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5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER 373

5. Die indischen Vratyas - und andere indo- europäische Hunde- und Wolfskrieger

Rudra und Indra, Maruts und gesichtern dargestellt (D.G. White, 94). Der Vratyas - die Hunde-Krieger der Asura-Stamm in Chota-Nagpur in Zentral- indo-arischen Hirtenstämme Indien wird von Chattopadhyaya (56) zu den Nachfahren der Asuras der altindischen Literatur gerechnet: Asuras sind im Grunde In Nepal, aber auch in einigen Ge- die von den Indo-Ariern unterjochten Stäm- bieten in der südlichen Hälfte Indiens, be- me der Urbevölkerung Indiens, dann deren sonders in der Deccan-Region, wird der Gottheiten, die nach ihrer Niederlage dä- Hund verehrt, weil er Begleittier von Hindu- monisiert wurden. Auch der übers Land Gottheiten ist. Indra ist zwar der König der streifende Wind wird als göttlich-dämo- Hindu-Gottheiten, aber er ist zusammen mit nische Gruppe von Figuren vorgestellt, die dem Soma- bzw. Haoma-Ritual auch ein identifiziert wird mit der Meute Indras - in zentralasiatisches, schamanisches Substrat den vedischen Texten werden sie Vratyas, (> 154-5) und schon deshalb eng verbunden manchmal auch einfach Hunde genannt: In mit dem Hund, aber auch mit Hundefleisch- dieser mythischen Vorstellung ist die frühes- Essern. Im Rig-Veda empfängt Indra z.B. ein te Schicht der indischen Tradition des Hun- Opfer von hundert schwarzen Hunden. Eine demenschen aufbewahrt. Man glaubt, auch Erscheinungsform Indras ist der Çunahsakha in den Vratyas (~ Bruderschaft, Verband, (~ der Freund der Hunde): In dieser Form Gruppe; hier: kultischer, kriegerischer Män- wird Indra vorgestellt als kerngesund und nerbund des vorvedischen Indien) die vor- fettleibig (ein Urbild des späteren Budd- arische Bevölkerung Indiens erkennen zu ha?), und der Grund für diesen ausgezeich- können, die sich auf der Deccan-Halbinsel neten Zustand ist in der Tatsache zu suchen, und in den Randgebieten Indiens halten dass dieser Çunahsakha nicht-vedische Ri- konnte. Da diese Zuordnung aber von nicht- tuale praktiziert: Er erscheint als ein nicht- indo-arischen Indern als Diskriminierung brahmanischer Opferpriester im vedischen empfunden wurde, bemühte man sich um Wald, wie wir es bereits in der Çunaçepa- den Nachweis, dass die Vratyas noch in der Sage sahen (> 249-53). Indra-Çunahsakha ist Stammesorganisation mit totemistischen das intensivste Indiz für Indiens indische Clans lebten: vraata sei die Gruppe im Sinn Hundemenschen. Indra ist auch der Herr, je von Clan und vra(a)tyas seien die Mitglieder nach Quelltext manchmal auch der Sohn, dieser Gruppe - sie seien also „rückstän- der göttlichen Hündin Sarama, der Mutter dige“ Indo-Arier (Chattopadhyaya, 168) - der beiden Hunde Yamas. In den pura- und mithin eine extrem frühe Komponente nischen Mythen tritt Indra als Hund verklei- der vedischen, also doch indo-arischen Op- det auf, genauer: mit einem Hundegesicht. ferriten, die mit zunehmender Zentralisie- Auch andere mythische Figuren, die Asuras rung der Regierungsgewalt und gleichzeitig vor allem, die im indo-iranischen Bereich zunehmender Dominanz der brahma- stärker verbreitet sind, werden mit Hunde- nischen Opferpriester an Bedeutung verlor Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 374

374 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

- es ging um eine Entsolidarisierung der Das Fest der vedischen Vratyas ist besonders Clangesellschaft, damit die akephal organi- in seiner zwölftägigen Dauer eine Parallel- sierten Stämme beherrschbar wurden: Das erscheinung zu den römischen Lupercalien (> Reizvolle an dieser widersprüchlichen Her- VI) und zu den zwölf Winternächten des leitung der Vratyas ist die mögliche Er- Odin-Wodan, der mit seinem Totenheer kenntnis, dass sie eben nicht eine rein indo- schwarz (!) gekleideter Krieger zu Pferd durch europäische Erfindung darstellen, obwohl den tiefen germanischen Winterwald galop- sie (auch) in allen indo-europäischen Tradi- piert. Zwischen ihm und dem indischen Gott tionen nachweisbar sind. In der vedischen Rudra gibt es vielfältige Gemeinsamkeiten bis Epoche Indiens fand ein grundlegender kul- hin zur Kopfbedeckung: Als Anführer des tureller Wechsel statt: Die funktionale Tren- Totenheeres trägt Odin einen Schlapphut, nung der priesterlichen und kriegerischen Rudra einen Turban - diese Kopfbedeckung Funktionen in zwei getrennte Kasten. Mit zeigt den Anderen Zustand ihres Trägers an Zunahme des priesterlichen Einflusses wur- und verweist so wieder auf schamanische den blutige Opfer immer mehr verpönt. Die Modelle. Rudra und Odin bzw. Wodan stehen Vratyas waren zwar auch (noch) Priester in nicht nur auf indo-europäischer Ebene in Ver- der Zeit dieses kulturellen Umbruchs, be- bindung: Eine Parallelerscheinung zu Rudra hielten aber die Opfergabe für sich selbst, ist der saamisch-lappische Gott Ruto, der anstatt sie ordnungsgemäß einem Brahma- einen north-eurasian background (Ränk) hat nen zu übergeben. Während die frühve- und von vielen Jägervölkern Sibiriens verehrt dische Literatur (z.B. im 10. Buch des Rig- wird: Über die Rudra (~ Sirius; > 116: Bild- Veda) die Vratyas noch uneingeschränkt po- kommentar) und Ruto gemeinsame rote sitiv darstellt, verachten die späteren Erben Farbe sind beide verbunden auch mit paläoli- sowohl die frühvedische Literatur wie auch thischen Bestattungsritualen, bei denen die Vratyas, denn die Vratyas feierten ihren Ocker die zentrale Farbe war. Rudra (~ der geheimen Ritus in den Wäldern und nicht in Heuler, das schreiende Baby) war der Wilde der Nähe der Siedlungen. Ihre blutigen Op- Jäger im Forst des Atharva-Veda, der wie fer waren Rinder und sogar Menschen, wie Indra Chef der Maruts war, mit denen die ihre immer stärker werdenden brahma- Vratyas identifiziert werden können. nischen Gegner - ganz analog zu Zarathus- tra im Iran - behaupteten. Die Opferfeiern der Vratyas fanden statt im Winter, in der in- Die Maruts dischen Jahreszeit Sisira, also in der dunkels- ten Zeit des Jahres. Die Feiern dauerten sind eine als Junghirtenbund religiös zwölf oder 61 Tage und sollten der Natur überhöhte mobile Räuberbande, die als tan- wieder neue Kraft verleihen, der Hunger zende und singende, auf Instrumenten musi- und die Erschöpfung der Menschen sollten zierende junge Männer vor- und dargestellt vertrieben werden. Vratyas werden angeb- werden. Man bezeichnet sie als Begleiter des lich nur als weiße Hunde vorgestellt (D.G. kriegerischen Götterkönigs Indra - mit ihm White, 96), wie Falk aber nachweist, waren eint sie, dass sie als anonyme Horde und Indra sie und ihr Anführer fast immer schwarz ge- als Individuum die Einzigen sind, die im Rig- kleidet (> 386-7). Da in dem ebenfalls früh- Veda als Reiter auf Pferden bezeichnet wer- vedischen Relikt der „singenden Hunde“ im den; von Indra wird sogar gesagt, er habe sich 2.800 Jahre alten Chandogya Upanishad (> in einem Pferdeschwanz verkörpert (in: Rig- 463-82) ein weißer Hund die Gruppe an- Veda I, 32.12) - da Indra aus einem zentral- führt, wäre zu erwägen, ob nicht die Farbe asiatischen schamanischen Substrat stammt vom Anlass abhängt oder ob die verschiede- (man denke an das hobby horse des Schama- nen Quellen asynchron mit dem Wechsel in nen), wie Thompson belegt, darf man an- der Farbmetaphorik korreliert waren. nehmen, dass er vor der Domestikation des Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 375

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Pferdes sich auch in einem Hundeschwanz Opferung verbindet, wie sie in Griechen- (oder in einem ganzen Hund) verkörpert hat: land der Göttin Hekate an Kreuzwegen dar- In beiden „Schwänzen“ ist offensichtlich das gebracht wurde (> III). Und auch am in- Wesentliche des Gottes repräsentiert - ob dischen Allerseelenfest, vergleichbar den bzw. wie die Çunaçepa-(~ Hundeschwanz)- Anthesterien Griechenlands (> 91-2), wird Sage in diesen Kontext gehört, ist eine span- nende Frage (249-54): Indra lenkt jedenfalls dem Rudra Tryambaka (~ Kuchenopfer!) als Pseudo-Brahmane im vedischen Wald Ro- an Kreuzungen geopfert ..., dem bevor- hita zu Çunaçepas Vater und ermöglicht so zugten Ort der Gespenster und der See- erst Rohitas Lösung aus Varunas Fessel und len der Abgeschiedenen (Kershaw, 108). Çunaçepas Aufstieg. Der Anführer der Maruts wird Hund genannt und gilt als Repräsentant Damit ist ein weiteres verbindendes Detail in des Gottes Indra - mithin ist meine These kei- der Opferung erkannt, das die Maruts und neswegs abwegig, der Gott dieser Junghir- Rudra mit der hündischen Hekate verbindet: tenbanden sei ein Hund(eschwanz) gewesen, Kreuz- und Dreiwege waren wohl lokalisiert bevor er als Indra reduktiv zum Pferde- an den Grenzen von Raum und Zeit, an de- schwanz mutierte. Mehr noch: Der nen wie Hekate auch Hermes, ein weiterer hündisch, aber auch wölfisch konnotierter chariot of the Maruts is pictured as one indo-europäischer Gott, geortet wird (der drawn by dogs (Hopkins, 155). diebische und meineidige Hehler Autolykos (gr. lykos ~ Wolf) gilt als ein Sohn des Hermes, Die Pferde konnten also die Hunde selbst so jedenfalls in der Odyssee (19, 395). Zu den aus pferdigster Funktion nicht verdrängen. Maruts gehören - wie zu ihren Kollegen im Die Autoren des Rig-Veda vereinseitigten Iran - auch Scharen weiblicher Dämonen, ein die ambivalenten Maruts zu lustigen Wet- weibliches Geisterheer, das Kershaw (111) tergeistern, aber die Maruts gelten auch als mit der Wilden Jagd der weiblichen Geister Gefolgsleute des düsteren Gottes Rudra, in Hekates Gefolge, aber auch mit der süd- der im Rig-Veda möglichst in den Hinter- deutschen Perchta und ihren Perchten (> grund gerückt wird. Rudra gilt als Vater der 401-2) sowie mit Holda und ihrer Meute ver- Maruts, und sie werden explizit seine Söhne gleicht. So hält Kershaw für gesichert, dass genannt (McCone, 120). Während Indra als Schützer der Stämme samt ihren Pferden, unter diesen Geisterheeren der indo- Kühen und Streitwagen gilt, also fürs Ge- europäischen Völker auch Horden setz einsteht und somit für die (Re)-Domes- weiblicher Gespenster waren. tikation der männlichen Jugendlichen in- nerhalb ihres Stamms, ist Rudra im Rig-Veda Tiefenpsychologisch spricht einiges für die eine unheimliche Gestalt, die in der nach- Annahme, dass die weibliche Anführerin der rig-vedischen Literatur als grünhaarig (~ in Wilden Jagd bzw. des Wilden Heers älter ist der Tradition des Wilden Mannes?) und in als der erst aus der Mitte der wilden Schar em- ein Tierfell gekleidet beschrieben wird - hier porgewachsene und zum Vorbild solcher We- berührt sich Rudra mit Al-Khidr, dem Grü- sen und zum Hochgott avancierte männliche nen Mann in der 18. Sure des Koran, aber Anführer Rudra oder Indra usw., während die auch mit dem Grünen Wolf Irlands. Wie die weibliche Anführerin von der Hochgöttin zur Rudras - so wurden die Maruts genannt, Dämonin herabgestuft wird. Auch die indo- wenn man sie als Söhne des Rudra dachte - iranischen Pairakas (~ Hexen) und Mairyas (> wurden auch die Maruts zu Halbgöttern er- 188) sind Indizien für weibliche Altersklassen, höht, denen mit abgewandtem Gesicht die zumindest anfänglich als gleichwertig mit Opfer dargebracht wurden (Kershaw, 108), den Initiationsgruppen männlicher Jugend- was sie in diesem Detail mit der Art der licher konzipiert waren: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 376

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Wir haben also den Fall einer Organisa- Kulte in Griechenland und an Heras Hei- tion, die nicht nur aus Männern, son- lige Hochzeit mit Zeus und an die Figur dern aus Werwölfen beiderlei Ge- des Mann mit Hund als Weihegabe für schlechts besteht, Hera (> III)) ... Eine archaische Gestalt ist die „Herrin der Tiere“ ... „Jede ist die bilanziert Przyluski schon 1940 (141) und er- ´große Göttin´, die einer Männergesell- möglicht uns so, Roschers Bemerkungen am schaft vorsteht, ... sie ist die Herrin des Ende des 19. Jahrhunderts über die Kyn- Opfers, auch Hera, auch Demeter (> III). anthropie der Pandareos-Töchter (> VI) in Am engsten ist Artemis mit dem alten den Kontext weiblicher „Amazonen“ zu Jägerwesen verbunden, stellen, denn Przyluski geht noch 1940 wie Roscher 1896 und 1898 ungeniert und un- wie Kershaw (112-3) mit Alföldi, Burkert eingeschüchtert von der Existenz weiblicher u.a. argumentiert und so auch aus ihrer Per- Werwölfe und von deren vor-indo-europä- spektive eine Zeittiefe bis ins Paläolithikum ischen Grundlagen aus, wie ich sie im 1. und eröffnet. Diese weiblichen Gottheiten ha- 2. Band der Kynosophischen Zeitreise bei ben stets einen wilden, gefährlichen Cha- paläomentalen Jägerkulturen vorgestellt rakter, wie Kershaw (113) so vereinseitigend habe. Dazu passt so einschränkend wie be- wie dennoch richtig festhält und ohne Hin- stätigend Kershaws (112) beinahe amazo- weis auf Erich Neumanns tiefenpsycholo- nisches Fazit: gische Erkenntnisse zum ambivalenten Cha- rakter der weiblichen Gottheit etwas zu all- Kulturübergreifend gibt es, obwohl gemein und trotzdem wiederum auch tie- eine Periode strikter Abgrenzung der fenpsychologisch korrekt bilanziert: Jungmannschaft von Frauen zu der Aus- bildung gehört, dennoch Zeiten ausge- Sie sind es, die töten, sie verlangen und sprochener sexueller Freizügigkeit. rechtfertigen das Opfer.

Ja, einige der weiblichen Pendants männ- Die frühe Existenz einer Göttin als Hündin in licher Junghirtenkrieger avancieren gar zu Ägypten (> III: Sothis) ist zwar nur ein Indiz, weiblichen Schutzgeistern, die als Ahnfrauen aber die Bezeichnung des männlichen Sirius die Jungmänner, aber auch die Krieger der als weibliche Maera zeigt einen Wandel an, Erwachsenenklasse beschützen oder gar an- der vor der Patriarchalisierung den Hunds- führen, wie wir dies bereits aus dem vor-isla- stern zumindest auch, wenn nicht sogar vor- mischen Arabien kennen (> IV): Es gibt rangig als weiblich konzipiert erkennen lässt. Wie dem auch sei: Die weiblichen klare Fälle von weiblichen Gottheiten, Scharen im Wilden Ahnenheer - im Iran die die Männerbünde führen. Diana und mairischen Frauen als irdische Repräsentan- Juno waren, bevor sie zu speziellen tinnen der himmlischen Maera - müssen Schutzgöttinnen von Frauen wurden, wohl mit der Patriarchalisierung weiter „Anführerinnen der Jungmannschaf- zurückgedrängt und umfunktioniert wor- ten; sicher war dies der Fall bei der Juno den sein. Die jugendlichen Maruts ahmten Caprotina“ ... Juno war mit den beiden die Rudras nach als eine wilde, ja tollwütige Gruppen der Luperci (> VI) assoziiert ... Schar von Berserkern. Sie mussten in der Die Artemis Orthia war in ähnlicher Initiations-Phase längere Zeit während ihrer Weise mit zwei Mannschaften verbun- Ausbildung wie wilde Tiere (~ Wölfe) im den. Hera muss einmal eine vergleich- Wald leben: Dort starben sie den rituellen bare Figur gewesen sein (man erinnere Tod als Kind, um als Mann wiedergeboren sich an die Hera von Samos als ein Para- in die nächste Altersklasse aufsteigen zu digma für vor-patriarchalische Hera- können. Ab der Nutzung des Pferdes als Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 377

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Reittier muss mit dem Altersklassenwechsel Während aber die Bedeutungsschich- auch die Beförderung vom militärischen ten der Canidae (~ Hund/Wolf) weitge- Status des „altmodischen“ jugendlichen hend offen zutage liegen, ist die Pfer- Fußkriegers zum berittenen Krieger, später desymbolik nur lückenhaft erschlossen. dann zum Ritter mit zunehmender Bedeu- tung der Adelsklasse, einhergegangen sein, Auch dieses Entfaltetsein der caniden Sym- wie eine Szene auf dem Kessel von Gundes- bolik spricht ebenso für ihr höheres Alter trup suggeriert (> 414-21: Abb.). Auch hier wie die Tatsache, dass sich in Griechenland ist ein Hund, manche meinen: ein Wolf (was neben der Bezeichnung Hundsfellkappe in diesem Zusammenhang kein Wider- auch der Hund als apotropäisches Schildzei- spruch ist) exakt auf die Schwelle platziert chen des Kriegers halten konnte (> VI). Für zwischen den Status des Fußkriegers und das höhere Alter und das Beharrungsver- den des berittenen Kriegers. Die in die Wild- mögen hündischer Symbolik spricht auch, nis des Waldes zur Initiation verbannten dass sogar der römische Vexillumträger (~ Jungkrieger werden von „Lehrern“ ausge- Träger der roten Fahne der römischen Feld- bildet, die zu Beginn der schriftlichen Tradi- herren und Admirale) mit Hundsfellkappe tion als „Pferdemenschen“ (in Indien die überliefert ist (> Rheinisches Jahrbuch 27, Gandharven, in Griechenland die Kentau- 1859, Tafel 4/5, N° 10; Beleg in Scholz, 11, FN ren) überliefert werden - vielleicht ein Kom- 11; non vidi). Auch in zahlreichen anderen promiss, denn eigentlich müssten diese im- indo-europäischen Kulturen konnte der mer noch in der Wildnis lebenden älteren Hund bzw. Wolf sich gegen das Pferd be- (Elite)-Krieger in den dörflichen Bereich der haupten, denn im Gegensatz zu „Pferde- berittenen Erwachsenenklassen integriert menschen“ besitzen wir jedoch eine sein. Der „Pferdemensch“ dürfte aber spä- ter auch eine Hommage ans Pferd als reichliche Anzahl von Belegen ... aus- „technologische“ Innovation militärischer schließlich von den Canidae, den ´Hun- Konflikte sein. Dumézil nimmt an, dass demenschen´. Die Kimmerier wurden Gandharven nur Männer werden konnten, von den allertapfersten ´Hunden´ der die während der Rauhnächte zwischen dem Skythen aufs Haupt geschlagen ... Ro- 24.12. und dem 6.1. geboren wurden und mulus wird typischerweise in einem sich daher in dieser Zeit in Wölfe verwan- Wolfsfell dargestellt ... Conaires Stief- deln konnten: Auch das indiziert die beiden brüder und ihr „fian“ zogen in Con- Caniden Hund und Wolf als Vorgänger des nacht (in Irland) wie blutrünstige Wölfe Pferds - und erlaubt, die Komponente Gan- umher, und Finn verwandelte sich in ei- bzw. Ken- von *KUAN (~ Hund) abzuleiten. nen Hund, wenn er seine Haube (~ Dass Pferdemasken später denn Wolfs- bzw. Hundsfellkappe) über den Kopf zog ... Hundeprotome zu datieren sind, zeigt auch Im Iran gab es zweibeinige Wölfe, die der nordische Wodans-Kult an, in dem Pfer- schlimmer als die vierfüßigen waren ... demasken auf etwas anderes als Bären- und Die Daker, ein Kriegerbund, trugen Wolfsverwandlungen verweisen, wie Ker- einen Wolfsnamen (Kershaw, 130-1). shaw (130) bemerkt. Pferdemasken erset- zen also in relativ rückständigen indo-euro- Der o.g. Gegensatz von Dorf und Wald bzw. päischen Kulturen noch nicht die Hunde- Wildnis spiegelt die Abgrenzung des Eige- oder Wolfsmasken, wie ja auch die grie- nen vom Fremden: Jenseits des Dorfes lie- chischen Krieger bei der Bezeichnung gen sowohl die Wälder als auch die Weiden, Hundsfellkappe für den Helm bleiben und während die Wiesen dem Dorfbereich zu- nicht zu einem Helm mit Pferdeschweif geordnet sind. Hirten gehören daher wie wechseln, wie z.B. Wilhelm II. Auch diese Jäger primär nicht zur dörflichen Sphäre. These bestätigt Kris Kershaw (130, FN 225): Dass diese räumliche wie symbolische Tren- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 378

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nung keine rein neolithische Erfindung ist, nämlich in Nord-Afrika wie in Kleinasien: Die haben wir im 1. Band schon bei den Ainu er- Aktion des Hundewürgens selbst dürfte Vor- kannt - sie dürfte wohl schon mit der Bären- bedingung für den Aufstieg zum (Halbjah- Mythologie komplett entwickelt worden res)-König gewesen sein. Der Hundetöter und daher ins Paläolithikum zu datieren war wohl homolog zum indo-europäischen sein. Der Gegensatz von Dorf und Wildnis Drachentöter: Beide erlegen das Tier, von sollte den Gegensatz zwischen Hund und dem Dürre bzw. Hitze verursacht werden - Wolf eigentlich verfestigen - der Wolf sollte vom Drachen, indem er „die Wasser“ fest- als nicht-domestizierter Canide mit der hält, vom Hund, indem er als Sirius die Hitze Wildnis, d.h. mit ´Außerhalb´, Raub - beson- des Sommers ins Unerträgliche steigert ders von Vieh - und Gefahr (Kershaw, 143) (noch in der Hebräischen Bibel gewinnt Elias konnotiert werden, während man eine ein- seinen Wettbewerb mit den Regenmachern deutige Konnotation des Hundes mit dem am Karmel, weil er mit seiner Methode und Dorf erwarten dürfte. Tiefenpsychologisch mit seinem Gott den ersehnten Regen her- gesehen repräsentieren Wolf und Hund den beizaubert). Hundetöter und Drachentöter Konflikt von Anima (~ Seele, Schatten) und waren also (auch) Regenmacher, Fruchtbar- Spiritus (~ Geist) und bekämpfen einander keitsmagier. Doch kommen wir wieder (Jung, 14/1, 22). Aber zurück zu Kandaules, dessen „Name“ aus zwei Komponenten besteht: Kan ist von in der Weltanschauung der Männer- *KUAN abgeleitet und bedeutet Hund, und bünde ´bedeuten´ Wolf und Hund das- dau-les geht zurück auf die Wurzel *dhau (~ selbe, würgen). Während kan für geübte Kynoso- phen relativ stabil bleibt, sind die indo- wundert sich Kershaw definitiv und wir uns europäischen Varianten von *dhau auf den zunächst auch: Zu erklären wäre diese ersten Blick etwas schwieriger zu erkennen. Gleichsetzung mit den „barbarischen“ Kom- Dennoch ergibt das Paradigma Einblicke, die ponenten des ambivalenten Hundes, die be- den Schluss zulassen, dass der Aspekt des sonders bei Tollwut schmerzhaft erfahrbar Würgens in vielen indo-europäischen Män- waren und klassifiziert wurden als hunde- nerbünden von herausragender Bedeutung unspezifisches, eben „wölfisches“ Verhal- war, benannten sich viele Bünde doch in ih- ten, das beim Hund als pathologisch zu ver- rer jeweiligen Sprache just nach dieser Tätig- urteilen war, für den Wolf aber als normal keit: Aufgrund der Lautverschiebungen, die angesehen wurde. Dennoch muss es - viel- im Zuge der selbständigen Entwicklung der leicht nicht überall, aber in den meisten indo-europäischen Sprachen nach der Tren- indo-europäischen Fällen - zumindest zu Be- nung von der Urgruppe stattfanden, sind als ginn den von uns erwarteten klaren kon- direkte Ableitungen von der Wurzel *dhau zeptionellen Gegensatz zwischen Hund und u.a. zu benennen: Wolf gegeben haben. Das ist vielleicht an der Bezeichnung Hundswürger zu erken- Der Name der Daker, eines Volkes in nen, der wir bereits in einem Zusammen- Thrakien, von dem die heutigen Rumä- hang begegnet sind, der u.a. auch typisch nen abstammen, lautete nach Strabo für Jungmännerbünde ist: Der lydische Kan- ursprünglich „Daoi“, das auf die Wurzel daules (~ Hundswürger) wird von Herodot *dhau, ´erwürgen´, zurückgeht, ebenso mit der Königin Kandake (> III, 8-12) assozi- wie das phrygische „dawos“, ´Wolf´ ... iert, und neben allen geographischen Sche- und der illyrische Daunos, der erste Kö- matismen, die man in Herodots Methode er- nig der „Daunii“; außerdem der lat. kennen kann, bleibt doch relevant, dass hier Wolfsgott Faunus und der thrakische ein Hundetöter mit einer Königin assoziiert Kriegsgott Kandaon. Die Daker waren ist - und dies gleich in zwei Weltgegenden, daher ´Wölfe´, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 379

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folgert Kershaw zu Recht und erklärt mit Herodot berichtet, dass die Griechen Eliade, dass wahrscheinlich Jungmänner- den Kandaules Myrsilos nannten; er bünde, die sich mit der Wurzel *dhau be- war der letzte Heraklide, der in Sardes zeichneten, die Bevölkerung fremder Terri- (> VI) regierte. Nikolaus von Damaskus torien unterjochten und ihr ihren eigenen nennt einen Sadyattes als letzten Hera- Namen aufzwangen: Der Name des Män- kliden ... So ergibt sich, dass Kandaules nerbundes als Ethnonym des künftigen, von der sakrale Name des sonst Sadyattes ihnen zu gründenden Staates - die Würger, genannten Königs ist. Als Kandaules ist d.h. die „Wölfe“, repräsentieren das er das irdische Abbild seines Vaters ´Außerhalb´, die Wildnis, und sie würgen die Herakles, „Hunde“, d.h. sie beuten die zivilisierte Sub- stratbevölkerung aus. Da der Wolf als Wür- schließt Kershaw (144, FN 260) und macht ger viele Wolfsnamen prägt, die sich nicht deutlich, dass jeder König in Sardes als Re- vom indoeuropäischen *ulkuos (~ Wolf) her- präsentant des (immer noch) tierischen leiten, kann ich ohne Kershaw (143, FN 260), Stammvaters den Titel Kandaules trug, sich die diese Erkenntnis nur festhält, aber nicht also wahrscheinlich durch das Erwürgen ei- deutet, mit einiger Wahrscheinlichkeit da- nes mit Sicherheit besonders gefährlichen von ausgehen, dass Würger zunächst eine Hundes mit dieser Mutprobe für den Posten Fremdbezeichnung war, gegeben von der des Jünglingsgeliebten der Königin als der geplagten (eigenen oder fremden) Bevöl- irdischen Repräsentantin der Großen Göttin kerung, die damit das kriminelle Element qualifizierte. Indem er den Hund besiegte, der Bünde betonte. Erst später dürfte die übertrug er wahrscheinlich nach paläomen- zoologisch eigentlich gar nicht so wolfspe- taler Logik die Fähigkeiten des Opfers auf zifische Bezeichnung Würger von den Bün- sich selbst und vervollständigte seine bar- den selbst übernommen worden sein. Da barischen Komponenten um die zivilen Ei- der Wolf selbst seine Beute nicht durch Wür- genschaften des „Hundes“: Erst jetzt hat er gen tötet, verweist die Bezeichnung Hunde- sich als geeignet erwiesen, die Rolle des Ers- würger über den zoologischen Wolf hinaus ten Hundes im Staat zu spielen, wie sie noch auf die zweibeinigen Wölfe (> 377 & > VI), von Platon in eben diesem Staat beschrie- die im Schutz der Nacht und schwarz mas- ben wird (> VI) - nämlich den überlebens- kiert ihre Opfer überfielen und erwürgten notwendigen Gegensatz von *teuta (> 413) oder erdrosselten, um alarmierende Geräu- und *koryos zu verinnerlichen und von ihm sche während des Überfalls zu vermeiden. konstruktiv für die Altersklassen der Er- An Hermes (> 428), dem zum Helden über- wachsenen in seinem Gemeinwesen zu ge- höhten Anführer eines Männerbundes, er- stalten. Der Gegensatz von Dorf und Wild- kennen wir diese Taktik wieder, wenn er die nis, von Hund und Wolf zeigt auf der Wür- Herdenschutzhunde austrickst (> VI). Her- gerseite also ein beeindruckendes Para- mes führt wie auch Herakles den Beinamen digma: Besonders nah an der Wurzel *dhau Kandaules - während Hermes „nur“ reale befinden sich die illyrischen Daunii mit Herdenschutzhunde austrickst und er- ihrem mythischen Ersten König, Daunos ge- würgt, würgt Herakles den mythischen Ker- nannt, aber auch die Dauni Apuliens. Auch beros, ohne ihn zu töten: Er bringt ihn der lydische Königstitel Kandaules und auch „nur“ in seine Gewalt - Herakles beherrscht der Name des thrakischen Kriegsgotts Kan- so den Tod, wird dadurch selbst unsterblich daon mit seinen Mannen, Daoi genannt, - und berührt sich so mit einem wesent- sind noch recht nah an der Wurzel *dhau. lichen Kennzeichen der Elitekrieger, die sich Die Deanas in der altenglischen Dichtung ja auch für unsterblich hielten. Und nun Widsith (~ der Weitgereiste) haben sich vo- schließt sich der Kreis zum Thema des kalisch schon etwas stärker von der Wurzel Hundewürgers: wegentwickelt: Das hat eher mit der Zeit- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 380

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tiefe der Aufspaltung der indo-europä- hilft vielleicht den Widerspruch zu verste- ischen Sprachfamilie zu tun als mit der geo- hen, dass die Jungkriegerverbände im graphischen Distanz, denn der altrömische eschatologischen Endkampf gegen den kos- Gott Faunus befindet sich zwar näher am mischen Wolf (auch, wenn auch nicht aus- Apulien der dort Dauni genannten Jung- schließlich) als Anti-Wölfe antreten - lebten würger, hat sich aber konsonantisch ein- und jagten sie doch wie Wölfe in der Wild- deutig am weitesten von der *dhau-Wurzel nis. Die Imitation des Wolfs (wie auch ande- entfernt. Wenn wir uns aber deren erstes rer Beutegreifer) führt zu einer Methode in- Phonem als stimmhaftes englisches th vor- direkten Anschleichens, die in Griechenland stellen, ist der Wechsel zum römischen f z.B. zur Bezeichnung des Männerbund- eher nachvollziehbar. Die Benennung der gottes Apoll als Loxias (~ seitwärts oder Jungkriegerbünde als Würger kann also gewunden, jedenfalls nicht direkt oder ge- nicht erst an der jeweiligen Endstation von rade gehend) führt: Es ist eher die (hinter)- deren „Wanderung“ stattgefunden haben, listige als die „ritterlich“-direkte Kampfme- wie ich eben noch erwogen habe, sie muss thode, die den jugendlichen Männerbund schon zu Beginn der indo-europäischen Ab- kennzeichnet. Aus ihr gehen unmittelbar spaltungen etabliert gewesen sein, sei es als als Methoden zusätzlichen „Broterwerbs“ Fremd- oder vielleicht doch als Eigenbe- Diebstahl, Raub und Mord hervor, die wie- zeichnung. Die eigentlich unzoologische As- derum als originär wölfisches Verhalten ver- soziation des „Wolfs“ mit der Methode des standen werden: Sie imitieren Wölfe, d.h. „Würgens“ verweist auf den Mimetismus sie leben von Plünderungen, bemerkt der der Jungkrieger ans „wölfische“, eben un- römische Geschichtsschreiber Servius zur zoologisch verstandene Modell ihres eige- Überlebensstrategie der Hirpi Sorani, eines nen tierischen Verhaltens. Und die unzoo- mittelitalischen Jungmännerbundes (in: logische Qualität der Zuordnung des „Wür- Kershaw, 126, FN 216): gens“ ist daher irgendwann, wenn Hund und Wolf nicht mehr den gegensätzlichen Der Wolf oder Hund ist das bevorzugte Sphären von Dorf und Wildnis zugeordnet Tier im indoeuropäischen Raum ... Das werden, auch für den „Hund“ möglich; ent- zur Verwandlung verwendete Mittel ist gegnen mag man, dass Würgen auch in- das tierische Fell; es ist selten ein voll- transitiv verstanden werden kann, dass also ständiges Kostüm - und mit hoher der Hund zum passiven Würgen vom Kan- Wahrscheinlichkeit niemals in der daules veranlasst wird, so wie es z.B. von Schlacht, dem „hundewürgenden“ Hermes und der von ihm bei Hunden verursachten Hals- ergänzt Kershaw (129), wobei festzuhalten bräune (~ Diphtherie, Rachenbräune) be- ist, dass das Tragen einer Tierfellmütze als richtet wird. Damit könnte man den unzoo- Verlängerung der eigenen Haartracht und logischen Aspekt retten. Doch bleiben wir als Zeichen besonderen Verbundenseins mit bei der These des Mimetismus, der viel bes- den tierischen Stammeltern auch in der of- ser zur Mentalität der Jungkrieger passt: Die fenen kriegerischen Auseinandersetzung tierische Maske der Jungkrieger kann einer- typisch war: Die griechischen Krieger be- seits als Mimetismus an die Ahnengeister, zeichnen noch den Bronzehelm als Hunds- andererseits aber auch als Anpassung an die fellkappe. Nur als Einzelkämpfer tritt also Jagdbeute verstanden werden, denn der ju- der jugendliche Krieger im weitgehend gendliche Jäger lauert dem Jagdwild wie kompletten Wolfspelz oder Hundefell auf, ein beutegreifendes Tier auf. Auch hier wobei das Protom selten wirklich vollstän- dürfte der Wolf mit seiner arbeitsteiligen dig gewesen sein dürfte, eher genügte die Jagdmethode im Rudel ein wesentliches vordere Hälfte und natürlich die Hunderute Modell geliefert haben. Auch dieser Aspekt oder der Wolfsschwanz, die wahrscheinlich Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 381

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am Gürtel getragen wurden. Das Selbstver- de Pelzgewänder trugen ... andere Mas- ständnis des Einzelkämpfers und getarnten ken bestanden aus Teilen von Tierköp- Raubmörders als einsamer Wolf wird im fen ... oder aus dem ganzen Kopf, wo- Werwolf-Glauben gespiegelt (> VI). Dabei bei das Gesicht des Maskierten aus dem verstehen die jugendlichen Hunde- und geöffneten Rachen herausschaute (> I, Wolfskrieger das wölfische Stehlrecht als 231: Abb. 5.2), wie auf Bildern ... des Naturrecht (ganz wie Wackernagels Hünd- Hades mit seinem ... Hundekopfhelm (> chen aus Bretten; > VI), während natur- 193: Abb. 235 & 3.1; in: Kershaw, 41). gemäß die Bestohlenen das Ereignis als Plage erleben. Die ständige Störung der Er- Die Pelzgewänder sind höchstwahrscheinlich wachsenenwelt durch das Gesetz des weitere zum Maskenkopf komplementäre Dschungels der jugendlichen Banden muss Teile desselben Spendertiers. Neben Wolf, mit zunehmender Sesshaftwerdung der Hund, Bär und Wiesel bzw. Vielfraß oder indo-europäischen Halbnomaden recht Marder als typischen Kriegertieren (die m.E. rasch als kontraproduktiv erkannt worden alle hündisch konnotiert waren; dazu weiter sein, und die Attraktivität monotheistischer unten) gab es noch Pferd, Ziege und Löwe: Reformen wie der des Zarathustra liegt Die Letztgenannten dürften auch chronolo- sicher auch in der zunächst ansatzweisen, gisch zuletzt in den Rang von Kriegertieren dann endgültigen Befriedung der Gesell- aufgestiegen sein - die Ziege mit der Neoli- schaft und der vorbehaltlosen Kriminalisie- thisierung, das Pferd hauptsächlich mit seiner rung der Jugendkriegerverbände, der eige- späten Domestikation und der Löwe mit den nen wie den Verbänden der anderen Stäm- Wanderungen in südlichere Regionen, in de- me. Aber anders als in Afrika (> II) dauerte nen er sich z.B. als ur-mah (~ großer Hund; > die indo-europäische „Initiation“ in die Ge- IV) an die Stelle des Hundes schieben konn- sellschaft der männlichen Stammesangehö- te. Ebenso ist der Wolf im Sumerischen der rigen, und zwar aller, die jemals gelebt ur-bar-ra (~ der Hund der Außenseite ~ der haben (Kershaw, 40), wesentlich länger, Wildnis, denn bara bzw. barbaru bezeichnet manchmal erstreckte sie sich über Jahre. wie das aus dem Akkadischen entlehnte grie- Und der chische barbaros den Fremden im Gegensatz zum Einheimischen): Der Wolf als barba- endgültig Initiierte existiert gegenüber rischer Hund. Eine orientalisierende Phase in dem Uneingeweihten in einer gestei- der griechischen Geschichte führte dazu, dass gerten Wirklichkeit. Sein physischer Tod auch hier der Löwenkopf als Maske des He- ist bedeutungslos (Kershaw, 40). rakles die Hundsfellmütze des Vorgänger- helden ablöst (obwohl der Löwe in der Fau- Dieser „Todesmut“ bzw. diese Todesverach- na Griechenlands bis zum -7. Jahrhundert tung, deren Träger man heute in nur ganz nachweisbar sein soll; > 386: Abb. 11). Es leicht verschobenem Kontext irrtümlich kann also durchaus sein, dass Herakles einen „Selbstmordattentäter“ nennt, verdankt vor-griechischen Gott der Jugendbanden be- sich in früherer Zeit nicht nur dem Kult der erbt, indem er dessen Löwenkopfmaske unsterblich toten Ahnen, sondern auch dem übernimmt - dann aber fehlten einige Jahr- Tragen der Maske, die die Ahnen repräsen- hunderte der Überbrückung bis hin zum tiert: löwenköpfigen Herakles. Wiesel- und Viel- fraßkrieger (> 108-11) sind den Wolfskrie- Aus Skandinavien besitzen wir Darstel- gern ähnlicher als ihren Kollegen von der lungen von Kulttänzern, die sehr realis- Löwen- oder Pferde- oder Ziegenzunft (Al- tische Wolfsköpfe (nach Otto Höfler földi, 1974, 37), was ebenfalls für die hün- (1940, 110) sind es Hundeköpfe; > I, 42: dische Konnotation von Wiesel und Vielfraß Abb. 11) und bis zu den Knien reichen- spricht. Der Lar (~ die gutwillige Variante des Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 382

382 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Ahnen im vor-augusteischen Rom) wird auf Bronzestatuetten dargestellt mit einer Fell- mütze, die aus Hundefell gewirkt war:

