Und da deutet die téchne auf die darein engeren Sinne. Die zoologischen Haupt- eingreifende gestaltende technische werke sind eine umfängliche Vergleichen- „Kunst“, mit der wir Menschen uns in die- de Morphologie unter dem Originaltitel ser Welt häuslich einrichten, mit der wir „Über die Teile der Tiere“ (gewöhnlich uns, wie es einmal bei Cicero heisst, „mit lateinisch zitiert mit „De partibus anima- unseren Händen in der Natur gleichsam lium“) und eine noch umfänglichere eine zweite Natur zu schaffen versu- Schrift „Über die Fortpflanzung der Tie- chen1“. Wenn wir jetzt von der physis des re“ („De generatione animalium“). Da- Lebenden und besonders der Tiere spre- neben steht eine „Tierkunde“ („Historia chen, haben wir es zugleich mit dieser animalium“) mit der genauen Beschrei- téchne zu tun: für Aristoteles ist die Natur, bung von Hunderten einzelner Tierarten. die den ingeniösen Homo faber hervor- Ein antiker Ehrentitel rühmt Aristoteles als

1 „... nostris denique manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur“, Cicero, De natura deorum 2, 152

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den „Sekretär der Natur, der sein zum Herzen; das Küken entwickelt „sich“, Schreibrohr in die Vernunft eintauchte“.2 sich selbst, zum Huhn – oder, seien wir Das griechische Wort physis erscheint korrekt: zum Hahn –, und dieses „selbst“ erstmals in Homers „Odyssee“, in einer ist da allemal zugleich Subjekt und Ob- göttlichen Botaniklektion. Da erzählt jekt: „Es selbst“ entwickelt „sich selbst“. Odysseus, wie der Götterbote Hermes Diese Entwicklung vollzieht sich, gleich ihn mit einem frischen Kraut gegen die ob unter der Eierschale oder am Tages- Zauberkünste der Kirke wappnete: „Er licht, allemal in der Black box: „Die physis reichte mir das Kraut, das er aus der Erde liebt es“, sagt Heraklit, „sich zu verber- gezogen hatte, und zeigte mir seine phy- gen“; die Natur ist, sagt später Goethe, sis, seinen Wuchs: An der Wurzel war es „öffentlich Geheimnis“6, offen vor Augen schwarz, aber der Milch glich die Blüte ...“3 und doch undurchschaubar. Physis: Die aus dem Stamm phy-, „her- Im 4. Jahrhundert v. Chr. hat Aristote- vorbringen, erzeugen, gebären; wach- les es unternommen, dieses verborgene sen“, und dem Schwanzstück -sis für den Werden und Wachsen wenigstens begriff- Vollzug einer Handlung zusammenge- lich transparent zu machen, sozusagen setzte physis – und so dann auch die la- auf dem Bauplatz der Natur die Bauzäune teinische Lehnübersetzung natura – be- wegzuräumen, die Baumeisterin mit Na- zeichnet den natürlichen Entwicklungs- men zu bezeichnen und ihr Werken und und Wachstumsprozess und darüberhin- Wirken zu beschreiben. Anders als die aus die darin herangewachsene Gestalt, moderne Evolutionstheorie und anders den „Wuchs“, wie Hermes ihn hier von als einige vorsokratische Vorläufer im 5. der Wurzel bis zur Blüte beschreibt. Jahrhundert v. Chr. hat Aristoteles im Diesem Werden und Wachsen gilt He- Reich des Lebenden vom Menschen bis raklits Satz „Die physis liebt es, sich zu hinab zu den Pflanzen eine staunenswerte verbergen.“4 Der Naturprozess, die Ent- ingeniöse Vernunft am Werke gesehen. wicklung einer Pflanze, eines Tieres, voll- Dementsprechend erklärt er den natür- zieht sich vor unseren Augen. Aber der lichen Entwicklungsprozess, wie den vom Betrachter hat da keinen Einblick und Küken zum Huhn, in durchgehender Ana- keinen Durchblick, und unsere Sprache logie zu einem technischen Herstellungs- bezeugt es mit reflexiven Verben: Der prozess wie etwa dem Bau eines Hauses „springende Punkt“ im Ei, der durch Aris- – mit dem einzigen Unterschied, dass der toteles zum geflügelten Wort geworden Anstoss zu dem Prozess und seine Steue- ist, dieser „springende Punkt“, „blutrot im rung im Falle des Hauses bei dem Bau- Weissen“5 , entwickelt „sich“, sich selbst, meister und damit ausserhalb des Hauses

2 In der „Suda“, einem byzantinischen Lexikon des 10. Jahrhunderts, s. v. Aristoteles; „der Sekretär der Natur“ bereits bei Eusebios, Praeparatio evangelica 15, 9, 9. 810 a 3 Homer, Odyssee 10, 302ff. 4 „He physis kryptesthai phileí“, Heraklit, Fragment B 123 Diels-Kranz, bei Themistios (4. Jahrhundert n. Chr.), Oratio 5 5 Aristoteles, Historia animalium 6, 3. 561 a 4ff.; zur Prägungsgeschichte des geflügelten Worts: Klaus Bartels, Geflügelte Worte aus der Antike – woher sie kommen und was sie bedeuten, Darmstadt/Mainz 2013, S. 37ff. 6 Goethe, Epirrhema

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liegt, während er im Falle des Kükens in Mehrfach fasst Aristoteles sein Natur- der „sich“ entwickelnden Tiergestalt verständnis in die Formel, die Entwick- selbst gelegen ist. Aristoteles fasst diese lung sei durch ihr Ziel, die vorgegebene Analogie einmal in ein einprägsames Artgestalt bestimmt, nicht etwa umge- Bild: Der Naturprozess funktioniere so, kehrt die Artgestalt, durch eine ziellos wie wenn die auf einer Schiffswerft rings- verlaufende Entwicklung.9 Am Anfang um bereit liegenden Baumaterialien seiner Vergleichenden Morphologie ur- „sich“ selbst auf geheimnisvolle Weise, teilt er in einer für ihn ungewöhnlichen als sei da ein unsichtbarer Baumeister am Schärfe, alle die, die das Ziel des Entwick- Werke, Schritt für Schritt zu einem Schiff lungsprozesses – wie er sagt: das „Um- zusammenfügten.7 Unsere modernen pro- wessentwillen“ – ausser Acht liessen und grammgesteuerten Fertigungsautomaten diesen Prozess einzig aus blinder Natur- kommen der Natur da schon ziemlich na- gesetzlichkeit – wie er sagt: „aus Notwen- he. digkeit“ – zu erklären suchten, alle diese In dieser Analogie zum technischen „sagten“ – wörtlich: – „so gut wie nichts Herstellungsprozess figuriert die physis über die Natur aus“.10 Das vernichtende in der Rolle einer verborgen im Innern Verdikt gilt seinen vorsokratischen Vorläu- des sich entwickelnden Naturdings wir- fern Empedokles, Anaxagoras und Demo- kenden Baumeisterin: als die treibende krit, die mit der kühnen Theorielust jenes Kraft, die den Entwicklungsprozess an- frühen griechischen Denkens das Zustan- stösst und steuert, und zugleich als die dekommen lebensfähiger Organismen spezifische Artgestalt, die sich in diesem aus dem Zusammenspiel einer blinden Prozess allmählich ausbildet – mit dem Naturgesetzlichkeit und eines zufälligen Aristotelischen Wort: sich allmählich „ver- glücklichen „Sich-so-Treffens“ hatten er- wirklicht“, mit Goethe: als die „geprägte klären wollen. Form, die lebend sich entwickelt“.8 Man Warum sollten denn nicht, so zitiert könnte sagen, mit der Benennung dieser Aristoteles in seiner „Physikalischen Vor- im Verborgenen wirkenden physis habe lesung“ diese für ihn schon antikischen Aristoteles vor vierundzwanzig Jahrhun- Kollegen, die Schneidezähne zufällig derten das jüngst entdeckte Genom vor- scharf, geeignet zum Zerteilen der Nah- hergesagt. Er hat erkannt, dass da, zuin- rung, die Backenzähne zufällig platt, ge- nerst verborgen, irgend so etwas Treiben- eignet zum Zermahlen der Nahrung ge- des, Steuerndes, Prägendes am Werke wachsen sein? Und warum sollte das sein müsse, und er hat dieser ihm nicht nicht überhaupt für alle Organe so gelten näher zugänglichen treibenden, steuern- können? (Zwischen den Zeilen meinen den, prägenden Kraft vorerst einmal den wir das belustigte Gelächter seiner Hörer Namen physis gegeben. herauszuhören.) Und darauf zitiert er die-

7 Aristoteles, Physik 2, 8. 199 b 26ff. 8 Goethe, Urworte orphisch 9 Aristoteles, De partibus animalium 1, 1. 640 a 18f. 10 Aristoteles, De partibus animalium 1, 1. 642 a 13ff.

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se antikischen Kollegen weiter: Wo das gleich weit entfernt auch davon, das bloss Zusammenspiel von blinder „Notwendig- „Notwendige“, bloss Stoffliche, gänzlich keit“ und glücklichem „Zufall“ lebensfähi- ausser Acht zu lassen. In der Einleitung ge Tiergestalten hervorgebracht habe, zu seiner Vergleichenden Morphologie hätten diese überleben können; wo nicht, stellt er das Postulat auf, bei der Erklä- seien diese Ausgeburten des Zufalls als- rung der Artgestalten und der einzelnen bald wieder zugrundegegangen und gin- Organe soweit irgend möglich „beide Ur- gen auch jetzt noch ständig zugrunde, sachen“ anzuführen: sowohl die vorrangi- wie Empedokles es von seinen – wört- ge des „Um-wessentwillen“ als auch die lich: – „Rinds-Ausgeburten mit Men- nachrangige „aus Notwendigkeit“. Im Sin- schen-Vorderleibern“ – sozusagen Rinds- ne dieses Postulats erklärt er zum Bei- Kentauren – behaupte.11 „Aber es ist spiel unsere Augenbrauen und Wimpern unmöglich“, bricht Aristoteles da brüsk zunächst aus dem „Um-wessentwillen“, ab, „dass es sich so verhält“ – unmöglich von der Organfunktion her: dass die Brau- allein schon darum, weil der natürliche en unsere Augen wie eine Dachrinne vor Entwicklungsprozess sich durchweg in herabfliessendem Schweiss, die Wimpern ein und derselben Weise vollziehe, ein sie wie eine Palisadenreihe vor heranflie- Zufallsprozess sich aber nie und nimmer genden Staubteilchen schützen sollen. in ein und derselben Weise wiederholen Und darauf lässt er die entsprechende Er- könne. klärung „aus Notwendigkeit“, von der Or- In der „Historischen Skizze“ im An- ganbildung her, folgen: dass da an der hang zu seinem Hauptwerk nimmt Darwin Knochenkante oberhalb des Auges be- hierauf Bezug. Er dankt dem Freund, der ziehungsweise am vorderen Rand des ihn auf diese Aristotelesstelle aufmerk- Augenlids, wo die Nahrungszufuhr durch sam gemacht hatte, zitiert sie im Wortlaut die Adern ende, überschüssiger erdiger und merkt dazu an: „Wir finden hier, bei Aufbaustoff durch die Poren hinausge- Empedokles, zwar eine dunkle Ahnung drängt werde und so die Augenbrauen des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl; und die Wimpern bilde.13 wie weit aber Aristoteles selbst davon Ein Augenschutz vor Schweiss und entfernt war, es völlig zu erfassen, zeigen Staub: Mit dieser aufmerksamen Service- seine Bemerkungen über die Bildung der leistung der Natur kommen wir von der im Zähne.“12 Entwicklungsprozess wirkenden physis zu In der Tat: Von der Annahme derlei einer anderen Rolle ebendieser Aristoteli- Empedokleischer Zufalls-Ausgeburten schen physis: zu der Rolle, in der sie alle mit mehr oder weniger Überlebenschan- höheren und minderen Tier- und Pflanzen- cen war Aristoteles weit entfernt – aber gestalten mit den jeweils für ihre Lebens-

11 Aristoteles, Physik 2, 8. 198 b 23ff. 12 Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, deutsch nach der letzten englischen Aus- gabe, hrsg. von J. Victor Carus und Gerhard H. Müller, Stuttgart 1920, Nachdruck Darmstadt 1992, Historische Skizze der Fortschritte in den Ansichten über den Ursprung der Arten 13 Aristoteles, De partibus animalium 2, 15. 658 b 14ff.

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funktionen nötigen Organen angemessen alles, was sie braucht. Und für die eine ausgestattet hat. An einem Locus classicus oder andere Spezies lässt sich diese Aris- seiner Zoologie hat Aristoteles diese phy- totelische physis manchmal noch eine sis mit einer auch im Griechischen kühnen spezielle Extra-Ausstattung einfallen. Prägung einmal die „demiurgésasa phy- Bei seinem Vergleich der Tiergestal- sis“, wörtlich: die „handwerkende, hand- ten, ihrer Baupläne, Funktionen und Orga- werklich wirkende physis“, genannt14, und ne, geht Aristoteles vom Menschen aus, vornehmlich in dieser Bedeutung einer in- dem er um seiner Vernunft willen eine geniösen Baumeisterin des Lebenden ist „Teilhabe am Göttlichen“, ja eine „göttli- das griechische Wort dann über die latei- che Natur“ und ein „göttliches Wesen“15 nische Lehnübersetzung natura in die neu- zuschreibt. Im Einklang damit sieht er en Sprachen eingegangen. den Menschen mit seinem aufrechten Wenn diese Prägung „handwerkende Gang buchstäblich lotrecht an den Koor- Natur“, recht verdolmetscht: „konzipie- dinaten seines – notabene: geozentri- rende, konstruierende, produzierende schen – Kosmos ausgerichtet: Beim Men- Natur“, uns jetzt eher an die Konstruk- schen allein, sagt er, hätten die natür- tionsabteilung eines Automobilkonzerns lichen Organe – zumal der allem Leben- als an den fünften und sechsten Tag der den gemeinsame Ernährungstrakt – ihre biblischen Schöpfungsgeschichte denken naturgemässe Ausrichtung, derart, dass lässt, so wäre das ganz im Sinne des Er- das Oben des Menschen auf das Oben finders. Aristoteles versteht das Reich des des Weltganzen weise.16 Dazu habe die Lebenden als eine einheitlich konzipierte, Natur dem Menschen – hier folgt die ingeniös konstruierte und immergleich nachrangige Erklärung „aus Notwendig- reproduzierte Modellreihe höher- und keit“ – ein Höchstmass an „aufrichtender minderrangiger Artgestalten, die vom Wärme“17 gegeben und die obere Kör- grosszügig ausgestatteten Topmodell des perhälfte von der Schwere des erdigen vernunftbegabten Menschen bis zu den Elements entlastet; mit diesem Höchst- nur eben gerade sich ernährenden und mass an Wärme – die Aristoteles zuin- fortpflanzenden Pflanzen hinabreicht. Und nerst im Herzen versammelt sieht – und wie dort jedes Auto-Modell der ganzen mit seinem vergleichsweise tiefliegenden Palette, sagen wir: von der Luxuslimousi- Schwergewicht vermöge der Mensch oh- ne bis zum zweitürigen Mini hinab seiner ne Schwanken und Wanken aufrecht zu Leistungsstufe entsprechend ausgestattet stehen und zu gehen. Die lotrechte Aus- ist und alles hat, was es braucht, so ist richtung, heisst es da weiter, komme dem hier jede Tiergattung vom Menschen bis vernunftbegabten Menschen doppelt zu- zu den Schwämmen hinab ihrer Lebens- gute: Die Entlastung der oberen Körper- stufe entsprechend ausgestattet und hat hälfte erleichtere die rasche Beweglich-

14 Aristoteles, De partibus animalium 1, 5. 645 a 9 15 De partibus animalium 2, 10. 656 a 7f., vgl. 4, 10. 686 a 28 16 De partibus animalium 2, 10. 656 a 10ff. 17 De partibus animalium 4, 10. 686 b 29

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keit des Denkens – das Aristoteles gleich- Hauptgattungen, auf Gattungen, die mit falls wie alle Wahrnehmung und Empfin- einzelnen Merkmalen zwischen den Stu- dung zuinnerst im Herzen lokalisiert –, fen stehen, wie schon gleich die Affen und der aufrechte Gang auf zwei Beinen zwischen dem Menschen und den Vier- lasse dem Homo faber die oberen Glied- füsslern.18 Das geflügelte Wort „Die Natur massen, Arme und Hände, zum Werk- macht keine Sprünge“, „Natura non facit zeuggebrauch frei. saltus“, hat da seinen Ursprung.19 Sogar Die weiteren Ränge des Tierreichs – zwischen Tierreich und Pflanzenreich er- lassen wir die Pflanzen jetzt einmal bei- kennt Aristoteles einen solchen gleiten- seite – teilt Aristoteles höchstwahrschein- den – mit seinem in lateinischer Lehn- lich als erster zunächst in die beiden übersetzung fortlebenden Wort: „kon- grossen Teilreiche der „Bluttiere“ und der tinuierlichen“ – Übergang. In seiner Ver- „Blutlosen“ ein; die „Bluttiere“, unsere gleichenden Morphologie hebt er derart Wirbeltiere, klassifiziert er nach dem all- die Austern und die Schwämme von den gemeinen Sprachgebrauch in vier Haupt- Pflanzen ab: „Die Austern unterscheiden gattungen: in die lebendiggebärenden sich in ihrer physis nur geringfügig von Vierfüssler, Tetrapoden, unsere „Säuge- den Pflanzen; indessen kommen sie der tiere“, in die Vögel, in die eierlegenden Lebensstufe der Tiere näher als die Tetrapoden – die Reptilien und Amphi- Schwämme, denn diese haben ganz und bien samt den fusslosen Schlangen –, und gar nur die Lebensfähigkeit einer Pflanze. schliesslich in die Fische. Die „Blutlosen“, Die Natur geht nämlich so kontinuierlich unsere Wirbellosen, klassifiziert er in von den Pflanzen ... zu den Tieren über, wiederum vier von ihm neu benannte dass sich die einen von den anderen nur Hauptgattungen: in die „Weichtiere“, ganz geringfügig zu unterscheiden schei- griechisch die malákia, mit der lateini- nen, da sie einander so nahe sind ...“20 schen Lehnübersetzung die „Mollusken“, Und gleich darauf erklärt er: „Die Nessel- wie die Schnecken und die Tintenfische, tiere – griechisch knídes, heute Cnidaria in die „Weichschaligen“, griechisch die – fallen ganz aus der Einteilung der Gat- malakóstraka, wie die Krebse, in die „Ein- tungen heraus: Sie gehören gleichzeitig geschnittenen“, griechisch die éntoma, zu den Pflanzen und zu den Tieren.“21 mit der lateinischen Lehnübersetzung die Der Vergleich des Menschen und der „Insekten“, und schliesslich in die „Schal- nächstbenachbarten Vierfüssler im 4. häutigen“, griechisch die ostrakóderma, Buch der Aristotelischen Vergleichenden wie die Muscheln und die Seeigel. Morphologie bietet einen guten Einstieg, Vielfach verweist Aristoteles auf glei- in den Originalton dieses vierundzwanzig tende Übergänge zwischen diesen Jahrhunderte alten Zoologie-Kollegs ei-

18 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 689 b 31ff. 19 Zur Prägungsgeschichte des geflügelten Wortes vgl. Klaus Bartels, Geflügelte Worte aus der Antike – woher sie kom- men und was sie bedeuten, Darmstadt/Mainz 2013, S. 94ff. 20 Aristoteles, De partibus animalium 4, 5. 681 a 10ff. 21 Aristoteles, De partibus animalium 4, 5. 681 a 36ff.

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nen Augenblick hineinzuhören. Wir stos- immerfort sozusagen in ihren Schuhen sen hier zunächst nochmals auf die Aus- schlafen – wie die Pferde – ..., und sie einandersetzung mit den „alten Natur- können den Panzer, der ihren Leib um- forschern“ Empedokles, Anaxagoras und schliesst, niemals ablegen – wie die Demokrit: Schildkröten – und die Waffe, die eine „Da der Mensch von Natur aufrecht Gattung gerade erhalten hat, niemals ge- geht, hat er Vorderbeine nicht nötig, son- gen eine andere austauschen. Dem Men- dern an deren Stelle hat die Natur ihm schen dagegen ist es möglich, vielerlei Arme und Hände gegeben. Anaxagoras Ausrüstungen zu besitzen und diese je- behauptet nun, dadurch, dass der derzeit gegeneinander auszutauschen Mensch Hände habe, sei er zum intelli- und so auch jede Waffe, wie immer er es gentesten Lebewesen geworden. Sinn will und wo immer er es will, zu besitzen. macht aber vielmehr die umgekehrte Er- Denn seine Hand wird zu einer Kralle, ei- klärung: dass der Mensch ebendes- ner Krebsschere oder einem Horn, zu ei- wegen, weil er das intelligenteste Lebe- ner Lanze, einem Schwert oder jeder be- wesen ist, Hände erhalten hat. Denn die liebigen anderen Waffe und überhaupt zu Hände sind ein Organ; die Natur teilt aber jedem beliebigen Werkzeug; denn zu all jeweils, wie ein vernünftiger Mensch, je- dem kann sie werden, weil sie alles fas- des Organ dem zu, der es gebrauchen sen und halten kann.“23 kann. ... Das intelligenteste Lebewesen Da ist die Technik als ein Teil unserer wird die grösste Zahl von Organen sinn- spezifischen menschlichen physis ver- voll zu gebrauchen wissen; die Hand ist standen; wir könnten pointiert sagen: Da aber offensichtlich nicht nur ein einziges hat diese „handwerkende Natur“ den Organ, sondern viele: Sie ist sozusagen Menschen nach ihrem eigenen Bilde zu ein Organ anstelle von vielerlei Organen. einem „Hand-Werker“ von Natur gestal- Dem Lebewesen nun, das sich die vielfäl- tet. Mit dem Schlüsselorgan seiner Hand tigsten technischen Fähigkeiten anzueig- kann der Mensch auf ein unbegrenztes nen vermag, hat die Natur das von allen Arsenal jederzeit aufnehmbarer und wie- Organen am vielfältigsten brauchbare, der ablegbarer Werkzeuge zurückgrei- eben die Hand, gegeben.“22 fen. Während die Tiere mit ihrer spezifi- Darauf beschreibt Aristoteles dieses schen Organausstattung jeweils auf ihre „Organ anstelle von vielerlei Organen“ besonderen Lebensverhältnisse speziali- als ein im ganzen Tierreich einzigartiges siert sind, ist dieser Homo faber von Na- Schlüsselorgan: „Alle anderen Lebewesen tur durch seine Intelligenz, seine téchne besitzen jeweils nur eine einzige Ausrüs- und seine Hand eben darauf spezialisiert, tung, und ihnen ist es nicht möglich, ge- sich jederzeit auf alles und jedes speziali- gen diese eine Ausrüstung irgendeine an- sieren zu können. dere einzutauschen, sondern sie müssen

22 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 687 a 6ff. 23 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 687 a 27ff.

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Bereits auf der nächsten Stufe der Sca- massen vollends unnütz und damit über- la naturae, bei den Vierfüsslern, sieht sich flüssig geworden. Die blutlosen Tiergat- die Aristotelische physis innerhalb eben- tungen haben kleinere, leichter gebaute dieses Bluttier-Bauplans mit Kopf, Rumpf Körper und brauchen, diese zu tragen, und vier Gliedmassen zu einem „Plan B“ dennoch sechs, acht oder noch mehr Bei- genötigt. Sollten die Tetrapoden wie der ne; bei den Pflanzen am unteren Ende Mensch aufrecht gehen, erklärt Aristote- dieser „Stufenleiter der Natur“ ist die na- les, müssten sie mit ihrem geringeren turgemässe Ausrichtung des Ernährungs- Mass an aufrichtender Wärme und ihrem traktes buchstäblich auf den Kopf gestellt: vorderlastigen Körperbau allzuleicht, all- Sie nehmen ihre Nahrung mit den Wur- zuoft das Gleichgewicht verlieren und zeln auf und erzeugen ihre Samen am En- vornüberkippen. Darum habe die Natur de des Stengels. Sie haben so, wie es da den Vierfüsslern um ihrer Sicherheit einmal heisst, „ihr Oben unten und ihr willen anstelle von Armen und Händen Unten oben“26: So gesehen, sind die Vorderbeine und Vorderfüsse unterge- Pflanzen buchstäblich unsere Antipoden. setzt, da ihr geringeres Mass an Wärme Nochmals zurück zu den Vierfüsslern. „ihre Körperschwere nicht mehr tragen“ Bei den Elefanten, die ja auch Vielzeher könne.24 Das bedeute indessen keinen sind, ist es dann noch zu einem speziel- Ausstattungsmangel: Da den Vierfüsslern len „Plan C“ gekommen.27 Offenbar hat- die Intelligenz zum Werkzeuggebrauch ten Teilnehmer des Alexanderzugs von fehle, bedürften sie auch keines derart der fröhlichen Plansch- und Badelust der speziellen Greiforgans. Immerhin könnten indischen Elefanten berichtet; jedenfalls die Vielzeher unter den Vierfüsslern ihre beschreibt Aristoteles im Kapitel zu den Vorderfüsse nebenbei noch anstelle un- Nasen den Elefanten als ein amphibisch serer Hände gebrauchen; man beobachte lebendes Tier und den Elefantenrüssel als ja, wie sie mit den Vorderfüssen ihre Nah- eine Art Schnorchel: „Wie manche Leute rung ergreifen und sich damit zur Wehr die Taucher zum Atmen mit Schläuchen setzen.25 ausrüsten, damit sie bei einem längeren Nicht zufällig an dieser Stelle lässt Aris- Aufenthalt im Wasser durch diesen toteles den Blick hier im Vorübergehen Schlauch von oben Luft holen können, ge- bis zu den Pflanzen hinabschweifen. Bei radeso hat die Natur die Elefanten mit ih- dem von Stufe zu Stufe ungünstigeren rem langen Rüssel ausgestattet, und so at- Verhältnis von niederdrückender Schwe- men sie, wenn sie einmal durch tieferes re und aufrichtender Wärme können sich Wasser zu gehen haben, indem sie die- die Reptilien mit ihren vier Beinen nur sen Rüssel durch das Wasser nach oben noch mühsam vom Boden abheben, sind emporstrecken.“ Und da die Vorderfüsse bei den Schlangen derlei tragende Glied- der Elefanten bei dem ausserordentlichen

24 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 686 a 32ff. 25 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 687 b 29ff. 26 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 686 b 29ff. 27 Aristoteles, De partibus animalium 2, 16. 658 b 33ff.

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Körpergewicht und der entsprechenden Schwämmen hinab verweist Aristoteles Mächtigkeit und Klobigkeit der Beine zur immer wieder auf durchgehende Leit- Greiffunktion ganz und gar nicht mehr prinzipien dieser ingeniösen „handwer- taugen, „nutzt die Natur“, heisst es da kenden Natur“, Prinzipien, die im Gan- weiter, „diesen so sehr speziell ausgebil- zen, wie es oft heisst, auf das jeweils deten28 Rüssel nebenbei anstelle einer „Beste“, auf höchste Leistungsfähigkeit Hand: Mit ihm bringt der Elefant seine und zugleich höchste Wirtschaftlichkeit Nahrung zum Maul, reisst, sie umschlin- zielen. Unser Automobilkonzern würde gend, Bäume aus und gebraucht diesen da wohl von seiner „Firmenphilosophie“ Rüssel überhaupt wie eine Hand.“29 sprechen. Ein solches allgemeines Prin- Auch für uns Menschen hat diese all- zip haben wir vorhin bereits zitiert: dass zeit Ausgleich schaffende, erfindungsrei- die Natur „wie ein vernünftiger Mensch“ che Natur noch ein kleines Extra parat. jedes Organ einzig der Art oder der Gat- Für die Vierfüssler, erklärt Aristoteles im tung zuteilt, die es gebrauchen kann.31 Kapitel zu den Schwänzen, sei es durch- So hat sie dem zum Werkzeuggebrauch aus nicht ermüdend, fortwährend zu ste- fähigen Menschen die verwandlungsfähi- hen – sie „lägen“ ja sozusagen dauernd ge Hand verliehen und dieses einzigarti- auf ihren vier Beinen –; für den Menschen ge Vielfach-Organ bei den Vierfüsslern dagegen sei es doch nicht ganz leicht, sozusagen nicht vor die Säue geworfen. längere Zeit hindurch aufrecht zu stehen Dieses Prinzip erscheint mehrfach auch oder zu gehen, sondern sein Körper be- in der Fassung, dass die Natur „nichts dürfe immer wieder der Erholung – grie- Unnützes und nichts Überflüssiges ma- chisch: einer anápausis, wörtlich: einer che“32, sei es in dem Sinne, dass sie kei- „Aufpause“ –, und des Sitzens – grie- ne Gattung mit einem Organ ausstatte, chisch: der kathédra, wörtlich: des „Absit- das diese Gattung gar nicht brauche oder zens“. Dazu habe die Natur ihm – und gar nicht brauchen könne, sei es in dem einzig ihm – mit seinem Gesäss ein spe- Sinne, dass die Natur keine Gattung mit zifisches Sitzorgan verliehen. Daraus er- mehreren Organen für ein und dieselbe kläre sich auch, dass der Mensch keinen Funktion ausstatte, wenn eines davon die- Schwanz habe: Eben die Aufbaustoffe, die se Funktion bereits hinreichend erfüllen bei den Vierfüsslern in die Schwänze ge- könne. So hätten – um zwei vorher ange- hen, habe die Natur beim Menschen für führte Beispiele nochmals aufzugreifen – dieses Sitzkissen aufgewendet.30 die Fische keine Augenlider, da im Was- In seiner Erklärung der verschiedenen ser weniger Fremdkörperchen herum- Tiergestalten vom Menschen bis zu den schwämmen als in der Luft33, und so hät-

28 idiaítaton, Aristoteles, De partibus animalium 2, 16. 658 b 33 29 Aristoteles, De partibus animalium 2, 16. 659 a 9ff. 30 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 689 b 15ff. 31 Aristoteles, De partibus animalium 4, 10. 687 a 11f. 32 z. B. Aristoteles, De partibus animalium 3, 1. 661 b 23 33 Aristoteles, De partibus animalium 2, 13. 658 a 5ff.

