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Bibliotheksmagazin 1/2011

Bibliotheksmagazin 1/2011

BIBLIOTHEKS M AGAZIN

MITTEILUNGEN AUS DEN STAATSBIBLIOTHEKEN 1 2011 IN UND MÜNCHEN Haus Unter den Linden 8 10117 Berlin (Mitte)

Haus Potsdamer Straße 33 10785 Berlin (Tiergarten)

Zeitungsabteilung im Westhafen Westhafenstraße 1 13353 Berlin (Wedding)

www.staatsbibliothek-berlin.de

Ludwigstraße 16 80539 München www.bsb-muenchen.de In dieser Ausgabe

Das Sakramentar Heinrichs II. Frühes Drama von Rilke jetzt WeltWissen – 300 Jahre in der Staatsbibliothek zu Berlin Wissenschaften in Berlin Daphnis und Chloë in der Berliner Berthold Furtmeyr – Sammlung Künstlerische Drucke Korane, Buch-Magazine Ein Buchmaler aus Regensburg und mehr … Blockbücher in bayerischen Prometheus-Skulptur von Sammlungen Hans Elias in der SBB-PK Die Bibliothek Bruno Kaisers

Die Schlachtenkupfer des Kaisers BSB-Bestand auf Briefmarken in der Berliner Staatsbibliothek „RISM-OPAC“ – der neue Heinrich Dathe zum Hundertsten Musikkatalog ist online Rezensieren im Zeitalter ISSN 1861-8375 des Web 2.0 Abbé Voglers Reiseklavier online BIbliotheks m agazin

INHALT

Seite 3 DAS SAKRAMENTAR HEINRICHS II. Liturgie und Herrscherpräsentation in einem ottonischen Codex aureus Claudia Fabian

Seite 8 SCHÄFERIDYLL, HIRTENKITSCH, EROTIK, KUNST Illustrierte Ausgaben von Longos’ Daphnis und Chloë in der Berliner Sammlung Künstlerische Drucke Silke Trojahn / Heidrun Feistner

Seite 13 VON ABECEDARIUM BIS ZEITGLÖCKLEIN Erschließung und Digitalisierung der Blockbücher in bayerischen Sammlungen Bettina Wagner / Rahel Bacher

Seite 17 DIE „SCHLACHTENKUPFER“ DES CHINESISCHEN KAISERS QIANLONG (1711–1799) Ein digitale Präsentation von 64 Kupferdrucken aus dem Bestand der Ostasienabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Gerd Wädow

Seite 22 REZENSIEREN IM ZEITALTER DES WEB 2.0 recensio.net – Rezensionsplattform für die europäische Geschichtswissenschaft Lilian Landes

Seite 25 „JETZT UND IN DER STUNDE UNSERES ABSTERBENS“ Staatsbibliothek erwirbt frühes und seltenes Drama von Rilke Martin Hollender

Seite 30 BERTHOLD FURTMEYR – EIN BUCHMALER IN REGENSBURG Christoph Wagner

Seite 35 DIE PROMETHEUS-SKULPTUR VON HANS ELIAS IN DER STAATSBIBLIOTHEK ZU BERLIN Günter Baron BIbliotheks m agazin

Seite 39 „EIN STÜCK BSB“ GEHT UM DIE WELT … Briefmarken-Motive aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek Wolfgang-Valentin Ikas

Seite 43 TIERGÄRTNER AUS LEIDENSCHAFT Prof. Dr. sc. Dr. h.c. Heinrich Dathe (1910–1991) zum 100. Geburtstag Gabriele Kaiser / Katrin Böhme

Seite 48 DAS SCHWELLEN UND STERBEN DER TÖNE Die Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek präsentiert Abbé Voglers Reiseklavier Reiner Nägele

Seite 51 BEETHOVENS NEUNTE IM MARTIN-GROPIUS-BAU Die Staatsbibliothek zu Berlin in der Ausstellung „WeltWissen – 300 Jahre Wissenschaften in Berlin“ Katja Dühlmeyer

Seite 55 KORANE, BUCH-MAGAZINE UND MEHR … Die Bayerische Staatsbibliothek bei der Langen Nacht der Münchner Museen Peter Schnitzlein

Seite 58 DIE BIBLIOTHEK VON BRUNO KAISER Oder: Kennen Sie eigentlich die Sammlung 19 ZZ … Heidrun Feistner

Seite 63 DER NEUE MUSIK-KATALOG „RISM-OPAC“ MIT ÜBER 700.000 NACHWEISEN IST ONLINE Armin Brinzing / Jürgen Diet

Seite 66 DIE VOSSISCHE ZEITUNG 1918–1934 ONLINE Joachim Zeller

Seite 72 KURZ NOTIERT BIbliotheks m agazin

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DAS SAKRAMENTAR HEINRICHS II.

Liturgie und Herrscherpräsentation in einem ottonischen Codex aureus

Die Geschichte des über 1000 Jahre alten Sakramentars Heinrichs II. kennt viele Höhepunkte. Einer war am 23. September 2010 zu feiern, als das lang erwartete Fak- simile vom Faksimile Verlag (früher Luzern, heute München) im Friedrich-von-Gärt- ner-Saal der Bayerischen Staatsbibliothek der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Ein zweiter fand am 2. November statt: Das Faksimile wurde in Bamberg feierlich Erz- bischof Ludwig Schick – quasi dem Nach- folger oder aktuellen Hausherrn im von Heinrich II. gegründeten Bamberger Bis- tum – überreicht. Am 17. Dezember schließlich war als Höhepunkt eine Privat- audienz bei Papst Benedikt XVI. zur Über- gabe des Faksimiles angesetzt.

Diese Termine zeigen, dass das Sakramen- tar Heinrichs II. nicht nur ein exzeptionel- les Kunstwerk ist, sondern in affektiven, emotionalen, religiösen, repräsentativen, durchaus auch politischen Dimensionen noch heute anspricht. Dem allen soll die- ser Beitrag in der gebotenen Kürze nach- Das kurz nach 1002 entstandene Sakra- Krönungsbild Heinrichs II., spüren. Wer dann neugierig geworden mentar Heinrichs II. (Clm 4456) gehört Clm 4456, Bl. 11r ist, sei auf den das Faksimile begleitenden nach derzeitiger Einschätzung zu den zehn Kommentarband mit den ausführlichen wertvollsten Handschriften der Bayerischen Beiträgen von Brigitte Gullath, Martina Staatsbibliothek. Es bewegt und beein- Pippal, Erich Renhart und Stefan Weinfur- druckt durch seine hochrangige Gestaltung, Dr. Claudia Fabian ter (Gütersloh, München Faksimile Verlag auch wenn es zunächst als die unschein- ist Leiterin der Abteilung Handschriften 2010) verwiesen, der keine Fragen offen barste der fünf Prachthandschriften an- und Alte Drucke der Bayerischen lässt. mutet, die im Säkularisationsjahr 1803 aus Staatsbibliothek BIbliotheks m agazin

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Rückdeckel, einer mit schlichtem Goldrah- men eingefassten, früheren lothringischen Elfenbeinplatte auf dem Vorderdeckel um- schließt die 360 Pergamentblätter, Kalbs- pergament für den reich illuminierten An- fangsteil, sonst Schafspergament. Auch der eindrucksvolle Einband wurde für die Fak- simileausgabe als Replikat gestaltet.

Die kunsthistorische Würdigung von Mar- tina Pippal charakterisiert die malerische Ausstattung und macht die Grammatik der Ornamente verständlich, die sich in ihrer Aussagekraft erst erschließen, wenn man sie nicht nur betrachtet, sondern auch liest. Die Gebete werden inszeniert, über die Illuminationen wird zum Höhepunkt des Gottesdienstes, Wandlung und Eucharis- tie, hingeführt. Es gelingt ihr, ein subtiles Konzept nachzuzeichnen. Vor allem wird die Verbindung des Sakramentars zur Poli- tik Heinrichs II. nachvollzogen. Die beiden Herrscherbilder im Sakramentar dienen dazu, seine Krönung zum König zu recht- fertigen und die Krönung zum Kaiser (im Jahr 1014) vorzubereiten. Sie zeichnen keine Politik nach, sondern modellieren die Wirklichkeit.

Thronbild Heinrichs II., dem Bamberger Domschatz in die Mün- Eine ganz enge, im Kommentar detailliert Clm 4456, Bl. 11v chener Hofbibliothek kamen. Das Buch dargestellte Verbindung besteht zwischen beginnt mit einem Kalendar mit den Festen dem Sakramentar Heinrichs II. und dem des Kirchenjahrs, gefolgt vom Hochgebet. karolingischen, im Auftrag Karls des Kah- Das Sakramentar enthält dann die Messen len hergestellten Codex aureus von St. für das Kirchenjahr, für besondere Gele- Emmeram (Clm 14000), wohl der bedeu- genheiten, Votiv- und Totenmessen. Die tendsten mittelalterlichen abendländischen Handschrift wurde fast ausschließlich von Handschrift im Bestand der Bayerischen einem Schreiber geschrieben. Der Buch- Staatsbibliothek. Beide Werke sind in schmuck umfasst neben Miniaturen und Regensburg entstanden. Das Sakramentar Zierseiten zahlreiche größere und kleinere bezieht sich in seinen Bildern deutlich auf Initialen. Ein nur zum Teil zeitgenössischer den Codex aureus. Es ist sogar anzuneh- Prachteinband, mit einer teilvergoldeten men, dass die gemeinsame Verwendung Silberplatte Gregors des Großen auf dem im Gottesdienst intendiert war. Das Evan- BIbliotheks m agazin

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Sakramentar Heinrichs II., Rücken- deckel (li. Original, re. Faksimile)

geliar (Clm 14000) wird durch das Sakra- das Sakramentar nahelegen. Das Sakra- mentar ergänzt, wodurch König Hein- mentar bleibt sodann über alle Gefährdun- rich II. sich mit Kaiser Karl dem Kahlen auf gen hinweg im Bamberger Domschatz. eine Ebene stellt. Da das Sakramentar Zwei Synodalprotokolle der Jahre 1059 schon bald nach der Königskrönung von und 1087 wurden der Handschrift voran- Heinrich II. entstand, war es wohl für den gebunden. Im 13. Jahrhundert wurde der Gebrauch am königlichen Hof, also im Codex restauriert, die Schnittbemalung Regensburger Dom, bestimmt oder auch stammt aus dieser Zeit. 1585 und 1729 für die im November 1002 von Heinrich II. wurden wieder Restaurierungen durch- wieder hergestellte Alte Kapelle in Regens- geführt, die vor allem den Einband betref- burg, die er 1009 dem Bistum Bamberg fen. Im 18. Jahrhundert sind die Hand- schenkte. schriften des Bamberger Domschatzes Sehenswürdigkeiten für Reisende, sie wer- So sehr dieser Bezug die beiden Werke den bei Prozessionen mitgetragen und verband, so kurz war die Zeit ihrer even- bei Kirchenfesten gezeigt. 1803 bringt die tuell gemeinsamen Nutzung. 1007 gründet Säkularisation das Sakramentar mit vier Heinrich II. das Bistum Bamberg, 1012 weiteren Bamberger Prachthandschriften wird der Dom geweiht. Im frühen 11. Jahr- in die heutige Bayerische Staatsbibliothek. hundert kommt auch das Sakramentar In diesen unruhigen Jahren kommen sie nach Bamberg – vielleicht erst 1020 als kurze Zeit nach Ansbach, dann Mannheim Papst Benedikt VIII. am 14. April den Bam- und Winterthur und werden erst 1814 berger Dom besucht. Das Reichenauer im ehemaligen Münchener Jesuitenkolleg Perikopenbuch (Clm 4452) wird als neues ausgepackt. Hier und ab 1843 im neuen Pendant in Auftrag gegeben. Es ist von der Gebäude in der Ludwigstraße wird das Ausstattung her ganz verschieden, doch Sakramentar Heinrichs II. in der Zime- kann der Bucheinband ein Angleichen an lienausstellung gezeigt, aber auch kunst- BIbliotheks m agazin

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Miniaturansicht in der digitalen geschichtlich und paläographisch erschlos- 1985 begannen die ersten Planungen zu Präsentation der Bayerischen Staats- sen. Ab 1909 lösen thematische Ausstel- einem Faksimile, doch führten die Vor- bibliothek (BSB-Viewer), Bl. 9v–11v lungen die Dauerausstellung ab. Seit Be- bereitungen damals nicht zum Erfolg, ob- ginn des 20. Jahrhunderts werden die wohl die Handschrift für die Ausstellung konservatorischen Bedürfnisse der Hand- Regensburger Buchmalerei im Jahr 1987 schriften besser bekannt und stärker be- aus ihrem Einband genommen worden rücksichtigt. Sie stehen heute an erster war, was vor 30 Jahren für die Herstellung Stelle der Ausleihpolitik für diese hochran- eines Faksimiles noch unverzichtbar war. gigen Werke. Das kommt aber keinem Die Autoren, darunter Dr. Fridolin Dreß- Wegsperren gleich. In 20 thematischen ler, Generaldirektor a. D. der Bayerischen Ausstellungen wurde das Sakramentar Staatlichen Bibliotheken, Dr. Karl Dachs Heinrichs II. bis heute gezeigt, auch in Re- und Prof. Dr. Florentine Mütherich arbei- gensburg und natürlich in Bamberg. teten bereits für den Kommentar. Auch

2. November 2010: Dr. Ludwig Schick, Erzbischof von Bamberg, Dr. Rolf Grie- bel, Armin Sinnwell (Faksimile Verlag) BIbliotheks m agazin

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wenn ihre Beiträge im Kommentarband werden. Da auch der Einband exakt nach- nicht veröffentlicht werden, so erleben alle gebildet wurde, kann die Prachthandschrift seinerzeit vorgesehenen Autoren nun den in originaler Anmutung öfter, ja sogar stän- Abschluss der Arbeiten, können das Faksi- dig, vielerorts, besonders an den Orten mile einsehen und bewundern. Nach Ab- ihrer Herkunft präsentiert werden, ohne bruch der ersten Initiative 1990 folgten das mittlerweile über 1000 Jahre alte origi- viele weitere Sondierungen bis endlich im nale Kunstwerk, für das jeder Transport Jahr 2005 der Faksimile Verlag Luzern für und jede Ausstellung eine nach heutigem diese trotz erheblicher technischer Fort- Kenntnisstand kaum verantwortbare Be- schritte nach wie vor äußerst anspruchs- lastung darstellen, in seiner unwiederbring- volle, aber auch ganz besonders lohnende lichen Materialität und Qualität zu gefähr- Aufgabe gewonnen wurde. den.

So kann die Bayerische Staatsbibliothek Im digitalen Zeitalter nun für die dritte ihrer fünf Bamberger haben gedruckte Prachthandschriften ein hochwertiges Fak- Bücher einen neuen simile vorzeigen. Zunächst wurde 1978 Stellenwert. Die Bayeri- das Faksimile des Evangeliars Ottos III. sche Staatsbibliothek ist (Clm 4453) veröffentlicht, einer Hand- sehr dankbar, dass es schrift, die kurz vor dem Jahr 1000 auf der neben der digitalen Prä- Insel Reichenau noch für den Vorgänger sentation, die ein voll- Heinrichs II. angefertigt wurde. Dann folgte ständiges Blättern über im Jahr 1994 das Faksimile des Perikopen- das Internet auch im buchs Heinrichs II. (Clm 4452), das der Sakramentar Heinrichs Herrscher vermutlich zwischen 1007 und II. erlaubt, so ein wohl 1012 für sein neu gegründetes Bistum in gelungenes Faksimile Auftrag gab. Diese beiden Handschriften gibt. Früher gehörten mit Reichenauer Buchmalerei der ottoni- Bibliotheken zu den schen Zeit wurden 2003 in das UNESCO Käuferschichten für Fak- Memory of the World aufgenommen. similes, heute sind es fast nur Privatleute. Das Sakramentar Heinrichs II. ist aber Alle, die ihr Interesse an auch eines der ersten ganz großen Mei- diesen Kulturgütern durch den Erwerb Präsentation des Faksimiles für den sterwerke der Regensburger Schule der eines solchen Buchs ausdrücken, stellen Generaldirektor a. D. der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken, Dr. Fridolin Buchmalerei. Die besondere Bedeutung sicher, dass solche Werke weiter erschei- Dreßler für Regensburg wird durch die Übergabe nen können. Das Faksimile bindet den eines Exemplars an die dortige Staatliche inhaltlichen und repräsentativen Reichtum Bibliothek gewürdigt werden. der vergangenen Zeit und seine Zeiten überdauernde Wirkung in eine greifbare Alle Interessen für diese Prachthandschrift und erfahrbare Form hohen Schauwerts können mit Hilfe des Faksimiles wesentlich und erlaubt so uns und vielen die direkte leichter erfüllt bzw. in ihren vielfältigen Begegnung mit nach wie vor identitätsstif- Aspekten differenzierter wahrgenommen tenden Kulturgütern. (Fotos: Faksimile Verlag/BSB) BIbliotheks m agazin

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SCHÄFERIDYLL, HIRTENKITSCH, EROTIK, KUNST

Illustrierte Ausgaben von Longos’ Daphnis und Chloë in der Berliner Sammlung Künstlerische Drucke

Dr. Silke Trojahn Longos verfasste seinen Roman Daphnis Dieser Roman hatte und hat eine unge- ist Erwerbungskoordinatorin in der und Chloë im zweiten oder dritten Jahrhun- heure Wirkung: Er bildet neben den anti- Abteilung Historische Drucke dert nach Christi Geburt, vermutlich auf ken bukolischen Gedichten (z. B. des Theo-

Heidrun Feistner der Insel Lesbos. Über ihn selbst ist nichts krit oder Vergil) die Grundlage für die ist Mitarbeiterin in der Abteilung weiter bekannt, man bezweifelt sogar, Schäferidyllen des Barocks und alle weite- Historische Drucke der Staatsbiblio- dass Longos sein wirklicher Name ist. ren künstlerischen Bearbeitungen bis zu thek zu Berlin dem bekannten Ballett von Maurice Ravel Die Handlung ist die im hellenistischen und der Operette von Jacques Offenbach. Roman gängige: Daphnis und Chloë wach- Dass er in der Altertumswissenschaft bis sen als Findelkinder bei Hirten auf und ver- vor wenigen Jahrzehnten als voyeuristisch, lieben sich ineinander. Die genretypischen ja sogar als pornographisch betrachtet Schwierigkeiten (Ent- und Verführungen) wurde, dürfte seiner Popularität eher ge- werden überwunden, alles endet glücklich. nutzt als geschadet haben. Die Besonderheit ist, dass üblicherweise das Paar im Roman seine Unschuld bis Die erste gedruckte Ausgabe, eine franzö- zur Hochzeit behalten will, während hier sische Übersetzung (Paris 1559), wie auch Daphnis und Chloë geradezu verzweifelt die später erschienene griechische Erstaus- versuchen, diese zu verlieren, aber nicht gabe (Florenz 1598) kommen noch ohne wissen, wie es geht. Am Ende des Romans Illustrationen aus. Erst im 17. und vor wird geheiratet, so konventionell geht es allem im 18. Jahrhundert findet das Werk dann doch zu, und „dann erst erkannte eine breitere Beachtung. Inmitten baro- Chloë, dass alles, was am Waldrande ge- cker Schäferidyllen und in den monumen- schah, nur Spiele von Hirten gewesen waren“ talen Typen des Druckers Giambattista (der letzte Satz). Bodoni (seine Ausgabe erschien 1786) nimmt es Gestalt an zwischen Klassizismus Longos selbst wollte seinen Roman, so und Kitsch. Insbesondere die Idyllen des schreibt er im Vorwort, nicht nur als gefäl- Schweizer Dichters und Malers Salomon lige Lektüre, sondern auch als Vorschule Gessner (1730–1788) mit seinen Illustra- für die Liebe verstanden wissen. Goethe tionen bukolischer Szenen wirkten vor schätzte das Werk sehr und empfahl, es allem in Frankreich lange Zeit fort. Die einmal jährlich zu lesen. meisten illustrierten Ausgaben stammen BIbliotheks m agazin

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jedoch aus dem 20. Jahrhundert – eine kleine Auswahl aus den Beständen der Sammlung Künstlerische Drucke soll hier vorgestellt werden.

Es verwundert nicht, dass der erste Ver- such einer modernen Gestaltung 1893 in England unternommen wurde, wo sich die Buchkunstbewegung vor dem Hintergrund einer starken präraffaelitisch geprägten Kunstszene formierte. Charles Ricketts und Charles Shannon griffen dort kurzer- hand auf Gestaltungsmerkmale eines der schönsten Bücher der Renaissance zurück: zahlreiche Holzschnitte und auch die Typo- graphie ihres Druckes ahmen die Hypner- otomachia Poliphilii, die 1499 bei Aldus Manutius in Venedig erschienen war, nach.