Die große Masse der auf uns gekomme- nen Larenbilder reproduziert ja mit er- müdender Gleichförmigkeit immer wie- der die harmlos zierlichen Typen der au- gusteischen Zeit; die delischen Bilder, bestätigt durch campanische und durch einige wenige Bronzestatuetten von La- res pilleati (~ eine Fellhaube tragende Laren; > rechts), veranschaulichen eine ältere Vorstellung. Man darf daraus schließen, dass der Pilleus auch an den Compitalien (~ Fest der Lares compitales ~ die Laren der Scheidewege) getragen worden ist ... Und weiter: war dieser pil- leus-galerus (~ Fellhaube, spitze Fell- Bronzene Larenstatuetten mit Pilleus (links im Louvre, mütze; auch Kopfbedeckung römischer rechts aus Italien).„Beide trugen wohl in der erhobenen Priester, angefertigt aus dem Fell des Hand ein Rhyton (~ Trinkhorn),in der gesenkten eine Pa- Opfertiers) wirklich ... ursprünglich eine tera (~ Opferschale).Der Pilleus (~ Filz(kappe),von Freien ge- Tierkopfhaube, so erhält nun ein merk- tragen: „Servos ad pilleum vocare“ ~ zum Kampfe um die Frei- würdiges, stets mit einigem Misstrauen heit herbeirufen) der Figur links bedeckt den ganzen Hin- betrachtetes Zeugnis neues Gewicht. terkopf und fällt bis auf die Schultern; ob der Pilleus der Die Lares praestites (~ schützende La- Figur rechts etwa unvollständig erhalten ist, lässt sich ren), sagt Plutarch, hatten einen Hund aus der Abbildung nicht erkennen ... es ist zu erwägen, neben sich und waren selbst mit Hunde- ob nicht die auffällige Haartracht vieler Larenbilder als fellen bekleidet. Der Hund erscheint Nachklang des Pilleus zu verstehen sei: eine reiche, das wirklich schon bei alten Kultbildern der ganze Gesicht umrahmende und bis auf die Schultern fal- Lares praestites in Rom sowie auf einer lende Lockenfülle, die sich oft über der Stirn besonders Münze vom Ende des zweiten Jahrhun- hoch erhebt“;eher ist wohl an die Imitation einer Hunds- derts vor Christus (Meuli 1975, 1, 271). fellkappe als Frühform des Helms zu denken - das könn- te implizieren, dass die frühen römischen wie grie- Bleiben wir noch kurz bei den Compital- chischen Junghirtenkrieger und somit zumindest ein Laren und fragen mit Meuli nach ihrem Ver- großer Zweig der indo-europäischen Familie sich mit hältnis zu den Lares familiares: dem Hund als tierischer Erscheinung des Junghirtenkrie- gergottes identifizierten; interessant ist auch die Analo- Unsere Compitallaren mit dem pilleus- gie in der Armhaltung mit der neubabylonischen Figur galerus mögen ursprünglich ähnlich wie „Mann mit Hund“, die vielleicht den Hund als Ahnengott der wolfsbehelmte etruskische Hades über den indo-europäischen Rahmen ausdehnt (> III,148- ähnlich wie die Luperci ausgesehen 62; dort besonders > 160-1: Abb. 196 & 197). Bild & Zitat in: haben, und wenn ursprüngliche Wolfs- Meuli, 1975, 1,Tafel 25 & S. 281-2. oder Hundegestalt (beides kommt aufs gleiche hinaus) für die einen angenom- dem Fall zeugt schon die Tierkopfhaube men werden muss, so auch für die an- nicht weniger bestimmt als die Tierge- dern. Wie diese Hundegestalt zu verste- stalt für Herkunft aus dem Geisterreich hen wäre, liesse sich wohl genauer aus- der Toten ... Wie bei den Laren und La- machen (ein Fall für Kynosophen); in je- renverehrern der Compitalia sind galeri, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 383

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galearia (~ Spitzhauben, spitzhauben- römische Flurgöttin die Personifikation ähnliche Kopfbedeckungen) auch bei der Stadtflur und ihres tellurischen Se- den Luperci anzunehmen; für die ... gens und nach der Sage Gattin des Hirten sagenhaften Verbindungen der Laren Faustulus, die den Romulus und Remus mit Romulus und den Luperci sowie mit genährt und erzogen haben soll (eine Herkules ist das nicht unwichtig, Analogie zur hündischen Amme spako, die Kyrus aufgezogen hat) ... Sie gilt auch meint Meuli (1, 275 & 229) und eröffnet uns als Mutter der zwölf Arvalbrüder (arvalis Kynosophen bedeutende Querverbindun- ~ zum Saatfelde gehörig; daher Fratres gen, die auf ein eher hündisches denn wöl- Arvales ~ die Arvalbrüder), ein Kollegium fisches, jedenfalls canides Urbild schließen von zwölf Priestern, an deren Spitze ein lassen, das so unterschiedlichen Figuren wie Magister stand, der Sage nach schon von Romulus, Herkules und Lar gemeinsam ist. Romulus seiner Amme Akka Larentia zu Auch Kris Kershaw (143, FN 259) schließt sich Ehren eingesetzt. Ihre Würde war lebens- - wie Meuli - dem alten Plutarch vorbehalt- länglich und verblieb selbst denen, die im los an und meint 2.000 Jahre später auch: Exil waren. Sie kooptierten sich selbst den Magister auf ein Jahr an den Saturnalien; Das Tier, das z.B. den „Lar praestes“ be- einer war Flamen (~ Eigenpriester; analog gleitet, ist sicher ein Hund und kein Wolf. zum Brahmanen), der mit dem Magister das Opfer vollzog. An den Iden des Mai Dieser Hund repräsentiert als tierische Er- hielten sie, das Haupt mit einem Kranze scheinungsweise des Lar Praestes die zivile von Ähren ... und einer weißen Binde ... Komponente der Alt-Römer: Ein Lar ist die geschmückt, capite velato (~ mit ver- vergötterte Seele eines Verstorbenen, die schleiertem Haupt) unter Absingen eines Haus, Hof und Familie schützt; ein Lar praes- Liedes ... einen Umzug um die Felder (vgl. tes (Plural: Lares praestites; praestes im Sin- den Umlauf mit Hund > II) in den Grenzen gular ~ schützend) ist also zunächst nur ein des ältesten Weichbildes von Rom, um Pleonasmus, dann aber eine Intensivierung Fruchtbarkeit von den Göttern und Scho- der Bedeutung, da die Lares praestites nicht nung der römischen Felder von Mars ins- mehr nur Haus, Hof und Familie schützen, besondere zu erflehen. Ihr zu Ehren wur- sondern im römischen Verständnis die Stadt, de von den Römern im Dezember ein Fest die proto-römisch sicher noch als Dorf kon- gefeiert, Larentalia oder Accalia genannt. zipiert war. Das ´Dorf´ aber befindet sich Wahrscheinlich ist die Acca Larentia aus konzeptionell mit dem Hund im Gegensatz der tuskischen Religion in die römische zur ´Wildnis´, in der die Jugendbanden ihr Mythologie gekommen (in: Georges, Überlebenstraining absolvieren, indem sie Lateinisch-Deutsches Wörterbuch). sich mit dem Wolf identifizieren. Dass die Wölfin zum Symboltier Roms aufsteigen Die Bitte um Schonung der Felder ist dop- konnte oder musste, dürfte wohl an der Glo- peldeutig: Mars möge die Felder schützen rifizierung und Beibehaltung räuberisch- oder er möge sie verschonen. Da von Geor- imperialistischer Praktiken liegen, die sicher ges u.a. die altrömische Göttin Luperca mit ihren Anteil am Zustandekommen des der Acca Larentia identifiziert wird, ergibt Römischen Reiches haben. Da die Lares eine sich ein Spannungsverhältnis zwischen den Mutter haben, die wahrscheinlich mit der wölfischen Eigenschaften der Luperca (~ die Acca Larentia bzw. Acca Larentina gleichzu- Wölfische) und dem hündischen Verhal- setzen ist, dürfte die tierische Erscheinungs- tensrepertoire der Acca, das sich nur als die weise der alt- oder protorömischen Ah- zwei Seiten einer Medaille begreifen lässt: nengöttin eine Hündin gewesen sein. Acca Die Ambivalenz des Canis wird je nach Be- Larentia (~ die Larenmutter), ist als die darf hündisch oder wölfisch vereinseitigt. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 384

384 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Der tierische Stammvater der zivilisierten Die Alten selbst identifizierten die La- Römer war also der Hund und der Wolf, was ren mit den „manes“, den Ahnen ... man durch eine sumerische Analogie erläu- „und zwar Seelen guter Menschen, zum tern könnte: Dort war der Löwe als großer Unterschiede von den Larven und Le- (wilder?) Hund konzipiert - der Wolf wäre muren, den unruhigen, spukhaften demnach im Alten Rom ein wilder Hund. Geistern und Gespenstern der Bösen, Dann war die Römische Wölfin (> VI) nur die Unseligen“ ... auch die Maruts etwa re-barbarisierte Hündin in vollkommener sind klar von den anderen Rudras, den Entsprechung zu den ebenfalls re-barbari- spukenden Geistern geschieden ... sierten Junghirten um Remus und Romulus: Beide - „Wölfin“ wie „wölfische“ Junghir- Der Lar wird (als Lar familiaris) am hei- ten - repräsentieren den von seiner Ambi- mischen Herd zusammen mit der Vesta valenz zu seiner barbarischen Komponente (~ römische Göttin des Feuers, die an- vereinseitigten Hund: So erscheint Mars als derswo als Herdgöttin auch die Göttin Kriegsgott und Gott der Krieger im Kontext der Ahnen ist; > I) und den Penaten ver- der erwachsenen Krieger eher hündisch und ehrt, aber sein wichtigster Kultplatz ist in der Assoziation mit den Jugendkriegern an Grenzen und Wegkreuzungen (Lar um Remus und Romulus eher wölfisch - und compitalis und Lar vialis) ... Zu anderen Mars als Wolfsgott sandte natürlich Zeiten bewacht der Lar compitalis die Felder, und jedes Feld hat seinen Lar. eine Wölfin, um die Zwillinge in der Der Lar militaris, der dämonische Wolfshöhle des Palatin, dem Lupercal, Schutzherr des Schlachtfeldes, wird als zu säugen. Als sie in dem Alter waren, speertragender Jüngling ähnlich den da sie der Amme nicht mehr bedurften, Dioskuren porträtiert, aber in ein Hun- wurden sie von einem Hirten namens defell gekleidet und von einem Hund Faustulus oder Faustus gefunden, des- begleitet (Wissowa, 171; in: Kershaw, sen Name auf einen anderen Wolfsgott, 41, FN 37 & 103-4). Faunus (> *dhau ~ (wölfisch-hündischer Würger; > vgl. Kandaules), verweist. Er Dass auch der das Feld bewachende Lar - brachte sie nachhause zu seiner Gattin ganz wie seine an anderen Grenzen und Acca Larentia, der Mutter der „fratres Kreuzwegen wachenden Kollegen - vom Arvales“ (Kershaw, 145). Verhaltensrepertoire her hündisch konzi- piert ist, bedarf keiner weiteren Beweis- Ist es nur klangassoziative Scheinlogik, die führung, man denke nur an Hekate (> III), Arvales mit den Aralez der Armenier (> VI) die besonders an Dreiwegen und Haus- zu assoziieren und beide auf ein gemein- eingängen geortet wird, und an Hermes, sames indo-europäisches Urbild zurückzu- der ebenfalls bemerkenswerte Beziehun- führen? Die wölfisch konnotierten Zwillin- gen zu Grenzübergängen und Hunden un- ge Remus und Romulus sind jedenfalls die terhält (> III). Dass auch der militärische Lar deutlich jüngeren Ziehbrüder der Arvales- als Hund und nicht als Wolf konzipiert ist, ist Brüder: Spaltet sich hier im frühen Rom der zu erklären aus dem Kennzeichen des mi- den indo-europäischen Stämmen inhärente litärischen Verbands: Es handelt sich um das Widerspruch auf zwischen barbarisierten staatlich organisierte Militär und nicht um Jugendkriegern, die mit ihrem Stehlrecht die Guerilla-Banden der Junggesellenbün- auch im eigenen Stamm eher kontrapro- de. Hund und Wolf sind also in diesem Kon- duktiv wirken, und den die eigenen Felder text als Symboltiere der offiziellen Armee schützenden und hündisch konnotierten bzw. der Geheimarmee gegensätzlich kon- Arvales-Truppen der erwachsenen Krieger- zipiert, und den römischen Kriegsgott Mars klasse? darf man wohl Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 385

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einen zum großen Gott emporgewach- wie Kershaw ergänzt und so meine - man- senen Lar militaris nennen, den einsti- che Leser erschreckende - Analogisierung gen Führer der kriegerisch gerüsteten von indo-europäischen Zeremoniellen mit Seelen, wie Odin Führer der Einherier (> analogen, manchmal sogar homologen 190-1; 216) ist, amerikanischen oder afrikanischen Varian- ten über Zeit und Raum hinweg dem Vor- bilanziert von Schroeder bereits 1908 (in: wurf der Willkür entzieht (oder ihn sich zu- Kershaw, 104). Hund und Wolf sind aber im zieht). Doch kommen wir nach diesem An- Kontext der Ahnen nicht immer gegen- fall von Genugtuung wieder sätzlich aufgefasst, sondern manchmal kom- plementär, wenn nicht sogar in manchen Si- tuationen deckungsgleich konzipiert: zurück zur indischen Variante

In der Weltanschauung der Männer- der scheinbar rein indo-europä- bünde ´bedeuten´ Wolf und Hund ischen Jungmännerbünde, deren Tradition dasselbe. Wo wir einen klaren Gegen- tatsächlich wohl vor-indo-europäisch ist: Ru- satz wie den von Dorf und Wald erken- dra ist der Schutzpatron der Diebe und Räu- nen (> I, 168: Abb. 11 b), erwarten wir ber, womit auch und besonders die Jung- vermutlich, den Hund dem ersteren, hirten gemeint sind, die sich von ihrem den Wolf mit seinen Konnotationen Stamm absondern - sie haben ein eindeuti- von ´Außerhalb´, Raub - besonders von ges „Stehlrecht”: Rudra steht also für die Vieh - und Gefahr, dem letzteren zu- Entdomestikation der männlichen Jugend- gehörig zu finden. Stattdessen bemer- lichen über die Stammesgrenze hinaus. Im ken wir, dass beide in ihrem Kampfgeist Sulagava-Opfer wird Rudra das beste Rind gleichwertig sind - Odins Krieger sind der Herde dargebracht, indem man es auf ´rasend als Hunde oder Wölfe´, stehen einem speziellen Platz tötet. Alle Teile ver- im selben Verhältnis zum Tod und wer- bleiben am Opferplatz: Mit dem Opfertier den mit denselben Göttern verbunden erkauft man sich Gesundheit für den Rest (Kershaw, 143). der Herde und die eigene Familie. Da die Vratyas nicht von Rudra und dessen Heer - Hundemaske wie Wolfsmaske bewirken den Rudras - zu trennen sind und - wie Ru- (neben berauschenden Getränken wie dra - mit ihren Opfern eine gewisse Verant- soma und haoma usw. ) also dieselbe Eksta- wortung für das Wohlergehen der Rinder se und existentielle Steigerung: übernehmen, könnte man schließen, dass in älterer Zeit die Rudras in Form von Die Maske zeigt, dass ihr Träger ein dä- menschlichen Bünden bei den Viehzüchtern monisches oder übernatürliches Wesen auftraten und sie gegen Schutzgeld gegen ist. Er ist nicht mehr er selbst: Er ist ein ähnliche Bünde verteidigten. Das wäre aber Ahnherr (Kershaw, 41). zu eindimensional gedacht, denn diese Bün- de ersparen dem Viehzüchter die Sünde, Maskenbrauch wurzelt, wie Meuli (1975, 1, selbst ein Opfertier töten zu müssen, indem 275) erkennt, im Totenglauben und im To- sie ihm das Opfertier scheinbar rauben und tenkult und ist es für ihn töten (Falk, 65). Eine indo- europäische Rudra-Parallele ist der alt-ira- eines der faszinierenden Phänomene, nische Gott Aesma: Seine Verehrer haben die auf der ganzen Welt bei Völkern die gleichen Riten wie die vedischen Vra- nachweisbar sind, die Zehntausende tyas. Auch zu Aesmas Kult gehört das von Jahren hindurch keine Verbindung Schlachten von Rindern: Aesma erhält den zueinander gehabt haben können, Stier und wendet dafür den Tod der rest- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 386

386 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

lichen Tiere der Herde ab. Ein „Heer“ zweifüßiger „Wölfe” (> 210-3) dient dem Aesma und, indem es ihn zufriedenstellt, auch dem opfernden Viehzüchter: Diese „Wölfe” sind sowohl des Menschen Wolf als auch seine Helfer. Auch im germanischen Bereich wird dem Wilden Jäger einmal im Jahr ein Rind geopfert, meist um die Win- tersonnwende, dann holen sich das Wilde Heer oder die „höllischen Hunde” ein Rind: Der Zweck ist Freikauf des Spenders vom Tod für Mensch und Hausvieh. Dazu wird häufig die beste oder schönste Kuh ge- opfert (Höfler, 121-26). Hauptaufgabe die- ser Bünde ist es, mit diesen „Opfern” die Fruchtbarkeit von Herde und Land zu si- chern. In Indien und Iran und in Europa nah- men sich Spezialisten im Dienst eines Gottes auf dieselbe Art und Weise der Opfertiere an: Das verweist auf eine gemeinsame Basis Herakles als Schnittpunkt des Schamanen, des Jung- vor der indo-europäischen Trennung in ver- hirtenkriegers (> 418) und des Wilden Mannes (Rotfigu- einzelte Stämme und Völker. Der Anführer rige griechische Amphore; um -480). In:Bartra,35,Fig.11. der Vratyas und diese selbst tragen ein Klei- dungsstück aus schwarzem Stoff, die Farb- wahl zeigt seine Verbundenheit mit der onymisches Nomen) der griechischen Krie- Sphäre des Todes und eine patriarchalische ger konnte später aus Rinds- oder Ziegen- Farbmetaphorik an. Schwarz trugen auch leder und aus Marderfell gewirkt sein: die alt-iranischen Aesma-Verehrer. Außer- „Hundsfellkappe“ hieß sie dann immer dem tragen die Bruderschaften Wolfspelze, noch. Felle galten auch im Alten Indien nie weil sie sich in Wölfe verwandeln, und wenn als Kleidungsstücke des Alltags, und so las- Wolfspelze nicht verfügbar waren, verwen- sen sich die Felle als äußere Zeichen der Ver- dete man in einigen Gegenden Schaffelle, wandlung in ein (Raub)-Tier deuten (vgl. > woher wahrscheinlich der Spruch vom Wolf III, 596: Abb. V, 4 & > VI): So wird das Fell im Schafspelz stammt. Auch bei den rö- zum Protom bzw. zur Protome. Standen Fel- mischen Lupercalien findet man Bocksfelle, le nicht zur Verfügung, so trug man ausge- mit denen die Luperci (~ Wolfsmenschen) franste Kleidung, die in diesem Fall das Fell bekleidet sind, was Höfler (64, FN 231) er- imitiert und als solches Wildheit und Miss- klärt mit der Schwierigkeit, sich Wolfspelze achtung der Gesetze einer zivilisierten Ge- zu beschaffen. Auch die Anführer der ent- sellschaft ausdrückt (Falk, 23). sprechenden Burschenschaften der Wikin- ger wurden ebenfalls „Hunde“ genannt, obwohl sie Rentierfelle trugen (Falk, 21), Vor-indo-europäische Parallelen vermutlich nur aus Not und ersatzweise, denn der Bug der Wikinger-Schiffe endet in finden wir bei den Nootka- und Kwakiutl- einem „Drachen“-Kopf mit Nüstern, Zäh- Indianern (> I) im Nordwesten Nord-Ameri- nen und gerundeten Ohren des Hundes, kas. Bei den Nootka gibt es das Wolfs-Ritual, nicht des Rentiers. Auch die zuerst aus Hun- veranstaltet von der Wolfsgesellschaft Klu- defell gefertigte Kappe (ursprünglich als kwanna (W. Müller, 1981, 231). Auch die Ini- Adjektiv kúnen ~ hündisch, dann als met- tiation in diesen Männerbund heißt Klu- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 387

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Konzeptionelle Vorläufer des Werwolfs? Oben: Diese Fels- gravierung von Besso-Noss am Onega-See in Russland zeigt einen Schamanen mit Wolfsmaske und Trommel hinter einem Rentier.Die indo-europäischen Junghirten- krieger tradieren die Wolfsfell- und die Hundsfellkappe mit Ohren als schamanisches Erbe. In:Lommel,175.Rechts: Bemalte Tiermaske eines Schamanen des Kwakiutl- Stammes: Die Maske wurde beim Hamatsa-Zeremoniell der Kwakiutl getragen (Vancouver/Kanada, 1880 bis 1900): Auf den Kopf der Wolfsmaske des Schamanen ist der Schädel seines Opfers gesteckt. Die Tiermaske kann geöffnet werden und zeigt dann ein menschliches Ge- sicht und so die Doppelnatur (> 373: Abb.) ihres Trägers: Mensch und Tier zugleich zu sein. In: Lommel, 91,Abb. 25.

kwanna und findet um den 21. Dezember Wasser ausgelöscht (> I, 505 & 517). Die Klu- zur Wintersonnwende statt. Die Bedeutung kwanna nehmen den Initianden mit und von Klukwanna ist nach W. Müller einen verschwinden mit ihm im Wald: Schatz finden, weil das Wort angeblich mit dem gleichbedeutenden tlugwala der be- Unter allgemeinem Gejammer zer- nachbarten Kwakiutl zusammenhängt. Mir streuen sich die Leute in ihre Häuser, wäre lieber, man fände eine Entsprechung rasseln mit den Klappern und stimmen zu „klu-kwan-na“, dann ginge die Bezeich- Gesänge an, um die Wölfe fernzuhal- nung nämlich auf die Wurzel *KUAN (~ ten. Am anderen Morgen erscheinen Hund) zurück. Jedenfalls gewinnt man bei die Kinder an einer bestimmten Stelle, den Nootka einen geistigen Schatz durch Ini- wo man sie vom Dorf aus sehen kann, tiation in diesen Bund, weil man Anteil er- mit geschwärzten Gesichtern und im hält am geistigen Besitz ihrer Gesellschaft Schmuck von Tannenzweigen. Die Leu- (W. Müller, 1981, 232). Es würde hier zu weit te versuchen, sie aus der Gewalt der führen, das mehrtägige Initiations-Fest de- Wölfe zu befreien, es misslingt aber. tailliert zu schildern (> W. Müller, 231-3). Für Nun bringen die Wölfe die Novizen ins unsere Zwecke genügen folgende Einzel- Festhaus, wo sie in halber Abgeschlos- heiten: Die Mitglieder der Gesellschaft mas- senheit bleiben. Am Abend beschnüf- kieren sich zum Fest mit schwarz bemalten felt (~ Beatmung? Einhauchen anderen Gesichtern und einer umgehängten Decke, Lebensodems?) ein Wolf die Initianden, die vor dem Gesicht wie eine Wolfsschnau- sie werden vom Wolfsgeist befallen, ze gefaltet gehalten wird, nur der oberste d.h. sie verwandeln sich selbst in Wölfe Wolf trägt eine Holzmaske (> oben rechts). und benehmen sich wie geistes- Beim Einbruch der Wölfe ins Elternhaus des abwesend und wie halb Ohnmächtige Initianden wird das Feuer mit einem Eimer (W. Müller, 1981, 232). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 388

388 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Man vergleiche mit der Initiation des stin- truktiven Tendenz nicht mit der ganzheit- kenden Hundes in Afrika (> II, 589). Ähn- lich-schamanischen Tradition legitimieren. liche Szenen wie am ersten Tag folgen in Wer das Fell trug, ließ sich den Bart wachsen den nächsten Tagen. Am vierten Tag gelingt und vermied Körperpflege. Man(n) verdeut- es nach dem vierten Versuch, die Kinder aus lichte so im germanischen Bereich (s)eine der Gewalt der Wölfe zu befreien, denn Widmung an Odin-Wodan. Der Bärenhäuter im Märchen, der sich nicht kämmen und die beim vierten Mal sind die Wölfe so weit Haare schneiden darf, gehört auch in diesen ´gezähmt´, dass der Fang der Novizen Kontext - wie auch die hundsköpfigen We- gelingt (W. Müller, 1981, 233). sen bei den Südslawen, die angeblich voll- kommen behaart und meist auch noch Der Bericht über dieses Ritual kann lo- einäugig wie Wodan sind (Kretzenbacher, gischerweise nichts davon erzählen, was mit 22 & 87). Während jedes Mitglied der Ju- den Kindern im Wald geschieht - der My- gendbande so zum stinkenden Hund wird thos springt hier ein und füllt die Lücke: und sich ungezügelt und lüstern der Laune des Augenblicks hingibt, repräsentiert der Die Novizen werden in die Wolfshöhle Anführer der Vratyas hingegen das unter- am Fuß der Berge geschleppt, dort ´getö- drückte Leben, die Nichtentfaltung und den tet´ (in einem Fall durch den Anblick ei- Tod, denn er darf während des Vratya-Fests ner todbringenden Keule) und wieder weder Fleisch essen noch sich mit Frauen ein- zum Leben erweckt ... alle Kandidaten lassen (Falk, 28). Die 61-Tage-Variante des erfahren im Wald jene Urweihe, der sich Vratya-Fests fand über die gesamte Jahres- in mythischen Zeiten der erste Kandidat zeit Sisira statt (das alt-indische Jahr hatte unterzogen hat. Sie werden sterbend sechs Jahreszeiten zu ca. 61 Tagen), während zum Wolf und erwachen als neugebo- die kurze zwölftägige Variante außerin- rene Menschen (W. Müller, 1981, 233). dische Parallelen hat, die kalendarisch an den zwölf Tagen zwischen St. Stephan und Dieser erste Kandidat muss ein Schamane Dreikönige stattfinden. Für diese kurze gewesen sein, mindestens aber das Modell für die Nootka-Schamanen - das Motto der 12-Tage-Variante, Veranstaltung: Stirb und werde. Das scha- manische Erbe der indischen Vratyas wird eigentlich sind es zehn Nächte, wird in der auch transparent, wenn wir von den sibi- indo-europäischen Frühform des Fests ein rischen Schamanen erfahren, dass sie sich in Menschenopfer rituell verspeist: Die Ver- ekstatischen Tänzen wie das Tier gebärden, ehrer des Zeus Lykaios (~ wölfischer Zeus) im das vom Fell und der Kopfbedeckung des griechischen Arkadien (> VI) aßen Men- Schamanen dargestellt wird: schenfleisch, um die Wolfsverwandlung zu bewirken, und bei den römischen Luperca- Der Grenzübergang zwischen Tier und lien bestrichen sich die Vertreter der beiden Mensch ist in der atavistischen Tradition Gruppen die Stirn mit Blut (Alföldi, 100): Das der Jägerzeit schwach markiert; viel- Trinken von Blut schaffte nicht nur in Rom ei- mehr besteht eine enge Verbindung ne Blutsbrüderschaft - gemeinsames Trinken und Durchdringung beider Sphären von Blut gehörte zum Initiationsritual aller (Lommel, 175). Werwölfe (Höfler, 146). In Kärnten und in Russland glaubte man, die Hundsköpfigen Es ist also in der Tat ein vor-indo-europä- liebten es, Menschenblut zu trinken (Kret- ischer Atavismus, der von den indo-europä- zenbacher, 15, 116, 121). Die Feiern in den ischen Jugendbünden praktiziert wird, und Zwölften bewirkten also, dass die Mitglieder er kann sich in seiner vereinseitigten des- der Gemeinschaft über ein Menschenopfer Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 389

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und den Genuss von Blut oder Fleisch zu 61-Tage-Variante „Blutsbrüdern” wurden, die sich durch ihr Verhalten in Wölfe verwandelten. Beson- klarere kynologische Merkmale: Da wäre zu- ders im germanischen Kreis ist häufig der erst die Dauer des Fests zu nennen, die sich Glaube überliefert, rohes Fleisch zu essen ziemlich genau deckt mit der durchschnitt- und Blut zu trinken verleihe außerordent- lichen Trächtigkeitsdauer einer Hündin. Als lichen Mut und Kraft (Alföldi, 148). Gerade stärkeres Indiz ist der Name der Jahreszeit durch den Genuss von rohem Tierfleisch und von Bedeutung, denn Sisira ist fast identisch von Menschenfleisch - sollte der Hund als Ex- mit dem Namen des Rüden, der der Gemahl karnator nachgeahmt werden? - unterschei- der göttlichen Hündin Sarama ist (> 156-9): det sich der initiierte „Hund” nicht nur der Sein Name ist Sisara. Das dritte Indiz ist der indischen Vratyas von anderen Fleischessern Opfergegenstand der Vratyas und ihr Ritual- (Falk, 42). Auch in indonesischen Kulturen verhalten während des Fests: Das Opfer ist z.B. muss Blut fließen, um der Erde wieder eine „menschliche” Kuh, dargebracht von die Kraft zurückzugeben, die ihr das alte „Hunden” in einer Zeit der Entbehrungen, Jahr genommen hat (Barnes, 189). Wer nun um die Natur und die tiefstehende Sonne glaubt, besonders fern von der Zivilisation wieder in Gang zu bringen. Die Vratyas be- zu sein, täuscht sich, denn gleichzeitig dient wegen sich während der Opferung wie Hun- das Ritual dazu, Dichtung zu schaffen: de, sie bellen, laufen auf allen Vieren, (fr)es- Kampfzorn und dichterische Inspiration sen aus Schüsseln, die auf dem Boden ste- werden mit demselben Wortstamm be- hen, und versuchen mit ihrem Mund/Maul, zeichnet (Höfler, 57). Das Dichten gehörte al- sich gegenseitig das Rindfleisch aus dem so auch zur Domäne dieser ökonomisch zu- Maul/Mund des anderen zu reißen. Diese kurzgekommenen Jugendlichen im Alter kultische Handlung war notwendig, denn von manchmal 10, meist 16 bis 20 Jahren, die ohne sie würden alle Kühe sterben, die Son- sich als „Hunde” zu indo-europäischen Bru- ne würde nicht wieder nordwärts ziehen derschaften zusammenschließen (Falk, 49 & und das Universum würde im Chaos versin- 94): Noch für Mephisto in Goethes Faust war ken. Der Kult der Vratyas war nichts anderes Blut ein ganz besondrer Saft, und so „fließt“ als die Geburt eines neuen Jahrs mit neuem noch im diabolischen Teil der Weimarer Klas- Leben und einer steigenden Sonne, die sich sik das Blut mit der Kunst ineins. Die Bluts- wieder weiter nach Norden traut. Ein brüderschaft bewirkt und fördert tiefen- archaisches Ritual, von Hunde-Menschen in psychologisch die Wahrnehmung der männ- hündischer Zeit (~ Trächtigkeitsdauer) lichen Gegensätze, die sich im Jungmänner- durchgeführt an Opfern, die menschlich und bund artikulieren, dass nämlich tierisch zugleich sind.

Siegender und Sterbender auch immer dieselben sind. Der opfernd Siegende ist Rudra - und der Hund immer ein künftig geopfert Besiegter. im Würfelspiel der Junghirten Das Bewusstsein der Zusammengehörig- keit der männlichen Gegensätze ist der Das Rind des Sulagava-Opfers wird erste Beginn des männlichen Selbst- Rudra und seinen Scharen dargebracht, und bewusstseins (Neumann, 1949, 149). der Ablauf der Opferung vollzieht einen Übergriff nach, den ursprünglich diese So ist jedes Mitglied des Bundes ein poten- Heerscharen ohne Zutun des Viehbesitzers tieller Anführer und ein Opfer zugleich. durchführten: Sie lärmten in der Nacht, Sind die hündischen Aspekte in der kurzen raubten sich Rinder, zogen damit ab, töte- 12-Tage-Variante nur knapp zu erraten, so ten ein Tier und aßen zusammen davon. Der hat die lange Abscheu vor der Tötung gewann bald die Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 390

390 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Oberhand, indem das Opfertier mit dem Mitgliedern bestanden. Ein „Hund“ bildete Empfänger Rudra gleichgesetzt und wie Ru- z.B. mit elf anderen Kriegern, die im Ge- dra verehrt wurde (Falk, 61). Die Kuh wur- gensatz zu dem in ein Hundeteilprotom de in der Sabha getötet, einer ursprünglich gehüllten Anführer-„Hund“ nur noch in mit Gräsern an Seiten und Dach bedeckten Rentierfelle gekleidet waren, den Kern der Hütte, die nah an einer Stelle außerhalb des Truppe, die König Olaf den Heiligen in der Dorfs im Süden errichtet war, wo von allen Schlacht von Stiklastadir im Jahr 1030 be- Seiten die Wasser hinfließen und wo man siegte. Der griechische „Wolf“ die Toten verbrennt (Falk, 86). Dolon hat in Euripides´ „Rhesos“ zwölf An dieser Stelle lag nach Verdunstung des Mitstreiter, und die römischen Salii, Lu- Wassers Salz an der Erdoberfläche. Vieh- perci und fratres Arvali (> 384 & > VI) wur- züchter hielten diese Stelle in hohen Ehren, den alle aus Einheiten von zwölf Män- während sie Landwirten als unfruchtbar nern gebildet; die Letztgenannten sollen galt. Salz bedeutet in der indischen Vieh- die zwölf Söhne von Romulus´ Pflege- züchter-Mythologie Samen, Zeugung: So mutter gewesen sein (Kershaw, 136-7). lässt man die Toten als Manen (~ männliche Vorfahren) an der Zeugung teilhaben. Und Sie alle waren mithin Wölflinge. Die ira- in dieser Senke wurde ursprünglich auch das nischen Jungkrieger-Verbände schlossen indische Würfelspiel durchgeführt, bis man sich zur höheren Einheit von drei 50er-Grup- aufwändigere Konstruktionen dafür er- pen als kardakes zusammen; ebenso sind fand. Der Gewinner des Spiels ist der Sva- die 150 Jungkrieger des irischen Helden Cú ghnin (sva ~ Hund; > 245-7), der bei diesem Chulainn (~ Hund des Culann) in drei 50er- ganz speziellen Spiel den Hunde tötenden Gruppen zusammengefasst (Kershaw bringt Gott Svaghna auf seiner Seite hat und der weitere Beispiele für 50er-Gruppen). Der deshalb gewinnt. Um einen Einblick in die Anführer der 50er Gruppe ist der „Hund“, Hundesymbolik dieses Spiels zu bekommen, und der Wurf im Würfelspiel, der den An- müssen wir uns dem Spielmittel kurz zu- führer bestimmt, wird ebenfalls „Hund“ ge- wenden, und das sind Nüsse, die im Januar nannt. Da Aktaion (> IV, 371-7) von seinen und Februar reifen, also in der Zeit der 61- fünfzig Hunden zerfleischt wird, könnte Tage-Variante. Dieser Nussbaum gilt als haa- man ihn im Substrat des Akataion-Mythos riger Baum, und Rudra ist der Gott beson- als Anführer einer 50er-Gruppe auffassen. ders der Bäume mit grünem Haar (vgl. Al Gleiches könnte für den 50-köpfigen Ker- Khidr > 292). Rudra ist also die höhere beros gelten, der als anführender „Hund“ Macht, die hinter diesem Nussbaum steht den Tod verkörpert - den anderer und sei- und als dessen Vater bezeichnet wird. Die nen eigenen. Das alles könnte in der Zah- ovalen Nüsse des Baumes sind die dreimal lensymbolik des Nuss-Spiels enthalten sein: fünfzig „Würfel” ohne Kanten im vedischen Das indische Würfelspiel besteht deshalb Würfelspiel. Die 150 Würfel repräsentieren aus 50 Nüssen, und „Hund“, d.h. Anführer eine Einheit von dreimal fünfzig Junghir- wird der, dem die Verlierernuss Kali zufällt. ten, die somit vor dem Hintergrund früh- Kali ist als Spielergebnis materiell eine vedischer Lebens- und Wirtschaftsformen eko´ksah (~ eine Nuss), als Wesen aber ist zu sehen ist (Falk, 107): Drei wandernde Kali ekaksa (~ ein Auge habend; > 169). Scharen von 50 (= 49 plus 1) Mitgliedern Einäugige, Blinde und Hunde erscheinen wurden zu einem *koryos zusammenge- auch in den Mythologien der Antike als To- fasst, dessen Hunde- oder Wolfskrieger in desboten - und der einäugige Wodan/Odin Untergliederungen organisiert waren, also ist der Kriegergott der Germanen. Auch in kleinen Banden, die aus Dreier-Multipla, Rudra wird als ekaksa bezeichnet, womit er meist aus neun, manchmal auch aus zwölf zu parallelisieren ist mit Wodan. Mit der Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 391

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einäugigen Verlierer-Nuss steht Rudra an in dieser Nacht wird auch Indra geboren, je- der Spitze des Würfelbundes, allerdings nur ner Gott, der zusammen mit den Maruts indirekt, da er sich ja als „Hund” unter den und Vratyas das folgende Jahr bestimmt: Würfeln in der Spielgrube verbirgt (Falk, Das alles findet in dieser Nacht statt. Der 109): Der Verlierer des Spiels wird zum Führer der Gruppe aber war als „Hund” „Herrn über das Opfertier”, er muss als dem Reich der Lebenden schon entzogen. „Hund” das Opfertier zerlegen - und er Er beteiligt sich nicht am Treiben der Grup- wurde in frühester Zeit als Gegenopfer pe und verzehrt nichts - eine auffällige eth- getötet. Es ist somit Rudra, den der Sva- nographische Parallele findet sich auf etwas ghnin mit seinem Gewinnerwurf abwehrt. anderer Ebene bei den Naskapi-Montag- Da der „Hund“ die einzige explizite Verbin- nais-Indianern, bei denen der Bärentöter als dung ist zwischen dem vedischen Spiel In- Gastgeber beim Festessen nicht mit aß (oft diens und den Würfelspielen der europä- bewahrte man ihm aber einen Teil für spä- ischen Antike, muss in diesem „Hund” folg- ter auf; Kohn, 32): Die Vorschrift, dass der lich Sinn und Urzweck des Spiels zu erken- Führer der Vratya-Gruppe nichts verzehren nen sein: Der Hund stellt den Verlierer dar, darf, geht daher vermutlich auf das Bären- und der Hund war im Veda, zusammen mit zeremoniell oder das ihm zu Grunde lie- Rudra, mit dem Tod assoziiert (Falk, 110). Da gende universale Großwildjagdzeremoniell aber Kali auch den Führer des Hirtenkrie- zurück. Und deshalb war er zwar Führer, gerbundes bezeichnet, müsste das Urspiel aber auch Verlierer. In der indo-europä- dazu gedient haben, einen Führer, eben ischen Urfassung des vedischen Spiels wur- den „Hund”, zu ermitteln. Wer also das den also keine Gewinner ermittelt, sondern Hundeergebnis hatte, und das heißt, wer man suchte einzig und allein den ehren- die Nüsse nicht mehr vollständig zusam- vollen Verlierer. Ganz analog verhalten sich mensetzen konnte (Falk, 133), in den fuhr die Chatten in der Germania des Tacitus (> Rudra, der wurde zu Rudra, zum Hund, zum 169), die mit den verschiedenen Lautver- Führer der wilden Schar (Falk, 111). Das schiebungen erst zu Hatti, dann Hassi und Spiel um die Führung der Gruppe fand in Hessi und schließlich zu Hessen werden, und der Zeit des Sisira statt, etwa Ende Dezem- zwar zu „Hunde“-Hessen (> 398): ber bis Ende Februar, in der Zeit, in der auch die Vratyas die 61-Tage-Variante ihrer Feier Das Würfelspiel betreiben sie selt- veranstalten. Die auf die Wintersonnwende samerweise in voller Nüchternheit, folgenden sechs Monate werden den Göt- ganz wie ein ernsthaftes Geschäft; ihre tern zugeordnet, die sechs Monate ab der Leidenschaft im Gewinnen und Verlie- Sommersonnwende, von der an das Tages- ren ist so hemmungslos, dass sie, wenn licht abnimmt, den Manen, den männlichen sie alles verspielt haben, mit dem Vorfahren. Rudra ist an die Wintersonn- äußersten und letzten Wurf um die wende gebunden, an die Dunkelheit der Freiheit und ihren eigenen Leib kämp- Nacht, er gehört in die Welt des Todes. Der fen. Der Verlierer begibt sich willig in Spielort, die Sabha, befindet sich südlich der die Knechtschaft: Mag er auch jünger, jeweiligen Siedlung, also in jener Richtung, mag er kräftiger sein, er lässt sich bin- in der sich die Wintersonne befindet. Das den und verkaufen (in der Übersetzung notwendig unzivilisierte Verhalten dort ist von Manuel Schmidt). Gegenstück zum geordneten Leben der Lichtgötter: Das Auswürfeln des Führers, Das von Tacitus unverstandene rituelle der die Rolle des Todes übernimmt, und das Würfelspiel der Chatten erhält seinen ur- sonst unübliche Schlachten einer Kuh, um sprünglichen Sinn zurück, wenn man es ver- Rudra zu besänftigen und um Hunger und schränkt mit den typischen Kennzeichen der Tod für ein weiteres Jahr abzuwenden. Und indo-europäischen „Hunde“-Krieger: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 392

392 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Ein Brauch, der auch bei anderen ger- ten „Hund” aus dem Würfelspiel vor uns ha- manischen Stämmen vorkommt, jedoch ben. Später wurde dann nicht mehr der Ab- selten und als Beweis vereinzelten Wa- decker geköpft, sondern ein echter Hund er- gemuts, ist bei den Chatten allgemein schlagen, meint Falk (162). üblich geworden: mit dem Eintritt in das Mannesalter lassen sie Haupthaar und Bart wachsen, und erst, wenn sie ei- Opferschlächter und Hundekönig nen Feind erschlagen haben, beseitigen sie diesen der Tapferkeit geweihten Auch in Europa und Afrika haben und verpfändeten Zustand ihres Ge- sich Spuren vom Sünden-„Hund“ erhalten, sichtes. Über dem Blut und der Waffen- die manchmal so entstellt sind, dass sie erst beute enthüllen sie ihre Stirn und glau- im neuen, d.h. originalen Kontext als Spuren ben, erst jetzt die Schuld ihres Daseins des Ersten Töters, Opferers, „Hunde“-Krie- entrichtet zu haben und des Vaterlan- gers und Hundekönigs erkennbar werden: des sowie ihrer Eltern würdig zu sein ... Sie eröffnen jeden Kampf; sie sind stets Der Tötung eines Opfertiers an den das vorderste Glied, ein befremdender attischen Buphonien folgte eine Ge- Anblick; denn auch im Frieden nimmt richtsverhandlung, bei der jeder Teil- ihr Gesicht kein milderes Aussehen an. nehmer die Schuld dem nächsten zu- Keiner von ihnen hat Haus oder Hof schob ... Der als Opferschlächter erloste oder sonstige Pflichten; wen immer sie Anthide hatte nach der Opfertötung ei- aufsuchen, von dem lassen sie sich je nen See zu durchschwimmen und ver- nach den Verhältnissen bewirten; sie fiel nun für eine bestimmte Zeit irgend- sind Verschwender fremden und Ver- welcher Ächtung. Denn als Ächtung, als ächter eigenen Gutes, bis das kraftlose Friedloslegung muss die Angabe ver- Alter sie zu so rauem Kriegerdasein un- standen werden, er verwandle sich in fähig macht . einen Wolf (Meuli, zitiert von Falk, 162).