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ten wieder die Fische lediglich scharfe zentriert einsetze. So lenke die Natur die- Zähne zum Zerteilen der Nahrung und sen Überschuss des Erdigen bei den Vö- keine platten Zähne, da im Wasser zum geln entweder nach oben in einen harten Zermahlen der Nahrung nicht genügend oder grossen Schnabel oder nach unten Zeit bleibe.34 in kräftige Sporne oder in grosse und Die Ausschliessung von Überkapazitä- kräftige Krallen. Denn auf verschiedene ten gilt besonders für die vielerlei ver- Organe „auseinandergezogen“ könne schiedenen Wehrorgane. Bei der Bespre- dieses erdige Element jeweils nur chung der Raubtiergebisse erklärt Aris- schwach zur Wirkung kommen.37 toteles: „Keine Tiergattung ist zugleich mit Auch sonst hält Aristoteles immer wie- Reisszähnen und mit Stosszähnen ausge- der fest, dass die Natur diese oder jene stattet, da die Natur nichts Unnützes und nur in begrenzter Menge verfügbaren nichts Überflüssiges schafft. ...“35 Und Aufbaustoffe von einem Organ zu einem gleich danach bei der Besprechung der anderen verschiebe, dass sie ein Organ Hörner: „Von den Tieren, die Vielzeher auf Kosten eines anderen kräftiger ausbil- sind, hat keines Hörner. Der Grund dafür de, dass sie, wie es dann meist heisst, ein ist, dass die Hörner zur Verteidigung die- Übermass von dem einen Organ wegneh- nen, den Vielzehern aber andere Wehror- me und einem anderen zuschlage. So ha- gane zur Verfügung stehen. Denn die Na- be die Natur bei den Knorpelfischen – tur hat den einen scharfe Krallen gege- wie den Haien – das innere Stützgerüst ben, anderen kampftaugliche Zähne, wie- um der leichteren Beweglichkeit willen der anderen ein anderes zur Verteidi- aus weicheren Knorpeln statt aus Kno- gung hinreichendes Organ. ... Mehrere je- chen gebildet und den dabei eingespar- weils für sich hinreichende Wehrorgane ten erdigen Aufbaustoff für eine schuppi- zugleich hat die Natur ein und derselben ge Aussenhaut – die „Hautzähne“ – Gattung nicht gegeben.“36 Also kein aufgewendet. „Denn an mehreren Stellen Overkill: von dieser superintelligenten zugleich“, heisst es da, „kann die Natur physis könnte auch ihr intelligentes Top- ein und denselben Überschuss nicht aus- modell noch einiges lernen. schütten“.38 Mit der Vermeidung von Überkapa- Wie hier den erdigen Aufbaustoff, so zitäten korrespondiert die mehrfach fest- verschiebt diese derart flexibel agieren- gehaltene Beobachtung, dass die Natur de Natur hie und da auch eine Funktion einen Überschuss des erdigen Aufbau- von einem Organ auf ein anderes. Von stoffs nicht auf mehrere Organe verteile, den Vorderbeinen der Vierfüssler und sondern in einem einzigen dann umso dem Elefantenrüssel war bereits die Re- kräftiger ausgebildeten Wehrorgan kon- de. Allgemein gilt zwar das mehrfach mit

34 Aristoteles, De partibus animalium 3, 14. 675 a 5ff. 35 Aristoteles, De partibus animalium 3, 1. 661 b 22ff. 36 Aristoteles, De partibus animalium 3, 2. 662 b 30ff., 663 a 17f. 37 Aristoteles, De partibus animalium 4, 12. 694 a 23ff. 38 Aristoteles, De partibus animalium 2, 9. 655 a 23ff.

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der prägnanten Formel „Eines zu einem“ sächlich von der Mücke auf den Elefan- bezeichnete Prinzip, dass ein Organ wie ten: Da diese schwächeren zweiflügligen jedes handwerkliche Werkzeug jeweils Insekten schon mit ihrem Vorderteil nur nur zu einer Funktion dienen solle39; aber mit einiger Mühe zu stechen vermöchten, diese Regel hat mancherlei Ausnahmen. geschweige denn mit dem Hinterteil, ha- Schon beim Menschen dienen ja Lippen, be die Natur bei diesen die Zunge zu- Zähne und Zunge neben der Nahrungs- gleich zum Stachel ausgebildet. Da heisst aufnahme auch der Sprache. Einmal sagt es: „Wie bei den Elefanten das Geruchs- Aristoteles recht anschaulich, wo es mög- organ zugleich zur Abwehr der Feinde lich sei, verschiedene Organe für ver- und zum Aufgreifen der Nahrung brauch- schiedene Funktionen einzusetzen, da bar geworden ist, so bei einigen Insekten pflege die Natur nichts Derartiges zu ma- der vorn angeordnete Stachel: Denn mit chen wie die Schmiede um des geringe- ihm nehmen sie zugleich die Nahrung ren Aufwands willen das obeliskolych- wahr, greifen sie diese auf und führen sie nion, wörtlich: den „Bratspiessleuchter“ – sich zu.“41 ein militärisches Ausrüstungsstück, das Ein weiteres Prinzip aus der Firmen- sowohl als Bratspiess verwendet als auch, philosophie der Aristotelischen Natur be- später am Abend, mit der Spitze in den trifft – erstaunlich aktuell – den sparsamen Boden gesteckt, als Lampenständer ge- Umgang mit kostbaren Ressourcen und braucht werden konnte. Aber wo dies das Recycling von Ausscheidungen. In nicht möglich sei, schränkt er sogleich der gelehrten embryologischen Schrift wieder ein, gebrauche die Natur ein und erklärt Aristoteles: „Wie ein guter Haus- dasselbe Organ auch einmal für zwei ver- halter – griechisch: ein guter oikonómos schiedene, einander nicht ausschliessen- – pflegt die Natur nichts wegzuwerfen, de Funktionen.40 Das Beispiel dieses woraus sich noch irgendetwas Brauchba- spitzigen „Bratspiessleuchters“ ist nicht res machen lässt.“42 Entsprechend ver- von ungefähr gewählt; es stammt aus wende sie bei der Embryonalentwicklung dem Kapitel zum Insektenstachel. Einige die reinsten Aufbaustoffe zunächst für die Insekten, lesen wir da, hätten Stachel zur feinsten Organe wie das Herz, das Fleisch Verteidigung gegen ihre Feinde, die und die Sinnesorgane, die Reste davon schwereren vierflügligen – wie die Bie- und die gröberen Aufbaustoffe für die nen und Wespen – anstelle des Schwan- Knochen, die Sehnen und die Haare, die zes, die leichteren zweiflügligen – wie die gröbsten schliesslich für die Krallen und Mücken – anstelle der Zunge. Und da die Hufe.43 Bei den Tintenfischen werde kommt Aristoteles – typisch für dieses die Ausscheidung der schwarzbraunen übergreifende prinzipielle Denken – tat- Sepia beim Angriff eines Feindes zwar in

39 Aristoteles, Politische Schriften 1, 2. 1252 b 1ff. 40 Aristoteles, De partibus animalium 4, 6. 683 a 22ff. 41 Aristoteles, De partibus animalium 4, 6. 682 b 33ff. 42 Aristoteles, De generatione animalium 2, 6. 744 b 16f. 43 Aristoteles, De generatione animalium 2, 6. 744 b 11ff.

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einer Schreckreaktion und damit lediglich deutet eben „Werk“ und weiter „Aufga- „aus Notwendigkeit“ ausgelöst; doch be, Leistung, Funktion“; das davon – mit selbst diese Ausscheidung nutze die Na- Ablaut – abgeleitete órganon bedeutet ei- tur noch zu einer sinnvollen Funktion: zur gentlich „Werkzeug“. Bereits Platon hatte Trübung des Wassers und damit zur Deck- mit diesem Wort vereinzelt von Sinnes- ung des Fluchtwegs.44 „Organen“, Sinnes-„Werkzeugen“, ge- Noch ein halbes Jahrtausend später sprochen, aber erst Aristoteles hat über- hat der römische Kaiser Marc Aurel in haupt alle Körperorgane als órgana, seinen „Worten an sich selbst“ diese Aris- „Werkzeuge“, betrachtet und bezeichnet totelische – und dann stoische – Natur als – als Werkzeuge in den Händen der alle eine Meisterin des Recycling gerühmt: Lebensprozesse steuernden physis oder, „Die Schreiner und Schuster haben einen wie er auch sagen konnte, der im Herzen Kehrichthaufen, wo sie ihre Späne und lokalisierten psyché, der „Seele“. Schnipsel hinwerfen können. Die allum- Einmal, wo ein solches Werkzeug nicht fassende Natur dagegen hat da draussen mehr sozusagen in den Händen der phy- nichts Weiteres mehr, sondern darin liegt sis, sondern vom Körper losgelöst und das Wunderbare ihrer Kunst – ihrer téch- ganz auf sich allein gestellt sein Werk zu ne: Indem sie sich so ringsum eingrenzt, verrichten hat, wird es frappierend inter- schlägt sie alles, was da drinnen zu ver- essant. In seiner embryologischen Schrift gehen, alt zu werden und zu nichts mehr wirft Aristoteles die Frage auf, wie der Sa- nütze scheint, in sich selbst um und bringt me, der sich doch vom Erzeuger voll- aus ebendiesen Dingen wieder anderes, kommen gelöst habe, die Artgestalt des Neues und Junges hervor. So bedarf sie Erzeugers auf den im Mutterleib heran- weder einer Zufuhr von draussen her, wachsenden Embryo übertragen könne. noch eines Komposthaufens, wo sie das – (Wir müssen hier bedenken, dass für Faulige hinwerfen könnte. Sie begnügt die Antike die Mutter zur Bildung des sich ganz mit dem Raum ihrer selbst, Embryos einzig den Nahrungsstoff bei- dem Stoff ihrer selbst und der ihr eigenen trägt.) – Aristoteles beantwortet die Fra- Kunst – der ihr eigenen téchne.“45 ge, wie der Same die Artgestalt des Er- Wir haben jetzt viel von Funktionen zeugers in sich tragen und so den ganzen und Organen gesprochen; da sei hier zielgerichteten Entwicklungsprozess des doch angemerkt, dass schon dieser ge- Embryos auslösen und steuern könne, auf läufige Begriff eines Körper-„Organs“ aus so kühne wie schlüssige Weise mit dem der Aristotelischen Vorstellung einer Modell eines mechanischen Spiel-Auto- „handwerkenden“ physis hervorgegan- maten, wie sie damals konstruiert, öffent- gen ist. Das griechische Wort érgon, ur- lich vorgeführt und allgemein bewundert sprünglich, ursprachlich (w)érgon, wurden. In dem Samen, der sich ja vom sprachverwandt mit unserem „Werk“, be- Erzeuger gelöst habe, müsse der gesam-

44 Aristoteles, De partibus animalium 4, 5. 679 a 24ff. 45 Marc Aurel, An sich selbst 8, 50, 2

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te embryonale Entwicklungsprozess in Abfolge der verschiedenen Bewegungen, der Art vorläufig noch ruhender, aber be- einmal angestossen, ohne jeden weiteren wegungsträchtiger Teile enthalten sein – Eingriff von aussen bis zum Abschluss man könnte da fast verdolmetschen: vor- der Vorführung ab. Der Naturprozess – programmiert sein –, so dass dieser gan- wie hier dieser Zeugungs- und Entwick- ze Prozess, wenn er erst einmal angestos- lungsprozess – erklärt anhand des Mo- sen und angelaufen sei, dann Schritt für dells eines solchen perfekt vorprogram- Schritt bis zu seinem Abschluss ablaufen mierten mechanischen Automaten: Näher könne. Das müsse geradeso sein wie bei konnte Aristoteles auch hier wieder dem den mechanischen „Automaten“, diesen treibenden, steuernden, prägenden Ge- „staunenswerten Wunder-Apparaten“ – nom nicht kommen. so, dass jede Bewegung jeweils die Neben derart grandioser Klarsicht ste- nächstfolgende und diese wieder die hen nicht minder grandiose Fehldeutun- nächstfolgende auslöse. Der dem Samen gen. Nicht wie Platon zuoberst im Hirn, – so wörtlich: – „innewohnende Bewe- sondern zuinnerst im Herzen hat Aristote- gungsablauf“ erzeuge den Embryo gera- les die „Akropolis“ des Körpers gesehen, deso wie der – im Kopf des Baumeisters den Sitz aller Seelen- und Lebensfunktio- vorweg konzipierte, vorweg program- nen und zugleich den Sitz der Lebens- mierte – Hausbau das Haus.46 wärme, den „Herd“, wie er einmal sagt, Wir können hier an den etwas später in dem die „Lebensglut der physis“ si- von dem Mechaniker Philon beschriebe- cher verwahrt liege.48 Die Atmung durch nen Theaterautomaten denken, dessen Lungen und Kiemen versteht Aristoteles – durch Gewichte angetriebene Automatik, wie hätte er’s auch besser wissen kön- einmal in Gang gesetzt, eine komplette nen? – als eine ständige Luft- beziehungs- audiovisuelle Tragödie in fünf Akten von weise Wasserkühlung dieses Wärmespei- der lautstarken Schiffszimmerei der Grie- chers49; im Hirn sieht er nichts als einen chen vor Troja am Anfang, mit diversen dem zugeordneten temperierenden Käl- Auftritten und Abgängen und mit Vorhän- tespeicher, was nebenbei, wegen des ho- gen zwischen den Szenen, bis zu See- hen Masses an Wärme beim Menschen, sturm, Blitz und Donner samt Deus ex die entsprechende Grösse unseres Hirns machina am Ende vollautomatisch ablau- und die Dichte unseres – als Hitzeschild fen liess.47 Auch bei diesen staunenswer- wirkenden – Kopfhaars erkläre.50 Im Blut ten Theaterautomaten, erklärt Aristoteles, sieht Aristoteles eine gleicherweise für laufe ja die gesamte vorgängig eingerich- die Ernährung aller Organe fertig aufbe- tete – sozusagen: vorprogrammierte – reitete, vom Herzen aus durch die Adern

46 Aristoteles, De generatione animalium 2, 1. 734 b 4ff. 47 Heron, Automatenbau 20ff.; der Ablauf ist ausführlicher beschrieben in: Klaus Bartels, Internet à la Scipio. Neue Streif- lichter aus der Antike, Zürich 2004, Seite 102ff. 48 Aristoteles, De partibus animalium 3, 3. 665 a 9ff. und 3, 7. 670 a 22ff. 49 Aristoteles, De respiratione 16. 478 a 26ff. 50 Aristoteles, De partibus animalium 2, 7. 652 b 16ff. und 653 a 27ff.; 2, 14. 658 b 2ff.

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im ganzen Körper verteilte Nährlösung.51 „von selbst“, geworden und auch wieder Merkwürdig mutet uns an, dass dieser vergangen ist, dort die kultivierte Welt, grosse Denker nicht nur alles Wahrneh- wie der Mensch sie sich – mit Ciceros men und Empfinden, sondern auch alles eingangs zitiertem Wort – als seine Denken im Herzen lokalisiert hat. Da mö- „zweite Natur“ darin geschaffen hat. gen wir uns verwundert fragen, woran Geben wir zum Schluss dem alten und wie wir eigentlich spüren – oder zu Zoologen selbst noch einmal das Wort, zu spüren meinen –, wo wir unsere Wahr- dem „kräftig Wörtchen“, mit dem er in nehmungen zu einem Bild der Welt zu- der Einleitung zu seiner zoologischen Vor- sammensetzen, wo wir uns freuen oder lesung für die neue Wissenschaft wirbt. uns ärgern, wo wir unsere mehr oder we- Nicht ohne Stolz und Anspruch hebt Ari- niger vernünftigen Gedanken haben ... stoteles da die junge, noch ihre Schüler Im alltäglichen Sprachgebrauch ist die suchende Zoologie von Platons Parade- bildhafte Vorstellung einer „handwerken- wissenschaft, der Astronomie, ab. „Bei- den Natur“, die dieses oder jenes tut, des“, beginnt er da, „hat seinen Reiz“ .52 durchaus lebendig geblieben. Doch aus Die Himmelsbetrachtung habe, so einge- dem Blickpunkt der Wissenschaft sieht schränkt die Beobachtungen und so eng Klopstocks Anrufung, am Anfang seiner begrenzt die Erkenntnisse da auch seien, Ode „An den Zürchersee“, „Schön ist, doch den Vorrang ihres ungewordenen, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht ...“ unvergänglichen, göttlichen Gegenstan- heute ziemlich alt, ja geradezu antik aus. des für sich; die Erforschung der ver- Dafür ist die „Natur“ angesichts der uner- gänglichen Tiere und Pflanzen habe dem- hörten Akzeleration und Globalisierung gegenüber die grössere Weite und Fülle des Kulturprozesses zu einem geschliffe- der Erkenntnisse auf ihrer Seite, und mit nen politischen Hieb- und Stichwort ge- ihrer Nähe zu uns selbst, zu unserer eige- worden. Neu steht jetzt nicht mehr eine nen menschlichen physis, habe sie ingeniös gestaltende irgendwie göttliche gegenüber jener Erforschung des Gött- physis einer geradeso ingeniös gestalten- lichen durchaus einen Tauschwert zu bie- den menschlichen téchne, sondern nun ten. Die gleich darauf folgenden Sätze eine bedrängte, leidende Natur einem richten sich an die studentische Jugend längst nicht mehr bloss handwerklich zu jenes verwöhnten 4. Jahrhunderts v. Chr., Werke gehenden Homo faber gegen- die sich, wenn schon für irdisches Getier, über. Es leuchtet ein, wie jene Aristoteli- dann doch eher für Rennpferde und Jagd- sche Scheidung in eine Welt der Natur, hunde als für Mollusken und Insekten be- der physis, und eine Welt der Technik, geisterte: der téchne, dem aktuellen ökopolitischen „Wenn wir nun über die in den Tierge- Diskurs zupass kommt: Hier die natürli- stalten wirkende physis – griechisch: die che Welt, wie sie seit eh und je von Natur, zoiké physis – sprechen, wollen wir nach

51 Das Blut als „letzte – d. h. weitestgehend aufbereitete – Nahrung“: Aristoteles, De partibus animalium 4, 4. 678 a 6ff. 52 Aristoteles, De partibus animalium 1, 5. 644 b 31

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Möglichkeit keine Gattung beiseite las- Zweisprachige Ausgaben der zoologischen sen, sei sie nun geringeren oder höheren Hauptwerke finden sich in der Loeb Clas- sical Library, Cambridge/Massachusetts Ranges. Denn auch bei den Tieren, die für und London: Aristotle, Parts of animals, unsere Sinneswahrnehmung durchaus with an English translation by A. L. Peck, nichts Angenehmes an sich haben, hält Generation of animals, with an English dennoch die handwerkende Natur – (hier translation by A. L. Peck, Historia animali- findet sich die kühne Prägung) – schier um, with an English translation by A. L. Peck; überwältigende Freuden bereit –, jeden- sowie in der Collection Budé, Paris: Aristote, falls für den Betrachter, der sich jeweils Les parties des animaux, Texte établi et die Gründe zu erklären vermag und von traduit par Pierre Louis; De la génération Natur – griechisch: physei – wissenschaft- des animaux, Texte établi et traduit par liche Erkenntnis sucht. ... Daher darf man Pierre Louis; Histoire des animaux, Texte établi et traduit par Pierre Louis. nicht auf kindische Weise Widerwillen Eine deutsche Übersetzung der Vergleichen- empfinden gegen die Untersuchung der den Morphologie samt ausführlichem Gattungen geringeren Ranges. Denn al- Kommentar liegt in der Gesamtausgabe lem Natürlichen wohnt etwas Staunens- der Werke des Aristoteles im Akademie wertes inne. Da gilt das Wort, das Heraklit Verlag vor: Aristoteles, Über die Teile der Tiere, übersetzt und erläutert von Wolf- den Fremden zurief, die ihn besuchen gang Kullmann, Berlin 2009. wollten und beim Herankommen sahen, Zur Einführung sei empfohlen: Ingemar dass der Philosoph sich gerade an sei- Düring, Aristoteles. Darstellung und Inter- nem Badeofen aufwärmte. Als die draus- pretation seines Denkens, Heidelberg sen stehen blieben, forderte er sie auf, 1966, S. 514-553: „Der Sekretär der Natur“. doch ungeniert und guten Muts einzutre- ten, denn auch da drinnen in der Bade- stube gebe es Götter. So muss man auch an die Untersuchung jeder einzelnen Tiergestalt ohne Naserümpfen herange- Zur Person des Autors hen, im Vertrauen darauf, dass in ihnen al- len etwas Natürliches und damit etwas Prof. Dr. phil. Klaus Bartels, Klassischer Schönes zu finden ist.“53 Philologe, lebt in Kilchberg bei Zürich. Für seine jahrzehntelang laufenden Zeitungsru- briken in der „Neuen Zürcher Zeitung“ u. Notiz für Aristoteles-Leser: a., sein Standardwerk „Veni vidi vici. Geflü- gelte Worte ...“ (14. Auflage 2013) und die Zur Zitierweise: Die Schriften des Aristoteles zweisprachige Sammlung „Roms spre- werden zitiert mit Buch und Kapitel und chende Steine. Inschriften aus zwei Jahrtau- zusätzlich mit Seite, Spalte (a oder b) und Zeile der 1831 erschienenen Gesamtaus- senden“ (4. Auflage 2012) wurde er 2004 gabe von Immanuel Bekker. mit dem Jahrespreis der „Stiftung für

53 Aristoteles, De partibus animalium 1, 5. 645 a 5ff. und 15ff.

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Abendländische Ethik und Kultur“ ausge- Wissenschaft sind aus der Zitatensamm- zeichnet. Die Zitate zum Werkzeugge- lung „Jahrtausendworte – in die Gegen- brauch und zum Rang der zoologischen wart gesprochen“ (2011) übernommen.

Prof. Dr. Klaus Bartels Gottlieb Binder-Straße 9 CH-8802 Kilchberg ZH [email protected]

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Werner-Rathmayer-Preis der Deutschen Zoologischen Gesellschaft

Der diesjährige Werner-Rathmayer- Preis der Deutschen Zoologischen Gesell- schaft wurde Herrn Thomas Lindner zu- gesprochen. Der Preisträger wurde beim 50. Bundeswettbewerb der Stiftung Jugend forscht 26. - 29. Mai 2015 in Lud- wigshafen ermittelt. Thomas Lindner ist 20 Jahre alt und kommt vom Willibald-Gluck- Gymnasium in Neumarkt. Der Preis ist mit 500 Euro dotiert und mit einer Einladung auf die Jahrestagung der DZG 2015 in Graz verbunden, wo der junge Forscher Gelegenheit hat zu Kontakten mit Fachkol- legen.

Der Titel der eingereichten Arbeit war: „Der Nachahmungseffekt bei Poecilia win- gei“ Thomas Lindner schreibt zur Aus- gangssituation für seine Arbeit: “Das Wort Guppy ist wohl den meisten Thomas Lindner mit Professor Carsten Duch und der Preisträgerin der Neurowissenschaft- Menschen geläufig ... Bei dieser weit ver- lichen Gesellschaft, Theresa Angles, bei der breiteten Art handelt es sich allerdings Preisverleihung in Ludwigshafen. meist um den gewöhnlichen Guppy, ... Poe- cilia reticulata, und nicht um die bei uns schen] Effekt, bei dem ein Individuum kei- deutlich seltener anzutreffenden Endler- ne eigene und von Dritten völlig unabhän- guppys (Poecilia wingei), welche Gegen- gige Wahl für einen potentiellen Ge- stand der vorliegenden Arbeit sind. Wäh- schlechtspartner trifft, sondern durch die rend gewöhnliche Guppys... schon recht Beobachtung einer Präferenz eines ande- gut erforscht sind, ist dies bei Endlergup- ren gleichgeschlechtlichen Individuums, pys, nicht zuletzt weil sie erst seit einigen welches in der Regel derselben Art ange- Jahren als eigenständige Art geführt wer- hört, für einen Sexualpartner beeinflusst den (Poeser et.al ., 2005), noch völlig an- wird und jene Präferenz zum Teil oder so- ders. ... gar vollständig übernimmt. ... Unter dem Begriff ‚Nachahmungseffekt’ Die Gattung Poecilia ist in Bezug auf versteht man einen [verhaltensbiologi- den Nachahmungseffekt eines der am be-

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sten, wenn nicht sogar das am besten er- während der Entscheidungsphase im forschte Taxon im gesamten Tierreich...... zweiten Durchgang ein weiteres Weib- Bei der Art Poecilia wingei war der Nach- chen zusammen im Acrylbehälter mit ahmungseffekt allerdings noch nicht unter- dem vorher weniger bevorzugten Männ- sucht worden.“ chen. Dieses „Modelweibchen“ wird vor der Dokumentationsphase wieder ent- Thomas Lindner übernimmt die von fernt. Die Versuchsergebnisse erbrachten, Dugatkin und Godin (1992) bereits für dass die Testweibchen nun entweder ihre Poecilia reticulata eingesetzte Versuchs- Entscheidung zugunsten des vorher we- anordnung mit Modifikationen, die den niger bevorzugten Männchens änderten Weibchen noch größere Bewegungsfrei- oder zumindest diesem höhere Aufmerk- heit ermöglicht. Zu Versuchsbeginn befin- samkeit schenkten, ausgedrückt durch det sich ein Testweibchen optisch und signifikant höhere Verweildauer in dessen mechanisch isoliert zwischen zwei Gup- Nähe. Thomas Lindner folgert daraus, pymännchen, d. h. jedes Tier befindet „dass der weibliche, intraspezifische Nach- sich im Aquarium in separaten Acrylbe- ahmungseffekt bei Poecilia wingei als ein- hältern; dazwischen befinden sich Sicht- deutig nachgewiesen angesehen werden blenden. Während einer ‚Entscheidungs- muss.“ phase’ werden die Sichtblenden entfernt, das Weibchen kann beide Männchen op- tisch „begutachten“. In der darauf folgen- den ‚Dokumentationsphase’ wird das Literatur Weibchen aus seinem Acrylbehälter ent- Dugatkin, L.A., Godin, J.-G.J. (1992) Reversal of nommen und kann nun frei die beiden female mate choice by copying in the Männchen, die in ihren Acrylbehältern guppy (Poecilia reticulata). Proc. Roy. Soc. bleiben, umschwimmen. Gemessen wird Lond. B. 249, 179-184. die Zeit, die nun das Weibchen in der Nä- Poeser, F. N., Kempkes, M., Isbrücker, I.J.H. (2005) Description of Poecilia (Acan- he von Männchen 1 verbringt im Ver- thophacelus) wingei n. sp. from the Paría gleich zur Zeit in der Nähe von Männchen Peninsula, Venezuela, including notes on 2. Im ‚Referenzversuch’ folgt hierauf ein Acanthophacelus Eigenmann, 1907 and zweiter Durchgang mit dem gleichen other subgenera of Poecilia Bloch and Schneider, 1801 (Teleostei, Cyprinodonti- Weibchen und identischem Ablauf. Im formes, Poeciliidae). Contrib. Zool., 74, 97- ‚Testversuch’ befindet sich dann aber 115.