In Frankreich verlegte Ambroise Vollard die Geschichte von Daphnis und Chloë, zu der Pierre Bonnard seine zauberhaft gegen- wärtigen Lithographien schuf, als eines der ersten Malerbücher (Paris 1902). Julius Meier-Graefe schlug Anton Kippenberg vor, eine deutsche Ausgabe mit den Illu- strationen Bonnards zu veranstalten, die nicht zustande kam. So erschien die erste deutsche Ausgabe dieses Textes in einem modernen Gewand dann im Insel-Verlag in einer, abgesehen von einer Titelvignette, rein typographischen Gestaltung (1910, Signatur 1 B 20075 : KD). sie lässt auch die wenigen in diesem Buch Die klare Typographie dieses Druckes enthaltenen Lithographien leichter erschei- (Signatur Vz 2073 : KD) lässt auch die Lithographien von Charles François Nach dem Ersten Weltkrieg standen die nen, als sie es sind. Wir verweisen hier Prosper Guérin leicht und luftig illustrierten Bücher in ganz unterschied- ausdrücklich auf das Sonnenhütchen. erscheinen. licher Weise unter dem Einfluss des Art déco. Charles François Prosper Guérin Die reizenden Figurinen des englischen (1875–1939) illustrierte die Ausgabe Paris Künstlers John Austen (1886–1948) könn- 1923 (Signatur 8° Vz 2073 : KD). Der dort ten ein Modejournal so gut wie eine verwendeten französischen Renaissance- Schachtel Pralinen verzieren. Das Buch Antiqua, die sehr großzügig gesetzt wurde, wird zum Accessoire wie das Gesangbuch gelingt es, den Text vom Staub zu befreien, der Dame von Stand. Die Protagonisten BIbliotheks m agazin

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heiler Welten, in denen griechische Schrift gesetzt, die sich im deut- selbst Bäume posieren, schen Schriftbild nicht nachahmen lässt – lächeln uns nahezu unver- und nicht nur wie schon zuvor für einen stil- wandt an (London 1925, len oder als lyrisch empfundenen Text? Signatur 4° Vz 2285 : (Hamburg 1935, Signatur 50 MB 6611 : KD) KD). Auch die Reduzie- rung der graphischen Sze- Vor allem auch in den oft nur skizzenhaft nerie deutet bei beiden ausgeführten Tierdarstellungen Renée Ausgaben auf das Bedürf- Sintenis’ findet der unverstellte Blick des nis nicht nach der Lek- Longos auf die Natur einen Ort. Ihre be- türe, sondern auf das kannteste Tierplastik ist der Berliner Bär nach stilgerechtem Kon- in Zehlendorf an der Autobahn bei Drei- sum. linden, der auch das Vorbild für den Berli- nale-Bären ist. Nicht nur die Protagonisten John Aus- Es war Harry Graf Kessler, der die Berliner tens (Signatur 4° Vz 2285 : KD) sind Künstlerin Renée Sintenis (1888–1965) mit Einige ihrer Holzschnitte ahmen deutlich stark stilisiert, selbst die Bäume folgen der Illustration von Daphnis und Chloë für den Stil jenes Meisters nach, dessen eigene dem Bogen von Chloës Schleier. seine Weimarer Cranach-Presse betraute. Interpretation zwei Jahre später erschien: Das Tagebuch Kesslers erwähnt am 9. Mai Aristide Maillol (1861–1944) illustrierte für 1930 einen in Weimar kursiv gesetzten Daphnis und am 27. Oktober die für Januar 1931 zu erwartenden Blätter der Renée Sintenis. Es soll nur ein Doppelbogen als Probe- druck realisiert worden sein. Als dann das Buch 1935 end- lich bei Hauswedell erschien, hatte die Cranach-Presse ihre Arbeit längst einstellen müs- sen, Kessler war im Exil. Für diesen Druck war in Anleh- nung an die ursprünglich ge- plante Gestaltung eine Kursive gewählt worden, die graphisch zu schwach ist, um die Holz- schnitte integrieren zu können. (Diese Blado-Kursiv ergänzt im Die Typographie der von Renée Sintenis Typenrepertoire die Polyphi- illustrierten Ausgabe (Signatur 50 MB lus-Type, die 1499 für die Hyp- 6611 : KD) ist nicht kräftig genug, um nerotomachia benutzt worden das nötige Gegengewicht zum Holz- schnitt zu schaffen. war.) Wurde hier die Kursive © VG Bild-Kunst, Bonn 2010 auch als Metapher für eine BIbliotheks m agazin

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den Verlag Gonin neben anderen Werken Im Gegensatz zu Maillol, dessen monolithi- Bei Hans Erni (Signatur 50 MC 893 : auch Daphnis und Chloë (Paris 1937, Signa- sches Werk sofort kenntlich ist, bedient KD) lässt überschäumende Lebens- energie die Zeichnungen bis in den tur 50 MA 46730 : KD). Als Bildhauer sich der Schweizer Künstler Hans Erni Textkörper ragen. formt er Volumina, die sich selber zu tra- (*1909) in seinen graphischen Arbeiten gen vermögen, auch seine zweidimensio- unterschiedlichster Mittel. Wenn er für oben links: nalen Arbeiten zeichnen sich durch ihre die Illustration von Daphnis und Chloë eine Typographie und Satz dieser Ausgabe beruhen auf klassischen Vorbildern und Ruhe und Ausgewogenheit aus. Im Holz- sehr freie Form mit einer überbordenden ergänzen die Holzschnitte des Aristide schnitt und seinen archaisch wirkenden barocken Linienführung wählt, die selbst Maillol (Signatur 50 MA 46730 : KD) Linien findet das Wesen der Kunst Maillols die Grenzen des Satzspiegels sprengt und mit ihren starken und klaren Linien per- vielleicht seinen schönsten Ausdruck. Die in übermütig tollenden Randzeichnungen, fekt. © VG Bild-Kunst, Bonn 2010 von ihm illustrierten Bücher zählen zu den die niemand zur Ordnung zu rufen scheint, gelungensten des 20. Jahrhunderts. Man bis in den Textkörper reicht, tut er dies begreift hier sehr gut, dass ein Papier nicht mit Bedacht. Hier wird das unbegrenzte nur Träger von Schriften, sondern auch Blau eines Sommermorgens gestaltet, des- immer von Hoffnungen war. Wie viele sen heiter bewegte Sinnlichkeit eine para- Worte sind nötig für ein Versprechen, das diesische Erde umfasst. Auch dieser Druck ein schönes Papier mit einfacher Geste zu erschien bei Gonin, nach dem Krieg in Lau- geben vermag. sanne (1950, Signatur 50 MC 893 : KD). BIbliotheks m agazin

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licher der Kontrast: diese Schrift meißelt sich nicht in den Stein. Ihre Anmutung, ihre Leichtigkeit möchten griechisch, nicht rö- misch sein. Treffen wir hier auf einen zweiten deutschen Ver- such, der griechischen Schrift einen eigenständigen Ausdruck zu geben, der sie von römischer Dominanz befreit? Auch die asiatisch wirkende Flüchtigkeit der getuschten, fast kalligraphi- schen Zeichnung ist völlig frei von jedem als historisierend empfundenen Anklang an klassi- zistische Monumentalität. Der Mainzer Graphiker Hannes Gaab (1908–1988) illustrierte diesen in der Eggebrecht-Presse erschienenen Druck (Mainz 1958, Signatur 50 MB 6612 : KD).

Es konnte hier nur angedeutet werden, in einem wie hohen Maße die Gestalt eines Buches Teil seiner Rezeptionsgeschichte ist. Die Erfahrungen der tägli- chen Arbeit zeigen, wie groß oft die Überraschung und auch die Freude darüber ist, an einer nicht vermuteten Stelle auf eine Formensprache zu treffen, die vielen in ihrer Komplexität nicht bewusst ist.

Hannes Gaab (Signatur 50 MB 6612 : Die Codex, eine 1953 von Georg Trump Vor dem Hintergrund einer wachsenden KD) skizziert Chloë als antike Tragö- entworfene Schrift, ahmt den Duktus einer digitalen Welt bleibt die Erhaltung der ori- din, die wie ihr eigenes Denkmal auf handgeschriebenen Antiqua nach. Die aus- ginalen gedruckten Quellen und ihre dem Textsockel steht. schließliche Verwendung ihrer Versalien, lebendige Vermittlung, die sich nicht allein eine Selektion, die römischer nicht sein auf die Vermittlung des Textes beschrän- kann, stellt einen unmittelbaren Rückgriff ken kann, unverzichtbar. auf die antike Vorlage dar. Umso deut- BIbliotheks m agazin

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VON ABECEDARIUM BIS ZEITGLÖCKLEIN

Erschließung und Digitalisierung der Blockbücher in bayerischen Sammlungen

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurde den konnten, später als die ersten Erzeug- Dr. Bettina Wagner der Druck mit beweglichen Lettern er- nisse Gutenbergs entstanden. Warum be- ist Leiterin des Handschriften- erschließungszentrums funden. Die ersten auf diesem Weg her- gann man aber, Blockbücher zu drucken, gestellten Erzeugnisse, z. B. die Gutenberg- nachdem doch bereits ein anderes, so viel Dr. Rahel Bacher Bibel, beeindrucken durch ihr perfekt vorteilhafteres Verfahren bekannt war? ist Mitarbeiterin des Handschriften- anmutendes Erscheinungsbild. Es wird Diese und viele weitere Fragen können erschließungszentrums der Bayeri- schen Staatsbibliothek darüber gerätselt, wie ohne bekannte Vor- nur durch die Erforschung der erhaltenen läufer plötzlich solche Spitzenprodukte Exemplare geklärt werden, da keine ande- erzeugt werden konn- ten. Eine Antwort suchte man lange in den sogenannten „Blockbüchern“ zu fin- den: Blockbücher sind Druckwerke recht geringen Umfangs (meist 20–50 Blatt), bei denen Text und Bild gemeinsam in Holzstöcke geschnit- ten und gedruckt wur- den. Die Überlegung, dass diese Form der Reproduktion der Er- findung des Drucks mit beweglichen Let- tern vorausgegangen sei, wirkt unmittelbar einleuchtend. Den- noch hat sie sich als Blockbuch „Biblia pauperum“: in der Mitte Taufe Christi, links Durch- irrig erwiesen, da alle querung des Roten Meeres, rechts Blockbücher, soweit Rückkehr von Boten, oben und unten sie bisher datiert wer- Propheten BIbliotheks m agazin

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ren Quellen existieren. Obwohl Blockbü- SAMMLUNGSÜBERGREIFENDE ERSCHLIESSUNG cher aber beliebte Sammlerstücke darstel- len, die auf dem Weltmarkt Spitzenpreise Der Ansatz der sammlungsübergreifenden erzielen, wurden sie in den letzten Jahr- Erschließung hat sich z. B. bei der Erhellung zehnten durch die Druckforschung nur der Bestandsgeschichte gut bewährt. Auf- wenig beachtet. Dies ist zu einem großen grund ihres geringen Umfangs wurden Teil sicherlich auf die bislang schlechte Blockbücher im Mittelalter häufig mit an- Erschließungssituation des Großteils der deren Handschriften oder Druckwerken Bände zurückzuführen. zu Sammelbänden zusammengefasst. Lei- der sind derartige Sammelbände aus baye- DAS PROJEKT rischen Klosterbibliotheken nur noch sel- ten original erhalten, da sie meist nach der Weltweit existieren heute geschätzt noch Säkularisation aufgelöst und die Werke etwa 600 Blockbuchexemplare (von 100 einzeln gebunden wurden. Anhand histori- unterschiedlichen Ausgaben bzw. 33 Wer- scher Quellen (Briefe des Johann Chri- ken, darunter sehr verbreitete wie die stoph von Aretin, Buchbinderrechnungen) Biblia pauperum oder unikal überlieferte gelang es, ein Dutzend solcher Sammel- wie Abecedarium und Zeitglöcklein), von bände mit insgesamt über 30 Blockbü- denen bisher nur ein geringer Teil den chern zu rekonstruieren. Bei mehr als der Anforderungen der modernen Forschung Hälfte dieser Blockbücher konnte durch in entsprechend erschlossen ist. Im Internet den Bänden vorhandene Eintragungen zugänglich und detailliert beschrieben sind nachgewiesen werden, aus welchem Klos- bereits die acht Blockbücher der Bodleian ter sie stammen. Dabei ergab sich, dass Library in Oxford. Gedruckte Kataloge lie- die einst gemeinsam in einem Sammelband gen für die 54 Exemplare der Bibliothèque enthaltenen Werke nach 1803 in verschie- nationale de in Paris und die 53 dene Institutionen gelangten und heute Blockbücher in Londoner Sammlungen teils in der Bayerischen Staatsbibliothek, vor. Für Deutschland fehlen derartige Spe- teils in der Universitätsbibliothek München zialkataloge jedoch noch völlig. Im Rahmen aufbewahrt werden. Es liegt auf der Hand, eines Projekts, das durch die Deutsche dass eine Aufarbeitung nur übergreifend Forschungsgemeinschaft finanziert wird, möglich ist. werden seit 2009 an der Bayerischen Staatsbibliothek alle Blockbücher, die sich DIGITALISIERUNG heute in bayerischen Sammlungen befin- den, erstmals detailliert und sammlungs- Die Blockbücher werden im Projekt nicht übergreifend beschrieben. An dem Projekt nur wissenschaftlich beschrieben, sondern beteiligen sich insgesamt 14 Partnerinstitu- auch digitalisiert. Diese Maßnahme dient tionen (darunter z. B. die Staatsbibliothek zugleich zwei unterschiedlichen Zwecken: Bamberg, das Germanische Nationalmu- zum einen dem Schutz der Objekte, die seum in Nürnberg und die Universitäts- wegen ihrer Fragilität oft nicht mehr be- bibliothek Würzburg), die insgesamt 92 nutzt werden konnten, und zum anderen Blockbücher bzw. Blockbuchfragmente der kostenlosen Bereitstellung für die For- besitzen. schung im Internet. Bereits jetzt sind die BIbliotheks m agazin

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Thermographien links: Wasserzeichen mit Papierstruk- tur

rechts: Zusammengeklebtes Blatt mit zwei sich überlagernden Wasserzei- chen

Exemplare über die Digitalen Sammlungen Dazu ist es jedoch im Vorfeld notwendig, der Bayerischen Staatsbibliothek zugäng- gute Aufnahmen der in den Blockbüchern lich und können weltweit jederzeit voll- enthaltenen Wasserzeichen anzufertigen. ständig eingesehen und sogar als PDF- Dies ist aus mehreren Gründen meist sehr Datei heruntergeladen werden. Um das viel schwieriger als bei mittelalterlichen Blättern in den virtuellen Büchern zu er- Handschriften und typographischen Dru- leichtern, wurden die digitalisierten Seiten cken. Bei Blockbüchern ist häufig nur eine mit Sprungmarken zum Navigieren im Digi- Seite des Papiers bedruckt; die leeren talisat versehen. Rückseiten der Blätter wurden oft zusam- mengeklebt, so dass die Seiten doppelt so THERMOGRAPHIE dick sind und die Wasserzeichen nicht erkennen lassen. Blockbücher sind sehr Blockbücher enthalten in aller Regel im häufig koloriert und die aufgetragene Text keinen Hinweis auf den Zeitpunkt Farbe verdeckt die Wasserzeichen. Oft ihrer Entstehung. Die einzige Möglichkeit, wurde grüne Farbe verwendet, die das sie dennoch zu datieren, besteht in der Papier durch „Farbfraß“ korrodieren lässt; Untersuchung des Papiers, auf das sie Blockbücher müssen daher besonders gedruckt wurden. Im Mittelalter wurde sorgsam behandelt werden. Im Rahmen Papier in Mühlen aus Hadern hergestellt. des Projekts kommt deshalb für die Doku- Um ihre Produkte zu kennzeichnen, be- mentation der Wasserzeichen erstmals die nutzte jede Mühle spezifische Wasserzei- Methode der Thermographie zur Anwen- chen. Diese Wasserzeichen können an- dung, bei der mittels einer geringen Wär- hand von Datenbanken und Findbüchern, mestrahlung eine Infrarotaufnahme des die eine große Menge datiertes Vergleichs- Blattes erzeugt wird. Da das Papier an den material bieten, chronologisch eingeord- Stellen, an denen das Wasserzeichen liegt, net und manchmal auch lokalisiert werden. dünner ist, kann die Wärmestrahlung bes- BIbliotheks m agazin

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Blockbuch „Canticum canticorum“, ser durchdringen, so dass sich das Was- auf, d. h. dass nach und nach Teile der er- Ausschnitt der ersten Tafel serzeichen auf der digitalen Aufnahme klar habenen Stege, welche die Farbe auf das links: Ausgabe I, früher Druckzustand abzeichnet. Die Thermographie vereint Papier übertragen, ausbrechen. In Exem- („vino”) Mitte: Ausgabe I, später Druckzustand zwei entscheidende Vorteile: Sie ist objekt- plaren, die später produzierte wurden, mit Ausbrüchen („viro“) schonend und liefert hervorragende Abbil- sind diese Schäden im Druck als Leerstel- rechts: Ausgabe II, fehlerhafter Nach- dungen. Die Wasserzeichen-Aufnahmen len erkennbar. Die Digitalisierung der schnitt („viro“) der Blockbücher stehen ebenfalls bereits Exemplare verschiedener Sammlungen über die Projekthomepage im Internet zur macht den diffizilen Vergleich, der zur Fest- Verfügung. stellung solcher Unterschiede notwendig ist, nun zum ersten Mal für eine größere ERSCHLIESSUNG Anzahl von Blockbüchern möglich. Die Untersuchung solcher Ausbrüche kann Bei der Erschließung wird neben den Was- sogar Erkenntnisse über die Grenzen einer serzeichen eine Vielzahl weiterer Kriterien Ausgabe hinaus vermitteln: So trat in der analysiert, z. B. Kolorit, Bindung, hand- ersten Tafel der Ausgabe I des „Canticum schriftliche Einträge, Besitzgeschichte. Von canticorum“ in dem Wort „vino“ (lat. besonderer Bedeutung ist die Untersu- Wein) ein Schaden auf, der dazu führte, chung des Druckzustandes, mittels dessen dass das Wort in den späteren Abzügen die verschiedenen Exemplare einer Aus- fälschlich als „viro“ (lat. Mann) gelesen gabe (d. h. Exemplare, die von denselben werden kann. Der Holzschneider, der Holzstöcken abgezogen wurden) zueinan- Ausgabe II anfertigte, benutzte offenbar der in Beziehung gesetzt und eine chrono- einen späten Abzug der Ausgabe I als Vor- logische Abfolge aufgestellt werden kann. lage und schnitt, da er den Text nicht ver- Das Verfahren beruht darauf, dass die stand, fälschlich „viro“ nach. Dadurch ist Holztafeln durch die mechanische Belas- zweifelsfrei belegt, dass Ausgabe II nach www.bsb-muenchen.de/ tung beim Druckvorgang und der Lage- dem Vorbild von Ausgabe I angefertigt Alte-und-Seltene-Drucke. rung zunehmend Abnutzungsspuren auf- worden sein muss. 101.0.html weisen: Es treten sogenannte „Ausbrüche“ BIbliotheks m agazin

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Wenn das Projekt abgeschlossen ist, wer- nahmen der Wasserzeichen im Internet zu den für nahezu die Hälfte aller in Deutsch- Verfügung. Es bleibt zu hoffen, dass es der land vorhandenen Blockbuchexemplare Forschung in den nächsten Jahren anhand detaillierte Beschreibungen vorliegen. Be- dieser verbesserten Grundlage gelingen reits jetzt stehen den Inkunabelforschern wird, einige der Rätsel zu lösen, vor wel- Digitalisate der Blockbücher in bayerischen che uns die Blockbücher noch immer stel- Sammlungen und thermographische Auf- len.

DIE „SCHLACHTENKUPFER“ DES CHINESISCHEN KAISERS QIANLONG (1711–1799)

Eine digitale Präsentation von 64 Kupferdrucken aus dem Bestand der Ostasienabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin

DIE ÄRA QIANLONG liche Machtentfaltung „auf einmal“ sichtbar Dr. Gerd Wädow machen. ist Fachreferent für China, Hongkong und Taiwan in der Ostasienabteilung „Einmal sehen ist besser als hundertmal der Staatsbibliothek zu Berlin hören“: Es ist nicht überliefert, ob dieses Im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin be- chinesische Sprichwort Kaiser Qianlong finden sich neben dieser ersten Serie die der Qing-Dynastie (1644–1911) durch Drucke vier weiterer Serien, insgesamt 64 den Kopf ging, als er 1760 eine erste Exemplare. Im Objektschutzkeller sicher Gruppe von Kupferdrucken in Auftrag gab, aufbewahrt, werden die Drucke seit kur- die heute im Westen als die „Schlachten- zem als Digitalisate auf den Internetseiten kupfer“ bekannt sind. Der mandschurische der Ostasienabteilung der Öffentlichkeit Kaiser hieß eigentlich Gaozong und präsentiert. herrschte von 1736 bis 1795 unter der http://ead.staatsbibliothek-berlin.de/digital/ Regierungsdevise Qianlong ( „männ- qianlong-schlachtenbilder/ liche Erhabenheit“) und wird nach ihr meist auch (Kaiser) Qianlong genannt. Die KUNST UND PROPAGANDA Schlachtenkupfer zeigen im Format von jeweils ca. 50 x 87 cm Szenen seiner Feld- Den Drucken der ersten Serie gingen züge im Landesinnern und entlang der große Gemälde voraus, die von den am Grenzgebiete. Aufgrund ihrer vergleichs- Pekinger Hof tätigen Jesuitenmissionaren weise hohen Auflagen ließen sich die Dru- Giuseppe Castiglione sowie Jean-Denis cke weithin verteilen und konnten mit Attiret und Ignatius Sichelbarth und dem beeindruckenden Darstellungen die kaiser- italienischen Augustiner Jean-Damascène BIbliotheks m agazin

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Sallusti geschaffen worden waren. Verklei- wendige Logistik und eine anhaltende, nerte Kopien wurden als Vorlagen für die teure militärische und bürokratische Prä- Druckplatten angefertigt; letztere übrigens senz auch in den entlegenen Regionen des nicht in China, sondern in Paris, wo die Reiches erforderlich, um den Status quo besten Kupferstecher jener Zeit arbeite- zu sichern. ten. Kaiser Qianlong ließ 1760 die 16 Bild- vorlagen verschicken und zwischen 1767 Anders als sein Großvater, Kaiser Kangxi und 1774 von Le Bas, Saint-Aubin und (reg. 1662–1722), nahm Qianlong anderen unter Leitung des Stechers Char- nicht persönlich an den Feldzügen teil. les-Nicholas Cochin d. J. ausführen. Qian- Doch war er bei der öffentlichkeitswirk- long hatte verfügt, die Gravuren im Stil des samen Verbreitung seiner Erfolge um so Augsburger Kupferstechers Georg Philipp aktiver und nutzte u. a. mehrsprachige Ge- Rugendas d. Ä. (1666–1742) zu halten, denkinschriften auf Stelen, Ehrenschreine dessen Werke ihm bekannt waren. Das zum Gedenken an gefallene und lebende teure Material und die europäische Tech- Krieger, prunkvolle Zeremonien und Sie- nik machten das Projekt prestigeträchtig gesfeiern, Heldendichtung und, als Beson- Giuseppe Castiglione (?): Kaiser Qian- genug, um die mehrjährige Produktionszeit derheit, den Kupferdruck. long, 1736 der ersten Serie zu rechtfertigen. Spätere Kupfer wurden dann in Peking von den Der ersten Kupferdruckserie ließ Qianlong mittlerweile dort ausgebildeten chinesi- weitere folgen, darunter die der sogenann- schen Schülern der Jesuiten ausgeführt. ten „Zehn siegreichen Feldzüge“ (1755– 1792). In der Internet-Präsentation der Die besondere Situation der mandschuri- Ostasienabteilung der SBB-PK sind hier- schen Fremdherrscher in China brachte es von, neben den Feldzügen gegen die mit sich, dass diese ihre Tradition einer Dsungaren, auch die von der Unterwer- militärisch-kriegerischen Selbstwahrneh- fung von Jinchuan (West-Sichuan) und dem mung zu bewahren suchten. Das zivilstaat- Taiwan-Feldzug 1787–1788 enthalten. liche chinesische Literatenbeamtentum galt Qianlong selbst maß diesen Feldzügen ihnen als weich und effeminiert. Mandschus höchste Bedeutung bei, da er damit die und Chinesen konstruierten eine Differenz Westexpansionen früherer Dynastien zwischen Kriegern und Literaten. Kaiser noch übertroffen hatte. Qianlong jedoch brauchte beide. Bei aller Selbstinszenierung zielte er auf eine Inte- DER KUPFERDRUCK gration der militärischen wie auch der zivi- len Bereiche in seine Herrschaft. Der Kupferdruck war von dem italieni- schen Franziskaner P. Matteo Ripa, der China erlangte im 18. Jahrhundert seine zwischen 1711 und 1723 am Kangxi-Hof größte territoriale Ausdehnung, doch der lebte, dort eingeführt worden. Nach Ripas damit erworbene Ruhm war teuer erkauft: Fortgang aus China geriet der Kupferdruck zum einen mit kostspieligen Feldzügen, dort in Vergessenheit. Erst Kaiser Qian- kriegerischen Auseinandersetzungen und long wurde durch P. Michel Benoist S. J. verlustreich gewonnenen Schlachten; zum wieder darauf aufmerksam. Zwischen der anderen waren eine umfangreiche und auf- ersten, in Paris gravierten und gedruckten BIbliotheks m agazin

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Serie und den folgenden, in den kaiserli- sion lautet, Castiglione habe beabsichtigt, Die Unterwerfung von Jinchuan chen Pekinger Werkstätten entstandenen die Bilder nach Rom zu senden, doch seien 1771–1776: Die Rückeroberung des Kleinen Goldstromlandes Drucken lassen sich künstlerische und diese in Kanton (Guangzhou) von der fran- Signatur: Libri sin. 1603-17 handwerkliche Unterschiede ausmachen. zösischen Gesandtschaft abgefangen und Während die letzteren in Stil und Ästhetik nach Paris umgeleitet worden. Einer ande- einen weniger westlichen Charakter auf- ren Version zufolge hat der Vorsteher der Taiwan-Feldzug 1787–1788: Die weisen, fehlt es umgekehrt der ersten Serie Jesuitenmission in China, P. Louis-Joseph Gefangennahme von Zhuang Datian im Stil des Augsburgers Rugendas an „chi- Le Febvre, über einen Mandarin als Ver- Signatur: Libri sin. 1603-42 nesischer Anmutung.“ Doch bei allen ging es weniger um historisch und geographisch exakte Darstellungen. Diverse Spezialisten einzelner Bildsujets arbeiteten zusammen und setzten die Themen nach schriftlichen militärischen Aufzeichnungen und Augen- zeugenberichten sowie der Zensur bzw. den Wünschen des Herrschers in Genre- szenen um.