Unter der rauen Schale des Edlen Wilden er- In Sparta wurde die männliche Jugend in kennen wir die typischen Junghirtenkrieger, verschiedene Altersgruppen eingeteilt, als wie sie von Irland bis Indien verbreitet wa- krypteia (~ Geheimbund) mussten sie spär- ren. Kommen wir zurück zum vedischen lich bekleidet in der Wildnis hausen und sich Würfelspiel, das mit der Zeit angepasst wur- mit Diebstahl und Mord durchschlagen - die de an neue wirtschaftliche Gegebenheiten, hündisch konnotierte Artemis ist die Göttin die sich aus der Tabuisierung der Rindertö- dieser Jugendkrieger und erscheint als Her- tung und der Zunahme der Landwirtschaft rin der Tiere allgemein, aber auch dieser ergaben. An Stelle einer Kuh opferte man „Tiere“ in der Wildnis. Sie verlangt Blut von nun Reisbrei oder Gerste. Die Abkehr vom ihren jugendlichen Kriegern und Opferbe- blutigen Teil des Opfers ist schon langfristig reitschaft von den Anführern: Sie testet z.B. angelegt, wenn man die Bedingungen be- Agamemnons feldherrliche Kompetenz mit trachtet, denen die Zerleger des Opfers als dem Wunsch, er möge seine Tochter opfern Gegenopfer einst unterworfen waren. Bevor vor dem Aufbruch der Griechen nach Troja: man Böcke, Kühe und später Pferde zerleg- te, muss man wohl zu Beginn Hunde zerlegt A trial of valour was the murder of haben, die später die Funktion des „Sünden- “helots” in the night, should they be Hunds“ übernahmen - ein Opfertier musste caught ... Armed with a dagger, a few of nämlich durch ein Gegenopfer gesühnt wer- them constituted an elite commando den, das war zunächst der Zerlegende selbst, force who terrorized “helots”. The den wir jetzt wieder als den längst bekann- “krypteia” may have been the culmina- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 393

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ting phase of the Spartan educational Er stellte nun die Drontheimer vor die and training system, the “agoge” (Mari- Wahl, ob sie lieber seinen Knecht Tho- natos, 105). rir Fakai oder seinen Hund Saur zum König haben wollten. Sie entschieden Marinatos verweist auf eine westafrika- sich für den Hund, weil sie glaubten, nische Parallele, die die indo-europäischen dann würden sie eher selbständig blei- Jugendbünde als vor-indo-europäisch rela- ben können. Sie ließen nun in den Hund tiviert, auf schamanische Totalidentifikation Verstand von drei Männern hinein- hinweist und so ein wahrscheinlich weitaus zaubern, und er bellte nun immer zwei höheres Alter anzeigt: Es sind Worte und sprach das dritte. Ein Hals- band wurde für ihn verfertigt und gol- the panther men of West Africa, an elite dene und silberne Ketten, und war ein- group which committed violent acts of mal der Weg sumpfig, dann trugen ihn murder and which was viewed with seine Gefolgsleute auf den Schultern. awe and fear by the rest of the commu- Es wurde ihm ein Hochsitz errichtet, nity (Marinatos, 107). und er saß auf einem Hügel nach Art der Könige. Er wohnte in Inderöen, und Zu dieser unhündischen Analogie lässt sich sein gewöhnlicher Wohnsitz hieß Saurs- ergänzend und vergleichend der Hund aus hag. Es heißt, dass er seinen Tod da- dem indischen Würfelspiel neben den Hund durch gefunden habe, dass Wölfe in als reales Opfertier im afrikanischen Königs- seine Herde einbrachen: die Gefolgs- ritual (> II) stellen, zu dem Frobenius in seinen leute hetzten ihn auf, sein Vieh zu ver- Monumenta Africana Parallelen des Königs- teidigen. Da verließ er den Hügel und mordes in Afrika und Indien aufzeigt, die von lief hin wider die Wölfe, und diese zer- Übereinstimmungen in Details bis zu syste- rissen ihn sofort (Snorri Sturluson, matischen Kongruenzen in der Struktur rei- Heimskringla, Kap. 12; in: Weiser-Aall, chen (> II, 531: Abb. 40). Stellt man den Hund 350). aus dem indischen Würfelspiel in diesen Kon- text, dann kann man dieses Jahresfest pa- Eine ähnliche Geschichte erzählt Saxo rallelisieren mit der „Opferung“ eines hun- Grammaticus über die Schweden, die einen degestaltigen Vegetationsgottes, der vor sei- Hund statt eines Fürsten an die Spitze der ner Tötung die höchsten Ehren genoss und unterworfenen Norweger stellten (Weiser- nach einem festlichen Umzug getötet wurde Aall, 350), und in der Chronik von den Lejre- (Weiser-Aall, 355). Dass der afrikanische Königen setzten die Schweden einen Hund Hund(ekönig) an Stelle des Königs in Fasoglo über die Dänen ein: (> II, 513-21) getötet wurde, lässt auf Kon- substantialität zwischen dem König und dem Athisl, der König der Schweden, setzte Hund schließen - der König als Ur-Tier seines über die Dänen einen kläffenden Hund Volks, der Hund als Repräsentant dieses Ur- als König ein, mit Namen Rache, den er Tiers - und hat seine bemerkenswerte Pa- über alles liebte. Als er eines Tages un- rallele in einer weit entfernten, nämlich ter seinen Kriegern saß, mit königlicher nordeuropäischen Variante des Mythos vom Bedienung geehrt, sah er, wie sich eini- Hundekönig, der dort bis zur Unkenntlich- ge Hunde auf dem Boden balgten, und keit entstellt ist: König Eystein von Upland (~ als er sie trennen wollte, damit sie sich Südostnorwegen) setzt über die unterworfe- keinen Schaden täten, sprang er vom nen Drontheimer seinen Sohn Önund ein; Tisch herab unter sie und wurde totge- die Drontheimer aber erschlagen Önund, bissen ... Niemand wagte diese Bot- und Eystein unternimmt einen zweiten schaft dem König zu bringen; denn der Kriegszug und unterwirft das Land erneut: ihm Raches Tod kündete, sollte sogleich Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 394

394 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

sterben. Snjo, der Hirt des Riesen Lae Die politische Instrumentalisierung der Ge- auf Laesö aber dreht die Sache listig so, schichte zur Agitation gegen andere Völker dass der König zuerst sagt, Rache wäre dürfte aber erstens älter sein als die skandi- tot (in: Weiser-Aall, 351). navischen Beispiele - man kennt diese Stra- tegie ja schon von Griechen, Indern und Chi- In der dänischen Chronik Eriks wird nur er- nesen (> 8. Kapitel) - und zweitens dürfte sie zählt, dass ein „Hund“ namens Rakki als sekundär sein, denn wir haben bislang ei- König eingesetzt wurde und als Rakki von nen Zug der Geschichte übersehen, der „Hunden“ getötet wurde, machte Athislus nicht in jeder Variante erzählt wird: Die ers- einen Hirten namens Snio zum König über te und die dritte der nordischen Varianten die Dänen. Nimmt man Rakki als einen sind sich gleich im Tod des Hundes, verur- Hund des indo-europäischen Würfelspiels, sacht durch andere Caniden (Wölfe bzw. dann erscheinen die Hunde, die ihn töten, Hunde). Dieser Tod des Anführer-Hundes als seine „Hunde“-Krieger, die den Opfer- Saur als Hund des Königs durch seinesglei- schlächter und Hundekönig Rakki nach Ab- chen ist bedenkenswert, und man hat schon lauf seiner rituellen Herrschaftszeit rituell früh angenommen, dass hier ein uraltes ermorden. Andere dänische Chroniken Kultdrama in entstellter Form überliefert ist enthalten nur noch knappe Anspielungen - dieses Kultdrama ist nach Ad. E. Jensen (in: auf die Sage. Die Überlieferung lässt sich in Weiser-Aall, 354, FN 33) identisch mit der Norwegen am weitesten zurückverfolgen: Wahl und späteren Tötung des Anführers der Junghirtenkrieger: Neben dem Ortsnamen Saxhoug aus Saurshag ist ein Zeugnis für den Der Hundekönig stellt einen Gott dar; berühmten Hund Saur im Skaldatal er- diese und eine Reihe anderer Sagen, in halten. Hier wird ein Skalde Erpr (8. denen als Tiere verkleidete Helden die oder 9. Jahrhundert) genannt, der sein Hauptrolle spielen, weisen auf ein altes Haupt löste durch ein Lobgedicht auf Kultdrama zurück. Saur, den Hund des Königs. Dieses Kultdrama wird wahrscheinlich zur Sowohl für die norwegische Land- Jahreswende gefeiert von den als Hunde schaft Upplond als auch für das schwe- auftretenden indo-europäischen Junghir- dische Uppland findet man in der tenkriegern, und ihr Anführer, der Hund, ist Überlieferung einen König Eystein mit zugleich das Opfer, das in diesem Neujahrs- dem Beinamen der Böse und Mäch- und Jahreskönigzeremoniell gebracht wird. tige. Das deutet auf eine Vermischung hin. So konnte ohne Schwierigkeiten Der Gott in Tiergestalt wird vor dem der Siegerkönig in unserer Sage zu ei- Opfer als König aufgefasst, um dann nem Schweden gemacht werden (Wei- von seinen Artgenossen getötet zu wer- ser-Aall, 351). den, d.h. sich selbst zu opfern (Weiser- Aall, 354). In Schweden ist die Tradition dieser Ge- schichte bis ins 19. Jahrhundert belegt, und Es ist kaum anzunehmen, dass die bislang in der älteren schwedischen Literatur bekannten drei Überlieferungsgruppen aus Afrika (Äthiopien), Europa (Skandinavien) ist vor allem die Fassung, wonach die und Ost-Asien (China) unabhängig von ein- Dänen den Hundekönig bekommen, ander entstanden sind, wie auch Weiser- beliebt. Der Däne Wadskjaer z.B. spielt Aall (356) meint. Aber wo ist der Ausgangs- dagegen auf die norwegische Fassung punkt zu suchen? Verlassen wir dazu die an (Weiser-Aall, 352). indischen Vratyas und betrachten wir die Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 395

HUNDE- UND WOLFSKRIEGER ANDERER INDO-EUROPÄISCHER HIRTENVÖLKER 395

Hunde- und Wolfskrieger konzipiert gewesen sein, vermutet schon anderer indo-europäischer Höfler (118) und verweist auf Wodans Beina- Hirtenvölker men Langbardr. Ebenso muss der langobar- dische Königsspeer auf Wodans Lieblings- waffe zurückgehen: Das langobardische Kö- Nicht nur in der altgriechischen Tra- nigtum der Frühzeit war ein Wodankönig- dition finden wir den Junghirten-Bund der tum, d.h. ein von Jungkriegerscharen im Exil wilden und hunds- oder wolfsköpfigen neu gegründetes Reich. Man hat den Ur- Krieger wieder; und nicht nur in der sprung der Winnili in Süd-Schweden lokali- skandinavischen Überlieferung haben sich siert, von dort seien sie oder ihre exilierten bis heute Sagenvorstellungen erhalten von Jungkriegerbanden über die Ostsee im Ver- einem Kong Hundehoved (~ König Hunde- lauf mehrerer Jahrhunderte ins Baltikum und kopf), der der Stammesheros ist und als von dort bis nach Nord-Italien gewandert - ir- Hundekönig und Ahnherr eines lange gendwo auf diesem Weg sollen sie sich Wo- blühenden Geschlechts (Kretzenbacher, dans Beinamen Langbardr zugelegt haben. 101) eine steile Karriere macht. Von den Etymologisch kommt der ursprüngliche Langobarden berichtet am Ende des 8. Jahr- Name Winnili von einer Wurzel, die sich in hunderts der Historiograph Paulus Diaconus Schmellers Bayrischem Wörterbuch noch als aus dem Umfeld Karls des Großen, sie hät- winnic (~ mit der Hundswut behaftet, toll) er- ten in ihrem Heer blutdürstige cynocephali halten hat. Das verweist auf eine Schar von (~hundsköpfige) Krieger (McCone, 103), die Jungkriegern, die sich mit ihrem Ahnengott, dem Hund, total identifizieren, indem sie als so wild zu kämpfen pflegten, dass sie Teilprotom eine Hundsfellhaube als Vorläu- gar Menschenblut söffen und, soferne fer des späteren Helms auf dem Kopf tragen sie das der Feinde nicht erstreiten kön- und das Verhalten tollwütiger Hunde nach- nen, aus rasender Wildheit sogar das ei- ahmen, allerdings ohne die für wirkliche Toll- gene Blut tränken (Kretzenbacher, 82). wut typische Angstkomponente. Walapauz nannten die Langobarden die Maske, die Für diese Krieger ist auch die Bezeichnung den Geist eines gefallenen Kriegers darstellt. Winnili (~ heulend, rasend vor Wut) über- Dieser Walapauz bezeichnet einen Angehö- liefert: Eine metonymische Bezeichnung für rigen oder Führer des Wilden Heeres, mit den tollwütigen Hund. Karls des Großen dem sich die langobardischen Jungkrieger Historiograph Notker Balbulus berichtet identifizieren, er ist wahrscheinlich ebenfalls zwischen 883 und 887 in seinen Gesta Caroli hündisch konnotiert. Im spätgermanischen auch von den Normannen, sie hätten England heißt der Anführer Harlekin (~ hari- hundsköpfige Krieger in ihren Reihen. Die lo-king ~ Heerkönig), in Nordfrankreich Hel- Langobarden stehen also keineswegs allein: lequin. Bis heute hat sich die Tradition erhal- ten, gescheckte Hunde als Harlekine zu be- zeichnen - eine nicht mehr bewusste indo- Die hundsköpfigen Junghirten- europäische Tradition? Dieser Harlekin ist krieger der Langobarden nicht zu verwechseln mit dem mondblei- chen, übermäßig zartfühlenden und ver- Paulus Diaconus berichtet in seiner träumten Pierrot: Der Harlekin ist der leiden- Historia Langobardorum (~ Geschichte der schaftliche, von Lebenskraft erfüllte bunt Langbärte), dass die Langobarden ihren end- gescheckte Wildfang. Das passt besser zu ei- gültigen Namen von Wodan persönlich er- nem Krieger; gleichwohl ist der Anführer die- hielten - vorher hätten sie Winnili oder Vin- ser Krieger auch melancholisch wie Pierrot, nili geheißen. Der Urahn der Langobarden da er am Ende des Kriegshalbjahrs geopfert muss in der Gestalt eines mythischen Hundes wird. Diese Scharen von jugendlichen Elite- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 396

396 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

kriegern und ihre hündisch konnotierten An- bild Langbart genannt. Aus dieser lango- führer wurden von mittelalterlichen (chris- bardischen Jungkriegerschar ging dann tianisierten) Geschichtsschreibern verständ- nach dem ersten König Agelmund auch der nislos, weil in völliger Außensicht behaftet, zweite König der Langobarden hervor: als cynocephali (~ Hundsköpfige) bezeichnet. Lamissio. Paulus Diaconus berichtet aus Paulus Diaconus gehört zu diesen Historio- christlicher Perspektive von einer „Dirne“, graphen, denen die Methode der Empathie die sieben Knaben gebar und sie in einen fremd ist: Dass die Hundsköpfe der Lango- Fischteich warf, um sie zu ertränken. Der barden angeblich erste König der Langobarden, Agelmund, der zufällig herbeiritt, hielt sein Pferd an Menschenblut trinken und selbst ihr ei- und tastete mit seinem Speer nach den genes Blut schlürfen, wenn ihnen der unglücklichen Kindern. Eines ergriff den Feind entflieht, Speer. Der König ließ das Kind von einer Amme aufziehen und nannte den Jungen ist so eine typische Entstellung, wenn ein Lamissio, weil er aus einem Teich (~ lama im Mindestmaß an Empathie fehlt: Menschen- Langobardischen) gerettet wurde: Diese blut dürften die Mitglieder dieses Krieger- Deutung des Namens prädestiniert Lamissio bundes schon lange vor der Schlacht ge- natürlich für die Sage, er habe auf dem Zug schlürft haben, als sie miteinander Bluts- der Langobarden nach Süden mit einer brüderschaft schlossen, um in den elitären Amazone in einem Fluss gekämpft - und ge- Bund aufgenommen zu werden nach dem siegt. Der Name wird aber auch anders Bestehen zahlreicher Mutproben. Und auch überliefert, nämlich als Laiamicho, und das kurz vor der Schlacht dürften sie nicht nur dürfte die ursprüngliche Form sein, die Pau- Blut getrunken, sondern auch rohes Fleisch lus Diaconus leicht entstellt überliefert hat. in der Manier des Hundes mit den eigenen Die Verkleinerungsform Laiamicho wird Zähnen zerrissen und verschlungen haben. über das langobardische *lajamo (~ Beller ~ Vielleicht war es das Herz eines Hundes, das Hund) von *laian (~ bellen) abgeleitet und sie zu sich nahmen, um die kämpferischen bedeutet kleiner Beller, somit kleiner Hund. Qualitäten ihres tierischen Vorbilds in sich Wenn Malone 1926 meint, es handle sich einzukörpern - so taten es ja auch die nord- um einen Spitznamen, ist doch heute eher amerikanischen Indianer der Plains, bevor anzunehmen, dass wir es mit einem Ehren- sie den Kriegstanz begannen (> I, 513). Viel- titel zu tun haben, den der Führer der (sie- leicht tanzten die Jungkrieger dann, den ben) Kriegerknaben trug. Und die Mutter Kopf des geopferten Hundes von einem des kleinen Hundes als Dirne zu überliefern, Mitglied des Bundes zum andern reichend dürfte wohl auch eine Entstellung sein, und dabei (den Mond an-) bellend wie ihr denn des Paulus Diaconus Übersetzung der Vorbild. Die Mitglieder des Bundes wurden langobardischen Mutter-Bezeichnung Zohe vielleicht von den übrigen Altersklassen des mit dem lateinischen meretrix (~ Buhlerin, Winnili-Stammes Langobarden genannt, Dirne, Prostituierte) beruht weil die Jungkrieger das Haar nicht schnei- den dürfen, damit man sie sofort als die auf einer ähnlichen Doppelbedeutung dem Bundesgott Wodan geweihten Krieger wie „lupa“ im Sinne von Wölfin und erkennen kann. Einer von Wodans Bei- Hure in der Romulussage, denn im namen war Langbart/Langbardr, und so Langobardischen wie auch im Deut- muss der Gott gar nicht aktiv den Lango- schen kann ´Zohe´ (Hündin) synonym barden einen neuen, nämlich seinen Namen mit ´Dirne´ verwendet werden ... Die gegeben haben: Jeder dieser Jugendkrieger Geburt von sieben Kindern auf einmal nannte sich und wurde von den anderen lässt an einen Wurf Welpen denken Stammesmitgliedern nach göttlichem Vor- (Kershaw, 160-1). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 397

HUNDE- UND WOLFSKRIEGER ANDERER INDO-EUROPÄISCHER HIRTENVÖLKER 397

Nicht nur analog zu Remus und Romulus, Allen drei Göttinnen wurde die Katze als sondern vergleichbar auch mit der Ge- Konnotat frühestens vor 5.000 Jahren zu- burtslegende des iranischen Kyrus ist diese geordnet, und da sie alle drei auch noch Königssage der Langobarden. Wenn der hündisch konnotiert sind, ist der Schluss Hund also die tierische Erscheinungsform nicht gewagt, dass der Hund, besser: die des Ahnengottes der langobardischen Hündin ihr ursprüngliches Konnotat war. Jungkrieger ist, dann muss auch die Mutter Nur die originäre, also hündisch konno- und Geliebte der Jungkrieger eine „Hün- tierte Freya/Freia alias Frea ist die lango- din“ gewesen sein: Die Langobarden in ih- bardische „Hündin“, die einen Wurf von rer Frühform als Winnilen sind bekannt für sieben männlichen „Welpen“ (~ wahr- ihre Verehrung der Frea/Freia - eine Göttin, scheinlich die mythische Zahl der Jungkrie- die wohl noch nicht ihre Dissoziation (vgl. ger in einer langobardischen Schar) zur Demeter und Kore; > III) erlitten hat in eine Welt brachte. Wer´s nicht glaubt, der setze moralisch-mütterlich strenge Frigg oder sich auseinander mit der ersten Strophe Fricka (Odins Gemahlin und Hüterin mo- des Hyndluljod, in der Freya die Riesin nogamer Prinzipien) und in eine schö- Hyndla (~ Hündchen) als ihre Schwester an- ne(re), moralisch freizügige Freia/Freya: redet. Und wenn Freya als „Hündin“ u.a. Die langobardische Konzeption der Freya die Fruchtbarkeitsgöttin der langobar- spiegelt sich in einem Spottvers mit zwei dischen Jungkrieger war, dann war sie Lesarten von Hjalti Skeggjason aus dem auch deren Todesgöttin, eine Art Walküre, Jahr 999, in dem Freya hündisch konnotiert ziemlich analog zu Hekate und ihrer erscheint: Wilden Schar. Als Fruchtbarkeits- und To- tengöttin in Hundegestalt steht sie der 1. Ich will nicht die Götter anbellen, Acca Larentia als Mutter von Remus und aber eine Hündin scheint mir Freya; Romulus nahe. Folglich muss der Vater, 2. Ich will nicht über die Götter lästern, schließt Kershaw (162), aber eine Hure scheint mir Freya. ein kriegerischer Gott in Hundegestalt Ein Vers, der die ursprünglich hündische gewesen sein. Wir sehen hier mög- Konnotation der Göttin konserviert - mit licherweise das alte Relikt eines Ah- Bekanntwerden der Katze als Haustier vor nenmythos. Die Geschichte von der allerfrühestens 5.000 Jahren wird Freya, Abstammung eines frühen Königs von die germanische Liebes- und Fruchtbar- einem Hund ist, zusammen mit dem keitsgöttin, mehr und mehr mit ihr konno- ursprünglichen Hundenamen des tiert: Jetzt wird ihr Wagen von zwei Kat- Stammes, Winnilen, und den hunde- zen gezogen. Während Freyas anatolisch- köpfigen Helmen der langobardischen griechisches Pendant Hekate zumindest Krieger, das Gegenstück zum Komplex teilweise und hauptsächlich hündisch kon- von Wolfskrieger, Stamm und Ahne ... notiert bleibt, wechselt auch das Begleit- diese Mythen gehen auf älteste kul- personal Freyas ins Katzenlager über - so tische und genealogische Traditionen ihre Wilde Jagd: zurück,

The cats that drew her carriage be- erkennt Kershaw (162), ohne diese Tradi- came riding witches, flying through tionen auch im zirkumpazifischen Hunde- the night. Cats also inherited the dark stammvater-Mythos und somit als vor- daemonic aspect of Hel, the Germanic indo-europäisch zu erkennen - das aber goddess of the underworld, and Heca- wissen wir schon aus dem 1. Band der te, the Greek chthonic goddess of noc- Kynosophischen Zeitreise. Und noch eine turnal hunting and magic (Abt, 180). Konsequenz liegt nahe: Da die grie- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 398

398 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

chischen Krieger ihren bronzenen Helm Eine zweifellos sekundäre Erklärung des Dy- immer noch Hundsfellkappe nennen, dürf- nastie-Namens, wie Binder zu bedenken gibt: te ihr Abstammungsglaube zu dem der Langobarden vollständig analog, ja sogar Der Sage liegt vermutlich eine ältere zu- homolog sein. Ein weiteres Beispiel für ei- grunde, in der die Grafen von Altdorf nen Kriegerbund, der sich nach den wirklich von Welfen (Hunden) ab- Lautäußerungen seines hündischen Vor- stammten. Zu diesem Schluss führt un- bilds benannte, sind die altenglischen Wuf- ter anderem der Hund im hessischen finger: Wappen. Ein Überrest dieser Auffas- sung könnte die volkstümliche Redens- Wuffa war ein früher König des angel- art von den ´blinden Schwaben´ oder sächsischen Königreichs East Anglia. den ´blinden Hessen´ und der noch im Über die Frühzeit des Reiches von East 16. Jahrhundert für die hessischen Wel- Anglia ist wenig bekannt. Wehha gilt fen bezeugte Name ´Hundehessen´ als der Begründer des dortigen König- sein. Im hessischen Gebiet war die Sage tums, seine zeitliche Einordnung (um von den jungen Welfen (~ Welpen) und 500?, um 550?) ist unsicher. Als sein Hunden sehr verbreitet (Binder, 54-5). Nachfolger gilt Wuffa ... Die späteren Könige von East Anglia benannten ihre Dass der Name Hundehessen auf den kei- Dynastie nach diesem Ahnherren als neswegs zufällig hundeähnlichen Löwen Wuffinger (in: Wikipedia). der hessischen Fahne bezogen wurde, ist so sekundär wie primär zugleich motiviert. Eine ähnliche Legitimation der Dynastie ist Und die Blindheit der Hessen und Schwaben aus Schwaben bekannt, und zwar für die ist mit der Tatsache zu motivieren, dass Wel- Dynastie der Welfen (~ Welpen). Der sicher pen mit geschlossenen Augen geboren wer- schon entstellten Ursprungssage nach hatte den, also in der frühesten Jugend blind zu Warin, der Graf von Altdorf und Ravens- sein scheinen: Das verweist auch auf den Ju- burg, einen Sohn namens Isenbart (~ ein gendkult der Indo-Europäer, denn sie kön- Wolfsmaskenname): nen den Jugendbünden offenbar nichts ver- weigern, sie fühlen sich offensichtlich ver- Dessen Gemahlin gebar einst zwölf pflichtet, die von ihnen ja allererst in die Kinder auf einmal. Elf davon sollte auf Wildnis geschickten, eigentlich lästigen, ja ihr Geheiß eine Magd in einem Korb ökonomisch kontraproduktiven, weil mit forttragen und ertränken. Stehlrecht oder für die Betroffenen uner- träglichem „Gastrecht“ ausgestatteten Ein Reflex der „Zuchtpraxis“, einer Hündin Bundesmitglieder und Blutsauger wie junge nur einen oder nur wenige Welpen aus ei- Saugwelpen zu umhegen und ihnen jeg- nem großen Wurf zur Aufzucht zu belassen? liche Schandtat nachzusehen:

Der Graf Isenbart ertappte die Diene- Sie sind eben wieder Kinder geworden, rin, als sie ihr Vorhaben ausführen die Gut und Böse nicht unterscheiden wollte. Er fragte sie, was sie im Korb können, trage, und sie antwortete: Junge Wel- fe. Da hieß sie der Graf den Korb öff- so zitiert Schurtz 1902 in seinem Werk Al- nen. Er sah die Knaben und erfuhr von tersklassen und Männerbünde (435) eine der Dienerin, die sich nicht weiter Eingeborenenaussage, die die Regression sträubte, den grausamen Plan der Grä- ins Kindliche mit der Idee der Wiedergeburt fin. Seither heißen die Grafen von Alt- und der kindlichen Blindheit - nicht unter- dorf die Welfen (Binder, 54). scheiden können - fürs Ethische legitimiert: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 399

HUNDE- UND WOLFSKRIEGER ANDERER INDO-EUROPÄISCHER HIRTENVÖLKER 399

Diese Erklärung ist bemerkenswert, da rir Hund habe sich früher zwölf Ren- sie das zügellose Auftreten der Neuge- tierpelzröcke von zauberkundigen Lap- weihten in logische Verbindung mit der pen machen lassen ... Dies also in glei- Idee der Wiederbelebung bringt, cher Weise als „Hund” so wie einst die „berserkir” (Höfler, 112). meint Schurtz. Verschränkt man gerade die schwäbisch-hessische „Welpen“-Tradition Zauberkräftige Felle und zauberkundige z.B. mit der provenzalischen Geschichte von Lappen erinnern uns an schamanische Prak- der „ungarischen“ Königstochter (> VI), tiken, aber das „Lappen“-Motiv ist nicht dann erahnt man, wie weit verbreitet in ganz wörtlich zu nehmen, denn aus der Europa dieses Erzählmuster gewesen sein Perspektive des christianisierten Snorri Stur- muss, in dem Geburt, Kindheit, Herrschaft luson macht es sich ganz gut, Thorir mit den und Nachleben hündisch konnotierter Dy- Erzzauberern des Nordens, den Finnen, de- nasten mythologisch überhöht werden. Dass nen man jegliche Magie zuschrieb, in einen es gerade die aus den Jungkriegerbünden Topf zu werfen, um ihn abwerten zu kön- hervorgehende Adelsherrschaft ist, die sich nen. Es handelt sich also um eine sekundäre der Bünde für neue Herrschaftszwecke be- Erklärung, womit auch die Rentierfelle dient, hat schon Meuli (1, 55) erkannt: relativiert sind - es wird sich ursprünglich um Hundsfellkappen oder Gürtel aus Hunde- Jedenfalls haben die Herren die uralte oder Wolfsfell gehandelt haben, wie andere Institution zu einem heimtückischen zeitgenössische Quellen nahelegen (Höfler, Werkzeug des Terrors gegen ihre Höri- 112, FN 52): Das Anlegen des Hundepro- gen auszubilden verstanden. toms überträgt die kämpferischen Qualitä- ten des Hundes auf den Krieger - so erzählt Ein Terror, der erst 1789 auf eine typisch die Flateyjarbók von der Schlacht bei Stikle- ambivalente Weise beendet und durch stad gegen Olaf: einen neuen, „besseren“, weil „moralische- ren“ Terror ersetzt wurde. Bleiben wir bei Marschall Björn (ein Gefolgsmann der ferneren Vergangenheit und beschäfti- Olafs) schlug danach Thorir Hund mit gen wir uns weiter mit Funktionen und einem scharfen Schwert, aber es biss (!) Struktur dieser hunds- oder auch wolfsköp- nicht. Da fragte er den König: Was soll figen Kriegerbünde, die u.a. den ungewoll- ich gegen diese Leute machen, die kein ten Grundstein zur späteren Herrschafts- Eisen schneidet? Der König antwortet: form der Monarchie legen: Ein anderer Schlagen soll man , die kein Eisen beißt. germanischer Stamm, vermutlich an der Er gab da Thorir einen so mächtigen Küste Pommerns zu orten, wird glomman Schlag, dass der fast bewusstlos wurde. genannt, die Beller (Kretzenbacher, 85; vgl. Aber als Thorir sich aufraffte, ergriff er lat.: clamare ~ schreien - auf den Hund be- seinen Spieß und durchbohrte Björn (~ zogen: bellen). „Hund” nennt sich Thorir, Bär ~ Bär-Serker?) und sprach: Wir wol- der Führer der nordnorwegischen Bauern len Bären erlegen, wenn ihr Hunde im Kampf gegen das Christentum und ge- schlagt (in: Höfler, 114). gen König Olaf, den Thorir der Hund 1030 in der Schlacht erschlägt, dem König zur Na- Der Name des christianisierten Björn hat of- menserweiterung der Heilige verhelfend. fensichtlich seine frühere, d.h. berserker- Thorir der Hund soll, so erzählt Snorri, hafte Magie verloren, während der Bei- name des heidnischen Thorir diesen unver- durch zauberkräftiges Fell (~ Protome) letzbar macht - in diesem christianisierten gegen Schwerthieb geschützt gewesen Bären-Zeichen hätte Kaiser Konstantin nicht sein ... Snorri erzählt schon vorher, Tho- siegen können. Auch als heidnischer Na- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 400

400 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

mensträger mit der Komponente Hund ist Während Kretzenbacher noch 1968 das Thorir der Hund kein Einzelfall in seiner Fa- Vorkommen der hundeköpfigen Tradition milie: Sein Enkel Sigurdr trägt ebenfalls den auf Slowenien einerseits und Finnland/Est- Beinamen Hundr, offensichtlich eine Fami- land andererseits begrenzen will, wissen lientradition. Thorir selbst wird wie viele an- wir, dass die Kulturgrenze zwischen zwei dere Helden - wir sahen es bereits - bis hin Sprachfamilien ohne Ansehen der Epoche zu den fellvermummten Perchten der Neu- ausreicht, um die Phantasie von „hun- zeit (> 401-2) von zwölf Kampfgefährten deköpfigen Untermenschen” zu wecken: begleitet, alle Mitglieder dieser Kampfbru- Mögen die Feinde im südosteuropäischen derschaft gelten als „Hunde“, wie die Ber- Raum die Awaren, Petschenegen, Tataren, serker u.a. als Bären galten. Berserkerhafte Hunnen oder Türken sein - hundeköpfig Kämpfer werden, z.B. im 6. Kapitel der Yng- sind sie garantiert. Und hundekopfförmige linga Saga von Snorri Sturluson um 1220, in Tondeckel für Töpfe aus der neolithischen ihrer Wut zuerst mit Hunden, dann erst mit Vinça-Kultur des Balkan zeigen, dass der Wölfen, und in ihrer Kraft mit Bär und Stier Hundskopfhelm kein indo-europäisches verglichen: Hund und Bär sind also für den Monopol war (> 406: Abb. 103). Die Berserker gemeinsam der referentielle Be- Hundeohren dieser Deckel mögen zwar zug, der Hund ist im Bezugssystem dem Bä- grundsätzlich aus fertigungstechnischen ren keineswegs nach- oder gar untergeord- und alltagspraktischen Gründen so kurz net - Snorri berichtet, dass und beinah konkav sein, sie weisen aber darüberhinaus auch auf eine Ohrenkupier- Odins ... men ... were as mad as dogs or praxis bei Hunden hin, deren Motiv in der wolves, bit their shields, and were Wirklichkeit wie in der Keramik der Glau- strong as bears or wild bulls ... These be an eine apotropäische Wirkung sein were called Berserker. könnte, meint Kretzenbacher (103).