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Das neue Tierschutzgesetz und seine möglichen Auswirkungen auf die tierexperimentelle Forschung

Martin Singheiser und Hermann Wagner

Nur wenige Themen lösen in der Be- wir kurz die aktuelle Gesetzgebung vor völkerung so emotionale Diskussionen und beschreiben wichtige Änderungen aus wie das Thema Tierversuche. Einige dieser Gesetzgebung, die bei der Durch- möchten Tierversuche am liebsten sofort führung von Tierversuchen in Deutsch- komplett verbieten, während andere dar- land im Vergleich zu früheren Vorhaben auf hinweisen, dass mit Tierversuchen zu beachten sind. viele Erkenntnisse gewonnen werden können, die als Grundlagenforschung un- Aktuell gültige Gesetze und Verordnungen ser Wissen mehren und in der ange- Die EU-Richtlinie 2010/63/EU erforderte wandten, translationalen Forschung neue eine Überarbeitung des Deutschen Tier- Möglichkeiten für Therapien schaffen. schutzgesetzes (TierSchG), welche im Dieser Zwiespalt zwischen den beiden Dritten Gesetz zur Änderung des Tier- Positionen lässt sich auch in der EU schutzgesetzes in der Bekanntmachung Richtlinie zum Schutz der für wissen- vom 4. Juli 2013 in Kraft trat. Aufgrund der schaftliche Zwecke verwendeten Tiere darin enthaltenen Verordnungsermächti- (2010/63/EU) erahnen, in welcher in Satz gungen hat das zuständige Bundesministe- 10 der Präambel das Ziel genannt wird, rium für Ernährung und Landwirtschaft wissenschaftliche Verfahren mit lebenden (BMEL, ehemals BMELV) in Abstimmung Tieren für Forschungs- und Bildungs- mit dem Bundesministerium für Bildung zwecke vollständig zu ersetzen, sobald und Forschung (BMBF) und mit Zustim- dies wissenschaftlich möglich ist. Des mung des Bundesrates weiterführende Re- Weiteren wird konsequenterweise eine gelungen zur Verwendung von Versuchs- Weiterentwicklung alternativer Ansätze tieren zu wissenschaftlichen Zwecken in zum Tierversuch gefordert. Diese sehr zu Form der Tierschutzversuchstierverord- unterstützenden Forderungen sollten nung (TierSchVersV) erlassen. Das Tier- allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, schutzgesetz und die Tierschutzversuch- dass nach Meinung vieler Experten und stierverordnung enthalten die zentralen auch nach unserer Meinung zum jetzigen Vorgaben für die im Bereich tierexperimen- Zeitpunkt auf Tierversuche nicht gänzlich teller Forschung tätigen Personen. Wichti- verzichtet werden kann, da beispiels- ge Richtlinien und Verordnungen beim Ar- weise systemische Vorgänge noch nicht beiten mit Versuchstieren sind zudem: mit alternativen Ansätzen erforscht wer- • die Richtlinie 2010/63/EU des Europäi- den können. In folgendem Artikel stellen schen Parlaments und des Rates vom

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22. September 2010 zum Schutz der Genehmigung und Anzeige von Tierversu- für wissenschaftliche Zwecke verwen- chen deten Tiere inklusive der Anhänge I bis Der Begriff Tierversuch im Sinne des VIII Gesetzes wird in §7(2) (TierSchG) defi- • die Verordnung über die Meldung zu niert. Hier soll nur erwähnt werden, dass Versuchszwecken verwendeter Wirbel- das Töten eines Tieres, soweit dies aus- tiere oder Kopffüßer oder zu bestimm- schließlich erfolgt, um dessen Organe ten anderen Zwecken verwendeter oder Gewebe zu wissenschaftlichen Wirbeltiere vom 12.12.2013 (VersTier- Zwecken zu verwenden, nicht als Tierver- MeldV) such gilt. In §8 und §8a (TierSchG) wird • das Gesetz zur Regelung der Gentech- festgelegt, welche Tierversuche genehmi- nik (Gentechnikgesetz) sowie die wei- gungspflichtig und welche anzeigepflich- tere Ausführung des Gesetzes in der tig sind. Grundsätzlich gilt für Vorhaben, Verordnung über die Sicherheitsstufen in denen Wirbeltiere oder Kopffüßer ver- und Sicherheitsmaßnahmen bei gen- wendet werden, die Genehmigungs- technischen Arbeiten in gentechni- pflicht. Für Embryonen gelten Sonderre- schen Anlagen (Gentechnik-Sicher- gelungen gemäß §14 TierSchVersV: heitsverordnung – GenTSV), welche den Umgang mit transgenen Tieren re- Versuchsvorhaben sind dann genehmi- geln gungs- bzw. anzeigenpflichtig, wenn in ih- • das Gesetz über den Verkehr mit Arz- nen entweder Larven von Wirbeltieren, neimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG) die in der Lage sind, selbstständig Nah- vom 12. Dezember 2005, zuletzt geän- rung aufzunehmen, oder Föten von Säu- dert am 17. Dezember 2014 gern, die sich im letzten Drittel ihrer nor- • das Gesetz über den Verkehr mit Be- malen Entwicklung vor der Geburt täubungsmitteln (Betäubungsmittelge- befinden, verwendet werden. Zudem trifft setz – BtMG) vom 1. März 1994 zuletzt diese Genehmigungs- oder Anzeige- geändert am 5. Dezember 2014. Para- pflicht auf Wirbeltiere zu, die „in einem graph 3 des BtMG legt fest, dass zum Entwicklungsstadium vor der Geburt Umgang mit Betäubungsmitteln eine oder dem Schlupf verwendet werden Betäubungsmittelerlaubnis notwendig oder verwendet werden sollen, wenn die ist, die von der Bundesopiumstelle im Tiere über dieses Entwicklungsstadium Bundesinstitut für Arzneimittel und Me- hinaus weiterleben sollen und nach der dizinprodukte erteilt wird. Diese Er- Geburt oder dem Schlupf infolge der laubnis ist nicht nur für die Lagerung Verwendung voraussichtlich Schmerzen sondern auch den Einsatz der Betäu- oder Leiden empfinden oder Schäden er- bungsmittel für Forschungszwecke not- leiden werden“ (§14 (2) TierSchVersV). wendig und wird der jeweiligen Be- Eine wichtige Änderung gegenüber triebsstätte für den benötigten Umfang der vorherigen Rechtslage besteht nun des Betäubungsmittelverkehrs erteilt. darin, dass zu den genehmigungspflichti- gen Versuchen ab jetzt nicht nur Tierver-

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suche in der Forschung, sondern auch Antrages unverzüglich eine Empfangsbe- Tierversuche in der Lehre gehören kön- stätigung auszustellen und den Antrag auf nen. In §8a TierSchG sind diejenigen Ver- Vollständigkeit zu prüfen. Falls der Antrag suchsvorhaben aufgelistet, für die keine unvollständig ist, ist dies dem Antragstel- Genehmigungspflicht, sondern nur eine ler ebenfalls unverzüglich mitzuteilen. Ei- Anzeigepflicht besteht. Die Genehmigung ne weitere relevante Neuerung in der ak- erfolgt entweder zentral durch eine Lan- tuellen Gesetzesform betrifft die initiale desbehörde oder über die Regierungs- Genehmigungsdauer eines Tierversu- präsidien oder Bezirksregierungen. Ist ches, die von drei Jahren auf fünf Jahre mit Versuchen an Tieren eine Tierhaltung ausgedehnt wurde, während zuvor die verbunden, so muss auch diese geneh- dreijährige Genehmigung zwei Mal um je migt werden (§11 TierSchG) und zwar un- ein Jahr auf maximal fünf Jahre verlängert abhängig davon, ob eine Genehmigungs- werden konnte. Ist die Genehmigung auf bzw. Anzeigepflicht besteht oder ob die- weniger als fünf Jahre erteilt worden, so se Tiere ausschließlich zur Organentnah- ist sie auf, auch formlosen, mit Gründen me zu wissenschaftlichen Zwecken be- versehenem Antrag höchstens zweimal stimmt sind. Die Genehmigung für die um jeweils bis zu einem Jahr zu verlän- Tierhaltung erfolgt durch die lokalen Ve- gern, sofern dadurch die Gesamtdauer terinärämter, die als Aufsichtsbehörde von fünf Jahren nicht überschritten wird. auch die Überwachungsfunktion für die Eine weitere Neuerung betrifft die ordnungsgemäße Durchführung der Tier- Ausdehnung des Begriffs Tierversuche versuche innehaben. Für Tierversuche auf Verfahren, welche die Erzeugung ei- besteht eine Dokumentationspflicht (§9 ner neuen genetischen Linie zum Ziel ha- (5) TierSchG und § 29 TierSchVersV). Die ben, unabhängig davon, ob diese aus Behörde kann jederzeit unangemeldet züchterischen oder gentechnischen Maß- die Einrichtung inspizieren und die ver- nahmen entstanden ist. Somit wird für pflichtenden Aufzeichnungen einsehen. diesen Schritt ebenfalls ein Tierversuchs- Das Genehmigungsverfahren hat sich antrag benötigt, wenn nicht auszuschlie- mit dem neuen Tierschutzgesetz deutlich ßen ist, dass Tiere aus diesen Linien ge- geändert. So wurde die Genehmigungs- boren werden, die Schmerzen, Leiden fiktion abgeschafft, also die automatische oder Schäden erleiden können. Zudem Genehmigungserteilung, wenn sich die hat eine Belastungsabschätzung für neue zuständige Behörde nicht innerhalb einer Linien zu erfolgen. Weitere Informationen festgelegten Frist nach Antragseinrei- finden sich auf folgender Webpage: chung äußerte. Gleichzeitig wurde die (http://www.bfr.bund.de/cm/343/beurtei- Bearbeitungsfrist für die Behörde von 3 lung-der-belastung-genetisch-veraender- Monaten (circa. 60 Arbeitstage) auf 40 Ar- ter-tiere.pdf). beitstage reduziert, die gemäß §32 der TierSchVersV einmalig um bis zu 15 Ar- Wer darf Tierversuche durchführen? beitstage verlängert werden kann. Die Nach der TierSchVersV dürfen laut §16 Behörde ist verpflichtet, bei Eingang des Tierversuche an Wirbeltieren und Kopffü-

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ßern nur von Personen durchgeführt wer- gung benötigen. Die Ausnahmegenehmi- den, die über die in der Anlage 1, Ab- gung wird in der Regel erteilt, wenn eine schnitt 3 aufgeführten Kenntnisse verfü- entsprechende Weiterbildung, wie bei- gen. Hierzu zählen beispielsweise die spielsweise die erfolgreiche Teilnahme an geltenden Rechtsvorschriften, Grundla- einem Kurs nach Anhang 1 Abschnitt III gen der artspezifischen Biologie der Tie- TierSchVersV (vormals FELASA Kategorie re sowie Grundwissen über das Verhalten B) nachgewiesen wird, der einschlägige und Haltungsanforderungen, aber auch Fähigkeiten vermittelt. ethische und medizinische Kenntnisse, Bei der Durchführung von Tierversu- die Schmerzen, Leiden und Schäden bei chen durch das Personal werden oft fol- den Tieren rechtzeitig erkennen lassen. gende Kategorien unterschieden: a) un- Darüber hinaus dürfen Tierversuche nur ter Anleitung (dies bedeutet, dass eine von Personen mit einem abgeschlosse- Person im gleichen Raum anwesend sein nen Hochschulstudium der Veterinär-, muss, die eine Erlaubnis (=Sachkunde) Human- oder Zahnmedizin durchgeführt besitzt), b) unter Aufsicht (es muss eine werden. Personen mit einem abgeschlos- entsprechende Person in Rufnähe sein), senen naturwissenschaftlichen Hoch- c) nach Anweisung (jemand arbeitet schulstudium oder einer abgeschlosse- nach einem fest vorgegebenem Schema) nen Berufsausbildung müssen die und d) selbständig. Das Tierschutzgesetz erforderlichen Kenntnisse und Fähigkei- sieht eine abgeschlossene Berufsausbil- ten nachweisen und gegebenenfalls die dung als Voraussetzung für tierexperi- Erteilung einer Ausnahmegenehmigung mentelles Arbeiten vor. Deshalb dürfen beantragen. Versuche, bei denen es zu z.B. Bachelorstudierende oder Medizin- operativen Eingriffen kommt, dürfen nur studierende in ihren Abschlussarbeiten von Personen mit einem abgeschlosse- nicht selbständig Tierversuche durch- nem Hochschulstudium der Veterinär-, führen. Diese Arbeiten gelten als eigene Human- oder Zahnmedizin ausgeübt wer- wissenschaftliche Tätigkeiten, die nicht den oder „von Personen mit einem abge- zur Lehre im engeren Sinne gezählt wer- schlossenem naturwissenschaftlichen den. Diese Studierenden müssen zu- Hochschulstudium oder einer Weiterbil- nächst unter Anleitung arbeiten (siehe dung im Anschluss an ein naturwissen- oben). Es bleibt die Hoffnung, dass Per- schaftliches Hochschulstudium, sofern sie sonen ohne Studienabschluss, aber mit nachweislich die erforderlichen Kennt- den nötigen und nachgewiesenen Kennt- nisse und Fähigkeiten haben“ (§16 nissen, in Zukunft nach Erteilung einer TierSchVersV). Es soll darauf hingewie- Ausnahmegenehmigung zumindest un- sen werden, dass sich mit der Gesetzes- ter Aufsicht bzw. nach Anweisung (Defi- novellierung die Situation für Naturwis- nitionen siehe oben) arbeiten dürfen. senschaftlerinnen und Naturwissen- Ob dazu dann auch Versuche zählen, die schaftler, die in Zukunft einen Abschluss eine Narkose beinhalten, bleibt abzu- in Zoologie erwerben, verschlechtert hat, warten. Hier ist die Sachlage zur prakti- weil diese nun eine Ausnahmegenehmi- schen Durchführung solcher Arbeiten

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zum jetzigen Zeitpunkt (Mai 2015) unse- wie zumindest Schmerzen, Leiden und res Wissens noch nicht vollständig ge- Schäden der Versuchstiere verringert klärt. werden können (Refinement). So können Alle Personen, die an tierexperimentel- beispielsweise durch entsprechende Nar- len Arbeiten teilnehmen, müssen sich re- kosemethoden und analgetische Verfah- gelmäßig fortbilden. In der Schweiz wer- ren die Schmerzen der Versuchstiere re- den hier acht Stunden pro Jahr verlangt, duziert werden und dadurch die Be- während es in Deutschland bisher keine lastung der Tiere ebenfalls verringert Zeitvorgabe gibt. werden. Eine weitere Methode des Refi- nement ist das Konditionieren von Ver- Planung von Tierversuchen und die suchstieren an regelmäßig ablaufende Konzepte der 3R Behandlungsvorgänge und –routinen, wie Tierversuche sind auf das absolut un- die das Einfangen oder Wiegen vor dem erlässliche Maß zu beschränken. Hier Versuch. spielen die Prinzipien der 3R eine we- sentliche Rolle, die im Jahr 1959 von Willi- Belastungsabschätzung/Schweregrade von am Russel und Rex Burch in ihrer Arbeit Verfahren und Score Sheets The Principles of Humane Experimental Der Belastungsabschätzung der Ver- Technique erstmals erwähnt worden sind. suchstiere kommt in allen relevanten Ge- Unter den 3R versteht man die Schlag- setzen und Verordnungen eine besondere wörter Reduction, Replacement und Refi- Bedeutung zu. Die Belastung der Tiere ist nement. Als Reduction bezeichnet man ei- nicht nur für das eigentliche Versuchsvor- ne Verringerung der Anzahl der verwen- haben zu beachten, sondern gilt für alle deten Versuchstiere. Dies verlangt von Aspekte des Versuches und schließt auch den Antragstellerinnen und Antragstellern Haltung und Zucht mit ein. Die Belastung eine sorgfältige biometrische Planung der ist auf das unerlässliche Maß zu be- Versuche. Durch eine Fallzahlberechnung schränken. Dem übergeordnetem Begriff (Power Calculation) wird dabei ermittelt, der Belastung lassen sich juristisch die wie viele Tiere verwendet werden müs- schon erwähnten drei Untergruppen ab- sen, um ein statistisch signifikantes Er- grenzen, die von Lorz und Metzger in ih- gebnis zu erhalten. Das angestrebte Ziel rer 6. überarbeiteten Auflage des Kom- der „Reduction“ beinhaltet aber auch die mentars zum Tierschutzgesetz von 2008 Gefahr, dass Studien auf Grund von zu sinngemäß umschrieben worden sind: wenig verwendeten Tieren nicht aussage- Schmerz (subjektive unangenehme sen- kräftig sind (s. http://www.nature.com/ sorische und gefühlsmäßige Erfahrung, news/uk-funders-demand-strong-stati- die sich nicht einheitlich erfassen lässt stics-for-animal-studies-1.17318). Zudem und die bei unterschiedlichen Versuch- muss im Genehmigungsantrag begründet stieren auf unterschiedliche Arten im Ver- werden, warum das Versuchsziel nicht mit halten erkannt werden kann), Leiden – anderen und alternativen Methoden (Re- auch als „Distress“ bezeichnet – (psychi- placement) erreicht werden kann oder sches Unwohlsein, welches auch schmerz-

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unabhängige Gefühle des Tieres mit ein- Schweregrade von Versuchen schließt, die dem intrinsischen Verhalten Eine erneute Verwendung von Ver- der Tiere entgegengesetzt sind und die suchstieren im Sinne der Reduktion und beispielsweise durch eine nicht artge- unter Anwendung der 3R ist in Verfahren rechte Haltung oder Ernährung ausgelöst nur unter bestimmten Bedingungen er- werden können) sowie Schäden (Beein- laubt, bei denen der Schweregrad der trächtigung der körperlichen und seeli- durchgeführten Versuche zu berücksichti- schen Unversehrtheit). gen ist. So können Tiere nur erneut in Es soll angemerkt werden, dass es Verfahren verwendet werden, wenn der zurzeit keine allgemein gültigen Definitio- tatsächliche Schweregrad des vorherigen nen zur Belastung gibt. Der Anhang VIII Verfahrens als gering oder mittel einge- der Richtlinie 2010/63/EU gibt hier nur all- stuft war, sowie der allgemeine Gesund- gemeine Beispiele. Den Anträgen müssen heitszustand des Tieres wieder vollstän- Belastungstabellen und als Score-Sheets dig hergestellt ist. Zudem müssen eine bezeichnete Übersichtstabellen beigefügt tierärztliche Empfehlung und eine be- werden, die eine Einschätzung des Zu- hördliche Genehmigung für den wieder- standes eines Tieres anhand verschiede- holten Einsatz des Tieres vorliegen. In zu- ner, vor dem Versuch festgelegter, Para- künftigen Verfahren muss zudem der meter erlauben und jeweils eine Hand- Schweregrad gering, mittel, schwer oder lungsanweisung festlegen. Diese Parame- keine Wiederherstellung der Lebensfunk- ter sollten sowohl physiologische als auch tion eingehalten werden. Für eine Beurtei- Verhaltensparameter beinhalten, welche lung und Zuordnung der Schweregrade je nach Schweregrad eine unterschiedli- bietet die EU-Richtlinie 2010/63/EU im che Gewichtung erhalten. Je stärker ein Anhang VIII eine Hilfestellung an, die hier Parameter das Wohlergehen des Versuchs- nur kurz erläutert werden soll. tieres beeinträchtigt, desto stärker wird Verfahren, die unter Vollnarkose dieser Parameter im Score-Sheet gewich- durchgeführt werden, aus der die Tiere tet. Wird je nach Gewichtung der aufge- nicht mehr erwachen (Akutversuch), wer- führten Punkte im Score-Sheet ein be- den als Versuche eingeordnet, bei denen stimmter, vorher festgelegter Wert über- es zu keiner Wiederherstellung der Le- schritten, so ist ein Abbruchkriterium zu bensfunktion kommt. definieren. Das Tier ist unter Umständen Ein Verfahren kann als von geringer einem Veterinär vorzustellen und gege- Schwere bewertet werden, wenn hierbei benenfalls zu euthanasieren. Da die Bela- zu erwarten ist, dass die Eingriffe nur stung artabhängig ist, müssen für jede Art kurzzeitige Schmerzen, Leiden oder spezifische Belastungskriterien entwickelt Schäden verursachen. Das Gleiche gilt, werden. Dies ist eine Aufgabe, an der wenn Verfahren angewandt werden, die sich Zoologinnen und Zoologen beteili- keine wesentliche Beeinträchtigung des gen können und sollten. Wohlergehens des Tieres darstellen. Un- ter einer geringen Belastung können

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nach der Richtlinie somit beispielsweise gesetzt sind, oder die eine schwere Be- eine Narkose, Applikationsformen wie einträchtigung des Wohlergehens und subkutane, intramuskuläre, intraperito- des Allgemeinzustandes hervorrufen, neale und intravenöse Injektionen oder sind sie als schwer einzustufen. Hierunter ein nicht-invasives bildgebendes Verfah- fallen beispielsweise eine Bestrahlung ren fallen. Aber auch die kurzfristige Ein- oder Chemotherapie mit einer tödlichen zelhaltung für bestimmte Messungen von Dosis ohne Wiederherstellung des Im- Tieren, die sonst ein ausgeprägtes Sozial- munsystems oder Toxizitätstests, bei de- verhalten aufweisen, stellt eine geringe nen der Tod als Endpunkt festgelegt ist Belastung für das Tier dar, obwohl gege- oder bei denen Todesfälle zumindest zu benenfalls kein direkter Eingriff am Tier erwarten sind. Aber auch die Applikation erfolgen muss. von Elektroschocks, denen das Tier nicht Verfahren, die eine mittlere Belastung entgehen kann, sowie eine vollständige für die Tiere aufweisen, zeichnen sich da- Isolierung über einen längeren Zeitraum durch aus, dass sie bei den Versuchstie- von geselligen Arten wie Hunden oder ren kurzzeitig mittelstarke Schmerzen, Primaten, sind als schwer anzusehen. mittelschwere Leiden oder lang andau- Für Versuche mit dem Belastungsgrad ernde geringe Schmerzen hervorrufen. schwer gilt gemäß §25 TierSchVersV eine Des Weiteren fallen hierunter auch Ver- besonders hohe Messlatte. Versuche, die fahren, die eine mittelschwere Beeinträch- zu länger anhaltenden und sich wieder- tigung des Allgemeinzustandes des Tie- holenden Schmerzen führen, die nicht ge- res erwarten lassen. Hierzu zählen häu- lindert werden können, dürfen nur in be- fige Verabreichungen von Substanzen mit sonderen Fällen durchgeführt werden, geringer oder mäßiger klinischer Wir- nachdem die Behörde hierfür eine Aus- kung, eine Blutentnahme von mehr als nahme gemacht hat. Zur Erlangung die- 10% des Blutvolumens ohne Anästhesie ser Ausnahme ist eine wissenschaftliche und entsprechendem Volumenersatz (bei- Begründung zur Unerlässlichkeit der Ver- spielsweise durch entsprechende Koch- suche notwendig, aus der hervorgehen salzlösungen), sowie chirurgische Eingrif- muss, dass die zu erwartenden Ergeb- fe unter Vollnarkose mit entsprechender nisse darauf hindeuten, dass sie für we- Analgesie. Aber auch das Auslösen von sentliche Bedürfnisse von Mensch oder mittelschweren Ängsten bei Tieren, denen Tier einschließlich der Lösung wissen- die Rückzugsmöglichkeit genommen schaftlicher Probleme von hervorragen- wurde, oder eine Futterdeprivation über der Bedeutung sein werden. Wird dieses zwei Tage bei Ratten fällt in die Definition Ziel nicht erfüllt, so dürfen diese Versuche einer mittleren Belastung. nicht durchgeführt werden. Werden Verfahren angewandt, in de- Bei der Einteilung der geplanten Ver- nen die Tiere erwartungsgemäß starken suche in eine Kategorie ist laut Anhang Schmerzen, schweren Leiden oder lange VIII Abschnitt II der EU-Richtlinie anhaltenden mittelschweren Schmerzen, 2010/63/EU zudem „jede Intervention mittelschweren Leiden oder Ängsten aus- oder Manipulation des Tieres im Rahmen

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eines bestimmten Verfahrens zu berück- sonderen Einschränkungen für diese gel- sichtigen. Sie basiert auf den schwerwie- ten. Eine zervikale Dislokation ist bei- gendsten Auswirkungen, denen ein ein- spielsweise für Nagetiere mit einem Ge- zelnes Tier nach Anwendung aller geeig- wicht von unter einem Kilogramm erlaubt; neten Verbesserungstechniken wiegen die Tiere aber über 150 g, so ausgesetzt sein dürfte.“ Somit müssen müssen sie vorher sediert werden. Eine hier gegebenenfalls auch die Arten von weitere erlaubte Tötungsmethode ist das Schmerz, Leiden und Schäden erfasst Töten unter Kohlenstoffdioxidexposition werden, denen ein Tier ausgesetzt ist, so- bei Nagetieren; sie darf aber nicht bei wie kumulatives Leiden während eines Föten und Neugeborenen angewendet Verfahrens. Aber auch die Verhinderung werden. Antragstellende müssen sich vor eines natürlichen Verhaltens, einschließ- der Versuchsgenehmigung kritisch mit lich der Einschränkungen bei der Haltung den zugelassenen Tötungsverfahren aus- und Unterbringung der Tiere, müssen bei einandersetzen und gemäß der Anlage 2 der Einteilung in eine Belastungskatego- der TierSchVersV das unter den gegebe- rie berücksichtigt werden. nen Bedingungen schonendste Verfahren wählen. Töten von Versuchstieren Auch das Töten von Versuchstieren Ausblick unterliegt strengen Reglementierungen Als mit Tieren Forschende sehen wir durch das Tierschutzgesetz und die eine ethische Verpflichtung sowohl dem TierSchVersV. Wirbeltiere und Cephalo- Tier als Mitgeschöpf als auch unseren poden dürfen unter Betäubung oder der Mitmenschen gegenüber. Wir unterstüt- sonst größtmöglichen Vermeidung von zen vollumfänglich die Prinzipien der 3R, Schmerzen und Leiden von Personen ge- sind aber der Meinung, dass auf abseh- tötet werden, die hierfür über die notwen- bare Zeit auf Tierversuche nicht gänzlich dige Sachkunde verfügen. Während der verzichtet werden kann. Diese Meinung Ausbildung kann auf die Sachkunde der wird beispielsweise auch von der Deut- Auszubildenden verzichtet werden, so- schen Akademie der Wissenschaften fern diese von Personen mit der entspre- Leopoldina in ihren Empfehlungen zur chenden Sachkunde unterrichtet und be- Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/63/EU aufsichtigt werden, so dass während des in deutsches Recht vom Oktober 2012 Ausbildungsprozesses sachkundig getö- deutlich zum Ausdruck gebracht: „Ob- tet wird. Wirbeltiere und Kopffüßer dürfen wohl die Entwicklung alternativer Metho- hierbei nur durch Verfahren getötet wer- den stetig voranschreitet, ist … die aktuel- den, die für sie die geringste Belastung le Forschung nicht ohne den Einsatz bedeuten oder die mit dem Versuchs- tierexperimenteller Methoden denkbar.“ zweck vereinbar sind. Anlage 2 der Es ist unsere Pflicht, die höchsten Stan- TierSchVersV gibt einen Überblick darü- dards im Umgang mit den Versuchstieren ber, welche Methoden für welche Ver- umzusetzen und dies bereits bei der Pla- suchstiere erlaubt sind und welche be- nung von Tierversuchen im Vorfeld mit

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einzubeziehen. Eine Reduktion der Tier- Hilfreiche Links: versuche auf das unerlässliche Maß durch geeignete und zugelassene Alter- Tierschutzgesetz: http://www.gesetze- nativen sowie eine Vermeidung von dop- im-internet.de/tierschg/ pelten Versuchen durch eine entspre- Tierschutzversuchstierverordnung: chende Bereitstellung und Bekanntma- http://www.gesetze-im-internet.de/tiersck- chung von Verfahren und Ergebnissen ist versv/BJNR312600013.html hierbei zu begrüßen und zukünftig sogar EU-Richtlinie zu Tierversuchen: deutlich auszubauen. Die derzeitige http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexU- (2015) Initiative von EU-Bürgern mit dem riServ.do?uri=OJ:L:2010:276:0033:0079:D Ziel, Tierversuche ganz abzuschaffen, E:PDF wird der gesamtgesellschaftlichen Ver- Gesellschaft für Versuchstierkunde pflichtung nach Verbesserung der GV-SOLAS: http://www.gv-solas.de menschlichen Lebensbedingungen unse- Federation of European Laboratory rer Meinung nach jedoch nicht gerecht. Animal Science Associations (FELASA): In Zukunft werden Tierversuche aber http://www.felasa.eu vermutlich noch stärker im gesellschaft- Tierärztliche Vereinigung für Tier- lichen Fokus liegen als bisher schon. Dies schutz: http://www.tierschutz-tvt.de gilt vor allem für Versuche mit Primaten. Zentralstelle für die Erfassung und Be- Die Wissenschaft muss versuchen, aus wertung von Ersatz- und Ergänzungsme- der heutigen Verteidigungsstellung her- thoden zum Tierversuch am Bundesinsti- auszukommen. Zudem sollten die für die tut für Risikobewertung (ZEBET): Versuche gültigen Rechtslagen, die ho- http://www.bfr.bund.de/de/zebet- hen und in Zukunft vielleicht noch höhe- 1433.html ren Standards, unter denen Tierversuche European Centre for the Validation of überhaupt erst durchgeführt werden dür- Alternative Methods (ECVAM): fen, sowie die aus diesen Versuchen ge- https://eurl-ecvam.jrc.ec.europa.eu wonnenen Erkenntnisse offener und ver- Zentrum für Ersatz und Ergänzungs- ständlicher kommuniziert werden. Ver- methoden (ZET): http://www.zet.or.at suchstierkundliche Forschung kann und European Partnership for Alternative wird dabei helfen, Fortschritte wie bei- Approaches to Animal Testing (EPAA): spielsweise im Bereich der Schmerz- und http://ec.europa.eu/enterprise/epaa/in- Chemotherapie oder bei der Entwicklung dex_en.htm neuer Impfstoffe zu machen. Vor allem Fund for the Replacement of Animals aber wird diese Forschung das Grundla- in Medical Experiments (FRAME): genwissen bereitstellen, welches über- http://www.frame.org.uk haupt erst den Nährboden für die zuvor Center for Alternatives to Animal Te- angesprochene angewandte Forschung sting (CAAT): http://caat.jhsph.edu bildet. Baseler Deklaration: http://www.basel- declaration.org

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Stiftung Forschung 3R: http://www.for- Understanding Animal Research: schung3r.ch/de/news/index.html http://www.understandinganimalrese- arch.org.uk

Dr. Martin Singheiser, Prof. Dr. Hermann Wagner Institut für Biologie 2, RWTH Aachen University, Worringer Weg 3, 52056 Aachen [email protected] [email protected]

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Klaus Sander (1929 – 2015) und die Renaissance der Entwicklungsbiologie in Deutschland

Werner A. Müller

Eine persönliche Bemerkung vorweg Dieser Beitrag möchte nicht nur das Andenken eines verdienten Forschers und Lehrers ehren; er stellt diesem Anlie- gen einen Abriss der neueren biologi- schen Wissenschaftsgeschichte in Deutschland voraus. Die Rückbesinnung auf Pioniertaten der Biologie war ein Her- zensanliegen Klaus Sanders und so ist dieser Beitrag auch als Wahrnehmung seines Vermächtnisses zu verstehen. Ich selbst kannte Klaus Sander aus wenigen persönlichen Begegnungen. Die erste war, als er 1963 in Freiburg seinen Bewerbungsvortrag für ein neu einge- richtetes Extraordinariat hielt. Das Zoolo- gische Institut der Universität Freiburg war damals mit Otto Köhler und Bernhard Foto: Ulrich Nauber Hassenstein wie an vielen anderen deut- schen Universitäten ganz auf Verhaltens- Renaissance bedeutet Wiederbelebung beobachtung und Verhaltensphysiologie des Vermächtnisses vergangener Epo- ausgerichtet. Die große Zeit der zell- und chen und dessen Weiterentwicklung in entwicklungsbiologischen Entdeckungen die Zukunft. Eine Wiederbelebung der und der allgemein-biologischen Theo- Entwicklungsbiologie in Deutschland riebildung am Freiburger Zoologischen nach ihrem Zusammenbruch im zweiten Institut unter August Weismann und Hans Weltkrieg tat Not, ihre Fortentwicklung Spemann war Geschichte; ihre Arbeiten mit Methoden der Genetik stand an. kamen in Vorlesungen nicht oder allen- Klaus Sander half wie kaum ein anderer falls am Rande vor. Otto Mangold, der an deutschsprachigen Universitäten, die- Schüler und Nachfolger Spemanns, war se Herausforderungen anzunehmen und (was ich nicht wusste) 1945 wegen seiner zu bewältigen. bekennenden Mitgliedschaft in der

