„Cinematic Cruising” – Mit Dem „Traumschiff“ Auf Hoher See
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PLIEN, Marion (Hrsg.): Spielfilme geographisch sehen lernen – Filmische Narrationen aus fachwis- senschaftlichen und didaktischen Perspektiven. Mainz 2019: 31-53 (= Mainzer Kontaktstudium Geographie, Bd. 15) Geographie, Bd. 17) ANTON ESCHER, MARIE KARNER UND HELENA RAPP „Cinematic Cruising” – mit dem „Traumschiff“ auf hoher See 1 Einleitung Träume wahr werden“ (Royal Caribbean 2018: 84) und Passagiere „ins Land der Fantasie“ (AIDA Die Kreuzfahrtbranche verspricht ihren Kunden Cruises 2018b: 36) entführt werden. Die Verhei- ein Reisen „Wie im Himmel auf See“ (Royal ßungen der Kreuzfahrt-Reedereien scheinen An- Caribbean 2018: 82) auf einem Schiff „Wo klang zu finden, denn die Form der Reiseveranstal- tung „Kreuzfahrt“ boomt. Abb. 1: Zunahme der Hochsee-Kreuzfahrtpassagiere weltweit im Zeitraum von 1990 bis 2020 Kein Reisemarkt wächst derzeit so rasant wie die 2017 25,8 Millionen Passagiere eine Kreuzfahrt Hochsee-Kreuzfahrt. Laut Schätzungen des inter- gemacht. Für das Jahr 2018 werden 28 Millionen nationalen Kreuzfahrtverbands CLIA (Cruise Passagiere erwartet“ (REITZ 2018). Der US-ameri- Lines International Association) haben im Jahr kanische und der europäische Kreuzfahrtmarkt nehmen dabei die Spitzenplätze ein. 31 Abb. 2: Herkunftsländer der Hochseekreuzfahrtpassagiere im Jahr 2017 Der Umsatz des Hochsee-Kreuzfahrttourismus er- Entsprechend nehmen die Anzahl und die Kapazi- reicht in Deutschland im Jahr 2016 gegenüber tät der Schiffe zu. 2015 eine Steigerungsrate von 17,8 %. Datenquelle: Cruise Industry News 2018. Abb. 3: Zunahme der Kreuzfahrtschiffe und deren Bettenkapazität im Zeitraum von 1999 bis 2020 32 Die Begründung für den Boom der Branche liefert (2011: 246) hin: “Instead I have positioned films die Branche selbst: „Einer der vielen Gründe da- as discursive constructs recognising both the me- für, dass die Kreuzfahrtbranche erfolgreich blei- diatization (JANSSON 2002; JANSSON and FALK- ben wird, sind die individuellen Angebote, die sie HEIMER 2006) of places and spaces of travel and ihren Gästen aus aller Welt anbieten kann“, so tourism through film, at the same time as position- Cindy D’Aoust, Präsidentin und CEO von CLIA. ing film as unique sites or spaces of travel in them- „Nie zuvor habe ich eine Branche erlebt oder einer selves (BRUNO 1997; 2002)”. Zusätzlich kann von Branche angehört, die die Wünsche ihrer Kunden einer Verwandtschaft der menschlichen Wahrneh- auf diese Weise wahrnimmt und darauf reagiert. mung zwischen Bewegung und Reisen sowie Film, Deshalb werden wir auch in Zukunft weiteres der durch bewegte Bilder (Movies) erzeugt wird, Wachstum in der Branche erleben.” (CLIA ausgegangen werden. Hinzu kommt, dass das Deutschland 2017). Kostengünstige Angebote für Schiff selbst ein bewegter Ort ist und die Reisen- die Kreuzfahrttouristen sind u.a. durch die Be- den wie von selbst bewegt werden. schäftigung günstiger Arbeitskräfte aus Niedrig- Annäherung und Identität zwischen Film und lohnländern möglich. Damit geht eine ethnisch ori- Kreuzfahrt lässt sich aus mehreren Perspektiven entierte Arbeitsteilung einher. thematisieren: Zunächst wird die Vergleichbarkeit