Auch für Thorir und seine Zwölferschar gilt, Die Sage vom nordischen König Hunding, dass sie die Vorkämpfer des Heeres waren, der von Helgi, dem Hundingsbani, wie der wie Snorri im Kapitel 221 betont - alle „Ber- Name schon verrät, erschlagen wird, wan- serker“ waren in entscheidenden Kämpfen delt Wagner im zweiten Teil des Ring des sowohl Kerntruppe als auch Vorkämpfer. Nibelungen um in den Kampf Siegmunds Daher fehlt in der Gesellschaft der mittel- gegen ... Hunding. Helgi und Sigmund ver- alterlichen Hundsköpfe nie das Motiv einer schmilzt Wagner zu Siegmund, in den alten berserkerhaft-blutgierigen Raserei, und Vorlagen aber stammen sie aus zwei ver- dazu natürlich das dämonische Verfolgen schiedenen Sippen: Sigmund ist ein Volsun- von Christen, mit Vorliebe von Christinnen, gar (bei Wagner: Wälsung), während Helgi wie Kretzenbacher (15) auch an südwestsla- Hundingsbani aus dem Volk der Ylfingar wischen Volkserzählungen von Hundeköp- stammt, die im angelsächsischen Widsith figen nachweist und daraus entwickelt, dass (29) die Wulfingas genannt werden: Die gerade im Kontaktbereich von zwei Völkern Leute aus Wolfsland, das Wolfsgeschlecht. oder zwei Kulturen oder im Übergang von Helgi nimmt seinen Familiennamen wört- einer Religion zur nächsten, wie in Thorirs lich, denn er definiert sich als Wolf aus- Fall die anstehende Christianisierung durch drücklich gegen die Hundingas (in: Widsith, Olaf den Heiligen (!), 23), die Leute aus dem Hundland. Helgi be- zeichnet sich selbst als ulf gran (~ grauer die stärkste Verbreitungsdichte der My- Wolf) und verspottet Hunding, der ihn, als then, Sagen, Märchen von den kyno- er sich verkleidet als Kundschafter an dessen kephalen Dämonen und ihrem wilden Hof aufhält, mit einem Hamal (~ Hammel) Treiben ... liegt (Kretzenbacher, 20). verwechselt hat. Um diese Feinheiten küm- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 401

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mert sich Wagner natürlich nicht, im Ge- Hund und Wolf repräsentieren. Kretzen- genteil: Er verkehrt auch hier bewusst das bacher (88ff.) gibt weitere Beispiele kriege- Kräfteverhältnis, denn Siegmund hat nicht rischer Junghirtenbünde mit Tiernamen, halb so viel Erfolg wie sein dänisches Vorbild Tierfellvermummungen und charakteris- Helgi, er stirbt im Kampf gegen Hunding, tischer Wildheit. Auch er betont, dass der nicht nur, damit die Tetralogie Wagners hohe Grad an Besessenheit nicht nur durch weitergehen kann - man sieht auch, dass Rauschgetränke im kultischen Opferbrauch- der angeblich so teutonische Wagner die tum provoziert wird, sondern auch und vor germanische Kernaussage insgesamt um- allem durch die Totalidentifikation mit dem dreht: Die angeblichen Helden finden sich anverwandelten Tier. Und diese Tiermasken zum Schluss in den Trümmern ihrer eigenen sind klar auf zahlreichen Bildwiedergaben Welt wieder, wie der ambivalente Wagner zu erkennen (Kretzenbacher, 88-9): den machtgeilen Wotan/Wodan explizit und selbstkritisch aussingen lässt. Der sieg- reiche Helgi jedenfalls stammt aus dem Ge- Unhündisches Intermezzo: schlecht der Ylfingar, der Wölflinge, das die Ein Ausblick auf Tiermaskenkrieger „dekadent-domestizierten“ Hunde besiegt in Europas beginnender Neuzeit - während Siegmund, der in seiner Jugend mit dem Vater in Wolfsgestalt die Gegend Im gesamten europäischen Mittel- unsicher machte, also ein „Wolf“ ist, von ei- alter tritt der Hund, wie bei den Scaligern, nem fiesen „Möpp“ (~ Hund ~ Hunding) er- oft als Wappentier auf. Die Tradition des schlagen wird; ein Reflex hundsköpfiger Hundskopf-Helms ist bis ins späte Mittel- nordischer Krieger findet sich auf dem Gold- alter lebendig, wie ein Hundskopf als Helm- horn von Gallehus (> III, 207: Abb. 5): Viel- visier für Kaiser Ferdinand I. bezeugt (> 411: leicht wird hier sogar der kultische Kampf Abb. 35). Aber am Ende des Mittelalters sind eines Hunding gegen einen Wölfing darge- die Tiermaskenkrieger auf dem Rückzug: stellt. Wenn Kretzenbacher (86) generell Überliefert werden sie für die Neuzeit eine Gleichsetzung von Hund und Wolf im hauptsächlich noch in Gebirgsgegenden germanisch-deutschen Traditionsbereich wie den Alpen (> die langobardischen Mas- annimmt, dann dürfte das leicht übertrie- kenkrieger), auf dem Balkan (in: Rosen, Die ben sein, denn der Sieg des naturwilden Balkanhaiduken, 1878), aber auch im Kau- Wolfs über den domestizierten Hund ist kasus und Himalaya (Wackernagel, 21, FN eine Glorifizierung des Rückfalls in den 3), und auch in Japan die Samurai mit ihren „kruden Naturzustand“, den die Germanen maskenartigen Helmen (Wackernagel, 22). und Kelten, wie fast alle anderen indo-euro- päischen Hirtenvölker auch, ihrer männ- Für die Schweiz weist Wackernagel den lichen Jugend als phylo- wie ontogene- Fortbestand der Tiermaskenträger nach in tischen Bildungsroman aufzwingen oder er- der friedlichen Form im über den gesamten lauben, wie wir am Beispiel des Kessels von Alpenraum verbreiteten Perchten-Brauch Gundestrup (> 416-7: Abbildungen) gleich und in der kriegerischen Form im Walliser sehen werden. Und wenn Wagner in der Trinkelstierkrieg von 1550. In der Schweiz Walküre den scheinbar domestizierten Hun- scheint das Tiermaskenkriegertum, dessen ding über den Wölfling Siegmund trium- Träger die Hirten sind, in politischem Ge- phieren lässt, dann ist das nicht der Sieg der gensatz zur Schweizer Ritterschaft zu ste- Zivilisation, sondern zeigt nur, wie verkom- hen. Die Maskierung der Viehhirten als Stier men diese Zivilisation ist. Hier liegt also kei- ist noch dokumentiert im Wappen von Uri, ne Gleichsetzung von Hund und Wolf vor, aber auch in den Kantonen Schwyz und sondern die Autoren der Erzählungen jong- Unterwalden sind Rinder als Wappentiere lieren gekonnt mit dem Gegensatz, den bekannt. Der Uri-Stier wird in Verbindung Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 402

402 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

mit Wodans Totenheer gebracht (Wacker- (Wackernagel, 9). Die friedliche Form wird nagel, 18). Trinkel (aus dem lateinischen Heischezug genannt und ist eine Sonder- tintinnabulum ~ drenkila; für die spa- form der über fast das ganze Alpengebiet nischen Pyrenäen hat Krüger (in: Hirtenkul- verbreiteten Perchten, für die tur, 21 ff.) ebenfalls tringole, trinkola und trinkoleta nachgewiesen) bezeichnet in der völlig identisches Brauchtum auf dem Schweiz die großen Kuhglocken. Die Tradi- Balkan bei den Griechen, Bulgaren, tion des Herdengeläutes ist mit Sicherheit Albaniern und Walachen nachgewiesen älter als ihre romanische Bezeichnung. Die ist (Wackernagel, 10). Kuhglocken, die sich die Schweizer Hirten- krieger umhängen, um nicht nur durch ihr Die Perchte oder Berchte ist eine Erschei- Geschrei, sondern auch durch Lärm zu im- nungsform der germanischen Frigg bzw. ponieren, sollten nicht davon ablenken, Hel, der schwarzgewandeten Totengöttin, dass sie vor Einführung der Rinderwirtschaft die man an Kreuzwegen trifft. Bei den in kleinerer Form von Schafen und Ziegen Perchten sind die Burschen in Pelze gehüllt, getragen wurden. Der Walliser Aufstand ihr Gesicht versteckt sich hinter wilden Mas- von 1550 beginnt in der Nacht vom 5. auf ken, an denen nicht selten Hörner bösartig- den 6. Januar, also in der letzten der soge- teuflisch emporragen (Wackernagel, 10). Im nannten zwölf Nächte und folglich am dem Wallis benachbarten Savoyen sind die Dreikönigstag. Auch andere Schweizer Re- Aktivitäten der maskierten Hirtenkrieger volten beginnen auffällig an diesem mar- noch besser dokumentiert: In den kanten Datum. Neben dem Datum haben diese Aufstände drei weitere Kennzeichen Akten von 1428 und 1447 ist von gemein: Die Revolutionäre treten grund- Werwölfen und zauberisch-teufelhaf- sätzlich vermummt auf - was viel später zum ten Räubern die Rede (Wackernagel, sogenannten Vermummungsverbot für De- 12), monstranten führte -, sie benehmen sich wie die Tiere, deren Glocken sie tragen ein klarer Reflex der Maskenkrieger. In der (aber auch Kuhschwänze können zu militä- römischen Frühgeschichte des Wallis, also rischen Symbolen werden), und die wilde, vor 2.100 Jahren, sind die Gaesaten doku- sich wie unvernünftige Tiere gebärende mentiert, die sich im Kampf bis in Einzelhei- (Wackernagel, 16) Schar setzt sich haupt- ten nicht anders aufführten als sächlich zusammen aus ledigen und bün- disch organisierten Burschen und auch aus die mit Pelzen vermummten oder auch solchen, nackten nordischen Berserker (Wacker- nagel, 12). die es in ihrem Leben nicht zu einem selbständigen, haushäblichen Berufe Die Kontinuität von der Römerzeit bis in die gebracht haben (Wackernagel, 8). beginnende Neuzeit erklärt Wackernagel aus dem kulturellen Substrat, das weit hin- Zur symbolischen Festigung des revolu- ter die Römerzeit zurückreicht. Auffällig ist tionären Geheimbundes wird ein Schaf ri- dabei die Nennung der Zahl 300, so über- tuell geschlachtet und gemeinsam verspeist fällt 1502 eine Horde von 300 Burschen die (Wackernagel, 15). Diese Jugendbünde sind Bewohner des Ormont-Tales in der Greyer- lose organisiert, treffen sich an bestimmten zer Grafschaft (Wackernagel, 13), auch für Daten wie Fastnacht, aber auch bei Toten- reguläre Aufgebote im Wallis wirkt die Zahl feiern und bei politischen Anlässen, um 300 strukturierend, und im europäischen dann eine kriegerische und antistaatlich- Kontext erinnere man sich an die 300 tod- revolutionäre Tätigkeit zu entfalten bereiten Spartaner bei den Thermopylen Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 403

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oder an die 300 der heiligen Schar von hätte Karl beinah den Großen gekostet, Theben im antiken Griechenland. Auch die denn auch die Sarazenen lassen Elitekrieger Streuung der Anlässe zwischen festen, auftreten, die Geweihmasken tragen und markanten Daten und politischen Ereignis- die Trommel mit den Händen schlagen sen ist europaweit dokumentiert: Im deut- (Kretzenbacher, 91). Die Requisiten des Ge- schen Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts weihs und der Trommel stammen offen- zogen an sichtlich aus dem Schamanenfundus.

den fastnächtlichen Tagen des Jahrs Ähnliche Junghirtenbünde gibt es bei den 1525 Aufrührer, hauptsächlich junge Türken als Grenzkriegerschaften (Wacker- Burschen ... durch das Allgäu. Sie be- nagel, 15, FN 1), und von den indo-euro- drohten jeden, der sich ihrer Bruder- päischen Armeniern sind schaft nicht anschließen wollte, mit Auf- essen der Lebensmittel. Einige ließen phallische Bronzestatuetten arme- sich auf solche Erpressung nicht ein. nischer Mimen mit Windhundmasken Diesen rammten die aufständischen Ge- (Kretzenbacher, 91) überliefert sowie sellen einen Pfahl vor das Haus zum die Arales-Gottheiten (> VI) mit Hun- Zeichen, dass sie nunmehr öffentliche deköpfen, von denen man glaubte, Feinde seien (Wackernagel, 16). dass sie durch ihr Lecken die im Kampf Gefallenen wieder ins Leben zurück- Wackernagel ordnet die Schweizer Tradi- rufen könnten (Kretzenbacher, 91). tion der indo-europäischen Junghirtenkrie- ger folgerichtig den Rindviehzucht und Dem armenischen König Het´un I., der im Milchwirtschaft treibenden Hirten zu und 13. Jahrhundert lebte, attestiert die sagen- kontrastiert sie mit den Ackerbauern, deren hafte Überlieferung ein Hundekönigreich berufliches und öffentliches Alltagsleben (vgl. > II, 532-6). Aus dem nicht-indo-euro- ganz anders strukturiert ist: Drei Merkmale päischen Georgien sind hingegen auf einem kennzeichnen die mittelalterliche Gesell- Silberbecher aus der Zeit um -1.500, der schaft der Hochgebirgshirten - das jetzt im Georgischen Museum in Tiflis aus- gestellt ist, 22 Träger von Fuchs-Masken und sehr stark ausgeprägte Sippendenken, Fuchsschwänzen in einer Kultszene zu se- die kriegerische Tüchtigkeit und die mit hen. Von dem altgeorgischen Zaren Wach- beiden Erscheinungen eng verbundene tang I. Gorgasali (> 344-5), der im 5. Jahr- Blutrache, die eigentliche Fehde ... hundert lebte, ist überliefert, dass ein Durch die Blutrache ragt die Welt der Wolfskopf auf seinen Kriegsfahnen darge- Toten geheimnisvoll und kriegerisch in stellt war, wie dies auch bei Turkvölkern und das Treiben der Lebenden hinein ... Tote Mongolen üblich war (Bibikow, 167), wo der sind es, die von den primitiven Masken „Wolf“ als Anführer von Kriegerscharen dargestellt werden (Wackernagel, 20-1). auftrat.

Zur Totalidentifikation mit dem anverwan- Hundsköpfige Elitetruppen gibt es also delten Tier können wir also hinzunehmen nicht nur bei den Langobarden, die sich in die Identifikation mit dem eines gewaltsa- Oberitalien mit der ansässigen Bevölkerung men Todes gestorbenen Sippenmitglied. vermischen und aus denen Jahrhunderte Die Tradition der Tiermaskenkrieger ist aber später das Geschlecht der Scaliger hervor- nicht auf die indo-europäischen Hirtenvöl- geht, die in Verona im Übergang vom 13. ker und ihre Nachkommen begrenzt. Die zum 14. Jahrhundert das Sagen haben; aber Schlacht zwischen den Truppen Karls des diese langobardischen Scaliger haben die Großen und den Sarazenen bei Cordoba hündische Tradition am besten bewahrt: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 404

404 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Exkurs: Die Scaliger in Verona, langobardischen Wanderung, die an der ihr Hundsymbol und der Ostseeküste begann, keineswegs selten, er hohe Norden ist sogar über die Grenzen der heutigen Lombardei (~ „Langobardien“) hinaus nachgewiesen, denn das Langobarden- Zwar benennt sich die veronesische reich mit der Hauptstadt Pavia umfasste ur- Dynastie der Scaliger in Ober-Italien nach sprünglich Nord-Italien und Teile Mittel- der scala (~ Leiter, Treppe), an der ihr und Süd-Italiens - so war z.B. Cane Facino berühmter langobardischer Vorfahre be- ein Söldnerführer (!) des 14./15. Jahrhun- stattet wurde, aber auf den Wappen und derts: Er stammte aus Casale in Monferrat Mausoleen der Dynastie sind gleicher- und gehörte zur einflussreichen Adels- maßen Leiter- wie Hunde-Symbole zu se- familie der Cani. Beide - der Söldnerführer hen; neben Helmen in Hundekopfform tra- und seine Familie - werden in Dokumenten gen einige der Scaliger-Fürsten auch Na- sehr oft erwähnt. Ferione di Enrico di Cane men, in denen der Hund als lexikalische stammt aus Pisa (er starb 1167). Komponente enthalten ist, so haben Weitere Cane-Namensträger sind überlie- mehrere nachmals berühmt gewordene fert aus Padua, Vicenza, Mailand, Florenz, Angehörige des romanisierten Lango- Perugia, Piacenza, Cremona, Poveglia und bardengeschlechtes der Scaliger den Genua (alle in: Höfler, 1940, 108). Gerade Namen „Hund” geführt. Sie sind zumal in Monferrat, der Heimat besonders mäch- unter diesem Namen in die Geschichte tiger „Hunde“, die sogar in den Kämpfen eingegangen wie Cangrande I. (1291- Casales mit dem Byzantinischen Kaiserreich 1329), den eine Urkunde ausdrücklich im 14. Jahrhundert eine wichtige Rolle „Canis magnus” (~ lat.: großer Hund; spielten, war die langobardische Tradition Can grande ist die ital. Entsprechung) besonders stark (Höfler, 108, FN 31). Pavia nennt. Fünf der ersten neun Scaligeri ist auch Geburtsort der Legende vom Hei- tragen den Namen „Hund”... Schon der ligen Guinefort (~ starker Hund; > VI). Es ist Onkel väterlicherseits des vorhin ge- daher sehr wahrscheinlich, dass einige der nannten Cangrande I., nämlich Mastino cynocephali der Langobarden Vorfahren I. (gestorben 1277), trägt solch einen der Scaliger wie der übrigen norditalie- Namen. Denn „mastino” bedeutet in nischen „Hunde“ waren. Aber nicht nur ist der Sprache des 13. Jahrhunderts einen der Hund als Namenskomponente ein „großen Hund” (Kretzenbacher, 99). Wesenszug der Scaliger: Auch ihre Grab- mäler sind bedeckt mit Hundsymbolen - Für diese Bedeutung von mastino gibt es Hunde mit Kronen und Flügeln, Hunde als zeitgleiche Belege in Dantes und in Boc- Wappenhalter und als Sargträger, Hun- caccios Werk. Ebenso hieß Cangrandes deköpfe als Helmzeichen: Neffe: Mastino II. (gestorben 1351); Can- grande II. war ein Großneffe von Dantes Während das Monument (~ ein schlich- Gönner; dessen Bruder und Nachfolger ter Steinsarg, ohne Bilder) von Mastino Cansignorio war der neunte Fürst der Dy- I. nur die Leiter (Scala) zeigt, sind auf nastie (gest. 1375). Er und sein Enkel Can- dem Cangrandes I. (> 405) gekrönte francesco führen in ihren Namen das Hunde zu sehen, die das Wappen hal- Hundsymbol bis zum Ende der Scaliger- ten, sowie der bedeutende Mann selbst herrschaft (Höfler, 103). Selbst eine natür- mit einem Helm mit Hundekopf darauf liche Tochter Cangrandes II. trug den Na- (~ ein Helm, der in einen Hundekopf men Cagnola (~ kleine Hündin). Der Name ausläuft). Mastino II. trägt einen Helm Cane ist in Ober-Italien, dem Endpunkt der derselben Art ... Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 405

EXKURS:DIE SCALIGER IN VERONA, IHR HUNDSYMBOL UND DER HOHE NORDEN 405

Gekrönte Hunde halten das Wappen auf dem Sarko- Detail des Reiterstandbilds von Cangrande I. della phag von Cangrande I. della Scala in Verona. Scala in Verona, mit zurückgelegtem Hundskopfhelm.

Nordgermanische Frühformen der Hunds- eigentlichen Ursprung zurückgeht. Der kopfkrieger kennen wir aus Torslunda (> I, Hundekopf oben auf dem Helm muss 42: Abb. 11) und als südgermanisches Ge- also, weit davon entfernt, bloßer Zier- genstück aus Gutenstein in Baden (> 407: rat zu sein, als Symbolisierung des Abb. 12.3). Cangrande trägt seinen Bildhelm eigentlichen Wesens der Familie ver- lässig im Nacken (> oben rechts & 408), der standen werden. „Hund“ Mastino hingegen hat seinen Helm korrekt aufgesetzt und präsentiert sich als So fasst 2003 Kris Kershaw (164-5) Otto richtiger Hundsköpfiger (> 407: Abb. 12.3): Höflers Erkenntnisse von 1940 zusammen: Um den Hund als den transpersonalen tie- Mastino II. trägt einen Helm derselben rischen Stammvater der langobardischen Art, der auch die (vier) Giebelenden sei- Scaliger zentriert sich ursprünglich deren nes Monumentes, die vier Eingänge des gesamte Symbolik. Der zum höheren Ruhm Grabmals von Cansignorio sowie die des Herrschers von Verona angestellte Münzen der Scaliger schmückt (ein Schreiber Ferreto de Ferreti aus Vicenza er- Hund als Helmzeichen erscheint auch zählt denn auch in der Biographie des Can- im Scaliger-Wappen). Offensichtlich grande, dessen Mutter habe ein Traumge- war der Hund für diese Familie ein sehr sicht gehabt, sie werde einst einen Hund ehrwürdiges Symbol. Die Erklärung so- gebären, vor dessen lautem Gebrüll - müss- wohl dafür als auch für die Namen fin- te es nicht genauer heißen: Gebell? - der- det sich im langobardischen Stamm- einst die Erde erzittern würde. Kretzen- baum der Scaliger. Der hundeköpfige bacher (100) relativiert das Traumgesicht Helm ist ein metallischer Nachfahre der völlig zu Recht mit dem Hinweis auf Alex- echten Hundeköpfe, welche die frühen ander den Großen, von dem z.B. Plutarch langobardischen cynocephali (~ Hun- die gleiche Geschichte erzählt, nur knapp deköpfige) getragen haben müssen, ein 1.300 Jahre früher - der Schluss, es handle Verwandter der ursprünglichen „kú- sich um ein einfaches Wandermotiv, unter- nen“ (~ griechische Hundsfellkappe) stellt aber, dass die Geburtslegende des Can- und von Romulus´ wolfsköpfigem grande, die wir in abgewandelter Form Helm, während der Hund selbst auf die noch bei so heiligen Menschen wie Dominik Vorstellung des Stammes von ihrem (!) und Bernhard antreffen (> VI), keinen Sitz Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 406

406 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Keine Typengeschichte des Hundehelms (denn die müsste ja auch seine Vorstufen, nämlich z.B. die altgriechischen, vorhomerischen Kappen und Masken aus Hundefell oder Hundeleder miteinbeziehen, z.B. die kultische Hunde- rachenkappe des Totengottes Hades;> 193:Abb.235 & 3.1), aber doch eine Galerie quer durch Zeit und Raum: Die Bindung des frühen „Hundehelms“, sei er aus Leder, Fell oder später aus Metall, an kultische Vorgänge wie die Hei- lige und d.h. hier: Hündische Hochzeit z.B. des Hades mit Kore/Persephone (> III) oder z.B. des saharischen Hunde- mannes mit einer Menschenfrau (> II) steht außer Frage, dafür habe ich in dieser Kynosophischen Zeitreise eine (mich) überzeugende Menge an Indizien zusammengetragen. Ob aber diese maskenartigen Tonkopf-Deckel aus der frühes- ten Schicht der altbalkanischen Vinça-Kultur (um -5.000) an den Anfang der Galerie gehören? Man hat in ihnen Bären- oder Katzenköpfe erkennen wollen, aber die Katze als Bildspender scheidet aus, meint Gimbutas, weil sie damals noch gar nicht domestiziert war. Wenn aber die Wildkatze gemeint ist? Andererseits kann die Vinça-Kultur als neo- lithische Nachfolgerin der mesolithischen Lepenski-Vir-Kultur am Eisernen Tor der Donau verstanden werden. Und dort hatte der Hund eine kultische Funktion innegehabt (> VI; vgl. auch Bökönyi, 1975).Kretzenbacher (102-3) fügt die Abbildung der Vinça-Tonkopfdeckel kommentarlos in seine Bilanz der hundeköpfigen Krieger und Könige ein; er sug- geriert also lediglich die Zugehörigkeit dieser neolithischen Tondeckel-Masken zur Galerie der kultischen Hunde- helme, verstanden im weitesten Sinn als Wandlungs-Gefäß. Auch ich kann die Daseinsberechtigung dieser Tonkopf- Deckel in der Galerie nur suggerieren. Hier also eine Galerie, die von den eindeutigen und ältesten überlieferten ger- manischen Exemplaren des Hundehelms aus dem badischen Gutenstein (> 407: Abb. 12.3) und aus dem nordgerma- nischen Torslunda (> I, 42: Abb. 11) über die hundsköpfigen Lurenbläser auf einem Felsbild aus der schwedischen Bronzezeit (> 407: Tafel 15.3),deren kultische Bedeutung schon über die Musik allein,aber zusätzlich noch über das Kultschiff mit Lebensbaum vermittelt wird - über den Helm Cangrandes (> 405 & 408) und Mastino I. (> 407: Tafel 12.3) bis zum Hundskopf-Helm, den Hans Seusenhofer für den späteren Kaiser Ferdinand I. (1526/29) hergestellt hat (> 411: Abb.11).Die Helmträger wurden nach ihren Helmzeichen benannt - „das spricht dafür,dass dieses Helmbild nicht als bloß ästhetischer Schmuck zu verstehen ist, sondern tiefer und umfassender: als Wesensteil, Wesenszeichen, das will sagen - als echtes Sinnsymbol ... als Wesensgabe und Kraftverleihung“, was wohl für einen Helm Karl V. nicht mehr zutrifft. Zoologisch nicht stimmige Zusätze wie z.B. Flügel am Hundehelm steigern die kultische Kraft der Mas- ke. Zitat in: Höfler, 1940, 124; Bild in: Kretzenbacher,Abb. 103.

im Leben habe, was angesichts der durch- trug bereits Mastino I. einen Hundenamen. gängigen und intensiven Bildtradition des Und ein Dichter wie Dante, der schon in den Hundemotivs in der Scaliger-Dynastie völlig ersten Versen seiner Göttlichen Komödie (> unsinnig wäre. Im Gegenteil: Schon Jahr- 301-2) Cangrande als den edlen veltro (~ zehnte vor dem Traum der Schwangeren Windhund) preist, der die Wölfin, das Sym- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 407

EXKURS:DIE SCALIGER IN VERONA, IHR HUNDSYMBOL UND DER HOHE NORDEN 407

Das Reiterstandbild von Mastino I. in Verona (> 409). Unten: Germanische Lurenbläser mit Hundeköpfen aus der schwedischen Bronzezeit. In: Höfler: Abb. 12.3.

Darstellung eines Hundehelms auf einer Schwert- scheide, gefunden im badischen Gutenstein und um 600 datiert. In: Höfler,Abb. 3.

boltier der Habsucht, besiegen soll, auch Dante wird seinen großen Gönner nicht mit einem Symbol überziehen, das in dessen Le- ben keinen wesentlichen Platz einnimmt, nein: Dieses Symbol fasst das Wesen dieses Menschen geradezu kongenial zusammen. Und so meint Höfler wohl zu Recht:

Das Pathos des Scaligersymbols konnte (in Dantes Werk) nicht machtvoller und kürliches Missverstehen - sich einer nicht stolzer zum Ausdruck kommen. selbstbewussten Einheit von Menschen Wir wiederholen die Überzeugung, anheftet. Das Hundsymbol wird uns fast dass ein Wahrzeichen, das so sehr die unmittelbar sichtbar, als die Scaliger ins Seele einer Gemeinschaft darstellt, Licht der Geschichte treten. Seine Ur- nicht von ungefähr - sei es durch will- sprünge liegen, wie die der Scaliger- kürliches Erfinden, sei es durch unwill- sippe, noch immer in tiefem Dunkel, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 408

408 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Vor der ersten Stadtmauer Veronas aus dem frühen 12. Jahrhundert steht die Reiterstatue Cangrandes auf jenem Platz, der ihr 1964 bei der Umstrukturierung des ganzen Baukomplexes gegeben wurde. Cangrande, der bekann- teste Vertreter des Hauses Scala, beherrschte Verona von 1311 bis 1329. Im Jahr 1324 ließ er die Stadtmauer er- weitern, so dass die Stadt bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts innerhalb der Mauer Raum zur Entwicklung fand. Die riesige Stadtmauer sicherte eine gut befestigte, aber dünn besiedelte Stadt, die innerhalb der Mauer Felder zur Ver- sorgung anlegen konnte. So konnte die Stadt langen Belagerungen problemlos standhalten. Die Erweiterung er- laubte dann auch die Errichtung des Castelvecchio, vor dem nun die Statue Cangrandes steht. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 409

EXKURS:DIE SCALIGER IN VERONA, IHR HUNDSYMBOL UND DER HOHE NORDEN 409 Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 410

410 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

meint Höfler (107) im Jahr 1940 und macht am häufigsten den Namen Alboin, mit dem sich an die Arbeit, diese Ursprünge aus dem sie sich ebenso identifizieren und charakte- Dunkel ans Licht der Kynosophie zu holen - risieren wie mit ihren Hundenamen: Sie le- bis auf die beiden letzten, zeitbedingt et- gitimieren ihre Dynastie, wie Herzog Gisel- was bräunlichen, weil germanophilen Sei- pert im 8. Jahrhundert seine Herrschaft, mit ten seiner Analyse kann man den größten dem langobardischen König Alboin. Herzog Teil auch heute noch verwenden, wenn man Giselpert rühmt sich natürlich nicht nur, das bereit ist, die angeblich nur germanische Siegesschwert des in Verona getöteten Al- Denkweise der „Hundsköpfigen“ durch boin aus dessen Grab geholt zu haben, nein, „Paläomentalität“ zu ersetzen. Kommen er hat den König auch im Grab gesehen, wir nun noch kurz zu dem zweiten Symbol d.h. hier lag keine verweste Leiche, sondern der Scaliger-Dynastie, das ihr den Familien- ein fortlebender Toter; Giselpert will offen- namen della Scala gab, zur scala (~ Leiter, sichtlich als Wiedergänger Alboins erschei- Treppe): Quantitativ dominiert es seinen nen und sich so gleich doppelt legitimieren. Konkurrenten, das Hundsymbol, bei wei- Alboins Bestattung neben der Treppe, die tem, es ist ja auch viel leichter darzustellen zu seinem Palast führt, erscheint als eine als eine weitgehend naturalistische Hunds- modernisierte Fortsetzung einer früheren kopfdarstellung. Aber in welcher qualita- und nicht nur germanischen Tradition: tiven Relation steht die Leiter bzw. Treppe zum Hund? Der Isländer Hrappr, der sich, ein echter „lebender“ Toter, neben der Feuerhaus- Schwelle beisetzen ließ, um „sein Haus- Hund und Treppe wesen auch weiterhin besser über- in der Symbolik der Scaliger wachen zu können“,

Der Langobardenkönig Alboin ist ist nur eine germanische Variante, die mit seinem Schwert in Verona unter einer Höfler (133) in den Sinn kommt: Kynoso- Treppe bestattet, die zu seinem Palast führ- phen wissen schon lange, dass der Zugang te. Der veronesische Herzog Giselpert, so zur Anderen Welt der Ahnen an der Feuer- berichtet Paulus Diaconus (II, 28), hat später stelle zu finden ist, nicht nur bei den Ger- das Schwert des Königs aus dem Grab wie- manen, sondern in fast ganz Eurasien paläo- der hervorgeholt, eine Tat, die bei den Ger- mentaler Prägung (> I & > II). Die Feuerstel- manen höchste Reputation genoss, wie man le selbst ist die Schwelle, von der aus die schon dem Hervörlied der Edda entnehmen Ahnen das Treiben ihrer Nachkommen kann: Hier ist es die Königstochter Hervör, überwachen und schützen. In der Elektra die aus dem Hügel, in dem ihr toter Vater des Sophokles versichert sich auch der Mut- Angantyr lebt (!), dessen Siegesschwert termörder Orest der Zustimmung seiner Ah- birgt - man denke an die plötzlich während nen, wenn er vor der schrecklichen Tat der Jagd mit Hund verschwundenen Herr- scher, die in einer Höhle die Zeiten verschla- die väterlichen Sitze der Götter, die das fen, um zur Zeitenwende gewaltig ins Ge- vordere Tor bewohnen hier (v. 1374-5 in schehen einzugreifen (> VI). Die Tat hat al- der Übersetzung von Schadewaldt), so eine die Herrschaft des Täters legitimie- rende Funktion, da sie den Sieg verheißt: In zu deren Verehrung aufsucht, natürlich die diesem Zeichen wirst du siegen! Denn Al- väterlichen Sitze, doch das ist zu wenig, boin erobert 569 Verona und wird der Grün- denn die mütterlichen Ahnen werden den der des langobardischen Reichs in Italien. Muttermörder bis in dessen Wahnsinn und Und die Scaliger verwenden als Rufnamen Tod hinein verfolgen. Hier in Orestes´ legiti- neben ihren Namen mit can-Komponenten mierendem Besuch der Ahnen hat das vor- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 411

EXKURS:DIE SCALIGER IN VERONA, IHR HUNDSYMBOL UND DER HOHE NORDEN 411

Ein letzter Spross der Hundsfellkappe: Der Rest eines geschlossenen Helms, den Hans Seusenhofer für den späte- ren Kaiser Ferdinand I. (1503 bis 1564) zwischen 1526 und 1529 hergestellt hat, mit dem Visier in Form einer Hun- demaske: Der spätere Kaiser als einer der letzten hundsköpfigen Ritter des späten Mittelalters. Zu diesem Visier gab es ein Wechselvisier mit der Maske eines menschlichen Gesichts (heute in der Wallace Collection A 204 in Lon- don). Das Wechselvisier verrät die Doppelnatur seines Trägers (> 373: Abb.). Das Hundevisier ist „geriefelt und gewulstet getrieben“ mit vergoldeter Ätzung: „Das bezeichnendste Beispiel für das Weiterblühen jenes phanta- sievollen, reichen, barockischen Stils in Treib- und Ätzkunst, worin Hans Seusenhofer seinem älteren, 1517 gestor- benen Bruder Konrad folgt“. Auf einen Hundehelm im Italien des 16. Jahrhunderts verweist A. Uboldo in seinen „Notizie preliminari sul uso, sulla materia e sulla forma degli elmi“, 1840 (auf Tafel IV,c, mir nicht zugänglich); in der Waffenkammer des Schlosses Glurns im Südtiroler Vinschgau werden laut Kretzenbacher (99, FN 34) drei „Hundsgugel“-Helme aufbewahrt (mir nicht zugänglich); man vergleiche mit den Schembart-„Helmen“ aus Nürn- berg (> 203: Abb. 2). Bild & Zitat im Ausstellungskatalog: „Die Kunst der Donauschule, 1490 - 1540“, Linz 1965, Abb. 35. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 412

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dere Tor die Funktion der Schwelle über- trennt gibt sich der 14- bis 20-jährige Ju- nommen, wie in der Bestattung des Königs gendliche in Alt-Irland der Wolfssucht hin: In Alboin die Treppe die Stelle der isländischen Hundegestalt, d.h. hier in Gestalt des Wolfs, Feuerhausschwelle einnimmt - in allen Fäl- geht er nach Belieben und später auch seine len ist es eine Engstelle, eine Passage. Wir Nachkommenschaft, und sie töten Vieh nach wissen nicht genau, welche Tiergestalt den dem Muster der Wölfe (McCone, 106). Im väterlich-göttlichen Ahnen des Orest zu- Alt-Irischen konnten *cú und *con für Hund kommt - seine mütterlich-göttlichen Ahnen und Wolf ohne strenge Unterscheidung ge- sind jedenfalls hündisch konnotiert -, aber braucht werden. Die Konzeption des Hun- wir wissen genau, dass die langobardischen des ist im Zusammenhang mit diesen Ju- Krieger - Winnili wie Langbardr - hunds- gendbünden ein entdomestizierter, wieder köpfige Krieger waren, die sich mit dem verwilderter Hund, der Wolfsverhalten an- Hund identifizierten: Wesensgabe und nimmt - ein canis ferus (~ Wildhund). Der Kraftübertragung zugleich bedeutet diese männliche Jugendliche verlässt die *tewta Identifikation. Die kultische Verehrung der oder *teuto (~ Familie, Clan, Stamm), also Treppe als Schwelle, an der Alboin bestattet das eigentliche Volk, und schließt sich dem ist, lebt noch im 8. Jahrhundert des Giselpert ur-keltischen *koryos oder dem ur-germa- wie im 13. und 14. Jahrhundert der Scaliger. nischen *haryaz an, d.i. das umherschwei- Wir wissen nicht, ob Giselpert sich mit dem fende Rudel der besitzlosen Junghirten Hund als Ahn bzw. Stammvater identifiziert oder gar der enterbten oder nicht erbbe- hat, das wissen wir auch nicht von Alboin, rechtigten Königssöhne. Diese haben aber dass die Scaliger sich identifizieren so- manchmal sogar den ausdrücklichen Auf- wohl mit dem Hund wie mit der Schwelle, trag, neue Königreiche zu gründen mit den an der der Ahn bzw. Stammvater ihrer Junghirten, diesen blutdürstigen, meist langobardischen Dynastie begraben liegt, hunds- oder wolfsköpfigen und ansonsten das ist gewiss. Eine so lange Tradition so gut wie nackt kämpfenden Berserkern: hundsköpfiger Krieger aber legt nahe, in Die Etymologie dieses Wortes wird primär Alboin selbst einen „Hundskopf“ zu erken- auf den Bären bezogen - man legte das Fell nen, der, wie sich das für einen „Hund“ des Bären an, um sich mit dem Tier total zu gehört, unter der Schwelle, also am Eingang identifizieren -, später geht der ursprüng- zum Haus oder Palast, beigesetzt ist. So er- liche Bezug verloren und die Sagenschrei- scheint die Leiter, die eine scala (~ Treppe) ber und Historiographen wenden den Be- ist, am Ende als die Schwelle, auf der Kyno- griff des Berserkers auf alle tiergestaltigen sophen den Hund bereits in allen Erdteilen Krieger an. Daraus entsteht der teilweise lokalisieren konnten. glaubwürdige Versuch, das Wort nicht mehr über *bera (Bärin!), sondern über die Wur- zel*berr- (~ bar, nackt) zu erklären, da auch Zurück zu den indo-europäischen Tacitus in seiner Germania die germa- Junghirtenkriegern: nischen Junghirtenkrieger meist nackt Das Verhältnis von *koryos und kämpfen lässt (bis auf den Kraftgürtel ~ z.B. *teuta/teuto bzw. tewta ein „Hundeschwanz“; afrikanische Beispie- le > II, 202, 216, 272, 302: Abb. 1-10, 379-92) In Anlehnung an Cangrandes, aber und da die Assoziation zum Bären kaum zu auch Alexanders Geburtslegende vom erklären ist, wenn die Krieger in Hunde- Hund, der die Welt zusammenbellt, sieht oder Wolfsmasken auftreten. Dennoch wer- man: Wenn man nur laut genug brüllt bzw. den tierköpfige Krieger mit Fellen oder Pel- bellt, kann man als besitzloser Jugendlicher zen „bekleidet“ dargestellt, so dass letzten bei den Indo-Europäern eine steile Karriere Endes die etymologische Frage offen blei- machen. Besitzlos und vom Familienkreis ge- ben muss - man betrachte nur den Hund- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 413

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oder Wolfskrieger auf der Torslunda-Platte. gestellt. Die Spannung zwischen den Gene- Tacitus bezeichnet in seiner Germania (31,2) rationen wird durch die „Verbannung“ so den wilden Haarwust der Jungkrieger als zwar abgebaut, führt aber zu einer „Verwil- squalor, das R. Much mit Strobelkopf über- derung“ der Ausgestoßenen in vielerlei Hin- setzt, aber squalor bezeichnet neben Un- sicht, wie sie noch von den Wikingern doku- sauberkeit und Elend auch das Trauer- mentiert wurde. Mit etwas Glück konnte der gewand, woraus man schließen könnte, Junghirte nach dem 20. Lebensjahr (s)ein dass der Habitus des noch nicht erfolgrei- Erbe antreten und wurde danach wieder in chen Jungkriegers dem des indo-arischen die *teuta aufgenommen. Er behielt seinen „Hundes“ als dem melancholischen Anfüh- Junghirten-Namen meistens bei, woraus sich rer der Jungkriegerschar entspricht. Der so- die häufigen Familien- und Vornamen z.B. in ziale Gegensatz zwischen *koryos und Irland mit der Wurzel *cu oder *con (~ Hund *teuta/teuto bzw. tewta wird betont: Der und/oder Wolf) sowie die deutschen Vorna- *koryos besteht als „Werwolf“-Verband aus men Wolfgang, Wolfram usw. erklären. Ob zwar besitzlosen, aber adlig geborenen der *koryos-Verband erst viel später in voll- Junggesellen, die ein zügelloses, auf Jagd, ends zügellose, kriminelle „Werwolf“-Ban- Raub und Krieg angewiesenes vagabundie- den sich wandelt oder ob der *koryos-Ver- rendes Leben am Rand der *teuta, der mehr band sich prinzipiell oder auch nur in be- oder weniger sesshaften Gemeinschaft stimmten Regionen aus Familien mit „Wer- führen. Die *teuta hingegen wird erbaut wolf“-Traditionen rekrutiert bzw. ob die auf Ehe und Verwandtschaft, Besitz und Ge- Anführer des *koryos ab einem von der ge- setz, und ihre wirtschaftliche Grundlage ist sellschaftlich-ökonomischen Entwicklung vorwiegend die Viehzucht, die von etwas abhängigen Zeitpunkt aus „Werwolf“- Ackerbau ergänzt wird. Der „Werwolf“- Dynastien stammen, diese Fragen müssen Verband des *koryos besteht aus Fußkrie- z.Z. noch offen bleiben. Für das germanische gern, bewaffnet mit Speer und Schild, Nord-Europa scheint sicher zu sein, dass zu- während der militärische Verband der sess- mindest in einigen Regionen bereits eine haften Gemeinschaft einerseits aus Reitern, dynastische Tradition etabliert war, wie andererseits aus Streitwagenbesitzern mit Höflers (119-20) Beispiel zeigen könnte: Fahrern sich zusammensetzt, je nach Größe des Eigentums, das sich hauptsächlich über Es entstammt der Sippe des die Rinderzahl definiert: Auch bei den Ger- berühmtesten unter den Skalden, Egil manen, wie bei anderen Hirtenvölkern auch, Skalagrimson. Von Egils Großvater, gibt es den cattle complex, den engen Zu- Kveldulf, d.h. „Abendwolf“, berichtet sammenhang zwischen Vieh und Reichtum die Saga: Jeden Tag, wenn es gegen und gesellschaftlichem Ansehen. Der Ge- Abend ging, wurde er böse (styggr), so gensatz zwischen der *teuta und dem dass wenige mit ihm sprechen moch- *koryos könnte nicht ausgeprägter sein. Der ten; er war Abendschläfer; die Leute Eintritt in den *koryos und der Aufstieg in sagten, er könne die Gestalt wechseln ihm werden aufgrund blutiger Proben er- ... sein Vater führt den merkwürdigen langt. Und die Mitglieder sind Wutanfällen Namen Bjalfi: der aber bedeutet zugängliche Fußsoldaten, deren wildes Aus- „Pelz“, „Tierfell“ und wird wohl erst sehen durch eine besondere Haartracht, ganz verständlich, wenn man die Ver- Nacktheit oder Wolfs- oder Hundfellbeklei- wandlung dessen, der „hamrammr“, dung gesteigert werden kann. Wegen sol- d.h. verwandlungsfähig war, mit den cher Charakteristika und auch weil seine Fellmasken der Verwandlungskulte zu- Mitglieder als Tierbesessene auftreten, wird sammenbringt. Sein Name scheint also der *koryos einer - allerdings tollwütigen - ebenso bedeutungsvoll wie der Wolfs- Hundemeute oder einem Wolfsrudel gleich- name seines Großvaters Kveldulf. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 414

