„WER SORGEN HAT, DER LESE DADAGLOBE“ Zum 100. Dada-Jubiläum Erscheint Erstmals Die Rekonstruktion Der Geheimnisumwitterten Anthologie „Dadaglobe“
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„WER SORGEN HAT, DER LESE DADAGLOBE“ Zum 100. Dada-Jubiläum erscheint erstmals die Rekonstruktion der geheimnisumwitterten Anthologie „Dadaglobe“ „Was dada ist, wissen nicht einmal die Dada- kannten Ägyptologen Georg Moritz Ebers isten, sondern nur der Oberdada, und der sagt stammt. Ebers, Vertreter des deutschen Pro- es niemand“, heißt es beim selbsternannten fessorenromans, publizierte 1885 seinen Oberdada Johannes Baader, und ob die regel- Roman Serapis, der 1893 bereits seine 10. rechte Dada-Hype des Jahres 2016, in dem der Auflage erlebte (Georg Moritz Ebers: Serapis. 100. Dada-Geburtstag gefeiert wurde, bei der Historischer Roman. Stuttgart und Leipzig: Beantwortung dieser Frage wirklich geholfen Deutsche Verlags-Anstalt 1885). Der Roman hat, sei dahin gestellt. Schon die Herkunft des spielt im Jahr 391, als Theodosius I. im römi- Namens Dada bleibt umstritten – die Dadais- schen Reich das Christentum zur Staatsreligi- ten selbst, stets auf die Deutungshoheit über on erhoben hatte und handelt von Konflikten ihre Bewegung bedacht, haben bekannterma- mit den heidnischen Traditionen. Dabei steht ßen unterschiedliche und mit einander konkur- eine aus Rom gerade in Alexandria angelangte rierende Erklärungen geliefert: Dada ist das wandernde Sängerfamilie im Mittelpunkt – französische Wort für Steckenpferd, Dada gilt und zu dieser Familie gehört eine Tochter als Zufallsfund im Lexikon, als kindlicher namens Dada. Dada ist eine der tragenden Lall-Laut, als Name einer seinerzeit in Zürich Handlungsfiguren, sie ist Heidin, hübsch, erhältlichen Seife. kann gut singen – und niemand stößt sich an Aber: „Bevor Dada da war, war Dada da“, ihrem merkwürdigen Namen Dada. Womit dekretierte wiederum der Dada-Mitbegründer nicht behauptet werden soll, dass dieser mit Hans Arp, und auch das ist nicht von der den Zürcher Dadaisten etwas zu tun haben Hand zu weisen. So machte jüngst ein Avant- müsste. gardeforscher darauf aufmerksam, dass bereits Was auch für jenen „Dada“ gelten mag, der der Anarchist Pjotr Kropotkin in seinen Me- nun zeitlich ganz nah an das Zürcher Spekta- moiren eines Revolutionärs, die 1899 in engli- kel reicht und von dem indischen Philosophen scher Sprache und bald darauf auch in deut- und Dichter Rabindranath Tagore in die Welt scher Übersetzung erschienen sind, einmal gesetzt wurde. 1915 erschien bei Kurt Wolff, von Dada die Rede ist: Als „grand dada“ ein Verlag, der bekanntermaßen die Creme titulierte der französische Hauslehrer Kropot- der deutschen Avantgarde verlegte, in deut- kins gelegentlich dessen begriffsstutzigen scher Übertragung Tagores Skizzensammlung Bruder. Und da Hugo Ball sich im Zürcher Der zunehmende Mond, und zwar bereits im Exil mit dem Anarchismus beschäftigt hat, 17.-21. Tausend. Darin begegnet einmal die scheint ein Einfluss nicht ganz ausgeschlossen Figur eines Dada, der sich mit seinem jünge- (Thomas Keith: Dada Kropotkin. In: vpod ren Bruder streitet: „Dada, wie närrisch Du bildungspolitik Nr. 199, November 2016, S. bist!“ (Naja, wie im Kommentar mitgeteilt 32). wird, stammt Dada aus dem Hindustani, wird Dabei scheint es, dass das 19. Jahrhundert eigentlich „Dādā“ geschrieben und meint durchaus von Dadas bevölkert war, zumindest ursprünglich einen Großvater väterlicher- seine Literatur. Der Verfasser dieser Zeilen seits.). könnte auf ein Fundstück aus dem Jahr 1885 Dass bis heute nicht einmal die Herkunft der verweisen, das von dem seinerzeit recht be- Selbstbezeichnung dieser Avantgardebewe- Schafott/ Über den grünen Klee gung, die, obwohl gerade mal fünf Jahre aktiv, bis 4 schwarz-weisse Zeichnungen einsenden wie keine andere die Künste im 20. Jahrhun- und 2 bis 3 Photos nach Werken von Ihnen“, dert beeinflusst hat, schlüssig ermittelt worden zudem war „ein deutliches Photo Ihres Kopfes ist, verweist auf eine paradoxe Forschungsla- (nicht Figur)“ erwünscht, „dessen freie Bear- ge: Auf den ersten Blick scheint es kein dada- beitung bei gewahrter Deutlichkeit Ihnen istisches Werk, keine Dada-Aktion, keine überlassen bleibt.