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NSDAP entlassen und seine Arbeitsgrup- Vergessenheit geraten; seine Originalar- pe ausgelagert worden an ein für ihn un- beiten waren verschollen. Erst als ich in ter der Schirmherrschaft des Fürstenhau- Vorbereitung auf ein Review die Spuren ses von Fürstenberg eingerichtetes Insti- zu den Quellen der Begriffe „Keimbahn“, tut in der alten Post in Heiligenberg am „Urkeimzellen“ und „Stammzellen“ zu- Bodensee, wo ich als studentische Hilfs- rückverfolgte, fand ich in Weismanns kraft von Spemanns epochemachenden „Vorträgen über Deszendenztheorie“ Bil- Arbeiten erfuhr. Als Klaus Sander 1963 der zur Wanderung der Keimzellen in seinen Vortrag hielt, stand ich kurz vor Hydropolypen, und damit zu seiner Ar- meiner Doktorprüfung. Ich war tief be- beit „Die Entstehung der Sexualzellen eindruckt; denn mit seinen Arbeiten an bei Hydromedusen“. Ich fragte Klaus der Zikade Euscelis fand er Anschluss an Sander, ob dieses Werk noch aufzutrei- die klassische Zeit der Entwicklungsbio- ben sei, und siehe da, er hatte es gefun- logie und er wagte es, von Gradienten zu den. Es war in der Kriegszeit zusammen sprechen - bei den wenigen namhaften mit Schriften Spemanns ausgelagert ge- Entwicklungsbiologen, welche die Kriegs- wesen und damit dem Brand des zer- zeit überlebt hatten, wie Friedrich Seidel bombten Zoologischen Instituts entgan- in Marburg und Gerhard Krause in Würz- gen. Das Werk stellte sich als riesiger burg, ein verpönter Begriff (was ich Foliant heraus mit zahlreichen, teils farbi- selbst in kontroversen Diskussionen mit gen Kupferstichen. Hier findet man Be- diesen Altmeistern erfahren musste). griffe wie Keimbahn und Urkeimzellen Zum letzten Mal begegnete ich Klaus und zu meiner großen Überraschung Sander 2007 in Freiburg, als er mir half, fand ich darin auch Hydractinia beschrie- ein verschollenes Werk August Weis- ben und in diesem Abschnitt taucht erst- manns zu Gesicht zu bekommen. Als mals der Begriff „Stammzellen“ auf. Doktorand des jungen, aus Tübingen Ich bin Klaus Sander für seine Bemü- nach Freiburg gekommenen Wissen- hungen, die weitgehend in Vergessenheit schaftlichen Assistenten und Dozenten geratene klassische Entwicklungsbiolo- Carl Hauenschild („Zoologie 2013“, Mit- gie wieder zu beleben, zu großem Dank teilungen der DZG: 61-69), der Arbeiten verpflichtet. aus dem Bereich der Fortpflanzungs- und Entwicklungsbiologie vergab, hatte ich Erinnerung an große Pioniere mich mit einem marinen Hydrozoon na- der Forschung in großer Zeit mens Hydractinia befasst und dabei auch Bereits als noch junger Dozent war interstitielle Stammzellen dargestellt und Klaus Sander bemüht, in Vorlesungen ihren Beitrag zur Keimbahn erschlossen; und Schriften die große Epoche der Ent- Vorarbeiten dazu hatte Hauenschild wicklungsbiologie in Erinnerung zu ru- schon am MPI in Tübingen geleistet. fen; im Schriftenverzeichnis ist dies seit Dass Weismann schon über Hydrozoen 1973 dokumentiert. Die Mehrzahl der gearbeitet hatte, war mir als Doktorand betreffenden Beiträge Sanders erschie- nicht bekannt gewesen und allgemein in nen in der traditionsreichen Zeitschrift

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Wilhelm Roux’s Archiv für Entwicklungs- August Weismann (1834-1914) und mechanik der Organismen, die er ab entwicklungssteuernde Determinan- 1976 selbst als Herausgeber leiten sollte ten. August Weismann, der damals welt- und die heute umbenannt ist in Develop- bekannte Zoologe aus Freiburg i.Brg., be- ment, Genes & Evolution. Nicht von unge- fasste sich viel mit Vererbung im Zusam- fähr publizierte Sander in dieser weltweit menhang von Evolution, wandte sich ge- ältesten Zeitschrift der Entwicklungsbio- gen die bis dahin allgemein herrschende logie und nicht von ungefähr sind es Auffassung, die Umwelt habe direkten überwiegend deutsche Forscher, die hier Einfluss auf das Erbgut (er war Anti-La- gewürdigt werden; es spiegelt dies die marckist), war aber auch bedeutender damals beherrschende Stellung der Zell- Zell- und Entwicklungsbiologe. Weis- und Entwicklungsbiologie an deutsch- mann entwickelte das Konzept der Keim- sprachigen Forschungsstätten wider. Im bahn, einer gesonderten Zelllinie, die von Folgenden seien einige Persönlichkeiten der befruchteten Eizelle im Embryo hin- aufgeführt, deren epochemachende Wer- führt zu den Urkeimzellen, den Stamm- ke Klaus Sander in historischen Rückblick- zellen der Keimzellen und damit den en zu würdigen wusste, nicht ohne auch Gründerzellen der nächsten Generation. das mit der Forschung stets verbundene Weismann erkennt, dass im Insekten-Em- Risiko des Irrens und Scheiterns deutlich bryo Urkeimzellen sehr früh beiseitege- zu machen. legt werden und sich nicht wie die soma- Theodor Schwann (1810-1882) mit tischen Zellen am Aufbau des Embryos Matthias Schleiden Begründer der Zell- beteiligen. Weismann bezeichnet die Ur- theorie: Auch das Ei ist, oder enthält, eine keimzellen im Fliegenembryo mit Refe- Zelle. renz auf ihre Lage als "Polzellen", eine Be- Ernst Haeckel (1834-1919) und zeichnung, die auch heute noch im Sanders Begriff des phylotypischen Sta- Gebrauch ist. Damit war der Hinweis ge- diums. An dieser Stelle sei nur erwähnt, geben, dass am Hinterpol des Eies schick- dass Klaus Sander unter Bezug auf die Be- salsbestimmende Komponenten lagern. funde des großen Pioniers der Embryolo- Komponenten, die Zellen in die Linie der gie Carl Ernst von Baer (1792-1876) und Keimbahn leiten, werden heute in Anleh- in Korrektur zu Haeckels allzu großzügig nung an Weismann „Keimplasma“ ge- idealisierten Darstellung der äußeren nannt; doch ist die Übernahme dieses Morphologie von Wirbeltierembryonen Begriffes in diesem Fall nicht gerechtfer- den Begriff „phylotypisches Stadium“ vor- tigt; denn Weismann verstand unter schlug, um jenes Stadium zu kennzeich- „Keimplasma“ die Summe der damals nen, in dem Embryonen in ihrer inneren noch unbekannten materiellen Träger Anatomie die grundlegenden stammesty- des Erbgutes und er meinte, in somati- pischen Merkmale aufweisen, wie Noto- schen Zellen werde dieses Gut im Zuge chord (Chorda dorsalis), dorsales Neural- wiederholter asymmetrischer Teilungen rohr, ventrales Herz, Vorderdarm mit Kie- differentiell den Tochterzellen mitgege- mentaschen bei Wirbeltieren. ben. Das Hinterpolmaterial des Dipteren-

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Eies enthält jedoch, wie wir heute wis- Orientierung bei der Ausrichtung (min- sen, nicht nur Keimzellen-determinieren- desten einer) der Körperachsen. de Komponenten, sondern auch Kompo- Von bleibendem Wert waren Roux‘s nenten, welche die gesamte Körperor- Beobachtungen zur Determination der ganisation mitbestimmen, und solche Körperachsen im Amphibienkeim (Rana Komponenten sollten Klaus Sander und esculenta). Indem er den Zutritt der Sper- seine Mitarbeiter zum Hauptthema ihrer mien zum Ei auf eng umschriebene Be- Forschung machen. reiche einschränkte, zeigt er, dass der Wilhelm Roux (1850-1924) und die graue Halbmond und im weiteren Verlauf Determination der Körperachsen. der Urmund – zwei Markerstrukturen für Roux, Spross einer Hugenottenfamilie, die Lage der künftigen Körperlängsach- der an verschiedenen deutschen Univer- se – immer diametral gegenüber dem sitäten, zuletzt in Halle, lehrte, beschreibt Spermien-Eintrittsort entstehen. Heute wie auch Eduard Strasburger das Verhal- sind mit WNT und beta-Catenin, zentra- ten der Chromosomen. Er berichtet in len Elementen des kanonischen WNT- „Über die Bedeutung der Kerntheilungsfi- Signalweges, wesentliche schicksalsbe- guren“, der „Mutterfaden“ spalte sich stimmende Komponenten des Eies mole- durch „Teilung unter Erhaltung der An- kular identifiziert; sie werden nach dem ordnung der Länge nach in zwei Tochter- Kontakt des Spermiums mit der Eizell- fäden“, meint aber in Anlehnung an Weis- membran vom vegetativen Eipol (‚Süd- mann, es gäbe auch qualitativ differen- pol‘) zum Ort des künftigen Urmundes tielle Verteilung des Kernmaterials. In verlagert, von wo sie als Signale des seinen Bemühungen, eine experimentelle „Spemann-Organisators“ (s. unten) in Embryologie zu etablieren, hatte Roux Form von Gradienten ausstrahlen und, in mit einer heißen Nadel eine der ersten Kooperation mit weiteren Genprodukten beiden Zellen (Blastomeren) des Frosch- wie goosecoid, siamois, cordin, und nog- keims zerstört und erhielt, weil er die ab- gin, das Muster der posterioren Körper- getötete Zelle nicht entfernte, Halbem- region bestimmen. bryonen. Er meinte damit die Mosaik- Wenn Roux im Titel seiner Zeitschrift -theorie der Entwicklung begründen zu den Begriff „Mechanik“ benutzte, so, laut können, wonach jeder Tochterzelle schon Sander, in der Terminologie des 18. Jahr- früh durch ein Muster von Determinan- hunderts, in der „Mechanik“ gleichbe- ten, das im Ei niedergelegt sei, ihr Schik- deutend war mit „natürliche (physikali- ksal zugewiesen bekomme. Regulative sche) Ursachen.“ Prozesse und Regenerationsvermögen Hans Driesch (1867-1941): Zuteilung widerlegten zwar eine solch strikte frühe des gesamten Erbmaterials an alle Zel- Determination, doch geben nach heuti- len aber Schicksalsbestimmung durch gem Wissensstand bei allen experimen- Positionsinformation. Driesch war u.a. tell zugänglichen tierischen Keimen cyto- Privatdozent in Heidelberg und befreun- plasmatische Komponenten eine erste det mit Curt Herbst (1866 – 1946), der die besondere Wirkung von Lithium-Io-

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nen auf den Seeigelkeim gefunden und keine Maschinen seien und führt in sei- damit einen Beitrag zur Gradiententheo- nen späten Schriften vitalistisches Ge- rie (s. unten unter T. Boveri) geleistet hat- dankengut wieder ein. In diesem Punkt te. Driesch hielt sich viel am meeresbio- folgte ihm die biologische Wissenschaft logischen Institut in Triest und an der neu nicht. gegründeten Stazione Zoologica in Nea- Theodor Boveri (1862-1915): Kern- pel auf, wo oft auch Curt Herbst, die Brü- Cytoplasma Interaktionen und Gradi- der Richard (1850 – 1937) und Oscar ententheorie. Theodor Boveri, dieser Hertwig (1849 – 1922), Theodor Boveri stets kränkelnde aber äußerst sorgfältig und Thomas Hunt Morgan (1866 -1945) beobachtende und experimentierende weilten. Driesch war es gelungen, durch Zoologe aus Würzburg, gilt nicht nur im Trennen der ersten Tochterzellen des Urteil von Klaus Sander als einer der be- sich teilenden Seeigel-Eies ganze Zwil- deutendsten deutschen Biologen. Er war lingslarven zu erhalten. Demnach muss- mit dem großen amerikanischen Entwick- ten all diese Zellen das vollständige Erb- lungsbiologen Edmund B Wilson (1856- material enthalten. Der Zellkern behalte, 1945) befreundet. Boveri beschreibt das im Gegensatz zu Weismanns Hypothese, Verhalten der Chromosomen im Ei des in allen Zellen zeitlebens die „Totalität Spulwurms Ascaris (heute Parascaris) und der Erbinformation“, kerngesteuerte des Seeigels, erkennt die Konstanz der chemische Synthesen organbildender Chromosomen im Zuge von Zellteilungen Substanzen geschähen indes im Cyto- und deren Unerlässlichkeit für eine kor- plasma. Diese Auffassung erwies sich als rekte Entwicklung, doch erkennt er auch, zutreffend. Für Differenzierung, also dass im Keim von Ascaris das lokale Cy- unterschiedliches Verhalten und Schick- toplasma entscheidet, ob eine Zelle zu sal der verschiedenen Zellen trotz gleich- einer Zelle der Keimbahn (P-Zelle) wird er und vollständiger genetischer Infor- und das große Sammelchromosom be- mation, sei die Lage der Zelle im Gan- hält oder zu einer Somazelle (S-Zelle), in zen, heute Positionsinformation genannt, der das Sammelchromosom – eine Be- verantwortlich, eine Auffassung, die auch sonderheit der Ascariden unter den Ver- Oscar Hertwig teilte, der zuvor schon die suchstieren - in Einzelchromosomen zer- Befruchtung des Seeigeleies beschrie- fällt. Experimentelle Basis waren Expe- ben und die Vereinigung des Spermien- rimente zur Mehrfachbefruchtung (Di- und des Oocytenkerns als wesentlichen spermie) sowie zur Verlagerung cyto- Vorgang erkannt hatte. Nach Drieschs plasmatischer Komponenten und Abla- Hypothese resultiere Positionsinformation tion von Keimesteilen. Solche Experi- aus induktiven Interaktionen über diffu- mente führten Boveri zur Begründung sible Substanzen, eine Vorstellung, die der Gradiententheorie: Die P-Zellen be- Lewis Wolpert (geb. 1929) aufgriff und kämen relativ mehr einer bestimmten cy- populär machte. Driesch schließt aus sei- toplasmatischen Komponente ihrer Mut- nen Experimenten, dass Lebewesen ent- terzelle zugeteilt als die S-Zellen. Auch gegen der Auffassung der Mechanizisten im Seeigelkeim ist lokales Cytoplasma

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von Bedeutung. Boveri erkennt, dass sondere Bedeutung der oberen Urmund- auch hier erste Differenzierungen im Em- lippe als Organisator deutlich. Ohne ei- bryo auf dem Zusammenspiel der Kerne nen Teil dieser Lippe kann aus einem mit cytoplasmatischen Determinanten Embryofragment kein ganzes Tier ent- beruhen. Besondere Bedeutung komme stehen. Die berühmten Transplantations- dem Cytoplasma am vegetativen Eipol experimente seiner Doktorandin Hilde zu, wo sich als erster Ausdruck einer Dif- Mangold mit diesem Organisator fanden ferenzierung kleine, mobile Zellen, die in Spemann einen theoretisch geschulten Mikromeren, bilden und schließlich die Interpreten. Allerdings war Spemann kein Bildung des Urdarms (Gastrulation) ein- Freund der Gradiententheorie. Spätere setzt. Doch wenn die Mikromeren ent- Untersuchungen sollten im Amphibien- fernt werden, kann auch weiter animal- keim (nun Xenopus) aber doch höchst wärts (‚nordwärts‘) liegendes Cytoplas- bedeutende Gradienten wie die aufein- ma die Gastrulation starten, wenn auch ander senkrecht stehenden WNT- und zunehmend schwächer, je weiter die BMP-Gradienten und viele weitere Gra- Distanz zum vegetativen Pol ist. Heute dienten offenlegen (Zusammenstellung in sind, wie im Froschkeim, mit wnt-RNA Mueller et al. 2015). und beta-Catenin-Protein, Elemente der kanonischen WNT-Signalkaskade, ent- Klaus Sander und die Wiederbelebung scheidende Komponenten dieses Plas- der Gradiententheorie mas identifiziert. Lithium-Ionen stimulie- Verlagerung organisierenden cyto- ren dieses Signalsystem. Morphologisch plasmatischen Materials und Trennversu- hat dies zur Folge, dass „vegetative“ Or- che analog zu Spemanns Schnürungsver- gane, wie der Urdarm, sich vergrößern suchen, nun am Insekten-Ei, waren Klaus auf Kosten „animaler“ Organe, wie dem Sanders Einstieg in die experimentelle apikalen Wimpernschopf, einem Sinnes- Embryologie. Er findet in seinen Bemü- organ der Larve. hungen um eine kohärente Interpretation Hans Spemann (1869-1941) und der zurück zur Gradiententheorie. Spemann-Organisator. Spemann, Schü- Die Gradiententheorie, von Boveri be- ler Boveris und langjähriger Leiter des gründet und von anderen wie dem Ame- Zoologischen Instituts in Freiburg, ist mit rikaner Charles M. Child (1869–1954) so- dem Ausdruck „Spemann organizer“ ver- wie den Schweden John A.M. Runnström mutlich der am meisten zitierte deutsche (1888-1971) und Sven Hörstadius (1898– Biologe. Nach Thomas Hunt Morgan war 1996) weiterentwickelt, war in Verruf ge- er der zweite Zoologe, der den Nobel- raten; ihr wurde vitalistisches, letztlich preis für Medizin erhielt. Bereits seine metaphysisches oder gar esoterisches Schnürungsversuche am Molchkeim, mit Glaubensgut unterstellt. Diese Unterstel- denen er miteinander verwachsene, in- lung muss bis in die heutige Zeit auch komplette Zwillinge („Siamesische Zwil- der verwandte Begriff des morphogene- linge“) oder getrennte, vollständige ein- tischen Feldes, in dem sich morphogene- eiige Zwillinge erhielt, machten die be- tische Gradienten in zwei bis drei Raum-

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dimensionen ausbreiten, erdulden. Wa- sind die von den Eipolen ausgehenden rum? Zum einen wegen eines Fehlver- vegetativen und animalen Gradienten im ständnisses des Begriffes Gradient. „Gra- Seeigelkeim (Hypothese von J. Runn- dient“ sagt primär nichts anderes, als ström und S. Hörstadius). Es fehlten je- dass eine zählbare oder messbare Ei- doch über Jahrzehnte Beweise für die genschaft entlang einer Strecke kontinu- Richtigkeit dieser Hypothese; man sah ierlich ab- oder zunimmt. Kein Physiker diese Substanzen nicht, es gab keine In- käme auf die Idee, den Gradienten des dizien über ihre chemische Natur und hydraulischen Drucks oder der elektri- man konnte nicht mit ihnen selbst experi- schen Spannung entlang einer Leitung mentieren und damit die Hypothese mit Widerstand metaphysische Bedeu- überprüfen. tung zu unterstellen. In der Biologie aller- Trotz dieser misslichen Situation und dings gibt es Gradienten auf verschiede- dem Widerstand seines Tübinger Doktor- nen Ebenen. Es gibt rein deskriptive vaters Gerhard Krause griff Klaus Sander Gradienten, beispielsweise in der Dichte die Hypothese wieder auf. Er hatte mit der Borsten in einem Borstenfeld einer der Kleinzikade Euscelis plebejus zu ex- Insektencuticula. Auch Funktionszustände perimentieren begonnen und Ergebnisse wie Intensität des oxidativen Stoffwech- erzielt, die der herrschenden Auffassung sels können gradiert variieren, und hier widersprachen. Er verlagerte Material sind Vorstellungen zur Steuerung der aus der als wichtig erkannten Hinterpol- Entwicklung vorgetragen worden (z.B. region der Eizelle an andere Stellen von C.M. Child). Für den Entwicklungs- innerhalb derselben Zelle. Ein Symbion- biologen von besonderem Interesse sind tenball, den diese Zikade am Hinterpol morphogenetische Gradienten; dies sind ihrer Eier deponiert, diente als Marker. Gradienten, welche nicht nur Ergebnis Werden frühe Keimanlagen durch Quer- einer Differenzierung sind, sondern der schnitte zertrennt, können vordere Frag- Steuerung der Entwicklung und Regene- mente nur vordere, aber keine hinteren ration dienen . Ein Beispiel ist die von Segmente bilden; sie können es aber oral nach aboral abnehmende Potenz des doch, wenn zuvor Hinterpolmaterial nach Hydragewebes, Köpfe zu regenerieren vorne verschoben wurde. Sander kam zu und im Transplantationsexperiment Köpfe dem Schluss, dass das serial aus den ein- zu induzieren. Solche morphogeneti- zelnen Körpersegmenten zusammenge- schen Gradienten wurden interpretiert setzte Grundmuster des Körpers durch als durch Konzentrationsgradienten hypo- Wechselwirkung zweier Zentren entsteht, thetischer Wirksubstanzen begründet, die in der Eizelle an den beiden Polen Substanzen die man heute als Morpho- liegen. Von diesen beiden Polen sollten gene bezeichnet. Unterschiedliche Diffe- wie im Seeigelkeim Gradienten morpho- renzierung wird auf unterschiedliche ört- genetisch aktiver Substanzen ausgehen liche Konzentrationen oder Konzentra- (Sander 1959, 1960). Durch Längshalbie- tionsverhältnisse von Morphogenen zu- rung des Keims während der Furchung rückgeführt. Musterbeispiel waren und mittels einer Art Guillotine erhielt Sander

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spiegelbildlich zueinander angeordnete, schaus (gemeinsamer Nobelpreis 1995) bilateralsymmetrische Embryonen, wie bei Drosophila zahlreiche entwicklungs- dies auch vom morphogenetischen Feld steuernde Gene einschließlich bicoid auf der Keimscheibe des Hühnerkeims identifiziert hatten. Diese genetischen bekannt ist. Bei Euscelis müssen Reste Screens bewahrheiten auch die in San- beider Polzentren in den Fragmenten ent- der 1971 gemachte Aussage, dass ent- halten sein, wenn ganze Embryonen ent- lang der AP und der DV-Achse verschie- stehen sollen (Sander 1971). Sander er- dene Systeme zur Wirkung kommen: kennt auch, dass das longitudinale AP- Dem anterior gelagerten bicoid-System (anterior-posteriore) Muster und das dor- und posterior gelagerten oskar/caudal/ soventrale (DV- oder transversale) Muster nanos System der Kopf-Abdomen-Achse mit seiner Bilateralsymmetrie auf ver- steht das dorsal-decapentaplegic System schiedenen musterbildenden Systemen der Rücken-Bauch-Achse gegenüber. In beruhen (Sander 1971). beiden musterbildenden Systemen kom- Der chemischen Natur der vermute- men die Genprodukte in Form von Gra- ten anterioren Substanzen kamen San- dienten zur Wirkung. Weitere Gradienten, ders Schüler Klaus Kalthoff und Herbert die auch in Wirbeltieren wie Xenopus, Jäckle (Kalthoff & Sander 1968; Jaeckle & Fisch und Maus dargestellt und experi- Kalthoff 1979) bei einem anderen Objekt, mentell beeinflusst werden konnten, sind dem Ei der Zuckmücke Smittia partheno- die von sezernierten Morphogenen wie genetica, auf die Spur. UV-Bestrahlung BMP, WNT, FGF und Sonic Hedgehog ge- und RNAse-Behandlung wiesen auf RNA bildeten Gradienten. Gradienten, sofern als entscheidende Komponenten. auf Diffusion beruhend, sind allerdings Es war wissenschaftlichen Nachfol- aus physikalischen Gründen auf embryo- gern von Klaus Sander vorbehalten, na- nale Gebiete mit bis zu maximal 1 mm mentlich Christiane Nüsslein-Volhard und Dimension beschränkt. (Ein menschli- Wolfgang Driever (Driever & Nüsslein- cher Embryo am Tag 24 beim Abschluss Volhard 1988), mit dem bicoid-Gradien- der Neurulation hat eine Gesamtlänge ten im Drosophila Ei und frühen Embryo von 3,5 mm; die Extremitätenpaddeln am erstmals einen Gradienten sichtbar zu Tag 24-28, wenn viel von Gradienten in machen und experimentell die Konzen- diesen Anlagen die Rede ist, haben allen- trationsabhängigkeit der Effekte auf das falls 0,5 mm in allen drei Dimensionen.) Körpermuster zu zeigen. Maßgebend Allerdings sind außer physikalischer Dif- waren neue Techniken, In-situ-Hybridisie- fusion weitere Mechanismen bekannt ge- rung zur Darstellung der bicoid mRNA, worden, die zu einer ungleichartigen Immuncytochemie zur Darstellung des Verteilung von Substanzen und Partikeln BICOID-Proteins, und genetische Tricks führen, wie aktiver Signaltransport inner- zur Erhöhung der Dosis. Essentielle Vor- halb von Zellen (so werden die bicoid aussetzung waren die umfangreichen ge- und oskar mRNA durch aktiven Transport netischen Screens gewesen, mit denen an die Eipole des Drosophila-Eies ver- Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wi- frachtet) und Transport mittels Transcyto-

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se oder Filipodien in Zellverbänden (Zu- monalen Auslösung der Kaulquappen- sammenstellung in, Mueller et al. 2015). Metamorphose (1974). In Vorlesungen Reichweite und zeitliches Verhalten sol- und Vorträgen spricht er auch über Em- cher Mechanismen gehorchen folglich bryonalentwicklung und Entwicklungsan- nicht den Gesetzen der Diffusion, wie sie omalien beim Menschen. in theoretischen Modellen biologischer Musterbildung bevorzugt in die Berech- K. Sander und der Durchbruch zur nungen eingesetzt wer- modernen Entwicklungsgenetik den; denn hierfür stehen partielle Diffe- Rückblickend können wir das For- rentialgleichungen zur Verfügung. Auch schungswerk von Klaus Sander in zwei fehlt es heute noch an Methoden, nieder- Phasen einteilen: in eine erste Phase der molekulare Morphogene direkt sichtbar experimentellen Embryologie in der Tra- zu machen und ihre räumliche Verteilung dition eines Theodor Boveri und Hans kontrolliert zu manipulieren. Spemann und eine zweite Phase, in der die stürmische Fortentwicklung der ge- Sander und die Vielzahl netischen Techniken gezielt zur Klärung seiner Untersuchungsobjekte von Entwicklungsprozessen eingesetzt Klaus Sander verharrte nicht bei ei- werden. Man nutzt und erweitert das In- nem „Modellobjekt“. Er war klassisch ventar von Drosophila-Mutanten und ge- ausgebildeter Zoologe und erfahrener winnt arbeitsfreudige Mitstreiter für das Entomologe. In seiner Publikationsliste Ziel, die Aufklärung der Merkmalsbil- finden sich als eigene Untersuchungsob- dung mit Methoden der klassischen wie jekte neben Zikaden auch die Honigbie- auch der aufkommenden molekularen ne Apis mellifera und Dipteren wie Chi- Genetik voran zu treiben. ronomus, Smittia , Sciara, Calliphora und Sander und seine Mitarbeiter beteilig- Drosophila; es finden sich Coleopteren ten sich an der Suche nach entwicklungs- wie Tribolium castaneum, es finden sich steuernden Genen. Ein Beispiel: Die Dok- Mollusken und schließlich auch Wirbel- torandin Margit Lohs-Schardin entdeckt tiere, speziell der Zebrabärbling Danio eine Drosophila-Mutante dicephalic mit (damals Brachydanio) rerio. Der Entwik- Köpfen an beiden Körperenden. In der klungsbiologe und Genetiker kennt ne- Mutter solcher Embryonen werden die ben der seit Jahrzehnten untersuchten Oocyten an beiden Polen von Nährzellen Fliege Drosophila nun auch den Käfer Tri- mit Material versorgt. Ruth Lehmann bolium und den Fisch Danio als viel weist nach, dass von den Nährzellen untersuchte Modellorganismen (Danio auch ein Signal ausgeht, das die Polarität freilich durch die Pionierarbeiten anderer der Segmentierung beeinflusst. Einige Forschergruppen). Publikationen sind mit Nüsslein-Volhard Seinen akademischen Kollegen, die publiziert, die nach ihrer Promotion am sich mit Lehre befassen, gibt Sander Hin- MPI für Virusforschung in Tübingen zeit- weise zur Anzucht und Untersuchung von weise (1977) mit einem Stipendium der Hühnerembryonen (1980) und zur hor- DFG als Postdoc bei Sander weilte. Aus