414 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Die Sage teilt weiter mit, dass Kveldulf for- Zuordnung entweder zu dem einen oder zu vitri gewesen sei, was Höfler wohl zu Recht dem anderen Zustand, bewirkt und beglau- als zukunftssichtig versteht, was im Ein- bigt durch ein Wandlungsritual: Eine sze- klang mit Kveldulfs dämonischer Art stünde nische Darstellung dieser Wandlung vom und was mit seinem „hündischen“ Charak- koryos-Hirtenkrieger zum tewta-Mitglied ter harmoniert, weil der Hund ja in schama- zeigt vermutlich ein Kultkessel, der in Gun- nisch geprägten Kulturen ebenfalls als zu- destrup in Jütland gefunden wurde. kunftssichtig verstanden wird, da er vor dem Menschen erschaffen wurde und des- halb der Zeit des Menschen voraus sei. Kom- Der Kessel aus Gundestrup oder die men wir zurück zur nordischen Genealogie „Herrin der Tiere“ einmal anders der „Werwolf“-Familie Kveldulfs: Den aus Silber mit vergoldeten Der erste Sohn Ulfs hieß Pórolf (~ Por- Reliefplatten gearbeiteten Gundestruper Wolf), der jüngere, der seine Art erbte, Kessel fand man zwar in Jütland, hergestellt Grim. Dieser Name ist zwar, im Gegen- wurde er aber zwischen dem -3. und -2. satz zu Bjalfi, häufig, aber das beweist Jahrhundert im keltischen Kulturraum, natürlich nicht, dass er hier ohne Ab- vermutlich war er ein Tauschobjekt. Auf die- sicht gewählt war. Seine Bedeutung ist sem Kessel (> 416: Abb. 3 E) sehen wir in eigentlich „Maske“; vgl. die Zusam- einer szenischen Darstellung die Aufnahme mensetzung Isegrim für den Wolf. der Junghirten in den Stamm: Die vormals Schon Höfler (120, FN 84) verweist da- als Fußsoldaten in Hunde- und Wolfsproto- rauf, dass im schweizerischen Jung- men kämpfenden Jugendlichen werden mannschaftbrauchtum ... eine symbo- nach einer Art Taufe im Kessel verwandelt in lisch-kultische hundeähnliche Maske, berittene Krieger, ob sie dabei auch eine Isengrind (> 204-7) genannt, bis heute Geistwandlung durchgemacht haben, wie eine Rolle in Bräuchen spielt, die mit Neumann (84 ff.) sie sich erhofft, ist nicht dem Werwolfswesen in engstem Zu- mehr zu klären. Die „Herrin der Tiere“ ist sammenhang stehn ... im Norden ist auch die „Herrin der Kriegertiere“ und ist Grimólfr (~ Grim-Wolf) ein häufiger auf anderen Szenen des Kessels, z.B. bei der Name, Auerochsjagd, dargestellt: Dabei kann man in den Gundestruper Szenen bereits der wahrscheinlich ebenfalls auf die symbo- lisch-kultische hundeähnliche Maske, in der deutlich zwei weibliche Typen unter- Schweiz Isengrind und im Norden eben scheiden: die alten Priesterinnen, deren Grimólfr genannt, zurückgeht. Dass die Haartracht der großen Göttin der Tiere Sippe Kveldulfs ausdrücklich eine besonders entspricht, an welche sie sich wenden; nahe Bindung an Odin/Wodan bezeugt, sie sind offenbar die eigentlichen verstärkt den Eindruck, dass wir es hier mit Fruchtbarkeits- und Wahrsageprieste- einer Dynastie von „Werwolf“-Anführern rinnen. Daneben sehen wir jugendliche zu tun haben. Diese Option lässt beide Zu- weibliche „schwebende“ Figuren, die stände zugleich zu: Den des „tollwütigen“ schon den später auf Besenstielen rei- *koryos-Mitglieds bzw. -Anführers am tenden jungen Hexen ähneln. Sie ha- Abend und in der Nacht und den Zustand ben als artemisartige Jagdgöttinnen des (relativ) gesitteten tewta-Mitglieds amazonisch-walkyrischen Charakter. tagsüber: Eine dauerhafte schizoide Spal- Die eine kämpft mit einem Raubtier, die tung in Dr. Jekyll und Mr. Hyde (~ engl.: hide andere, mit einem Schwert in der Hand, ~ 1. (sich) verbergen; 2. Haut, Fell). Vorge- tötet anscheinend einen Auerochsen sehen war aber eigentlich eine dauerhafte (Neumann, 273-74). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 415

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Der Übergang von einem älteren weib- gehen. Auch in dieser Form ist sie Herrin lichen Typ zum jüngeren ist aus der Vor- der Tiere, und die orgiastische Form ihres herrschaft der männlichen Götter im indo- Kultes verbindet sich mit der Erregung europäischen Pantheon zu erklären: Der des raubtierhaft Kriegerischen im Männ- Götterchef Wodan/Odin ließ die Walküren lichen ... In dieser Entwicklung wendet die im Krieg gefallenen „Helden” einsam- sich das selbständig gewordene Männ- meln, um sie in Walhall um sich zu scharen liche kraft der Qualität gegen das Weib- für den „Endsieg“. Dieser Teil des Kessels ist liche, zu deren Differenzierung es durch so etwas wie ein Seligkeitsversprechen an das Weibliche veranlasst worden war die tapferen Krieger, wie man es aus dem (Neumann, 257-58). Koran kennt. Es führt mit zu einer Selbst- vergessenheit im Kampf, die die besondere Die matristische Grundordnung sorgt also Einsatzfreude der jungen Krieger teilweise auf Dauer selber für ihre Wandlung ins erklärt. Ein anderer Teil der Erklärung ist die Patriarchat. Uns interessiert in diesem Zu- Struktur des „Matriarchats“. Das „Matriar- sammenhang mehr als diese Ironie die Ent- chat“ ist nach Neumann (257) gekennzeich- menschlichung der indo-europäischen net durch zwei Merkmale, die sich wechsel- Junghirten durch wahrhaftige Entdomesti- seitig bedingen: Erstens das Zusammen- kation, nämlich durch ihre Ausstoßung von bleiben der Frauengruppe von Großmutter, Heim und Herd ins Niemandsland des Mutter, Tochter und Kindern, den Trägern rechtsfreien Raums, in dem sie sich durch der matriarchalen Psychologie und der Mys- Vergewaltigen, Stehlen und Morden den terien. Und das zweite Merkmal ist die Unterhalt und die Unterhaltung ihres Le- „Ausstoßung“ des Männlichen, der Söhne, bens sichern. Die Große Göttin ist auf wahr- welche auf diese Weise immer nur am Rand haft unüberbietbar zynische Art auch in die- der Frauengruppe bleiben. Daraus resultiert sem Zusammenhang die Herrin der „Tiere“: die spezifisch männliche Qualität der Män- Die Herrin der entmenschlichten, tierischen ner und führt zu der, wie Neumann meint Kampfmaschinen der Wolfs- und Hunde- (257), entwicklungsgeschichtlich notwendi- menschen. Offensichtlich werden matri- gen männlichen Differenzierung und Spe- archal-egalitäre Komponenten in der Kunst zialisierung. Diese einseitige Entwicklung und in der gesellschaftlichen Struktur der des Männlichen führt nicht nur zu einer für Kelten tradiert, die auch die besondere den Schutz und die Erhaltung der Frauen- Grausamkeit ihrer Junghirtenkrieger er- gruppe notwendigen erhöhten Kampf- und klären. Aber in der Übergangsphase zum Jagdfähigkeit, sondern verstärkt auch kraft Patriarchat bleiben die Krieger- und Jäger- der entstehenden Polarisierung zwischen gruppen der Hirtenvölker wie auch die Männlichem und Weiblichem die gegensei- Häuptlinge, Opferpriester und Seher noch tige sexuelle Attraktion: Trabanten der Großen Göttin, von der sie in dialektischer Weise beeinflusst bleiben: Die Entwicklung der Gegensatzstruktur mit der daraus entstehenden Spannung Die Entwicklung der Willens- und Hand- wird so zur frühesten Form der sozialen lungsaktivität des Männlichen wird von Gliederung ... Aber die Macht der Göttin der Großen Göttin - wenn auch indirekt treibt das Männliche auch in die blutige - ebenso begünstigt wie die Entwick- Aktivität des Tötens. Deswegen ist die lung der Geistseite. Denn auch in dem Große Göttin als Jagd- und Kriegsgöttin ursprünglichen Auftauchen des Geistes für das Männliche auch Todesgöttin. Sie aus dem Unbewussten ist das Männliche entmenschlicht die Männer zauberisch auf den Ur-Brunnen der Wasser und der und verwandelt sie in Kampftiere, die als Tiefe angewiesen, welchen die Große Trabanten der Göttin tötend unter- Mutter verwaltet (Neumann, 258). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 416

416 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Eine Außenplatte des Kessels von Gundestrup (aus dem -2. oder -1. Jahrhundert) zeigt wahrscheinlich die Wand- lung von Fußkriegern der Junghirtenverbände in berittene Krieger der erwachsenen Altersklasse, also die Rückkehr der *koryos-Mitglieder in die *teuta (~ Stamm). Ein Hund oder Wolf springt den zu verwandelnden Jungkrieger oder den Lebensbaum an. In: Olmsted, Tafel 3 E. Unten: Knochenritzung aus dem Magdalénien (Raymonden/Dor- dogne/Südwestfrankreich), entstanden um -12.000: Männer in zwei Reihen, Kopf, Rückgrat und Vorderbeine eines Bisons. Handelt es sich um die Darstellung eines schamanischen Wiederbelebungsritus oder um eine zu Gundestrup analoge „Geistwandlung“ von Jungkriegern. In: Leroi-Gourhan, Abb. 242.

Dieser Ur-Brunnen der Wasser und der Tiefe, eher: die Hündin in unmittelbarer Nähe die- der den magischen Trunk, das Wasser des Le- ser „Quelle“ repräsentiert vielleicht die Mut- bens und mit ihm den Ursprung allen schöp- tergöttin. Die Entdomestikation wie die ferischen Lebens spendet, wird durch den Domestikation des Menschlichen allgemein Gundestruper Kessel „wiederholt”, und in und des Männlichen insbesondere durch das einer seiner Szenen wird der dreidimensio- Weibliche verläuft, wie Neumann (267) dar- nale Kessel zweidimensional als Taufbecken legt, über eine unbewusste, der Gruppe wie wiederholt (> ganz oben). Viele Muttergöt- dem Individuum bedeutsam erscheinende tinnen werden als Hüterin des Brunnens Praxis, die wir heute als Ritual bezeichnen. bzw. der Quelle verehrt - der Hund, vielleicht Jede wesentliche Tätigkeit wird in diesem Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 417

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Oben: Eine Innenplatte des Kessels von Gundestrup zeigt eine Göttin mit Tieren - für Neumann die „Herrin der Tie- re“; unter der Göttin ist ein Canide dargestellt: Ihr Emblem? Unten links: Auf einer Außenplatte des Kessels ist die To- des-Göttin dargestellt. Unten rechts: Auf dem Kesselboden sehen wir eine Auerochsjagd (Mithras?) mit einem - dies- mal eindeutigen - Hund: Hund und Wolf sind auf dem Kessel offensichtlich austauschbar. In: Neumann, 1988,Tafel 133.

Sinn rituell praktiziert, die Jagd ebenso wie nem Kreislauf, sondern es kommt zu einer die Nahrungszubereitung, das Essen ebenso Erhöhung, die in Dichtung, Sehertum und wie die Bereitung des Rauschtranks wie der Weisheit dem Menschlichen die Erreichung Jagdgeräte. Dabei sind bestimmte Geräte einer neuen Geistdimension ermöglicht männlich, andere weiblich konzipiert: Das (Neumann, 276) - Voraussetzung zu dieser Gefäß ist grundsätzlich weiblich konnotiert. Steigerung und Geistwandlung aber ist das So auch der Zauberkessel, der als Fruchtbar- vollständige Eintauchen des zu Wandelnden keitssymbol zum Elementarcharakter des in seiner Ganzheit in das Große Weibliche: Weiblichen gehört (Neumann, 274). Der Zauberkessel von Gundestrup wiederholt Die Rückkehr in das Mutter-Gefäß das Große Runde und wird zum Garanten (vgl.> II, 195: Abb. 133), mag dies als der Steigerung und Wiedergeburt des Le- Erde, Wasser, Unterwelt, Urne, Sarg, bens (Neumann, 275). Es bleibt nicht bei ei- Höhle, Berg, Schiff oder Zauberkessel Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 418

418 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

erscheinen ... Es kann sich bei dem auch bei Rübezahl u.a. Wilden Männern Wiedergeburtsgeschehen um einen wiederfinden. Die Erfahrung dieser matri- Schlaf in der nächtlichen Höhle (zur archalen Grundsituation des Ausgestoßen- „Ewigkeit“ gedehnt in der Sage vom seins in die Wildnis und der nachfolgenden schlafenden Ideal-König, der auch dann Wiederaufnahme in die tewta wird vom von seinem Hund beschützt wird; > 268, Männlichen in einer Weise verarbeitet, die 496-7 & VI), um den Abstieg in eine langfristig zum Herrschaftsantritt der Welt unter der Erde zu den Geistern Männergruppe und des Patriarchats führt: und Ahnen der Unterwelt ... handeln - in jedem Falle ist die Rückkehr zur Typischer Ablauf ist, dass die im Matri- Erneuerung nur nach dem Tode der archat untergeordnete Männergruppe alten Persönlichkeit möglich. ihre Selbständigkeit und Eigenständig- keit allmählich erfährt und durchsetzt Die Rückkehr der ausgestoßenen Junghir- und sich nicht mehr zum Werkzeug ihr ten in das Mutter-Gefäß der tewta/teuta be- feindlicher und wesensfremder Ritua- deutet im idealen Fall den „Tod” der ent- lien machen lässt. domestizierten, weil „gestorbenen“ und frisch „wiedergeborenen“ und daher jeg- Diese neue Selbständigkeit aber soll nach licher Sozialisation verlustig gegangenen Neumann (149) vergeistigt werden durch Persönlichkeit, wie sie sich im koryos entfal- Kunstproduktion, die aber nicht immer ten und „kindlich” austoben konnte, und wunschgemäß gelingt, wie die Unterwerfung den Neubeginn, besser: Die Wiedergeburt der Frau in der patriarchalischsten Kultur und als „zivilisiertes” Mitglied der tewta/teuta. Religion erweist. Das mag auch an der seltsa- So gewinnt der Hund, der unmittelbar ne- men Mischung liegen zwischen Vergeisti- ben dem Taufkessel die Taufaktion über- gung, Zauberei und prophetischer Inspira- wacht, die Qualität des früheren Himmel- tion, die keinen Widerspruch mehr duldet: hundes: Er ist Geleittier (durchaus als Psy- chopomp zu verstehen) der zu wandelnden Aber der Kessel ist nicht nur das Gefäß jütländisch/germanischen oder keltischen des Lebens und des Todes, der Erneue- Junghirtenkrieger des Gundestrup-Kessels, rung und Wiedergeburt, sondern auch wie er wahrscheinlich schon Geleittier des das des Zaubers und der Inspiration ... jungen Schamanennovizen in der Grotte die psychische Wirklichkeit der Dichter Chauvet war. Südlicher wohnende indo- (geht) auf die der Propheten und diese europäische Junghirtenkrieger wie die Grie- auf die ... mit der Inspiration verbunde- chen tauschen in der 1. Hälfte des -1. Jahr- ne Besessenheit zurück (Neumann, 280). tausends den Hund und mit ihm die Hunds- fellkappe gegen die Löwenkappe, nachdem Diese Besessenheit, die wir bislang nur ne- sie, wie ihr großer Bruder Herakles, offen- gativ als berserkerhafte Kampfeswut der sichtlich orientalisch beeinflusst sind. In der Junghirtenkrieger kennen und die bei Hera- mythischen Gestalt des Herakles bündeln kles dazu führt, dass er seine Familie aus- sich die Entwicklungslinien zum schama- löscht, kann also auch Kultur schaffen und nisch-patriarchalischen „Herrn der Tiere“, das jeweilige Bewusstsein des Einzelnen und zum indo-europäischen Junghirtenkrieger der Gruppe bereichern, so dass es im Sinne der griechischen Antike und zum mittel- Neumanns zu einer Geistwandlung kommen alterlichen Wilden Mann (> 386: Abb. 11 & kann. Erich Neumann verdeutlicht diese all- 293: Abb. 1). Als Nachfolger des Bären- gemeingültige Zusammengehörigkeit von Sohns, wie sein Requisit anzeigt, schwingt Ergriffenheit, Wut, Geist und Dichtung an der Wilde Mann Herakles, einem Halbgott der zentralen Figur des indo-europäischen nicht ganz angemessen, die Keule, die wir Pantheons, an Wodan-Odin und seinen Kol- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 419

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legen: Wodans Namensableitung ist eine betrachte man die 14.000 Jahre alte Entfaltung des Wortes Wut, das ein ganzes Knochenritzung (> 416: Abb. 242) aus dem Merkmalbündel der indo-europäischen franko-kantabrischen Raymonden in der Junghirtenkrieger zusammenfasst: Wut Dordogne, die vermutlich die „Wiederbele- konnotiert im althochdeutschen Nomen bung” einer Reihe von schamanischen No- wuot Raserei, im gotischen Adjektiv wods vizen darstellt, vielleicht aber auch die Besessenheit und Geisteskrankheit. Neben Geistwandlung von einer Altersklasse in die diesem Strang steht das angelsächsische nächste - die Analogie der Szene soll nicht wop für Stimme, Gesang, Leidenschaft, Poe- die Unterschiede verwischen zwischen sie. Das lateinische Wort vates bezeichnet paläolithischen Jägern und keltischen Jung- den gottbegeisterten Sänger, das alt-irische hirten. Smith (70) versteht das grätenähn- Nomen faith den Dichter, das alt-iranische liche Zeichen als Symbol für den Atem ~ api-vatagati die geistige Anregung, die Äther (> I, 379). Auch eine Felsgravur von Fähigkeit und den Wunsch zum Verstehen. Besso-Noss am Onega-See in Russland zeigt Wodans durch diese ambivalente Männlich- einen Schamanen mit Wolfsmaske (> 387: keit - mal geisteskrank rasend, mal kultur- Abb. 175), dessen Mentalität nicht zu ver- schaffend-gottesfürchtig - gekennzeichne- wechseln ist mit der unserer Junghirten. tes Gottkönigtum bleibt dem Großen Weib- Aber das rituelle Erleben von Tod und lichen unterlegen, wie Neumann (286) Wiedergeburt der Persönlichkeit ist ihrer al- kritisch erläutert: Der tagelang am Schick- ler gemeinsamer Nenner: Die indo-euro- salsbaum bzw. der Weltesche hängende und päischen Junghirtenkrieger tradieren nicht auf Erleuchtung wartende Wodan/Odin nur die Wolfsfell- und die Hundsfellkappe macht deutlich, dass nur das Annehmen des mit Ohren als schamanisches Erbe, aber verordneten Schicksals den früheren Scha- schamanisches Erbe und schamanische Teil- manen und späteren Helden ausmacht. Und kontinuität in der indo-europäischen Hir- das Schicksal wird ihm immer noch von den tenjugend wird so manifest. Auch soll nicht Nornen diktiert, den Weisen Frauen, die wis- dasselbe Muster für alle indo-europäischen sen, wie alles war, wie alles ist und wie alles Hirtenkulturen behauptet werden - so gab sein wird: Diese indoeuropäischen Helden es z.B. Ausnahmen von der Altersstruktur, sind Getriebene. Und das Schicksal erscheint z.B. beim alt-irischen Nationalhelden: In sei- ihnen als Altes, mütterlich Weibliches, wel- ner letzten Jugendtat erhält der erst sechs- ches ihnen Herkunft und Zukunft bestimmt jährige Setantae seinen männlichen Namen (Neumann, 286). Noch Wagner lässt seinen Cú Chulainn aufgrund der Erlegung eines Wotan im Rheingold zur Ur-Wala hinabstei- riesenstarken wütenden Hundes. Ein Jahr gen, auf dass diese „Quelle“ ihm die letzten später, in seiner letzten Jugendtat, erhält er Geheimnisse der Welt entschlüssele. Bilan- schon Speer und Schild, und einige Tage zieren wir diese paradoxe Mischung aus danach wird er sogar mit Streitwagen und Fort- und Rückschritt am Beispiel des Kessels Pferd ausgestattet (McCone, 113). Das indo- von Gundestrup: europäische Schema ist dennoch: Die Erle- gung eines starken Tieres als Männlichkeits- probe, die Neubenennung des Initianden Vorläufige Bilanz aus Gundestrup nach Hund oder Wolf, die Kopf- und Tier- jagd jenseits der Grenze des Stamms, die Ein Wolf oder Hund steht als be- Heimkehr und das Eintauchen in ein Fass zeichnendes tierisches Merkmal der Reihe voll Wasser als Aufnahme in den Stamm als des wölfisch/hündischen Junggesellenver- vollberechtigtes Mitglied und dessen Aus- bandes voran. Die Gesamthandlung schil- stattung mit spezifischen Waffen als Auf- dert den rituellen Übergang vom *koryos nahme in den Männerbund (Mc Cone, 113). zur *teuta (McCone, 113). Zum Vergleich Die Gewohnheit, Krieger mit Hunden und Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 420

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Wölfen zu vergleichen, war keineswegs im oder als dessen Pendant aufgefasst (McCo- indo-europäischen Raum mit den Kelten ne, 124). Wolfs- und Hundebünde haben ih- und Germanen auf den Westen und Norden re anatolische Parallele schon in den vor- beschränkt: Spuren eines Jungmännerbun- oder frühneolithischen Leoparden-Män- des entdecken wir auch in der alt-iranischen nern auf den Wandmalereien von Çatal und alt-indischen Literatur (> 5. Kapitel). Hüyük; ihre „Kostümierung“ erinnert an die Und die Unzahl der Männerbünde in der der späteren griechischen Kentauren und griechischen Mythologie erhält ihren Sinn Satyrn. Burkert denkt an eine bereits afri- und ihre Bewährung immer noch im kanische Tradition der Leoparden-Männer: Heldenkampf gegen die Ungeheuer der Großen Mutter (Neumann, 149). Die Jung- Der Leopard, als kletternde Großkatze, hirtenkriegerverbände als „Werwolf“- war der gefährlichste Feind der Prima- Gruppen verdanken ihre Existenz also ei- ten; anerzogenes Wolfsverhalten mach- nem matriarchalen Motiv. Bei den Griechen te den Menschen zum Jäger, der Herr fand so ein „Werwolf“-Ritual noch in der der Erde wurde. Stammen die Leopar- klassischen Periode im abgelegenen und ge- den- und Wolfsbünde unmittelbar von birgigen Arkadien statt, also in einem kul- diesem entscheidenden Schritt? turellen Rückzugsgebiet: Menschenfleisch wurde mit Tierfleisch in einem großen Kes- fragt sich Burkert (103) und verweist auf die sel vermischt und gekocht anlässlich des Leopardenbünde Afrikas, die sich zu Meu- Festes des Zeus Lykaios (~ Zeus der Wolfs- chelmord und Kannibalismus verschworen gott ~ Ahnengott einer wölfischen Jung- hatten. Die den Leopardenmännerbünden kriegerschar). Wer während des Opfermahls (später?) folgenden „Wolfsvölker“ in Ana- ein Stück Menschenfleisch gegessen zu ha- tolien sind als Luwier, Lykier und Lykaonen ben glaubte, wurde zu einem Wolf und bekannt und in ihrem Namen schon dem musste neun Jahre in der Wildnis verbrin- Wolf gewidmet; ja, sogar ganze Regionen in gen (McCone, 121). Das Leben als „Wolf“ in Anatolien werden von zeitgenössischen der Wildnis begann dort im Alter von unge- Geographen schon im -14. Jahrhundert zu fähr 16 Jahren und kann als Äquivalent ei- dem Begriff Lugga-Land (~ Wolfsland) zu- nes später organisierten Militärdienstes sammengefasst , so z.B. Lykaonien, Pisidien, (Burkert, 105) gesehen werden. Arkadische Pamphylien und Lykien. Diese Wolfsvölker Krieger tragen statt der Schilde Wolfs- sind die Völker des Wolfsgottes als Ahnen- und/oder Bärenfelle. Und Lyko- (~ Wolf) ist gott der Jungkriegerschar(en), und da ziem- ein ziemlich häufiger Bestandteil home- lich unterschiedliche Götter des griechischen rischer Personennamen (Mc Cone, 122). Die Pantheons als Lykaios bezeichnet werden, Jugend Spartas wurde allerlei Mutproben darf man mit Kretschmer annehmen, und Wettkämpfen unterzogen: Man veran- staltete rituelle Schlachten zwischen zwei dass der Wolfsgott ursprünglich ein Junghirten-Mannschaften (in etwa ver- selbständiger Gott war, der erst gleichbar den beiden Gruppen bei den rö- nachträglich mit Zeus oder Apollo (auch mischen Lupercalien). Im Verlauf der Nacht Pan Lykaios auf dem Lykaion) gleichge- vor der „Schlacht“ opferte jeder Verband setzt wurde. Auf der theriomorphen dem Kriegsgott einen jungen Hund. Hier ist Stufe war offenbar der Gott selbst als der Hund (> 614 ff. & > VI: Kriegshunde im Wolf gedacht (Kretschmer, 1930, 15). Alten Griechenland) ganz deutlich Symbol des Kriegerverbandes und Weihetier des Die Assimilation des Wolfsgottes an promi- Kriegsgottes: Der Hund ist das zum Opfer nente und zum Teil späte griechische Götter geeignete, obwohl domestizierte Gegen- verweist auf die vor-griechische, d.h. vor- stück zum Wolf, und wird als Wolfersatz indo-europäische Existenz dieser Wolfsgöt- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 421

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ter. Dazu passt das hohe Alter der Lugga- wollten, von den griechischen Eroberern zu Bezeichnung, die nicht von den Griechen Sklaven oder Hörigen gemacht wurden stammen kann - sie muss also vor-indo- (Kretschmer, 190). Die Leleger, die bereit zur europäisch motiviert sein. Das lässt Kretsch- Anpassung waren, zeigten dies am besten mer 1930 (16) zum Wolfsgott annehmen, durch weitgehende Aufgabe ihrer eigenen Sprache. In Sieben gegen Theben (154) gibt dass der Dienst dieses Gottes dem süd- Aischylos einen Hinweis auf die von den neu lichen Kleinasien mit dem vorgrie- eindringenden Griechen bekämpfte „Urbe- chischen Hellas gemein war. völkerung“, nur scheinbar analog zum Kampf der Hethiter unter Mursilis gegen Für die Annahme, dass Wolfs- und Hun- eben diese anatolischen Leleger: In Wahr- degötter sowohl bei indo-europäischen wie heit war das hethitische Reich eher bei nicht-indo-europäischen Völkern nicht nur in Anatolien und in Griechenland ver- a true melting pot of Hattian, Luwian, ehrt wurden, sprechen vielleicht auch hethi- Palaic, Hurrian, Mesopotamian, and tische Kultfunktionäre, die sowohl mit Hittite cultures, hethitischen wie mit sumerischen Begriffen bezeichnet werden. Dabei ist der Hund die wie Collins betont. Der Einfluss der Hethiter grundlegende Kategorie, er ist der referen- reichte bis nach Israel, denn im Relief von tielle Bezug für Wolf und Löwe, wie wir Beth Shan mit Hund und Löwe (> IV, 449: schon in Sumer gesehen haben (> IV): Das Abb. 2.36), das auf -1.700 datiert ist, er- Sumerogramm Lu.MesUR.GERx ist der Hunde- kennt Bill Humble hethitische Kennzeichen: mensch, der Lu.MesUR.BAR.RA ist der Wolfs- mensch - d.h. wörtlich: Der nicht im Haus le- It may be Hittite art, and if so, confirms bende Hund (~ der fremde, seltsame Hund, the Bible record that Hittites were in vielleicht: der Hund der Wildnis); er wurde the land in the days of Abraham and his auch Bruder des Hundes genannt, was die sons (Humble, www.knls.org/English/ ambivalente Nähe und Fast-Identität von trascripts/humble03.htm). Wolf und Hund betonen könnte. Wenn das Relief hethitischem Einfluss zu ver- danken ist, dann lässt es uns schon die her- ausragende Position des Hundes in der hethi- Die Vielseitigkeit von tischen Gesellschaft erahnen, aber auch sei- Hundemenschen und -figuren ne ursprüngliche Akzeptanz im Lande Abra- in hethitischen Ritualen hams: Tiefenpsychologisch kann man Löwe und Hund verstehen als Symbole des Kon- flikts zwischen Anima und Spiritus; in der ara- Die Hethiter haben sich als wahr- bischen Alchemie wird der Löwe als das Sym- scheinlich erste Gruppe aus dem indo-euro- bol der unteren Sonne durch den Hund ge- päischen Kernland verabschiedet, und zwar schwächt und zum Verdunkeln gebracht, in Richtung Anatolien, wie Dolgopolsky d.h. er wird durch die Eklipse zur Nützlichkeit (1989, 4) annimmt. Dabei gehen sie mit der und zu einer besseren Natur und zu einer anatolischen Urbevölkerung vermutlich an- vollkommeneren als die erste gewandelt ders, nämlich toleranter um als die später (Jung, 14/1, 46, FN 145). Das Relief könnte al- hier eindringenden Griechen: Die altgrie- so einen alchemistischen Hintergrund haben, chischen Historiker berichten, dass die ana- zumal der Hund durch den Biss in die Hüfte tolische Urbevölkerung, die Leleger (~ Lak- des Löwen diesen nur schwächt, aber nicht ken) im hündisch konnotierten Karien (> III, tötet. Die Alchemie kann als Vorläuferin der 490-2), die sich mehrheitlich nicht fügen Tiefenpsychologie aufgefasst werden: Das Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 422

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Relief würde demnach eine archetypische wolf had sacral virtue in the ancient Hit- Konstellation von Anima und Spiritus tite tradition. The supreme Hittite so- verbildlichen. Auf dieser Basis wäre es Israe- ciety was called “wolf clan” and the liten wie Hethitern gleichermaßen verständ- dressing of wolf leather had magical lich. Kommen wir zurück zur Dominanz der power, Hethiter in West-Asien: Ihren Einfluss ver- dankten die Hethiter natürlich einem ganz so, wie wir es bei vielen anderen indo- waffentechnologischen Vorsprung: Im europäischen Hirtenkriegern sehen kön- frühen -2. Jahrtausend, bevor die großen nen. Repräsentanten des Wolf-Clans dürfen Wanderungen seit ca. -1.200 begannen, wir folglich in den „Wolfsmenschen“ er- kämpften die eurasischen Hirtenkrieger kennen (> 430 & 436-41), die in öffentlichen noch mit bronzenen Waffen. Ihre Eisen- Zeremoniellen der Hethiter auftreten ne- schwerter bezogen sie, bevor sie selbst mit ben den „Hundemenschen“. Der Hund deren Produktion begannen, von den Hethi- spielt bei den Hethitern eine große Rolle tern aus Ost-Anatolien, die bei ihrer Einwan- auch in verschiedensten „privaten“ Zusam- derung die Metallarbeit dort von der Vor- menhängen, wie wir gleich sehen werden. bevölkerung übernommen haben. Das In mythologischen Texten der Hethiter, Schmiedkönigtum ist vielleicht eine Erfin- dung der Hethiter, die es verstanden, die in which the sequence of counting of neue Technologie zu monopolisieren. Aber the “sacrificial animals” is of special so schnell wie das Schmied-Königtum sich importance, the dog follows the man etablierte bei den verschiedensten Stämmen (Dimitrov, 154). in ganz Eurasien, so schnell auch wurde der Schmied zu einer alltäglichen Erscheinung Historiker leiten daraus ab, dass der Hund und sank wieder auf den reinen Handwer- das zweitwichtigste Opferobjekt war nach kerstatus zurück. Dennoch liefern der Spruch dem Menschenopfer; Kynosophen schlagen Schmiede und Schamanen kommen aus versuchsweise vor, in dieser konsubstanziel- demselben Nest, der Hund als schamanisches len Nähe von Hund und Mensch als Op- Helfertier und die enge, nicht nur indo-euro- fer(tier) den Hund (als Alter Ego des Men- päische, sondern auch afrikanische Assozia- schen) zu erkennen. Doch sollten wir uns zu- tion von Schmied und Hund Indizien, dass erst kurz mit dem Hund als Hund befassen, Schmied-König und Hund auch und gerade wie er von den Hethitern gesehen wurde: bei den Hethitern eine Ganzheit bildeten, wie sie auch noch für den alt-irischen Schmied Culann bezeugt ist, dessen Hund Der reale Hund bei den von Cu Chulainn (~ Hund des Culann) er- Hethitern und anderen Anatoliern schlagen wird - der Schläger nimmt dann die Stelle des Erschlagenen ein, daher sein Name. Die Wertschätzung der Hethiter für Im militärischen und königlichen Konnota- den Hund war klar gestaffelt und hing von sei- tionssystem der Hethiter wie der Indo-Euro- ner Gebrauchsfähigkeit ab; auch im hethi- päer überhaupt spielte der Unterschied zwi- tischen Gesetz, und zwar in den Paragraphen schen Hund und Wolf keine so große Rolle - 87 bis 89, spiegelt sich diese Rangfolge: Zuerst so können Gamkrelidze und Ivanov 1976 kommen die Jagdhunde, dann die Herden- (492-3) in ihrem Werk über die Indo-Euro- hunde und schließlich die Wachhunde (Collins, päer pauschal sagen, dass The Wolf-Deity die 1992, 211). Aber auch den Pariahhund verach- Gottheit des indo-europäischen Königtums tete man nicht, war er doch als Müllentsorger und dass der Wolf bzw. Hund das Attributtier auch sehr nützlich. Wird der hethitische König seiner Krieger war. Dimitrov präzisiert 2003 bei der Löwenjagd dargestellt, dann begleitet (154) für die Hethiter, dass der ihn (s)ein Hund (> IV, 665, Abb. 275), der ein Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 423

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schwerer Windhund oder ein leichter „Molos- ser“ zu sein scheint. Auf einem hethitischen Sie- gel (> rechts) aus dem -13. Jahrhundert, das man in Megiddo in Israel gefunden hat und das man einem hethitischen Diplomaten in Mission nach Äygpten zuschreibt, sehen wir - je nach Archäologe - einen Hund (meint Gelb), einen Panther (meint Bossert) oder einen Löwen, der das Maul aufreißt (meinen Mora (alle drei zi- tiert in Singer) und Singer selbst). Ich halte das ill-designed animal für einen relativ gut er- kennbaren Windhundtyp im ägyptischen Stil. Die Ohrform passt nicht zu einem Feliden, und von einem aufgerissenen Maul kann ich auch nichts sehen. Die Rückseite des Siegels nennt in vertikalem Schriftzug den Namen seines Trä- gers, links davon wird sein Titel genannt, näm- Ein hethitisches Siegel aus dem -13. Jahrhundert, ge- lich Wagenlenker, und rechts liest man die funden in einem Wohnhaus in Megiddo/Israel. Es zeigt, Wörter gut und Mann. Dieser gute Mann (~ wie Singer meint, “a somewhat ill-designed animal, Mann aus gutem ~ adligem Haus) trägt mit probably a lion, striding to the right (on the impres- Wagenlenker den offiziellen Titel eines Son- sion). Its long curving tail is similar to that of lions derbotschafters des hethitischen Königs, eines depicted on other seals and the very schematic head Beauftragten für besonders wichtige Staatsge- seems to represent the open mouth of a roaring lion ... schäfte; in jener Zeit waren das hethitische und Above the animal there is a large “filler” which resem- das ägyptische Königshaus durch die Heirat von bles the floral motif L 1525 (rather than a bird, as ten- Ramses II. mit einer hethitischen Prinzessin und tatively suggested by Mora). An additional large “fil- durch den Friedensvertrag von -1.258 eng ver- ler” is between the animal´s legs, and there is a smal- bunden.Megiddo war eine bedeutende Relais- ler one in front of his chest.” Es kann sich also um kei- station zwischen Ägypten und Hatti. Sollte die ne Verwechslung handeln - Singer spricht tatsächlich Vorderseite des Siegels tatsächlich einen Hund von obigem Siegel. Zitat & Bild in: Singer,Abb. 1. zeigen, und zudem einen Windhund im ägyp- tischen Typ, dann könnte das Siegel ein diplo- ghazköy (~ die hethitische Hauptstadt Hattusa) matisches Entgegenkommen an die äygptische zwei Hunde mit ca. 70 cm Widerristhöhe, sehr Erwartungshaltung sein. Sein Träger aber war schlanken Extremitäten und geringelter Rute mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ohne diese zu sehen, ihr Hals ist mit starkem Kamm darge- diplomatische Taktik dem Hund symbolisch eng stellt, die Ohren sind nach oben und hinten ge- verbunden - gehörte er zum Hunde-Clan, über richtet. Hundeknochen wurden auch in der den ich weiter unten noch nachdenken werde? Nekropole von Bogazköy gefunden (Mac- Auf hethitischen Siegeln sieht man auch eine queen, 137), und man darf angesichts der Art hängeohrigen Dachshund - wie Albrecht hethitischen Konzeption vom Hund davon aus- meint - mit dem Verhältnis 11:7 von Körper- gehen, dass seine Knochen sich dorthin nicht länge und Widerristhöhe, die Vorbrust ist stark zufällig verirrt haben (> 425-6). Im weiteren bemuskelt. Insgesamt glaubt Albrecht drei ver- Umfeld der Hethiter und dem ihrer kleinstaat- schiedene hethitische Rassen erkennen zu kön- lichen Vorgänger, also im Anatolien des -3. und nen. Hethitische Darstellungen von Hunden -2. Jahrtausends, sind vergleichsweise nur gibt es in Malatia-Ordasu (Albrecht, 24), wo ein wenige Bestattungen von Menschen mit Jagdhund (?) mit aufgerichteten Ohren, star- Hunden oder separate Hundebestattungen kem Stop und ca. 66 cm Widerristhöhe zu se- bekannt: In Alaca Hüyük (~ das Machtzentrum hen ist; ferner sind auf einer Felswand bei Bo- der vorhethitischen Hattier nordöstlich von Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 424