DIE PARISER SERIE

Warum die Bilder für die erste Serie nach Paris gelangt sind, bleibt unklar. Eine Ver- BIbliotheks m agazin

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Die Befriedung der Zhong Miao (Yun- nan) 1795: Der Angriff auf die Zhong Miao bei Nanlong Signatur: Libri sin. 1603-61

mittler den Vizekönig von Kanton davon ten. Im Unterschied zu den folgenden überzeugt, die Bilder nach Frankreich zu Serien trägt die „Pariser Reihe“ keine chi- schicken. Die ersten vier Vorlagen trafen nesischen Textaufschriften. jedenfalls 1766 in Paris ein, gefolgt 1772 von weiteren 12 Bildern. 1774 wurden die DIE BERLINER SCHLACHTENKUPFER letzten Drucke angefertigt und Vorlagen, Platten und Kupferdrucke nach Peking zu- Wie die Kupfer später nach Deutschland rückgeschickt. Dort erweiterte man sie gelangten, ist bislang nicht völlig geklärt. um ein kaiserliches Vorwort und 16 Ge- Auch die genaue Zahl der erhaltenen Dru- dichte sowie ein Nachwort der Hofbeam- cke innerhalb und außerhalb Chinas ist

Die Befriedung der Miao (Hunan) 1795: Die Rückeroberung von Qian- zhou Signatur: Libri sin. 1603-56 BIbliotheks m agazin

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unbekannt. Vermutlich wurden die Berli- Kunstgeschichtlich konnte sich der Kupfer- ner Drucke um 1900 während des „Boxer- druck auch diesmal nicht etablieren. We- aufstandes“ von Peking nach Berlin ge- gen seiner Aufwendigkeit, und weil er in bracht – wo das Ethnologische Museum China letztlich eine fremde Technik war, 34 Druckplatten der Schlachtenszenen blieb er eine Episode. Die Kupfer waren, besitzt. bei allem handwerklichen Geschick, in der Ausführung generisch, formal und kompo- DIE BEDEUTUNG DER SCHLACHTENKUPFER sitorisch-repetitiv, und stehen künstlerisch hinter ihrer dokumentarischen und propa- Im späten 18. Jahrhundert war die zivile gandistischen Bedeutung zurück. In der und militärische Präsenz und Kontrolle ein traditionellen chinesischen Bewertung ran- Charakteristikum der Qing-Dynastie. Die gierten sie nicht als Kunst, wie Kalligraphie Deutungshoheit der Historiographie für und Malerei, sondern wurden gemeinsam öffentliche – auch zivile – Ereignisse wurde mit Geographika bzw. Kartographika klas- offensiv wahrgenommen und die eigene sifiziert. Dies schmälert jedoch nicht ihren militärische Stärke vermarktet. heutigen wissenschaftlichen Rang als außer- gewöhnliche Bilddokumente aus einer Zeit Die Staatspropaganda verband Militarismus vor der Erfindung der Fotografie. Heute und Nationalismus: Mittels militärischer erkennen wir die Drucke nicht nur als Gedenkveranstaltungen, dem Genre der Kuriosa, sondern insbesondere in ihrem Kampfillustrationen und der Portraits ver- politischen Kontext als Dokumente der dienter Offiziere war Qianlong bestrebt, imperialen Selbstinszenierung staatlicher seine militärischen Erfolge auf kulturell- Macht, die sie nicht nur für die allgemeine künstlerischem Gebiet zu parallelisieren. historische Forschung über die Qingzeit, Er sah sich sowohl als überragenden sondern auch für Militärhistoriker interes- Kriegsherrn wie auch als konfuzianisch sant macht. Sie komplementieren Text- gebildeten Monarchen, der sich um das dokumente und illustrieren Aufstieg und Reich und seine Bevölkerung sorgte. Zenit der Herrschaft der Qing.

ZUR UMSCHLAGABBILDUNG

Das Sakramentar Heinrichs II. ist eine der kostbarsten Handschriften im Bestand der Bayerischen Staatsbiblio- thek. Das Titelbild zeigt das Original (links) und das neue Faksimile der Prachthandschrift, das Ende 2010 im Faksi- mile Verlag in einer Auflage von 333 handnummerierten Exemplaren erschienen ist. Der Faksimileband umfasst ins- gesamt 718 Seiten im Originalformat von 295 x 242 mm. Die Blätter sind dem Original entsprechend randbeschnit- ten und wurden von Hand geheftet. BIbliotheks m agazin

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REZENSIEREN IM ZEITALTER DES WEB 2.0

recensio.net – Rezensionsplattform für die europäische Geschichtswissenschaft

Dr. Lilian Landes Schon immer war die wissenschaftliche kularer, detailorientierter, interdisziplinä- arbeitet im Zentrum für Buchrezension ein Textgenre, das die Ent- rer, flexibler und insbesondere internatio- Elektronisches Publizieren an der wicklungen des jeweils betroffenen Fachs naler werden; sie wird in mittelfristiger Bayerischen Staatsbibliothek unmittelbar spiegelte und für das die Frage Sicht aus dem Raster der gewohnten Dra- nach Publikationsgeschwindigkeit wichti- maturgie traditioneller Buchbesprechun- ger war als für andere – zumal in den Ge- gen ausbrechen. schichtswissenschaften, wo es mitunter Jahre dauert, bis nach dem Erscheinen Bislang aber fehlt für die Erprobung sol- einer Schrift die zugehörige Rezension in cher Verfahren das notwendige Instru- einem Fachjournal erscheint. Gerade die mentarium, das sich an den Möglichkeiten Rezension ist prädestiniert für die intensive und Erfahrungen des sogenannten „Web Nutzung jener Vorteile, die das elektroni- 2.0“ orientiert. sche Publizieren unter Bedingungen des Open Access bietet. Zugleich wird der Markt für „traditionell“ verfasste, online oder auf Papier publi- Mit der Digitalisierung wissenschaftlicher zierte Rezensionen zunehmend unüber- Kommunikations- und Publikationswege sichtlich. Oft unter großem Aufwand er- werden sich strukturelle Veränderungen arbeitete und redigierte Besprechungen für das Rezensionswesen in den Ge- erfahren zu wenig Beachtung angesichts schichtswissenschaften ergeben, das des wachsenden Angebots, angesichts des scheint sicher. Die Diskussion über Neu- Wahrnehmungsverlusts von Printrezensio- erscheinungen wird nicht nur schneller, nen im Kreis der jüngeren Wissenschaftler sondern ihrem Wesen nach zugleich parti- und angesichts der oft nicht gut sicht- und findbaren Onlinepublikation von Rezen- sionen kleinerer Fachzeitschriften, denen die Anbindung an die zentralen Suchinstru- mente des Wissenschaftlers fehlt. Nicht selten kann eine Ausstattung der Rezen- sionen mit suchrelevanten Metadaten nicht geleistet werden.

Mit der Schaffung einer internationalen Online-Angebots reagieren die Bayerische BIbliotheks m agazin

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Staatsbibliothek, das Deutsche Historische Institut Paris und das Institut für Europä- ische Geschichte Mainz auf die geschil- derte Situation: Mit recensio.net wird unter der Leitung von Prof. Dr. Gudrun Gers- mann im Januar 2011 eine europaweite, mehrsprachige Open-Access-Plattform für Rezensionen geschichtswissenschaftlicher Literatur online gehen. recensio.net wird kein Rezensionsjournal sein, sondern als internationale Plattform „klassische Rezensionen“ bestehender Print- und E-Journale zusammenführen und parallel Web 2.0-basierte Formen wissenschaftlichen Rezensierens erproben. Zwei Grundgedanken werden recensio.net ausgelagert wird und als html-Text auf zu einem Arbeitsinstrument mit einem der Plattform erscheint, bleibt den ein- klassischen und einem innovativen Schwer- zelnen Redaktionen überlassen. Diese punkt machen: arbeiten weiterhin vollständig autark. Ihr Zugewinn wird eine bessere Sicht- 1. Die Plattform gibt dem traditionellen barkeit der Rezensionen sein, die recen- Textgenre „Buchrezension“ Raum: Da- sio.net im Bibliothekskatalog des Biblio- bei bleibt das gewohnte Layout aller theksverbundes Bayern verlinkt sowie beteiligten Zeitschriften erhalten, indem im Volltext recherchierbar macht. diese ihre Rezensionsteile als PDF- Dateien auf recensio.net veröffentlichen. Immer mehr Verlage erkennen den Die einzelnen Journale sind neben der positiven Einfluss, die im Open Access übergreifenden Plattformsuche auch publizierte, qualitativ überzeugende gezielt einzeln ansteuerbar. Dabei ist Buchbesprechungen auf die Außenwir- recensio.net als ein Ort der Zusammen- kung von Fachzeitschriften haben. Dies führung, nicht als exklusiver Publika- führt zu der angenehmen Situation, dass tionsort „klassischer“ Rezensionen bezüglich der sonst vieldiskutierten gedacht, so dass einer parallelen On- Open-Access-Grundsatzfrage hier alle linepublikation auf anderen Websites Beteiligten an einem Strang ziehen und oder auf Papier nichts im Wege steht. gleichermaßen profitieren: Der Verlag Auch die Frage, ob recensio.net als Pre- von einem Renommeegewinn, die oder Postprint-Publikationsort genutzt Autoren (der besprochenen Schrift wie wird – ersteres würde die eingangs an- der Rezension) von mehr Sichtbarkeit gesprochene Möglichkeit zur schnelle- und Publikationsgeschwindigkeit, was ren Netzpublikation ausschöpfen –, nicht zuletzt ebenso dem Leser zugute oder die Frage, ob der Rezensionsteil kommt. einzelner Zeitschriften gänzlich ins Netz BIbliotheks m agazin

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Entwicklungen seines Fachgebiets Stel- lung nehmen und umgekehrt seine eige- nen Thesen durch Kollegen diskutiert sehen möchte.

Nicht nur die traditionelle Monogra- phie, sondern auch in Zeitschriften oder Sammelbänden publizierte Auf- sätze sollen auf recensio.net präsentiert und diskutiert werden. Der Aufsatz ver- zeichnet in den letzten Jahrzehnten gegenüber dem traditionell dominieren- den „Buch“ einen erheblichen Bedeu- tungsgewinn (was sicher ebenso sehr im Vorbild der Naturwissenschaften wie in den projektorientierten Struktu- 2. Daneben wird recensio.net zugleich ren der Forschungsförderung begrün- jenen Veränderungen Rechnung tragen, det ist). Diese Entwicklung soll damit die sich mit der Etablierung des Web berücksichtigt werden. Zusätzlich kön- 2.0 im Alltag der Netznutzer (vor allem nen Internetressourcen für die histori- der jüngeren) mittelfristig zweifellos sche Forschung (Quellensammlungen, vom kommerziellen auch auf den wis- Forschernetzwerke, Bibliographien und senschaftlichen Buchmarkt übertragen vieles mehr) auf recensio.net präsentiert werden: Autoren erhalten die Möglich- werden. Durch die zeitlich unbegrenzte keit, die Kernthesen ihrer Schriften auf Kommentarmöglichkeit wird der per- recensio.net zu publizieren. Moderierte manenten Veränderung, der dieses Me- Nutzerkommentare lassen nach und dium unterworfen ist, Rechnung getra- nach „lebendige Rezensionen“ und gen. Diskussionen rund um die angezeigte Veröffentlichung entstehen. Die Mög- Prinzipiell ist diese zweite Säule des Platt- lichkeiten, die das Netz zur raschen, formkonzepts auf die aktive Beteiligung diskussionsaffinen Publikation bietet, von Fachwissenschaftlern angewiesen. sollen auf diese Weise ausgeschöpft recensio.net ist sich bewusst darüber, dass werden. Es wird möglich sein, gezielt zu die Web 2.0-Funktionalitäten eine gewisse Einzelaspekten einer Schrift Stellung zu Anlaufzeit brauchen werden, zumal gerade nehmen, wodurch letzthin auch fächer- unter traditionellen Fachvertretern die übergreifende Blicke auf Neuerschei- Befürchtung nicht ausgeräumt ist, dass nungen erleichtert werden. Zudem diese Form der Kommunikation untrenn- wird dem immer enger getakteten bar mit einem inhaltlichen Qualitätsverfall Arbeitsalltag des Historikers entspro- einhergeht. Prinzipiell lebt der Gedanke chen, dem immer weniger Zeit zur des Web 2.0 von der Vorstellung einer Ausarbeitung vollständiger Rezensionen weitgehenden Selbstregulierung von Aus- bleibt, der aber dennoch qualifiziert zu wüchsen, die den kommunizierten Inhalt BIbliotheks m agazin

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oder die Umgangsformen betreffen. Insbe- merksam gemacht werden können. sondere während der Startphase, in der die Kommentarfrequenz wachsen und die- Inhaltlich stehen in Europa erschienene sen Mechanismus sicherstellen muss – Publikationen zu europäischen Themen im wird die recensio.net-Redaktion dennoch Fokus. Sowohl „klassische“ Rezensions- nicht nur eingehende Präsentationen, son- texte als auch Präsentationen und Kom- dern auch Kommentare prüfen, bevor mentare werden in allen europäischen diese online gehen. Sprachen publiziert, während die Platt- formnavigation selbst dreisprachig angebo- Ein Instrument zum „Anschub“ der Dis- ten werden wird (Englisch, Deutsch, Fran- kussionskultur wird die Kontaktierung zösisch). jener Wissenschaftler sein, mit deren Werk sich ein Autor beschäftigt hat, der Interessierte Zeitschriften, Autoren und seine Schrift auf der Plattform präsentiert. künftige Nutzer sind jederzeit eingeladen, Diese gibt er im Rahmen des Formulars mit recensio.net in Kontakt zu treten: zur pointierten Formulierung seiner Kern- Dr. Lilian Landes, Bayerische Staatsbiblio- thesen als „Bezugsautoren“ an, so dass sie thek, Zentrum für Elektronisches Publizie- von der recensio.net-Redaktion kontaktiert ren (ZEP) und auf die Kommentarmöglichkeit auf- [email protected]

„JETZT UND IN DER STUNDE UNSERES ABSTERBENS“

Staatsbibliothek erwirbt frühes und seltenes Drama von Rilke

Dank der vollständigen Finanzierung durch Er hört Philosophie, Kunstgeschichte und Dr. Martin Hollender ihren Freundes- und Förderverein ist es bei August Sauer Literaturgeschichte. Er ist Referent in der Generaldirektion der Staatsbibliothek zu Berlin der Staatsbibliothek zu Berlin gelungen, die wohnt in dieser Zeit bei seiner Tante Ga- dritte selbständige Buchveröffentlichung briele, der Witwe des Juristen Wenzel Rit- Rainer Maria Rilkes aus dem Jahr 1896 zu ter von Kutschera, in der Wassergasse 15b. erwerben. Zu Weihnachten 1895 erscheint Rilkes Im Juli 1895 hatte Rilke das Abitur abge- zweiter selbständiger Gedichtband, die legt. Seit wenigen Monaten, seit dem Win- „Larenopfer“ – und unmittelbar nach tersemester 1895, studiert der eben zwan- Weihnachten beginnt er mit den Vorberei- zigjährige Rilke an der deutschsprachigen tungen zu einer neuen, lockeren Schriften- k.u.k. Carl-Ferdinands-Universität in Prag. folge, den „Wegwarten“. Ein- bis zweimal BIbliotheks m agazin

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jährlich sollen die Hefte erscheinen und eine ganz spezielle Leserschaft anspre- chen, die schon auf dem Titel präzise benannt ist, beinhaltet das erste „Weg- warten“-Heft doch 21 „Lieder, dem Volke geschenkt von René Maria Rilke“.

Bei der Wegwarte handelt es sich um nichts anderes als um die Blume des Jah- res 2009: eine hellblau-violett blühende Pflanze, die auch Zichorie genannt wird und deren Wurzeln nach Rösten und Mah- len als Kaffee-Ersatz (sogenannter „Mucke- fuck“) verwendet werden.

Mit dem Titel „Wegwarten“ berief sich Rilke auf Paracelsus. Im Vorwort zum ersten Heft schreibt Rilke: „Paracelsus er- zählt, die Wegwarte werde alle Jahrhun-

Emil Orlik: Karikatur von R. M. Rilke, 1896 derte zum lebendigen Wesen; und leicht (bpk) erfüllt die Sage sich an diesen Liedern; viel- nierung Rilkes noch ein Jahrzehnt fort und leicht wachen sie zu höherem Leben finanzierten so auch die Druckkosten für auf in der Seele des Volkes. Ich seine ersten literarischen Arbeiten. Gleich- bin selbst arm.“ Dieser letzte wohl – Rilke verspürt Mitleid mit den Satz ist als Trost Rilkes an das Armen und Bedrückten und ruft seinen Prager Proletariat zu verstehen. Schriftstellerkollegen zu: „Ihr gebt euere Er ist der Überzeugung, es sei für Werke in billigen Ausgaben. – Ihr erleich- einen Armen bereits ein „be- tert dadurch den Reichen das Kaufen; den trächtlicher Trost, einen Anderen Armen helft ihr nicht. Den Armen ist alles sagen zu hören: ‚auch ich bin arm, zu teuer. Und wenn es zwei Kreuzer sind, auch mir geht es schlecht, auch und die Frage heißt: Buch oder Brot? Brot ich hab es schwer‘“. – Rilke werden sie wählen; wollt ihrs verargen? war indes gar nicht arm: sein Wollt ihr also allen geben, – so gebt!“ Onkel Jaroslav Rilke Ritter von Rüliken hoffte, sein Neffe Jenes „Geben“ bedeutete für Rilke, seine werde, nach einem juristischen Stu- „Wegwarten“-Hefte im Selbstverlag zu dium, dereinst seine noble Rechts- produzieren und anschließend zu ver- anwaltskanzlei übernehmen und schenken. Sein Biograph Peter Demetz finanzierte den jungen Dichter erfuhr in den frühen fünfziger Jahren von mit monatlich 200 Gulden. Zeitgenossen, dass Rilke damals „im Nach dem Tode des Onkels schwarzen Habit eines Abbés mit langen 1892 führten dessen Töchter lockigen Haaren an einem der verkehrs- Paula und Irene die Subventio- reichsten Punkte Prags in der Nähe des BIbliotheks m agazin

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Tschechischen Nationaltheaters die ‚Weg- die Arbeitslosigkeit der Tochter unmög- warten‘ eigenhändig an Vorübergehende lich. Der Hausbesitzer droht, Mutter und verteilte“. In einem Brief an die Baronesse Töchter wegen ihrer Mietschulden auf die Láska von Oestéren vom 16. März 1896 Straße setzen zu lassen – es sei denn, die spricht Rilke selber von einem „Volks- attraktive ältere Tochter gebe sich ihm Gratis-Unternehmen“, das zugleich, so hin. Natürlich protestiert Helene und lehnt der Rilke-Kenner Wolfgang Leppmann, ein ab – erst als die Räumung der Wohnung „quasi-sozialistisches Experiment“ dar- einsetzt, geht sie hinab in die Wohnung stellte. des Hausbesitzers. In diesen Minuten ver- traut die Mutter der jüngeren Tochter – Rilke versandte die Hefte an Volks- und Handwerkervereine, an Volksbibliotheken und Spitäler, ließ sie auch in einigen Loka- len auslegen und hoffte auf Zuspruch beim Dritten Stand. Über das erste Bändchen schrieb er an den Schriftsteller Richard Zoozmann, er rechne darauf, „daß der Zufall hie und da doch ein Heftchen unter das eigentliche Volk und in eine einsame Stube trägt, wo die schlichten Lieder ein wenig Licht und Freude wecken dürfen“. Von diesem Programm konnte bei Heft 2, unserem Drama, bereits keine Rede mehr sein. „Düstere Szenen von Armut, Käuf- lichkeit und Blutschande“ hätten, so Peter Demetz, „keine andere Botschaft für die Armen als Hoffnungslosigkeit“.

Zu Beginn des Jahres 1896 hatte Rilke sei- nen Einakter „Jetzt und in der Stunde un- seres Absterbens …“ verfasst, der am 1. April desselben Jahres erschien. In einem Brief an Arthur Schnitzler nennt er das Drama eine „kleine moderne Scene“. – Der Inhalt ist rasch erzählt. In einer schä- bigen Kammer liegt die alte Frau Gärtner, sterbenskrank, im Bett; sie wird gepflegt von der älteren Tochter Helene und der jüngeren Tochter Trudi. Die Familie ist bettelarm, der letzte Kanten Brot wird immer kleiner, die letzte Kerze brennt zum Stummel herab; der Mutter die drin- gend benötigte Medizin zu kaufen, macht BIbliotheks m agazin

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Rilkes eigenhändige Ankündigung des zweiten „Wegwarten“-Heftes. Der Text war für ein Inserat bestimmt. (Original im Deutschen Literaturarchiv, Marbach/N.)

im Todeskampf – an, dass der Hausbesit- Rilkes altruistischer Plan, den Ärmsten zer einst auch sie bedrängt hatte und er Prags zur Dichtkunst zu verhelfen und ihr der Vater Helenes sei. Die erschütterte tristes Dasein lyrisch und dramatisch zu Trudi erkennt das Verhängnisvolle der veredeln, schlug freilich fehl, denn die von Koinzidenz von Nötigung und Offenbarung ihm ins Auge gefasste proletarische Leser- und betet das Ave Maria, das mit dem schaft war des Deutschen gar nicht mäch- Titel „Jetzt und in der Stunde unseres tig und zudem auch quantitativ in der Min- Todes“ (hier: Absterbens) endet. derheit – auf vier Tschechen kam gerade ein Deutscher. Jene deutsche Minorität Das kleine Drama erfuhr seine Erstauffüh- stellte das Prager Establishment mit Schrift- rung (die vermutlich auch die einzige blei- stellern und Industriellen, Kaufleuten, Juri- ben sollte) am 6. August 1896 durch das Deutsche Volkstheater in Prag – in einem Gartenlokal in den Königlichen Weinber- gen (Královské Vinohrady), einem östlichen Vorort von Prag. Das düstere Stück war freilich nur Beiprogramm; der größere Teil des Abends gehörte einer französischen Posse mit dem Namen „Der Hahn im Korbe“, einem grotesk-lüsternen Verwick- lungsscherz. „Talentprobe“ – so lautete das immerhin halbwegs gnädige Urteil des Ankündigung der Erstaufführung in der deutschsprachigen Prager Zeitung Theaterrezensenten Alfred Klaar in der „Bohemia“ Prager Zeitung „Bohemia“. BIbliotheks m agazin

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sten, Medizinern und Beamten. Deutsche Bibliotheken in Leipzig Arbeiter zählten zur Ausnahme. Getreu und Weimar, in Hamburg dem Satz „Was man kriegt, das will man und Dresden, zu denen nicht; was man will, das kriegt man nicht“, sich nun auch die Staats- schrieb Rilke an der Zielgruppe vorbei. bibliothek zu Berlin Der tschechischen Unterschicht mangelte gesellt, das zweite Heft es an Sprachkenntnissen, die literaturaffine der „Wegwarten“. deutsche Hautevolée wurde von Rilke aus ideologischen Gründen nicht ins Distribu- Das Bändchen wurde tionsvisier genommen. Als „Sackgasse“ hergestellt in der Buch- bezeichnet somit Wolfgang Leppmann die druckerei der Gebrüder „Wegwarten“. Stiepel im nordböhmi- schen Reichenberg Mit der melodramatischen Schluss-Szene (heute: Liberec), einer und ihrer Inzestthematik stahl sich Rilke Druckerei, die mit der Produktion der Rilke im Garten, Aufnahme von 1913 selbst die Schau und schmälerte seine „Reichenberger Zeitung“ auf den Zei- (bpk) J’accuse!-Attitüde. Die soziale Anklage, der tungsdruck spezialisiert war, sicherlich Umstand nämlich, dass für eine todkranke preiswert arbeitete, aber an die Pa- Witwe keine soziale Sicherung existiert pierqualität keine allzu hohen Ansprüche und sie der Obdachlosigkeit nur durch die stellte. Ohne schützenden festen Einband erpresste Prostitution der Tochter ent- produziert, zählen gut erhaltene Stücke gehen kann – dieser Aspekt der littérature somit heute zu den absoluten Seltenhei- engagée tritt am Ende zurück hinter das ten. Das der Staatsbibliothek angebotene Motiv des Beischlafs von Vater und Toch- Stück verfügt über eine erfreulich gute ter. physische Konstitution: Die Heftklammern Die blaue Blume (Cichorium intybus), sind leicht angerostet, leichte Flecken, Darstellung von 1543 Sprachlich-literarisch darf man von Rilkes Lichtschatten und Gebrauchsspuren sind kleinem Drama keine besonderen Fines- die einzigen minimalen Monita eines ins- sen erwarten. Der Duktus ist sehr schlicht gesamt sehr frischen Stückes. – notwendigerweise: denn wer das einfa- che Volk erreichen will, darf sich keiner Ein Nachtrag: Wenige Wochen später stilistischen Extravaganzen bedienen. gelang es der Staatsbibliothek auf der Frankfurter Antiquariatsmesse, auch das Was achtlos verschenkt wird, was schein- Anfang Oktober 1896 erschienene dritte – bar keinen materiellen Wert besitzt, wird und zugleich letzte – der „Wegwarten“- nur selten archiviert – demzufolge haben Hefte zu erstehen, eine Lyrikanthologie sich nur wenige Exemplare der „Weg- mit dem Titel „Deutsch-moderne Dich- warten“ bis heute erhalten. Rilke selber tung“, an der sich auch Gustav Falke und wusste um die Vergänglichkeit seiner Pri- Christian Morgenstern beteiligten. Dem vatdrucke, als er im Februar 1896 an Naturalismus bzw. Verismus hatte Rilke Richard Zoozmann schrieb: „Und ein paar abgeschworen und wandte sich nun einer Hundert Heftchen versickern schier spur- metaphysischen Neoromantik zu. los“. Vermutlich besitzen heute nur die BIbliotheks m agazin

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BERTHOLD FURTMEYR – EIN BUCHMALER IN REGENSBURG

Im Historischen Museum in Regensburg Bayerischen Landesbibliothek Online prä- wurde bis 13. Februar 2011 die Ausstel- sentiert. Sämtliche Illuminierungen der lung „Berthold Furtmeyr – Meisterwerke zwei Hauptwerke Furtmeyrs, der Münche- der Buchmalerei – Aufbruch zur Renais- ner Furtmeyr-Bibel (Cgm 8010 a) und des sance“ präsentiert. Als Kooperationspart- Salzburger Missales (Clm 15708-15712), ner stellte die Bayerische Staatsbibliothek wurden von der Bayerischen Staatsbib- Leihgaben zur Verfügung, alle Werke mit liothek in Zusammenarbeit mit dem Qua- Buchmalereien Furtmeyrs wurden in Zu- ternio Verlag Luzern in zwei äußerst sammenarbeit mit dem Kulturreferat der repräsentativen Bildbänden mit wissen- Stadt Regensburg digitalisiert und auf den schaftlicher Einführung von Dr. Béatrice Webseiten der Bayerischen Staatsbiblio- Hernad bzw. Dr. Karl-Georg Pfändtner thek sowie dem Regensburg-Portal der veröffentlicht (Berthold Furtmeyr in Mün- BIbliotheks m agazin

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chen – Illuminierte Prachthandschriften, Steiner erschienenen Publikation, stellte Band 1 und Band 2). den folgenden einführenden Beitrag zur Verfügung. Im Kontext des Gesamtwerks und der Regensburger Tafelmalerei zwischen 1450 Die anlässlich der Ausstellung erschiene- und 1550 wurden Furtmeyrs Illuminierun- nen Veröffentlichungen stellen die breite gen nahezu vollständig im Regensburger Rezeption und die weiterführende Ausstellungskatalog (siehe Kasten) publi- Beschäftigung mit den in Schönheit und ziert und wissenschaftlich erschlossen: Zeitlosigkeit bestechenden Bildern Bert- Prof. Dr. Christoph Wagner, Professor für hold Furtmeyrs sicher und sollen zu einer Kunstgeschichte der Universität Regens- vertieften Erschließung der deutschen burg, wissenschaftlicher Kurator der Aus- Buchmalerei des 15. Jahrhunderts beitra- stellung und der im Verlag Schnell und gen. ✸ ✸ ✸

„Herbst des Mittelalters“ hatte Johan Hui- Ornamente und Bordüren zeigt: Da schla- Prof. Dr. Christoph Wagner zinga einst metaphorisch die Übergangs- fen und träumen Knaben in Blütenkelchen, ist Professor für Kunstgeschichte auf dem Lehrstuhl für Kunstgeschichte epoche des späten 15. Jahrhunderts um- tropft der goldene Morgentau glänzender der Universität Regensburg schrieben, die den Wechsel von nordischer Metallapplikationen über eine bis dahin nie Spätgotik und Renaissance umfasst – eine gesehene Welt, die von köstlichen Pflanzen Zeitenwende, in die uns die Buchmalerei und Früchten, Vögeln und Insekten über- Berthold Furtmeyrs entführt: Der Künstler sät ist. ist selbst unter Kennern wenig bekannt, und doch gehören die von ihm ausgemal- „DIE ENTDECKUNG DER WELT ten Bücher so zu den kostbarsten Schät- UND DES MENSCHEN“ zen, dass sie sogar Eingang fanden ins Pan- theon der Propyläen Kunstgeschichte. Sein Alle Seiten des irdischen Lebens werden in kraftvoll urwüchsiger erzählerischer Reich- Furtmeyrs Miniaturen am Leitfaden der tum, die lebensweltliche Vielfalt in der alttestamentlichen biblischen Erzählungen Erfindung der Szenerien und Landschafts- mit großer Frische erkundet: In Furtmeyrs räume, die überschäumende Phantasie in der Ausgestaltung der Rankenornamente und die koloristische Delikatesse der ma- lerischen Ausführung sind die Qualitäten der Kunst Furtmeyrs, die es in der o. g. Ausstellung neu zu entdecken galt.

Öffnet man eines der wunderbaren Bü- cher, die Furtmeyr illustrierte, betritt man eine geheimnisvolle, kostbare, phantasie- volle Welt der Bilder, die in einem nicht enden wollenden großartigen Fest für die B. Furtmeyr: Rut auf der Tenne des Augen üppigste erzählerische Szenen, Boas, BSB, Cgm 8010 a, fol. 386 v BIbliotheks m agazin

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B. Furtmeyr: Auffindung des Moses- sogenannte „Kaiserbad“ bevölkern. Man- knaben, BSB, Cgm 8010 a, fol. 47 v ches spricht dafür, dass Altdorfer seine künstlerische Laufbahn als Miniaturen- maler in der Werkstatt Furtmeyrs begann: malerische Qualitäten wie der stupende Detailrealismus der Darstellungen und die Schlachtendarstellungen Furtmeyrs schei- nen für Altdorfers Werke wichtige – bis- lang in der Forschung unbekannte – An- regungen gegeben zu haben.

Woher und wann Berthold Furtmeyr nach Regensburg kam und wo er seine künstle- Darstellungen liegen Paare im Heu oder rische Ausbildung absolvierte, muss offen geben sich den Lustbarkeiten des Lebens bleiben: Zwar konnte durch die Neuent- hin, wie die Tochter des Pharao und ihre deckung der in der Regensburger Ausstel- Begleiterinnen, die Furtmeyr allesamt ent- lung und Publikation erstmals vorgestellten kleidet hat, um sie in einer paradiesisch Handschrift von 1460 in der Württember- idealisierten „Donaulandschaft“ baden zu gischen Landesbibliothek (Cod. phil. et lassen. Diese Welt ist prall voll Sinnlich- theol 2° 100) und durch die Einbindung keit, voll Begehren, den lüsternen Blicken seiner in der British Library aufbewahrten der Frau des Portifar, die Josef in ihr Bett Handschrift von 1465 (MS Egerton 1895/ zu ziehen trachtet, einer Batseba, die in 1896) seine sicher dokumentierte künst- ihren körperlichen Rundungen und Rötun- lerische Tätigkeit gegenüber der älteren gen in der Badestube wie das Inbild der Forschung um ein ganzes Jahrzehnt vor- naturgegebenen weiblichen Verführungs- datiert werden, dennoch bleibt die bis in gabe erscheint. Zugleich bildet sie die die jüngere Forschung wiederholte Ver- jugendliche Schwester der Gestalten, die mutung, dass Furtmeyr Schüler des – um über ein halbes Jahrhundert später in den 1455 verstorbenen – Martin Opifex gewe- Wandmalereien Albrecht Altdorfers das sen und in Regensburg ausgebildet worden

links: B. Furtmeyr: Joseph und die Frau des Potifar, BSB, Cgm 8010 a, fol. 38 r

rechts: B. Furtmeyr: Batseba im Bade, BSB, Cgm 8010 a, fol. 284 r BIbliotheks m agazin

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sein könnte, in mehrfacher Hinsicht Kon- KENNERBLICK UND MEDIENGESCHICHTLICHER jektur. Ebenso nebulös verwischen sich am HORIZONT Ende des Lebens von Berthold Furtmeyr nach 1506 in Regensburg seine Spuren: Vor dem Hintergrund des fortschritts- und Eine Tochter, ein Schwiegersohn finden mediengeschichtlichen Szenarios, sei es 1501 Erwähnung. Aus der zeitweisen Be- der aufkommende Buchdruck mit beweg- lehnung seines Hauses seit 1485 hat man lichen Lettern oder die zunehmende Ver- zu Unrecht auf finanzielle Schwierigkeiten breitung von gedruckten Illustrationen, geschlossen. Tatsächlich hat Furtmeyr im wird man allzu leicht dazu verleitet, die Laufe der 1470-er und 1480-er Jahre sein Buchmalerei im 15. Jahrhundert als „rück- Vermögen mehr als verzwanzigfacht, so schrittliches“ „mittelalterliches“ und dann dass er als wohlhabender Bürger, erfolg- „aussterbendes“, „traditionelles“ Medium reicher Unternehmer und mit Abstand zu klassifizieren. Dabei übersieht man, reichster Künstler der Stadt in dieser Zeit dass gerade im Medium der Buchmalerei in Regensburg lebte. besonders schwierige malerische Darstel- lungsaufgaben für höchst anspruchsvolle Seine Bildgestaltungen zeigen in den zeit- Auftraggeber zu lösen waren: In der nah- typischen Stilformen eine breite künstleri- sichtigen und nachhaltigen Betrachtung war sche Rezeption, die von norditalienischen den geschulten Kenneraugen ein Maxi- Vorbildern, über Beziehungen zur Nürn- mum an malerischen Reizen und Sensatio- berger, Kölner und oberrheinischen Kunst nen, aber auch inhaltlich eine anregende bis zu altniederländischen Vorbildern visuelle Auslegung des Bibeltextes zu bie- reicht. Im Sinne einer zeittypischen aemu- ten. Nicht selten wurden bei der Bildaus- latio und variatio hat er von verschieden- wahl ungewöhnliche, malerisch ergiebige sten Seiten Anregungen aufgenommen, Szenen eingeführt, um dem Illustrator dennoch ist seine Kunst nicht unmittelbar besondere Möglichkeiten zur Entfaltung von solchen Bezugspunkten abzuleiten. seiner Kunst und bildlichen Erzählung ein- Auffällig ist, wie wenig sich Furtmeyr selbst zuräumen. Gegenüber den Buchmalern mit Blick auf seine eigenen Bilderfindungen der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wörtlich wiederholte. Es ist nicht übertrie- zeichnet sich Furtmeyr durch seine beson- ben, bei seinen Miniaturen von einer an- deren malerischen und koloristischen spruchsvollen „visuellen Auslegung“ und Fähigkeiten zur Vergegenwärtigung atmo- nicht einfach von einer „Illustration“ des sphärischer Phänomene, von Tag und Bibeltextes zu sprechen. Viele Bildszenen Nacht, von Sonne und Regen, Wolken sind mit solchem Kalkül für die malerischen und Unwetter, von Rauch und Feuer, und Qualitäten ausgewählt und inhaltlich so durch die Integration seiner Erzählungen passgenau in den erzählerischen Zusam- in panoramatisch geweitete Landschafts- menhang des Textes eingefügt, dass man räume aus. mit Beginn der Abschrift von einem engen Austausch zwischen Schreiber und Maler Es ist bezeichnend für die ornamentale ausgehen darf. Ohne Zweifel gab es einen Grundhaltung in Furtmeyrs Kunst, dass er Masterplan für die Bildregie. den für seine Zeit höchst aktuellen Illusio- nismus in der Darstellung von Pflanzen, BIbliotheks m agazin

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beobachten: Hatte Furtmeyr in seinem Frühwerk die Bildszenen noch außerhalb des Schriftspiegels gewissermaßen als „Zutat zum Text“ angeordnet, sind die Miniaturen später konsequent mit dem Schriftspiegel verzahnt. Im Salzburger Mis- sale schließlich hat Furtmeyr dann weiter- führend die Geometrie des Bildfeldes als tektonisches Bildgefüge ausgebaut und damit einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur geometrisch-perspektivischen Syste- matisierung des Bildraums und zum Bild- begriff der Renaissance zurückgelegt. Er steigert nicht nur die Zahl der ganzseitigen Miniaturen, sondern auch die absolute Größe der Bildfelder. Mit über 40 ganzsei- tigen Miniaturen im Folio-Format steht Furtmeyr in der Geschichte der Buchmale- rei beispiellos da. Zugleich manifestiert sich hierin ein künstlerischer Wettbewerb, den er als Buchmaler mit der Tafelmalerei austrug. Virtuos verschränkte er die ver- schiedenen „Bildsysteme“ Miniatur, Bor- düre, Initiale und Text miteinander. Mit leichter Hand entwirft er in mehreren hun- dert Miniaturen gleichzeitig ein nahezu uni- verselles Spektrum der Bilder der visuellen und geistigen Kultur seiner Zeit: Glaubens- bilder, Traumbilder, Sternbilder, Körper- bilder, Erotik und Sexualität, Landschafts-, Natur-, Weltbilder, Schreckens- und Ge- waltbilder, Bilder der Alltagswelt. B. Furtmeyr: Baum des Todes und Früchten und Tieren in die Phantastik sei- des Lebens, BSB, Salzburger Missale ner frei erfundenen Rankenornamente Die Sehnsucht der Stilgeschichte nach Clm 15710, fol. 60 v zurückverwandelt. Es wäre für Furtmeyr einem klaren entwicklungsgeschichtlichen, (Bilder: Quaternio Verlag München/BSB) nicht schwer gewesen, seine Initialen und vielleicht sogar teleologisch ausgerichteten Ranken zu illusionistischen Trompe-l’oeils Verlauf der Geschichte der Kunst ist selten auszubauen. Es scheint aber seine so enttäuscht – mit Blick auf die Sehnsucht bewusste künstlerische Entscheidung nach volkstümelnden, nationalen Identitäts- gewesen zu sein, an der ornamentalen mustern gelegentlich sogar „gedemütigt“ – Rückbindung seiner Gestaltung an die Flä- worden, wie in der „deutschen“ Kunst- che des Papiers festzuhalten. Ähnliches ist geschichte des 15. Jahrhunderts: Allzu viel- in seiner Deutung der Bildrahmungen zu gliedrig und uneinheitlich erscheinen die BIbliotheks m agazin

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Meister und Hände in den Haupt- und ten „Donauschule“, der in der Vergangen- Nebenzentren, den Städten und Regionen heit die fragwürdigen normativen Paradig- der deutschen Kunst dieser Zeit. Alle Ver- men für die kunsthistorische Abwertung suche, diese faszinierende Vielfalt in stil- Berthold Furtmeyrs lieferte, werden in sei- geschichtlichen Modellen einzuebnen, etwa nen Werken durch das Auge selbst eines im fingierten Fluchtpunkt einer sogenann- Besseren belehrt.

Christoph Wagner/Klemens Unger (Hrsg.): Berthold Furtmeyr. Meisterwerke der Buchmalerei und die Regensburger Kunst in Spätgotik und Renaissance, Regensburg: Verlag Schnell & Steiner, 2010. – 544 Seiten mit 750 Farbabbildungen. Mit Beiträgen u. a. von Magdalena Bushart, Nils Büttner, Harald Buchinger, Lorenz Dittmann, Gerald Dobler, Christoph Dohmen, Günter Hägele, Béatrice Hernad, Achim Hubel, Eberhard König, Wolfgang Neiser, Thomas Noll, Michael Rohlmann, Pia Rudolph, Daniel Spanke, Christoph Wagner, Heinrich Wanderwitz, Harald Wolter-von dem Knesebeck und Karin Zimmermann (Preis im Buchhandel: 39,90 Euro) ✶ ✶ ✶ Berthold Furtmeyr in München. Illuminierte Prachthandschriften. Die Münchner Furt- meyr-Bibel (Band 1) und das Salzburger Missale (Band 2). Erhältlich beim Quaternio Verlag Luzern, Preis: 98,– Euro inkl. Versandkosten

DIE PROMETHEUS-SKULPTUR VON HANS ELIAS IN DER STAATSBIBLIOTHEK ZU BERLIN

In einem weiten Lichtschacht neben der (Gemälde und Plastiken) – Wissenschaft- Dr. Günter Baron Nordtreppe zum Ostfoyer des Scharoun- licher Nachlass: Staatsbibliothek zu Berlin war von 1979 bis 2001 Ständiger Vertreter des Generaldirektors der – Handschriftenabteilung baus ist in mehreren Metern Höhe eine Staatsbibliothek zu Berlin Platte mit dem Relief einer Berglandschaft angebracht; eine lebensgroße männliche Hinter diesen dürren biographischen Figur, die nach einer Flammenkugel greift, Daten steht eine erinnerungswürdige Per- scheint davor zu schweben. sönlichkeit mit dem zeittypischen Lebens- lauf eines jüdisch-deutschen Wissenschaft- Auf einer darunter befindlichen Bronze- lers. Sein Vater war Eigner und Leiter tafel ist zu lesen: Hans Elias: Prometheus – einer Privatschule in Darmstadt, seine 90 x 185 cm – Zement mit Acryl auf Holz- kunstinteressierte Mutter eine geborene platte – Geschenk der Erben von Hans Oppenheimer. In seinen handschriftlichen Elias an die Staatsbibliothek, 1993 – Hans Erinnerungen – Teil seines elf Kästen mit Elias. – geb. 1907 in Darmstadt – gest. Manuskripten, Memoiren, Korrespondenz 1985 in San Francisco – Anatom und und Taschenkalendern umfassenden Nach- Mikrobiologe – Professor an der Chicago lasses, den er als Duzfreund des ebenfalls Medical School – Bildender Künstler aus Darmstadt stammenden früheren BIbliotheks m agazin

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„Prometheus“, Staatsbibliotheks- Generaldirektors Professor Dr. Ludwig Spielkameraden bringen ihm Steine, damit Fassung Borngässer der Staatsbibliothek geschenkt er Tiere daraus machen solle. Seine Eltern (Foto: SBB-PK) hatte – berichtet er, seine zeichnerische sind davon so beeindruckt, dass sie ihn im Begabung habe sich schon als kleiner Junge Alter von 15 Jahren auf die Werkkunst- gezeigt: Er liebt es, in gefundene Steine schule in Darmstadt schicken, wo er bei Linien zu ritzen, so dass sie wie Fische Adolf Beyer das Zeichnen und Modellie- oder andere Tiere aussehen, und seine ren lernt, bewegen ihn aber nach drei Jah- ren doch dazu, das Abitur nachzuholen. Er bewirbt sich 1926 an der staatlichen Kunst- hochschule in Berlin für eine Ausbildung als Kunstlehrer, erhält aber keinen Stu- dienplatz. So beginnt er – um die einjäh- rige Wartezeit zu überbrücken – an der Technischen Hochschule in Darmstadt ein Studium der Mathematik, der Zoologie und Physik: Er ist fasziniert von dieser wis- senschaftlichen Welt, und dieses zunächst als Verlegenheitslösung aufgenommene Studium wird seinen weiteren Lebensweg prägen. In seinen Erinnerungen preist er die Studienzeit – neben den ersten Jahren in Chicago – als die glücklichste seines Lebens. Im Jahre 1931 legt er das Staats- examen ab und promoviert kurze Zeit später in Gießen mit einer Dissertation über „Die Entwicklung des Farbkleides des Wasserfrosches“.

