Lederschildkröten 1
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Dermochelyidae – Lederschildkröten 1 Dermochelyidae – Lederschildkröten Von GABE S. BEVER und WALTER G. JOYCE Umfang und Phylogenie. Die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea [Vandellius, 1761]) ist der einzige rezente Vertreter der Dermochelyidae Lydekker, 1889, ei- ner kosmopolitisch verbreiteten Gruppe von Meeresschildkröten. Der Fossil- bericht der Dermochelyidae reicht 80 Millionen Jahre zurück, bis in die obere Kreidezeit (HIRAYAMA und CHITOKU 1996, PARHAM und STIDHAM 1999). Wir fassen im vorliegenden Kapitel übereinstimmend mit JOYCE et al. (2004) die Dermochelyidae als größtmögliche monophyletische Gruppe auf, die zwar D. coriacea, nicht jedoch die fossile Protostega gigas und die rezenten Cheloniidae beinhaltet. Unter den rezenten Schildkröten sind die Cheloniiden die mit D. coriacea nächstverwandten Formen. Schon in den frühen Werken von BRONGNIART (1800, 1805), GRAY (1825, 1831), FITZINGER (1826), DUMÉRIL und BIBRON (1834) und AGASSIZ (1857) wurden die engen Beziehungen zwischen der Lederschildkröte und den Cheloniiden erkannt. COPE (1871) entwickelte allerdings eine Alternativ- hypothese, bei der D. coriacea als letzter Repräsentant einer Verwandtschafts- gruppe, der Athecae, betrachtet wurde, die sich bereits sehr früh in der Entwick- lungsgeschichte der Schildkröten abgespalten haben soll. In die moderne phylogenetische Terminologie übersetzt wäre D. coriacea demnach als Schwestertaxon aller anderen Schildkröten zu betrachten (GAFFNEY 1984). Der von COPE (1871) gewählte Name Athecae spielt auf die einzigartige Panzer- morphologie der Lederschildkröte an (siehe unten), die letztlich den Anstoß für COPES Hypothese der nur weitläufigen Verwandtschaft von D. coriacea und an- derer Schildkröten gab. In mehreren einflußreichen Werken, u. a. von BOULENGER (1889), STRAUCH (1890) und HAY (1908), wurde der Klassifikation von COPE (1871) gefolgt und zwischen den Athecae für die Lederschildkröte und einer Gruppe für alle ande- ren Schildkröten, den Thecophora, unterschieden. Obwohl durch die detaillie- ren anatomischen Untersuchungen von NICK (1913), VÖLKER (1913) und VERSLUYS (1914) bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Grundlagen für die Erkenntnis geschaffen wurden, daß die Lederschildkröte doch den Cheloniiden 2 8. Dermochelyidae – Lederschildkröten sehr nahesteht, hielten manche Autoren noch bis in die 1950er Jahre an der Einteilung der Schildkröten in Athecae und Thecophora fest (z. B. CARR 1952). DERANIYAGALA (1930, 1932, 1939, 1953) ging sogar noch weiter und nahm an, daß die Lederschildkröte völlig unabhängig von allen anderen Schildkröten ent- standen sei. Andere Autoren, wie NOPCSA (1923), LINDHOLM (1929), WILLIAMS (1950) und ROMER (1956), rückten dagegen die Lederschildkröte wieder in die unmittelbare Verwandtschaft der Cheloniiden. Diese Hypothese wurde seither mehrfach anhand morphologischer und molekularer Daten bestätigt (FRAIR 1979, GAFFNEY und MEYLAN 1988, BOWEN et al. 1993, HIRAYAMA 1994, DUTTON et al. 1996, SHAFFER et al. 1997). Die Lederschildkröte wird allgemein als eine der faszinierendsten Schildkröten- arten betrachtet. Angesichts ihrer einzigartigen Biologie und Morphologie über- rascht das Interesse an dieser Tierart nicht. Vorkommen und Lebensweise. Dermochelys coriacea besitzt unter allen rezenten Reptilienarten das größte Verbreitungsgebiet und ist im Atlantik, Pazifik und im Indischen Ozean weitverbreitet (PRITCHARD 1980). In europäischen Gewässern werden Lederschildkröten relativ häufig längs der Atlantikküste und im Mittel- meer gefunden (FRAZIER et al. 2005 in diesem Band). Die Fähigkeit, die Körper- temperatur deutlich über der Umgebungstemperatur zu halten (FRAIR et al. 1972, GREER et al. 1973), erlaubt es Lederschildkröten regelmäßig bis in weit nördlich oder südlich gelegene Regionen mit sehr kalten Wassertemperaturen vorzudrin- gen. Zuverlässige Nachweise liegen aus einem Gebiet etwa zwischen dem 69. Grad nördlicher und dem 47. Grad südlicher Breite vor (FRAZIER et al. 2005). Dieses riesige Verbreitungsgebiet führte verschiedentlich zur Anerkennung zweier Subspezies, D. c. coriacea für die atlantischen Populationen und D. c. schlegelii (Garman, 1884) für die Vorkommen im Pazifik und Indischen Ozean (siehe in diesem Band das Kapitel von FRAZIER et al. 2005). Die Nistgebiete von Dermochelys coriacea beschränken sich trotz des großen Verbreitungsgebietes fast völlig auf Strände in den Tropen und seltener auch in den Subtropen (ERNST und BARBOUR 1989). Es ist davon auszugehen, daß die Art auch im Mittelmeer gelegentlich nistet (FRAZIER et al. 2005). Mit Ausnahme der Nistwanderungen werden Leder- schildkröten nur selten in Küstennähe beobachtet. Die Art ist mit Sicherheit unter den rezenten Meeresschildkröten am stärksten