424 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Hattusa) hat man in vier Gräbern fünf Hun- meint Dimitrov (135), da die Fundumstände de gefunden - ein vollständiges Skelett un- nicht geklärt sind. Zu dem o.g. Fund eines ter der südlichen Mauer von Grab BM, zwei „enthaupteten“ Hundes als Grabbeigabe in Hunde in Grab H, einen in Grab RM und ei- der Frühen Bronzezeit gesellt sich in der Mitt- nen Hund, der mit dem Gesicht dem Toten leren Bronzezeit ein Fund in Demirci Hüyük: zugewandt bestattet war: In a ritual stone structure among the hu- There is no doubt that the last dog man relics (young child and a human bo- belongs to this yet unpublished grave ne) a headless dog skeleton was disco- (Dimitrov, 153). vered. The traces of burning prove that this cult place had been used for sacrifi- Im Tell von Selenkahiye fand man im Schacht cial rites, which included the use of fire, eines Grabes unter dem Hof Q 26 das Skelett eines geschlachteten Stiers und einen intakt konstatiert Dimitorv (135-6) kühn, und wir beigesetzten Hund. Das Grab wird datiert bemerken die Parallele zwischen adolescent auf ca. -2.450 bis -2.350. Deutungsabsti- in Titris und young child in Demirci: Beide nente Archäologen würden sich gruseln, gehörten noch nicht der Altersklasse der Er- wüssten sie, dass Kynosophen hier versuchs- wachsenen an - warum werden sie dann von weise an den Mithras-Mythos (> 261: Abb.) einem „kopflosen“ Hund begleitet? Di- und mit noch größerer Bestimmtheit an das mitrov anerkennt einerseits theoretisch das früh-indo-europäische Zeremonialopfer (> Bedeutungspotenzial dieser Hundebestat- 87) von cattle and dog denken. Ferner ha- tungen, wundert sich aber andererseits da- ben wir Erkenntnisse zu zwei weiteren Fun- rüber, dass sie verhältnismäßig selten auf- dorten - Titris Höyük und Dorak: treten. Nimmt man aber seine eigene Er- kenntnis hinzu, dass der Hund bzw. Wolf als In 1992 in the Lower Town of Titris Symboltier bei den Indo-Europäern einen (middle-late Early Bronze Age ~ -2.600 extrem hohen Rang einnimmt, dann könn- bis -2.100) an intramural tomb (ein In- te man zu den „kopflosen“ Hunden, die mit diz für Zweitbestattung) of adolescent Jugendlichen oder Kindern bestattet wer- and relics of a headless dog nearby den, vermuten, dass es sich um die Nach- were found ritual deposit?). The close kommen oder gar um die potentiellen distance is a precondition for connec- Nachfolger von herausragenden Mitglie- tion between them, but this is not dern der bereits stratifizierten Gesellschaft enough for sound conclusions, handelt. So gesehen gäbe die Quantität die- ser Art von Hundebestattungen eine ganz meint Dimitrov (135) vorsichtig, und weniger andere Auskunft. vorsichtig denke ich an den früh-indo-europä- ischen Hundeschädelkult, denn die mutmaß- Und damit sind wir bei der symbolischen liche Zweitbestattung innerhalb des Hauses Konzeption des Hundes als königliche Kon- legt nahe, dass der Schädel des Hundes nicht notation angekommen, wie sie bei den zufällig abwesend war, zumal der Rest des Hun- Hethitern erkennbar wird und zu der ich im des anscheinend komplett beigesetzt wurde. 3. Band und 4. Band der Kynosophischen Zeitreise schon einige Überlegungen ange- There is an information about a cist grave boten habe (> III, 646-652 & > IV, 298-301 (~ a shallow rectangular grave cut into the (zum Mischwesen Illuyankas), IV, 459-60 earth or rock, sometimes stone-lined or (schon zu den „Wolfsmenschen“) und IV, slab-built) in Dorak in which a man, a wo- 537-40 (zu Lamaschtus Rehabilitation bei man and the skeleton of a dog are found. den Hethitern); man beachte auch die Ab- Here one must sound a note of caution, bildung 275 in IV, 665). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 425

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Die symbolische Konzeption nate waren. Die kleineren Knochen fehlen des Hundes bei den Hethitern recht oft, natürlich auch der Penisknochen, woraus man nicht ableiten sollte, die Welpen ist wie sonst auch sehr schwierig zu seien alle weiblichen Geschlechts gewesen. erfassen und darzustellen, da die Terminolo- Im Gegensatz zu Robertson geht Greenewalt gie vom Opfer in der Geschichts- wie in der 1978 davon aus, dass die kultischen Nieder- Religionswissenschaft bis heute uneinheitlich legungen in Sardis als Dinner gedacht waren und widersprüchlich geblieben ist. Im Deut- für die höhere Instanz, der das Opfer darge- schen kommt noch der Doppelsinn des Opfers bracht wurde. Er leitet dies aus Schnittspuren als Vorgang und als Objekt des Vorgangs hin- ab, die man an einigen der insgesamt fast zu. Ist also ein Hund, der in einem „Reini- dreißig deponierten Welpen gefunden hat gungsritual“ nicht einer Gottheit geopfert (> 426: Abb. 1 & 41.2). Robertson aber denkt wird, kein Opfer, sondern nur ein Vehikel, das grundsätzlich nicht, dass die Welpen verzehrt die Unreinheit mit sich hinwegnimmt? Dann werden sollten, er stellt sogar in Frage, dass wäre das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die sie präpariert, z.B. gehäutet wurden, obwohl Sünden der Welt, auch kein Opfer. Betrachten Schnittspuren an einigen Knochen erkenn- wir die Problematik konkret, und zwar am bar sind. Man fragt sich schon, warum dann Beispiel eines hethitischen Rituals, das aus Bo- das Messer mitgegeben wurde, denn das gazköy bekannt ist. Es handelt sich um ein Ri- Brot hätte man brechen können, von den tual, das Streit schlichten soll zwischen Vater beigegebenen Lebensmitteln hätte man nur und Sohn, Mann und Frau, Bruder und zum Verzehr eines Welpen ein Messer ge- Schwester usw. und das deshalb innerhalb der braucht. Die Schnittspuren könnten dann auf Familie durchgeführt wird und zwar meist im eine von den Opfernden geleistete Vorarbeit Haus, selten außerhalb des Hauses, und hinweisen, eine Art Entgegenkommen oder wenn, dann sehr nahe am Haus, wohl direkt Vorleistung, um die Adressaten des Opfers jenseits der Türschwelle. Robertson hat dieses noch günstiger zu stimmen. Geht man vom Ritual 1982 vorgestellt und analysiert - nicht Verzehr der Welpen durch den Adressaten ganz ohne wissenschaftspolitischen Hinter- aus, dann lässt sich das Sardische Ritual in die gedanken, denn er wollte damit auch Gree- griechische Tradition einreihen; lehnt man newalts griechische Interpretation der Wel- die Idee des Verzehrs ab, dann bietet sich die penopfer im Sardis des -5. Jahrhunderts wi- hethitische Tradition an, um das Ritual zu er- derlegen und sie als Spätform eines hethi- klären. Ich folge hier dem hethitischen An- tischen Rituals identifizieren. Wir betrachten satz Robertsons, obwohl ich einige Zweifel zuerst das Ritual in Sardis und konzentrieren habe, zumal er in seiner Auseinandersetzung uns dann auf das Ritual von Bogazköy, das mit Greenewalt zwischen den Zeilen auch nach Robertson die Urform des Sardischen wissenschaftspolitische Ziele zu verfolgen Welpenopfers darstellt: scheint, die mit der Sache selbst wahrschein- lich weniger zu tun haben. Das Welpenritual von Sardis - eine spät- hethitische Opferform? Im älteren Ritualtext von Bogazköy,

Jedes der zahlreichen Welpendepots bestand das ca. 150 km östlich von Ankara und am aus vier Gefäßen (Krug, Schüssel, Weinkan- Nordrand der antiken Landschaft Kappado- ne, Trinkschale) und einem eisernen Messer; kien liegt und unter dem Namen Hattusa in den Gefäßen befanden sich die mutmaß- von -1.650/1.600 bis -1.200 Hauptstadt und lichen Lebensmittel, nämlich ein ganzer Wel- Sitz der Großkönige und der Reichsverwal- pe, Brot (?) und Wein. Natürlich „überleb- tung sowie zentraler Kultort war, in diesem ten“ für den Archäologen nur die Skelette Ritualtext erkennt Robertson (127) die aus- der Welpen, die wohl nicht älter als drei Mo- führlichere Vorlage des Sardischen Rituals: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 426

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“Standard dinner deposit items (from ed 26): pottery jug, oinochoe, skyphos, dish; iron knife; immature canid ske- leton”. Unten rechts: “Ilia, one with cut-mark, the other without”. Zitat & Bild in: Greenewalt, 1978,Abb. 1 (oben) & 41.2.

At two principal stages in the rite the offi- ciant makes play with a threefold offering - a whole animal (sheep or small pig), a sacrificial loaf, and wine. A hole is dug in the ground, in or near the house; the threefold offering is buried entire; and the ground is leveled over it. At yet another stage, in one version of the rite, a small dog or puppy is buried in the same fashi- on. The rite can be performed whenever and as often as needed (Robertson, 127).

Das ist sehr praktisch, denn man braucht die Wiederholung nur einzustellen, wenn der Zweck erreicht ist - ein Ritual mit eingebau- ter Garantie. Es geht im Grunde darum, ur- sprünglich Zusammengehöriges, das jetzt getrennt ist, wieder zu vereinen. Wir hor- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 427

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“Jugs, which yielded bones of canids estimated to have been a few weeks or possibly three-months old; and a one and a half to two-months-old Alsatian (~ Deutscher Schäferhund) puppy”. Zitat & Bild in: Greenewalt, 1978, Abb. 2.

chen gleich auf, dass neben Schaf (~ Lamm?) into its mouth, it is killed and butchered und Ferkel auch ein kleiner Hund bzw. Wel- and, like some other objects in the rite, pe in der derselben Weise rituell deponiert burnt on the hearth. The other three werden kann: Denn immerhin bestreitet die animal victims - another white sheep, a Hethitologin Collins ja, dass der Hund in Ge- small pig, and a small dog - appear in meinschaft mit anderen Haustieren (ausge- three separate episodes and form the nommen Schwein bzw. Ferkel) im Ritual ver- most distinctive part of the rite. Each is wendet werden kann, wenn es sich um called a “substiture”, tarpalli, and after Gaben an Gottheiten handelt. Mit Collins the household members have spit into müsste man hier nämlich annehmen, dass the mouth of the sheep, or again after keine Gottheit in dieses Ritual involviert ist. the pig and the dog are brandished Die Weise Frau, die das Ritual durchführt, over the household members, each is killed, but not butchered, and is then employs many materials and objects fa- buried in a hole made for the purpose. miliar from other ritual texts - e.g., With the sheep and the pig, bread and wool, wax, dough, salt, water, and, as wine are also buried; these items are already mentioned, domestic animals, not referred to in the case of the dog, bread, and wine - somehow bringing possibly through mere abbreviation them into contact with the two hous- (Robertson, 128). hold members and then disposing of them. Of the five animals employed, Da in Sardis die Gabe von Brot und Wein zu- the last, a white sheep, is called a “car- sammen mit dem Welpen gesichert ist, darf rier”, nakkussi, and is taken away alive man - wenn Robertsons Prämisse stimmt - by the Old Woman. Another, a black auch für Bogazköy annehmen, dass auch sheep, is called a “substitute”, tarpalli; der Welpe - wie Schaf und Schwein - von after the household members have spit Brot und Wein begleitet wurde. Während Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 428

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Haustiere (~ Viehzucht?) und Brot und Wein Ja, man kann Robertson nur Recht geben, (~ Ackerbau?) nur in diesem Ritual der Hethi- denn die Gaben erscheinen in Sardis in der ter auch im Haus deponiert werden, ist ihre Tat more strict than the earlier rite und als Niederlegung außerhalb des Hauses nichts Konzentration aufs Wesentliche, denn ei- Ungewöhnliches, wie wir am Ritual der Frau nerseits stellt er (132) auch fest, dass Malli noch sehen werden. Offen bleibt, ob die Deponate Gaben, d.h. Opfer an Gotthei- the puppies are clearly essential to the ten darstellen oder nur als Werkzeuge zur ri- rite as practiced at Sardis, tuellen Reinigung konzipiert sind - the dis- tinction is often hard to make, seufzt Robert- und andererseits dürfte das hethitische son (129) resignativ. Da die Herdstelle (nicht Königspaar wohl keine allzu großen öko- nur) im Ritual von Bogazköy eine wichtige nomischen Probleme gehabt haben und Rolle spielt - fast alle Stadien des Rituals spie- gleichwohl lässt es in einem Abwehrritual len sich in ihrer unmittelbaren Nähe ab -, gegen ein negatives Vogelorakel einen könnte man die in ein eigens dafür herge- preiswerten Welpen und noch preiswerte- richtetes Erdloch deponierten Objekte als re Hundefiguren einsetzen (> 433 ff.). Auch Gaben an Ahnengottheiten auffassen, die Robertson (129) erkennt, dass im Ritual Zwist in die Familie getragen haben und ihn nun wieder eliminieren sollen. Die ökono- for purifying the king and queen, a misch aufwändige Gabe von Schaf, Schwein, puppy has a special function, being Brot und Wein wird in einem der Textbei- brandished over the royal pair and spiele durch die Gabe eines Welpen zumin- then all round the palace. dest relativiert, denn nach Robertson ist ein Welpe ökonomisch wertlos. Die Effizienz des Es ist also wohl nicht sinnvoll, den Welpen Rituals scheint aber dadurch nicht beein- aufs Ökonomische zu reduzieren, zumal trächtigt zu sein, ja, in Sardis, wo nur Welpen sowohl die Herdstelle wie auch die äußere und Brot und Wein deponiert wurden, Hausmauer Passagen für gute wie böswil- scheint das Ritual gleich gut seine Dienste lige Geister bzw. Ahnen ins Haus darstel- geleistet zu haben: len. Der Hund - nicht das Schaf und nicht das Schwein - liegt auf der Schwelle und If the ministrations of the Old Woman kontrolliert den Eingang des Hauses: So- were reduced to an economical mini- wohl im königlichen Palast als auch in den mum, we should have the Sardis offe- kleinen Häusern von Sardis, die mutmaß- rings; for a puppy, as compared with lich hethitischen Händlern gehörten und three sheep or even with a small pig, is die mit ihrem Welpenopfer - so glaubt virtually worthless, Robertson wohl zu Recht - sich an Hermes wenden, der als Gott der Händler und Die- meint Robertson (129), und mag mit der Re- be auch Diebstahl verhindern kann: So duktion aufs Wesentliche eher Recht haben wird auch für Robertson der Welpe in Sar- denn mit der Vermutung, der Welpe sei nur dis zum adäquaten Opfer an einen ohne- eine Notlösung armer Spät-Hethiter in Sardis: hin hündisch konnotierten Gott, nämlich Hermes (> 91: Abb.; > 379-80 & 501): And even though the offerings at Sardis may have been accompanied by other bu- We cannot fail to be reminded of siness that has left no trace, still the pup- “Hermes dog-Throttler”, pies and the standard service of vessels (mit Inhalt: Brot, Wein, Welpe) and knife glaubt nun auch Robertson (132) und im- are at once more modest and more strict pliziert gegen Collins (ohne sie zu erwäh- than the earlier rite (Robertson, 129). nen), dass der Welpe einer Gottheit, näm- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 429

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lich der hethitischen Variante des Hermes, Dennoch kann sich Robertson nicht zu geopfert wird. Im Ritualtext von Bogazköy einem ausgewogeneren Blick auf den Hund ist sogar ausdrücklich die Rede von zwei im hethitischen Ritual durchringen: hethitischen Gottheiten, und Robertson überlegt, ob der Welpe in Bogazköy nun The dog has only a small part, and not auch als Gabe an eine oder gar an beide a distinctive one, in Hittite ritual, Gottheiten konzipiert ist: So wird von der Weisen Frau mehrfach der Sonnengott er- schlussfolgert der lieber in Quantitäten wähnt, und einmal ist auch die Rede von denkende Robertson (130) voreilig. Wenn einem weniger bekannten Gott ein Welpe aber sogar das Königspaar vor einem negativen Vogelorakel schützen Antaliya, who can undo the harm of kann, denke ich lieber qualitativ als quan- evil-speaking. Otherwise, the rite is a titativ über die Rolle des Hundes in hethi- piece of magic which is not addressed tischen Ritualen. Zieht man mit heutigem to the gods (jedenfalls nicht explizit). Kenntnisstand über die Opferproblematik The animals and items that are buried im archäologischen Befund (> Beilke-Voigt, or burnt on the hearth are instruments 2007, 28-9) eine Bilanz dieses Opfers bzw. of purification rather than offerings. dieser kultischen Niederlegung in Bogaz- The animals serve as “substitutes”, ex- köy wie in Sardis, dann können viele, aber cept for the last sheep, which is a “car- nicht alle Fragen beantwortet werden: rier”; and the spitting and the bran- dishing go with this idea. Wo? Im Haus bzw. in unmittelbarer Nähe des Hauses, vorzugsweise in Herdnähe. Aber Robertson (132) erkennt auch die Ambivalenz der Situation in Bogazköy wie Was? Im weiteren Sinn Nahrungsmit- die seiner eigenen Argumenation, denn er tel, nämlich Brot und Wein, Schaf und meint gleich im Anschluss: Schwein - aber der Hund wurde im Ge- gensatz zur griechischen Opferpraxis Yet the sacrificial loaf and the wine, (> VI) nicht verzehrt von den Hethitern, which is poured out as a libation, are weder rituell als Lebensmittel noch all- not used to purify and seem appro- tagspraktisch als Nahrungsmittel. Hin- priate only as offerings. zukommt das in Sardis mitdeponierte Messer, will man die Gefäße nicht ge- So ergibt sich in dieser Argumentation ei- sondert als Beigaben zählen. ne klare Zweiteilung: Hier die Gaben von loaf and wine im Sinn von Opfer, dort der Wer? Eine beruflich Opfernde, eine Welpe als Substitut - doch Substitut für was Weise Frau, die vielleicht in den Augen oder für wen? Das scheint auch Robertson ihrer Klienten auch als Priesterin kon- implizit sich zu fragen, denn gleich im zipiert war. nächsten Satz gibt er seine starre Entge- gensetzung von Gabe und Substitut auf, Wem? Hier scheiden sich die Geister, wenn er bilanziert, dass - wie so oft - aber die Niederlegung von Nahrungs- mitteln spricht für ein Opfer an eine there is a mixture of ideas, and it höhere Instanz (Ahnenkult, Gottheit). would be very understandable if the Wird der Hund auch nicht verzehrt, so buried victim (also doch wohl auch der ist mit Robertson nicht auszuschließen, Welpe?!), bread, and wine came to be dass man ihn analog zu den Nahrungs- regarded as offerings to a particularly mitteln als Gabe an die höhere Instanz deity (Robertson, 132). betrachtet hat. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 430

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Warum? Ein sozialpsychologisches die Kleinhunde-Männer oder Junghund- Motiv wird im Ritualtext klar benannt: bzw. Welpen-Männer, erwähnt (Jakob- Streit hat eine ursprüngliche Einheit Rost, 419, FN 9). Eine weitere Spezies des entzweit, diese Einheit soll wiederher- Basistyps vom Hundemann ist der Lu.Mes- gestellt werden. Der Hund könnte die UR.MAH, der Löwenmensch (wörtlich: der Funktion haben, die (dämonischen) Ur- mächtige, edle, erhabene Hundemensch; sachen des Streits am Wiederzutritt ins mit dem UR.MAH konnten auch andere Haus zu hindern - er hätte also Wäch- Katzentiere wie z.B. Geparde oder Leopar- terfunktion. de bezeichnet werden - insofern sind die frühen Leopardenmenschen von Çatal Wie? Da wir über einen relativ ausführ- Hüyük (> III, 547-50) vielleicht schon als Lu.Mes- lichen Ritualtext verfügen, erfahren wir UR.MAH aufzufassen). Alle drei „Tiermen- über das Wie des Vorgangs zahlreiche, schen“ - Hundemenschen, Wolfsmenschen aber nicht alle Details: Ob z.B. die tie- und Löwenmenschen - sind Inhaber kul- rischen Nahrungsmittel Schaf und tischer Ämter, wobei nur der Hundemensch Schwein im Zusammenhang mit der auch in individuellen Zusammenhängen er- Niederlegung eines Hundes grundsätz- wähnt wird, während die beiden anderen lich nicht verwendet werden oder ob nur bei Zeremoniellen im offiziellen der Ritualtext sich hier nur die Wieder- (Staats)-Kult mitzuwirken scheinen - das holung der Erklärung gespart hat, die spricht für die Annahme, dass die nur offi- er für Schaf und Schwein gibt - ziellen „Tiermenschen“ dem hethitischen Synkretismus aus politischen Motiven ge- these items are not referred to in the schuldet sind, also als Reverenz an die Sub- case of the dog, possibly through mere stratvölker zu sehen sind, während die auch abbreviation; Robertson, 128) -, in privaten Zeremoniellen auftretenden Hundemenschen auch originär hethitisch ist nicht mehr zu klären, wäre aber von sind; betrachten wir deshalb zuerst ein „Rei- höchster Wichtigkeit, denn Robertsons nigungs“-Zeremoniell zur Enthexung eines These, der Hund sei ein besonders preis- Individuums: wertes Opfertier und werde deshalb in den ärmlichen Verhältnissen von Sardis ausschließlich verwendet, diese These Das Ritual der Frau Malli ist doch sehr fragwürdig. Weitere De- gegen Schwarze Magie tails zum Wie des Vorgangs bleiben ebenfalls ungeklärt, aber aus ethnolo- Wie die Mesopotamier (> IV, 491- gischen Parallelen kann man ableiten, 563), so führen auch die Hethiter jeglichen dass neben beschwörenden Gesten viel- Aspekt menschlichen Schicksals (Gefahren, leicht auch Musik und Tanz eine Rolle Krankheiten, Vorzeichen) auf den allgegen- spielten. wärtigen Einfluss der Götter zurück. Und die Gunst der Götter lässt sich einzig durchs Im Hethitischen ist neben den bereits er- Ritual zurückgewinnen, das den Zustand wähnten „Sumerogrammen“ der Begriff der Reinheit, d.h. der sakralen Normalität des Hundemanns als LÚkuwa(n)- bezeugt wiederherstellt, wie ein Ritual dokumen- (Mallory, in: Mair, 42) - mit diesem Hunde- tiert, das von einer Frau Malli durchgeführt mann werden wir uns nun näher befassen: und das für uns aufgezeichnet wurde: Die- In einem Ritual des Sängers von Kanis(ch) ses Ritual für die Befreiung ihres Auftrag- werden in allerdings zerstörtem Kontext zu- gebers von Behexung gehört zu den am sätzlich zu den Hundemenschen und Wolfs- besten erhaltenen hethitischen Ritualtex- menschen auch noch die Lu.MesUR.TUR, d.h. ten. Typisch für ein Reinigungsritual ist sei- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 431

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ne Durchführung am Ufer eines Flusses. Da- nünftigen Grund, den Hunde-Mann anders bei kann sowohl der Auftraggeber als auch denn als Führer eines Hundes aufzufassen, die zaubernde Macht durch eine Teig-oder also nicht als Protomträger, wie wir sonst Ton- oder Wachsfigur vertreten sein. Frau den Hunde-Mann kennen und wie wir ihn Malli weiß zu Beginn natürlich nicht, ob gleich in anderen hethitischen Ritualen ken- diese fremde Macht weiblichen oder männ- nenlernen. Dieser „Mann mit Hund“ - ist er lichen Geschlechts ist. Daher werden probe- verwandt mit dem babylonischen Kollegen weise fünf Tonfiguren von der weisen Frau (> III, 148-57), der eine besondere Handhal- Malli in zwei Männer- und drei Frauenbilder tung zeigt? - scheint spezialisiert zu sein auf unterteilt und rituell behandelt; das dauert den Kontakt mit dem Sonnengott der fünf Tage, je Figur ein Tag. Frau Malli hat Hand! Jakob-Rosts (63) vorsichtige Vermu- mehrere Assistenten, einer davon ist wahr- tung, es handle sich um einen Jäger (wegen scheinlich der Hunde-Mann. Liane Jakob- Pfeil und Bogen), wird aufgrund dieser Rost, die das Ritual 1972 analysiert hat, ist theologischen Spezialisierung doch nur sich nicht sicher, welcher Seite sie den wahrscheinlich, wenn der Sonnengott selbst Hunde-Mann zuordnen soll: Die erste Be- jagdlich konnotiert ist - vielleicht sollte man schwörung, die Frau Malli nach der Dia- hier an Sonnengott und Sirius denken, die gnose des Übels und der allgemeinen Vor- manchmal ja auch mit Pfeil und Bogen kon- bereitung des Rituals durchführt, richtet notiert sind (> 117-8). Es folgen an diesem sich an den Sonnengott der Hand. Nach ei- ersten Tag noch zahlreiche weitere Be- ner Beschwörung an die Ersatzfiguren, von schwörungen und Zauberhandlungen der dem Patienten die von Frau Dr. med. Malli Frau Malli, u.a. bricht sie diagnostizierte inan-Krankheit wegzuneh- men, wiederholt Frau Malli ihre fünf Brote für die Gottheiten Mar- wayanza (~ eine Gottheit der Erdtiefe), Beschwörung an den „Sonnengott der miyanas EME (~ Zunge des Wachstums Hand“ mit unklaren Analogien zu ~ Genius des Pflanzenwachstums: Die Hundemännern und Viehfutter (Jakob- Wurzeln sollen wohl die Behexung Rost, 12). unter der Erde festhalten), Daganzipa (von Jakob-Rost nicht erklärt) und DUTU So fasst Jakob-Rost - leider kynosophisch un- (2x) (Jakob-Rost, 13), sensibel - den Ritualtext zusammen: um die Behexung, die sie vorher bereits un- Die weise Frau spricht zu den Figuren: ter die Erdoberfläche gebannt hatte, dort „... Sonnengott der Hand, auch der festzuhalten. Der Sonnengott DUTU hat Hundemann, der Mann ist vor (ihm), und er hat seinen Bogen [ ] er hat sei- viele Wesenszüge mit dem akkadisch- ne [Pfeil]e (?), und er hat für seinen sumerischen Sonnengott gemeinsam. Hund „Hundekuchen“; [für die P]ferde Im mesopotamischen Bereich gilt soll eine Futtermischung sein und für DUTU/Samas als Feind von Dämonen, den Menschen [sollen] Figuren aus Ton Krankheit und Zaubermanipulationen, [sein (?)].“ (in: Jakob-Rost, 25). als ein Gott, „der die Beschwörungen löst“ (Jakob-Rost, 85). Vor dem Sonnengott der Hand scheint also ein Hunde-Mann zu stehen, der mit Pfeil Binden und Lösen - bindende Götter wie und Bogen und für seinen Hund mit Hunde- Varuna und lösende Götter wie Indra (> kuchen ausgerüstet ist. Da unmittelbar da- 247-8) gibt es im gesamten indo-europä- nach von Frau Malli eine Futtermischung für ischen Pantheon. Ist es ein Zufall, dass der Pferde erwähnt wird, gibt es keinen ver- von Varuna gebundene Rohita nur gelöst Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 432

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werden konnte mit Hilfe eines Hunde-Man- das Brot bricht - wenn nicht beide, Frau Mal- nes namens Çunaçepa (~ Hundepenis)? Ist es li und der Hunde-Mann gemeinsam das Brot zu gewagt, hier eine indo-europäische Kon- brechen - und unklar bleibt auch, wer von vergenz zu vermuten (> 249-53)? Wie dem beiden oder ob beide 1 dünnes Brot ... dem auch sei: Im Ritual der Frau Malli hat der Sonnengott brechen. Eindeutig ist dann hethitische Kollege des mesopotamischen wieder, dass nicht der Hunde-Mann, son- Sonnengottes offensichtlich die gleichen dern Frau Malli den Beschwörungstext an Kompetenzen, dabei erscheint der Titel den Sonnengott rezitiert, worauf die Malli Sonnengott der Hand nur als nebensäch- allein ein zweites Brot für den Sonnengott liche Spezifikation: Grundsätzlich setzte bricht. Zwei Brote für den Sonnengott he- man den Kranken dem Sonnengott ge- ben ihn vor allen anderen Adressaten her- genüber, der übrigens als Sonnengottheit vor, es sei denn, dass wir es mit zwei Son- der Erde vielleicht noch weiblichen Ge- nengottheiten zu tun haben, die erste wird schlechts sein darf (Jakob-Rost, 86). Wir wis- nach der dunklen Erde angesprochen und sen, dass dem mesopotamischen Sonnen- dürfte dann wohl die weibliche Sonnen- gott Samas ein Hund zugeordnet ist, und gottheit sein, während die zweite als männ- wir wissen auch, dass das hethitische Ritual liche dem mesopotamischen Sonnengott in der Zeit nach -1.400 niedergeschrieben Samas entspricht. Trifft diese Zweiteilung wurde. Die Vermutung muss an dieser Stel- zu, dann hätten wir es hier mit einer Über- le gestattet sein, dass der erst im -1. Jahr- gangsphase von der matriarchalen Son- tausend in Mesopotamien auftretende Pa- nengöttin zum patriarchalen Sonnengott zuzu (> IV, 541-53) als hündischer Dämon zu tun, die in der Volksreligion noch fried- gegen Krankheiten eine Verselbständigung lich koexistieren. Bezeichnend wäre dann des Samas-Hundes sein könnte, während auch, dass gerade der weiblichen, irdisch- der hethitische Hunde-Mann noch eindeu- chthonisch konnotierten Sonnengottheit tig dem Sonnengott zugeordnet bleibt. der Hund zugeordnet ist, während die Mal- Denn bei all ihren Verrichtungen für den li der männlichen Sonnengottheit allein Sonnengott assistiert der Hunde-Mann un- opfert, ohne die Assistenz des Hunde- serer Frau Malli, wobei der Ritual-Text leider Manns. Zwar ist das hethitische Pantheon sehr unklar bleibt: unter dem Titel Die 1000 Götter des Hatti- Landes bekannt, aber die im Ritualtext ge- Sie geht ein wenig von dort (dem Loch, nannten Gottheiten rechnet Jakob-Rost in das sie die bannenden Mittel ge- eher zu den schüttet hat) fort, und nahe der Grube bricht sie 1 dünnes Brot dem Mar- genien- oder dämonenartigen Wesen wayanza. Der Hundemann, der Mann, ..., die in der Seele des Volkes verwur- welche (!) sich vor (ihm?) bewegen (!), zelt waren. bricht 1 dünnes Brot der miyanit-Zunge; 1 dünnes Brot bricht sie/er der Dunklen Diese (niederen?) Gottheiten bestimmen al- Erde; 1 dünnes Brot bricht sie/er dem so nachhaltig die hethitische Alltagspraxis, Sonnengott und sie sagt: „Dieses be- in der Frau Malli als Endstufe der frühen wahre Du!“ 1 dünnes Brot bri[cht] sie Schamaninnen erscheint, die jetzt nur noch dem Sonnengott (in: Jakob-Rost, 35). mit Enthexung befasst wird, während sie ur- sprünglich priesterliche Funktionen ausübte, Der Text legt nahe, dass für die weise Frau um die Seelen der Ahnen zur Wiedergeburt der Hunde-Mann das Opfern übernimmt, anzulocken. Am Ende des ersten Ritualtages jedenfalls eindeutig dann, wenn es um das wird ein Korb mit Ritualzurüstungen unter Brechen des Brotes für die miyanit-Zunge das Bett des Opferherrn gestellt. Am Beginn geht; offen bleibt, wer der Dunklen Erde des zweiten Ritualtages erfolgt das Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 433

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Hervorholen des Korbes unter dem Bett Hunde-, Wolfs- und Löwen- und Beschwörung an den Hundemann Menschen in öffentlichen (?) mit dem Befehl, die Bezauberung Zeremoniellen der Hethiter zurückzugeben (Jakob-Rost, 13). Apotropäische Hundestatuen be- Der Hunde-Mann erscheint als Übermittler, wachten wie in Mesopotamien (> IV, 650-63)) der die Beschwörung an den Urheber zurück- auch bei den Hethitern die Eingänge von Ge- geben kann, ohne selbst davon beschädigt bäuden, und lebende Hunde wie Hunde- zu werden. Im Ritualtext lesen wir dazu: menschen wurden auch bei individuellen Ri- tualen eingesetzt, wie wir gerade sehen Am 2. Tage, wenn es hell wird, nimmt konnten - dabei ist schon jetzt festzuhalten, sie den Korb unter dem Bett fort, dass bei Ritualen und Beschwörungen fast schwenkt ihn über dem Menschen hin ausschließlich die Form UR.TUR (~ kleiner und her und spricht: „O Hundemann, o Hund ~ Welpe) verwendet wird. Da aus hethi- Mann, diese Bezauberung gib Du dem tischer Sicht das Wohlergehen des Landes zauberkräftigen Menschen zurück. Und es Deiner Heilmittel in Hülle und Fülle in erster Linie von der Wohlgesonnen- mit Räucherharz (?)“ (in: Jakob-Rost, heit der Götter gegenüber dem König 1972, 39). und dem Königshaus abhängt (Ba- wanypeck, 12), macht die exponierte Der „zweite“ Mann - o Mann - ist wohl als Stellung des Königs ihn besonders an- Apposition zum Hundemann, nicht als rea- fällig für magische Manipulationen, ler zweiter Mann zu verstehen. Die weise wodurch er seinen Feinden ein belieb- Frau schaltet zwischen sich und die be- tes Ziel bietet. Dies zeigt sich auch in hexende Person den Hunde-Mann als Me- den diversen Orakelanfragen und Ri- dium ein. Allerdings tritt der Hunde-Mann tualen zur Wiederherstellung der Rein- vom dritten bis zum fünften Tag nicht mehr heit des Königtums, der königlichen auf: Er hat seine Funktion erfüllt, indem er Familie oder auch des Palastes. die Behexung auf den Behexer zurückwen- det. Da die weise Frau Malli So wird z.B. beim geringsten Anlass die ri- tuelle nicht so sehr eine Priesterin im Sinne einer Tempelbediensteten als vielmehr Anfertigung eines Hündchens aus Talg eine Art Magierin gewesen zu sein ... durchgeführt, das als Wachhund scheint, die in der Volksreligion ihren nachts kein Unheil in den Palast hin- Platz hatte (Jakob-Rost, 88), einlassen

könnte man versucht sein, auch den Hunde- soll (Bawanypeck, 158), es erfüllt also eine Mann allein der Volksreligion zuzuordnen. apotropäische Funktion. Dieser aus Talg Dem steht aber entgegen, dass er als Pro- gefertigte Hund wird in diesem Huwarlu tom-Träger auch bei den großen Festritua- genannten apotropäischen Ritual len (Jakob-Rost, 89) der Hethiter auftritt, weil der Hund bei den Hethitern - wie bei auf den Türriegel des Palastes gesetzt. Die den Iranern auch - ein so hohes Ansehen ge- Ritualexpertin redet ihn als „Tischhünd- noss, dass eine schwere Geldstrafe bei seiner chen“ des Königspaares an, der (!) tags- Tötung ausgesprochen wurde, und man über keinen Fremden in den Palast hin- darf annehmen, dass dieses Vergehen sich einlässt und auch in dieser Nacht die auch auf das Leben des Übeltäters nach dem unheilvolle Angelegenheit nicht hinein- eigenen Tod noch negativ auswirkte. lassen soll (Bawanypeck, 162). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 434

434 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Das Tischhündchen des Königspaares ist der Kehle durchgeschnitten - und Collins weist Hund, dem unter der königlichen Tafel die 1990 (220, FN 48) ausdrücklich daraufhin, Essensabfälle zugeworfen werden. Collins dass das den Schlachtvorgang bezeichnen- leitet 2007 aus dem Begriff Tischhündchen de griechische Verb entweder bedeuten ab, dass es sich um einen pet-dog handelt kann he cut the throats oder he cut off the und verweist auf die Ilias (23, 173-6), in der heads. Collins erwähnt in diesem Zusam- auch angebliche Schoßhündchen bzw. menhang auch einen Grabfund in Asine (> Tischhunde erwähnt werden anlässlich der VI), wo Totenfeier für Patroklos: Dort findet Collins in a ritual burial, the head of a dog was a reference to nine “dogs of the table” placed in a tomb without an accom- belonging to Patroklos. Two of these panying body. are killed by Achilleus and placed on Patroklos´ funeral pyre. Erinnert man sich also - auch mit Collins -an die Beisetzungspraxis „kopfloser“ Hunde im Nun hängt es sehr von der Übersetzung ab, -1. Jahrtausend in Anatolien, aber auch in in welchem Licht die Hunde des Patroklos Südost-Europa, spricht einiges für die Ent- erscheinen; in der Übersetzung, die Collins hauptung - für die aber optiert keiner der heranzieht, sind es zitierten Übersetzer, obwohl sie dem Zeit- geist ebenso entspräche wie das Halsab- nine dogs of the table that had belonged schneiden. Natürlich kann man nicht aus- to the lord Patroklos. Of these he cut the schließen, dass es bereits zur Zeit der Ilias throats of two and set them on the pyre. Schoßhunde gab, aber deren Existenz ist erst in römischer Zeit wahrscheinlich. Daraus leitet Collins ab, dass die Sollte Patroklos tatsächlich eine Meute von reference to Patroklos´ dogs as “dogs of neun Schoßhunden gehabt haben? Waren the table” is presumably a reference to es nicht eher polyfunktionale, mindestens dogs fed from table scraps, that is, pet aber gebrauchsfähige Hunde? Ich denke, dogs, and such a meaning is probably dass diese Tischhunde keine Hündchen wa- also to be attributed to the tallow ren - eine wahrscheinlich anachronistische puppy of the Hittite text. Assoziation aus heutiger Sicht. Eher gehe ich von Jagdhunden aus, die auch eine In der Übersetzung der Digitalen Bibliothek Schutzfunktion wahrnehmen konnten. aber heißt es: Gleiches nehme ich an für das hethitische Königspaar: Das hohe Paar lässt sich also Tischhunde, neun an der Zahl, besaß tagsüber von einem realen Hund beschüt- der Fürst; er durchtrennte zweien von zen (höchstwahrscheinlich zusätzlich auch ihnen die Kehle und warf sie sodann noch von menschlichen Leibwächtern), und auf den Holzstoß. In der Übertragung die Funktion dieses realen Hundes über- von Voss hingegen heißt es: Neun der nimmt in der Nacht als Krisenzeit (zusätzlich häuslichen Hund´, ernährt am Tische der und symbolisch gesteigert) der künstlich ge- Herrscher, Deren auch warf aufs Toten- fertigte Hund. Bawanypeck (162) nimmt an gerüste er zweie geschlachtet. - wie andere Hethitologen auch - dass

Von Voss erfährt man keine Details, wem der Hund den Hethitern in Bezug auf die Hunde gehörten und wie sie geschlach- die Götter als unrein galt und daher tet wurden; in der „digitalen“ wie in der für die Abwehr negativer Kräfte nutz- englischen Übersetzung wird ihnen die bar war. Für die Unreinheit des Hundes Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 435

DIE VIELSEITIGKEIT VON HUNDEMENSCHEN UND -FIGUREN IN HETHITISCHEN RITUALEN 435

spricht, dass er zum Gefolge des Pest- Die Unreinheit des Hundes bezieht sich also gottes Jarri zählte und vermutlich als zunächst auf Götter, d.h. Tempel und deren Krankheitsüberträger angesehen wur- Vorräte. Da die Ritualexpertin außer dem de ... Instruktionen für das Tempel- Hund aus Talg auch einen realen Hund personal zeigen, dass Hund und während der Nacht im Königspalast einsetzt Schwein sich den Göttern nicht nähern und zudem dem Königspaar noch weiße sollen ... Hunde und Schweine sind von und rote Wollfäden um Hände, Füße, Taille den Vorräten und Gerätschaften der und Nacken bindet, darf man wohl an- Götter fernzuhalten, damit sie nicht nehmen, dass der reale Hund entweder von verunreinigt werden. Die Erwähnung weißer oder von roter Fellfarbe war (Kangal der Tiere dürfte u.a. daher rühren, dass oder Akbash kämen hier in Frage), da die sie - anders als Schafe, Ziegen etc., die Farbe Weiß in der hethitischen Farbsymbo- sich tagsüber außerhalb der Ort- lik für die Reinheit steht und da folglich ein schaften befanden - eher Gelegenheit andersfarbiger Hund die angestrebte Rein- hatten, mit den Tempeln in Berührung heit verhindert, zumindest erheblich beein- zu kommen. Da herumstreunenden trächtigt hätte. Allerdings beweist dies noch Tieren immer Schmutz anhaftet, muss- nicht die grundsätzliche Reinheit des Hun- ten sie vom Tempel, von den Göttern des, denn und den Gegenständen, mit denen die Götter in Kontakt kommen, ferngehal- farbige Fäden, Schnüre und Bänder, die ten werden. Dass der Hund jedoch im den Patienten und den verunreinigten Haus durchaus geduldet sein konnte, Gegenständen zur Kontaktaufnahme zeigt der vorliegende Text, in dem gar angeheftet werden, sind ein beliebtes von dem „Tischhündchen“ des Königs- Mittel, Verunreinigungen zu übertra- paares die Rede ist (Bawanypeck, 162- gen und durch das Abschneiden zu ent- 3). fernen ... Durch das Anbinden an die Ritualmandanten und den Palast wird Es scheint sich also eher um eine unhygie- der Kontakt hergestellt, mit dem die nische und weniger um eine rituelle Unrein- Verunreinigungen auf das Band gelei- heit gehandelt zu haben, wenn der Hund tet werden (Bawanypeck, 164). sogar in unmittelbarer Nähe des Königs, des Mittlers zwischen Göttern und Menschen, Es wäre also kontraproduktiv, in unmittel- nicht nur geduldet, sondern von der könig- barer Nachbarschaft dieser reinigenden lichen Familie ernährt wird (Bawanypeck, Bänder eine Quelle der Verunreinigung zu 163), ja offensichtlich als Hündchen gerade- dulden, als die der Hund in Bawanypecks zu liebevoll verhätschelt wird. Auf das Pro- ersten Überlegungen erscheinen könnte. blem dieser „Unreinheit“ ist noch zurückzu- kommen. Die Ritualexpertin weist diesem Im Gegenteil: Auch der Hund ist doch of- Hund fensichtlich hervorragend geeignet, Verun- reinigungen vom Königspaar und damit den Verantwortungsbereich „könig- vom ganzen Land abzuwenden. Auch die liche Familie und Wohnung“ zu. Über diesen Bereich soll er - als apotropäische Verwendung von rotem Band zeigt, Figur auf dem Türriegel sitzend - den dass diese Farbe besonders gut absor- Eingang des Palastes bewachen, keine biert. Dies dürfte damit zusammenhän- unbefugten Menschen und keine gen, dass rot als Farbe des Blutes die Le- unheilvolle Angelegenheit (als Aus- benskraft symbolisiert und dadurch die wirkung des negativen Vogelorakels) Unheilsstoffe wirksam bannen kann hineinlassen (Bawanypeck, 163). (Bawanypeck, 165). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 436