Sein Ziel ist es Hochschullehrer zu wer- den, doch die schwierigen Zeitläufte – Wirtschaftsdepression, hohe Arbeitslosig- keit, Aufstieg des Nationalsozialismus – lassen diesen Traum zunächst verblassen. Nach kürzeren Zwischenstationen als Leh- rer (an der elterlichen Schule) in Darm- stadt und in Frankfurt a. M. erhält er eine Stelle als Erzieher an der „Israelitischen Taubstummen-Anstalt“ in Berlin-Weißen- see, in seinen Erinnerungen als „Expatriie- rung“ bezeichnet und kommentiert mit der Bemerkung: „I felt like going to Sibe- ria.“ Die Übersiedlung nach Berlin sieht er als den Beginn seiner Emigration an: „Leav- BIbliotheks m agazin

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ing Darmstadt was the hardest step in the history of my emigration“, und 1935 ist es soweit: Er folgt seiner Familie nach Mai- land, die bei italienischen Verwandten untergekommen ist. Als er Deutschland verlässt, darf er aufgrund der Nürnberger Rassegesetze nur 15 Reichsmark mitneh- men, für die er sich einen Reisewecker kauft. Er ist zunächst arbeits- und mittel- los, verliert aber nicht den Kontakt zur wissenschaftlichen Welt, erhält auf einem Kongress über den pädagogischen Film in Rom von einem Schweizer Hochschulleh- rer den Auftrag, einen wissenschaftlichen Film über die Entwicklung des Embryonal- licht eine Reihe von Aufsätzen, die ihn als „Prometheus“ im Lichtschacht neben gewebes zu erstellen, der so erfolgreich Histologen berühmt machen, aber als dem Treppenaufgang zum Ostfoyer des Scharounbaus ist, dass er einen zweijährigen Beraterver- „Medical Film Producer“ wird er gefeuert. (Foto: SBB-PK) trag am Internationalen Institut für den Pädagogischen Film der Vereinten Natio- Sein wichtigstes wissenschaftlich-didakti- nen in Rom bekommt, arbeitet auch einige sches Arbeitsfeld wird die bildliche Dar- Monate für das Biologische Laboratorium stellung des Lebergewebes, und dabei be- des „Athenaeum Pontificum Lateranense“ schreitet er neue Wege: Als ausgebildeter im Vatikan und wandert dann, als die Zeichner, Mathematiker und Filmspezialist Achse Berlin–Rom es deutschen Juden ge- beginnt er, im Übergang von zweidimen- Hans Elias vor der querformatigen Fassung seines Basreliefs „Prometheus“ raten erscheinen ließ, auch Italien zu ver- sionalen Bildern zu dreidimensionalen im „California Primate Research Cen- lassen – inzwischen verheiratet – in die Strukturen mit Hilfe der Stereologie (räum- ter“ („The Daily Democrat“, Wood- USA aus. liche Interpretation von Schnitten) die land-Davis, Calif., 31. Januar 1980) Blutversorgung und die Zunächst kommt er in den „Harvard Bio- Feinstrukturen des Leber- logical Laboratories“ unter, arbeitet und gewebes für die Diagnos- forscht anschließend als Professor für His- tik und für didaktische tologie an der „Middlesex School of Vete- Zwecke in vorher nie rinary Medicine“ und wird 1945 „Medical erreichter Anschaulichkeit Film Producer“ im „Communicable Di- darzustellen. Er wird 1953 sease Center“ des „US Public Health Cen- zunächst als Associate Pro- ter“ in Atlanta/Georgia, wo er auch einen fessor und 1960 als Profes- Film über die in tropischen Ländern gras- sor für Anatomie an die sierende Wurmkrankheit Schistosomiasis Chicago Medical School – bekannt auch als Bilharziose – herstellt. berufen, wo er bis zu Der Befall der Leber mit diesen Mikro- seiner Emeritierung 1972 organismen fasziniert ihn besonders, er forscht, lehrt und publi- beginnt die systematische Erforschung der ziert. Sein erstes Arbeits- Strukturen des Lebergewebes, veröffent- zimmer – zugleich Labor BIbliotheks m agazin

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und Dunkelkammer – hat ein großes, auf immer wieder gestaltete Bild des „Gefes- einen mit Gerümpel gefüllten, dunklen selten Prometheus“, sondern das des Innenhof gehendes, noch nie geputztes Lichtbringers, des Aufklärers. Dieses Motiv Fenster: Er nagelt es mit einem entspre- ist künstlerisch eher selten gestaltet wor- chend großen Stück Leinwand zu und malt den, am bekanntesten ist noch das Bild sich seine Aussicht selbst: eine sonnen- „Prometheus bringt den Menschen das durchflutete Mittelgebirgslandschaft. Feuer“ des klassizistischen Malers Heinrich Füger (1751–1818) im Liechtenstein Mu- Wann er – und ob im Zusammenhang seum in Vaduz. Die von Hans Elias geschaf- mit seinen anatomisch-histologischen Zei- fenen Kunstwerke sind weitgehend ver- chenarbeiten – begonnen hat, neben sei- schollen: Nachforschungen von Eva Brown, ner wissenschaftlichen Tätigkeit auch sein seiner Mitarbeiterin in den frühen fünfziger künstlerisches Talent wieder zu entfalten, Jahren in Chicago (Bibliothekarin und „Be- lässt sich aus seinen Aufzeichnungen oder treuerin“ der deutschen Delegation bei Ausstellungskatalog, Lake Forest, sonstigen Quellen nicht erschließen; er der IFLA-Konferenz 1985 in Chicago) Illinois, um 1970 ist mit Jahresangaben überhaupt sehr zu- blieben erfolglos, ebenso die Suche nach (Nachlass Hans Elias, Kasten 11, rückhaltend. Jedenfalls beginnt offenbar in dem Verbleib von Skulpturen, die er als Staatsbibliothek zu Berlin, Handschrif- tenabteilung) Chicago eine Epoche künstlerischen Schaf- Gastprofessor Mitte der siebziger Jahre fens: Gemälde, Skulpturen, Reliefs, die An- der Universität Heidelberg überlassen fang der siebziger Jahre in der Kleinstadt hatte. Auch die Georg-Büchner-Skulptur, Lake Forest in der Nähe von Chicago die er der Deutschen Akademie für Spra- unter dem Titel „The expressionistic Neo- che und Dichtung in Darmstadt anlässlich Renaissance of Hans Elias“ ausgestellt wer- ihres fünfzigjährigen Jubiläums geschenkt den. Das Motiv „Prometheus bringt den hatte, ist nicht mehr auffindbar. Menschen das Feuer“ hat er mindestens zweimal bearbeitet, eine erste Fassung im So bleibt nur zu vermerken: Hans Elias’ Querformat schenkt er vor 1980 dem Darstellungen des Motivs „Prometheus „California National Primate Research bringt den Menschen das Feuer“ sind viel- Center“ der University of California. Die leicht die einzig erhaltenen seiner Kunst- in der Staatsbibliothek hängende Fassung werke: Sie sind zu sehen in einem Prima- ist in der oben genannten Ausstellung in ten-Forschungszentrum in Kalifornien und Lake Forest ebenfalls gezeigt worden. in der Staatsbibliothek zu Berlin. – Und ein Über die Gründe, warum Hans Elias ge- Letztes: Kürzlich konnte die Staatsbiblio- rade dieses Thema „Prometheus bringt thek den Nachlass erneut ergänzen. Ver- den Menschen das Feuer“ so fasziniert hat, mittelt durch das Exilarchiv in der Deut- kann man nur spekulieren, vielleicht war es schen Nationalbibliothek kamen weitere sein wichtigster Forschungsgegenstand, die Kästen mit Korrespondenz, Manuskripten, menschliche Leber, die in der Antike als Lebensdokumenten und Fotos ins Haus, Sitz des Lebens, der Gefühle und als Organ die der Exilforscher Prof. John M. Spalek, des Zeus galt, der sie dem gefesselten, im Jahr 2010 mit der Verleihung der Goe- aber unsterblichen Prometheus täglich von the-Medaille gewürdigt, aufgefunden hatte. einem Adler wegfressen ließ. Sein Motiv war aber nicht das in allen Kunstepochen BIbliotheks m agazin

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„EIN STÜCK BSB“ GEHT UM DIE WELT …

Briefmarken-Motive aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek

Die Bayerische Staatsbibliothek ist in viel- eine weit persönlichere Note als eine Mail. Dr. Wolfgang-Valentin Ikas fältiger Art und Weise „in Bewegung“ – Zu den persönlichen Elementen gehört ist Mitarbeiter in der Abteilung Handschriften und Alte Drucke der seien es die zahlreichen Leihgaben, mit daher neben der Wahl des Briefpapers Bayerischen Staatsbibliothek denen das Haus das kulturelle Leben in und des Umschlags vor allem auch die Form von Ausstellungen in Bayern, Wahl der Briefmarke. An den darauf dar- Deutschland und der Welt immer wieder gestellten Personen, Gebäuden oder der bereichert, oder seien es deren Mitarbei- Feier von Jubiläen vermag man in dem ter auf ihren Reisen. Oder seien es auch – Absender etwa den historisch bzw. archi- losgelöst von ihrer physischen Form – die tektonisch interessierten Zeitgenossen zu musealen Objekte und Informationsträ- erkennen. Dementsprechend dürfte ein ger als reine Bilddateien in Form von Bits geschriebener Brief bzw. eine Postkarte und Bytes, in Sekunden abrufbar über das auch entsprechend anders beachtet und World Wide Web von beinahe jedem gewürdigt werden und hat dadurch auch Ort der Welt aus. Vom Kunden bestellte, eine weit höhere Wahrscheinlichkeit auf- hochauflösende Digitalisate werden inzwi- gehoben zu werden als eine E-Mail. schen u.a. als http-Download angeboten, daneben verschicken wir unser Bildmate- Nun, was bringt mich als Bibliothekar dazu, rial auch noch – ganz konventionell – mit so ausführlich über Briefmarken zu schrei- der (gelben) Post.

ZUM (ÄSTHETISCHEN) WERT EINER BRIEFMARKE

Wer, so könnte man meinen, schreibt in Zeiten von E-Mail und Internet mit seinen sozialen Netzwerken und audiovisuellen Möglichkeiten noch Briefe und Postkarten? Ist dieses Verfahren doch aufwändiger, langsamer („snail mail“) und in der Regel – durch den Erwerb der Briefmarke(n) – auch etwas teurer als der Versand einer elektronischen Nachricht. Indes trägt ein Brief, insbesondere ein handschriftlicher, BIbliotheks m agazin

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ben? Der Grund liegt in meiner täglichen thek herangetragen wurde: Anlässlich des Arbeit, in der ich mit den unterschiedlich- 500. Geburtstags von Johannes Calvin sten Bildanfragen unserer Benutzer kon- wollte man zu Ehren des elsässischen frontiert werde: der eine (Privatmann Reformators Martin Bucer (1491 bis 1551) oder Verlag) will beispielsweise eine bib- eine Sondermarke herausbringen, auf lische Darstellung aus dem Perikopenbuch deren „Block“ – also dem breiten Papier- Heinrichs II. (Clm 4452) in einem Buch rand um die Marke herum – ein ko- oder Aufsatz veröffentlichen, was gewis- lorierter Holzschnitt der Stadt Straßburg sermaßen den Normalfall darstellt. Der zu sehen ist, der aus dem Handexemplar andere hingegen möchte (für private oder der Schedelschen Weltchronik (Signatur: kommerzielle Zwecke) ein Poster oder Rar. 287) stammt. eine Kaffeetasse damit bedrucken – das Bildarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek WAS DIE BUNDESPOST IN DER 80ER UND hatte seinerzeit für derartige Nutzungs- 90ER JAHREN INTERESSIERTE arten eine differenzierte Preisliste ent- wickelt, die den mannigfaltigen Kunden- Dies war keineswegs das erste Mal, dass wünschen Rechnung trug. Weitere die herausragenden Altbestände der Baye- Nutzungsarten wären beispielsweise das rischen Staatsbibliothek die Aufmerksam- Bedrucken von Stoffen wie Krawatten und Halstüchern mit entsprechenden Bildmo- tiven – als eine Form der Bestands-Vermarktung in großen Museen und Biblio- theken inzwischen durchaus üblich. Am öffentlichkeits- wirksamsten dürfte jedoch die Bildnutzung auf Briefmar- ken sein, wie sie vor nicht allzu langer Zeit als Anfrage der niederländischen Post an die Bayerische Staatsbiblio- BIbliotheks m agazin

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keit einer (nationalen) Post erregten. Zieht man hierzu die derzeit wohl einschlägigste (wenn inzwischen auch etwas in die Jahre gekommene) Publikation zu Rate – den Katalog „Bibliotheken und ihre Kostbarkei- ten auf Briefmarken“ von Heinz Gittig, Berlin 2001 – so stößt man für die Bayeri- sche Staatsbibliothek auf insgesamt neun Belege, womit unser Haus im Vergleich mit anderen Bibliotheken von nationaler Bedeutung (die Deutsche Nationalbiblio- thek in Frankfurt mit lediglich zwei Motiven gegenüber der Staatsbibliothek zu Berlin, deren Markenbeschreibungen gut drei für West-Berlin eine 40+20-Pfennig- Spalten füllen) im Mittelfeld läge. (Michel-Katalog Nr. 633) und für das Bun- desgebiet eine 60+30-Pfennig-Zuschlags- Wenn man sich die einzelnen Marken und marke (Michel-Katalog Nr. 1066), für die ihre Motive etwas genauer ansieht, so ist eine zweizonige Miniatur ein und dersel- zuallerst eine zeitlich ungleiche Verteilung ben Handschrift Pate gestanden hat, näm- festzustellen: Im Jahr 1980 scheint das lich ein aus dem 12. Jahrhundert stammen- Interesse der deutschen Post an der Baye- des Evangeliar aus Altomünster, das unter rischen Staatsbibliothek besonders groß der Signatur Clm 2939 ver- bzw. bewahrt gewesen zu sein, da in diesem Jahr gleich wird. Besagte Miniatur, die sich darin auf drei Bilder Aufnahme in das nationale Blatt 3v befindet, zeigt in ihrer obigen Briefmarkenprogramm fanden. Hälfte die Geburt Jesu im Stall (das Motiv für die 60+30-Pfennig-Marke) und darun- So erschien zuerst eine 50-Pfennig-Brief- ter die Verkündigung an die Hirten (was marke, die an 2000 Jahre Weinbau in für die 40+20-Pfennig-Marke Verwendung Europa erinnerte (Michel-Katalog BRD- fand). Beide Altomünster-Weihnachtsmar- Nr. 1063). Die dem Markenmotiv zu- ken wurden am 13. 11. 1980 erstmalig her- grunde liegenden drei Holzschnitte stam- ausgegeben. men aus einer der insgesamt sechs Aus- gaben der Ruralia (bei Gittig und Michel fälschlicherweise Rucella) commoda des Petrus de Crescentiis im Bibliotheks- bestand (BSB-Ink C-695 bis C-700). Zum Vergleich soll hier eine der bildlichen Ent- sprechungen aus der deutschen Ausgabe der Ruralia von 1493 (das bereits vollstän- dig digitalisierte Exemplar trägt die Signa- tur 2 Inc.c.a. 2845) beigegeben werden. In demselben Jahr wurden überdies zwei Weihnachtssondermarken herausgegeben: BIbliotheks m agazin

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Dieser verstärkten Nachfrage folgten dann ben dem bloßen Faktum ist dies insofern jedoch ganze 16 Jahre Pause: erst 1996 eine willkommene Entwicklung als es die zierte also wieder eines der berühmtesten Wahrnehmung des herausragenden (Alt-) Stücke aus dem Bestand der Bayerischen Bestands der Bayerischen Staatsbibliothek Staatsbibliothek, nämlich das bereits er- – bislang beschränkt auf ihre (mittelalter- wähnte Perikopenbuch Heinrichs II., zwei lichen) Handschriften und Inkunabeln – Weihnachtssondermarken: so die Geburt auf die bedeutende Kartensammlung hin Christi (in der Handschrift auf fol. 9r) die erweitert; infolgedessen wäre es perspek- 100+50-Pfennig- Zuschlagsmarke und die tivisch sehr zu wünschen, wenn die offi- Verehrung durch die drei Weisen (im Peri- ziellen Entscheidungsträger im Bundes- kopenbuch auf fol. 17v) eine 80+40-Pfen- nig-Marke (Michel-Katalog D-Nr. 1891 und 1892).

Hier sollte der Vollständigkeit halber noch erwähnt werden, dass die übrigen vier von Gittig erwähnten Marken, die 1971 von der luxemburgischen Post in verschiede- nen Nennwerten herausgegeben wurden, keinesfalls Motive aus dem BSB-Bestand tragen. Vielmehr sind die in der Abtei Ech- ternach entstandenen Miniaturen in einer anderen großen Handschriftensammlung, nämlich dem Germanischen National- museum in Nürnberg, wo der Codex aureus von Echternach seit 1955 verwahrt wird, zu finden. Dies bedeutet leider auch, dass die ministerium der Finanzen und bei der ursprünglich genannten neun Motive auf Deutschen Post AG künftig auch einmal die Zahl von fünf korrigiert werden müs- einen der Münchner Schätze aus dem Be- sen. reich der Musikalien und/oder der Orien- talia bzw. Ostasiatica berücksichtigen 2006 – PHILIPP APIAN könnten. Denn auch diese tragen maß- UND DIE BAIRISCHEN LANDTAFELN geblich zur Weltgeltung der Bayerischen Staatsbibliothek bei. Denkbar wäre zudem Erfreulicherweise kann aus der ersten De- auch, einmal das architektonisch interes- kade des 21. Jahrhunderts ein weiterer sante Gebäude in der Ludwigstraße mit beeindruckender Beleg vermeldet werden, einer Marke zu ehren bzw. bekannt zu nämlich ein Ausschnitt aus den von Philipp machen. Bleibt zu hoffen, dass wir hier- Apian (1531–1589) in Form von 24 Holz- für nicht bis ins Jahr 2016, dem 225. Ge- schnitten verfertigten Bairischen Land- burtstag Friedrich von Gärtners, oder gar tafeln, den die Deutsche Post als Hinter- 2022 – dessen 175. Todestag – warten grundmotiv für die Sondermarke zur müssen … 1200-Jahrfeier Ingolstadts auswählte. Ne- BIbliotheks m agazin

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TIERGÄRTNER AUS LEIDENSCHAFT

Prof. Dr. sc. Dr. h.c. Heinrich Dathe (1910–1991) zum 100. Geburtstag

DER NACHLASS DATHE IN DER wie Alexander von Humboldt, Joseph von Dr. Gabriele Kaiser ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin HANDSCHRIFTENABTEILUNG DER SBB-PK Fraunhofer und Robert Koch, Briefe und in der Handschriftenabteilung Manuskripte von Albert Einstein und vie-

Ein besonderer Sammlungsschwerpunkt len anderen. Auch die Sammlung Darm- Dr. Katrin Böhme in der Handschriftenabteilung der Staats- staedter birgt unzählige Dokumente zur ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bibliothek zu Berlin sind die Nachlässe von Geschichte der Naturwissenschaften und in der Abteilung Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin Wissenschaftlern der exakten und ange- der Technik. wandten Naturwissenschaften. Materialien aus fünf Jahrhunderten bieten einen umfas- Nachlässe von Naturwissenschaftlern sind senden Überblick über die Geschichte der immer etwas Besonderes, weil ihr Wirken unterschiedlichsten Disziplinen. und Ringen um wissenschaftliche Erkennt- nis oft im Stillen stattfindet – sei es im Heinrich Dathe mit zwei Löwenkindern Unter den annähernd 1.000 Nachlässen Labor, bei Experimenten oder Beobach- im Tierpark Berlin der Abteilung befinden sich große Namen tungen. Die beruflichen und privaten Auf- (Foto: W. Engel) BIbliotheks m agazin

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zählt der von Heinrich Dathe mit einem Umfang von über 170 Kästen.

Dathe ist zunächst den Berlinern, beson- ders den Ost-Berlinern, als Gründer und langjähriger Direktor des Tierparks in Ber- lin-Friedrichsfelde, der als sein Lebenswerk gilt, bekannt.

Von seinen Kollegen wurde er als exzel- lenter Fachmann auf dem Gebiet der Zoo- logie – vor allem der Ornithologie – und als Autor und Herausgeber vieler wissen- schaftlicher Publikationen geschätzt und geachtet. Sein vielfältiges wissenschaftliches Heinrich Dathe an seinem Schreibtisch zeichnungen (Tagebücher, Briefe, Proto- und populärwissenschaftliches Wirken im Zoo Leipzig kolle usw.) werden so zu Zeugnissen die- macht den Nachlass so außerordentlich ses Erkenntnisstrebens. Die Schriftstücke wertvoll. Zuweilen wird Dathe auch als sind geprägt von den Spuren ihrer Entste- „Grzimek des Ostens“ bezeichnet, ein hung, individuellen Handschriften oder Hinweis auf seine große Popularität, die persönlichen Anmerkungen und Notizen der von Bernhard Grzimek (1909–1987), und verhelfen den Dokumenten zu beson- dem bekannten westdeutschen Zoologen derer Authentizität. und Tierfilmer, durchaus gleichkam.

Vor allem die gelehrte Korrespondenz mit Für den Bibliothekar ist der Nachlass Kollegen war ein wichtiges Instrument des Dathes ein Wissenschaftlernachlass des Austausches. Die schnelle Übermittlung 20. Jahrhunderts, wie er ihn sich nur wün- von Informationen, wie wir sie heute durch schen kann. Gliedert man ihn gemäß den das Internet mit E-Mails und E-Journals materialspezifischen Erschließungsregeln kennen, war vordem auf dem Postweg ungleich schwerer zu erreichen. Es ent- standen mit den eigenhändigen Briefen einzigartige Dokumente von zum Teil gro- ßer wissenschaftshistorischer Bedeutung. Trotz der Bedeutung der digitalen Medien sollte es der Staatsbibliothek zu Berlin daher auch weiterhin gelingen, Wissen- schaftlernachlässe zu erwerben oder durch großzügige Schenkungen zu erhal- ten.

Seepferdchen. Zeichnung Heinrich Zu den bedeutendsten unter den in den Dathes aus Studienzeiten letzten Jahren erworbenen Nachlässen BIbliotheks m agazin

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grob nach den enthaltenen Materialarten (Manuskripte, Korrespondenzen, Lebens- dokumente, Sammlungen und Objekte), so sind diese alle in Fülle vorhanden. Sei- nen Reiz erhält er jedoch durch das Wir- ken der Persönlichkeit des Tierparkdirek- tors und den Umfang des Erhaltenen. Zu seinem Nachlass gehören auch Federn, Gewöllproben und sonstige tierische Objekte. Persönliche Erlebnisse wurden immer mit ornithologischen Beobachtun- gen gemeinsam aufgezeichnet. Die aus- geprägte Neigung, Erlebtes schriftlich fest- zuhalten, Dathes Drang nach Erkenntnis und seine unbändige Neugier sorgten zeit- lebens für eine Fülle von Material.

Heinrich Dathe wurde 1910 in Reichen- bach geboren. Seit frühester Jugend beob- achtete er Tiere – insbesondere Vögel – und lokale Naturereignisse in seiner vogt- ländischen Heimat und führte ornithologi- sche Tagebücher. Unzählige, stundenlange Beobachtungen wurden protokolliert, kleine Skizzen angefertigt und Zeichnungen koloriert. Selbst im Kriegsgefangenenlager auf der Insel Campalto legte Dathe orni- thologische Protokolle und Listen zu Feld- beobachtungen an. Nach Studium und Pro- motion, Kriegsgefangenschaft und einer ersten Anstellung im Leipziger Zoo wurde Dathe nach Berlin berufen und leitete den sen über Tiere und ihre Lebensweisen. Beine der Honigbiene. Zeichnung Aufbau des Tierparks Berlin-Friedrichs- Durch seine Initiative entstand 1973 die Heinrich Dathes aus Studienzeiten felde. Dabei versuchte Dathe, neueste Vorgängereinrichtung des heutigen Leib- zoologische Erkenntnisse umzusetzen. Im niz-Instituts für Zoo- und Wildtierfor- Ostteil der Stadt entstand so ein Land- schung. Als Tierparkdirektor führte er ein schaftstiergarten, der die Tiere in großzü- reiches Kongress- und Tagungsleben, um gigen lebensnahen Gehegen präsentierte. in persönlichen Austausch mit seinen in- ternationalen Kollegen zu treten. Dieser Heinrich Dathe verstand den Tierpark als Austausch schlägt sich in der umfangrei- Bildungsstätte für Kinder und Erwachsene. chen Korrespondenz mit Fachkollegen und In unzähligen Veranstaltungen des Rund- Freunden im In- und Ausland nieder. Auch funks und Fernsehens vermittelte er Wis- die Zahl der Manuskripte ist groß; seine BIbliotheks m agazin

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Heinrich Dathe präsentiert am 4. Mai Publikationsliste umfasst über 1000 Titel. 1961 den ersten im Tierpark aufgezo- Der Nachlass spiegelt seine vielfältigen und genen Kragenbären. nachhaltigen Aktivitäten in über 60 Kästen (Foto: Werner Krisch, Bundesarchiv) mit Korrespondenz und Tagungsunterla- gen wider. Die Lebensdokumente zeigen darüber hinaus die Entwicklung Dathes in der DDR, seine Konflikte und Schwierig- keiten mit dem realsozialistischen Alltag und seine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

Die Materialien konnten erst grob geord- net werden; es sind wohl noch einige Ent- deckungen zu erwarten. Insbesondere zu anderen Nachlässen in der Handschriften- abteilung werden sich interessante Quer- verbindungen ergeben. Die Namen Mayr, Stresemann und Heinroth seien als Bei- 5. November ein Symposium, um das viel- spiele für Persönlichkeiten genannt, mit fältige Wirken Heinrich Dathes aufzuzei- denen Heinrich Dathe bekannt und be- gen und zu würdigen. Die Veranstaltung freundet war und so manche Zeile über wurde maßgeblich von der Familie Dathe ein „tierisches Problem“ austauschte. So und der Gemeinschaft der Förderer von

Eintrag Prof. Bernhard Grzimeks im verwahrt die Handschriftenabteilung Mate- Tierpark Berlin und Zoologischem Garten Gästebuch des Tierparks Berlin rialien des deutsch-amerikanischen Zoo- Berlin e.V. sowie dem Verlag Natur+Text logen Ernst Mayr (1904–2005), eines unterstützt. Wir möchten an dieser Stelle Ideengebers der modernen synthetischen ausdrücklich dafür danken. Evolutionstheorie und eines der einfluss- reichsten Naturforscher des 20. Jahrhun- Das Ziel des eintägigen Symposiums war derts. Auch die umfangreichen Korrespon- es, vor allem Dathes wissenschaftliche und denzen von Erwin Stresemann (1889 bis tiergärtnerische Leistungen in den Mittel- 1972), einem der bedeutendsten deut- punkt des Interesses zu stellen. So kamen schen Zoologen des 20. Jahrhunderts, sind Weggefährten, Tiergärtner und Zoologen, eine Fundgrube. Oskar (1871–1945) und Pädagogen und Historiker zu Wort, die in Katharina Heinroth (1897–1989) waren ihren anregenden Beiträgen persönliche beide Direktoren des West-Berliner Zoo- und berufliche Hintergründe beleuchteten logischen Gartens. und die Besonderheiten seines Schaffens, die sich in vielfältiger Weise in seinem DAS WISSENSCHAFTLICHE SYMPOSIUM Nachlass wiederfinden, herausstellten. Die Vorträge ergänzten sich inhaltlich und prä- Anlässlich seines 100. Geburtstags am sentierten viele neue Informationen, die 7. November 2010 veranstalteten die zum Teil auf aktuellen Archivrecherchen Deutsche Gesellschaft für Geschichte und beruhten. Eine reizvolle Bereicherung Theorie der Biologie und die SBB-PK am erhielt das Programm durch die Schüler BIbliotheks m agazin

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von links: Dr. Katrin Böhme, der Schriftsteller Richard David Precht, Dr. Gabriele Kaiser, Prof. Ekkehard Höxtermann

des Dathe-Gymnasiums Berlin-Friedrichs- dem konnte die vom Rundfunk Berlin- hain, welche Tiere der auf Dathe zurück- Brandenburg produzierte Reportage aus gehenden Biologie-Station vorstellten. Am der Reihe „Ostdeutsche Legenden“, die Abend hielt der derzeitige Direktor des Dathe porträtiert, gezeigt werden. Die Zoologischen Gartens und Tierparks Ber- Handschriftenabteilung lieferte für die lin, Bernhard Blaszkiewitz, den Festvortrag Dreharbeiten eine Vielzahl von Dokumen- zum Thema „Zwei Zoos in einer Stadt – ten aus dem Nachlass. Die DVD ist im Chancen und Perspektiven“. Die Reso- Handel erhältlich. Es ist geplant, die Sym- nanz auf die Veranstaltung war durchge- posiumsbeiträge in einem reich illustrier- hend positiv; es wurden etwa 400 Teilneh- ten Sammelband zu veröffentlichen. mer gezählt. Als prominenter Gast konnte der Schriftsteller Richard David Precht begrüßt werden.

Das vielfältige Programm ergänzten zwei exklusive Ausstellungen: zum einen „Tier- gärtner aus Leidenschaft – Autographen und Dokumente aus dem Besitz der Staatsbibliothek“ in der Reihe „Literatur im Foyer“, zum anderen „Exotische Welt – Tierportraits von Reiner Zieger“. Der Tiermaler schuf viele Jahre die charakte- ristischen Bilder und Graphiken für den

Tierpark Berlin und ist heute u. a. als Illus- Zeichnung des Sandregenpfeifers für trator von Tierbüchern bekannt. Außer- das Exlibris Heinrich Dathes BIbliotheks m agazin

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DAS SCHWELLEN UND STERBEN DER TÖNE

Die Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek präsentiert Abbé Voglers Reiseklavier

Dr. Reiner Nägele Zu seinem 61. Geburtstag, am 15. Juni wonnen hatte, nach Beethovens weniger ist Leiter der Musikabteilung der 1810, dichtete Carl Maria von Weber eine überzeugendem Spiel nochmals ans Kla- Bayerischen Staatsbibliothek Kantate mit dem Titel Trias Harmonica. Die vier, um den späteren Titanen ein zweites Musik komponierten der eher unbekannte Mal zu düpieren. So macht man sich keine Johann Gänsbacher und Giacomo Meyer- Freunde, was ihn allerdings nicht anfocht: beer, der in späteren Jahren als Komponist „Wer keine Feinde hat, an dem ist auch der Grand Opéra Musikgeschichte schrei- nichts“ galt ihm als Lebensmotto. ben sollte. Im Text nennen ihn seine drei Schüler liebevoll spöttisch „Papa“ und Dass es Georg Joseph Vogler (1749 bis „Großpapa“, was ihm allerdings nicht so 1814), genannt Abbé Vogler, nicht an gefiel, war er doch ein in Rom geweihter Selbstbewusstsein, mitunter auch Selbst- Priester, wenn auch nur ein Weltgeistlicher überschätzung mangelte, ist überliefert von niederem Rang. Wolfgang Amadeus und brachte ihn nicht nur einmal in seinem Mozart mochte ihn nicht, nannte ihn in sei- bewegten und reisefreudigen Leben in per- nen Briefen an den Vater einen „musika- sönliche Schwierigkeiten. lischen Spaßmacher, einen Menschen, der sich recht viel einbildet und nicht viel kann“ Er war ein universeller Künstler und Kul- (4. November 1777). Neun Tage später turschaffender von beeindruckender Krea- schimpft er ihn einen „Narren, der sich tivität, Gründer der „Mannheimer Ton- einbildet, dass nichts Besseres und Voll- schule“, Vorbild aller später gegründeten kommeneres sei als er, das ganze Orches- Konservatorien und Musikschulen. Er war ter von oben bis unten mag ihn nicht“. ein origineller Musiktheoretiker, vielseiti- Unbestritten: Mozart war neidisch, hatte ger und erfolgreicher Komponist, virtuo- der von ihm Verleumdete doch eine Vize- ser Klavierspieler, Aufsehen erregender Kapellmeisterstelle in Mannheim inne, die Improvisator auf seinem Orchestrion und er selbst gerne gehabt hätte. begnadeter Musik- und Kompositionsleh- rer, dessen einflussreiche Lehren letztlich Mit Ludwig van Beethoven stritt er sich als wohl erst das Musikdrama deutscher Prä- Klaviervirtuose und hatte Erfolg bei den gung ermöglichten. Ihn somit als „Schlüs- Zuhörern. Allerdings wurde er bei besag- selfigur der Musikgeschichte“ zu sehen, ter Wettbewerbs-Soirée wieder mal ein wie in Musik in Geschichte und Gegenwart Opfer seiner Eitelkeit, setzte er sich doch, (1. Auflage, Bd. 13) nachzulesen, dürfte obwohl er den Publikumspreis bereits ge- nicht übertrieben sein. BIbliotheks m agazin

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Ein bedeutender Teil des musikalischen und lebte in Ingolstadt, als Vogler im fer- Nachlasses dieser außergewöhnlichen nen Darmstadt verstarb. Bemerkenswert Künstlerpersönlichkeit befindet sich in der ist nun, dass sich in Schafhäutls Nachlass Bayerischen Staatsbibliothek. Es handelt nicht nur Kompositionen sowie weitere sich um rund 100 Kompositionen und Dokumente zu Leben und Werk Georg theoretische Werke, teilweise autograph. Joseph Voglers befanden, sondern ebenso Die meisten Dokumente und Werkmanu- ein Instrument: Ein Clavichord aus dessen skripte stammen aus dem Nachlass von Besitz. Karl Emil von Schafhäutl (1803–1890). Schafhäutl war Professor für Geognosie, Das Clavichord ist ein eigentümliches und Bergbaukunst und Hüttenkunde an der unzeitgemäßes Instrument, „einsam“, Münchner Universität und übernahm 1849 „melancholisch“ und „unaussprechlich

das Amt des Oberbibliothekars der Uni- süß“ charakterisiert es Christian Friedrich versitätsbibliothek. Neben seiner Tätigkeit Daniel Schubart in seinen Ideen zu einer als Geologe und Physiker trat er auch als Ästhetik der Tonkunst (Wien 1806): „Durch Musikwissenschaftler hervor, wobei er den Druck der Finger, durch das Schwin- sich besonders akustischen Problemen gen und Beben der Saiten, durch die starke widmete. oder leise Berührung der Faust, können nicht nur die musikalischen Lokalfarben, Was Schafhäutel an Vogler fasziniert haben sondern auch die Mitteltinten, das Schwel- mag, so dass er sich dessen Nachlass an- len und Sterben der Töne, der hinschmel- eignete und schließlich sogar eine Biogra- zende unter den Fingern veratmende Tril- phie des Verehrten schrieb (Augsburg ler, das Portamento oder der Träger, mit 1888), ist nicht überliefert. In eben jener einem Wort, alle Züge bestimmt werden, Biographie verrät der Autor, dass er in aus welchen das Gefühl zusammengesetzt München mit dessen „besten Freunden ist.“ und Verehrern“ zusammengelebt habe. Persönlich begegnet sind sie sich wohl nie. Für den Konzertsaal ungeeignet, dafür ist Schafhäutl war gerade mal 11 Jahre alt es schlicht zu leise, diente das Clavichord BIbliotheks m agazin

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Aus dem Vogler-Nachlass: es ohne Nachweis in den Katalogen der „Baierische National-Sinfo- Bayerischen Staatsbibliothek. Einzig ein nie“ (1806), in der Vogler kleiner Zettel fand sich beiliegend: „Reise- die Textzeilen „Ich bin ein Baier, ein Baier bin ich!“ ver- klavier von Abbé Vogler (Nachlass Schaf- tonte. häutl)“. (BSB: Mus.mss. 4207) Dr. Robert Münster, von 1969 bis 1990 Leiter der Musikabteilung an der Bayeri- schen Staatsbibliothek, unternahm es in verdienstvoller Weise, dieses Instrument im Rahmen einer Dissertation von Sabine Klaus über den Bestand besaiteter Tas- teninstrumente im Musikinstrumenten- museum des Münchner Stadtmuseums verzeichnen zu lassen. In dieser Arbeit, die den Titel Studien zur Entwicklungsgeschichte besaiteter Tasteninstrumente bis etwa 1830 unter besonderer Berücksichtigung der Ins- trumente im Musikinstrumentenmuseum im Münchner Stadtmuseum trägt (Tutzing bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als 1997), findet es sich in Band 2 präzise be- Lehr- und Studieninstrument für den Kla- schrieben. Es handelt sich demnach um ein vierspieler und Organisten. „Klavier“ als bundfreies Reiseclavichord aus Deutsch- Kurzname war im 18. Jahrhundert dem land. Starke Indizien sprechen für Chri- Clavichord vorbehalten, zumindest in stoph Friedrich Schmahl aus Regensburg Deutschland. Auch Mozart hatte auf sei- als Erbauer. Aufgrund weiterer baulicher nen Reisen stets ein solches im Gepäck. Eigenschaften datiert es die Autorin auf Das Vogler-Instrument der Bayerischen ca. 1790, also gerade jene Zeit, in die auch Staatsbibliothek ist ebenfalls ein Reisekla- ausgedehnte Reisen Voglers fallen. 1790 vier, und wie wir wissen, war der Abbé fuhr dieser zunächst nach England, wo er seit 1785 die meiste Zeit seines Lebens auf als Orgelspieler große Triumphe feierte. Reisen. Anschließend erfolgte die Rückreise nach Darmstadt. Weitere Konzertstationen in Dieses Instrument, das so gar nicht in eine den Folgemonaten waren Worms und Bibliothek zu passen scheint, führte bis Frankfurt. Im November spielte er auf sei- zum heutigen Tage ein eher verborgenes nem Orchestrion in Rotterdam und kom- Dasein. Es ruhte in einem Schrank im ponierte schließlich zum Jahresschluss Dienstzimmer der über die Jahrzehnte Variationen über ein englisches Volkslied. wechselnden Leiter der Musikabteilung, Und allerorten, so ist zu vermuten, hatte nahezu unbemerkt. Wie lange genau, ließ er ein Reiseclavichord im Gepäck, mög- sich nicht mehr nachvollziehen. Da es sich licherweise das in der Bayerischen Staats- auf Grund seiner Materialart jeglicher bib- bibliothek verwahrte. liothekarischen Erschließung entzieht, blieb BIbliotheks m agazin

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Seit Mitte Mai 2010, mit der Neueröffnung Abstimmung mit dem IBR von professio- des umgebauten Lesesaals Musik, Karten neller Seite (Michael Walser, Jachenau) und Bilder, ist dieses Instrument dauerhaft behutsam kleinere Restaurations- und Säu- als Schaustück in einer Vitrine vor dem berungsarbeiten vorgenommen, um den Musiklesesaal zu sehen – als Hinweis auf aktuellen Zustand zu bewahren und einen den hier verwahrten Nachlass Voglers weiteren Verfall zu unterbinden. Im Einzel- und als Hinweis auf die umfangreiche und nen waren dies: Trockenreinigung, Leimen bedeutende Sammlung an Musiker- und und Kitten des gebrochenen Deckels, ein Komponistennachlässen der Bayerischen deformiertes Band begradigen und neu Staatsbibliothek generell. Zugleich ist das befestigen, gespaltene, seitliche Profilleis- Instrument Symbol für das untrennbare ten leimen, Anbringen von Filzgleitern an Miteinander von Komposition, Studium der Unterseite, um Kratzern vorzubeugen der Partituren und künstlerischer Interpre- sowie ein abgerissenes Seidenband mit tation. Notenpapier alleine macht schließ- einem weiteren Seidenband unterlegen, lich noch keine Musik. Deshalb dient der um das Gewicht des Deckels auf das neue Lesesaal Musik, Karten und Bilder künftig Band abzuleiten. Eine fehlende Elfenbeinta- als Veranstaltungsort für regelmäßig statt- ste wurde ergänzt, um wieder ein einheit- findende Konzerte, die in Kooperation mit liches Tastenbild zu erhalten. der Münchner Hochschule für Musik und Theater jährlich veranstaltet werden. Restaurierungsarbeiten und Präsentation dieses faszinierenden Dokuments unserer Das Clavichord wies schon nach der Be- Musikgeschichte ermöglichte eine groß- schreibung bei Klaus einige wenige Reno- zügige Spende der Förderer und Freunde vierungsspuren aus älterer Zeit auf. Für der Bayerischen Staatsbibliothek. die aktuelle Präsentation wurden nun in

BEETHOVENS NEUNTE IM MARTIN-GROPIUS-BAU

Die Staatsbibliothek zu Berlin in der Ausstellung „WeltWissen – 300 Jahre Wissenschaften in Berlin“

Am Anfang war das Staunen – nicht nur im zu sehen war: Wer die Ausstellungsräume Katja Dühlmeyer wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, son- betrat, der traf im Lichthof auf die gewal- ist Leiterin des Referats Öffentlich- keitsarbeit der Staatsbibliothek zu dern auch in der Ausstellung „WeltWissen tige Raumskulptur des amerikanischen Berlin – 300 Jahre Wissenschaften in Berlin“, die Künstlers Mark Dion. Wie ein Ausschnitt vom 24. September 2010 bis zum 9. Ja- aus der Weltkugel wölbte sich das über- nuar 2011 im Berliner Martin-Gropius-Bau dimensionale Regal im Raum. Während BIbliotheks m agazin

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Vom Lichthof aus teilte sich die große Wis- senschaftsschau: In sechs schwarz gehalte- nen Etappenräumen wurde die Geschichte der Berliner Wissenschaftslandschaft er- zählt. Auf den elf sogenannten Wissens- wegen hingegen, die Räume hier strahlend hell gehalten, wurden unterschiedliche Aspekte wissenschaftlicher Arbeitspro- zesse beleuchtet: Das Entwerfen und Ver- werfen etwa, das Experimentieren, das Reisen oder das Sammeln.

LEIHGABEN AUS DER STAATSBIBLIOTHEK

Die Staatsbibliothek zu Berlin, die mit ihrem 350jährigen Gründungsjubiläum im Die große Raumskulptur des amerika- die Eintretenden zunächst nur Schatten Jahr 2011 zu den Jubilaren des Wissen- nischen Künstlers Mark Dion im Licht- wahrnahmen, wurden beim Umrunden schaftsjahres 2010 gerechnet wurde, war hof des Gropius-Baus der Installation die Dinge selbst sichtbar: in der Ausstellung gleich in mehrfacher (Foto: Roman März) Tiere, Pflanzen, Bücher, Steine, Maschi- Hinsicht präsent: Zum einen war sie als nen, Artefakte – vom Skelett des Lieblings- Partnerin der Veranstalter Leihgeberin pferdes Friedrichs des Großen bis zum zahlreicher Exponate. Handschriften aus beleuchteten JRO-Globus aus der Staats- dem Bestand der Staatsbibliothek – unter Der Themenraum „Lehren“; im Vor- bibliothek, der mit seinem Umfang von anderem von den Brüdern Alexander und dergrund Pulte mit Vorlesungsmitschrif- 402 cm zu den größten Globen überhaupt Wilhelm von Humboldt, von Georg Wil- ten, u. a. einer Vorlesung von August zählt. Über 400 der rund 1.500 Exponate helm Friedrich Hegel oder von Carl Fried- Boeckh aus dem Bestand der Staats- bibliothek zu Berlin in der Ausstellung befanden sich allein in rich Gauß – wurden an verschiedenen (Foto: Jirka Jansch) dieser Installation. Stationen der Wissenswege präsentiert. Eindrucksvolle Kataloge oder Sammlungs- verzeichnisse wie der Thesaurus Branden- burgicus, ein mehrbändiges Prachtwerk, das die Kunstschätze der Hohenzollern verzeichnet, illustrierten das Thema Sam- meln. Exponate aus der Kartensammlung der Staatsbibliothek waren sowohl im chronologischen Abschnitt als auch auf verschiedenen Wissenswegen vertreten. Über 150 Objekte konnte die Staatsbiblio- thek aus ihren Sammlungen beisteuern – eine Herausforderung für das Restaurato- renteam! BIbliotheks m agazin

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Das Autograph der Neunten Sympho- nie Ludwig van Beethovens war das kostbarste Exponat der Ausstellung. (Foto: Eberle & Eisfeld)

DIE GESCHICHTE DER STAATSBIBLIOTHEK ganz besonderes Exponat, das kostbarste IN DER AUSSTELLUNG Stück der Ausstellung, für die Geschichte der Staatsbibliothek: Das Autograph der Darüber hinaus waren die Staatsbibliothek Neunten Symphonie Ludwig van Beetho- und ihre Vorläufereinrichtungen selbst vens. Der Hauptteil dieses Werks wurde Gegenstand der chronologischen Erzäh- 1846 für die damalige Königliche Biblio- lung in der Ausstellung: Schließlich stand thek erworben, 1901 kamen noch feh- an den Anfängen der Wissenschaft in Ber- lende Teile des Finales hinzu. Während lin auch und ganz wesentlich die Gründung des Zweiten Weltkriegs wurden Teile der der „Churfürstlichen Bibliothek“. So zeigte bedeutenden Handschrift zum Schutz vor die Ausstellung denn auch das Schreiben den Bombenangriffen an unterschiedliche Friedrich Wilhelms I. aus dem Bestand des Orte des Deutschen Reiches ausgelagert. Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kul- Das Hauptkorpus gelangte nach Krakau turbesitz, in dem der Große Kurfürst die und wurde 1977 an die Deutsche Staats- Bestellung des Bibliothekars Johann Raue bibliothek in Ostberlin zurückgegeben. zur Ordnung seiner Büchersammlung ver- Das Finale aber befand sich im sogenann- fügt und das als Gründungsurkunde der ten Tübinger Depot und wurde 1967 an Staatsbibliothek gilt. die in Westberlin neu gegründete Staats- bibliothek Preußischer Kulturbesitz über- Im Zeitabschnitt „Nach 1989: Zusammen- führt. Seit 1997 sind die beiden Teile der führung und Neuformierung“ sprach ein Handschrift, die seit 2003 zum Weltkultur- BIbliotheks m agazin

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ten Vorträge über Karten und über Glo- ben, Andreas Wittenberg und Ulrike Mar- burger aus der Abteilung Historische Drucke stellten die Einbandforschung vor, Prof. Dr. Eef Overgaauw, Leiter der Hand- schriftenabteilung, sprach über die mittel- alterliche Handschriftenforschung und Dr. Roland Schmidt-Hensel, stellvertreten- der Leiter der Musikabteilung, über die Mozart-Autographe in der Staatsbiblio- thek. Im Schülerprogramm ging die Leite- rin der Musikabteilung, Dr. Martina Reb- mann, vor einem jugendlichen Publikum näher auf die wechselvolle Geschichte der ausgestellten Musikhandschrift der Neun- ten Symphonie ein.

Johann Elert Bodes Tafelwerk „Urano- erbe „Memory of the World“ der Eine besonders gute Gelegenheit, den graphia“ von 1801 verzeichnet UNESCO zählt, wieder im Haus Unter Besucherinnen und Besuchern der Aus- 99 Sternbilder, darunter ein „Meeres- den Linden vereint. stellung die Arbeit der Staatsbibliothek ungeheuer“, ebenso aber technische Entwicklungen der Zeit wie die Luft- nahe zu bringen, ergab sich am 18. No- pumpe oder die Elektrisiermaschine. FORSCHUNG IN DER STAATSBIBLIOTHEK vember 2010: Im Rahmen eines Themen- (Foto: Eberle & Eisfels) abends zum Sammeln, Ordnen und Schließlich konnte sich die Staatsbibliothek Bewahren stellte die Generaldirektorin auch als Ort der Forschung präsentieren der Staatsbibliothek, Barbara Schneider- – nicht zuletzt durch die Arbeiten ihrer Kempf, ihr Haus vor. Vor zahlreichen in- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den teressierten Zuhörern schilderte sie die ihnen anvertrauten Objekten.

Die Leiterin der Kinderbuchabteilung, Ca- rola Pohlmann, wurde in der Ausstellung mit ihren Untersuchungen zur Wissens- vermittlung durch Kinderenzyklopädien des 18. Jahrhunderts in einem Interview- Porträt vorgestellt und hielt darüber hinaus einen Kurzvortrag über Hand- werksdarstellungen im Kinderbuch. Auch

Das „Bildnis des Großen Kurfürsten“ zahlreiche weitere Mitarbeiterinnen und von Christian Mentzel aus dem Jahr Mitarbeiter engagierten sich im umfangrei- 1685, das den Regenten als weltoffen chen Begleitprogramm und gewährten so und gebildet präsentieren soll; es illus- Einblicke in ihre Aufgaben: Wolfgang trierte in der Ausstellung die Anfänge der Wissenschaft. Crom, Leiter der Kartenabteilung, und (Foto: Eberle & Eisfels) sein Stellvertreter, Dr. Markus Heinz, hiel- BIbliotheks m agazin

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Entwicklung der Baumaßnahmen zur Als die Ausstellung WeltWissen am 10. Ja- Wiedererrichtung des Lesesaals im Haus nuar mit einer Finissage zu Ende ging, Unter den Linden, die kurz vor dem Ab- konnte sich die Staatsbibliothek mit den schluss stehen, erläuterte das Konzept der Veranstaltern besonders über den groß- Forschungsbibliothek in zwei Häusern und artigen Erfolg freuen. Während in den berichtete von den Anstrengungen der Häusern Unter den Linden und Potsdamer Staatsbibliothek zur Erhaltung und Digitali- Straße in diesem Jahr aufgrund der Bau- sierung des wertvollen kulturellen Erbes. maßnahmen die Ausstellungstätigkeit stark Unterstützt wurde sie dabei von Andreas reduziert werden musste, konnten in der Das blaue W symbolisierte das Mälck, dem Leiter der Abteilung Bestand- Wissenschaftsschau im Martin-Gropius- Berliner Wissenschaftsjahr 2010 serhaltung und Digitalisierung, sowie sei- Bau, ganz in der Nähe des Hauses Pots- ner Stellvertreterin, Julia Bispinck-Roßba- damer Straße, bedeutende Schätze der cher, die anschauliche Beispiele aus ihrer Staatsbibliothek gezeigt werden. Mit der Praxis zeigen konnten. Auch die Leiter der WeltWissen-Ausstellung fand das Berliner Karten- und der Handschriftenabteilung Wissenschaftsjahr 2010 seinen Höhepunkt sowie die Leiterin der Musikabteilung und zugleich auch seinen Abschluss – für waren als Experten vor Ort. die Staatsbibliothek hingegen beginnt nun ein Jubiläumsjahr zum Feiern!

KORANE, BUCH-MAGAZINE UND MEHR …

Die Bayerische Staatsbibliothek bei der Langen Nacht der Münchner Museen

Bei der zwölften Langen Nacht der Mu- falls stündliche Rundgänge durch das Haus, Peter Schnitzlein seen in München am 16. Oktober 2010 bei denen ein Einblick hinter die Kulissen ist Leiter des Stabsreferats Öffent- lichkeitsarbeit der Bayerischen war es soweit: die Bayerische Staatsbiblio- geboten wurde. „Sah vor“ bedeutete, dass Staatsbibliothek thek nahm erstmals an der inzwischen fest die Verantwortlichen annahmen, mit die- im Münchner Stadtleben etablierten Kunst- sem Angebot der Nachfrage gerecht zu und Kulturnacht mit einem eigenen Pro- werden. Die Realität sah anders aus. Rund gramm teil. Im Mittelpunkt des Angebots 800 Besucher fanden den Weg in die stand die zu dieser Zeit im Fürstensaal und Bayerische Staatsbibliothek, das ursprüng- in der Schatzkammer der Bibliothek prä- lich vorgesehene Führungsangebot reichte sentierte Ausstellung über Prachthand- bei weitem nicht aus. Die limitierten Plätze schriften aus dem islamischen Kulturkreis. für die Rundgänge waren auf Stunden hin- Das Programm sah stündliche Führungen aus vergeben, der Ärger manch eines durch die Schau vor – ergänzt durch eben- Besuchers, der unverrichteter Dinge von BIbliotheks m agazin

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wieder zu kommen und zwischenzeitlich eine andere teilnehmende Institution der Langen Nacht zu besuchen. Das große Interesse an der Bayerischen Staatsbiblio- thek überraschte und freute die Organisa- toren. Schließlich befand sich das Haus in dieser Nacht in Konkurrenz zu Angeboten von rund 90 anderen Museen und Aus- stellungshäusern, darunter so renom- mierte Einrichtungen wie die Pinakothe- ken, das Münchner Stadtmuseum oder das BMW Museum. Auch das immer wieder vorgetragene positive Feedback vieler Besucher wurde gerne vernommen.

Kurz nach Beginn der Langen Nacht wurde klar, dass das Führungsangebot ergänzt werden musste. Spontan wurden mehr Warten auf die nächste Führung dannen ziehen musste, daher nachzuvoll- oder weniger am laufenden Band Sonder- ziehen. Ganz überwiegend jedoch war die führungen eingeschoben. Allein 24 Füh- Resonanz der Gäste überaus positiv, teil- rungen durch die Ausstellung und 9 Rund- weise sogar enthusiastisch. Es gab Einzel- gänge durchs Haus zählte die Statistik fälle, in denen sich Besucher Platzkarten letztendlich um 2 Uhr nachts, als die Bib- Hans von Marées und Franz von Len- bach als Plakatmotiv für die 12. Lange für eine Führung drei Stunden später ge- liothek ihre Pforten schloss. Mehr war mit Nacht der Münchner Museen ben ließen, um zum späteren Zeitpunkt den zur Verfügung stehenden Personalres- sourcen – es waren zwölf Mitarbeiter für die Kasse, die Eingangskontrolle, die Orga- nisation und die Führungen eingeteilt – beim besten Willen nicht möglich. Auch ein Zusatzangebot im Bereich der Ausstel- lung fand überaus großes Interesse. Besu- cher der Schau konnten sich von einem Kalligraphen ihre Namen in arabischer Schrift schreiben lassen.

Ein interessanter Aspekt, der beobachtet werden konnte, war die Besucherstruktur. Die Lange Nacht der Museen lockte ein völlig neues Publikum ins Haus. Viele der Besucher, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, stiegen das erste Mal in ihrem Leben die Prachttreppe hinauf, neugierig darauf, was sie denn hinter der Gebäude- BIbliotheks m agazin

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fassade im Stil der Frührenaissance in der Münchner Ludwigstraße erwarten würde. Und die Erwartungen wurden nicht ent- täuscht, so der Eindruck der Organisato- ren.

Mit 121 verkauften Tickets wurde übrigens ein respektables Verkaufs-Ergebnis erzielt. Die Teilnahme war für die Bayerische Staatsbibliothek ein voller Erfolg. Das stra- tegische Ziel der Bibliothek, die Institution einer breiten Öffentlichkeit bekannter zu machen bzw. von ihr intensiver wahr- genommen zu werden, wurde in nahezu lehrbuchhafter Manier erfüllt. Die Erfah- rungen bei der Langen Nacht werden in die Planungen für zukünftige Veranstaltun- gen dieser Art einfließen. Es ist durchaus oben: wünschenswert, auch in den folgenden Der Kalligraph Dr. Mehr Newid im unermüdlichen Einsatz Jahren an der Langen Nacht der Museen teilzunehmen. Die Museumsnacht kann als links: Ersatz für einen Tag der offenen Tür die- Auch ohne Führung interessant: nen, den die Bibliothek jeweils im Abstand die Ausstellung „Die Wunder der Schöpfung“ von einigen Jahren organisiert. Entschei- dende Vorteile einer Museumsnachtteil- nahme sind die flächendeckende und umfassende Bewerbung der Langen Nacht und damit die Mobilisierung mehrerer zehntausend Event-Besucher durch die organisierende Münchner Kultur GmbH. Die Bayerische Staatsbibliothek wäre zu einem solchen finanziellen und organisato- rischen Kraftakt gar nicht in der Lage.

Der Katalog zur Ausstellung Mit der Teilnahme an der Museumsnacht „Die Wunder der Schöpfung“ präsentierte sich die Bibliothek – ebenso kann weiterhin zum Preis von wie im Münchner Museumsportal, das 24,– Euro (zzgl. Versandkosten) 2010 an den Start ging – einmal mehr als bestellt werden. respektables Ausstellungshaus und damit als Treffpunkt für Kultur und Wissenschaft www.bsb-muenchen.de/ in München. Ausstellungskataloge-und-mehr. 2384.0.html BIbliotheks m agazin

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DIE BIBLIOTHEK VON BRUNO KAISER

Oder: Kennen Sie eigentlich die Sammlung 19 ZZ …

Heidrun Feistner Wenn sich in einer großen wissenschaft- Vielschichtig und außergewöhnlich wie ist Mitarbeiterin in der Abteilung lichen Bibliothek ein Goldmann-Krimi von seine Bibliothek ist auch die Vita des Historische Drucke der Staatsbiblio- thek zu Berlin 1930 und das Unikat einer Knabenzucht Sammlers, dessen Geburtstag sich am des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 5. Februar 2011 zum 100. Male jährt. 1530 gegenüberstehen, der Weg von der Bruno Kaiser, in Berlin geboren und in Erstausgabe der „Anna Blume“ zu einem einem humanistisch geprägten jüdischen Shakespeare-Comic von 1825 an der Dis- Elternhaus aufgewachsen, erhielt die ersten sertation Friedrich Schillers und an zwei Anregungen zum Sammeln von Büchern Bände füllenden Bildergeschichten mit von seinem Vater. Die Weltoffenheit und dem bedeutungsschweren Titel „O diese die Vielfältigkeit des gesellschaftlichen Dackel!“ vorbeiführt, dann wurden ihre Lebens, die er in seiner Kindheit kennen Bestände nach dem Prinzip des Numerus lernte, scheinen sich in den Maximen für currens aufgestellt und man versäumte, die den Aufbau seiner Büchersammlung wie- wertvollen Drucke zu separieren – oder der zu finden. Nichts deutet beim Streif- aber sie hat einen Nachlass erworben. zug durch die Regale auf eine besondere Herkunft hin: Wir sehen die gut sortierte Bibliothek eines offenkundigen Bücher- narren, Wissenschaftlers und Bibliophilen mit einer sympathischen Neigung für das Verbotene und Verfolgte, nicht aufbewah- rungswürdige, sittenwidrige oder auf andere Weise „verkehrte“ Bücherleben; mitunter gewinnt man den Eindruck, ihr Besitzer habe gerettet und nicht gesam- melt.

Die Bibliothek ist nach Nationalliteraturen geordnet. Innerhalb der einzelnen Litera- turen gliedert sie alphabetisch nach Auto- ren und Titeln. Allein die verschiedenen Bruno Kaiser mit einem Band Ausgaben von Heines „Buch der Lieder“ seiner Lafontaine-Ausgabe umfassen fast einen Meter. Im Anschluss von 1756 (Sign.: 19 ZZ 12971) an die chronologisch gestaffelten Ausga- (Foto: Gisela Funke, Berlin) ben und illustrierten Werke folgen jeweils BIbliotheks m agazin

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bibliothek bildet den Schluss. Bruno Kaiser hat nicht zwei Leben gelebt, Buch der Lieder, Hamburg und Nürn- berg 1827. Titelblatt der Erstausgabe er hat seine Bücher getrennt. Der langjäh- (Sign.: 19 ZZ 4593) rige Leiter der Bibliothek des Instituts für Marxismus-Leninismus hat dienstlich und auch privat – er hat da kaum unterschie- den – die für das Institut geeignete Litera- tur für das Institut gesammelt und den nicht unbeträchtlichen Rest für sich selbst; seine Bibliothek umfasst etwa 35.000 Bände. Anders sind die für Bruno Kaiser sonst unverständlichen Lücken in seiner Bibliothek nicht zu erklären, in der sich statt der hier zu erwartenden Erstaus- gaben von Marx und Engels jene von Gott- hold Ephraim, aber auch die von Theodor Lessing und Friedrich Nietzsche befinden. Sie enthält nicht die Erstdrucke Lenins, aber doch jene des Münchner November- John Thurston revolutionärs und Ministerpräsidenten Illustrations Of Shakespeare : Com- Kurt Eisner und die Schriften des Spartaki- prised In Two Hundred And Thirty sten Franz Jung. Mit der größten Selbstver- Vignette Engravings, London 1825. Dieser Band konnte durch die Über- die Übersetzungen und die entsprechende ständlichkeit stehen hier expressionistische nahme einer Buchpatenschaft restau- Sekundärliteratur. Die Erstausgaben von und dadaistische Werke im Regal, als hätte riert werden. Sigmund Freud zählen hier ebenso zur es nicht jahrzehntelanger Kämpfe bedurft, (Sign.: 19 ZZ 12071) deutschen Literatur wie die „Berliner Guckkastenbilder“ von Glaßbrenner oder der „Kain-Kalender“ von Erich Mühsam. Im Zentrum der Sammlung stehen illus- trierte und Erstausgaben des späten 18. bis 20. Jahrhunderts der deutschen, englischen und französischen Literatur, darunter zahlreiche Pressendrucke und Widmungs- exemplare. Zu erwähnen sind eine bedeu- tende Almanach- und eine Cervantes- Sammlung. Es folgen Auswahlsammlungen der Literaturen nahezu aller Länder und Völker, Schriften zur Kunst, einige geo- grafische Werke, wenige Texte zur Ge- schichte und Tagespolitik sowie nicht anders Einzuordnendes, wie etwa der „Leitfaden für Sonnenbäder und Nackt- pflege“ von 1906. Eine umfangreiche Hand- BIbliotheks m agazin

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und Sarah Kirsch. Aus der Betrachtung sei- ner Sammlung ergibt sich die Frage, wie lange es dauerte, bis Bruno Kaiser in dem Nachkriegsstaat DDR wirklich ankommen konnte – ihre Literatur lenkt vor allem den Blick zurück.

Bruno Kaiser verließ Deutschland 1938. Nach der Okkupation Belgiens, der ersten Station seiner Flucht, folgte ab 1940 ein etwa zweijähriger Aufenthalt in Frankreich. Dort scheiterte die versuchte Auswande- rung in die USA. In der Schweiz, in die Kai- ser 1942 illegal eingereist war, erhielt er die Erlaubnis, wissenschaftlich arbeiten zu können. Er entdeckte in der Nähe von Basel den seit Jahrzehnten unbeachtet ge- bliebenen Nachlass Georg Herweghs; das Hugo von Hofmannsthal um diese Literatur in der DDR einem brei- 1946 in Liestal von ihm eröffnete Dichter- Der Kaiser und die Hexe, Berlin 1900. teren Publikum zugänglich machen zu kön- museum ist dem Andenken Herweghs, Mehrfarbiger Doppeltitel von Heinrich nen. Die wertvollsten dieser Titel fand man Carl Spittelers und Johannes Widmanns Vogeler (Sign.: 19 ZZ 5113) vor 1990 nicht im Verkaufsraum eines gewidmet. Im Mundus Verlag Basel er- Antiquariats. Bruno Kaiser konnte seine schien 1945 unter dem Pseudonym Os- herausgehobene persönliche und beruf- wald Mohr seine Anthologie „Das Wort liche Position offensichtlich für seine biblio- der Verfolgten. Gedichte und Prosa, Briefe phile Sammelleidenschaft nutzen, weil er Zugang zu Quellen besaß, den andere nicht erhielten. Damit ermöglicht diese neben der Bibliothek Jürgen Kuczynskis wohl bedeutendste Privatbibliothek in der DDR einen Einblick in die deutsche Litera- tur und Kunst, den man der Öffentlichkeit erst wesentlich später gewährte. Der im Verhältnis zum Rest seiner Sammlung ge- ringe Anteil deutschsprachiger belletristi- scher Bücher, die nach 1945 erschienen, beschränkt sich auf einige wenige wichtige Titel und vor allem auf Werke jener Auto- ren, die er persönlich kannte und mit denen ihn ein gleiches oder ähnliches Schicksal verband. Erst ab den siebziger Edgar Wallace Bei den drei Eichen, Leipzig 1930 Jahren erweitert sich das literarische Spek- (Sign.: 19 ZZ 12368) trum z. B. um Autoren wie Volker Braun BIbliotheks m agazin

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links: Kurt Schwitters Anna Blume, Hannover 1919. Diese erste Ausgabe erschien als Band 39/40 der Reihe „Die Silbergäule“, Umschlag- zeichnung von Kurt Schwitters. (Sign.: 19 ZZ 8533)

rechts: Kurt Schwitters Elementar. Die Blume Anna. Die neue Anna Blume : eine Gedichtsammlung aus den Jahren 1918–1922, Berlin 1923. Die Einbecker Politurausgabe erschien im Verlag „Der Sturm“. (Sign.: 19 ZZ 8536)

und Aufrufe deutscher Flüchtlinge. Von auch aus Westberliner Bezirken, bestimmt Heinrich Heine und bis und lag in der Nähe des Viertels, in dem Bertolt Brecht und Thomas Mann“. die Mitglieder der Regierung wohnten. Kaiser, seit 1948 Mitglied der SED und Bei seiner Rückkehr 1947 besaß Kaiser kurzzeitig Hauptbibliothekar an der da- noch etwa 1.000 Bücher und sein in der maligen Öffentlichen Wissenschaftlichen Schweizer Zeit entstandenes Arbeitsmate- Bibliothek, wie die Staatsbibliothek damals rial, während die im französischen Exil ver- noch hieß, erhielt bereits 1949 den Auf- loren gegangenen Unterlagen verschollen trag, die Bibliothek des gerade gegründe- Edgar Wallace blieben. Seiner Mutter, sie starb 1943 im ten Instituts für Marxismus-Leninismus Überfallkommando, Leipzig 1930 Konzentrationslager Theresienstadt, war beim ZK der SED aufzubauen und zu lei- (Sign.: 19 ZZ 12371) es 1941 mit Hilfe eines Rechtsanwalts ten. Seit 1954 war er an den Vorbereitun- jedoch gelungen, die 4.000 Bücher umfas- gen zum Aufbau einer bibliophilen Gesell- sende Bibliothek ihres Sohnes einer Berli- schaft in der DDR beteiligt, die 1956 als ner Spedition zu übergeben und unter Pirckheimer-Gesellschaft im Kulturbund dem Namen des Schweizer Arztes Dr. Ju- „zur demokratischen Erneuerung Deutsch- nod einlagern zu lassen. Über Thüringen lands“ gegründet wurde. Die Zeitschrift gelangte die Bibliothek zurück an den der Gesellschaft, die „Marginalien“, hielt Eigentümer. Kaiser stolz für die beste der DDR.

1951 erfolgte der Umzug in die Erich-Wei- In den folgenden Jahren trat Kaiser immer nert-Siedlung in Niederschönhausen. Sie wieder auch als Herausgeber in Erschei- war eigens für Künstler und Schriftsteller, nung. Nach langer Vorbereitungszeit BIbliotheks m agazin

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Taxile Delord Un Autre Monde, Paris 1844. Die Abbildung zeigt eine Textillustration von Grandville. (Sign.: 19 ZZ 12912, S. 139)

konnte 1957 der letzte Band seiner fünf- die tägliche Benutzung im Rara-Lesesaal bändigen Ausgabe der Werke Georg der Bibliothek ebenso zur Verfügung wie Weerths veröffentlicht werden. Gemein- für Ausstellungen, Filme oder für Semi- sam mit Stephan Hermlin bildete Kaiser nare zur Buch-, Editions- oder Literatur- das Komitee, das zu den Feierlichkeiten geschichte. Eine Ergänzung zu diesen Be- aus Anlass des 100. Todestages von Hein- ständen bildet das Depot der „Schönsten rich Heine für das Jahr 1956 nach Weimar Bücher der DDR“, das sich in unmittel- einlud. Kaiser hatte sich sehr darum be- barer räumlicher Nähe seiner Bibliothek müht, dass in den beiden deutschen Staa- befindet und der Wissenschaft ebenfalls ten keine separaten Ausgaben der Werke ein ergiebiges Forschungsfeld bietet. Kai- des Dichters erscheinen würden. Die kriti- ser hat die Auswahlkommission mehr als sche Besprechung einer Heine-Ausgabe zwei Jahrzehnte geleitet; seine Stellung im des Aufbau-Verlags brachte ihm den Vor- Bereich der Gestaltung von Büchern war wurf der „bürgerlichen Literaturwissen- unangefochten. Bruno Kaiser starb am schaft“ von Wilhelm Girnus, damals Re- 27. Januar 1982 in Berlin.

Babel, Leipzig 1840 dakteur der Zeitung „“ (Sign.: 19 ZZ 10057 – 2.1840) ein. Seine ca. 20.000 Stück umfassende Exlibris- Sammlung, die er schon 1960 an die Deut- Ein wichtiger Aspekt bei der Entscheidung sche Staatsbibliothek gab, wird in der der Deutschen Staatsbibliothek, die Privat- Handschriftenabteilung aufbewahrt. Die bibliothek zu erwerben, war 1967 die Mög- Kinderbücher befinden sich in der Kinder- lichkeit, einen Teil ihrer Kriegsverluste vor und Jugendbuchabteilung, während der allem im Bereich der deutschen Literatur Großteil der Sammlung von der Abteilung ersetzen zu können. Zudem sind in der Historische Drucke verwaltet wird – auf- Bibliothek Bruno Kaisers die Originalein- gestellt sind alle Bücher unter der Signatur bände und -broschuren in der Regel erhal- 19 ZZ. Der handschriftliche Nachlass wird ten; sie werden schrittweise restauriert in der Handschriftenabteilung durch Hart- und in Schutzkartonagen verpackt. Vom mut Pätzke ehrenamtlich erschlossen, dem kostbaren Handeinband bis zum industriell ich für die biografischen Angaben danke, gefertigten Massenprodukt stehen einzig- die er für diesen Aufsatz freundlicherweise artige buchgeschichtliche Dokumente für zur Verfügung gestellt hat. BIbliotheks m agazin

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DER NEUE MUSIK-KATALOG „RISM-OPAC“ MIT ÜBER 700.000 NACHWEISEN IST ONLINE

EINLEITUNG Staatsbibliothek in München und an der Dr. Armin Brinzing Sächsischen Landesbibliothek – Staats- leitet die Arbeitsstelle München der RISM-Arbeitsgruppe Deutschland e.V. Seit Juni 2010 wird ein neuer, kostenfreier und Universitätsbibliothek Dresden ange-

Online-Katalog zur Musik unter der Web- siedelt sind. Jürgen Diet Adresse http://opac.rism.info angeboten. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Die Datenbank enthält etwa 700.000 Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek Nachweise zu überwiegend handschriftlich in verschiedenen Serien zahlreiche Bände überlieferten Kompositionen, die ausführ- in Buchform publiziert wurden (z. B. zu lich nach wissenschaftlichen Kriterien kata- den Musikdrucken und Musiktheoretica logisiert sind. Die Handschriften werden vor 1800), wurde die Serie A/II: Musik- heute in Hunderten von Bibliotheken und handschriften nach 1600 nach einem ersten Archiven in 32 Ländern aufbewahrt. In Versuch in Form einer Mikrofiche-Edition ihnen sind musikalische Werke von etwa seit 1995 in jährlich erscheinenden kumu- 25.000 Komponisten überliefert. lierten CD-ROM-Ausgaben und später auch in Form einer kostenpflichtigen Inter- Die Datenbank des Répertoire Internatio- net-Datenbank publiziert. Der RISM-OPAC nal des Sources Musicales (RISM) wird unter http://opac.rism.info löst diese kos- veröffentlicht von der RISM Zentralredak- tenpflichtigen Angebote durch eine welt- tion, die an der Universitätsbibliothek weit kostenfrei zugängliche Datenbank ab, Frankfurt angesiedelt ist. Aufgabe des RISM die kontinuierlich erweitert wird. ist es, die weltweit überlieferten Quellen zur Musik umfassend zu dokumentieren. RECHERCHIEREN MIT DEM NEUEN RISM wurde 1952 von Vertretern der MUSIK-KATALOG Internationalen Vereinigung der Musikbib- liotheken, Musikarchive und Dokumenta- Neben einer einfachen Suche, die alle Fel- tionszentren (IAML) sowie der Internatio- der abdeckt, bietet der RISM-OPAC die nalen Gesellschaft für Musikwissenschaft Möglichkeit, gezielt 16 verschiedene Kate- (IMS) gegründet, unter deren Patronat gorien zu durchsuchen und dabei bis zu es bis heute steht. Erarbeitet werden die drei Kategorien zu verknüpfen (UND-Ver- Daten von eigenständig organisierten knüpfung, durch ein vorgestelltes „-“ ist Arbeitsgruppen in 32 Ländern. Die RISM aber auch eine „UND NICHT“-Verknüp- Arbeitsgruppe Deutschland e.V. unterhält fung zu erreichen). So ist nicht nur eine zwei Arbeitsstellen, die an der Bayerischen Suche nach Komponisten möglich, son- BIbliotheks m agazin