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dem großen Kompendium der später Prägend für sein weiteres Leben war (1978-1980) von Nüsslein-Volhard und ein Aufenthalt in Indien. Klaus Sander hat- Eric Wieschaus am EMBL in Heidelberg te sich erfolgreich um ein ausgeschrie- bei Drosophila entdeckten entwicklungs- benes Stipendium beworben. In Indien steuernden Genen werden mehrere, wie wird er für 2,5 Jahre Doktorand an der bicoid und engrailed, genutzt, um verglei- Aligarch Muslim University in Nordindien. chende Studien an weiteren Drosophila- Sander schreibt in einer gedruckt vorlie- Arten, an anderen Dipteren und an Tribo- genden Rede vor der Heidelberger Aka- lium zu beginnen, ein Unterfangen, dem demie der Wissenschaften (1992) „Zum weltweit unzählige ähnliche Untersuchun- bereichernden Kontakt mit mehreren an- gen folgen sollten. deren Kulturen – die Universität war isla- misch, die Umgebung hinduistisch, die Biographie von Klaus Sander und aufgeschlossensten Kommilitonen waren Bemerkungen zu seiner Persönlichkeit Sikhs oder südindische St. Thomas-Chris- Klaus Sander kam am 17. Januar 1929 ten – kam der alltägliche Umgang mit in Darmstadt zur Welt. Sein Vater war der englischen Sprache und Lebensart.“ nach Episoden als Kunstkritiker und Dra- Begünstigt wohl durch ein großes Sprach- maturg Verwaltungsdirektor des Hessi- talent, konnte Sander nach seinem Indien- schen Landestheaters, wurde aber 1933 aufenthalt beiläufig das Dolmetscherdi- aus politischen Gründen entlassen; er soll plom erwerben. sich geweigert haben, die Hakenkreuz- Zum Erwerb des PhD untersuchte fahne auszuhängen. Die langjährige Ar- Sander in Indien unter der Ägide des von beitslosigkeit ihres Vaters zwang der Fa- ihm sehr geschätzten M.B. Mirza die Em- milie ein karges Leben in einem Oden- bryonalentwicklung einer Kleinzikade walddörfchen auf, doch immerhin in einer (Pyrilla), eines Zuckerrohrschädlings. eigenen Kate. Man verdingte sich zeitwei- Klaus Sander wollte auch den deut- lig als Tagelöhner und Holzfäller. Trotz- schen Doktortitel erwerben; ein Stipen- dem konnte K Sander das humanistische dium der Studienstiftung des deutschen Gymnasium in Darmstadt besuchen und Volkes ermöglichte ihm dies. Unter sei- 1948 das Abitur erwerben. Gern hätte er nem Doktorvater Gerhard Krause, da- Urgeschichte und Archäologie studiert, mals in Tübingen, fand er mit der Zikade entschied sich aber doch aus Liebe zur Euscelis plebejus den Organismus, des- Natur für das Studium der Biologie in sen Eier und Embryonen einen für Insek- Darmstadt und Gießen. In den Ferien be- ten besonders guten experimentellen Zu- teiligt er sich an der Wattenmeerkartie- griff erlaubten. Die schönen Ergebnisse rung und verdingte sich im Küstenschutz, brachten ihm nicht nur 1959 in Tübingen findet Interesse an marinen Schnecken, den Doktortitel ein, sondern ermöglich- deren Ökologie und Fortpflanzungsbiolo- ten auch 1963 die Habilitation in Würz- gie zum Thema seiner Diplomarbeit bei burg, wo Gerhard Krause inzwischen ei- W.E .Ankel in Gießen werden. nen Lehrstuhl übernommen hatte. Vor Abschluss der Dissertation hatte Sander

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das Staatsexamen in Biologie, Chemie Gunhild Sander, geb. Viebahn, von statt- und Geologie abgelegt. licher Statur. Mit dem Ruf auf ein Extraordinariat Sander hatte Freude an dem, was man (später Ordinariat) nach Freiburg 1964 manchmal überheblich als Feld-Wald- findet Sander seine Lebensposition. Ei- und-Wiesen-Biologie abqualifiziert, er- nen Ruf nach Marburg lehnt er ab. freute sich an der Fauna und Flora seiner Hessischen Heimat und der Nordseekü- Ehrenamtliche Tätigkeiten und Mitglied- ste und scheute sich nicht, sich auch um schaften: die Wanderungen der Erdkröten am Klaus Sander übernimmt viele ehren- Waldsee nahe Freiburg zu kümmern. amtliche Tätigkeiten, ist mehrfach Dekan, Seine Schüler und Mitarbeiter schätz- ist Wahlmitglied des Senates und Verwal- ten seine aufgeschlossene, aufrichtige tungsrates der Universität Freiburg, wird und pflichtbewusste Art. Gutachter für die DFG, ist Mitglied der Krankheit schwächte in den letzten Le- Deutschen Zoologischen Gesellschaft, bensjahren zunehmend sein Geh- und wird Vorsitzender der Gesellschaft für Erinnerungsvermögen. Klaus Sander Entwicklungsbiologie, Editor- in-Chief starb am 21. Februar 2015. Er ist im von Roux’s Archiv of Developmental Biolo- Hauptfriedhof von Freiburg begraben, wo gy, Mitherausgeber von Biologie in unse- sich auch die Gräber von August Weis- rer Zeit und weiterer Zeitschriften. mann und Hans Spemann befinden. Klaus Sander wird weiterhin Mitglied Danksagung: Dieser Beitrag wurde im Kuratorium des MPI für Virusfor- angeregt durch Prof. Dr. Albrecht Fischer schung/Entwicklungsbiologie in Tübin- (Mainz, Köln), vormals Präsident der gen (1982), der deutschen Akademie der DZG, der mir Unterlagen zur Vita von Naturforscher Leopoldina (1989) und der Klaus Sander zur Verfügung stellte und Heidelberger Akademie der Wissen- den Part eines Lektors übernahm. Ergän- schaften (1990). zende Hinweise erhielt ich von Prof. Sieg- fried Roth (Köln) und Dr. Urs Schmidt-Ott Wissenschaftliche Preise (Chicago). Das Portraitbild Klaus Sanders Theodor-Boveri-Preis der Physico-Me- stellte Prof. Ulrich Nauber (Göttingen) dica Würzburg 1989; zur Verfügung. Ihnen allen gilt mein be- Wissenschaftspreis der Gesellschaft sonderer Dank. für Entwicklungsbiologie 1991 Kowalevsky Medal St Petersburg 2001 Prof. Dr. W.A. Müller (J Exp Zool 302B(1), 2004) Silcherstraße 3 69257 Wiesenbach Persönliches Klaus Sander war verheiratet und hat- te drei Kinder, zwei Söhne und eine Toch- Schriftenverzeichnis – Auswahl ter, alle drei wie er und seine Gattin Dr. Beachte: Wilhelm Roux‘ Arch. Entw- Mech Org. und Roux’s Arch Dev. Biol. sind

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heute in Datenbanken zu finden unter their experimental foundation. In: Mala- Development, Genes and Evolution cinski (ed.) Pattern formation. A Primer in Developmental Biology, pp 245-68, Zur Biographie McMillan, London Counce Sheila J (1996) Biography and Sander K (1994) The evolution of in- contributions of Professor Klaus Sander, sect patterning mechanisms: a survey of 1966 recipient of the distinguished inter- progress and problems in comparative national award in insect morphology and molecular embryology. Development embryology. Int J Insect Morphol & Em- 1994: 187-91 bryol 25: 3-17. Hier ausführliches Schrif- Sander K, Schmidt-Ott U (2004) Evo- tenverzeichnis bis 1996 devo aspects of classical and molecular Sander K (1992) Antrittsrede. Jahrbuch data in a historical perspective. J Exp Zool der Heidelberger Akademie der Wissen- 302B(1): 69-91 schaften für 1991: 61-65 Schlüssel-Originalarbeiten ( bis 1996 Siehe Zur Wissenschaftsgeschichte auch oben Counce S): Sander K (1996) On the causation of Sander K (1959,1960) Analyse des oo- animal morphogenesis: Concepts of Ger- plasmatischen Reaktionssystems von Eu- man-speaking authors from Theodor scelis plebejus Fall (Cicadina) durch Iso- Schwann (1839) to Richard Goldschmidt lieren und Kombinieren von Keimteilen. I. (1927). Int J Dev Biol 40(1): 7-20 Mitteilung: Die Differenzierungsleistun- Klaus Sander (1997) Landmarks in de- gen vorderer und hinterer Eiteile. Wil- velopmental biology 1883 - 1924. Histori- helm Roux‘ Arch EntwMech Org 151: 430- cal essays from Roux's Archives. Springer 97 Sander K, Faessler PE (2001) Introdu- Sander K (1960) Analyse des ooplas- cing the Spemann-Mangold organizer: matischen Reaktionssystems von Euscelis Experiments and insights that generated plebejus Fall (Cicadina) durch Isolieren a key concept in developmental biology. und Kombinieren von Keimteilen. II. Mit- Int J Dev Biol 45(1): 1-11 teilung: Die Differenzierungsleistungen Sander K (2002) Ernst Haeckel's onto- nach Verlagern von Hinterpolmaterial. genetic recapitulation: Irritation and in- Wilhelm Roux‘ Arch EntwMech Org 151: centive from 1866 to our time. Annals 660-707 Anatomy 184(6): 523-533 Kalthoff K, Sander K (1968) Der Ent- wicklungsgang der Missbildung „Dop- Reviews pelabdomen“ im partiell UV-bestrahlten Sander K, Nübler-Jung K (1981) Polari- Ei von Smittia parthenogenetica (Dipt. ty and gradients in insect development, Chironomidae). Wilhelm Roux‘ Arch In: Schweiger HG (ed.) Internat Cell Biol EntwMech Org 161: 129-146 1980-81; pp 497-506. Springer Sander K (1971) Pattern formation in Sander K (1984) Embryonic patter for- longitudinal halves of leaf hopper eggs mation in insects: Basic concepts and (Homoptera) and some remarks on the

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definition of „Embryonic Regulation“. with special reference to the terminal re- Wilhelm Roux‘ Arch EntwMech Org 167: gions. Roux's Arch Dev Biol 203: 298-303 336-352 Binner P, Sander K (1997) Pair-rule Lohs-Schardin M, Sander K (1976) A patterning in the honeybee Apis melli- dicephalic monster embryo of Drosophila fera: Expression of even-skipped combi- melanogaster. Roux‘s Arch Dev Biol 179: nes traits known from beetles and fruitfly. 159-162 Dev Genes & Evolution 206(7): 447-454 Lohs-Schardin M, Sander K, Cremer Handel K, Gruenfelder CG, Roth S, C, Cremer T, Zorn C (1979) Localized Sander K (2000) Tribolium embryogene- ultraviolet laser microbeam irradiation of sis: A SEM study of cell shapes and mo- early Drosophila embryos: Fate maps ba- vements from blastoderm to serosal clo- sed on location and frequency of adult ef- sure. Dev Genes & Evolution 210(4): fects. Dev Biol 68: 535-545 167-179 Nüsslein-Volhard C, Lohs-Schardin M, Sander K, Cremer C, Cremer T (1980) A Zitierte Originalarbeiten ohne Sander dorso-ventral shift of embryonic primor- Jaeckle H, Kalthoff K (1979) RNA and dia in a new maternal-effect mutant of protein synthesis in developing embryos Drosophila. Nature 283: 474-476 of Smittia spec (Chironomidae, Diptera). Sander K, Lohs-Schardin M, Baumann Wilhelm Roux‘ Arch EntwMech Org 187: M (1980) Embryogenesis in a Drosophila 283 305 mutant expressing half the normal seg- Driever W, Nüsslein-Volhard C (1988) ment number. Nature 287: 841-843 The bicoid protein determines position in Fleig R, Walldorf U, Gehring W, Sander the Drosophila embryo in a concentra- K (1992) Development of the deformed tion-dependent manner. Cell 54: 95–104 protein pattern in the embryo of the ho- Anleitungen für Praktikumsversuche neybee Apis mellifera L. Roux's Arch Dev Biol 201: 235-242 Sander K (1973) Das Experiment: Ein- Sommer R et al. (1992) Evolutionary fache Beobachtungen an lebenden Hüh- conservation pattern of zinc-finger do- nerembryonen. Biol in uns Zeit 3: 14-19 mains of Drosophila segmentation genes. Sander K (1974) Das Experiment: Be- Proc Natl Acad Sci USA 89: 10782-86 einflussung der Kaulquappenentwicklung Schröder R, Sander K (1993). A com- durch Hormone. Biol in uns Zeit 4: 18-28 parison of transplantable bicoid activity Sander K (1980) Einfache Beobach- and partial bicoid homeobox sequences tungen an lebenden Hühnerembryonen. in several Drosophila and blowfly species In Falk H, Sitte P (Hrsg.) Experimente aus (Calliphoridae). Roux's Arch Dev Biol 203: der Biologie. Verlag Chemie, Weinheim 34-43 Zusammenfassende Werke zur Schmidt-Ott U, Sander K, Technau GM Entwicklungsbiologie (1994) Expression of engrailed in embry- os of a beetle and five dipteran species Haupt W, Sander K (1992) Entwic- klung, in: Czihak G , Langer H, Ziegler H

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(Hrsg.) Biologie, ein Lehrbuch, 5. Aufl., DZG, der mir Unterlagen zur Vita von Springer Klaus Sander zur Verfügung stellte und Müller WA, Hassel M (2012) Entwik- den Part eines Lektors übernahm. Ergän- klungsbiologie und Reproduktionsbiolo- zende Hinweise erhielt ich von Prof. Sieg- gie des Menschen und bedeutender Mo- fried Roth (Köln) und Dr. Urs Schmidt-Ott dellorganismen, 5. Aufl., Springer (Chicago). Das Portraitbild Klaus Sanders Spektrum stellte Prof. Ulrich Nauber (Göttingen) Mueller WA, Hassel M, Grealy M zur Verfügung. Ihnen allen gilt mein be- (2015) Development and Reproduction in sonderer Dank. Humans and Animal Model Species, Springer Prof. Dr. W.A. Müller Silcherstraße 3 Danksagung: Dieser Beitrag wurde 69257 Wiesenbach angeregt durch Prof. Dr. Albrecht Fischer [email protected] (Mainz, Köln), vormals Präsident der

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Ein Vorkämpfer für die Ökologie Zum Tod von Erwin Kulzer (23.2.1928-13.03.2014)

Ewald Müller und Heinz Weigold

Nach der Promotion folgte Kulzer Franz- Peter Möhres nach Tübingen an den damals ersten Lehrstuhl für Zoophysiologie in Deutschland. Neben dem Aufbau neuer tier- physiologischer Kurse und Praktika gelang Kulzer die Entdeckung, dass Nilflughunde wie Fledermäuse Ultraschall-Laute erzeu- gen. Untersuchungen über die Orientierung der Nilflughunde waren dann auch Gegen- stand der Habilitation, die 1960 erfolgte. Auslandsreisen führten nach Ägypten, Ostafrika und Australien. Die dabei gewon- nenen Eindrücke gaben den Anstoß, sich ei- nem völlig neuen Forschungsgebiet zuzu- wenden, der Autökologie, einem Teilgebiet der Ökologie, das sich mit den Anpassun- Erwin Kulzer an seinem 75. Geburtstag gen der Organismen an die Bedingungen in Foto: Ingrid Kaipf ihrem Lebensraum befasst. Es waren wohl die eigenen Erfahrungen in den heißen Wüs- Am Donnerstag, 13. März 2014, verstarb tenregionen, die dazu führten, dass in der kurz nach seinem 86. Geburtstag völlig un- Folgezeit vor allem die Probleme des Wär- erwartet Prof. Dr. Erwin Kulzer, der frühere me- und Wasserhaushaltes der Tiere in trok- Leiter der Abteilung Physiologische Ökolo- ken-heißen Gebieten im Mittelpunkt seiner gie der Tiere an der Universität Tübingen. Arbeiten standen. Geboren in Kempten, erfuhr Kulzer seine Die Hinwendung zur Ökologie zeigte weitere schulische Ausbildung auf dem sich auch in den Lehrveranstaltungen: Seit Gymnasium in Günzburg. Nach dem Abitur dem Wintersemester 1965/66 vermittelte im Jahre 1947 folgte in München das Stu- Kulzer in seiner Vorlesung „Ökologie der dium der Fächer Biologie, Chemie und Tiere und des Menschen“ und später auch Geographie, das er 1952 mit dem Ersten in einem ökologisch ausgerichteten Groß- Staatsexamen abschloss. Noch während des praktikum einer großen Zahl von Studenten die Grundlagen für ökologisches Denken anschließenden Referendariats begannen und Handeln. Auf zahlreichen Exkursionen die Arbeiten an der Doktorarbeit, die sich im In- und Ausland legte er großen Wert unter Anleitung des Nobelpreisträgers Karl darauf, theoretisches Wissen vor Ort mit Ritter von Frisch mit der Schreckreaktion bei praktischen Bezügen zu verbinden. Bei den den Kaulquappen von Erdkröten befasste. Studierenden besonders beliebt war die von

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ihm in den 60er Jahren ins Leben gerufene gen Mitarbeitern statt und er zeigte ein blei- Exkursion in die Zentralalpen, an der er bendes Interesse am beruflichen Werde- auch im Ruhestand noch viele Jahre teil- gang und am persönlichen Schicksal seiner nahm. Schüler. Die Anerkennung seines ökologischen Über seine Lehr- und Forschungstätigkeit Forschens und Lehrens war die Gründung hinaus übernahm Kulzer auch Funktionen in der Abteilung für Physiologische Ökologie der Selbstverwaltung der Universität Tübin- der Tiere im Mai 1975, deren Leitung er bis gen. In den Jahren 1983-84 war er Dekan zum Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1993 und Prodekan der damaligen Fakultät für innehatte. Es war zu dieser Zeit die erste Biologie. Viele Jahre lang beteiligte er sich derartige Institution in Deutschland. Mit der an der Gestaltung der Lehrpläne im Kultus- Gründung der Abteilung begann eine inten- ministerium und gehörte von Beginn an sive Beschäftigung mit Fragen der Umwelt- zum Wissenschaftlichen Beirat des Regie- problematik. Im Mittelpunkt standen dabei rungspräsidiums Tübingen. Die Entwicklung die Auswirkungen von Pestiziden auf Orga- der Deutschen Gesellschaft für Säugetier- nismen in Süßwasser-Ökosystemen, auf die kunde bestimmte er als Geschäftsführer der Einsatz solcher Giftstoffe nicht zielt. und Präsident über zehn Jahre mit. Die wissenschaftliche Arbeit Kulzers fand Das besondere Interesse Kulzers und ihren Niederschlag in über 130 Publikatio- seine Liebe galten bis zuletzt den Fleder- nen sowie in 24 Dissertationen und über mäusen. Er war maßgeblich an der Grün- 150 Diplom- und Staatsexamensarbeiten, dung der Arbeitsgemeinschaft Fledermaus- die unter seiner Anleitung angefertigt wur- schutz Baden-Württemberg im Jahre 1980 den. Als Hochschullehrer hat Kulzer Gene- beteiligt und koordinierte bis 2002 als Vor- rationen von Studenten geprägt. In didak- sitzender deren Aktivitäten. In zahlreichen tisch ausgefeilten Vorlesungen und Praktika Artikeln, Rundfunk- und Fernsehinterviews vermittelte er solides Grundwissen. Auf warb er um Verständnis für die nächtlichen zahlreichen Exkursionen öffnete er den Teil- Insektenjäger und wurde weithin als „Fle- nehmern die Augen für einen verantwor- dermaus-Professor“ bekannt. Für seine Ver- tungsvollen Umgang mit unserer Umwelt. Zu dienste um den Fledermausschutz wurde seinen Studenten hatte Kulzer eine ganz be- Kulzer 2008 mit der Staufermedaille des sondere Beziehung: Für die Staatsexamens- Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. kandidaten war er ein sorgfältiger Betreuer Mit Prof. Dr. Erwin Kulzer haben wir ei- und ein verlässlicher Prüfer und mit den nen im besten Sinne feinen Menschen ver- Mitarbeitern in der Abteilung pflegte er ein loren. Für viele war er ein Quell, aus dem enges persönliches Verhältnis. So fanden bis sie Wissen schöpfen, aber auch Mensch- zu seinem Tod jährliche Treffen mit ehemali- lichkeit erfahren konnten.

Prof. Dr. Ewald Müller Dr. Heinz Weigold Staufenstraße 3 Haldenstraße 14 72074 Tübingen 72127 Kusterdingen/Immenhausen [email protected] [email protected]

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Nachruf auf Walter J. Gehring 29. März 1939 - 29. Mai 2014

Markus Affolter

macht, einem eminenten Genetiker, der an der Universität Zürich lehrte. Sein For- schungsthema war die Transdetermina- tion, sein Forschungsobjekt die Fruchtflie- ge und die Methoden waren in der klas- sischen Genetik verankert. Die Fragestel- lung im Hadorn Labor war folgende: Im Verlaufe der Entwicklung eines Tieres wird Gruppen von Zellen ein bestimmtes Programm zugeordnet, welches im Nor- malfall zur Ausbildung bestimmter adulter Strukturen führt, wie z.B einem Flügel oder einem Bein. Diese Differenzierungs- phase kann im Labor künstlich verlängert werden, wodurch sich die Zellen viel öfter teilen müssen. Kann diese Verlängerung dazu führen, dass Zellen ihr angestamm- tes Entwicklungspotential ändern? Oder privates Bildarchiv anders formuliert, erinnern sich die Zellen daran, was sie tun müssen? Walter Jakob Gehring, der bedeutende Die Resultate von Walter Gehring und Zoologe und Molekulargenetiker, starb in anderen Kollegen im Labor von Hadorn Basel am 29. Mai 2014 an den Folgen von zeigten, dass Zellen ein sehr gutes Ge- Verletzungen, die er bei einem Verkehrs- dächtnis haben, aber doch ab und zu ihre unfall auf Lesbos am 11. Mai 2014 erlitten Funktion ändern und ein anderes Gewe- hatte. Walter J. Gehring genoss einen her- be bilden, das heißt sich transdeterminie- ausragenden Ruf als Wissenschaftler in ren, und dies nach einem ganz bestimm- der ganzen Welt. Die Forschung, die in ten Muster. Diese Experimente in Hadorns seinem Labor am Biozentrum in Basel Labor waren für Walter Gehring von enor- über die letzten 40 Jahre gemacht wurde, mer Wichtigkeit und haben seine nachfol- war schlicht und einfach bahnbrechend genden Arbeiten in hohem Masse ge- und sein Werk von einer Fülle, wie es sel- prägt. ten erreicht wird. Mit einer mehr als soliden Ausbildung Walter Gehring hat seine Doktorarbeit in Genetik ist Walter Gehring 1968 nach von 1963 bis 1965 bei Ernst Hadorn ge- Amerika an die Yale Universität gezogen,

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wo er im Labor von Alan Garen die neuen Gene zu klonieren, die die Entwik- molekularen Methoden erlernen wollte, klung steuern, war das große Ziel von die die Analyse von Genen ermöglichen Walter Gehring Anfang der 80-er Jahre. sollten. Walter hat immer und immer wie- Ed Lewis, ein amerikanischer Forscher, der betont, wie wichtig neue und innovati- hatte mehrere solche Gene beschrieben, ve Methoden sind, da sie neue Horizonte die sogenannten „Homeotischen Gene“, eröffnen. Es waren „early days“ in der die den Bauplan der Fliege steuern und molekularen Biologie, aber Walter Geh- dafür verantwortlich sind, dass jedes Seg- ring war überzeugt, dass dies der richti- ment der Fliege die richtigen Strukturen ge oder einzige Weg war, die Genetik in ausbildet. Aber diese Gene zu klonieren eine neue Aera zu führen. war noch nicht möglich. Deshalb begann Als Walter Gehring 1972 zurück in die Walter Gehring mit der Gruppe von Al- Schweiz ans Biozentrum nach Basel kam, fred Tissiere in Genf zusammen zu arbei- wollte er zuerst eine sogenannte Gen- ten. Alfred Tissiere hat die Regulation der bank von der Fruchtfliege erstellen. Er hat Hitzeschockgene in Drosophila analysiert, spaßeshalber immer wieder betont, dass und seine Arbeiten erlaubten es ihm, mit er gewusst hätte, dass es doch eigentlich einem einfachen Hitzeschock von Droso- in der Schweiz gelingen müsste, so eine phila-Zellen Sonden für die Hitzeschock- Genbank zu erstellen, mit all der Ban- Gene zu isolieren. Walter Gehrings Labor kenexpertise, die hierzulande vorhanden hatte also eine Genbank, und Alfred Tis- ist! Nun, es ist tatsächlich gelungen, im sieres Labor hatte eine Sonde für be- Labor von Walter Gehring die erste Dro- stimmte Gene, eben die Hitzeschock-Ge- sophila Genbank in Europa zu erstellen. ne. In einer erfolgreichen Zusammen- Nun musste man aber unter diesen vielen arbeit konnten sie dann die Hitzeschock- klonierten Genen noch diejenigen finden, Gene isolieren und beschreiben. Das war die für die Biologie von Bedeutung sein in den Jahren vor 1980 und hat zum frü- könnten. hen Erfolg des Gehring-Labors und des Walter Gehrings großes Ziel war es, Biozentrums beigetragen und hat Walter auf die Suche nach denjenigen Genen zu Gehring die ersten hochdotierten wissen- gehen, die die Entwicklung der Fliege schaftlichen Preise beschert. steuern. Schon bei Hadorn hatte er eine Mit diesen neuen, revolutionären Me- genetische Mutation studiert, die an Stelle thoden zur Hand konnte sich das Geh- einer Antenne ein Bein am Kopf trug. Er ring-Labor nun seinen eigentlichen Plä- hatte diese Mutation Nasobemia getauft, nen zuwenden, nämlich Gene zu nach dem von Thomas Morgenstern be- klonieren, die die Entwicklung steuern. Es schriebenen Nasobem, einem Tier, das fehlte aber immer noch dieses eine Stück auf der Nase herumläuft. Wie sich später des Puzzles, nämlich eine Sonde für ein herausstellte, war Nasobemia eine domi- solches Gen. Walter Gehring hat sich nate Mutation des Antennapedia-Gens, wiederum mit einem anderen Labor zu- das im weiteren Verlauf der Karriere von sammengetan, diesmal mit demjenigen Walter Gehring eine wichtige Rolle spielte. von seinem langjährigen Freund David

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Hogness an der Universität Stanford. Da- ihrem genetischen Aufbau sehr ähnlich, vid Hogness´ Labor hatte eine Methode sie entstehen sozusagen aus den glei- entwickelt, das sogenannte „Chromoso- chen Legobausteinen. Walter Gehring mal Walking“, die es erlaubt, von einem wollte so zu einer wichtigen Sequenz bestimmten Punkt des Genoms zu einem nicht einfach H-box sagen, er wollte diese anderen zu wandern, falls es genetische Homologie unbedingt Homeobox nen- Informationen in Form von genomischen nen. Alle 8 homeotischen Gene in der Bruchpunkten gibt (und die gab es für Fliege haben eine Homeobox, alle 39 ho- die homeotischen Gene). Mithilfe dieser meotischen Gene des Menschen haben neuen Methode konnte Walters Labor eine Homeobox. Die Homeobox wurde nach jahrelanger Arbeit schließlich das später zum Rosettastein der Entwick- Antennapedia-Gen klonieren, das Walter lungsbiologie erkoren, sie war der Ein- ja schon in seiner Dissertation beschäftigt stieg in die molekulare Entwicklungsbio- hatte. logie. Die molekulare Analyse des Antenna- Ed Lewis, der 1995 den Nobelpreis in pedia-Gens hat die Welt der Entwik- Medizin für die Beschreibung der home- klungsbiologie schlagartig verändert!! Es otischen Gene in der Fliege bekam, hat zeigte sich nämlich, dass ein kleines dies in einer kleinen Notiz, die er einer Stück des Antennapedia-Gens, die soge- Sendung von Fliegen ans Gehring-Labor nannte H-box, auch in allen anderen ho- beigefügt hatte, so formuliert: “Dear Wal- meotischen Gene vorhanden ist. Damit ter, you made the homeobox our flying war es auf einen Schlag möglich, alle ho- carpet!” meotischen Gene zu isolieren und zu cha- Walter Gehring hat immer gerne Vor- rakterizieren! Auch andere Gene mit ei- aussagen gemacht, und mit diesen neuen ner H-box konnten so gezielt aus der Erkenntnissen wollte er nun einen Schritt Genbank gefischt werden; hatte es noch weiter gehen. Er wollte den Bauplan der 2.5 Jahre gebraucht, um das Antennape- Fliege gezielt verändern. Er wollte zei- dia-Gen zu klonieren, wurden im Labor in gen, wie diese Gene funktionieren und den darauf folgenden drei Monaten 11 dass sie Organe oder Segmentstrukturen neue Gene isoliert! relativ autonom bilden können. Mit ande- Aber noch etwas viel Bemerkenswer- ren Worten: wenn ein Gen die Bildung ei- teres kam zum Vorschein: diese H-box, nes Beines steuert, so wie dies für Antp die die homeotischen Gene von Droso- vorausgesagt wurde, sollte man doch ei- phila charakterisiert, war auch in Genen gentlich Beine bilden können an Stellen, der Maus, des Frosches und des Men- wo sonst andere Strukturen wachsen, zum schen vorhanden! Etwas völlig Neues Beispiel Antennen. wurde entdeckt, nämlich dass entwick- Eine Serie von Experimenten wurde lungsbiologisch wichtige Gene in ver- deshalb geplant, in denen das Antenna- schiedenen Tieren konserviert sind! Tie- pedia-Gen, das normalerweise im Bein re, die so unterschiedlich aussehen wie exprimiert wird, in der Antennenregion Fliegen, Fische oder Menschen, sind in exprimiert werden konnte. Und tatsäch-

