Droysen 2008-4-226 Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben Zwischen Wissenschaft Und Politik
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W. Nippel: Droysen 2008-4-226 Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein für Klassische Philologie und Alte Geschichte, Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Mün- während der Johann Gustav Droysen sogleich chen: C.H. Beck Verlag 2008. ISBN: 978-3- in die Grabenkämpfe zwischen Sachphilolo- View metadata, citation406-56937-1; and similar 445 papers S. at core.ac.uk gen und Wortphilologenbrought gerät to you by (Kap. CORE I), über providedseine by Bern ausführlich Open Repository dargestellte and Information System Tätigkeit (BORIS) als Rezensiert von: Joachim Eibach, Historisches Abgeordneter Schleswig-Holsteins und Mit- Institut, Universität Bern glied der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49, in der er mit harten Banda- Kaum ein Jahrhundert hing einem solchen gen vor allem hinter den Kulissen für die Glauben an das Individuum an wie das bür- Hegemonie Preußens in einem zukünftigen gerliche 19. Jahrhundert: Mittels Verstehen kleindeutschen Nationalstaat kämpft (Kap. II- konnte das Subjekt die Zeitläufte begreifen IV); sodann Droysens Tätigkeit als Profes- und mittels Bildung sollte es sich aus untertä- sor in Kiel und ab 1851 in Jena, wo er sich nigen Verhältnissen emanzipieren. Anknüp- – nach Rückzug aus der Tagespolitik – sei- fend an Vorbilder aus der Aufklärung kann- nem Großprojekt einer ‚Geschichte der Preu- te diese Epoche den bürgerlichen Gelehrten, ßischen Politik’ sowie seiner bis heute als der mit überlegenem Gestus nicht nur die Grundlagenwerk der Methodologie gelten- Grundlagen seiner Wissenschaft reflektierte den ‚Historik’ widmet (Kap. V-VI); schließ- oder gar erst erfand, sondern wegen seines lich die letzte Lebensphase in Berlin zwischen hohen Status auch in politischen Dingen Mei- 1859 und dem Tod 1884 mit einem Droysen, nungsführerschaft beanspruchen durfte. Von der Bismarck verehrt, an Verfassungsfragen einem derart souveränen Selbst- und Weltent- desinteressiert ist und seine ins Monumentale wurf ist man heute weit entfernt, auch wenn wachsende Geschichte Preußens nicht zu En- gerade Historiker in Feuilletons oder Late- de bringt (Kap. VII). Als Droysens öffentliches night-shows immer wieder einmal Gehör fin- wie sein privates Streben schließlich Erfül- den. Wenn im Zuge der nachlassenden At- lung erfährt – Deutschland wird als Preußen- traktivität rein sozialstruktureller Erklärungs- Deutschland Nationalstaat, er selbst Profes- muster Gelehrtenbiographien neuerdings viel sor in der renommierten Hauptstadtuniver- Interesse hervorrufen, so schwingt sicher ei- sität – ist sein auf Außenpolitik fokussier- ne Portion Faszination mit für die Vorden- tes Werk methodisch überholt. Droysens jahr- ker und Klassiker. Zuletzt sind für das lange zehntelange normative Leitidee vom ‚deut- 19. Jahrhundert in Deutschland einige wich- schen Beruf Preußens’ ist von der Gegenwart tige Werke in diesem Genre vorgelegt wor- eingeholt und dadurch quasi überholt wor- den: zu Werner Sombart, Max Weber, Theo- den. Deswegen interessiert dieser Droysen dor Mommsen oder auch zu einer Figur wie die Zeitgenossen, besonders die Fachwissen- Paul de Lagarde1. Indes zeigen all diese Bio- schaft, nicht mehr sonderlich. Nippel konsta- graphien das gelehrte Subjekt eben nicht als tiert die „postmortale Abstrafung eines ‚Star- autonomen Beherrscher seiner Welt – sei es Historikers’“ (S. 305). im bürgerlichem Salon, am universitären Ka- Wann und warum wird aus einem ‚Libe- theder oder auf politischem Parkett – son- ralen’ ein machtstaatsbegeisterter Apologet dern vielmehr verstrickt in Unzulänglichkei- Großpreußens, der 1867 in einem Brief an ten des Alltags, Neurosen, zeitgeistige Politik- Heinrich von Treitschke bekennt: „Ich bin strömungen, nicht zuletzt Scheitern, kurzum: wahrlich von Herzen liberal, aber diese deut- Irrungen und Wirrungen. sche Freiheitsgeilheit bei schimpflichster poli- Wilfried Nippels hoch gelobte Droysen- tischer Ohnmacht ekelt mich an“ (S. 283)? Die Biographie ist relativ konventionell geglie- Antwortet lautet: Droysen ist nie wirklich li- dert. Die Kapitel folgen chronologisch den Lebensabschnitten des Historikers: von der 1 Friedrich Lenger, Werner Sombart: 1863-1941. Eine Bio- nur kurz skizzierten Kindheit und Jugend graphie, 2. Aufl., München 1995; Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, Darmstadt des Sohns eines preußischen Garnisonspfar- 2005; Stefan Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Bio- rers und den Anfängen der wissenschaftli- graphie, München 2007; Ulrich Sieg, Deutschlands Pro- chen Karriere als außerordentlicher Professor phet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des moder- nen Antisemitismus, München 2007. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. beral, aber immer in einer spezifischen Wei- (Droysen) die hohe Kunst der spitzen Feder se preußisch gewesen. Während der Kindheit geradezu kongenial beherrschen. Zur Veran- zur Zeit der Napoleonischen Kriege kommt schaulichung des Werdegangs Droysens wird er bereits über seinen Vater, den Militärpfar- bemerkt, dass dieser in seiner Kieler Zeit rer, in Kontakt mit den preußischen Helden, „noch nicht Friedrich den Großen zum Na- aber nicht mit der Linie der Brüder Humboldt tionalheiligen promoviert hatte“ (S. 43). Zur oder Hardenberg, sondern mit einem Blücher ‚Historik’: „Es sei dahingestellt, ob Droy- und einem Scharnhorst. In seiner Studienzeit sen zwischen [dem Unparteilichkeit und Ob- verkehrt er immerhin im assimilierten jüdi- jektivität beanspruchenden] Thukydides und schen Großbürgertum und sollte später wäh- Droysen eigentlich weitere ‚ordentliche Histo- rend des Berliner Antisemitismusstreits ge- riker’ (aner)kennt.“ (S. 222) gen die Diskriminierung des deutschen Ju- So überzeugend die Argumentation Nip- dentums und damit gegen Treitschke Par- pels insgesamt ist, seine Sicht auf Droysens tei ergreifen. Aber Droysens politische Ide- ‚Historik’ kann man diskutabel nennen. Trifft en während des Vormärz sind diffus. Sie ste- es den Kern, hier auf Droysens Publikati- hen quer zur politischen Theoriebildung der onsstrategie abzuheben, seine „Aversion ge- Zeit. Er rechtfertigt die ‚terreur’ der Jakobiner gen Ranke“ (S. 229) und seine politische Par- und findet Gefallen an Napoleon, kritisiert teilichkeit zu kritisieren? Zwar wird man die englische Verfassung, lobt aber diejenige heute Droysens geschichtstheoretisches Werk der USA, hält Gewaltenteilung zur Abstüt- nicht in gleicher Weise wie etwa Max We- zung von Bürgerrechten für unnötig, fordert bers, ein bis zwei Generationen später formu- aber ein Wahlrecht ohne Zensus. Im Zwei- lierte, Grundlagentexte zu Rate ziehen. Aus felsfall optiert Droysen immer für das Preu- der Sicht der Zeit ist aber festzustellen, dass ßische in seiner Lesart, das heißt den monar- die Formulierung einer Verstehenslehre für chischen Machtstaat und damit gegen Volks- die Geschichtswissenschaft und der bis heute souveränität. Diesem Credo folgt er dann gültige Hinweis auf die Relevanz der stand- auch 1848/49 als Abgeordneter der Frank- ortgebundenen Fragestellung – die viel zi- furter Nationalversammlung. Die preußische tierte „relative Wahrheit“ (S. 230) – innova- Mission in Deutschland will er als Historiker tives Potenzial bargen. Dass Droysens theo- herbeischreiben. retisch reflektierte Einsicht in die Standortge- Um die Demaskierung der Droysenschen bundenheit des Historikers seinem Vorgehen ‚Geschichtspolitik’, die Folgen der Vermi- auch in der praktischen Forschungsarbeit ent- schung von Wissenschaft und Politik, geht es spricht, kann man ihm eigentlich nicht vor- Wilfried Nippel. Mehrmals fällt der Begriff werfen. Ein expliziter Standort der Betrach- der „Legende“ (S. 310), „Legenden“ (S. 11), tung ist jedenfalls alles Andere als singulär. „Droysen-Legende“ (S. 227) oder auch „Nim- Nur hat sich Droysens Standort im Nachhin- bus“ (S. 228). Nippel zeigt gekonnt die Wi- ein als politisch problematisch erwiesen und dersprüche, Fragwürdigkeiten und Defizite im Angesicht der Quellen aus der preußisch- in der Praxis des Historikers Droysen auf, deutschen Geschichte der Neuzeit kann man die sich immer dann einstellen, wenn diesem schließen: Droysen hat nicht die richtige Frage der Politiker Droysen, der er auch nach sei- gestellt und musste deshalb mit seiner These nem Abschied aus dem aktuellen Politikge- vom ‚deutschen Beruf’ Preußens auch zu ei- schäft vom Katheder herab blieb, in die Quere nem falschen Ergebnis kommen. kam. Nippel arbeitet detailgenau, nah an den „Was bleibt von Droysen?“ (S. 307) Un- gedruckten Quellen und mit vielen Zitaten, ter dem von Nippel explizit gewählten und nimmt aber immer wieder den roten Faden erläuterten Fokus auf die Geschichtspolitik seiner Darstellung auf und kommt zu interes- „‚nicht viel’“ (ebd.). Was bleibt von Nippels santen Thesen. Episoden und Petitessen aus Droysen-Biographie? Zugespitzt formuliert, Droysens Briefen und Tagebüchern garnieren eine Art Vatermord an dem ‚Gründervater der den argumentativen Stil, werden aber eher Geschichtstheorie’, aber intensiv recherchiert, selten um ihrer selbst willen berichtet. Bemer- wohlbegründet, perfekt ausgeführt. Unterm kenswert ist, dass Autor (Nippel) wie Held Strich: ein gutes Stück Wissenschaftsgeschich- © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. W. Nippel: Droysen 2008-4-226 te, das zur Diskussion anregt und weiter- bringt. HistLit 2008-4-226 / Joachim Eibach über Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Mün- chen 2008, in: H-Soz-Kult 12.12.2008. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved..