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Dorothee Wierling Eine Familie im Krieg Dorothee Wierling Eine Familie im Krieg Leben, Sterben und Schreiben 1914-1918 Für meine Schwester Gabi (1944 – 2010) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wallstein Verlag, Göttingen 2013 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Aldus Umschlag: Susanne Gerhards, Düsseldorf Umschlagfotos: (oben) Mittagskonzert nach dem Aufziehen der Wache im Berliner Lustgarten 1914 (Bundesarchiv Bild 183-R43077) (unten) Ein deutscher Schützengraben an vorderster Front dicht am Ufer der Aisne 1915 (Bundesarchiv Bild 183-R34776) Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-1301-9 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2462-6 ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2463-3 Inhalt Einleitung 7 Die Vier 13 Der Freiwillige 42 Die Kriegerin 70 Im Feld 101 Lieben und Lügen 151 Exkurs: Kriegslektüren 182 Im Feuer 225 Das Opfer 287 Berliner Leben 314 Der Tod 352 Die (allwissende) Erzählerin 381 Portraits 404 Quellen und Literatur 412 Bildnachweis 414 Dank 415 Einleitung Am 6. Februar 1971 starb in New York Julie Braun-Vogelstein, eine deutsch-jüdische Kunsthistorikerin, die 1935 Berlin verlas- sen musste und seit 1937 in den USA lebte. Sie hinterließ dem Leo-Baeck-Institut in New York einen Nachlass an Familienkor- respondenzen, der heute mit über elf Regalmetern den größten Einzelnachlass des Archivs und Forschungsinstituts darstellt. Dazu zählte auch die Korrespondenz der Familie Lily, Heinrich und Otto Braun, ein Briefwechsel, an dem Julie Vogelstein seit 1914 selbst teilgenommen hatte. Die ersten Briefe, die ich in den 1980er Jahren aus diesem Nachlass einsah, waren die von Lily Braun, der bekannten Feministin, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine sozialdemokratische Dienstbotenbewegung ins Leben gerufen hatte. Da ich über Dienstmädchen promovierte, interessierte mich, welche Rolle diese im Privatleben der Akti- vistin eingenommen hatten. Ich tauchte also in den umfangrei- chen Briefwechsel des Ehepaars Lily und Heinrich Braun ein und plante, irgendwann eine Geschichte dieser interessanten und mit ca. 4000 Briefen ungewöhnlich dicht dokumentierten Beziehung zu schreiben. Dazu kam es zwar nicht. Aber ein (scheinbar) be- scheideneres Vorhaben stellte die Geschichte der Familie Braun im Ersten Weltkrieg dar, nachdem ich festgestellt hatte, dass die betreffende, Julie Vogelstein einschließende Korrespondenz mit ca. 2000 Briefen fast vollständig erhalten ist und von dem Sohn Otto, der sich bei Kriegsausbruch freiwillig gemeldet hatte, sieben Kriegstagebücher vorhanden sind, die zusammen einen Umfang von ca. 1000 Heftseiten haben. Bei gelegentlichen New-York-Be- suchen las ich die Kriegsbriefe meiner vier Protagonisten und die Kriegstagebücher, später konnte ich im Jüdischen Museum Berlin den verfilmten Bestand lesen. Erst in den vergangenen zwei Jahren hatte ich, dank eines Forschungsstipendiums der Gerda-Henkel- Stiftung, der freund lichen Einladung an das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der Großzügigkeit meiner Kolleginnen und Kol legen an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Ham- burg die Möglichkeit, mich intensiver mit dieser Familie im Krieg zu be fassen. 8 Einleitung Die Arbeit mit sogenannten Egodokumenten ist eine beson- ders intensive, intime Form der Quellenlektüre. Ich war mir der Indiskretion meines Tuns bewusst – und der persönlichen Nähe, die ich damit zu meinen Protagonisten entwickelte. Diese Nähe war verführerisch, aber nicht immer angenehm, denn es handelte sich bei »meiner« Familie keineswegs um Personen, mit denen ich mich identifizieren wollte oder konnte. Dennoch war die Möglich- keit, durch diesen einzigartig dichten Briefwechsel dem Leben und den Geheimnissen der vier Personen auf die Spur zu kommen, sehr attraktiv. Als ich allerdings zu Beginn meiner Recherche in New York einmal unverhofft in einem geöffneten Briefumschlag eine mit einem Wollfaden zusammengebundene dunkle Haarlo- cke und die beiliegende Notiz: »Mamas Haare« fand, war ich fast erschrocken. Heinrich Braun hatte die Locke wohl seinem Sohn nach dem plötzlichen Tod der Mutter übergeben. Es war eine aufregende, aber auch unheimliche Erfahrung, diese Locke in der Hand zu halten. Wie nah wollte ich dieser und den anderen Toten eigentlich kommen? Nah genug jedenfalls, um mich durch ihr Leben und Sterben im Krieg beeindrucken und berühren, aber auch befremden zu lassen. Denn je mehr ich las, und je ratloser mich die Lektüre gelegentlich zurückließ, desto besser konnte ich meine Korrespondenten dennoch »verstehen«, ihre Gedanken, Ge- fühle und Handlungen nachvollziehen. Ich versuchte, für sie jene Empathie zu entwickeln, die gerade keine Identifizierung, sondern die Fähigkeit zur Distanz einschließt: die Kernkompetenz der Ge- schichtswissenschaft. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die nicht nur für profes- sionelle Historiker oder gar für Experten des Ersten Weltkriegs interessant und lesbar sein würde. Am Beispiel von damals pro- minenten, heute eher vergessenen Personen wollte ich zeigen, wie der Krieg in das Leben von Menschen einbrach, die ihn nicht er- wartet oder ersehnt hatten, ihn aber dennoch freudig annahmen. Ich wollte verstehen und verständlich machen, welche Emotionen der Kriegsausbruch auslöste, wie er Menschen scheinbar plötzlich verwandelte und ihre Leben völlig veränderte; aber auch, welche so zialen Zwänge wirksam wurden, die ihnen scheinbar gar keine andere Wahl ließen, als an diesem Krieg nicht nur äußerlich teil- zunehmen. Schließlich sollte erklärt werden, warum Menschen Einleitung 9 auch dann noch den Krieg annahmen und freiwillig mitmachten, als seine Grausamkeit, seine Sinnlosigkeit und seine Aussichtslo- sigkeit eigentlich nicht mehr geleugnet werden konnten. Wie ich an meinem Beispiel zeigen kann, waren hierfür weniger politi- sche oder ideologische Beweggründe entscheidend, als vielmehr die Hoffnung, unter den Bedingungen des Krieges das Leben besonders intensiv erfahren und fühlen zu können, Hass ebenso wie Liebe, Angst ebenso wie Geborgenheit in einer erstarkten Gemeinschaft. In diesem Sinne eröffnete der Krieg ungeahnte Möglichkeiten: der Abenteuer, der Bewährungen, der Persönlichkeitsentwicklung bis hin zur Neuerfindung des Selbst; aber auch die Chancen der Ver- tiefung und Beschleunigung von Beziehungen. Das Leben mitein- ander schien nun zugleich klarer und inniger zu werden. Dass an solchen Hoffnungen und Gefühlen trotz ihrer Enttäuschung fest- gehalten werden konnte, zeigen die Briefe, die dieser Geschichte zugrundeliegen, ebenso wie den immer mühsameren Alltag und das zunehmende Grauen des Krieges. Erlebt und beschrieben wird das alles von einer Familie aus dem bildungsbürgerlichen Milieu Berlins. Dieses Milieu war schon vor dem Krieg äußerst facet- tenreich. Die Brauns hatten Berührungspunkte zu sozialistischen, liberalen und liberalkonservativen politischen »Lagern«. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörten Menschen aus der protestantisch und der jüdisch geprägten Kultur, bildungs- und wirtschaftsbürger- licher, adliger und kleinbürgerlicher Herkunft. Urbaner Lebens- stil, Luxuskonsum und lebensreformerische Ideale überlagerten sich ebenso wie geschmacklich-kulturelle Ausrichtungen an Klas- sik, Klassizismus, Naturalismus und Impressionismus – wobei die Brauns vor der heute als klassische Moderne bezeichneten Avant- garde der Vorkriegskultur entschieden Halt machten. Ähnlich zeigte sich die Gemengelage auch im Braun’schen Bekanntenkreis, wo aber keineswegs gleichförmig auf den Krieg reagiert wurde. Auch in der Familie, um die es hier geht, gab es unterschiedli- che Haltungen zum Krieg, subtile Konflikte, zähe Aushandlungen. Dennoch wurde der Krieg insofern zum entscheidenden Faktor in diesem etwas unübersichtlichen Milieu, als die meisten seiner Angehörigen im positiven Bekenntnis zu ihm die Voraussetzung sahen für die soziale Achtung, die ihnen zustand. Das hieß im Umkehrschluss: Ablehnung oder Zweifel gegenüber dem Krieg 10 Einleitung barg die Gefahr sozialer Ächtung. Das traf besonders die jungen Männer, aber auch deren Eltern. Briefe und Tagebücher sind verführerische historische Quellen, weil sie neben der Lust an der Indiskretion auch Authentizität versprechen. Aber ein solches Versprechen können sie nicht ein- lösen. Ihr Quellenwert liegt vielmehr darin, dass sie die zeitnahe Deutung von Erlebtem durch den Schreiber enthalten, ebenso wie die jeder einzelnen Äußerung zugrundeliegende kommunika- tive Gestaltung dieser Deutung. Schließlich enthalten solche Texte auch Selbstentwürfe, denn sie sollen den Adressaten überzeugend zeigen, wer man sein will und wie man sich im Krieg bewährt. Bei der Familie Braun-Vogelstein kam hinzu, dass jedes Mitglied von seiner eigenen Bedeutung und derjenigen der anderen Kor- respondenten überzeugt war – insofern stellen die Briefe (und Tagebücher) schon den Beginn der bewussten Selbsttradierung dar. Aus all diesen Gründen bedürfen die von mir benutzten Quellen der Einführung und der Interpretation. Beides dient nicht nur der Verfremdung, sondern auch der Einordnung in größere Zusam- menhänge; insoweit aber die Texte durch ihre Fremdheit für uns heute den Zugang erschweren, versuche ich, sie durch interpre- tierende Reflektionen den Lesern näher zu bringen. Dass ich eine bloße Edition nicht in Erwägung gezogen habe, sondern meine eigene Geschichte erzählen wollte, hat nämlich nicht zuletzt den Grund,