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dern es kann über ein eigenes Feld „Wei- Um die Trefferliste weiter einzugrenzen, tere Personen“ zusätzlich nach Textdich- bieten die am linken Bildschirmrand plat- tern, Schreibern, Vorbesitzern der Hand- zierten Suchfilter die Möglichkeit einer schriften usw. gesucht werden. Befand sich Verfeinerung der Suche in den Kategorien die Handschrift früher im Besitz einer Ins- „Gattung“, „Komponist“, „Datierung“, titution, z. B. eines Klosters, kann dies in „Materialtyp“, „Besetzung“ und „Biblio- der Rubrik „Provenienz“ ermittelt werden. thekssigel“. Selbstverständlich kann auch nach Werk- titeln, Textanfängen oder einzelnen Gat- Zur Verdeutlichung des bisher Gesagten tungen recherchiert werden – diese drei möge folgendes Beispiel dienen: Möchte man sich über die handschriftliche Verbrei- tung der Sinfonien Joseph Haydns infor- mieren, so sähe das Recherche-Ergebnis zunächst aus wie in der ersten Abbildung dargestellt (zu beachten ist, dass Gattungs- bezeichnungen wie „Sinfonie“ im Plural eingegeben werden müssen, hier hilft aber auch das sogenannte „Auto-Lookup“, das schon bei der Eingabe entsprechende Vor- schläge macht):

In der Ergebnisliste bieten die Suchfilter links die Möglichkeit, weitere Einschrän- kungen vorzunehmen, z. B. auf die Auto- graphen. Die Liste führt die einzelnen Treffer in Kurzform auf, ein Klick auf die gewünschte Nummer führt zur Vollan- zeige. Die Vollanzeige bringt dann eine Recherche-Ergebnis Kategorien sind in dem Index „Titel“ zu- detaillierte Beschreibung des Manuskripts sammengefasst. Für eine gezieltere Suche mit Angaben u. a. zum originalen Titel des sind aber auch Abfragen über Werk- Werks in der betreffenden Quelle, einer verzeichnis-Nummern, z. B. nach dem genauen Beschreibung des Materials usw. Köchel-Verzeichnis der Werke Mozarts, Tonarten oder Besetzungen möglich. Auf Details der Quellenbeschreibungen Auch der „Materialtyp“ ist recherchierbar, kann hier nicht eingegangen werden, doch so dass beispielsweise Autographen eines ist darauf hinzuweisen, dass die einzelnen bestimmten Komponisten ermittelt wer- Werke jeweils durch Musikincipits, d.h. den können. Möchte man sich über die den Beginn der wichtigsten Stimme oder Bestände einer bestimmten Bibliothek Stimmen, eindeutig identifizierbar werden. informieren, ist dies über das RISM-Biblio- Diese Musikincipits werden grafisch als theks-Sigel möglich, z. B. „D-B“ für die Notenbeispiele dargestellt, eingegeben Staatsbibliothek zu Berlin oder „D-Mbs“ werden sie bei der Katalogisierung jedoch für die Bayerische Staatsbibliothek. im sog. „Plaine & Easie Code“. Dies wird BIbliotheks m agazin

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es ermöglichen, dass in der nächsten Ver- zu umfangreich. Als „Work in progress“ sion der Datenbank diese Musikincipits arbeitet RISM an diesem Ziel mit Nach- auch suchbar werden, was z.B. bei der druck, ein Ende ist jedoch noch nicht Identifizierung anonym überlieferter Kom- abzusehen. Auch in Deutschland, von wo positionen unschätzbare Dienste leistet. allein 40% aller Daten kommen, ist noch viel zu tun – neben vielen kleineren, aber Seit der Freischaltung des RISM-OPAC oft bedeutenden Sammlungen, die bislang wird dieses Angebot rege genutzt. Wir kaum bekannt sind, harren auch in den freuen uns über monatlich ca. 3000 ver- großen deutschen Musiksammlungen in schiedene Benutzer, die in den ersten Berlin, München oder Dresden noch sechs Monaten insgesamt ca. 400.000 Suchanfragen abgesetzt haben.

WIE DER RISM-OPAC ENTSTAND

Der neue Online-Katalog wurde ermög- licht durch eine Kooperation zwischen dem RISM, der Bayerischen Staatsbiblio- thek und der Staatsbibliothek zu Berlin. Alle drei Kooperationspartner haben den RISM-OPAC konzipiert und getestet. Die Lieferung der internationalen RISM-Daten- sätze erfolgte und erfolgt weiterhin durch die RISM-Zentralredaktion in Frankfurt; implementiert wurde der RISM-OPAC durch das IT-Referat der Bayerischen Staatsbibliothek. Obwohl der Koopera- tionsvertrag schon im April 2008 unter- zeichnet wurde, hat es mit der Umsetzung etwas länger als geplant gedauert. Die für große Bestände ihrer Katalogisierung. Vollanzeige eines Datensatzes aus der dieses Vorhaben beantragten Drittmittel Der RISM-OPAC wird kontinuierlich wei- Trefferliste wurden nicht bewilligt, so dass die Bayeri- terentwickelt werden. Die demnächst sche Staatsbibliothek eigene Mittel zur verfügbare Incipitsuche wurde schon ange- Implementierung des RISM-OPAC einset- sprochen. Außerdem ist u. a. geplant, die zen musste. RISM-Daten als weitere Datenquelle in die Metasuche der Virtuellen Fachbibliothek AUSBLICK Musikwissenschaft (www.vifamusik.de) einzubinden. Die Datenbank ist selbstverständlich noch weit davon entfernt, die handschriftliche Überlieferung der abendländischen Musik vollständig nachzuweisen – dazu sind die in den Bibliotheken vorhandenen Bestände DIE VOSSISCHE ZEITUNG 1918–1934 ONLINE

Dr. Joachim Zeller Seit April 2010 kann die Staatsbibliothek erhielt der vom SAUR-Verlag bestimmte ist Leiter der Zeitungsabteilung zu Berlin allen im Besitz eines gültigen Aus- Dienstleister CCS Hamburg (CCS Con- der Staatsbibliothek zu Berlin weises befindlichen Leserinnen und Lesern tent Conversion Specialists GmbH) die die Nutzung der Datenbank: „Vossische kontrollierten und mit bibliographischen Zeitung Online. 1918–1934“ von jedem Daten ergänzten Images und realisierte die internetfähigen PC aus unentgeltlich anbie- Artikelsegmentierung und die artikelbezo- ten. Die Datenbank ist das Ergebnis des gene Texterkennung. Danach wurde vom Zusammenwirkens einer öffentlichen und Verlag die recherchierbare Datenbank einer privaten Einrichtung, der SBB-PK und generiert. des de Gruyter-Verlags, mit dem SAUR- Verlag als Imprint. Wer mit historischen Zeitungsbeständen arbeitet, weiß: Nichts ist vollständig, über- Da die Vossische Zeitung mit all ihren all finden sich Lücken. Aber es gab Part- Vorläufern mehr als drei Jahrhunderte er- ner, die bereit waren, fehlende Bestände schien, war keine Digitalisierung der ge- dem Vorhaben zur Verfügung zu stellen. samten Zeitung möglich: Die riesige Menge Die besondere Herausforderung für die der Zeitungsseiten wie auch der finanzielle SBB-PK wie für die Leihgeber bestand Aufwand, eine im Volltext recherchierbare darin, der Separierung und Paginierung der Datenbank anzubieten, wären zu immens Seiten zuzustimmen. Denn um hochwer- gewesen, so dass sich die Beteiligten dar- tige Ergebnisse der Zeitungsdigitalisierung auf einigten, mit der Zeit der Weimarer und der Texterkennung zu erzielen, müs- Republik, der Endzeit der Vossischen, von sen planliegende Seiten gescannt werden. 1918–1934 zu beginnen. Bei Scans aus gebundenen Zeitungsbänden verschwinden allzu oft Zeilenanfänge oder Die Zeitungsabteilung der SBB-PK über- -enden im Bundsteg, die Zeilen wölben nahm die Bereitstellung der Bestände und und verziehen sich zur Bandmitte. Das das Scannen der Originale. Anschließend Zeitungslayout ist nicht für den Einband BIbliotheks m agazin

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angelegt, sondern für das aufgeschlagene, ausgebreitete Blatt!

Ergänzungen wurden für etwa 10 Prozent der Vossischen benötigt. Die fehlenden Bestände erhielt die SBB-PK von der Universitätsbibliothek der Humboldt-Uni- versität zu Berlin, vom ehemaligen Ull- stein-Archiv, dem heutigen Infopool des Axel-Springer-Verlags und für die beiden Auslandsausgaben der Vossischen (Die Voss : Wochen-Auslands-Ausgabe; 5. Fe- bruar 1921 bis 27. Juni 1925 und Die Post aus Deutschland : Illustrierte Handels- und Export-Zeitung; 11. Juli 1925 bis 5. No- vember 1927) von der Deutschen Natio- nalbibliothek in Leipzig. Schließlich fehlten noch sechs Wochenausgaben der „Post aus Deutschland“, diese konnten mit Hilfe des Center for Research Libraries, Chi- cago ergänzt werden, so dass schließlich alle Ausgaben – dem äußerlichen Anschein nach – komplett vorlagen.

Ausgeführt wurden die Bestandsvorberei- tungen, das Scannen der einzelnen, aus den Einbänden separierten und paginierten Seiten, die Sortierung und Benennung der Images entsprechend der ursprünglichen Ausgaben (Morgen-, Abendausgabe, Zeit- bilder) durch ein Arbeitsteam, bestehend aus Beschäftigten der Zeitungsabteilung, Projektkräften des ABM-Projektes „Zei- tungsdigitalisierung“ und dem MIK-Center GmbH Berlin, das die Zeutschel-Scanner und das Rechnernetz für die Bildbearbei- tung und -speicherung einrichtete und betreute und zusätzlich eine Mitarbeiterin für das Datenmanagement einsetzte.

Im Frühjahr 2009 waren die Scans der vor- liegenden Bestände erstellt und vorberei- tet, so dass sie zur weiteren Bearbeitung BIbliotheks m agazin

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zugänglichen englischen Datenbank „Times Digital Archive 1785–1985“, mit ihren höchst anspruchsvollen Recherche- und Präsentationsmöglichkeiten weitgehend zu entsprechen, was näherungsweise auch gelang.

Doch warum wurde vom SAUR-Verlag und von der SBB-PK die Vossische Zeitung ausgewählt und warum diese Periode der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts? Wie wurde die Vossische zu einer der be- deutendsten und weltweit wahrgenomme- nen deutschen Zeitungen?

So interessant die bis auf die Avisen und Berliner Botenmeister Zeitung von Chris- toff Frischmann aus den Jahren 1617 und 1618 zurückreichende Geschichte der Vossischen sein mag, hier kann weder dar- an CCS Hamburg übergeben werden auf noch auf die zahlreichen Titeländerun- konnten. Dort wurden die Artikelsegmen- gen eingegangen werden. (Ausführliche tierung (OLR – Optical Layout Recogni- und mit zahlreichen Literaturangaben tion) und die Texterkennung (OCR – angereicherte Angaben finden sich in der Optical Character Recognition) erstellt. Einleitung zur Online-Datenbank!) Und erst dort wurde entdeckt, dass es auch früher schon spezielle „Zeitungslieb- Bereits 1914 wechselte die Vossische vom haber“ gab, die sich sie interessierende bisherigen Familienunternehmen der „Vos- Seiten aus den Bibliotheksexemplaren ent- sischen Erben“ zum jungen, aber mächti- nahmen! Bei etwa 120 Ausgaben fehlten gen Ullstein-Verlag. Hier war seit 1908 einzelne Seiten – vornehmlich die mit Ver- Georg Bernhard als Verlagsdirektor tätig anstaltungsankündigungen, Kinoprogram- und so leitete „der Chefredakteur der men, Annoncen! Also mussten nochmals Chefredakteure“ diesen Umzug und über- Ergänzungsausgaben beschafft, Seiten nahm schließlich ab 1920 als alleiniger separiert und gescannt, die Images adres- Chefredakteur die Gesamtverantwortung siert und an CCS geschickt werden, bis für die Vossische. In den zehn Jahren, die nun endlich und wirklich die Vossische der Bernhard, ein vehementer Verteidiger der Jahre 1918–1934 vollständig vorlag. Dann Weimarer Republik, an dieser Stelle im dauerte es noch einige Zeit, bis die fertige Ullstein-Verlag tätig war, formte er die Datenbank vom Verlag präsentiert wer- Vossische Zeitung zu einem linksliberalen den konnte. Sie sollte einem sehr hohen Blatt. Die „Voss“ beschrieb das Ende des Qualitätsstandard gerecht werden: Es galt, Ersten Weltkrieges, die Revolution, die der seit 1998 auch der SBB-Leserschaft Versuche in ganz Deutschland einen Räte- BIbliotheks m agazin

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staat zu errichten, und die Anfänge der Weimarer Republik. Sie berichtete über die Auswirkungen des Vertrages von Ver- sailles und über die Weltwirtschaftskrise von 1929 mit ihren verheerenden Folgen für Deutschland. Sie informierte über das allgemeine Misstrauen in die führenden deutschen Politiker und das Erstarken der NSDAP. Aber die Vossische Zeitung war nicht nur ein politisches Blatt. Ihr Wirt- schaftsteil genoss überregionales, ja internationales Ansehen. Die kulturellen Entwicklungen, Komplexitäten und Wider- sprüchlichkeiten der sogenannten Golde- nen Zwanzigerjahre – besonders in Berlin – spiegeln sich nirgendwo so plastisch wie in dieser Zeitung. Bernhard fand hervor- ragende Mitstreiter, die eine hochqualifi- zierte Redaktion bildeten, welche in brachte das Gefühl vieler auf den Punkt: Deutschland ihresgleichen suchte. So „Wir alle, die wir uns um die Vossische waren im Romanteil Autoren wie Georg Zeitung bemühten, zusammen mit ihren Hermann, Hermann Sudermann, Arthur Lesern einen Gesinnungsbund bildeten, Schnitzler, Jakob Wassermann, Walther wir fühlten uns im Dienst einer Idee und von Hollander, Erich Maria Remarque mit wirkten für sie mit Enthusiasmus, den nur Erstveröffentlichungen vertreten. Beträcht- die Idee auslöst. Jetzt erst sind wir heimat- liches Aufsehen erregten damals auch die los.“ in der Voss veröffentlichten Lebenserinne- rungen von Maxim Gorki. Einer der bril- So wichtig die Vossische Zeitung dem lantesten Mitarbeiter der Vossischen Zei- zeitgenössischen Publikum einst war, so tung war seit 1924 Kurt Tucholsky. bedeutend ist sie in der Gegenwart als Quelle für Ereignisse der Zwanzigerjahre! In den letzten Jahren ihrer fast 300-jähri- Die Recherche in der Datenbank ist gegen- gen Existenz war diese Zeitung nicht nur über der mühsamen Faktensuche im ein echtes Abbild jener Zeit, sondern auch Papieroriginal oder gar im Mikrofilm der eine ihrer hehrsten und tragischsten Re- effiziente und elegante Weg, gezielt nach präsentantinnen. Als sich der Verlag ent- Begriffen suchen zu können und so auch schloss, die älteste Zeitung auf- noch die kleinsten Informationen nach fast zugeben, die viele ihrer besten Mitarbeiter hundert Jahren aus der Gesamtmasse, der verloren hatte und dadurch ein Verlust- „Bleiwüste“ wieder entdecken zu können. geschäft geworden war, starb eine ganze Gewiss, es sind erst nur ca. 130.000 Seiten Epoche. Moritz Goldstein (Pseudonym und über 10.000 Ausgaben aus 16 Jahren INQUIT, Gerichtsreporter in der Nach- – doch der Anfang ist gemacht! folge von Paul Schlesinger alias SLING) BIbliotheks m agazin

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triebsgesellschaft mbH, ein Werbeposter der Firma Siemens zum Tragen. Die Pla- nung der Gerüstwerbung erfolgte in Ab- stimmung mit dem Berliner Landesdenk- malamt; die von den Werbetreibenden zu entrichtenden Gebühren kommen der Staatsbibliothek zugute; mit ihnen soll die Einführung der RFID-Technik unterstützt werden.

KARTOGRAPHIEHISTORISCHES KOLLOQUIUM AN DER BSB

TAPETENWECHSEL Im Rahmen des 15. Kartographiehistori- schen Colloquiums, das u. a. in Zusam- Bis zur Mitte des Jahres 2011 werden die menarbeit mit der Staatsbibliothek zu Ber- Baugerüste von Teilen der Fassade des lin von der Deutschen Gesellschaft für Hauses Unter den Linden der Staatsbiblio- Kartographie in München veranstaltet thek mit großformatigen Werbepostern wurde, fanden am 2. September 2010 in bespannt. Nachdem im Sommer – an der der Bayerischen Staatsbibliothek ein Vor- blickträchtigen und werbewirksamen trag mit einer begleitenden Präsentation „Ersten Straße der Nation“ – erstmals der ausgewählter Stücke aus dem Bestand der südkoreanische Autohersteller Hyundai Kartensammlung und ein anschließender mit einem Plakat, das auf die Fußballwelt- Empfang im Prachttreppenhaus statt. meisterschaft Bezug nahm, für seine Pro- dukte warb, kommt seit Ende September 2010, ausgeführt von der Firma Limes Ver- SCHREIBKALENDER VON 1597

Eine bemerkenswerte Erwerbung auf dem internationalen Antiquariatsmarkt gelang der Abteilung Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin: Ein 1596 in Erfurt von Jacob Singe gedruckter „Alter und Neuer Schreibkalender und Almanach samt Veränderung des Wetters auf das Jahr … 1597“. Der Verfasser, Werner Hartmann, nennt sich selbst einen Schüler von Leonhard Thurneysser zum Thurn. Auch die Gestaltung des Kalenders folgt dem Vorbild der gedruckten Kalender Thurneyssers, der sich schon über früher erschienene Drucke seiner angeblichen BIbliotheks m agazin

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liothek bestätigt, in dem es heißt, dass es heute kaum noch möglich ist, eine der- artige Sammlung in der vorliegenden Fülle zu Wege zu bringen.

40 JAHRE HANDSCHRIFTENABTEILUNG

Am 23. November 1970 bezog die Hand- schriftenabteilung der Bayerischen Staats- bibliothek ihre neuen Räumlichkeiten im Südflügel des Gebäudes in der Ludwig- straße. Damit wurde gleichzeitig der Wie- deraufbau des im Krieg nahezu komplett zerstörten Gebäudes abgeschlossen. Das Schüler nicht erfreut gezeigt und heftig 40-jährige Jubiläum der Handschriften- gegen sie polemisiert hatte. Der Druck ist abteilung im neuen Domizil wurde am dem Bürgermeister, den Räten und der 23. November 2010 mit einer kleinen in- Blick in den Lesesaal der Abteilung Gemeinde von Reval gewidmet. Vermut- ternen Feierstunde gewürdigt. Handschriften und Alte Drucke lich handelt es sich um das einzige in einer deutschen Bibliothek nachweisbare Exem- plar.

DIE „BIBLIOTHEK DER VERBRANNTEN BÜCHER“ IN AUGSBURG

Rechtzeitig zum Tag der offenen Tür der Universität Augsburg am 15. Juli 2010 konnten in der Teilbibliothek Geisteswis- senschaften die neuen Räume fertig ge- stellt werden, in denen ab nun rund ein Drittel der insgesamt 12.000 Bände der sogenannten „Bibliothek der verbrannten Bücher“ allen Interessierten zugänglich ist. SBB-DIGITALISIERUNGSZENTRUM Die Eröffnung der neuen Räume wurde in Anwesenheit des Sammlers Georg P. Nachdem die Staatsbibliothek zu Berlin im Salzmann mit einer Reihe von Lesungen Herbst 2009 in einem provisorischen Digi- gefeiert. Als Quellensammlung in dieser talisierungszentrum im Haus Potsdamer Bestandsdichte gelten die 12.000 Salz- Straße begonnen hatte, die retrospektive mann-Bände nicht nur in Deutschland, Digitalisierung ihrer wertvollen Drucke sondern weltweit als einzigartig, wie u. a. und Handschriften in großem Stil in Angriff ein Gutachten der Bayerischen Staatsbib- zu nehmen, konnten im Haus Unter den BIbliotheks m agazin

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Linden im Herbst 2010 die Räume für das jüdischen Mystik, der Kabbalah, das unter endgültige Digitalisierungszentrum der dem Titel „Sefer ha-Sohar“, Buch des SBB-PK bezogen werden. Mit mehr als Glanzes, berühmt wurde. Als seinen Autor einem Dutzend Scangeräten können groß- darf man Moshe de Leon aus Kastilien an- formatige Vorlagen bis zum Format A0 nehmen. In der Offizin von Zvi bar Avra- wie auch wertvollste Handschriften am ham Kalonymos Jaffe wurde 1623 in Lublin sogenannten Grazer Buchtisch digitalisiert diese dritte Edition (nach jenen in 1558/ werden. Die vor kurzem erreichte Zahl 1560 und Cremona 1559) gedruckt; die von einer Million produzierten Images soll erste Ausgabe somit im Aschkenas. Das in diesem Digitalisierungszentrum in ab- Exemplar hat noch den Originaleinband sehbarer Zeit vervielfacht werden. Die mit lederbezogenen Holzdeckeln, denen umfassende Scannerausstattung wurde mit allerdings die Schließen abhanden gekom- Unterstützung der Deutschen Forschungs- men sind. Randglossen in feiner hebrä- gemeinschaft, aus Mitteln der Erstausstat- ischer Kursive zeugen von fleißigem Stu- tung für das Haus Unter den Linden und dium des schwierigen Texts, zu dessen auch mit eigenen Haushaltsmitteln ermög- Erläuterung sich gelegentlich auch schema- licht. – Die Zahl der von der Staatsbiblio- tische Zeichnungen am Blattrand finden. thek zu Berlin produzierten Images aus Digitalisaten überstieg bereits im August IMPRESSUM 2010 die Marge von einer Million Stück. WERNER STÖTZER GESTORBEN BIbliotheks Mittlerweile werden 4.500 historische m agazin Drucke und Handschriften der SBB-PK als Im Alter von 79 Jahren verstarb am 22. Juli Berlin und München 2011 Digitalisat bereitgestellt. Die Bayerische 2010 der Bildhauer und Zeichner Werner HERAUSGEBER: Dr. Rolf Griebel Staatsbibliothek betreibt in München be- Stötzer. Zu seinen bekanntesten Arbeiten Barbara Schneider-Kempf reits seit 1997 ein Digitalisierungszentrum. zählt die 1961 entstandene, 2,20 Meter REDAKTION IN BERLIN: http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/ hohe Bronzefigur eines Lesenden Arbei- Dr. Martin Hollender (Leitung), Cornelia Döhring, ters im Brunnenhof des Hauses Unter den Dr. Robert Giel, Linden der Staatsbibliothek. Carola Pohlmann, Thomas Schmieder-Jappe, Dr. Silke Trojahn

REDAKTION IN MÜNCHEN: Dr. Klaus Ceynowa, Peter Schnitzlein

KONTAKT IN BERLIN: [email protected]

KONTAKT IN MÜNCHEN: [email protected]

GESTALTUNG: Elisabeth Fischbach, Niels Schuldt GESCHENKT: BUCH DES GLANZES GESAMTHERSTELLUNG: Druckerei Conrad GmbH, Berlin Nachdruck und sonstige Die Orientabteilung der Staatsbibliothek Vervielfältigung der Beiträge nur mit zu Berlin durfte ein großartiges Geschenk Genehmigung der Redaktion. entgegennehmen: die dritte Edition des ISSN 1861-8375 Hauptwerks der hochmittelalterlichen