Der vorliegende Aufsatz will zeigen, dass der an- des Ortes angesprochen. Das Kreuzfahrtschiff und haltende Boom der Kreuzfahrt, der in den USA in das Kino sind Orte der (Post)Moderne, Orte der den 1970er Jahren mit der modernen Globalisie- Heterotopie (FOUCAULT 1987) und Orte der rung beginnt, insbesondere durch die Kombination Träume. Mit dieser dreifachen Identität kann die der klassischen Erlebnis-, Vergnügens- und Erho- Vergleichbarkeit der Orte für den Alltag der Men- lungs-Reise sowie durch die Integration von ge- schen belegt werden. fühltem Abenteuer- und Amouren-Urlaub entstan- Eine filmische Annäherung beider Orte ermögli- den ist. Dies wird vor allem durch die strategische chen die epochalen Fernsehserien The Love Boat Annäherung und das magische Zusammenspiel in den USA und Das Traumschiff in Deutschland. von lebensweltlicher Wirklichkeit und filmischer Die Serien lösen für die Rezipienten ein Bedürfnis Fiktion erzielt. Bereits LESTER (2011: 245) argu- nach Kreuzfahrten aus. Die definitive Identität von mentiert in diesem Sinne: “Arguably the modern Film und Kreuzfahrt sowie die beliebten Reality- cruise ship is an exemplar of a simulated, fantasy Doku-Soaps ermöglichen ein „Reisen wie im Film space and film, and in particular, the institution of sein“. Die aufgezeigten Imaginationen und Hal- Hollywood has a long history in perpetuating the tungen von Kreuzfahrtreisenden erzeugen Cine- glamour of ocean liners.”1 Wir gehen jedoch noch matic Crusing, ein Reisen, das man erinnert, als ob einen Schritt weiter, indem wir konkret formulie- man in einem Hollywood-Film mit Happyend mit- ren: Die Kreuzfahrt ist für die Passagiere bzw. Ur- gespielt und alles „wirklich erfahren“ hätte. lauber eine Reise in den Film, ein Zustand als ob sie sich in einem Film befinden würden bzw. es fühlt sich an, wie im Film zu sein, denn im Erleben 2 Der Ort Film-Kino und der Ort und in der Erinnerung sowie insbesondere in der Kreuzfahrtschiff Phantasie der Reisenden erfüllen sich während der Reise nahezu alle Träume wie ein Leben im Film. Die Orte Kino und Kreuzfahrtschiff weisen aus un- Dies führt die Aussagen des Existenzphilosophen terschiedlichen Perspektiven nicht nur Gemein- Martin HEIDEGGER (1938: 87) weiter, der bereits samkeiten auf, sondern sind hinsichtlich bestimm- in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts festhielt: ter Qualitäten für Personen, die diese Orte nutzen „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung bzw. aufsuchen, identisch. der Welt als Bild“. Daraus folgt, dass die Welt zu- Ende des 19. Jahrhunderts entstand für einen pri- nehmend in bildlicher Form erfahren wird und vilegierten Personenkreis die Luxuskreuzfahrt als diese Bilder zur lebensweltlichen Wirklichkeit eine andere Art des Reisens. Aus der Distanzüber- werden. windung auf dem Meer mit dem Schiff entwickelte Auf den Zusammenhang zwischen Film, Ort und sich die Kreuzfahrt als eine Reise bei der das Er- Reisen durch die spezifische Interpretation von reichen eines Zielortes nur noch sekundär ist. Viel- Filmen als diskursive Konstrukte weist LESTER mehr steht das Hin- und Herfahren, das „Cruisen“2 1 Alle Hervorhebungen von Verfasser_innen in wörtlichen Zitaten 2 „Cruisen“ bzw. kreuzen bedeutet in