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lich, wie von Walter Gehring vorausge- ließ, sondern auch aufzeigte, wieso ver- sagt, entstanden Fliegen, die Beine anstel- schiedene Aminosäuren in der Evolution le von Antennen hatten! Die wissenschaft- konserviert waren. Ein weiteres großes liche Publikation, die diese Resultate be- Ziel war erreicht, mehrere hochzitierte schrieb, wurde mit dem Titel „Redesig- Arbeiten wurden publiziert, die For- ning the body plan of Drosophila by ecto- schung aus dem Gehring-Labor machte pic expression of the homeotic Gene einmal mehr Schlagzeilen. Kurt Wüthrich antennapedia“ publiziert. Der wissen- hat im Jahr 2002 den Nobelpreis in Che- schaftlichen Zeitschrift gefiel der Titel mie gewonnen für seine Arbeiten auf nicht, da er etwas „Göttliches“ an sich dem Gebiet der Strukturbestimmung hatte. Aber Walter insistierte und kam am mittels NMR. Schluss durch. Auf dieses „Redesigning Zu diesem Zeitpunkt hat das Labor of the body plan“ kommen wir später von Walter Gehring bereits mehrere Male nochmal zurück. für großes Aufsehen gesorgt. Doch dann Walter Gehring hat sich sofort ein wei- kam noch ein „Zufallstreffer“ dazu, etwas, teres, grosses Ziel gesteckt: die dreidi- das nicht einmal Walter Gehring selbst in mensionale Struktur der Homeodomäne seinen verrücktesten Voraussagen (und zu bestimmen. Also war es wieder einmal davon gab es viele) prognostiziert hätte! an der Zeit, eine neue Kollaboration zu 1995 wurde in einem Kontrollexperiment starten. Walter Gehring hatte einen Vor- im Labor ein Fliegengen identifiziert, das trag von Kurt Wüthrich von der ETH Zü- in seiner Struktur einem Gen verdächtig rich gehört, der davon sprach, dass man ähnlich war, welches bei der Maus die die Struktur von kleinen Proteinen mittels Bildung des Auges beeinflusst. Dieses NMR lösen könnte. Das war allerdings Gen gehörte einer Klasse von Homeo- vorerst mehr Theorie als Praxis. Die box-Genen an, die Markus Noll am Bio- Struktur eines Proteins von der Größe zentrum zuerst identifiziert hatte und die der Homeodomaine war zu jener Zeit unter dem Namen PAX Gene bekannt wa- noch nie mittels NMR Spektroskopie ge- ren. Das Augen-Gen der Maus wurde löst worden. Walter Gehring hat trotzdem PAX6 genannt, und auch das Gen in der zum Telephon gegriffen und Kurt Wüth- Fliege erhielt diesen Namen. rich in seinem Büro in Zürich angerufen Als Zoologe wusste Walter Gehring und ihn gefragt, ob er mit seinem Labor natürlich, dass Fliegen Facetten- Augen zusammen dieses Projekt in Angriff neh- haben, Mäuse und Menschen aber Lin- men würde. Kurt Wüthrich stimmte zu. senaugen. Bereits Charles Darwin konn- Obwohl es eigentlich im Moment gar te sich nicht erklären, wie solch komple- nicht möglich war, dieses Projekt erfolg- xe, aber von Grund auf verschiedene Or- reich durchzuführen, waren die Resultate gane sich in der Evolution durch natürli- nach ungefähr zwei Jahren harter Arbeit che Selektion bilden konnten. Er schrieb, da; die 3-dimensionale Struktur der Ho- dass die verschiedenen Augentypen meodomäne, die nicht nur die Funktion wahrscheinlich mehrmals unabhängig der einzelnen Aminosäuren erkennen voneinander entstanden sein könnten. Es

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Walter Gehring am Mikroskop in früheren Jahren privates Bildarchiv

hat nicht lange gedauert, bis klar war, beitet, häufig auch erfolglos. Und jetzt dass dieses PAX6 Gen der Fliege die Bil- sollten ein Student und ein Postdoc eine dung des Fliegenauges steuert! PAX6 war Fliege erzeugen, die Augen auf verschie- also beim Menschen und bei Fliegen an denen Strukturen ihres Körpers trägt? Ein der Augenbildung beteiligt, ein völlig un- einziges Gen, das in einem fremden Ge- erwartetes und spektakuläres wissen- webe ein funktionelles Auge induzieren schaftliches Resultat! sollte? Es wurde viel diskutiert in und Damit nicht genug, jetzt kam die Zeit außerhalb des Labors über die Erfolg- von Walter Gehring als Visionär so richtig schancen dieses Experimentes. Walter zur Geltung. Sein Labor hatte ja schon Gehring aber, der wollte Resultate sehen! gezeigt, dass man den Bauplan der Flie- Und tatsächlich, eines Tages schlüpften ge verändern konnte und Antennen zu die ersten Fliegen im Labor, die am gan- Beinen transformieren konnte. Wieso also zen Körper rote Augen hatten, an den An- nicht auch zeigen, dass das PAX6 Gen tennen, den Flügeln und den Beinen; es wirklich Augen induzieren konnte? Ich war beängstigend, diese Fliegen im Glas- hatte zu dieser Zeit meine erste kleine Ar- tübchen zu beobachten! Walter Gehring beitsgruppe auf dem 2. Stock im Biozen- aber war begeistert, und das Resultat trum, und wir wussten, dass Walter Geh- schaffte es später sogar auf die Titelseite ring viele verrückte Ideen hatte; wir der New York Times! Einige Forscher ha- haben oft an verrückten Projekten gear- ben dieses Experiment als eines der

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wichtigsten in der Biologie eingestuft, die Biologiebüchern zu finden. Die Entdek- Publikation wurde von Science zur wich- kung der Homeobox, und die Erkenntnis, tigsten Publikation des Jahres 1995 ge- dass Gene, die die Entwicklung der Tau- wählt! fliege Drosophila steuern, auch im Men- Seither hat sich Walter Gehring fast schen vorhanden sind und unsere Entwik- ganz der Evolution des Auges und des klung steuern, war bahnbrechend und Sehens gewidmet. Mit 70 Jahren, im Jahre wird auch in Zukunft in der Reihe der be- 2009, wurde Walter Gehring pensioniert deutendsten wissenschaftlichen Entdek- oder auch emeritiert, wie man bei Profes- kungen einen Spitzenplatz einnehmen. soren so schön sagt. Einer des ersten Die Induktion von Augen an verschiede- Briefe, die Walter Gehring nach seiner nen Körperteilen der Fliege ist ein Para- Emeritierung erhielt, war mit einem debeispiel für die Funktion von Masterre- Druckfehler behaftet. So wurde er als gulatoren in der Entwicklung von Professor eremitus bezeichnet, und nicht Lebewesen. als Professor emeritus. Walter Gehring Walter Gehring wurde für seine Arbei- hat das lachend seiner Frau Elisabeth ge- ten mehrfach ausgezeichnet. So hat er zeigt, die ihm geantwortet hat, dass die schon 1982 den Otto-Nägeli-Preis gewon- falsche Bezeichnung viel besser auf sei- nen, noch vor der Entdeckung der Homeo- nen Zustand zutreffe; er sei wirklich ein box. Nach der Entdeckung der Homeo- Professor eremitus, da er immer in der box hat es dann richtiggehend Preise ge- ganzen Welt umherreise und nie zu Hau- regnet, unter anderem den Prix Louis se sei!! Solch kurze, lustige Geschichten Jeantet de Médécine und den Gairdner konnte Walter Gehring immer wieder er- Award 1987, den March of Dimes Preis zählen, gefolgt von einem ansteckenden, 1997, den Kyoto-Preis in 2000 und den lauten Lachen! Balzan-Preis 2001. Im Jahre 2000 erhielt Nun, Walter Gehring hat auch nach Walter Gehring die Karl-Ritter-von-Frisch- 2009 weiterhin Forschungsgelder vom Medaille der Deutschen Zoologischen Schweizerischen Nationalfond erhalten, Gesellschaft. er ist viel umhergereist und hat Vorträge Von all diesen Preisen hat sich Walter gehalten. Vor allem hat er sich seiner ganz besonders über den Kyoto-Preis ge- Evolutionstheorie des Auges und der freut, einen japanischen Preis, der jedes lichtempfindlichen Pigmente gewidmet, Jahr das Lebenswerk eines einzelnen und auch seine Publikationsliste kontinu- Wissenschaftlers ehrt. ierlich ausgebaut. So sind seit seinem To- Ich kann mich noch genau an jenen de schon zwei neue wissenschaftliche Ar- Tag im Labor erinnern. Da im Biozentrum beiten publiziert worden, und weitere übers Wochenende Strom gespart wird, werden folgen. war es eher düster an diesem Samstag Der Schweizer Wissenschaft wird Wal- Nachmittag. Walter kam auf mich zu, sei- ter fehlen, er war einer der ganz Großen! ne Augen leuchteten im Halbdunkel, als Seine Karriere war beispielhaft, die Ent- er mir erzählte, dass er einen Telephon- deckungen seines Labors sind in allen anruf aus Japan erhalten habe und dass

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ihm mitgeteilt worden sei, dass er den Ky- Richtung geht. Er hatte den Mut, seine oto-Preis gewinnen würde. Walter und Meinung zu äußern, wofür er auch des seine Frau Elisabeth sind dann für eine öfteren kritisiert wurde. Woche nach Japan geflogen, wo sie unter Sein Leben hat Walter in vollen Zügen anderem vom Japanischen Kaiser und genossen! Von ersten Kaffee am Morgen seiner Frau empfangen wurden. Nach sei- bis zum letzten Tropfen am Abend; er hat ner Rückkehr hat Walter Gehring von sei- immer etwas gefunden, woran er sich er- nen tollen Erlebnissen erzählt und hat ge- freuen konnte. Walter liebte es zu tanzen, sagt, dass er von nun an seine Frau nur ob es nun Sirtaki in Griechenland oder noch mit Königin Elisabeth ansprechen Samba in Südamerika war, er genoss würde! Natürlich wurde diese Aussage dies, wie alles andere, in vollen Zügen. von einem breiten Lachen begleitet, ei- Obwohl Walter Gehring ein begeisterter nem Lachen, das jetzt leider fehlt! Vogelkenner war und auf jedem Kontinent Walter war wie ein Vater für viele sei- auf Vogelexkursion ging, konnte ich ihn ner Studentinnen und Studenten, und die- leider nie dabei begleiten und all die se, seine zweite Familie, hat er über all interessanten Geschichten, die darüber die Jahre zusammen gehalten. Dies war erzählt wurden, nie live miterleben. letztmals gut sichtbar, als im März 2014 Eine der wissenschaftlichen Tagungen, an einer 2-tägigen wissenschaftlichen Ta- die Walter am meisten schätzte, war das gung sein 75. Geburtstag gefeiert wurde, Meeting der Fliegenforscher in Kolymbari zu dem über hundert ehemalige Mitar- auf Kreta. An allen 18 bisherigen Tagun- beiter nach Basel kamen. Zwei Tage hat gen in den letzten 36 Jahren hat Walter er mit seinen ehemaligen Mitarbeitern teilgenommen. Ende Juni 2014, einige diskutiert und Seminare angehört. Er Wochen nach dem Ableben von Walter selbst hat einen überaus interessanten Gehring, fand in Kolymbari die 19. Droso- und spannenden Vortrag über die Me- phila-Konferenz statt. Viele seiner guten chanismen der Evolution und über seine Freunde waren in Kreta und konnten nicht neuen Theorien zur Evolution des Sehens an einer Gedenkfeier, die die Universität gehalten. Den Abend in einem Zunftsaal Basel zu Ehren von Walter Gehring orga- eines lokalen Restaurants in Basel hat nisierte, teilnehmen. Sie haben deshalb Walter als Alleinunterhalter gestaltet, hat die folgende Mitteilung an den Autor die- nochmal zwei Reden gehalten und seinen ses Nachrufes geschickt, damit der Text Mitarbeitern und seiner Familie gedankt. während der Feier vorgelesen werden Walter hat in einem vor ein paar Jah- konnte: ren gemachten Interview gesagt: „Scien- “Walter was one of the founding fa- ce must be fun“! Er hat seinen Studenten thers of the pre-eminent international Dro- und anderen Mitarbeitern die Begeiste- sophila Conference, which is held in Cre- rung für wissenschaftliche Forschung mit- te for almost 40 years, and which is gegeben und die Freude an der Natur im currently meeting at the Kolymbari site Allgemeinen. Walter war auch absolut that he loved so much. His absence lea- überzeugt, dass Fortschritt in die richtige ves a big hole in the meeting, but we will

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long remember his drive, enthusiasm and Walter war schlicht einzigartig, ausser- encouragement. His legacy is being car- gewöhnlich, unnachahmbar und für ganz ried forward by his scientific descendants viele von seinen ehemaligen Mitarbeitern – many of his children, grandchildren and ein ausserordentlicher Freund! great grand children are major partici- pants here. His extraordinary mentorship P.S.: Dieser Nachruf basiert auf einer and scientific impact was recognised at a Rede des Autors an der Gedenkfeier zu special presentation this week by a for- Ehren von Walter Gehring, die die Univer- mer student. He is and will continue to be sität Basel am 27. Juni 2014 in der Peters- deeply missed“. kirche Basel organisierte.

Markus Affolter Biozentrum der Universität Basel Klingelbergstrasse 50/70 CH-4056 Basel markus.affolter@unibas-ch

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Nachruf auf Helmut Sturm 15. Mai 1929 – 1. Januar 2015

Irene Würdinger

Professor Dr. Helmut Sturm starb am 1. Ja- nuar 2015 im 85. Lebensjahr. Sturm war ein hinreißender Hochschullehrer, der seine Studenten und seine Kollegen und Mitarbeiter begeisterte. Seine Artenkennt- nis war allumfassend und so wurde jede Freilandarbeit und jede Exkursion zu ei- nem besonders spannenden Erlebnis: et- wa als 1988/89 die A7 im Streckenab- schnitt Hildesheim-Hildesheimer Börde Richtung Süden ausgebaut wurde und da- bei Fossilien enthaltende Schichten des Oberjura/Malm angeschnitten wurden. Dort barg Sturm mit seinen Studenten sel- tene Ammonitenarten (H. Sturm und C. Braukmann: Seltene und weniger bekann- te Fossilien aus dem Malm bei Hildes- heim. Arbeitskreis Paläontologie Hanno- Helmut Sturm vor einer seiner Ausstellungsta- ver 27, 53-65 (1999)). Seine wissenschaft- feln Foto: Eberhard Schwarzer liche Liebe galt, von dem Auffinden von Fossilien abgesehen, den Urinsekten der 1955 in der Zeitschrift für Tierpsychologie Überfamilie Machiloidea und der andi- (12, 337-363). Von 1954 bis 1957 war nen Hochregion des Páramo von Kolum- Sturm Stipendiat der Deutschen For- bien bis Peru mit allen Facetten der Öko- schungsgemeinschaft. Das Referendariat logie. in Bingen und Bad Kreuznach schloß sich Helmut Sturm wurde am 15. Mai 1929 an, 1959 legte Sturm das 2. Staatsexamen in Heidesheim am Rhein (Landkreis Main- ab und war anschließend Assessor des Bingen) geboren. Reifeprüfung 1948 in Lehramts in Idar-Oberstein. Mineralien Mainz, Studium der Fächer Biologie, Phy- gehörten seitdem zu seinen Sammlungs- sik, Chemie mit dem Abschluß 1. Staats- objekten. Im Wintersemester 1960/61 bis examen (sehr gut) in Mainz. Im Anschluß Sommersemester 1963 lehrte Sturm als promovierte Sturm 1954 mit dem Thema Dozent an der PH Oldenburg, dann folgte “Beiträge zur Ethologie einiger mittel- er einem Ruf als Dozent an die PH Kob- deutscher Machiliden” zum Dr. rer. nat. lenz bis 1967. Von 1967 bis 1969 lehrte (summa cum laude). Die Arbeit erschien Sturm in Vertretung einer Professur an

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der National-Universität in Bogotá, Kolum- und im Süßwasser) und 1975 Dr. Renate bien. Die Ökologie der andinen Hochre- Schulz (mit Schwerpunkt Botanik, ange- gion des Páramo blieb seine wissen- wandte Botanik und Einführung in die schaftliche Stätte bis in die 90er Jahre. Ökologie), legte Professor Sturm seinen 1970 erfolgte der Ruf als Professor für das Schwerpunkt auf die Humanbiologie: von Fach Biologie an die PHN-Abteilung Hil- der Abstammung des Menschen über die desheim. Sturm blieb Hildesheim bis zu Embryonalentwicklung und Individualent- seiner Emeritierung 1994 treu. Er erlebte wicklung bis zur Sexualerziehung. Weite- die Wandlung von der Abteilung Hildes- re Schwerpunkte waren die Insekten und heim der Pädagogischen Hochschule ihre Entwicklungsformen, ihr Verhalten Niedersachsen (PHN) zur selbständigen und die sozialen Strukturen, von solitär le- Hochschule und die Entwicklung zur Uni- benden Arten bis zu Insektenstaaten. versität. Die Stiftungs-Universität Hildes- Ausgesuchte ökologische Schwerpunkte heim entstand erst 2003, nach Sturms waren die tropischen Regionen Afrikas Emeritierung. und die Páramo-Regionen Südamerikas, Helmut Sturm baute das Fach Biologie z. T. zusammen mit dem Fach Geogra- sowohl personell wie sachlich aus. Samm- phie. Mit dem ZFW gründete Sturm ein lungen, Tier- und Pflanzenzuchten wurden Kontaktstudium Ökologie für interessierte angelegt. Die unmittelbare Anschauung Lehrer. Bestimmungsübungen gehörten des Tieres, der Pflanze, des Fossils und zum Grundkanon, ob Pflanzen oder Tiere, der jeweilige Lebensraum waren ihm oft auch mit der Aufforderung an die Stu- wichtig. Hildesheim bildete Lehrer für denten, selber einen Bestimmungsschlüs- Grundschulen, Hauptschule und, in zu- sel zu entwickeln, eine Aufforderung zur sätzlichen Lehrgängen, für Realschulen genauen Betrachtung. Hier war Klaus aus. Es bestand aus alter Zeit eine Verein- Schüttoff in seinem Element. Er hatte ei- barung mit dem bischöflichen Stuhl in nen Bestimmungsschlüssel für Land- Hildesheim, die Ausbildung zum Lehrer schnecken entwickelt, der immer wieder katholischer Religionszugehörigkeit zu als Vorbild diente. gewährleisten. Sturm war katholisch. Er Exkursionen gehörten ebenfalls zum war verheiratet mit Helga, geb. Görlitz; Pflichtkanon der Studenten, mehrtägige zwei Söhne wurden geboren. “große” Exkursionen sowie einige eintä- Neben den Grundkursen, Botanik, gige Exkursionen. Die großen Exkursio- Zoologie, Humanbiologie, bot Sturm in nen führten im Wechsel in südlich gele- der Anfangszeit eine breite Palette zuge- gene Gebiete, nach Korsika und vor höriger Übungen mit Mikroskopieren und allem in die Alpenregionen, vom Allgäu der Anleitung zu experimenteller Arbeit bis zu den Seen und Bergen Österreichs an, assistiert von Klaus Schüttoff und einer sowie nach Helgoland, zur Biologischen technischen Assistentin, Frau Biemann. Station, dem marinen Umfeld sowie der Nachdem 1974 Dr. Irene Würdinger nach Vogelwarte Helgoland und ihren Führun- Hildesheim kam (Schwerpunkte Verhal- gen. Viel Zeit für eigenes wissenschaftli- ten, Ornithologie, Lebensformen im Meer ches Arbeiten blieb in den ersten Jahren

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der Tätigkeit in Hildesheim nicht. Dies des Faches Biologie gegeben wurde und zeigte sich auch darin, dass die Zahl sei- in den Kellerräumen des Faches unterge- ner wissenschaftlichen Veröffentlichungen bracht werden konnte. Sturm nahm sich erst in den Jahren vor und nach seiner des terrestrischen Teiles und der Süß- Emeritierung stark anstieg. wasserformen an, vor allem der Insekten; Helmut Sturm war bescheiden in sei- Würdinger übernahm die Betreuung der nen täglichen Wünschen und zurückhal- marinen Formen von Schwämmen und tend in der Öffentlichkeit. Gremienarbeit Korallen bis zu Stachelhäutern. Nach dem war z. T. notwendig, aber nicht ange- Reinigen, Konservieren und Bestimmen nehm. Immer fürchtete er eine Schmal- der Objekte konnten die Stücke der spur-Ausbildung der Grundschullehrer Sammlung zum ersten Mal nach dem im Fach Biologie. Sturm begegnete sei- Krieg wieder der Öffentlichkeit in den nen Studenten mit Aufgeschlossenheit Räumen der Hochschule präsentiert wer- und großer Geduld, alle Fragen wurden den. Erst 2003 wanderte die Sammlung, beantwortet, bei Sorgen und Nöten half begleitet von Prof. Sturm, zurück in das er, wenn es irgend möglich war. Er war Magazin des Roemer-Pelizaeus-Mu- ein fairer Prüfer. Die Vorlesungen in Biolo- seums. gie-Didaktik enthielten erzieherische An- Eine große wissenschaftliche Liebe sätze. Sturms war die Überfamilie Machiloidea Sturm war ein Sammler. So nahm es (Insecta), vor allem die Familien Machili- kein Wunder, daß als die altehrwürdige dae und Meinertellidae. Er war ein welt- naturwissenschaftliche Sammlung des weit hochgeachteter Spezialist auf seinem Roemer-Pelizaeus-Museums in Hildes- Gebiet. Seine Veröffentlichungen betref- heim an Schulen, andere Museen etc. ab- fen ethologische Aspekte, morphologi- gegeben werden sollte, Prof. Sturm auf sche Beschreibungen, die Entwicklung, Wunsch der Stadt Hildesheim eingriff. die Systematik und einige Nachbestim- Das Roemer-Museum war 1844 gegrün- mungen, die Ökologie und Evolution der det worden vom „Verein für Kunde der Machilidea. Neue Arten wurden aus Au- Natur und der Kunst im Fürstenthum Hil- stralien, Kolumbien, dem Krakatao-Archi- desheim und in der Stadt Goslar“. Hildes- pel (Indonesien), Nepal, Nordamerika, heim war bei einem Luftangriff am 22. Mexiko, der Dominikanischen Inselwelt März 1945 schwer zerstört worden, u.a. (hier fossile Funde) und vom Sokotra-Ar- auch das Museum. Der Wiederaufbau chipel beschrieben. Auch außerhalb der und/oder die Renovierung der Gebäude Machiliden fand Sturm einige neue Arten, gestalteten sich schwierig. Die Sammlun- z.B. eine flugunfähige Neuroptera-Art und gen waren z. T. ausgelagert worden, z. T. Polylobus-Arten im Páramo-Gebiet der in stehengebliebenen Teilen der Gemäu- Anden. er gelagert. Prof. Sturm erreichte in Ver- Seit seinem ersten Aufenthalt in Kolum- handlungen mit der Stadt und dem Mu- bien 1967-69 war Sturms zweite große seum, daß die gesamte Wirbellosen- wissenschaftliche Heimat die Páramo-Re- Sammlung des Museums in die Obhut gion in den Anden, eine hochalpine Re-

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gion an der Baumgrenze und darüber. kannter Wissenschaftler. Einige nach ihm Ihn interessierte von der Bodenbeschaf- benannte Formen, die "sturmi" (z. B. Ar- fenheit über das Klima die Flora und Fau- cheatelura sturmi, eine durch Mendes na des Gebietes, auch die Seen und Flüs- 1997 erstmals beschriebene Zygentoma- se, und nicht zuletzt der menschliche Art aus dem Dominikanischen Bernstein) Einfluß auf dieses Gebiet; 1985 erschien werden sein Andenken weiter tragen. auf spanisch sein Buch „Ecologia de los páramos andinos – una vision preliminar Eine Sammlung der Veröffentlichun- integrada“, zusammen mit Orlando Ran- gen von Prof. Dr. H. Sturm befindet sich gel. Das Werk bekam 1985 den Preis des im Fach Biologie, Prof. Dr. H. Kierdorf, Stif- Kolumbischen Concurso Nacional für For- tungsuniversität Hildesheim, Universitäts- schungen zum Schutz der Natur und Um- platz 1, 31141 Hildesheim. welt. 1998 erschien „The Ecology of the Páramo Region in Tropical High Moun- Danksagung: Für Unterstützung und tains“ (Franz Becker Verlag Hildesheim; Materialien sei der Stiftungsuniversität Hil- 286 Seiten, 32 Abb., 31 Tabellen, 46 Fo- desheim und dem Fach Biologie gedankt, tos). In diesem Werk wird zudem verglei- Herrn Prof. Dr. H. Kierdorf und Frau R. Zan- chend auf die Páramo-Regionen Ostafri- der, dem Archiv, Herrn Dr. F. Winterhager, kas und Malaysias eingegangen. ferner Herrn PD. J. Köhler, sowie Frau Dr. H. Stein und Herrn Dr. J. Wespermann (beide Professor Sturm war ein herausragen- Roemer-Pelizaeus-Museum). der Hochschullehrer und höchst aner-

Prof. Dr. Irene Würdinger Augustinum App. 952 Neumühlen 37 22763 Hamburg

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Nachruf auf Hubert (Jim) Markl 17. August 1938 – 8. Januar 2015

Bert Hölldobler

ne ältere Schwester sie nach Kräften unterstützten, denn die Mutter musste als Schreibkraft zugleich die Familie ernäh- ren. Trotz dieser schwierigen Lage emp- fand Hubert Markl „überwältigende Ge- borgenheit im Schoß einer Großfamilie“. Anstelle des kranken Vaters trat als Rollen- modell ein Onkel – er war Germanist -, der ihm die Dichtung genauso nahe brachte, wie die Natur. Hubert Markl er- innert sich: „Ihm verdanke ich mehr als jedem an- deren, dass ich es lernte, in der Natur stundenlang still zu sitzen, zu warten, zu beobachten und auf jede Kleinigkeit zu achten. Er war nämlich ein begeisterter Angler, und ich durfte ihn dabei oft be- gleiten. Wer es nicht gelernt hat, in freier Natur bei wacher Aufmerksamkeit seinen Foto: Wolfgang Filser/MPG Aktivitätsdrang zu zügeln, der wird es nie- mals zum Verhaltensforscher bringen..... Hubert Markl ist am 17. August 1938 in Ich bin jedenfalls sicher, dass ich kaum der schönen bayerischen Stadt Regens- zum Naturforscher geworden wäre, wenn burg auf die Welt gekommen. Seine mich dieser Onkel nicht beim Angeln ge- Schulfreunde nannten ihn Jim, und dieser lehrt hätte, wieviel man erleben und er- Name ist ihm sein Leben lang geblieben. fahren kann, wie viel Erfolg man haben Er selbst sagte einmal, er betrachte es als kann, wenn man die Geduld dazu auf- reiches Erbe, Kind einfacher Leute gewe- bringt.“ sen zu sein, die sich erst wenige Genera- Diese Gabe und Neugier aufs Kennen- tionen von den bäuerlichen Wurzeln ent- lernen all dessen, was man lernen kann, fernt hatten. Seine Eltern hatten ein hat Hubert Markl mit an die Universität schweres Los zu tragen: Sein Vater lag, so München gebracht. Dort konnte er dank lange sich Hubert erinnern konnte, mit eines Begabtenstipendiums, das er nach Multipler Sklerose danieder. Seine Mutter dem glänzend bestandenen Abitur am pflegte den Vater, wobei Hubert und sei- Regensburger Gymnasium vom Bayeri-

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schen Staat erhielt, bei den damals welt- fernung der neu entdeckten Futterquelle weit führenden Verhaltensforschern und ihren Nestgenossinnen mitteilen. Aller- Sinnesphysiologen studieren, insbeson- dings wusste man über Schweresinnesor- dere Karl von Frisch, Hansjochem Au- gane bei Insekten kaum etwas, bis Martin trum, , und Lindauer zusammen mit seinem Schüler vor allem Martin Lindauer. Oskar Nedel 1959 bei der Honigbiene Martin Lindauer wurde sein Doktorva- Gruppen von Sinneshaaren (Borstenfel- ter. Hubert Markl sagt über ihn folgen- der) an Hals- und Hinterleibs- Gelenk des: „Ich verdanke ihm das Vorbild, wie entdeckten und herausfanden, dass diese ein wirklicher Naturforscher lebt, denkt Sinneshaare die Stellung des Kopfes und und arbeitet, und wie man in der Verhal- des Hinterleibs registrieren. So nimmt die tensforschung den mühseligen, steinigen Biene die Verlagerungen wahr, die die Weg von der plausiblen Hypothese und Körperteile unter dem Einfluss der anekdotischen Beobachtung zur kriti- Schwerkraft erfahren, wenn das Insekt die schen Prüfung im Experiment und zur Stellung im Raum ändert. beweiskräftigen Aufklärung ursächlicher Da lag es nun nahe, auch bei anderen Zusammenhänge geht. Seinem weltwei- Hautflüglern, z.B. Wespen und Ameisen, ten Ansehen als Verhaltensforscher ver- nach solchen Schweresinnesorganen zu danke ich die Begegnung mit zahlrei- suchen. Das war die Aufgabe, die Martin chen, damals in der Verhaltensforschung Lindauer dem jungen Hubert Markl stellte. führenden Wissenschaftlern des In- und Vor allem Ameisen der verschiedensten Auslands, und damit den Aufbau wissen- Arten zeigen hervorragende Fähigkeit, schaftlicher Beziehungen, die mich und sich nach der Schwerkraft zu orientieren, meine Mitarbeiter stets begleitet und ge- aber über die verantwortlichen Sinnesor- fördert haben.“ gane, die diese Schwereorientierung er- Der angehende Doktorand Markl kam möglichen, gab es nur z.T. sehr kontrover- zu Martin Lindauer als dieser sehr daran se Spekulationen. Hubert Markl löste das interessiert war herauszufinden, wie sich ihm gestellte Problem bravourös. Zusätz- Insekten im Schwerefeld orientieren. Das lich zu den Entdeckungen zahlreicher Sin- war deshalb von großem Interesse, weil nesborstenfelder bei Ameisen hat er wei- sich die Honigbienen auf der vertikalen tere Borstenfelder bei Honigbienen und Wabenplatte im dunklen Stock nach der Wespen gefunden und mit raffinierten Schwerkraft orientieren, z.B. wenn die er- Ausschlussversuchen konnte er die relati- folgreichen Futtersammlerinnen den ve Bedeutung der einzelnen Borstenfelder außerhalb des Stocks visuell wahrgenom- für die Schwereorientierung ermitteln. Aus menen Winkel, der durch den Sonnen- diesem, zunächst etwas trockenen Promo- stand die Position des Stocks und die La- tionsthema hat Hubert Markl eine brillante ge des Futterplatzes beschrieben wird, Dissertation geschaffen, die, obgleich in beim Rekrutierungs-Schwänzeltanz im In- deutscher Sprache publiziert, internationa- neren des dunklen Stocks auf die Schwer- le Beachtung fand. kraft übersetzen und so Richtung und Ent-