“ Biographie eines Dadaisten oder einer Dadais- Tatsächlich gab es einen erstaunlichen Rück- tin zu geben, die nicht im Rahmen einer völlig lauf von 40 Autoren, die ihre Bilder, Fotos unüberschaubar gewordenen internationalen und Texte schickten. Dass die Publikation Forschung traktiert und oft auch zurecht vor dennoch nicht zustande kam, hatte verschie- dem Vergessen bewahrt worden wäre. Die dene Gründe, der Dissens mit dem finanzkräf- Dada-Sekundärliteratur füllt ganze Bibliothe- tigen Picabia war wohl ein ganz entscheiden- ken der großen und kleinen Nationalphilolo- der. Damit war das Projekt erledigt, und Dada, gien, der Kunst- und Musikgeschichte, der in Paris dem Surrealismus weichend und Medien- und Filmwissenschaft sowie der Anfang der zwanziger Jahre bereits auf dem Avantgardeforschung insgesamt, und die Rückzug, war es bald auch. Und weil sich die Feuilletons waren 2016 voll der Dada- im Nachlass von Tzara dazu erhaltenen Do- Erinnerungen und Dada-Erörterungen zum kumente mit deren Versteigerung 1968 ver- 100. Geburtstag der Bewegung. Ob man als streuten, dauerte es lange, bis die einschlägi- Ergebnis dieser regelrechten Dada-Industrie gen Aufzeichnungen, Briefe, Werklisten tatsächlich ein vermehrtes Wissen darüber, u.a.m. gesammelt und das Projekt rekonstru- „was dada ist“, hat bekommen können, sei iert werden konnte. Dies ist nun geschehen. dahin gestellt. Eine Publikation aber ist aus Unter Leitung der Kuratorin Adrian Sudhalter, der Fülle der Wortmeldungen hervorzuheben: die auf einschlägige Vorarbeiten des 2015 Dadaglobe Reconstructed. Sie zeigt an, dass verstorbenen französischen Dada-Forschers wir über Dada längst noch nicht ‚alles‘ wis- Michel Sanouillet zurückgreifen konnte, sen. präsentierte das Kunsthaus Zürich im Frühjahr Dadaglobe ist der Titel eines Buchprojektes, 2016 und später im Sommer das MoMA New das der Dada-Mitbegründer Tristan Tzara York rund 200 Dadaglobe-Arbeiten. Das 1921 im Pariser Verlag La Sirène herausgeben Katalogbuch dazu besteht aus zwei Teilen von wollte, das aber nie erschienen ist: „Wer unterschiedlichem Format, der kleinere wis- Sorgen hat, der lese Dadaglobe. Dadaglobe: senschaftliche mit einschlägigen Aufsätzen, jetzt im Druck“, lautete eine durchaus irrefüh- der etwas größere präsentiert dann auf 160 rende Ankündigung in der von den Avantgar- Seiten den auf der Basis der aufgefundenen disten Marcel Duchamp und Man Ray in New Dokumente rekonstruierten Dadaglobe. York herausgegeben Zeitschrift New York Diese 160 Seiten nun haben es in sich. Sie Dada. Tzara plante eine großangelegte bieten Texte, Zeichnungen, Fotografien, Dadaschau, und dies zu einem Zeitpunkt, als Fotomontagen, Filmstreifen, Abbildungen von Dada in Zürich längst Geschichte war, sich in Skulpturen und andere Kunstformate, die von der Spätphase dieser kurzlebigen Bewegung der Weite und Vielfalt avantgardistischer und Dada-Filialen aber weltweit, von Berlin bis dadaistischer Kunstformen und Formtrans- New York, von Paris bis Barcelona und gressionen zeugen (dass Dada nicht allein aus Rostow am Don und auch in der Provinz, sei Negation und Nihilismus bestand, sondern es in Hannover, Groningen oder Tirol ausge- ganz produktiv darauf bedacht war, ‚Werke‘ breitet hatte. Im November 1920 lud Tzara zu produzieren, hat sich mittlerweile wohl zusammen mit Francis Picabia 52 Künstler, herumgesprochen). Vertreten sind rund 50 darunter auch einige Künstlerinnen, „höf- Dadaisten, darunter mit Gabrielle Buffet, lichst“ zur Mitarbeit ein: „Wollen Sie bitte 3 Suzanne Duchamp, Elsa von Freytag- 2 Schafott/ Über den grünen Klee Loringhausen, Hannah Höch und Sophie Taeuber auch Künstlerinnen, die lange Zeit im Schatten der Dada-Männer standen und erst in letzter Zeit angemessen gewürdigt worden sind. Vertreten sind dabei die bekannten, großen und längst kanonisierten Namen – von Arp, dem Oberdada und André Breton über Marcel Duchamp und Max Ernst bis hin zu George Grosz, Raoul Hausmann, John Heart- field, Richard Huelsenbeck, Man Ray, Pica- bia, Kurt Schwitters und Tzara selbst, aber auch zumindest in Deutschland weniger pro- minenten Dadaisten wie I. K. Bonset (Pseu- donym für Theo van Doesburg), Jacques Edwards, Jacques Rigaut, Guillermo de Torre oder auch Theodor Baargeld, Alfred Vagts oder Melchior Vischer. Ein glänzend recher- chierter und reichhaltig illustrierter Beitrag von Adrian Sudhalter erläutert (neben weite- ren Beiträgen) Konzept, Genese und Ge- schichte des Projektes, eine illustrierte Werk- liste verzeichnet penibel und übersichtlich alle Informationen zu den Autoren und Werken, soweit diese zu recherchieren waren. Nach fast einem Jahrhundert liegt also nun Dadaglobe vor – angesichts dieser Großtat möchte man mit einem der Protagonisten aus dem erwähnten Serapis-Roman ausrufen: „Danke, ich danke Dir, Dada!“ Dadaglobe Reconstructed. Hrsg. vom Kunsthaus Zürich. Zürich: Scheidegger und Spiess 2016. 304 Seiten, Euro 58,00. Walter Fähnders Diese Besprechung erscheint vorab auf der Website des JUNI-Magazins: www.juni- magazin.de. Sie wird im Druck im kommen- den Heft des JUNI-Magazins Nr. 53/54 er- scheinen. 3 .