436 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Wir dürfen also weiter vermuten, dass die aus, dass nur der lebende Hund als Sub- Fellfarbe des verwendeten realen Hundes stitut diente, würde der Esel erst später eher rot war, da ja der Talghund eher die als Vehikel eingesetzt werden, um den Farbe Weiß repräsentiert. So wären denn mit Unheilsstoffen belasteten Kadaver beide Farben auf hündischen Trägern wie des Hundes ... fortzutragen. auf Wollmaterialien präsent. Dass die Annahme eines roten Hundes als Apotro- Der Hund als Substitut des Königspaars lässt auf paikum bei den Hethitern nicht besonders Konsubstantialität zwischen König und Hund gewagt ist, stützt die Tradition und Popula- schließen, analog zur pars-pro-toto-Opferung rität des roten Hundes aus Meluhha (> 52 im Notopfer-Ritual der Inuit (> I). Will man aber ff.) in West-Asien, die in jeder Hinsicht vor- unbedingt zwei Substitute für das Königspaar hethitisch ist. Nach weiteren Teilritualen annehmen, dann müsste man dem Hund zu- führt die Ritualexpertin einen Schwenkritus mindest den höheren Rang zubilligen, da nur mit dem lebenden jungen Hund durch, er im Schwenkritual - aus naheliegenden Grün- den - verwendet wird und da nur er mit dem der die Unheilsstoffe als Substitut (!) des Königspaar in engen, sogar sehr engen Kon- Königspaares von diesem und dem takt kommt. Und in anderen offiziellen Palast entfernen soll. Die Rede der Zeremoniellen treten zwar Hunde-, aber keine Ritualexpertin ist ... nicht zweifelsfrei Eselmenschen auf - auch dies spricht gegen den zu deuten. Sicher ist, dass mit den Wor- Esel als ein (mit dem Hund gleichberechtigtes) ten „der Penis ist groß (~ der Penis eines Substitut des Königspaars. Wohl aber darf man großen Hundes?), sein Herz ist groß“ Hund und Esel durchaus als Partner der Herol- den dämonischen Kräften ein Substitut de der Götter auffassen, womit die angebliche angepriesen wird, damit die Schadens- Unreinheit des Hundes in Bezug auf eben die- stoffe tatsächlich in selbiges einziehen. se Götter denn doch sehr zweifelhaft wird und Dabei werden das Herz als Sitz des Le- sich als eine eher hygienisch konzipierte Un- bens und der Penis als Symbol der reinheit erweist, die hauptsächlich auf Tempel- Fruchtbarkeit besonders gerühmt (Ba- vorräte bezogen wird: wanypeck, 169). Der lebende Hund wird hinausgebracht Anschließend wird der Hund auf einen Esel und tritt später wieder in Erscheinung. gesetzt - dazu meint Bawanypeck (170): Dann fordert die Ritualexpertin das Hundefigürchen auf, das von den In unserem Ritual kommen sowohl der Herolden der Götter vertriebene Unheil Hund als auch der ... Esel als Substitut (~ nicht in den Palast zurückzulassen. Sie des Königspaares) in Betracht. Interpre- schließt mit den Worten „Und wohin tiert man den zu ergänzenden Teil der ihnen, einem jeden, die Götter (zu ge- Rede als die zum Schwenkritus mit dem hen) bestimmt haben, dorthin soll die- Hund gehörige Beschwörung, wäre der se unheilvolle Angelegenheit gehen!“ Hund das Substitut, das von dem Esel Die Übertragungsriten haben Wirkung fortgetragen wird, um die Unheilsstoffe gezeigt, das Unheil ist inzwischen ver- an einen unschädlichen Ort zu transpor- trieben worden. Die Schadensstoffe tieren. Die andere Möglichkeit besteht sind aber noch nicht entsorgt. Das Hun- darin, von zwei verschiedenen Substitu- defigürchen soll ihre Rückkehr in den ten auszugehen: Dem Hund, der die Un- Palast verhindern. Der Deponierungs- heilsstoffe während des Schwenkritus ort der Lymata (~ Abfälle; rituell Unrei- aufgenommen hat, und dem Esel, der nes) wird wiederum von den Göttern für den Übertragungsritus besonders (also durch Orakel) bestimmt (Bawany- feilgeboten wird ... Geht man davon peck, 171). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 437

DIE VIELSEITIGKEIT VON HUNDEMENSCHEN UND -FIGUREN IN HETHITISCHEN RITUALEN 437

Nach der Durchführung des Orakels wer- Das Tordurchschreitungszeremoniell be- den die „Abfälle“ auf unkultiviertem Land steht aus mehreren Sequenzen: (also in der „Wildnis“) entsorgt. An- schließend werden ein Ziegenbock, ein Drei Tore aus Weißdornstrauch werden Ferkel und ein „junger Hund“ als Besänfti- für einen Durchschreitungsritus ange- gungsopfer dargebracht. Schweine und fertigt. Schwarzes oder rotes Band wird Hunde werden wohl nur für chthonische angebunden; wahrscheinlich wird eine oder dämonische Gottheiten als Opfertiere Schnur über einem der Tore hinwegge- verwendet (Bawanypeck, 173). Die wegge- zogen. An zumindest einem Tor wird schütteten Ritualmaterialien werden den Feuer entzündet (Bawanypeck, 176). imaginären Hunden und Pferden des Jarri (~ dämonischer Krankheitsgott; eine Art Das Durchschreiten muss früher ein Durch- maskuline und vereinseitigte Gula; > IV) kriechen gewesen sein, wie wir es an Initiati- zum Fraß vorgeworfen. Eines dieser Ver- onsritualen in Afrika (> II, 584 ff.) erkennen; söhnungsopfer in unserem königlichen und man darf vermuten, dass die scheinbar Ritual ist ein Hundeopfer, wie dem Text- obsessive Suche der paläolithischen Men- fragment weiter zu entnehmen ist: schen nach Höhlen mit besonders engen Pas- sagen partiell schon ähnlich motiviert war: Es scheint ein erneuter Kontakt- und Übertragungsritus durch Schwenken des Bei dem Durchschreiten oder Durchkrie- jungen Hundes über dem Königspaar chen solcher Tore werden die Schadens- stattzufinden. Dann wird er zerschnitten stoffe abgestreift und auf das durch- und (eine Hälfte? wird rechts zu den am schrittene Objekt übertragen. Kleine Laubwerk befindlichen Opferbroten ge- Äste und Stachel von Gestrüpp und dor- stellt. Eine Gottheit, deren Name nicht nigen Sträuchern sind für das Abstreifen erhalten ist, wird aufgefordert, sich satt und Zurückhalten der Schadensstoffe be- zu essen und zu trinken (~ Jarri? Vgl. mit sonders tauglich. Der Farbe der Weiß- den Speiseopfern für Hekate nach dem dornblüten wird magische Bedeutung monatlichen Reinigungsritual; > III). zugeschrieben, die darauf beruht, dass Wahrscheinlich soll sie dem Königspaar den Farben Weiß und Rot kathartische zukünftig günstige Vogelorakel zukom- Wirkungen und Lebenskraft eigen sind, men lassen. Sofern die Deutung der Pas- sage als Hundeopfer richtig ist, muss hier meint Bawanypeck (176) wohl völlig zu ein Versöhnungsopfer an eine chtho- Recht, übersieht aber später geflissentlich nische oder dämonische Gottheit ge- die Lebenskraft, die das Durchschreiten ei- schildert sein. Wahrscheinlich handelt es nes „Tores“ aus zwei Hundehälften der sich weiterhin um die Beopferung der Truppe vor dem Kampf spenden kann. Sie Heptade (~ eine Gruppe von 7 Gotthei- erkennt dann nur noch die kathartische ten; hier dem Pestgott Jarri zugeordnet). Wirkung, d.h. dass Schadensstoffe von den Anschließend werden drei Tore für einen Durchschreitenden abgezogen werden. Durchschreitungsritus errichtet. Das De- Diese Schadensstoffe identifiziert sie eben- ponieren von Hundehälften rechts und so einseitig mit dämonischen, d.h. negati- links solcher Tore ist in den hethitischen ven Einwirkungen niederer Gottheiten. Als Ritualen wiederholt belegt. Es ist davon Schadensstoffe haben wir aber auch die auszugehen, dass die Hundehälften, Kampfkraft zu identifizieren, die vor dem nachdem sie der Heptade als Versöh- Kampf auf die Truppe durch Identifikation nungsopfer angeboten wurden, weitere mit dem Tierstammvater, in diesem Fall mit Verwendung im Durchschreitungsritus dem Hund, übertragen wird, die aber nach fanden (Bawanypeck, 175). dem Kampf von der Truppe entfernt wer- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 438

438 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

den muss, damit die Krieger wieder frie- Das weißliche Talghündchen wird im Feuer denstauglich werden. Diese grundsätzliche mit den Ahnen vereinigt. Deshalb kann man Ambivalenz der Schadensstoffe sollte erin- weiter vermuten, dass die Kombination von nert werden, wenn wir ähnliche, aber rein Feuer und Talghund die Wirksamkeit des Ze- militärische Tordurchschreitungszeremoni- remoniells steigert, dass das Figürchen also elle der Hethiter analysieren. Die Kombina- nicht einfach nur vernichtet wird. Denn ver- tion des Weißdorn-Tores mit anderen ma- schränkt man die hethitische Praxis mit der gischen Mitteln wie farbige Wolle und Konzeption von Feuer und Hund als Erschei- Schnüre und Entzünden eines Feuers stei- nungsweisen der Ahnen(gottheiten) in Kul- gert die Absorption der Schadensstoffe. turen Zentral- und Ost-Asiens, dann kann man sogar von einem Synergie-Effekt ausge- Auch junge Hunde gehören zu den Mate- hen, den das Verbrennen der Talgfigur aus- rien, die zur Steigerung der Wirkung von löst: Das Feuer dürfte kurzfristig stärker lo- Tordurchschreitungsriten benutzt werden dern, was paläomental wohl verstanden können. Damit sie die Unheilsstoffe, die wurde als Synthese der bislang getrennt ver- beim Durchschreiten der Tore abgestreift wendeten Erscheinungsformen der Ah- werden, absorbieren, schneidet man sie nen(gottheiten) in Feuer und Hund (wenn durch und legt die Hälften rechts und links man nicht den Talghund als Speisekonzen- des Tores nieder. In unserem Ritual wird ... trat für die Ahnen verstehen will, aber auch das Zerschneiden eines jungen Hundes ge- dann wird ihnen ein Opfer in ihrer eigenen schildert, der wahrscheinlich der Heptade Gestalt dargebracht). Dieses Ritual gegen ein geopfert wird. Die Hundehälften finden fürs Königspaar negatives Vogelorakel weist vermutlich im Durchschreitungsritus wei- sowohl private wie öffentliche Aspekte auf. tere Verwendung, In rein offiziellen Zeremoniellen tritt der Hund in zwei Formen in Erscheinung: Als meint Bawanypeck (178), und man könnte Hundemensch und als reales Opfertier. Im of- weiter vermuten, dass das Versöhnungs- fiziellen Kult hatten die Hundemenschen opfer an die Heptade vielleicht eher noch ei- wohl in erster Linie statische Funktionen, wie ne Weihe war, die die Absorptionskraft der Jakob-Rost (420) meint, während Hundehälften noch besonders gestärkt hat. So wird die weitere Verwendung der Hun- die Wolfsmenschen eher kinetische dehälften über den Verdacht erhaben, man Handlungen zu verrichten hatten, etwa habe sich das Opfer eines weiteren Hundes Tanzen und Umherlaufen ... ersparen wollen durch schnöde Umfunktio- nalisierung. In diesem Zusammenhang fällt Man vergleiche den Tanz dieser „Wolfsmen- Bawanypeck ebenfalls auf, dass es eine schen“ mit Wotans tänzerischer Haltung in seiner Wolfs-„Maske“ (> 193: Abb. 3). Die Affinität gibt von Durchschreitungs- Hundemenschen werden aber auch mit riten mit Hundehälften und dem Heer. anderen Funktionären zusammen genannt, darunter auch mit den Pförtnern, was ihre Darauf komme ich im nächsten Abschnitt „statische“ Wächterfunktion betonen könn- ausführlicher zurück. Im königlichen Ritual te - dem steht aber entgegen, dass die Hun- gegen negative Vogelorakel wird demenschen sich u.a. ganz wie Hütehunde bewegen, denn es heißt von ihnen auch: das Hundefigürchen ein letztes Mal an- gesprochen. Da es aus Talg besteht, ist Ferner treiben sie Vieh herbei, bringen daran zu denken, dass es schließlich dem König Geschenke und Tribut und dem Feuer übergeben wird und sich bekommen Brot, Wein und Kleidungs- darin auflöst (Bawanypeck, 178). stücke (Jakob-Rost, 419). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 439

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Die Kleidungsstücke belegen vielleicht, dass Menschen, was uns nicht mehr verwun- die Hundemenschen nur Kopfmasken oder dert). Sie stehen in Verbindung mit höchstens Teilprotome tragen, ansonsten protohattischen Gottheiten ...sie tan- aber „normal“ gekleidet sind. Das herbei- zen und spielen das GISDINANNA.GAL getriebene Vieh könnte - wenn man die (?) (Jakob-Rost, 419-20). Hundemenschen als zivilisiertes Überbleib- sel eines Junghirtenkriegerbundes versteht Die Struktur dieses Kultspiels scheint nicht - die Simulation geraubten Viehs sein, das weiter bekannt zu sein, aber da die meso- die Jugendkrieger zumindest zu einem Teil potamische Hauptgöttin Inanna im Zen- ab einer bestimmten Zeit, ab der man die trum steht, könnten die Wolfsmenschen Jugendbünde an die Kette gelegt hat, an Partner der Inanna in einer Art Heiliger den König abgeben mussten - das könnte Hochzeit sein (> III, 537-8). Dazu passt gut, auch den Tribut erklären, der sonst eher in- dass die Wolfsmenschen mit anderen Per- diziert, dass die Hundemenschen nicht ori- sonen zusammen genannt werden, vor ginär zum hethitischen Reich gehören. Das allem mit ´Dirnen´, hebt Jakob-Rost hervor aber befände sich im Widerspruch zu ihrer und ist so vorsichtig, die ´Dirnen´ mit einem hervorgehobenen kultischen Tätigkeit: leichten Fragezeichen in Form von Anfüh- rungszeichen zu versehen - und wir den- Es handelt sich ... um Maskenträger ken an die Maera genannten Frauen, die bzw. Maskentänzer, die sich durch Zu- mit den indo-arischen und indo-iranischen hilfenahme von äußeren Mitteln wie Jungkriegern gemeinsame Sache machen. Masken oder Tierfellen den Anschein Diese hethitischen Hunde-, Wolfs- und des betreffenden Tieres zu geben such- Löwenmenschen sind - wie schon Ivancik ten. Ein deutlicher Hinweis auf eine sol- (323, FN 58) vermutet - Vertreter der Jung- che magische Verkleidung ist z.B. KUB hirtenverbände des synkretistischen hethi- IX 31 II 11, wo man einen Knaben in tischen Reiches: Es sind anatolische wie eine Ziegenhaut gesteckt hatte. Dazu griechisch-ionische wie indo-europäische hatte dieser ständig wie ein Wolf zu Traditionen überhaupt, die in diesen offi- heulen. Zur äußeren Aufmachung z.B. ziellen hethitischen Zeremoniellen überle- der Hundemenschen gehörte gleich- ben. Zu den ´Dirnen´, die keine sind, merkt falls das oftmals belegte ´Bellen´. Diese auch Kershaw (159) treffend an, dass Dir- Hundemenschen sind im Kult, speziell nen bzw. Huren häufig auch im Zusam- im Ritual beschäftigte Personen ... Aus menhang mit den indo-arischen Vratyas den übrigen Belegen lässt sich fest- genannt werden, besonders hinsichtlich stellen, dass die Hundemenschen einen kultischer Aktivitäten, worin ich ein Indiz Obersten und einen Vorsteher haben für sakrale, jahreszeitlich gebundene Pro- (Jakob-Rost, 419). miskuität erkenne, in der der „Hund“ ja nicht nur bei indo-europäischen Völkern Ist mit dem Obersten vielleicht der Gott der eine wesentliche Rolle spielt. Dazu könnte Junghirtenkriegerschar gemeint, wie er auch passen, dass die Wolfsmenschen aus (nicht nur) für die indo-europäischen Bünde verschiedenen Ortschaften stammen, also typisch ist? Ist der Vorsteher vielleicht des- eine scheinbar bunt zusammengewürfelte sen Repräsentant auf Erden als Anführer Schar darstellen, und dass sie der Schar, wie wir ihn bei den Vratyas kon- kret kennenlernten? in Spenden- und Opferlisten erwähnt werden, sie bekommen u.a. Schafe und Die zweite Gruppe der Kultfunktionäre, Brot. In Prozessionen (?) laufen sie vor- die ´Wolfsmenschen´, haben z.T. ganz aus, töten, schlachten und zerlegen (?) ähnliche Merkmale (wie die Hunde- etwas (Jakob-Rost, 419-20). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 440

440 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Die Wolfsmenschen übernehmen die Funk- nicht-indo-europäischer Kultformen an. Ker- tion des Opferschlächters, für die der shaw (159) hingegen vermutet eher „Hund“ der Vratyas noch mit dem Tod „be- lohnt“ wird. Die jetzt freiwillige Abgabe einen Synkretismus aus einheimischen von Schafen und Brot ist vielleicht ein Relikt Kultformen, die von den Hethitern der früheren Heischegänge und des noch ebenso wie die Götter der Churriter (~ früheren Stehlrechts der Jungkriegerbünde Hurriter) übernommen wurden, und in einer jetzt durchorganisierten und auf den eigenen indoeuropäischen Hunde- dauerhaften Besitz angelegten Gesell- und Wolfsmasken der Hethiter. schaft, die so die destruktiven Eingriffe der Jugendbünde zum Kult sublimiert. Sollte die versuchsweise Identifikation der hethitischen Hunde-, Wolfs- und Löwen- Die ´Löwenmenschen´ sind nur verein- menschen - in einem Beleg sind auch Bären- zelt belegt. Sie gehen in einer (Ernte)- Menschen dokumentiert - mit Jungkrieger- Prozession neben den „hazgara“- scharen richtig sein, dann ist vermittelt über Mädchen (Jakob-Rost, 420). die tierische Erscheinungsweise des jeweiligen Ahnengottes durchaus möglich, dass Dass Löwenmenschen selten erwähnt werden, verweist wohl tatsächlich auf eine den indo- es sich bei den erwähnten Tieren um ehe- europäischen Hethitern fremd gebliebene malige Totemwesen handeln könnte, wo- Konzeption der mesopotamischen Kulturen (> bei man neben der Kraft vielleicht auch IV, 537 & 566: Abb. 31). Auch diese Maskenträ- den Schutz des Totemtieres genießen ger sind assoziiert mit ´Mädchen´, was sie mit wollte ... Vielleicht haben in den Tagen den Wolfsmenschen partiell analogisiert: Die der frühen Stammesgemeinschaften in üblichen Kennzeichen der Junghirtenkrieger- Kleinasien einmal die Sippen, die das Em- verbände - Stehlen, Rauben, Morden und blem eines Hundes, Wolfes oder Löwen sexuelle Promiskuität - sind eigentümlich auf- trugen, eine führende Rolle gespielt, gesplittert verteilt auf die drei unterschied- lichen Gruppen von „Kultfunktionären“. Die vermutet Jakob-Rost (421 & FN 6) wohl möglicherweise orgiastische Ausübung des nicht zu Unrecht. Und da diese drei Grup- Kultes, die Jakob-Rost (420, FN 8) 1966 nicht pen über ihre hündische Bezeichnung im ausschließen will und die für Kershaw 2003 Sumerischen sehr affin sind, kann es sich um unbestreitbar feststeht, lässt die beteiligten Aufspaltungen eines caniden Ur-Clans han- Frauen nicht in einem unterjochten Status er- deln, zu dem auch noch die Leoparden- scheinen, da hethitische Belege in diesem Kon- Menschen von Çatal Hüyük zu zählen wären text von wilden Tieren berichten, die vielleicht (zumal Gimbutas (I, 226) neben Leoparden durch Frauen bezwungen werden (Jakob- auch männliche Hunde als Begleittiere der Rost, 420, FN 8). Das aber analogisiert diese dortigen Großen Göttin erwähnt). Bleiben Frauen mit der „Herrin der Tiere“, aber auch wir deshalb noch ein wenig bei den Wolfs- z.B. mit den Mainaden des Dionysos (> VI), die menschen in hethitischen Zeremoniellen: ebenfalls felide Raubtiere „zähmen“, und lässt sie als eventuell eigenständige Gruppe in der Altersklasse der Junghirtenkrieger erscheinen, Exkurs: Wolfspriester in Pisidien zumindest als weitgehend gleichgestellte Mit- glieder ihrer Verbände - hierin kann man ein William Ramsey hat 1920 über Pisi- matriarchales Relikt sehen. Auch Jakob-Rost dian Wolf-Priests, Phrygian Goat-Priests, and betont die Verbindung der Tiermaskenträger the Old-Ionian Tribes nachgedacht. Pisidien mit vorhethitischen Gottheiten (> IV, 436 & war in der Antike der Name einer Region in 459-61) und nimmt eine Übernahme älterer, Anatolien, die schwer zugänglich im west- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 441

DIE VIELSEITIGKEIT VON HUNDEMENSCHEN UND -FIGUREN IN HETHITISCHEN RITUALEN 441

lichen Taurus liegt. Im späten Römischen Reich en, die im Norden an Pisidien und Phrygien, im war Pisidien eine Provinz, die im Osten an Ly- Osten an Pamphylien grenzt. Der westliche kaonien (~ Wolfsland), im Süden an Pamphyli- Taurus war offensichtlich durchsetzt von Völ- en, im Westen an Phrygien und im Norden an kern, die zum Wolf als Emblem eine sehr enge, Galatien grenzte. Die als kriegerisch bezeich- vielleicht eine ursprünglich sogar totemistische neten antiken Bewohner Pisidiens waren als Beziehung hatten. Da die Lykaonier in der An- Bergvolk weder von den Persern noch von tike als besonders kriegerisch galten, können Alexander dem Großen zu beherrschen. Auch wir vermuten, dass ihre Junghirtenkrieger sich die römische Herrschaft, die mit Beginn des -1. mit dem Wolf(sgott) als dem Repräsentanten Jahrhunderts einsetzte, war nicht unum- des rebarbarisierten Hundes identifizierten, schränkt. Auf einem pisidischen Grabstein liest analog zu den Epheben Spartas, dessen my- man den Namen oder Titel Gagdabos Edagda- thischer Gründer Lykurg (~ Zeus Lykoorgos bos, den Ramsey etymologisch auf die einfa- bzw. Zeus Lykaios) wölfisch konnotiert ist, des- cheren Formen Gdabos und dann Gdawos sen Kriegsgott man aber Hunde opfert. Dass zurückführt: Die griechische Bezeichnung da- Hund und Wolf in diesem Kontext auswech- os, latinisiert davus, bedeutet nach Auskunft selbar sind, belegt auch des antiken Autors Hesychios Wolf, und der phrygo-pisidische Gott Manes (~ Ahn?) wurde auch Daos genannt (> 378-84: dhau ~ (wöl- ein militärisches Zeremoniell fisch-hündischer Würger). Vor diesem Hinter- der Hethiter. grund erscheint der vermutlich unter dem Grabstein beigesetzte Gagdabos Edagdabos Dieses „Reinigungs“-Ritual genann- als ein Priester des Wolfsgottes Manes-Daos, ja te Zeremoniell für die hethitische Armee ist sogar als Hauptpriester dieser Gottheit, denn das älteste und vollständigste Zeugnis für ei- eda im Titel Eda-gdabos entspricht dem ana- ne Reihe homologer oder auch nur analoger tolischen ida (~ Berggipfel) und ist hier als Chef Zeremonielle. Der hethitische Text lautet in zu verstehen. Auf Münzen aus Themissonion, meiner Übersetzung der französischen Über- einer phrygischen Stadt im bergigen Grenzge- setzung des Originals (KUB XVII 28 IV 45-56): biet zu Pisidien, wird der Gott Manes Daos auch Luk(abas) Sôzôn genannt, und sein kom- Wenn die Truppen vom Feind geschlagen pletter Titel war wohl Manes Daos Heliodro- sind, organisiert man ein Opfer hinter mos Zeus, denn in diesem Fall entspricht das dem Fluss auf folgende Weise: Hinter dem phrygische Luk(os) oder Luk(abas) dem pisi- Fluss schneidet man in zwei Teile einen dischen Daos-Gdabos, dem Wolfsgott, wäh- Menschen/Mann, einen Ziegenbock, ei- rend Sôzôn-Saozos Sonnengott bedeutet: Der nen jungen Hund und ein Milchferkel. Wolfsgott war also auch Sonnengott, und man Und man legt die Hälften auf die eine und fügte seinem Titel erläuternd noch das grie- auf die andere Seite (~ der Armee). Aber chische Zeus hinzu, wie Ramsey rekonstruiert. davor macht man ein Tor aus „Hatalkes- Für unseren Zusammenhang bedeutet dies al- sar“-Holz (~ Weißdorn) und man zieht les, dass Wolfsmenschen in hethitischen Ritua- darüber einen „Tijamar“ (es ist unbe- len als Priester eines Wolfsgottes aufzufassen kannt, was damit bezeichnet wird, merkt sind, die vielleicht aus Pisidien und/oder Phrygi- Masson an). Dann zündet man hier vor en an den Königshof delegiert sind. Zusätzlich dem Tor ein Feuer an und man zündet erkennen wir, dass der Glaube an eine Wolfs- dort ein Feuer an. Und die Truppen defi- gottheit Lykos sowohl bei den indo-europäi- lieren hindurch. Aber sobald sie am Fluss schen Pisidern wie bei den wahrscheinlich angekommen sind, besprengt man sie mit nicht-indo-europäischen Lykaoniern verbreitet Wasser. Dann macht man ein Opfer auf ist, denen er sogar den Namen gibt, und bei dem Land, wie man gewöhnlich ein Opfer den Lykern, den Bewohnern der Region Lyki- auf dem Land macht (in: Masson, 6). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 442

442 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Ob der geteilte Mensch der Feldherr war, An den beiden hinteren Seiten des der die Niederlage zu verantworten hatte, Tores platziert man Laubwerk, auf das wird nicht deutlich. Die Truppen gehen also jeweils sieben Dickbrote gelegt werden zwischen zwei Feuern hindurch, dann durch ... Das Deponieren der verschiedenen ein Tor, das man wohl besser als Bogen ver- Materien an der vorderen und hinteren steht, denn was soll ein Tor auf freiem Gelän- Seite weist auf die symbolische Auftei- de? Man vergleiche das „Tor“ aber mit dem lung in eine unreine und eine reine römischen Triumph-Bogen - bei allerdings Sphäre hin. Der Hund, in den die Scha- entgegengesetztem Anlass genutzt - und densstoffe einziehen sollen, wird an der man kann vermuten, dass so ein „Tor“ nicht unreinen Seite niedergelegt, wo das Tor einseitig verwendet wurde, wenn also die betreten wird (Bawanypeck, 196-7). Truppen eine Niederlage erlitten hatten, auch bei einem Sieg wird man wahrschein- Nachdem der letzte Augur das Tor durch- lich ein Tordurchschreitungsritual zelebriert schritten hat, zerbricht er es, stößt es fort haben. Das Défilé geht nun weiter mit der und schreit dabei - der angebliche Urschrei Passage zwischen den Hälften der vier Opfer nach der (Wieder)-Geburt? Danach wird auf und endet am Ufer des Flusses mit einer Art der reinen Seite ein Versöhnungsopfer mit Segen - oder gar Taufe/Wiedertaufe? Analog einem Ziegenbock durchgeführt. Diese Ver- zum Milchferkel dürfen wir den jungen Hund söhnung kann erst stattfinden, wenn die der französischen Übersetzung wohl als Saug- beiden Hundehälften von den Durchschrei- welpen verstehen: Dieser Welpe ist analog zu tenden die Schadensstoffe absorbiert ha- den nach der „Reinigung“ Wiedergebore- ben, wenn also die Ritualmandanten sich in nen. In einem anderen hethitischen Text, der einem reinen Zustand befinden. Auf einer sich mit dem Ritual der Anniwijani für die anderen Tontafel wird das Zerteilen eines Lamma-Gottheiten befasst, ist ebenfalls die Welpen empfohlen, wenn man auf seinem Rede u.a. von der Anfertigung eines Hünd- Weg einen Vogel sieht, der ein schlechtes chens aus Talg, mit dem ein apotropäisches Omen bedeutet. Dann besorgt man sich aus Ritual durchgeführt wird. Nach anderen der Umgebung einen Welpen oder jungen Ritualteilen erfolgt eine erneute Be- Hund und einen Ziegenbock, schneidet den schwörung des Hundefigürchens und die Welpen in zwei Teile, deponiert die Teile Unschädlichmachung der übrigen Ritual- auf der einen und der anderen Seite (des materien. Dann folgen ein Versöhnungsopfer Weges?) und macht dasgleiche mit dem und ein Tordurchschreitungsritual auf einer Bock. Danach mischt man das gekochte Berghöhe, die nicht mit einem Wagen er- Fleisch (der beiden Opfertiere?) und das reichbar ist, also den „zivilen“ Rahmen verlässt Fett und wirft das Ganze weit weg - eine und in der „Wildnis“ stattfindet: Auf dem Geste, die auch in Ost-Asien mit dem hün- Weg dorthin werden der junge Hund und der disch konnotierten tsakh praktiziert wird (> erwachsene Ziegenbock an der Spitze der Ab- I, 13-4, 301-10). Auch wenn in den beiden teilung geführt. Auf der Höhe errichtet man letzten Zeugnissen nicht die Rede von ei- ein „Tor“, wieder aus Hattalkessar-Holz. Dann nem Tor ist, darf man wohl annehmen, dass schneidet man den Hund in zwei Teile, die hier ein reduziertes Tordurchschreitungsri- man vor dem Weißdorntor deponiert, einen tual stattfindet. In einem anderen Text wer- Teil links, den anderen rechts. Da in diesem den die Sieben Gottheiten (~ Heptade als Text wieder von einem ur-tur (~ Welpe) die Pleiaden - landwirtschaftlich als Regenster- Rede ist, wird der o.g. junge Hund tatsächlich ne konnotiert; > I, 129-30, 494-6, 504-5; > II, ein Welpe und vor der Abteilung her auf die 84, 198-201, 609; > III, 37-9, 598-9, 634; > IV, Bergeshöhe getragen worden sein (zum 367) als Adressaten des zweigeteilten Wel- Höhenkultus allgemein habe ich schon einige pen und anderer Opfertiere erwähnt. Die- Anmerkungen gemacht (> III, 196, 456, 574). ser Text widerspricht Collins Behauptung, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 443

DIE VIELSEITIGKEIT VON HUNDEMENSCHEN UND -FIGUREN IN HETHITISCHEN RITUALEN 443

in the Hittite cult, puppies were never wichtige Komponente das Reinigungsritual used as offering animals, as were the der Armee bekannt: Man warf die Eingewei- cow, sheep, and goat. The fact is attri- de einer zerteilten Hündin ans Ende des Fel- butable to the idea that puppies were des, auf dem das Heer versammelt war, und not fitting offerings for the gods. The zwar auf die rechte und die linke Seite; die aversion of the divine realm to this un- Soldaten hielten sich alle im Raum zwischen clean creature is clearly revealed in the den beiden Hälften auf, hier die Reiter, dort Instructions to the Temple Personnel: die Fußtruppen. Aus dem Jahr -182 berichtet Let neither a pig nor a dog of the gate Titus Livius von einer kalendarisch fixierten enter the place of the stew! Is there so- Reinigung der makedonischen Armee und mething different (between) the mind präzisiert, dass man eine Hündin in zwei Hälf- of a human and (that) of the gods? No! ten teilte: Die Vorderhälfte mit dem Kopf de- Even (in) such (a matter as) this? No! poniert man auf die rechte Seite, die hintere Rather, (they are of) exactly one mind Hälfte mit den Eingeweiden auf die linke Sei- (Collins, 2007, 6 ~ Homepage Oriental te des Defilierweges; die Körperhälften mar- Institute of the University of Chicago). kierten also ein symbolisches Tor:

Die Instruktionen fürs Tempelpersonal kön- Durch dieses Tor marschiert das Heer; vor- nen sich - wie bereits erwogen - tatsächlich an werden die Waffen der früheren Kö- nur auf die Hygiene der Vorratsräume be- nige getragen, dann kommt der König ziehen, wäre es sonst nachvollziehbar, dass mit seiner Familie, die Leibgarde und der angeblich höchst unreine Hund direkten schließlich das übrige Heer. Durch diesen Zugang zum hethitischen Königspaar wäh- Ritus werden vor allem die Waffen gerei- rend der Mahlzeiten (!) hat und dass er real nigt und gekräftigt (man beachte das und in Gestalt von Figurinen das Paar vor bö- Vorantragen der Waffen der früheren sen Orakeln schützt? Ist das Königspaar von Könige), und die blutenden Teile des Hun- der Gleichheit im mind of a human and des saugen förmlich alles Schädigende (that) of the gods ausgeschlossen? Dass der von Waffen und Menschen ab. Der daran Hund in dieser Tempelvorschrift höchst- sich anschließende Scheinkampf hat wahrscheinlich eher aus Gründen der Hygie- apotropäische Wirkung (Scholz, 16-7). ne vom Tempel ferngehalten werden soll, ist Collins selbst indirekt zu entnehmen, wenn Hier scheint die Reinigung ein jährlich wie- sie eine weitere Tempelvorschrift zitiert: derkehrendes Ritual zu sein. Doch bemerkt Scholz (17, FN 24) wohl richtig, dass If a pig or a dog ever comes near (them), and the “lord of the pot” does not man ursprünglich das wehrfähige Volk throw them away, but gives (them) to vor jedem Kriegsauszug, und nicht nur the gods (so that they) eat from a pol- jährlich gereinigt habe. luted (implement), then the gods will give that one dung (and) urine to eat So richtig die Annahme auch ist, jeder kon- and drink (Collins, 1992, 225, FN 71). krete Kriegsbeginn erfordere dieses „Reini- gungs“-Zeremoniell, so dürfte doch auch die Bevor ich die spezielle Funktion des Hundes Annahme nicht falsch sein, dass eben dieses analysiere, möchte ich einen Blick werfen auf Zeremoniell auch unabhängig von konkre- indo-europäische Varianten des Rituals, zwi- ten „Reinigungs“-Anlässen jährlich und schen zwei Hälften eines oder mehrerer Op- kalendarisch fixiert durchgeführt wurde bei fer zu defilieren. Vom Bestattungszeremoni- Auszug und Rückkehr einer Altersklasse von ell der makedonischen Könige (z.B. aus An- Junghirtenkriegern zu Beginn und am Ende lass des Todes von Alexander um -323) ist als ihres kriegerischen Halbjahrs. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 444

444 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Das Hundeopfer und das vor dem Auszug in den Kampf dem Enya- kriegerische Halbjahr lios-Ares einen Hund als Katharma dar- brachten, um alles schädigende Orenda (~ ein negatives Mana) zu entfernen. Man darf wohl von einer sehr früh- zeitigen, vielleicht schon vor-indo-europä- Wie so oft, so fällt auch hier Scholz hinter ischen kalendarischen Fixierung des „Reini- seine grundlegende Erkenntnis zurück, dass gungs“-Zeremoniells ausgehen. Darauf das Hundeopfer eben nicht nur etwas Schä- lässt auch der Scheinkampf schließen, der in digendes entfernt, sondern den Durch- Makedonien wie in Sparta belegt ist: führenden des Opfers auch stärkt (aller- dings ist richtig, dass in Sparta der Hund Das Hundeopfer der spartanischen dem Ares auch geopfert wurde, wenn eine Epheben an Enyalios-Ares (~ Kriegs- im Kampf empfangene Wunde geheilt wer- gott) ist ein alter Reinigungsritus, der den sollte). Scholz (18) bemerkt weiter: erst später mit dem Gott verkoppelt wurde; vor dem Kampfspiel opfert in Wichtig ist für diesen Ritus, dass Porphy- der Nacht jede Partei im Phoibaion ei- rios nach Apollodoros behauptet, die nen jungen Hund (~ Welpe?), um alles Spartaner hätten als Pharmakos (~ Sün- Schädigende von ihren Waffen abzu- denbock) dem Ares einen Menschen ge- ziehen und den Sieg durch das gekräf- opfert. Das Menschenopfer ist uns ja tigte Mana der Waffen zu erleichtern. schon öfter als kathartischer (~ „reini- gender“) Vorgänger des Hundes begeg- Dass jede Partei einen Hund opfert, stellt net, und so kann man für die Lakedä- auch Scholz (17) fest, erkennt aber nicht, monier (~ Spartaner) annehmen, dass sie dass sich hier die Deutung des Hundes als in älterer Zeit bei wichtigen Kriegsanläs- der beiden Parteien gemeinsame trans- sen noch einen Menschen, später und personale Stammvater geradezu aufdrängt. bei geringeren Anlässen einen Hund als Die Waffen werden auch nach Scholz nicht Katharma darbrachten. Dem Hunde- nur „gereinigt“, sondern mit den Fähigkei- opfer an Enyalios-Ares entspricht die ten des Hundes, d.h. des Ahnen aufgeladen: Darbringung von Hunden an Ares durch Pausanias weiß im Gegensatz zu Scholz, die Karer. Auch hier war der ursprünglich dass im Phoibaion (~ außerhalb der Stadt im selbständige Reinigungsritus gegen Südosten gelegenes Heiligtum mit einem unheilvolle Kräfte später mit einem Tempel der Dioskuren, den Zwillingssöhnen Gotte verbunden und dadurch sozu- des Zeus) der Welpe von jeder „Kompanie“ sagen beglaubigt worden. geopfert wird, weil sie den Hund für das tapferste Tier und deshalb für das ange- Dem Hinweis auf die Karer in Anatolien soll- messene Opfer halten, das sie dem tapfers- te ich vielleicht noch anfügen, dass ihre ten Gott darbringen. Die Teile des ge- Hauptgöttin die hündisch konnotierte Heka- opferten Hundes ziehen also nicht nur te war (> III). Man darf den karischen Ares Schädigendes auf apotropäische Weise auf dann wohl als den Jünglingsgeliebten der sich, sondern vermitteln den Waffen - und Göttin identifizieren. Das Hundeopfer auch natürlich erst recht ihren Trägern - neue, an ihn lässt ihn uns als „Hund“ im Sinn des An- eben hündische Kampfqualitäten. Diese führers der Kriegerschar erkennen. Und wie- These stärkt Scholz (17-8) mit dem Hinweis: der nimmt Scholz (18, FN 36) einen antiken Zeitzeugen nicht hinreichend ernst, wenn er Das Kampfspiel der jungen Leute ent- dem antiken Cornutus und seiner Abhand- spricht dem Kriege der Männer, und so lung De Natura Deorum (~ von der Natur der muss man annehmen, dass die Spartaner Götter) besserwisserisch unterstellt: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 445