an eine pelagische Lebens- weise angepaßt. Von der Ernährung her ist D. coriacea weitgehend auf Quallen spezialisiert, obwohl eine ganze Reihe anderer Nahrungsbestandteile bekannt geworden sind (z. B. Blaugrüne Algen, Stachelhäuter, Tintenfische, Crustaceen, Mollusken, Tunicaten und Fische; BRONGERSMA 1969, HARTOG 1980, HENDRICKSON 1980, FRAZIER et al. 2005). Quallen sind durch den hohen Was- sergehalt extrem voluminös. Da sie wenig Nährstoffe enthalten, macht dies den Verzehr großer Mengen notwendig. Der langgestreckte Schlund der Lederschild- Dermochelyidae – Lederschildkröten 3 kröte mit großen, nach hinten gerichteten Papillen (DUNLAP 1955, SCHUMACHER 1973, siehe auch die Abbildung in FRAZIER et al. 2005 im vorliegenden Band) könnte eine Anpassung an diese spezielle Ernährungsweise darstellen. PRITCHARD und TREBBAU (1984) vermuten, daß die glitschige Nahrung mit diesen Schlund- papillen festgehalten wird, während durch das Maul Wasser ausgepreßt wird. Auch ist denkbar, daß der Schlund quasi als „Zwischenlager“ dient, wenn der Magen voll ist. Morphologie. Eines der auffälligsten morphologischen Charakteristika der Leder- schildkröte ist ihre gewaltige Größe. GIRONDOT und FRETEY (1996) geben 252 cm als maximale SCL an, womit Dermochelys coriacea die größte rezente Schildkrötenart und eine der größten rezenten Reptilienarten überhaupt dar- stellt. Hinsichtlich des Körpergewichts ist D. coriacea mit 916 kg (ECKERT und LUGINBUHL 1988) unter rezenten Reptilien zweifellos unübertroffen. Schädel: Für Abbildungen eines D. coriacea-Schädels sei auf WEGENER (1959) und das Kapitel über die Lederschildkröte im vorliegenden Handbuch- band verwiesen (FRAZIER et al. 2005). Außer von D. coriacea kennt man noch von den fossilen Dermochelyiden Egyptemys oregonensis (Packard, 1940) (Mio- zän) und Eosphargis breineri Nielsen, 1959 (Eozän) den Schädel; Schädel- fragmente sind auch von der oberkretazischen Mesodermochelys undulatus Hirayama und Chitoku, 1996 bekannt. Diese Arten weisen einen Schädelbau auf, der sich durch das Mosaik von stark und schwach verknöcherten Elemen- ten grundlegend von anderen Schildkrötenarten unterscheidet. Das Schädel- dach von Dermochelyiden ist gut verknöchert und, ähnlich wie bei den Cheloniiden, in der unteren und oberen Temporalregion nur wenig rückgebil- det. Die dominierenden Knochenelemente sind im Schädeldach die großen Postorbitalia und Parietalia. Bei D. coriacea erreicht das Parietale eben noch das Squamosum, was bei manchen fossilen Dermochelyiden nicht der Fall ist. Im Unterschied zu anderen Schildkrötengruppen ist bei Dermochelyiden das Quadratojugale relativ klein; es ist daher vergleichsweise wenig am Schädel- dach beteiligt. Parietale und Postorbitale bzw. Squamosum und Postorbitale sind über lange gemeinsame Suturen verbunden; Quadratojugale und Post- orbitale berühren sich jedoch nur auf der Schädelinnenseite; das Quadratojugale berührt das Maxillare nicht. Die Praefrontalia sind groß, berühren einander an der Mittellinie aber normalerweise nicht. Das terminale Ende des absteigen- den Fortsatzes der Praefrontalia ist so schwach verknöchert, daß es die Palatina und das Vomer unterhalb der Augenhöhlen nicht erreicht. Das Frontale von Dermochelyiden ist an der Augenhöhle nicht beteiligt. Wie bei allen anderen rezenten Cryptodiren (sensu JOYCE et al. 2004) fehlen Dermochelyiden Nasalia, Lacrimalia, Postfrontalia und Supratemporalia. 4 8. Dermochelyidae – Lederschildkröten Die Praemaxillaria sind wie bei Cheloniiden paarig, ein sekundärer Gaumen ist aber nicht vorhanden. Als Besonderheit sind am Oberkieferrand auffällige, zahnartige Zacken ausgeprägt, die von den Praemaxillaria und Maxillaria gebil- det werden. Foramina praepalatina und Foramina palatina posterior fehlen. Das Vomer ist unpaar und trägt einen deutlichen Mediankiel auf der Unterseite. Die Basicranialregion von Dermochelyiden ähnelt grundsätzlich den meisten anderen Cryptodiren. An dieser Stelle kann großenteils auf die identischen Merkmalsausprägungen von Cheloniiden verwiesen werden (siehe JOYCE und BEVER 2005 im vorliegenden Handbuchband). Im Unterschied zu Cheloniiden wird bei Dermochelyiden allerdings die gut ausgeprägte Crista supraoccipitalis völlig von der verknöcherten Temporalregion verdeckt und der großen ventra- len Oberfläche des Basisphenoids fehlt die markante Skulpturierung, die sich bei Cheloniiden findet. Das Ohr von Dermochelyiden weicht in seiner Morphologie etwas von anderen Schildkröten ab. Das Cavum tympani ist zwar wie bei den meisten Schildkröten als glatte, nierenförmige Höhlung ausgebildet, jedoch ist an seiner Bildung das Quadratojugale wesentlich beteiligt, namentlich an seinem vorderen Rand. Ein Antrum postoticum fehlt quasi; die Incisura columellae auris ist stets offen. Bei Dermochelyiden ist zwar ein Processus parietalis inferior vorhanden,