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Hubert Markl hat 1962 im Alter von 24 ne Vermittlung konnte Hubert Markl viele Jahren mit dem Prädikat summa cum lau- Monate lang an der tropischen For- de promoviert und wurde wissenschaft- schungsstation der New York Zoological licher Assistent am Zoologischen Institut Society in Trinidad über die Schallkom- in München. Ein Jahr später hat Martin munikation von Blattschneiderameisen Lindauer einen Ruf als Ordinarius und Di- arbeiten. Man kannte zwar schon lange rektor des zoologischen Instituts der Jo- das sogenannte Stridulationsorgan, das hann Wolfgang von Goethe Universität in im vorderen Bereich des Hinterleibs der Frankfurt a. M. angenommen, und er hat Arbeiterinnen vieler Ameisenarten zu Hubert Markl eingeladen, als wissen- finden ist, und man wusste, dass die schaftlicher Assistent mit ihm nach Frank- Ameisen Stridulationsgeräusche produ- furt umzuziehen. zieren können, indem sie eine harte Kan- Es folgten dann eine Reihe sehr schö- te über eine fein gerippte Platte auf der ner Arbeiten zur Orientierung von Amei- Vorderseite des vierten Hinterleibstergits sen und Bienen im Schwerefeld und zur reiben. Aber es war nahezu nichts über multimodalen Informationsverarbeitung die Funktion und biologische Bedeutung bei der Orientierung. Markl hat zeigen dieses Schallerzeugungsapparates be- können, dass die Borstenfelder Teile eines kannt. Regelsystems sind. Die Stellung der ein- Hubert Markl hat die physikalischen zelnen Körperglieder wird in diesem Re- Eigenschaften der Stridulationslaute ge- gelsystem primär durch die Propriore- nau beschrieben und er konnte nachwei- zeption gemeldet, und die Schwerkraft sen, dass die Ameisen den durch die Luft dient der überlagerten Zielorientierung. getragenen Schall nicht wahrnehmen Ebenso eindrucksvoll ist die detaillierte, können, sie können also nicht hören. Den- umfangreiche Analyse des peripheren noch werden die Ameisenarbeiterinnen Nervensystems und der Muskulatur des vom Stridulationsgeräusch ihrer Nestge- Thorax bei Honigbiene (Apis mellifera), nossinnen angelockt, und zwar sind es Ameise (Formica polyctena) und Wespe die durch die Stridulation erzeugten Vi- (Verspa vulgaris), die Markl 1965 fertig- brationen des Untergrunds, die die Arbei- stellte. Für die damalige Zeit eine wirklich terinnen mittels hoch empfindlicher wegweisende funktionsmorphologische Vibrationsrezeptoren in ihren Beinen Untersuchung! wahrnehmen. Ameisen, die z. B. nach ei- Ermutigt durch Martin Lindauer und nem Nesteinsturz unter der Erde begra- dank eines Stipendiums der Volkswagen- ben sind, stridulieren und rufen damit Stiftung war es Hubert Markl möglich, Nestgenossinnen, die sich in der Nähe von 1965 bis 1966 einen Forschungsauf- aufhalten, zu Hilfe. Tatsächlich konnte enthalt an der Harvard Universität und der Markl zeigen, dass diese „herbeigerufe- Rockefeller Universität zu verbringen, und nen“ Ameisen ihre verschütteten Nestge- mit dem großen Wegbereiter der experi- nossinnen ausgraben. mentellen Verhaltensforschung, Donald R. Mit elektrophysiologischen Ableitun- Griffin, zusammenzuarbeiten. Durch sei- gen der summierten Antwortpotentiale

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von Beinnerven der Blattschneideramei- Angriffsverhalten gegen Artgenossen und sen konnte er die Rezeptionsschwellen gegen Beuteobjekte bei vier Piranha-Ar- für Vibrationsreize genau ermitteln und ten untersucht. Des weiteren hat er ein nachweisen, dass die Rezeptoren der bisher völlig unbekanntes, raffiniertes kleinen Arbeiterinnen mehrfach empfind- Schutzverhalten eines Welses gegen An- licher sind als die der großen „Soldatin- griffe von Piranhas entdeckt. Es würde nen“. Das war eine interessante Entdek- hier den Rahmen sprengen, über Details kung, denn erst etwa 25 Jahre später dieser schönen Arbeiten zu berichten. haben vor allem Flavio Roces (von der Nach seiner Rückkehr vom Amazonas Universität Würzburg) und seine Ko-Auto- erreichte Hubert Markl der Ruf auf den ren gezeigt, dass das Stridulationssignal Lehrstuhl für Zoologie an der TH Darm- je nach Kontext unterschiedliche Bedeu- stadt, nachdem er vorher Angebote auf tung haben kann. Es kann z.B. auch zur tenure-track Professuren von der Cornell Nahbereichsrekrutierung zu ergiebigen University und der University of Califor- Ernteplätzen eingesetzt werden, oder nia, Berkeley, abgelehnt hatte. Während Blatt-Trägerinnen nutzen das Stridula- der Zeitspanne von etwa 6 Jahren in tionssignal, um die besonders kleinen Darmstadt wurden zahlreiche Arbeiten, Nestgenossinnen zu rekrutieren, die als vor allem in Zusammenarbeit mit seinen „Hitchhiker“ auf den getragenen Blättern Schülern, über die Kommunikation durch patrouillieren und somit die wehrlosen Vibrationssignale bei Arthropoden und Trägerinnen vor Angriffen durch parasiti- zur Empfindlichkeit von Vibrationsrezep- sche phoride Fliegen schützen. Ich weiß, toren bei verschiedenen tierischen Orga- dass sich Hubert Markl über diese neue- nismen publiziert. Diese Arbeiten fielen ren Befunde, die auf seinen Entdeckun- vorwiegend in den Bereich der biophysi- gen aufbauten, sehr gefreut hat. Mit die- kalisch ausgerichteten Sinnes- und Ver- sen brillanten Untersuchungen zu den haltensphysiologie und zunehmend kam Stridulationssignalen bei Blattschneider- das Interesse an der Schallkommunika- ameisen, die in mehreren umfangreichen tion bei Säugetieren und anderen sozio- Arbeiten publiziert worden sind, hat sich biologischen Fragen dazu. Hubert Markl 1967 habilitiert. Obgleich die meisten wissenschaft- Unmittelbar nach der Habilitation folg- lichen Arbeiten von Hubert Markl zum te eine, wie er selbst sagte, „unvergleich- Bereich der Sinnes- und Verhaltensphy- liche“ Expedition zum Amazonas, auf siologie gehören, seine wahre wissen- dem Forschungsschiff ALPHA HELIX der schaftliche Liebe gehörte der experimen- Scripps Oceanographic Institution, La Jol- tellen Soziobiologie und Evolutionsbio- la, California, mit dem berühmten Neuro- logie, und es waren vor allem die sozialen biologen Theodore (Ted) H. Bullock. Hu- oder staatenbildenden Insekten, die ihn bert Markl hat auf dieser Expedition das faszinierten. Wie er mir einmal gestand, Verhalten der angeblich so blutrünstigen war es seine Arbeit mit den Blattschnei- Piranha Fische erforscht. In einer gründ- derameisen, die ihn am meisten in Bann lichen ethologischen Studie wurde das zog. Er hat ja damals als erster herausge-

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funden, dass diese Insekten sich nicht nur mit Hilfe chemi- scher Signale verständigen, sondern dass auch andere Sinnesmodalitäten bei der Ameisenkommunikation eine Rolle spielen. Als er dann 1974 aus einer Reihe anderer Möglichkeiten den Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Konstanz an- nahm und auch das sehr ver- lockende Angebot ablehnte, als Nachfolger von Hansjo- Hubert Markl belauscht mit einem Mikrophon die Ernte- chem Autrum an die Münch- ameisenköniginnen , die sich mit den Männchen auf einem Mesqite-Akazienbusch zur Paarung treffen. Arizona im Som- ner Ludwig Maximilians Uni- mer 1975. Foto: Bert Hölldobler versität zu wechseln, hat er sich persönlich zunehmend soziobiologischen und evolutionsbiologi- der Sommermonate Freilandforschungen schen Fragen gewidmet. Obgleich in den durchführte. An einigen Projekten haben Konstanzer Jahren bald die Übernahme wir zusammengearbeitet. So haben wir von stetig größeren außeruniversitären z.B. die riesigen Paarungsareale der Ern- Aufgaben auf ihn zukam, hat er nie aufge- teameisen der Gattung Pogonomyrmex hört, ein Vollblutbiologe zu sein. Davon untersucht, vor allem das Zusammenwir- will ich noch kurz berichten. ken von chemischen und vibratorischen Hubert Markl und ich trafen uns erst- Signalen, die ein Zusammentreffen der mals auf einem Kongress im österreichi- männlichen und weiblichen Geschlechts- schen Graz, ich glaube es war im Jahr tiere gewährleisten und den Paarungsab- 1964. Anfang 1966 lud mich Martin Lin- lauf regeln. Dabei haben wir unter ande- dauer ein, als wissenschaftlicher Assistent rem entdeckt, dass sich bei diesen Arten in seiner Gruppe in Frankfurt zu arbeiten. die weiblichen Tiere mit mehreren Männ- Hubert Markl und ich wurden enge chen paaren. Es kommt zu einem wirren Freunde, und unsere gemeinsamen wis- Gerangel der Männchen um die Weib- senschaftlichen Interessen und Freund- chen, oft sind die Weibchen von 5 bis 10 schaft haben nie an Kraft verloren, auch Männchen umringt, und wir fragten uns, nachdem sich unsere Wege trennten. wie wohl das Weibchen, nachdem ihre Nachdem ich 1973 in die USA ausge- Samentasche im Hinterleib prall gefüllt wandert bin, um eine Professur an der ist, sich von den Männchen befreien kann, Harvard Universität anzutreten, hat mich um vom Paarungsplatz wieder abzuflie- Hubert Markl mehrfach besucht, vor al- gen. Die Lösung des Problems war dann lem auch in Arizona, wo ich oft während eine schöne Überraschung für uns. Wir

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entdeckten, dass das Weib- chen durch Stridulation signa- lisiert, dass sie für weitere Paarungen nicht zur Verfü- gung steht, und tatsächlich lassen die Männchen von die- sem Weibchen ab und sie kann abfliegen. Wir nannten dieses Signal, es waren die mittleren 70er Jahre, „female liberation signal“. In einer weiteren Arbeit konnten wir nachweisen, dass bei einer anderen Gattung Hubert Markl beim Ausgraben eines jungen Ernteameisen- der Ernteameisen, Novomes- nestes in Arizona im Jahr 1984. Thomas Eisner (Cornell Uni- sor, ein Stridulationssignal das versity), ein guter Freund, forschte ebenfalls in Arizona. Foto: Maria Eisner chemische Rekrutierungssig- nal moduliert. Überhaupt war Hubert Markl einer der ersten, der das Edward O. Wilson und ich fungierten als Phänomen der multimodalen Kommuni- Ko-Editoren und Hubert Markl war von kation erkannt und gründlich analysiert 1976 bis 1987 managing Editor. Es ist in hat. Sein umfangreiches Buchkapitel mit erster Linie ihm zu verdanken, dass die- dem Titel „Manipulation, Modulation, In- ses Journal mit dem Namen Behavioral formation, Cognition: Some of the Riddles Ecology and Sociobiology (BES) heute zu of Communication“, das 1985 in einem den besten Zeitschriften in der Verhal- Buch erschienen ist, das dem Andenken tensbiologie zählt. an Karl von Frisch gewidmet ist, stellt eine Auch nachdem Hubert Markl die gro- der besten Abhandlungen dar, die ich ßen wissenschaftsorganisatorischen Auf- über Tierkommunikation gelesen habe. gaben übernommen hatte, zuerst als Prä- Auch heute, 30 Jahre später, in einer Zeit, sident der Deutschen Forschungsgemein- in der das Rad so oft neu entdeckt wird, schaft, anschließend als Gründungspräsi- rate ich Studenten, dieses Kapitel zu le- dent der Berlin-Brandenburgischen Aka- sen. demie der Wissenschaften und schließ- Bei einem seiner Besuche in Arizona, lich als Präsident der Max-Planck-Gesell- es war wohl Juli 1975, fassten Hubert schaft, blieb er der Vollblutbiologe. Er hat Markl und ich den Entschluss, für das in dieser Zeit zwar kaum mehr eigene rasch wachsende neue wissenschaftliche Forschung betreiben können, aber er hat Feld der Verhaltensökologie und Sozio- hervorragende, vorwiegend allgemein- biologie eine neue Zeitschrift zu gründen. verständliche Übersichtsartikel zur Sozio- Der Springer Verlag, Heidelberg, gab uns biologie und Evolutionsbiologie publiziert grünes Licht. John Cook, Hans Kummer, und er hat in vielen Essays und brillanten

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Feuilleton-Beiträgen und Vorträgen Pro- Max-Planck-Gesellschaft heißt es: “In a bleme der modernen Biologie erörtert tremendous act of will, the new President und die Bedeutung der biologischen For- reduced or closed departments and insti- schung für die menschliche Gesellschaft tutes, but he was able to set new courses kritisch diskutiert und oft bravourös ver- in research with the appointment of 153 teidigt. Ihn hat das Artensterben durch Directors“. Umweltvernichtung ebenso bedrückt und Nachdem Hubert Markl das Amt des beschäftigt wie die, wie er es nannte, Präsidenten der Max-Planck-Gesell- „Menschensintflut“, das unbegrenzte schaft angetreten hatte, stellte er bald Wachstum der Weltbevölkerung und die fest, dass es diese hochangesehene Wis- ökologischen und ökonomischen Folgen. senschaftsgesellschaft bisher versäumt Und doch ist Hubert Markl immer ein Op- hatte, die politische Vergangenheit ihrer timist geblieben. Vorgängerin, der Kaiser-Wilhelm-Gesell- Obgleich ich es oft bedauert habe, schaft (KWG), aufzuarbeiten. Im Jahre dass dieser originelle und enorm begab- 1999 setzte Markl eine unabhängige te Wissenschaftler sich entschlossen hat, Kommission von Historikern ein, die die die experimentelle Verhaltensforschung möglichen Beteiligungen der KWG bei aufzugeben, um sich ganz seinem ande- medizinischen Experimenten in Nazi- ren außergewöhnlichen Talent, der Wis- Konzentrationslagern untersuchen sollte. senschaftsorganisation und Management Schon bald kam die erschütternde Wahr- zu widmen, muss ich eingestehen, wir al- heit ans Licht, dass einzelne Wissen- le haben von dieser Entscheidung enorm schaftler der KWG einen erheblichen profitiert. Hubert Markl war einer der Anteil daran hatten, jüdische Kollegen herausragenden und wirkungsvollsten aus der Wissenschaftsgesellschaft auszu- Wissenschaftsorganisatoren in Deutsch- stoßen, und dass KWG-Mitarbeiter an land; sein Impact in der Wissenschaftspo- den grauenhaften Menschenexperimen- litik wurde in der ganzen Welt wahrge- ten direkt oder indirekt beteiligt waren. nommen und bewundert. In einem In einem öffentlichen Statement stellt Hu- Statement der Max-Planck-Gesellschaft bert Markl fest, die von der Kommission wird Markl mit folgenden Worten charak- vorgelegten Ergebnisse beweisen „.... terisiert: “.... a man who never took the beyond the shadow of a doubt that direc- easy way out, who made his feelings tors and employees at the Kaiser-Wil- known with wit and eloquence“. Hubert helm-Society co-masterminded and so- Markl hat die Führung der Max-Planck- metimes even actively participated in the Gesellschaft sechs Jahre nach der crimes of the Nazi regime“. Im Namen Wiedervereinigung Deutschlands über- der Max-Planck-Gesellschaft bittet Hu- nommen. Um in den neuen Bundeslän- bert Markl alle Opfer um Entschuldigung dern neue Institute zu etablieren, mussten und er entschuldigt sich vor allem auch in den alten Bundesländern die Mittel dafür, dass es sowohl innerhalb als auch drastisch gekürzt oder Institute ganz ge- außerhalb der Max-Planck-Gesellschaft schlossen werden. In einem Bericht der so lange am Willen gefehlt hat, diese

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schreckliche, dunkle Vergangenheit auf- schaften, Leopoldina, die Academia Euro- zuarbeiten. paea, die Indian Academy of Sciences, Hubert Markl hat viele Preise und Me- die Polnische Akademie der Wissenschaf- daillen und sieben Ehrendoktorwürden ten, die American Academy of Arts and erhalten. Er war gewähltes Mitglied meh- Sciences, und die Royal Society of Scien- rerer hervorragender Akademien, darun- ces, London. ter zählen auch die Heidelberger Akade- mie der Wissenschaften, die Bayerische Hubert Markl ist am 8. Januar 2015 in Akademie der Wissenschaften, die deut- Konstanz gestorben. sche National-Akademie der Wissen-

Prof. Dr. Bert Hölldobler, Universität Würzburg und Arizona State University. [email protected]

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A life devoted to aquatic ecology: a tribute to Otto Kinne (30. August 1923 – 3. March 2015)

Victor Smetacek

worthy, all the while striving for excellen- ce in his field of responsibility. His five-vo- lume treatise on marine ecology laid the foundation for rapid expansion of the field, which he later skilfully channelled into the state-of-the-art journals founded and nurtured by him. By raising the stan- dard of quality control and speeding up the turnover time of submitted manus- cripts, he motivated the international com- munity to do better, and to do it faster. Li- ke all great achievers, he perceived visions and pursued them with determina- tion and boundless energy. He applied his formidable array of skills, not least a char- ming personality, to every goal he set himself; and there were many. His efforts were rewarded with the national and inter- Otto Kinne im Alter von 80 Jahren national recognition and gratitude they Foto: Inter-Research, Oldendorf deserved, reflected in the innumerable Professor Dr. Dr. h.c. Otto Kinne passed awards and honours he received in the away at age 91 on 3 March 2015 in Olden- course of his long career (see online CV). dorf, Germany, after a prolonged period Truly, a life well spent, and appreciated, in of deteriorating health. True to his spirit of the service of the community. Such a life is hard work and independence, the driving worthy of emulation, hence digging into forces throughout his long career, he did the past to trace its evolution is educative: not go into well-deserved retirement but How much was nature and how much was stayed until the end at the helm of Inter- nurture and how did the two interact? Research: the highly successful, unique in- The formative years. Otto Kinne was stitution he founded in 1979. From the be- born in Bremerhaven in 1923 into a family ginning of his career, Otto Kinne’s life was of modest means and was conscripted in- focussed on the advancement of ecology; to the navy at age 18, during World War II. he built lasting institutions and organisa- Not much is known about his wartime tions, strengthened bonds across discipli- years: He related that after training he was nes and nations and awarded prizes to the appointed captain of a ship and learned

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how to command it by secretly watching Clearly, the Remane school had a pro- the helmsman. He confided to a close found influence on post-war German zoo- friend that his hearing problem was cau- logy. His other Doktorvater was Hermann sed by damage sustained to the ear Friedrich, best known for his textbook on drums while escaping from a submarine. Marine Biology published in 1960. It must This must have been a traumatic expe- have been a privilege to spend one’s for- rience but he never talked about it, not mative years in this fertile breeding even as an excuse for being hard of hear - ground of capable scientists and future ing. Indeed, even his closest acquaintan- patriarchs. Otto Kinne apparently thrived ces over many decades were not aware in it. One might say that he belonged to of the cause of the handicap he suffered the German zoologist nobility both by the from. This alone speaks volumes for his training he received and the influential indomitable spirit. The condition had a network of which he was a part. profound influence on the course of his li- His exceptional abilities soon emerged fe as it worsened steadily and led to al- during the preparation of his PhD thesis. most total deafness in his last years. One of Remane’s fields of interest was the Immediately after the war, Otto Kinne decrease in species diversity along the studied zoology, botany and oceanogra- salinity gradient from marine to brackish phy at the University of Kiel, then the cen- waters exemplified by the western Baltic tre of marine sciences in Germany. At that Sea, where Kiel is located. Otto Kinne car- time German universities were character- ried out experimental studies on the eco- ised by the rule of the ‘Ordinarien’: the logy, biology and physiology of the am- full professors who presided like patri- phipod Gammarus duebenii to pinpoint archs over their realms, whether depart- the mechanisms responsible. His labora- ments or institutes, and from which they tory experiments on a single species set expected allegiance to their respective him apart from the mainstream Remane school of thought. An outstanding exam- school, which was based on comparative ple was Otto Kinne’s ‘Doktorvater’ (PhD morphology and field observations. Early supervisor), the renowned German zoo- on he realised the vast scope for research logist Adolf Remane, who founded several offered by the experimental approach institutes and was an authority in fields as and he made full use of it. The breadth of diverse as palaeontology, anthropology, the investigations he carried out, reflected evolutionary theory and marine zoology. in the papers he published on the results, It should be mentioned that Remane’s re- is amazing. In addition to a 64-page putation was tainted by his activities du- monograph, he published 6 papers in 5 ring the Nazi era but, to his credit, he was different journals on moulting frequency, screened and released by his British cap- sex ratios, dormancy, blood composition tors. His success as a mentor is reflected and breathing, production biology and in the number of his students who them- temperature dependence of sex determi- selves became renowned directors of nation. Because of a rule at the time that zoological institutes across the country. published material could not be included

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in the doctoral thesis, Otto Kinne publish- He received his Dr. habil. in 1958 for his ed his first papers in 1953, the year after work on the influence of salinity and tem- acquiring his PhD. Even more amazing is perature on the growth, form and repro- that, in addition to the 7 single-authored duction of the hydroid polyp Cordylopho- papers from his thesis, he published an- ra caspia. All the while, true to the Rema- other 8 papers on different topics that sa- ne school, he was synthesizing his results me year, only 2 with a co-author. The and observations into unifying concepts. journals ranged from the prominent Na- One of his first papers in English, publish- turwissenschaften to the popular, outreach ed in 1957, was entitled ‘A programmatic magazine Mikrokosmos. This was an out- study of comparative biology of marine standing performance by any standard and brackish water animals’. Thus Otto but in the academic atmosphere prevai- Kinne’s emerging concept of ecology was ling in German universities at the time, grounded in detailed knowledge of the the extent to which it went beyond the call biology, physiology and ecology of indivi- of duty was astonishing. Clearly, Otto Kin- dual species from many different phyla ne’s lifelong striving for excellence was in and across strong habitat gradients. His place from the start of his career in scien- papers aiming at syntheses were prepa- ce, as also its counterpart, the self-confi- ring the ground for his future career in dence that he alone could do it. marine ecology. In those days it was normal practice The Biologische Anstalt Helgoland. for the supervisor to be included as an In 1957 Otto Kinne was awarded a Gug- author of papers written by students or genheim Fellowship to continue his rese- junior scientists; in some institutes the arch at the University of Los Angeles, Doktorvater was sole author of the pub- where he spent 2 years. He was then ap- lished thesis and the student who did pointed Assistant Professor at the Univer- the work was merely mentioned under sity of Toronto and promoted to Associate acknowledgements. So the fact that Otto Professor 2 years later; he was also in de- Kinne was sole author of almost all his pa- mand as an instructor of ecology at the pers is noteworthy and testimony to his Woods Hole Biological Laboratory. Clear- independence, but also to the leeway he ly, he flourished in the North American was given (or perhaps fought for) in the environment and often mentioned that he institution in which he worked. His perfor- had been strongly influenced and motiva- mance was rewarded with a 5-year re- ted by the years he spent there. In 1962, search assistantship during which he was he was appointed Professor and Leading expected to complete a more compre- Director of the Biologische Anstalt Helgo- hensive thesis (‘Habilitation’) on a diffe- land (BAH), a position he held for 22 rent topic to the PhD thesis. These years years. The BAH comprised 3 stations: the were spent working on many different to- Central Laboratory in Hamburg, the Mari- pics, combining laboratory experiments ne Station on Helgoland Island and the with field observations and testified by Littoral Station on the island of Sylt. During the many papers he kept on publishing. the period of his directorship, marine

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ecology burgeoned world-wide into a interest in details of the organisms and science in its own right, and Otto Kinne their phylogeny started waning. The field played a key role in shaping and expan- moved on. ding this research field to what it is now. A The other justification to carry out little background is necessary to appreci- marine biological research was to provi- ate the ramifications of the initiatives he de the scientific background for judi- started and the impact they had. cious harvesting of marine resources, Most of the German North Sea coast is primarily fisheries. When Otto Kinne took mud and sand flat, but Helgoland, located over the BAH it was part of the Federal in the German Bight a few hours’ steam- Research Centre for Fisheries in Ham- ing distance from the mainland, offers ea- burg under the jurisdiction and funding sy access to fully marine water coupled of the Federal Ministry for Nutrition, with a rocky shore. It is also a popular Agriculture and Forests. At that time, fish- tourist destination. Not surprisingly, the is- eries biology was dominated by popula- land had played a key role in the deve- tion dynamics of commercially important lopment of German marine biology. It was species, with marginal attention paid to here that Johannes Müller started the sys- the ecosystems in which they were em- tematic study of plankton in the 1840s and bedded. So the BAH led a neglected exi- introduced his students, amongst them stence without a clear research mandate. Ernst Haeckel (who later coined the term All that changed under Otto Kinne’s ecology), to marine life. Following publi- energetic guidance. cation of the theory of evolution and the During the first decade of his direc- ensuing debate, biology became a public torship, he developed the conceptual fra- concern and research aimed at testing mework linking laboratory experiments the evolutionary hypothesis was consid- with field observations to form an integrat- ered prestigious, hence worthy of funding. ed, holistic ecology and implemented it By the end of the 19th century a number as the basis for the organisation of re- of institutions dedicated to basic biologi- search and the subsequent expansion of cal research had been established at the BAH infrastructure and staff. The con- coastal sites. Among them was the Royal ceptual framework was discussed in the Prussian BAH founded in 1892. The curio- course of a series of symposia to which sity-driven basic research pursued at the- he invited the international community. se stations uncovered the enormous di- The island proved an ideal site for con- versity of marine life and convincingly ferences: the spectacular sights are seen traced the phylogenetic trees by which it soon, so attendees stay together, and at is connected. Putting together the puzzles that time the whole island was duty-free and watching the patterns emerge must so get-togethers were a lot of fun. Otto have been exciting. With the weight of Kinne was a charming host and attendan- mounting evidence, the theory of evolu- ce was high. Besides, having played the tion eventually became widely accepted violin in a band at bars visited by Ameri- in educated circles around the world, and can troops during his student years, he

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was unlike most other German professors held all over Europe in subsequent years. of the time and he knew how to party. The Helgoland symposia brought not only Otto Kinne’s conceptual evolution is re- the BAH into the international limelight, flected in the titles of the first 4 Helgoland but also its house journal Helgoländer symposia he organised and carried out wissenschaftliche Meeresuntersuchungen on the island between 1964 and 1967. (now Helgoland Marine Research), in The first 3 are reminiscent of his PhD and which the first conference proceedings Habilitation theses on ‘Quantitative biolo- were published. Otto Kinne was the lead gy of metabolism’ and ‘Biology, ecology editor of all 6 proceedings volumes, and it and physiology of marine organisms’, but appears that this is when he developed the 4th symposium, which happened to his interest and skill as an editor. In 1969 be the ‘First European Symposium on Ma- he launched the journal Marine Biology rine Biology (EMBS)’ had the title ‘Experi- on its highly successful course and in mental ecology—its significance as a ma- 1970 published the first volume of the se- rine biological tool’. Ecology had not only ries: ‘Marine Ecology. A Comprehensive, come into its own as the framework in Integrated Treatise on Life in Oceans and which to justify basic research, it was al- Coastal Waters’. He conceived, organized, ready diversifying into sub-disciplines, il- edited and contributed (about 25%) to all lustrated by the abbreviated titles of the 5 volumes, the last of which appeared in next 6 symposia: pollution research 1984. Needless to say, this treatise beca- (1968), cultivation of marine organisms me a milestone in the expansion of the (1970), man in the sea (1973), ecosystem field. research (1977), protection of marine life By the late 1960s, the BAH had greatly (1980) and, finally, diseases of marine or- increased in prominence in the biology ganisms (1984). landscape in Germany, not only in terms These were pet topics of Otto Kinne, of the research it carried out, but also as a but it should be pointed out that it was the provider of organisms to universities for respective research field he was highligh- research and teaching purposes, and as a ting, and not a published opinion he held. popular location for German professors to Indeed, these symposia established his expose their students to marine biology. reputation in the international community At the institute, Otto Kinne strove for as that of an impartial facilitator of open improvement and expansion of the expe- discussions to advance the field. The con- rimental facilities at the 3 stations, inclu- genial atmosphere prevailing at these ding the launching of 3 research vessels. conferences strengthened bonds that All this was possible because he proved brought together scientists from across to be an exceptionally gifted and resour- the world, and the first EMBS was a re- ceful convincer and fund-raiser, who used sounding success. The combination of scientific and historical arguments to ma- good science and enjoyment offered by ke his case for expansion of the BAH as the BAH under Otto Kinne set the stan- an independent institution. He was a cha- dard for the popular, biennial EMBS event rismatic leader and with the full backing

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of his staff he entered into negotiations rector was being briefed by his BAH with the Federal Ministry for Education companions about nuances that had esca- and Research and the German Research ped him during the exchanges, often to Foundation (DFG), together with repre- the former’s mirth: ‘So that’s what he real- sentatives of the governments of the pro- ly said!’ Conversations were strenuous for vinces Schleswig-Holstein (to which Hel- all, and after a short while Otto Kinne goland and Sylt belonged) and Hamburg would invariably excuse himself and re- (where the central laboratory of the BAH treat into the manuscripts he always car- was located), to put together a scheme ried with him: his ‘homework’ as he joking- that ensured shared funding of the BAH as ly called them. Clearly, he felt more at ho- an independent research institution under me reading and writing rather than con- the jurisdiction of the research ministry. In versing or attending conferences, so re- 1971 the BAH declared its independence. viewing manuscripts was not really ‘work’ This had been quite a balancing act; the for him as it would be for others. severing of BAH’s umbilical cord is said to The Inter-Research years. Over the have shaken the agriculture ministry like years his deteriorating hearing was in- an ‘earthquake’ (Hagmeier 1998). creasingly becoming an impediment for In the following years the BAH grew the day-to-day running of the BAH and in steadily and new buildings were erected any case he was spending more and mo- at all its locations, including the ambitious re time on editing and publishing. When eco-laboratory on Helgoland, which was Wiley, the publisher of the treatise on ma- completed in 1976 and offered everything rine ecology, turned down his proposal to a guest researcher could desire, from lar- publish a journal called Marine Ecology ge tanks with clean, running sea water to Progress Series (MEPS) as a continuation laboratories and equipment. The building of the treatise, Otto Kinne decided to pu- erected in 1982 for the central laboratory blish it himself. He created the Inter-Re- in Hamburg was the crowning achieve- search Science Center (IR) as a launch pad ment. It would be too much to list the in- in 1979, with its office in the BAH but his frastructure that Otto Kinne created and home in suburban Hamburg as the postal the research departments in the BAH that address. The journal proved as successful he established; suffice it to say that the as the treatise and was followed by the 4- BAH grew fourfold in the 22 years of his volume treatise on ‘Diseases of Marine directorship; but his hearing problem also Animals’, again conceived, organised, worsened in this period. His right-hand edited and contributed to by him; it ap- man throughout most of his directorship, peared between 1980 and 1990, and the the head of BAH administration Uwe Ker- closely related journal Diseases of Aquatic sten, recalled how, on their way back from Organisms (DAO) was launched in 1984. meetings with officials of the funding By this time MEPS was flourishing. agencies in Bonn, their compartment in In 1984, Otto Kinne decided to take the train would empty because of the early retirement and devote himself en- loudness at which they conversed. The di- tirely to doing what he liked best. He cited

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his hearing problem as the reason for his with an outstanding achievement, or la- stepping down at the peak of his power bouring under particularly difficult condi- but the desire to build something new tions. The latter criterion was conceived was, no doubt, more than just an added to give a chance to gifted scientists work- incentive. In today’s climate the handicap ing on the other side of the Iron Curtain could be used to one’s advantage, but in or in developing countries. The condition those days it was considered a disability for accepting the EE prize money was to which he, for many years, preferred to write a book on a topic of the prize-win- overlook and not acknowledge as a weak- ner’s choice which was edited but not ness. In any case, being a man of strong peer-reviewed, and published and distri- convictions which had paved the way for buted by IR at a nominal price and free in his successes this far, he apparently did less-developed countries. Twenty books not feel that he missed much in conversa- have been published so far, with 6 in pre- tion and was generally able to see the paration. It is hard to assess the impact of lighter side of things. He became used to these books, as they tend not to be cited shrugging his shoulders with a smile. in the regular literature, but providing out- Since he could not adequately function standing scientists the freedom of expres- at the top level in the academic field and sion commensurate with their reputation, no longer had the BAH as a base for his unfettered by peer review, has produced activities, Otto Kinne created his own insti- a lot of food for thought. tution, tailored to his needs and abilities, The seat of IR and ECI was a country- and funded by revenue generated entirely side estate combining office and home: a by the publishing business. He founded secluded ‘island’ on the outskirts of the the International Ecology Institute (ECI) in small rural village of Oldendorf, far from 1984 which was, long before the digital the hustle and bustle of city life, where he era, essentially a virtual institute. He ap- could be master of all he surveyed. With pointed himself Director and selected his able support from his wife Helga, he ac- ‘staff’ from the top names in ecology who quired a large, stylish house overlooking were grouped in 3 subject areas: marine, an expanse of low-lying land with fish terrestrial and limnetic ecology. A jury se- ponds and with the little river Luhe mean- lected from their ranks awarded the Ex- dering past. Under Kinne’s exacting di- cellence in Ecology (EE) prize to an out- rection, the property was landscape-gar- standing scientist from nominations made dened on a park scale with walks and by the scientific community on a rotating benches overlooking a small lake. With basis from each field. Right at the start, the land came a small population of en- the jury could not decide between an dangered fire-bellied toads which breed established scientist and a bright newco- in ephemeral ponds and whose call (‘Un- mer so Otto Kinne magnanimously crea- kenruf’) is believed to portend bad ti- ted a second prize, the International Re- dings; but Otto Kinne had found a new cognition of Professional Excellence hobby. True to his spirit, a culturing unit (IRPE) Prize, reserved for young scientists was built, a breeding programme was

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started, experimental research was car- kers: he called it eco-ethics, founded the ried out and the results published on the ‘Eco-Ethics International Union’ (together IR website and in his journal Endangered with Gennady Polikarpov of Sevastopol), Species Research. The estate was subse- and provided a new journal, Ethics in quently extended to a total of 8 hectares, Science and Environmental Politics, as a large tracts of which were re-natured to vehicle to take the concepts forward. provide habitat for the toads and also for Otto Kinne was a benevolent patriarch newts. who felt for his charges as his children: he IR was a success story from the start smarted when the unity of the family was due to Kinne’s business acumen and his threatened and reacted strongly, someti- ability to convince the ecology communi- mes overreacted, when his authority was ty that he was the best. He wanted Inter- questioned. He said he had 2 babies: the Research to be something special: ‘a self- BAH and IR. After his departure, the BAH sustaining international Science Center underwent a long period of uncertain futu- — small but with global impact’, as de- re which he watched with mounting cha- scribed on its web page. IR started off by grin from Oldendorf. Several attempts we- publishing first just MEPS and then MEPS re made to find a director; finally the BAH and DAO, but these grew steadily by in- was incorporated as an entity into the Al- creasing numbers of issues per year, in fred Wegener Institute Helmholtz Centre the case of MEPS a linear increase from 1 for Polar and Marine Research (AWI) in to 25 between 1979 and 2007. After 1990 Bremerhaven. Since the central laboratory a new journal was founded every 3 to 5 in Hamburg no longer made sense, the years to reach a total of 9. IR grew cor- employees there were shifted to Bremer- respondingly and reached around 25 in- haven. Much was done by the AWI to house staff. smoothen the transition, from financial re- He was particularly cognisant of the muneration to meeting the demands for in- difficulties faced by scientists in Eastern frastructure, and no one was made redun- Europe and the Third World, in particular dant. The funding situation of the island India. In 1992 he created the Otto Kinne stations was significantly improved as a re- Foundation (OKF) in order to provide fi- sult of the transfer. Nevertheless, Otto Kin- nancial support to promising young ne was incensed and protested violently. scientists in eastern European countries. For him, the integrity of his baby, the BAH, For him, levelling the playing field in the in which he had invested so much time realm of science in order to bring out the and energy, had been violated and he was best in gifted individuals throughout the deeply hurt; it was impossible to console world went far beyond charitable indivi- him for years. ‘I know I am a stubborn old dual deeds and was an ethical issue. In- man, but I am hurting’ he would lament. deed he felt strongly about ethics in rela- Luckily for him he found his peace when tion to science and believed that it should Karen Wiltshire, after her appointment as be developed on a scientific foundation Director of the BAH, visited him in Olden- grounded in ecology to guide policy ma- dorf and the two became friends.

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The legacy. A major problem with pat- Vermächtnis!’—‘Wow! What a man! What a riarchs of Otto Kinne’s calibre is the large life! What a legacy!’ gap they leave behind at their passing; they are remembered because they are Acknowledgements. I am greatly in- missed, so what they established beco- debted to: Uwe Kersten for sharing his mes the tradition followed by their suc- thoughts and feelings about the great cessors. Indeed, this year the 50th anni- man and for cross-checking the text; versary of the EMBS will be celebrated at Hans-Peter Bulnheim for allowing me to its birthplace, the BAH, after having made use the laudatio he wrote in 2010 at the the rounds of most European marine cen- occasion when Otto Kinne was awarded tres; it is a great pity that Otto Kinne mis- honorary membership of the German sed this momentous event. But one can ta- Zoological Society; John Austin for his ke consolation in the knowledge that he patience and for answering the many was fully aware that he would be celebra- questions I posed on how his boss ac- ted as the all-time hero, not just of the complished what he did over the past 30 BAH, on the occasion. years at IR; my wife Karen, who always ac- ‘I cannot live without work’, his words companied me with pleasure to the ECI to a newspaper interviewer, and ‘Our aim prize-giving ceremonies hosted by Otto is to be number 1’, to his employees at IR, Kinne in Oldendorf, for her positive feed- pretty much sum up his driving forces. back during the writing of this obituary. The intensity of his convictions generated the energy to put them into practice. His big-heartedness was evident in the con- LITERATURE CITED cern he felt for the under-privileged Hagmeier E (1998) Aus der Geschichte der scientist and the endangered species and Biologischen Anstalt Helgoland (BAH) ab it was manifested in the funds and habitat 1945. Helgol Meeresunters 52(Sup- he provided to promote their well being. pl):1–108 Achieving was in the nature of this larger- than-life personality. In the words of John Der Beitrag ist die leicht gekürzte Fas- Austin, his co-worker at IR, in a speech at sung des Nachrufs auf Otto Kinne in Mari- Otto Kinne’s passing: ‘Wow! Was für ein ne Ecology Progress Series 528:1-6 (2015) Mensch! Was für ein Leben! Was für ein

Dr. Victor Smetacek Alfred Wegener Institute Helmholtz Centre for Polar and Marine Research 27570 Bremerhaven [email protected]

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Nachruf auf Dieter Eichelberg 27. November 1934 – 12. März 2015

Adriaan Dorrestejin und Klaus-Jürgen Götting

Universität in Bonn und promovierte zum Dr. rer. nat. im Jahr 1964. Dieter Eichelberg kam 1968 nach der Berufung von seinem Bonner Kollegen Ar- min Wessing auf den Lehrstuhl für Allge- meine und Spezielle Zoologie an der Ju- stus-Liebig-Universität mit ihm nach Gießen. Auch nach langen Jahren der Tä- tigkeit in Gießen blieb er Bonn verbunden. Das drückte sich unter anderem in seinen häufigen Besuchen der Ausstellungen Bon- ner Museen aus, entsprach aber auch sei- nen kunstgeschichtlichen Interessen. Er war ab 1968 als wissenschaftlicher Assi- stent und ab 1970 als Akademischer Rat am Zoologischen Institut tätig, wo er sich 1972 habilitierte. Im Jahre 1973 erfolgte seine Ernennung zum Professor. privates Bildarchiv Professor Eichelberg war ein hervorra- gender Wissenschaftler und ein geschätz- Die Justus-Liebig-Universität Gießen und ter akademischer Lehrer. Der Schwer- ihr Fachbereich Biologie und Chemie trau- punkt seiner Tätigkeit in Gießen lag in der ern um Professor Dr. Dieter Eichelberg. Lehre. Akribisch hat er seine Lehrveran- Nach den glücklichen Anfangsjahren sei- staltungen vorbereitet und stand den Stu- ner Kindheit brachte der Krieg Leid und dierenden im Anschluss an seine Vorlesun- Verunsicherung über seine Familie. Weni- gen für Abklärungen des Stoffes zur ge Tage vor Kriegsende fiel sein Vater bei Verfügung, gab aber auch Wissenslücken der Schlacht um Berlin. Die Mutter flüchte- zu und war dann bemüht, sie möglichst te mit den Kindern in den Westen. In der schnell zu schließen. So war er für die Stu- Tradition einer Lehrerfamilie sollte auch dierenden eine verlässliche Quelle des Dieter Eichelberg seine Ausbildung nach Wissens. Besonders intensiv war sein Ein- Kriegsende fortsetzen. Seine Affinität zur satz in den elektronenmikroskopischen lebenden Natur brachte ihn dazu, ein le- Übungen, die er gemeinsam mit zwei Kol- benswissenschaftliches Studium anzustre- legen veranstaltete. Um das zu können, hat ben. Er studierte ab 1956 Biologie an der er einen Spezialkurs beim Hersteller des

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Elektronenmikroskops in Eindhoven be- Insekten (Taufliegen, Salzfliegen) und mit sucht. Seinen weit gestreuten Interessen der Bedeutung von Harnsäure-Einlage- entsprach es, den Studierenden die Teil- rung bei Strandschnecken der Gattung Lit- nahme an Exkursionen mit unterschied- torina. Damit trug er wesentlich zum wei- lichen Zielsetzungen zu ermöglichen. Be- teren Verständnis von Bau und Funktion sonderes Gewicht legte er dabei auf die der beteiligten Organtypen bei. über Jahrzehnte angebotene meeresbiolo- In der vorlesungsfreien Zeit unternahm gische Exkursion nach Sylt, die er zusam- Dieter Eichelberg zahlreiche Reisen, um men mit dem früh verstorbenen Kollegen fremde Länder sowie deren Bevölkerung Dr. Wilfried Ehlert durchführte. und Kultur kennenzulernen. Mit Ausnahme Nicht nur den Studierenden des Faches der Polargebiete und Südamerikas hat er Biologie bot er Vorlesungen an, sondern zahlreiche Ziele, manche auch mehrfach, auch denen anderer Fachbereiche, wobei besucht. Sein kritischer Blick ermöglichte die Veterinärmediziner hervorzuheben ihm ein schnelles Urteil, an dem er dann sind. Daraus ergaben sich entsprechende auch beharrlich festhielt. Als engagierter Prüfungsverpflichtungen mit hohem zeitli- Fotograf bannte er alles Interessante ins chem Aufwand. Sein Bemühen, den Stu- Bild. Die Ausbeute an Aufnahmen war so dierenden optimale Studienbedingungen groß, dass er seine Dias nicht gerahmt hat. zu bieten, drückte sich unter anderem Das wollte er nach seiner Pensionierung auch in seiner Bereitschaft aus, im Fachbe- nachholen! reichsrat mitzuwirken. Über viele Jahre Daraus ist nun nichts mehr geworden. hinweg arbeitete er im Ausschuss für Ihn, der regelmäßig auch nach seiner Pen- Lehr- und Studienangelegenheiten des sionierung in seinen Arbeitsbereich kam, Fachbereichs mit, lange Zeit als dessen hat zunächst ein Schlaganfall beeinträch- Vorsitzender. tigt, ein Verkehrsunfall hat ihn uns am 12. Die hohen Ansprüche, die er an seine März 2015 endgültig entrissen. Lehrtätigkeit stellte, waren auch Basis sei- ner wissenschaftlichen Arbeit. Mit der Ar- Wir werden Dieter Eichelberg stets ein beitsgruppe Wessing befasste er sich mit ehrendes Andenken bewahren. den larvalen Exkretionsorganen dipterer

Prof. Dr. Adriaan Dorresteijn Inst. f. Allg. u. Spez. Zoologie Stephanstr. 24, D-35390 Giessen [email protected]

Prof. Dr. Klaus-Jürgen Götting Institut für Spezielle Zoologie und Tierökologie Heinrich-Buff-Ring 26-32, 35392 Gießen [email protected]

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Nachruf auf Werner Rautenberg 1. November 1927 – 26. März 2015

Reinhold Necker

Nach längerer Krankheit verstarb am 26.03.2015 im Alter von 87 Jahren Profes- sor Dr. Werner Rautenberg an seinem Ru- hesitz in Schleswig. Seine wissenschaftli- che Laufbahn, bei der die Biologie und Physiologie der Vögel eine besondere Rolle spielte, begann an der altehrwürdi- gen Universität Greifswald und endete an der vor 50 Jahren gegründeten Ruhr-Uni- versität Bochum, an deren Aufbau er mit- gewirkt hat. Herr Rautenberg ist am 01.11.1927 in Lennewitz (südliches Anhalt) geboren, lebte dann aber von 1929 – 1947 in Ber- lin, so dass er allgemein als Berliner durchging. Entsprechend konnte man sich auch, wenn er gut gelaunt war, an sei- Werner Rautenberg 2005 auf seinem Ruhesitz nem Berliner Witz erfreuen. Schon als in Schleswig privates Bildarchiv Gymnasiast begeisterte er sich unter dem Einfluss des damaligen Berliner Or- krinem System der Vögel beschäftigte. nithologie-"Papstes" Oskar Heinroth für 1955 promovierte er mit dem Thema die Ornithologie. "Stoffwechselphysiologischer Vergleich Nach dem Abitur am humanistischen zwischen Stand- und Zugvogel hinsicht- Gymnasium Berlin-Steglitz im Jahre 1947 lich des Zustandekommens der Zugdis- folgte ein Studium der Biologie und Che- position" an der Universität Greifswald. mie an der Universität Greifswald. In sei- Nach seiner Promotion war er Mitarbeiter ner Diplomarbeit bei dem berühmten am Physiologischen Institut der Universität Zoologen und Ornithologen Hans Schild- Greifswald, wo er neben seinen Arbeiten macher beschäftigte er sich mit Hormon- am Vogel Untersuchungen zum Leber- und Stoffwechselphysiologie von Vögeln. stoffwechsel von Hunden durchführte. Ab 1952 war er Assistent an der Vogel- Kurz vor dem Mauerbau im Jahre 1961 warte Hiddensee der Universität Greifs- hat Werner Rautenberg die DDR verlas- wald, wo er sich neben Vogelwarte-typi- sen. Seine Arbeiten an Hunden mögen schen Aktivitäten (Vogelzug, Beringun- der Aufhänger gewesen sein, in die gen) weiter mit Stoffwechsel und endo- Physiologische Abteilung des Kerckhoff-

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Instituts der Max-Planck-Gesellschaft in chum noch kein regulärer Unterrichtsbe- Bad Nauheim zu wechseln. Unter der trieb möglich war, sind wir immer wieder Direktion von Rudolf Thauer war ein zu Vorträgen nach Köln gefahren, wo sich Schwerpunkt der damaligen Forschung der damalige Lehrstuhlinhaber des Zoo- die Untersuchung der Thermoregulation logischen Instituts, Franz Huber, auf unse- von Säugern. Insbesondere ging es um ren Besuch freute. die Thermosensitivität zentraler Struktu- Das neue Biologie-Gebäude wurde ren wie Rückenmark und Gehirn bei Hun- 1969 bezogen und nun konnte die For- den. Diese Arbeiten führte er überwie- schung endlich richtig losgehen. In der gend mit Eckhart Simon durch, über den von Werner Rautenberg etablierten "Ar- er in all den späteren Jahren eng mit Bad beitsgruppe Temperaturregulation" im Nauheim verbunden blieb. Lehrstuhl für Tierphysiologie kehrte er zu Nach seinem Wechsel zur neu ge- seinen geliebten Vögeln zurück. gründeten Ruhr-Universität Bochum im Ein Schwerpunkt seiner Forschung Jahre 1967 war er zunächst Mitarbeiter war zunächst, ausgehend von den Unter- von Helmut Langer, dem Inhaber des suchungen zur zentralen Thermosensiti- Lehrstuhls für Tierphysiologie. Helmut vität der Säuger in Bad Nauheim, die Langer und Werner Rautenberg kannten Thermosensitivität von Rückenmark und sich aus der gemeinsamen Studienzeit in Gehirn der Vögel. Hierbei wurden die im Greifswald. Heute nicht mehr vorstellbar, Ruhrgebiet leicht verfügbaren Tauben verkehrten damals Studenten noch per ("Rennpferde" des Bergbau-Kumpels) Sie und diese Umgangsform haben die zum bevorzugten Untersuchungsobjekt. beiden in der langen Zeit gemeinsamer Als Stoffwechselphysiologe war Werner Tätigkeit in Bochum auch beibehalten. Rautenberg auf das Bestimmen thermore- 1970 wurde Werner Rautenberg zunächst gulatorischer Messgrößen wie Sauerstoff- zum außerplanmäßigen Professor und verbrauch, Hautdurchblutung, Kältezittern 1971 zum wissenschaftlichen Rat und Pro- und Hecheln (Vögel haben keine fessor ernannt. Schweißdrüsen) spezialisiert. Als seine Zunächst war der Aufbau der Abtei- elektrophysiologisch geschulter Mitarbei- lung Biologie gefragt. An diesem Aufbau ter begannen wir ab 1970 elektrophysio- hat sich Werner Rautenberg intensiv be- logische Untersuchungen zur Lokalisation teiligt. Persönlich kennengelernt haben und Charakteristik thermosensitiver wir uns auf einer vorbereitenden Exkur- Strukturen, insbesondere in Haut, Rücken- sion nach Helgoland, wo Werner Rauten- mark und Hypothalamus, durchzuführen. berg, ganz Ornithologe, eine am Flügel Dabei kamen auch zuletzt die seinerzeit verletzte Silbermöwe operiert hat, die wir neuen slice–Methoden zum Einsatz. dann mit nach Bochum genommen ha- In diese Zeit fiel auch der von der ben. Dort hat sie noch viele Jahre weiter- DFG finanzierte Sonderforschungsbe- gelebt und musste gelegentlich zur De- reich "Bionach" (Biologische Nachrichten- monstration der den Meeresvögeln ei- verarbeitung, SFB 114), an dessen Orga- genen Salzdrüsen herhalten. Da in Bo- nisation Werner Rautenberg einen

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Internationales Temperaturregulations-Treffen 1981 in Bad Nauheim (Pfeil zeigt auf Werner Rau- tenberg) privates Bildarchiv

wesentlichen Anteil hatte. Der sehr erfolg- Kooperation mit Kollegen aus anderen reiche SFB war nicht nur eine wichtige Fi- Ländern ergab. Mit dem Gast Raimo His- nanzierungsquelle, sondern auch ein Ort sa aus Oulu/Finnland wurde der Einfluss von fruchtbaren Kooperationen und nützli- der Injektion von Monoaminen in den Hy- chem Erfahrungsaustausch. pothalamus, dem Regelzentrum der Tem- Die 70er und 80er Jahre des letzten peraturregulation, untersucht. In den 80er Jahrhunderts waren die "Hoch-Zeit" der Jahren gab es eine intensive Zusammen- Temperaturregulation. Die Regulation der arbeit mit George Barnass (Baltimore/ Körpertemperatur einschließlich deren USA), Mike Rashotte (Tallahassee/USA), Modifikationen wie Fieber, Schlaf und Claus Bech (Trondheim/Norwegen) und Winterschlaf wurden nach allen Regeln Kjell Johansen (Aarhus/ Dänemark) zum der Kunst eingehend untersucht und viele Einfluß zentral und peripher ausgelöster Fragen konnten beantwortet werden. Auf thermoregulatorischer Reaktionen (Kälte- zahlreichen internationalen Temperaturre- zittern, Hecheln) auf cardiovasculäre und gulations-Konferenzen wurden die Ergeb- respiratorische Parameter. Die von Bad nisse ausgetauscht, es ergaben sich aber Nauheim her bestehende Verbindung zu auch viele Freundschaften, so dass man dem japanischen Kollegen M. Iriki wurde fast von "Familientreffen" sprechen konnte. durch einen Forschungsaufenthalt in Ja- Nach den Untersuchungen zur Ther- pan aufrechterhalten. Außerdem ergab mosensitivität wandte sich Werner Rau- sich hierüber eine wiederholte Koopera- tenberg zusehends erweiterten Fragestel- tion mit Shigeki Nomoto aus Tokyo, der lungen zu, wobei sich eine vielfältige Werner Rautenberg bis zuletzt freund-

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schaftlich verbunden blieb und ihn immer wieder besucht hat. Ausgehend von der Doktorarbeit von Rudolf Graf zum Tagesrhythmus der Tem- peraturregulation kam es zu einer Koope- ration mit Craig Heller (Stanford/USA) als Gast in Bochum. Hierbei wurde der Ein- fluss von Schlaf auf die Thermoregulation des Vogels untersucht, wozu EEG-Mes- sungen als neue Methode erforderlich waren. Werner Rautenberg und Bärbel May-Rauten- Mit Diplomanden und Doktoranden berg mit einem Käfig voller Tauben (mit Köp- wurden die Auswirkungen eines geän- fen von Mitarbeitern und Examenskadidaten) derten Hell-Dunkel-Wechsels, der Akti- als Geschenk zu seinem 50. Geburtstag im Jahre 1977. privates Bildarchiv vität (Laufband), des Sauerstoffangebots sowie Futter- und Wasserdeprivation auf thermoregulatorische Parameter unter- herrschte ein angenehmes "Betriebskli- sucht – also eine vielseitige und umfas- ma", an dem sicher auch seine leider viel sende Erforschung der Temperaturregu- zu früh verstorbene Mitarbeiterin und lation des Vogels. Dabei war ihm aber Ehefrau Bärbel May-Rautenberg wesent- immer wichtig, dass die Untersuchungen lich beteiligt war. allgemeine Gültigkeit besitzen sollten. Herr Rautenberg hat sich nie in die er- Neben seiner umfangreichen wissen- ste Reihe gedrängt. Von vielen Kollegen schaftlichen Tätigkeit war Werner Rauten- weiß ich, dass er hoch geschätzt wurde berg ein engagierter Lehrer, der die Stu- und sein Rat stets sehr gefragt war. Alle, denten begeistern konnte. Dies zeigte die ihn näher kannten, verlieren mit ihm sich auch in einer Vielzahl von Staatsexa- einen hilfsbereiten und zuverlässigen Kol- menskandidaten, Diplomanden und Dok- legen und Freund und werden ihn sicher toranden. In seiner Arbeitsgruppe in ehrender Erinnerung behalten.

Prof. Dr. Reinhold Necker Stettiner Str. 3 58455 Witten [email protected]

110 „So stellt man sich die zoologischen Gärten der Zukunft vor!“ (Prof. Dr. Monika Meyer-Holzapfel, Tierpark Bern, vor 1974) „In uns bleibt die dankbare Erinnerung an einen, der auf seinem Fachgebiet eine Epoche geprägt und der als Mensch unsere Herzen gewonnen hat.“ (Prof. Dr. Kurt Kolar, Wiener Volksbildungswerk, 1991)

Katrin Böhme, Ekkehard Höxtermann, Wolfgang Viebahn (Hrsg.) Heinrich Dathe – Zoologe und Tiergärtner aus Leidenschaft

Prof.. Dr Dr h. c. Heinrich Dathe (1910 – 1991) zählte zu den bekanntesten deutschen Zoolo- gen und Tiergärtnern des 20. Jahrhunderts. Sei- ne wissenschaftlichen Arbeiten waren weit ge- fächert und reichten von der Vogelkunde und Wildtierhaltung über den Naturschutz bis zur Verhaltens- und Wirbeltierforschung. Eine Le- bensaufgabe fand er 1954 im Aufbau eines un- verwechselbaren Landschaftstiergartens in Ber- lin-Friedrichsfelde, der historische Parkanlagen und moderne Tierbauten verband und – unter Mitwirkung vieler Aufbauhelfer – zu einer der schönsten Bildungs- und Erholungsstätten des Landes wurde. Mit populären Radio- und Fernsehsendungen begeisterte er unzählige Menschen für Wildtiere und Artenschutz. Zum 100. Geburtstag Heinrich Dathes veranstalteten der Geburtsort, die Stadt Reichenbach im Vogtland, die Deutsche Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie und die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz – in Reichenbach und Berlin ein Gedenk- kolloquium und ein wissenschaftliches Symposium, deren Beiträge hier vorgestellt werden. Weggefährten, Tiergärtner, Zoologen und Naturschützer, Pädagogen und Historiker erhellen – in enger Verbindung zur Familie Dathe – wichtige Prägungen und Wirkungen seiner Person, interessante Hintergründe und Besonderheiten seines Werkes sowie augenfällige Chancen und Grenzen seiner Zeit.

Heinrich Dathe Basilisken-Presse Biologiehistorische Symposien Natur+Text GmbH 335 Seiten, 17 x 24 cm, Klappenbroschur Friedensallee 21 • 15834 Rangsdorf Basilisken-Presse 2015 Tel.: 033708 20431 • Fax: 033708 20433 ISBN 978-3-941365-14-8 E-Mail: [email protected] 29 Euro www.basilisken-presse.de Jacob Theodor Klein Naturalis Dispositio Echinodermatum Gedani 1734 (Aus dem Lateinischen übersetzt und kommentiert von Thomas Heinzeller)

Mit einem Bericht über die in der Münchner Zoologischen Staatssammlung aufgefundenen Seeigel aus dem Museum Kleinianum (Bernhard Ruthensteiner) und einem Essay über Leben und Werk des Naturforschers Jacob Theodor Klein (Armin Geus)

„Ein wahrer Schatz ist gehoben worden.“ Zum einen wurden die Seeigel aus der Sammlung Jacob Theo- dor Kleins wiedergefunden, zum anderen wurde seine Naturgeschichte der Seeigel erstmals ins Deut- sche übertragen. Warum dieses in Latein verfasste grundlegende Werk über diese Tiergruppe bisher nie übersetzt wurde, ist genauso unklar wie der Grund, weshalb Theodor Jacob Klein sein Naturalienkabi- nett verkauft hatte. Auf Umwegen gelangten daraus 29 Echini in die Zoologische Staatssammlung Mün- chen. Welch ein Fund!

Jacob Theodor Klein gab der Tiergruppe einen lateinischen Namen: Echinodermata, der heute allerdings für die Familie der Stachelhäuter be- nutzt wird. Jacob Theodor Klein (1685–1759) war Rechts- und Geschichtswissenschaftler, Botaniker, Mathematiker und Diplomat. Seine zahlreichen Reisen ermöglichten ihm den Aufbau einer der größten, wenn nicht sogar die größte private natur- kundliche Sammlung des 18. Jahrhunderts und machten ihn zu einem der erfolgreichsten Sammler sei- ner Zeit. In Danzig richtete er einen botanischen Garten ein. Klein entwickelte eine eigene zoologische Systematik. Dieses System basierte auf Zahl, Form und Stellung der Gliedmaßen, was zu einem großen Disput mit dem jüngeren Carl von Linné führte, dessen binäre Nomenklatur noch heute Bestand hat.

Klein sprach sich in seinen zahlreichen Beiträgen, die außer den Insekten alle Großgruppen des Tier- reichs umfassen, stets für das Arbeiten nach äußeren, leicht erkennbaren Merkmalen aus und forderte den Verzicht auf das „anatomische Messer“. Damit brachte er sich in deutlichen Gegensatz zu Linné, der bestrebt war, „natürliche“ und „künstliche“ Systeme miteinander zu verbinden.

Jacob Theodor Klein Basilisken-Presse 2015 Naturgeschichte der Seeigel Natur+Text GmbH Acta Biohistorica 16 Friedensallee 21 • 15834 Rangsdorf 312 Seiten, 21 x 21,5 cm, Hardcover Tel.: 033708 20431 • Fax: 033708 20433 ISBN 978-3-941365-03-2 E-Mail: [email protected] 58,80 Euro www.basilisken-presse.de