der Sprache der Segler ein Ziel wurden aus Gründen der Lesbarkeit nicht übernommen. im Zickzackkurs, d.h. durch das temporäre segeln gegen den Wind, anzulaufen. In der amerikanischen Jugendsprache der 1950er Jahre 33 auf dem Meer von Hafen zu Hafen im Mittelpunkt. das gesellschaftliche Erleben lenken, als auch die Die Reise als reines Vergnügen war erfunden! Das Wahrnehmung der Produkte und Orte beeinflus- Kreuzfahrtschiff blieb über die Jahre aufgrund der sen. hohen Kosten nur der „High Society“ vorbehalten. Kino und Kreuzfahrtschiff sind Orte und Erst nach etwa hundert Jahren erfahren Vergnü- Nicht-Orte (AUGÉ 1994). Es sind Orte des Wi- gungsreisen auf See den bereits erwähnten unvor- derspruchs und Orte der Gegensätzlichkeit. Sie hergesehenen Boom (DÄNZER-KANTOF 2014: 23) existieren als reale und imaginierte sowie imagi- und sind inzwischen für nahezu alle Bevölke- nierende Orte. Diese Eigenschaften bringen den rungsgruppen der Länder des globalen Nordens er- modernen und postmodernen Charakter beider schwinglich. Orte zum Ausdruck. Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit der Kine- „Das Kino ist als Ort darauf angelegt, zugleich matographie ein neues Medium erfunden: Die Nicht-Ort zu sein, Zugangstor zu einer jenseits der Aufzeichnung und die Wiedergabe von Bewegun- Raumgrenzen liegenden Welt“ (MORAT 2016: gen. Aus laufenden Bildern mit simulierter Bewe- 228f.). Die Orte sind durch ihre Funktionalität ge- gung entstand der Stummfilm, danach entwickelte prägt und dominiert. Obwohl es Nicht-Orte sind, man den Tonfilm, den Farbfilm, den 3D-Film und das heißt weder identitätsstiftend, noch relational, anschließend den digitalen Film. Man rezipierte noch historisch (AUGÉ 1994: 92f.), können sie die Filme je nach Epoche in Jahrmarkzelten, The- durch die persönlichen Beziehungen und Erleb- atern, Palästen und Hinterzimmern sowie schließ- nisse der Nutzer zu Erinnerungsorten werden, ob- lich in Wohnzimmern. Im digitalen Zeitalter ge- wohl sie als Charakter keine Individualität aufwei- nügt ein Mobiltelefon, um Filme in bester Qualität sen. Der subjektiv empfundenen Freiheit auf dem zu genießen. „‘Ort des Kinos‘ meint den Blick- Meer steht das Gefangensein auf dem Schiff, die raum3, den die Projektion eines Films (gleichwel- Reduktion der individuellen Bewegungsfreiheit cher Technologie) schafft wie voraussetzt“ (KÖTZ von Reling zu Reling gegenüber. Hinzu kommen 1986: 8). Mit den digitalen Möglichkeiten der Auf- die Einschränkungen durch die zahlreichen Ver- zeichnung und der Wiedergabe von Filmen wird haltensregeln und die strengen Sicherheitsaufla- nahezu jeder Ort zum Kino und ist für fast alle gen. Die grenzenlose Freiheit im Kino besteht aus- Menschen in unterschiedlicher Qualität verfügbar. schließlich in der individuellen Wahrnehmung und Die Orte Kreuzfahrtschiff und Kino unterliegen im der subjektiven Phantasie des Rezipienten zum 21. Jahrhundert einem nahezu weltweiten Boom. Lichtspiel. Der Kinogänger darf lediglich Hören Beide Orte sind Orte der (Post)Moderne, Orte der und Sehen, jegliche andere Verwirklichung ist ver- Heterotopie und Orte der Träume. boten, abgesehen von „Popcorn und Cola“. Außer- dem ist er für die Dauer der Aufführung meist be- 2.1 Orte der (Post)Moderne