DAS HUNDEOPFER UND DAS KRIEGERISCHE HALBJAHR 445

Er übertreibt stark, da er behauptet, die beschert der Hund - nur insofern tötet man meisten Völker opferten dem Ares den Tod, indem man eine Hündin opfert. Zu Hunde. diesen antiken und indo-europäischen Bei- spielen kann man die nicht-indo-euro- Hält man sich vor Augen, dass in fast allen päischen Koryaken (> I) stellen, von denen indo-europäischen Kulturen der „Hund“ 1770 Krachennikov berichtet, dass sie bei ei- Anführer der Junghirtenkriegerbanden ist, ner gefährlichen Erkrankung einen Hund dürfte Cornutus zumindest für die Indo- töten, seine Eingeweide auf zwei Pfählen Europäer nicht stark übertrieben haben. aufspießen und zwischen den beiden Leichte Variationen in der Defilierpraxis Pfählen hindurchgehen. Im 19. Jahrhundert durch die Opferteile kann man feststellen, berichtet ein Missionar von den Arabern in wenn man das jährliche königliche Zeremo- der Region von Moab von einem Ritual ge- niell der Makedonier vergleicht mit dem Be- gen Seuchengefahren und Dürre, in dem stattungszeremoniell für Alexander: Hier ein Schaf analog zum Hundeopfer geteilt stand das Heer auf einem Feld, und die bei- wird und die Hälften auf zwei Pfähle ge- den Hälften der Hündin wurden an den bei- spießt werden - die Familie muss dann zwi- den Flügeln des Heeres „weggeworfen“. schen beiden Hälften defilieren. Aus Assam Man darf aber auch hier annehmen, dass und Burma zitiert Frazer eine analoge Pra- danach ein Défilé des Heeres stattfand. xis, diesmal wieder mit einem Hund, der in Wichtig ist wohl, dass die Waffen des ver- zwei Hälften geteilt wird, ohne dass man storbenen Königs desakralisiert und die die Eingeweide zerschneidet: Die Hälften Krieger von ihrem Eid auf Alexander ent- deponiert man auf die rechte bzw. linke Sei- pflichtet wurden - in dieser Hinsicht ist das te des Defilierweges, die Eingeweide aber Zeremoniell vergleichbar mit dem legt man auf den Weg, wenn man sich ver- westafrikanischen Sunbwege- und Nya- folgt fühlt von einem Dämon: Die intakten Bestattungsritual (> II, 600 ff.) in Mali, in Eingeweide versperren dem Dämon den dem die Waffen des verstorbenen Vaters Weg, so kann er sein Ziel nicht weiter ver- desakralisiert werden, auch hier mit dem folgen. Nach dem Deponieren der Einge- Körper eines Hundes. Von den Böotiern be- weide dürfte der Verfolgte sich zurückzie- richtet Plutarch eine ähnliche Praxis, ohne hen bzw. seinen Weg fortsetzen, indem er das Geschlecht des Hundes zu präzisieren. zwischen den beiden Hälften des Hundes A. Reinach interpretiert das Ritual eher apo- hindurchgeht. Die rituelle Teilung eines tropäisch, d.h. mit der Tötung des Hundes Hundes ist also kein indo-europäisches Mo- habe man den Dämon des gewaltsamen To- nopol. Scholz´ Annahme, das Hundeopfer des selbst getötet, man habe sich gleichsam habe das Menschenopfer substituiert, kann immunisiert gegen den Tod, man sei nicht auch umgekehrt werden: Astydameia ist in oder wenigstens nicht so einfach zu töten. der griechischen Sage die Gattin des Königs Diese Interpretation berührt sich eigentüm- Akastos von Iolkos und die Mutter des Am- lich eng mit der Praxis der Hund- und Wolf- phitryon und des Tlepolemos. Sie verliebte serker, sich vor dem Kampf in einen unver- sich in Peleus, als dieser ihre Liebe jedoch wundbaren Caniden zu verwandeln. Damit nicht erwiderte, veranlasste sie, dass sich sei- hat Reinach aber nur die eine Hälfte des ge- ne Gattin Antigone erhängte, und verleum- samten Sachverhalts benannt: Zwar ist der dete ihn bei ihrem Gatten Akastos, dass er Hund oder der Canide überhaupt als chtho- versucht habe, sie zu verführen, worauf er nisches Tier auch ein (Symbol)-Tier des To- getötet werden sollte. Sie wurde von Peleus des, aber er ist auch die tierische Erschei- getötet, indem er sie in Stücke schnitt nungsform der Ahnen(gottheit), mit der (wahrscheinlich in zwei Hälften) und die Ar- sich die Junghirtenkrieger identifizieren. mee durch die Stücke defilieren ließ auf Wiedergeburt als Überwindung des Todes dem Weg zur Stadt. Diese Frau hat sich wie Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 446

446 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

eine „Hündin“ verhalten, kein Wunder, dass vom Anderen Zustand zurück in den Zu- sie wie eine Hündin zu Tode kommt und im stand der zivilisierten Welt. Wir hätten es al- Ritual offensichtlich eine reale Hündin er- so mit einem typischen rite de passage zu setzen kann. Peleus kommt aber auch zu tun, der alles, was schlecht für den er- Akastos, weil er Eurytion ermordet hat und wünschten Neuen Zustand ist, eliminieren daher einer rituellen Reinigung bedarf - die soll. So kann unter diesem Ritual eine Men- er der Frau verdankt, deren unmoralisches ge an Einzelmotiven subsumiert werden: Angebot er standhaft abgelehnt hat. Nimmt man Eurytion als Bezeichnung für Die Reinigung des Patienten vom Krank- den gesamten Stamm des Eurytion, dann heitsdämon ebenso wie die Sperrung des wird die Armee des Peleus nach seinem Sieg Zugangs für diesen Dämon, indem man ei- gereinigt, aber von was? Bezieht man diese ne Absorptionszone (einen Zwischenraum, frühgriechischen Krieger auf die indo-euro- ein Tor, einen Bogen) schafft zwischen dem päischen Junghirtenkrieger, dann ent- Ziel und dem Dämon. Die Eingeweide der spricht die „Reinigung“ der Krieger nach Hündin oder des Welpen, von denen der Schlacht einer Desakralisierung der Eli- manchmal erwähnt wird, dass sie mitten auf tekrieger, wie sie z.B. von Cú Chulainn be- den Weg gelegt werden, während die bei- kannt ist: Nach der Schlacht musste er sich den Körperhälften auf den Wegrändern de- erst in drei aufeinander folgenden kalten poniert werden, bilden das sichtbare Bin- Bädern abkühlen, weil er sonst immer noch deglied zwischen den beiden Hälften, die in weiter gemordet hätte. Es findet also weni- der paläomentalen Vorstellung - besonders ger Reinigung im eigentlichen Sinn statt, beim noch wachsenden jungen Hund - nach sondern auch eine rituelle und behutsame dessen Zerschneidung wieder zusammen- Rückkehr in die Zivilisation aus einer Welt, wachsen wollen. Insofern ist das Tor bzw. die der Zivilisation vorgelagert war, nämlich der Bogen nur eine späte Doppelung der aus der Wildnis, d.h. aus der Barbarei. auf eine imaginäre Wiedervereinigung an- gelegten Körperhälften. Dass der Kopf mit Das Ritual bewirkte also - um es indo-euro- der Vorderhälfte i.d.R. auf die rechte und päisch zu formulieren - die Wiedergeburt die hintere Hälfte auf die linke Seite depo- bzw. Re-Integration der Elitekrieger aus niert wird, lässt auf eine sexuelle Zuord- dem *koryos in die *teuta. Dass das Heer da- nung schließen, die die linke Seite als die bei durch den Körper einer Frau bzw. einer weibliche erahnen lässt. Zumindest dürften Hündin defiliert (nach dem Krieg durch den beide Seiten unterschiedlich gewertet oder Körper von Astydameia, vor dem Troja- wenigstens unterschiedlich funktionalisiert nischen Krieg durch den Körper von Iphige- worden sein innerhalb des allgemeinen nie, die im letzten Moment durch eine Ziels der „Reinigung“. Auch dürfte in der Hirschkuh ersetzt wird), gibt dieser Wieder- paläomentalen Vorstellung der frisch getö- geburt, eher: Scheingeburt einen gewissen tete und v.a. der geteilte Körper die gesam- biologischen, wenn auch makabren Realis- te Energie freisetzen des Opfer(tier)s, des- mus. So dürfte dann auch der Zug der sen Teile deshalb umso intensiver zueinan- römischen Soldaten durch den Triumph- der streben wollen: bogen konzipiert sein: Wenn der Kriegstanz nord-amerikanischer Indianer (> I, 513) mit We may perhaps suggest that the two dem Hundeschädel in der Hand den Wech- separate parts of the slaughtered dog sel vom Zustand der Ruhe und des Friedens through which the warriors march in den Anderen Zustand der Bewegung und appeal to an ideal unity of the whole des Krieges katalysiert, so bewirkt das Défilé army ... The totality for which the nach dem Krieg - zunächst ganz gleich, ob severed animal called had thus been nach Sieg oder Niederlage - den Wechsel restored in the army, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 447

DAS HUNDEOPFER UND DAS KRIEGERISCHE HALBJAHR 447

suggeriert E. Eitrem (2, 41) für das makedo- golten -, dass der Römer Plinius den zu sei- nische Heeres-„Reinigungs“-Zeremoniell und ner Zeit üblichen Brauch der Opfergabe von erlaubt uns so, den Zweck des Rituals zumin- Welpen ausdrücklich mit der positiven Ein- dest zu Beginn einer Schlacht zu verstehen als schätzung seiner Vorfahren verbindet. die Übertragung der Kampfeswut, d.h. der Natürlich relativiert Scholz (9) die Auskunft magischen Energie eines (pseudo-tollwüti- des Plinius als eine Seltenheit in der Antike gen) Hundes auf die Krieger. Der sakralisie- und meint gegen Plinius, rende Transfer macht aus den Kriegern nun ei- nen Bund von Hunde-Kriegern. Nach der dass in diesem Falle die Reinheit mehr Schlacht erfolgt dann die De-Sakralisierung von dem Jungsein (wie auch bei ande- der Elite-Krieger, wieder mit Hilfe des Hundes, ren Tieren) abhängt, als von den sei es durch die Teilung eines weiteren Hundes Hunden. in zwei Hälften, sei es durch einen Hund, der die in ein Gefäß (Zuber, Bottich usw.) zu tau- Scholz vereinseitigt die zweifellose Ambiva- chenden bzw. umzutaufenden Krieger an- lenz des Hundes, sowohl rein als unrein sein springt, wie wir es auf dem Kessel von Gun- zu können, zur Unreinheit und bringt sich so destrup sehen (> 414-21: Abb.). Der Hund ist in in Konflikt mit Plinius. Auch wischt man im al- diesen Fällen das Ahnentier, mit dem sich der ten Griechenland mit Welpen diejenigen Elitekrieger identifiziert - wer schon tot ist, rundum und äußerst sorgfältig ab, die einer kann nicht noch einmal sterben. Diese „Reinigung“ bedürfen: Diese „Reinigung“ Siegesgewissheit zu erlangen, ist vor dem kann verstanden werden als tatsächlicher Rei- Kampf Zweck der ganzen Übung. Der Hund nigungsvorgang, d.h. der Dämon wird durch kann daher nicht als Sündenbock konzipiert das Reinigungsmittel vertrieben, indem der sein, denn er ist ein Identifikationsobjekt: Hund wie ein Schwamm das Schädliche auf- Durch seine Teilung streben seine Körperhälf- saugt (Scholz, 13), oder als Sühnopfer für ei- ten wieder so zur Einheit zusammen, wie der nen unzufriedenen Geist, der den Patienten einzelne Krieger mit seiner Ahnengottheit heimsucht - man wird sich aber auch in der und wie alle Krieger zu einer schlagkräftigen Antike nicht mit einem unreinen Schwamm Armee, besser: zu einem Wilden Heer zusam- gereinigt haben. Bei diesem periskylakismos mengeschweißt werden sollen. Gegen die (~ wörtlich: Rundumwelpung; besser: Wel- Sündenbock-Theorie spricht ebenfalls eine penschwenk) genannten Zeremoniell wird Stelle bei Plinius d.Ä. (XXXIX, 14), in der die der Welpe nicht in zwei Hälften gespalten Vorliebe für junge Opfertiere nicht zufällig wie beim Kriegszeremoniell. Plutarch sagt in begründet wird am Beispiel des Hundes: seinem Beitrag Über Römische Gebräuche (65) über den periskylakismos, dass die Römer Die Alten (~ die frühen Römer) schätz- ten die kleinen Hunde, die noch an der diejenigen, die einer Sühnung be- Brust der Mutter saugen, als ein beson- dürfen, mit jungen Hunden rundherum ders reines Nahrungsmittel (besser: Le- abreiben, bensmittel), dass sie sich ihrer sogar be- dienten als Opfertiere für Buß- und und er betont (in: Römische Gebräuche, 21), Sühnopfer ... und auch jetzt noch bringt dass dieses Ritual häufig durchgeführt wird. man den Göttern Welpen als Speise. Die „Reinigung“ kann also im periskylakis- mos nur gelingen mit dem reinsten intakten Es ist bemerkenswert - gegen die Einschät- Tier überhaupt, und das ist, wir Kynosophen zung von Scholz (7) im Jahr 1937, der Hund wussten es bereits, nicht nur bei den frühen sei in der griechisch-römischen Antike kein Indo-Europäern der Hund. Hinsichtlich der nennenswertes Kulttier gewesen, er habe Reinheit des Welpen ist auch Karin Zeleny im Kult hauptsächlich als unreines Tier ge- 1999 (67) meiner Meinung: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 448

448 5. KAPITEL · DIE VRATYAS - UND ANDERE INDO-EUROPÄISCHE HUNDE- UND WOLFSKRIEGER

Der Totengöttin Hekate werden am des ursprünglichen Zeremoniells, in dem wahr- Morgen des Neumondes an den Drei- scheinlich nur ein Opfer(tier) dargebracht wegen nebst Speisen auch junge, meist wird. Die Passage durch zwei Feuerstellen und schwarze, Hunde geopfert, die vorher das Tor (~ Bogen, Joch) sichert mit dem Feuer alle Familienmitglieder berührt haben. eine Einwirkung der Ahnen auf die Krieger Sie gelten als außerordentlich rein (vgl. über die Feuergottheit(en), die vielleicht ge- Plin. nat. hist. 29, 14, 58: catulos lacten- mäß der Seitensymbolik männliche und weib- tes adeo puros existimabant ad cibum, liche Ahnen repräsentieren. Der Durchgang ut etiam placandis numinibus hosti- durch das Tor als Öffnung symbolisiert den arum vice uterentur iis). Wechsel von einem Zustand in den Anderen Zustand bzw. von diesem wieder zurück in den Wenn man, wie Plinius (30, 88) berichtet, als Normalzustand. Das Tor repräsentiert eben- Mittel gegen Fallsucht einen Saugwelpen mit falls den Geburtskanal, durch den die Wieder- Wein und Myrrhe nimmt, nachdem man dem geburt bzw. Scheingeburt visualisiert, gedop- Welpen Kopf und Füße abgeschnitten hat zur pelt und dauerhaft, weil in Ansätzen bereits ar- Verstärkung seiner Anziehungskraft für chitektonisch institutionalisiert wird, denn der Krankheitsstoffe, dann ist der Welpe konzi- eigentliche Effekt wird durch das Défilé durch piert als der noch nicht unreine Hund. Heilung, zwei frisch gespaltene Körperhälften eines Op- Buße und Sühne gelängen nicht, wenn man fer(tier)s erzielt. Das Tor bzw. der Bogen hat nur das unreinste Tier zu opfern bereit wäre - aber den Vorteil vor den gespaltenen und wie- es muss das wertvollste Tier sein, das Tier, das der zur Einheit strebenden Körperhälften, dass als Alter Ego konzipiert ist: Als Alter Ego des hier die überwölbende Einheit von zusammen Senders, aber auch des Adressaten - wie Pau- gehörenden zwei Seiten für viele, im Idealfall sanias es für die spartanischen Epheben belegt. für die gesamte Truppe sichtbar ist. Sie kann Damit wird auch der von anderen behauptete hingegen nur mit den in der Mitte zwischen Unterschied zwischen hebräischem und christ- den beiden Körperhälften deponierten Einge- lichem und griechisch-römischem Sühnopfer weiden nicht dauerhaft und nicht für alle fraglich. Der geopferte Welpe - gespalten oder gleichzeitig sichtbar gezeigt werden. Das Tor intakt - ist der reinste Zustand des Hundes, weil bzw. der Bogen zeigt also die Wiedervereini- ein Welpe das gesamte Entwicklungspotential gung als vollendete Tatsache, die von den Ein- beinhaltet. Dieses Potential wird übertragen geweiden lediglich als Vorgang, nicht aber als im periskylakismos auf den Patienten und im abgeschlossenes Ereignis manifestiert wird. sogenannten Reinigungs-Zeremoniell, das Vergessen wir zum Schluss unserer Betrach- eher ein Transfer-Zeremoniell ist, auf den Krie- tung eines militärischen Zeremoniells der indo- ger, wenn auch mit am Ende unterschiedlichen europäischen Hethiter nicht, dass im benach- Methoden: Dort intakt, hier zweigeteilt. Im barten Mesopotamien die Deponierung von Initiations-Zeremoniell von Eleusis (> III, 409- (allerdings nicht zweigeteilten) Hunden an 11) tritt an die Stelle des Saugwelpen ein beiden Basisseiten eines Tors bzw. Durchgangs (Milch)-Ferkel, das der Initiand in seinen Ar- üblich war (> IV, 650-63). Diese rituellen Hand- men trägt und mit dem er zusammen ein Bad lungen sind sicher unterschiedlich konzipiert, im Meer nimmt. Eleusinisches Meerwasser und aber wahrscheinlich nicht so unterschiedlich, hethitisches Flusswasser stehen jeweils am Ab- wie das auf Analyse, Trennung und Kategori- schluss des Zeremoniells. Fasst man das ein- sierung zielende westliche Denken annimmt. gangs vorgestellte hethitische Zeremoniell zu- Die alternative Frage, ob ein Ritual vorliegt, sammen, so kann man erkennen, dass hier in das eine Reinigung sichert, oder ein Ritual, das der offiziellen Veranstaltung mit den vier ver- ein Sakrament spendet, dürfte sich paläomen- schiedenen Opfern vielleicht ein Synkretismus tal auch nicht so scharf gestellt haben: Beides vorliegt, wie er die hethitische Kultur kenn- war der Fall. Wir kehren nun zurück zum Hund zeichnet, zumindest aber eine Intensivierung im frühgeschichtlichen Indien. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 449

6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN 449

6. Der Mythos vom Hund im frühgeschichtlichen Indien

Die antiken Nachrichten von den nischen Patriarchen Photios tradiert wurde. Hundsköpfigen kennen wir bislang vor- Den bei weitem breitesten Raum nehmen in nehmlich von Herodot, der neben den den Indika - jedenfalls in der Fassung des Hemikunes ~ (Halbhunde) die Kynokepha- Photios - kurioser oder besser: bemerkens- len (~ Hundsköpfige) in Libyen, Äthiopien, werter Weise die das Gebirge (welches?) be- Indien und in Südost-Europa ansiedelte. wohnenden Hundsköpfigen ein. Es ist nun Herodot stützt sich in den Abschnitten über interessant zu beobachten, wie heutige Indien u.a. auf Scylax von Caryanda, ein Wissenschaftler auf diese Provokation rea- ionischer Seefahrer, der in die Gefangen- gieren. James S. Romm z.B. beschäftigt sich schaft von Darius I. geriet, dessen Vertrauen in seiner Studie The Edges of the Earth in gewann und vom Perserkönig mit der Spio- Ancient Thought hauptsächlich mit der nage in West-Indien beauftragt wurde. Wa- Funktion, die diese - für ihn nur angeblichen rum Darius einen Ausländer beauftragte, ist - Tatsachenberichte für die intendierten Le- vielen auch heute noch eine Frage wert: ser haben sollen - seine Leitlinie ist so ein- Herodot nahm die kartologische Kompe- leuchtend wie eindimensional: Alle Berich- tenz des Seefahrers als Grund - die Ionier te über biologisch abweichend gebaute galten als Erfinder der Weltkarte. Ein wei- Menschen beabsichtigen, den kulturell und teres, den Historikern nicht nachvollziehba- ethisch verflachten Zeitgenossen den Zerr- res Motiv dürfte der Vorname des Seefah- spiegel und gleichzeitig ein Gegenbeispiel rers geliefert haben: Scylax ~ Hundewelpe - vorzuhalten: Diese scheinbar barbarisch- und die Perser waren äußerst hundebegeis- primitiven Stämme sind von vorbildlich tert, wie wir in diesem Band schon sahen: moralischer Reinheit und spiritueller Kraft - Nomen war auch bei ihnen Omen. Etwas beides beziehen sie offensichtlich aus ihrer später als Herodot, im frühen -4. Jahrhun- grenzwertigen Position als missing link zwi- dert, berichtet sein Landsmann Ktesias aus schen Tier- und Menschenreich: Knidos über einen hundsköpfigen Stamm im angeblich entferntesten Indien, das als Im Gebirge leben Menschen, die den äußerste Ostgrenze der damaligen Welt Kopf eines Hundes haben; sie tragen galt. Ktesias lebte als „Gastarbeiter“ in Su- Felle wilder Tiere als Kleidung, und sie sa, der Hauptstadt des Perserreiches, und sprechen keine Sprache, sondern bellen war Hofarzt der königlichen Familie von wie Hunde und verstehen einander auf Darius II. oder dessen Nachfolger. Er hatte diesem Weg des anderen Rede. Ihre also einen privileged access to information Zähne sind größer als die des Hundes, about the distant world, wie Romm (78) und die Nägel sind wie die eines Hun- meint, Ktesias war aber selbst wohl nicht in des, aber breiter und gerundeter ... Sie Indien, sondern verarbeitete - das ist jeden- verstehen die Sprache der Inder, falls die gängige Theorie - die Berichte per- können ihnen aber nicht antworten; sischer Offiziere zu seinem Werk Indika, das stattdessen bellen sie und reden mit im Original leider verschollen ist und nur in Händen und Fingern, wie die Stummen einer gekürzten Abschrift vom byzanti- es tun (in: Romm, 79). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 450

450 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

Schon in der Antike war das Sprachvermögen Hundsköpfigen nicht zu deren Ausgren- ein distinktives Merkmal des Menschen, und zung aus der Menschenwelt nutzt: Sie sind so ist es bemerkenswert, dass diese Hunds- gerade nicht mental und kulturell defizitä- köpfigen es nur zum Teil ihr Eigen nennen re Lebewesen, sondern werden als dikaioi können: Sie verstehen die menschliche Spra- bezeichnet, d.h. als richtig und gerecht - che (der Inder), können aber nicht in (dersel- ähnlich geht gut 1.000 Jahre später Ibn al- ben) Sprache antworten. Wer E.A. Poe´s Ge- Marzuban gegen seine Zeitgenossen vor (> schichte von den Morden in der Rue Morgue 502 ff.); mit dikaioi konnotieren die kennt, der weiß, wie schnell von den franzö- Griechen den Zustand höchster moralisch- sischen Ohrenzeugen die Rede eines Affen geistiger Vollkommenheit: als die Sprache eines Deutschen, Russen, Por- tugiesen usw., also kurz: eines Ausländers Far from confirming the supremacy of identifiziert wird, wenn der Franzose den die man over the “sub”-human Ctesias unverständlichen Laute ausstoßenden Affen seems instead to have used the Dog- nicht sieht. Das Phänomen dürfte nicht auf heads to call that supremacy into Frankreich begrenzt sein. Immerhin stellen question, wir hier die gegenläufige Tendenz fest: Bleibt der Sender anonym, werden seine Sig- fasst Romm (80) zusammen und sieht sich nale vom humanen Franzosen von der sub- und uns bestätigt in des Ktesias letzter Be- humanen in eine humane, jedenfalls weit- merkung zu den Hundsköpfigen, in der wie- gehend humane Kategorie hochgemendelt. derum ihre Zwitterstellung als „Hund“ zwi- Eine Frucht der Aufklärung? Nichts davon in schen Tier- und Menschenreich gekoppelt ist den Indika des Ktesias: Die Hundsköpfigen mit ihrer moralisch-geistigen Überlegenheit: bleiben in der Mitte zwischen Tier und Mensch hängen, und erst die Nachfolger des Sie alle, Männer wie Frauen, tragen idealisierenden Ktesias - Aelian und Plinius - einen Schwanz an den Hüften, wie den fühlten sich bemüßigt, diese Hundsköpfigen eines Hundes, aber größer und ge- eindeutig zuzuordnen: Der eine den Tieren, schmeidiger. Sie haben mit ihren Frauen der andere den Menschen. Nicht so Ktesias, Geschlechtsverkehr auf allen Vieren, wie der seinen klassifikatorischen Mittelweg Hunde, und betrachten jede andere Se- beibehält, wenn er die technologischen Pro- xualstellung als beschämend. Sie sind bleme der indischen Hundsköpfigen schil- „dikaioi“ (s.o.) und die langlebigste dert: So versuchen sie, ihre Nahrung zu ga- menschliche Rasse, denn sie werden 160, ren, da es ihnen aber an Mitteln gebricht, ein manchmal 200 Jahre alt (in: Romm, 80). zünftiges Feuer zu entfachen, braten sie das Fleisch in den Strahlen der Sonne. Den Ver- Die Ironie dieser Textstelle - darauf hebt zehr rohen Fleischs als Kennzeichen un- bzw. Romm ab, ohne zu wissen, wie kostbar uns unterzivilisierter oder bestialischer Men- Kynosophen gerade diese Information ist - schen erwähnt bereits Herodot - die in- die Ironie also liegt darin, dass die klas- dischen Hundsköpfigen sind offenbar auf sischen Griechen den Menschen nicht nur dem besten Weg, sich zu richtigen Menschen übers passive und aktive Sprachvermögen zu entwickeln. Ein anderes Beispiel für den definieren, sondern auch über die Position, Mittelweg der Hundsköpfigen wie des Kte- die er beim Geschlechtsverkehr einnimmt: sias: Sie haben keine Betten, aber wohl das Das kennen wir bereits von Herodot, der Gefühl, jene zu entbehren, und bauen sich durch expliziten Vergleich Stämme als Un- deshalb Nester aus Blättern, um nicht auf termenschen ausgrenzt, nur weil sie auf dem Erdboden nächtigen zu müssen. Das dem nackten Erdboden kopulieren oder in Sensationelle an Ktesias ist nun, dass er die der Öffentlichkeit: Im Kaukasus weiß Hero- nicht-menschlichen Verhaltensanteile der dot (1, 203) von Menschen zu berichten, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 451

6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN 451

die den Geschlechtstrieb aber ... wie das Graeco-) und Anthropozentrismus. Ktesias liebe Vieh auf offener Straße befrie- erscheint so fast als Vorläufer der philoso- digen, phischen Schule der griechischen Kyniker (~ „hündische“ Philosophen ~ „Zyniker“), die und, etwas näher an unseren indischen im Athen der hellenistischen und imperialis- Hundsköpfigen: tischen Zeit, die Herodot mit seinem Grae- cozentrismus vorbereiten half, sich als Hun- Alle die Inder, von denen bisher die de aufführen und dabei nicht nur die in- Rede war, begatten sich auf offener dischen, sondern die Hundsköpfigen in aller Straße wie das Vieh, und sie haben alle Welt zu imitieren scheinen, um ihren Zeit- dieselbe Hautfarbe, so wie die Äthio- genossen den Zerrspiegel vorzuhalten. Aber pier. Auch ihr Same, den sie in die erschöpft sich der Bericht des Ktesias über Weiber lassen, ist nicht hell wie bei die indischen Hundsköpfigen im wahr- anderen Menschen, sondern schwarz scheinlich auch intendierten satirischen Po- wie ihre Haut (Herodot 3, 101). tenzial? Gibt es keinerlei referentiellen Be- zug? In der eben zitierten Textstelle des 101. Vermutlich ist es auch diese Hautfarbe, die Abschnitts aus Herodots Drittem Buch geht in der Antike zur Auffassung führte, Afrika es gleich weiter mit einer Tatsachenbe- und Indien seien ein einziger Kontinent. hauptung des Autors, die wahrscheinlich Uns ist die Information wichtig, dass diese schon seine zeitgenössischen Leser für ein Sexualmoral im südlichen Teil Indiens prak- Märchen hielten, die aber erst recht von den tiziert wurde, da wir dort die Heilige Hoch- kritischen Lesern des 20. und 21. Jahrhun- zeit viel häufiger dokumentiert finden als derts für pure Fabelwesen gehalten werden im Norden (Bengalen ausgenommen), den - es geht um die nach Gold schürfenden Herodot im nächsten Atemzug bezeichnen- Ameisen im Norden Indiens: Wir werden der Weise mit den Baktriern in Zentral-Asien uns mit diesen angeblichen Fabelwesen vergleicht, die ja bekanntlich Griechen und noch befassen, denn zu Herodots Glück daher richtige Menschen waren (> 122: Kar- stellt sich dann heraus, dass ein referentiel- te). Die indischen Hundsköpfigen des Kte- ler Bezug tatsächlich existiert - Herodot hat sias aber entsprechen geistig-moralisch nicht phantasiert, auch wenn die emsigen nicht der von Herodot bereit gehaltenen Tierchen keine Ameisen sind. Und zu Hero- subhumanen Kategorie, wenn sie für die als dots Leidwesen dürfen wir feststellen, dass menschliche Norm missverstandene Sexual- sein Kontrastprogramm vom barbarisch- position der „unterlegenen“ Frau und des bestialischen (~ drawidischen) Süden und „überlegenen“ Mannes nur Scham empfin- vom human-griechischen (~ indo-arischen) den und diese „tierische“ Position von hin- Norden Indiens nichts übrigbleibt, denn ten (> III, 125: Abb. 612) für die einzig ak- auch bei den nach Gold schürfenden Amei- zeptable Methode der Fortpflanzung hal- sen finden wir Menschen mit „hündischen“ ten: Mit seiner dieser Beschreibung folgen- Verhaltensweisen (> 646-57). Führen wir uns den Kennzeichnung unterläuft Ktesias Herodots Auskunft über die Goldameisen seinen Vorgänger Herodot und dessen grie- gekürzt zu Gemüte, ohne sie hier weiter zu chische Überheblichkeit auf der ganzen Li- kommentieren - und die Leser werden über- nie, wenn er die indischen Hundsköpfigen zeugt sein, dass sie es mit reiner Fabulierlust gleich im Anschluss an die angeblich bestia- ohne jeden Realitätsgehalt zu tun haben: lische Kopulationsmethode dikaioi nennt: Menschen von höchster geistig-moralischer Andere Inder aber, die weiter im Norden Vollkommenheit. Ktesias bietet mit den in- als die üblichen Inder ... wohnen, haben dischen Hundsköpfigen das Kontrastpro- ungefähr dieselben Sitten wie die Baktrer gramm zu Herodots Ethno- (und d.h. hier ... sie sind es auch, welche sich das Gold zu Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 452

452 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

verschaffen wissen. Bei ihnen nämlich Eurasian totemic tales may have had a fängt der Sand und die Wüste an. In dem part in their (~ der Hundeköpfigen) Wüstensande aber gibt es Ameisen, die popularity, kleiner sind als Hunde und größer als Füchse (nebenbei ein kynologisch wert- aber anstatt den totemistischen Ansatz fort- voller Hinweis auf die Mindestwiderrist- zuführen und die Identifikation der nord- höhe der griechischen Hunde zur Zeit asiatischen Hundemelker mit den hunde- Herodots), von denen auch der Perser- mythologisch geprägten sibirischen Urvöl- könig einige besitzt, die man in jener Ge- kern (> I) wenigstens ansatzweise zu ver- gend gefangen hat. Diese Ameisen ma- suchen, legt Karttunen bei den eurasian chen sich Wohnungen unter der Erde und totemic tales lieber den Akzent auf die tales wühlen dabei den Sand auf wie die Amei- als auf den Totemismus mit seinen Implika- sen bei uns in Griechenland, sehen auch tionen. Wie bequem! Und die Amazonen, ebenso aus. Der herausgeworfene Sand als deren Gatten die Hundeköpfigen überall aber ist goldhaltig (Herodot 3, 102). anzutreffen sind, wie Karttunen immerhin feststellt - Die nördlichsten Inder rauben also den fleißi- gen „Ameisen“ das Gold, und den Rest kön- and everywhere we meet them as the nen wir uns denken und wieder zu den husbands of the Amazones -, Hundsköpfigen des Ktesias zurückkehren, die uns im Moment noch ebenso phantastisch er- hat man(n) dann als Mythos gleich miterle- scheinen wie jene nach Gold schürfenden ro- digt, anstatt den Bund von Frau und Hund- boterhaften Ameisen Herodots. Wie schön (sköpfigen) ernstzunehmen: Frauen waren aber für Kulturwissenschaftler, wenn sie an- schon immer die „Unterlegenen“, und so gesichts dieses scheinbar haarsträubenden soll es wohl auch bleiben... Dabei fällt Kart- Unsinns die Suche nach dem referentiellen tunen immerhin auf, dass Bezug - nach außen scheinbar resignierend, innerlich mit Freude und Genugtuung über many details in the long description of die gestrichene Mehrarbeit - einstellen, ganz Ctesias have a clear Indian nature. im Einvernehmen mit ihren Lesern, die auch There is consequently no reason to deny nicht immer gern mit Details behelligt wer- Ctesias all reliability as some scholars den. Wie schön erscheint dann das Ge- have done ... Of course there is always schichtswerk des Herodot als eine rein geis- the possibility of a loan from Herodotus tige Erfindung ohne jeden über Griechenland or rather Hecataeus, but the many hinausgehenden Realitätsgehalt. Und um genuinely Indian features met every- wieviel schwieriger ist es, Herodot oder Kte- where in his Indica argue against any sias ernstzunehmen und zu zeigen, dass sich such theory, der Realitätsgehalt ihrer Schriften nicht er- schöpft in der Kritik am geistig-moralischen meint Karttunen (33) durchaus und kann Habitus ihrer griechischen Leser. Auch in sich dann doch nicht dazu verstehen, auch Klaus Karttunens oberflächlichem Beitrag zu den indischen Hundsköpfigen des Ktesias den Hundsköpfigen und den Hundemelkern einen referentiellen Bezug zur historischen verflüchtigen sich die historischen Spuren zur Realität zuzubilligen. Wenn Robert Shafer reinen Einbildung der frühen griechischen genau dies tut, hält Karttunen - ohne wei- Autoren wie Herodot oder Hekataios, die ja tere Begründung, geschweige denn wissen- immerhin als früheste „Ethnographen“ der schaftliche Argumentation - Shafers Ver- westlichen Kultur Hundsköpfige in Indien such für untenable. Wir werden gleich se- oder in Afrika lokalisieren. Zwar räumt Kart- hen, wie untenable Shafers Überlegungen tunen (32) ein, dass die wirklich sind. Aber bleiben wir noch ein we- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 453

6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN 453

nig bei dem symptomatischen Karttunen, fen lässt, um nun allerdings auf anderem der immerhin Herodots Erwähnung der Weg aufhorchen zu lassen: Nach Shafer über- libyschen Hundeköpfigen (> II) auf miss- liefert Ktesias Informationen, die nicht auf verstandene Informationen über libysche sein zeitgenössisches, sondern auf ein ver- Felsbilder zurückführt: gangenes Indien passen - diese Informatio- nen stammen aus einem großen Epos, das als The Libyan Kunokephaloi (~ Hunds- Mahabharata weltberühmt wurde. Aller- köpfige) are a mere mention invented dings kann sich Ktesias nicht auf die heute as an explanation of a pictorial motif no bekannte Fassung gestützt haben, da diese more understood in its original aus verschiedenen früheren Epen syntheti- meaning (Karttunen, 36). siert und erst zwischen -400 und -200 verfasst wurde, während Ktesias schon knapp nach Dass es auch anders geht, hat der 2. Band -398 seine Indika beendet haben muss. der Kynosophischen Zeitreise zu zeigen ver- Außerdem erwähnt Ktesias vor-indo-arische sucht. Auch hier genügen die von Karttunen Sachverhalte, die aus der heute bekannten (34) eingeräumten clearly African items in Fassung des Mahabharata eliminiert sind; Herodots Bericht nicht, um mehr als nur ein allerdings werden die Hundsköpfigen, aus Missverständnis zu erklären. Immerhin den uns bekannten Gründen, auch in indo- scheint Karttunen mit dem Aufzählen von arischen, also sanskritischen Epen - z.B. im Missverständnissen sich habilitiert und eine Ramayana - propagandistisch benutzt, d.h. universitäre Karriere spendiert zu haben ... dämonisiert. Ktesias stützte sich also auf ein Kommen wir nun zu dem von Karttunen so Epos, das in einer anderen indischen Kultur wissenschaftlich abgebürsteten Robert Sha- entstand und das die Hundsköpfigen positiv fer, der sich tatsächlich abmüht, des Ktesias´ thematisierte: Dog-Headed People die Hundemaske vom Gesicht zu nehmen. Shafer nimmt im Ge- Ktesias got his information from an gensatz zu Karttunen und anderen Wissen- original Kuru epic which later was re- schaftlern den totemistischen Ansatz ernst vised into a Pandava epic (or, one und macht uns allererst mit dem schönen should say which the Pandavas tried to indischen Brauch bekannt, dass have revised into their epic),

the greatest people of ancient India erkennt Shafer und merkt nicht, wie uns Ky- have been buried for more than a nosophen eine bestimmte Silbe elektrisiert millenium under a terrific mask, the hat: an original Kuru epic... Hat der Kyno- mask of the dog, despised throughout soph nur eine fixe Idee und glaubt, überall Indian history (Shafer, 499). KUR und KU erkennen zu müssen, oder gibt es einen Tatsachenbezug zwischen Kuru Leider zeigt Shafer mit dieser Ouvertüre auch (vgl. auch > 480) und Kur? Lassen wir uns gleich seine Grenzen auf, denn der Hund von Shafer überraschen und gehen wir der war, wie wir gleich noch sehen werden, in In- Reihe nach vor: Auch Shafer wundert sich - diens Geschichte nicht immer ein verachtetes diesmal auf produktive Weise - darüber, Tier. Aber immerhin: Zur Abschreckung von dass Ktesias, der immerhin nicht irgendwo, Grabräubern ließen sich sogar die greatest sondern am Hof des mächtigsten und kulti- people - wenn auch tot, sehr tot - eine Hun- viertesten Königs von West-Asien und des demaske aufsetzen. Ist nicht diese Ab- nächsten Nachbarn Indiens zuhause ist, schreckungstheorie bereits eine Reduktion, liegt der Maske nicht mehr zugrunde? Über- should devote more space to the semi- stürzen wir nichts - vertrauen wir uns Shafer human “dog-headed” people than any an, der seine Ouvertüre wirkungslos verpuf- other in the whole subcontinent of Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 454

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India. He was writing before the Maurya die eine schwarze oder schwärzliche Haut- empire, and yet there were large and farbe haben, die aber in der Kommunika- cultured kingdoms in India, such as Ko- tion mit Indern nur verstehen können, was sala, Magadha, Videha. It was the pe- jene sagen - geantwortet wird aber immer riod of Panini, Upanishads, Puranas, nur mit einem Gebell, das für Shafer - wie Buddhism, Jainism, and perhaps the ori- für E.A. Poe´s französische Hörzeugen eines ginal Bhagavadgita. But Ktesias men- bestialischen Verbrechens - nur unintelli- tions none of these things but picks on gible noises darstellt, mithin in einer Spra- a “dog-headed” people who could only che, die niemand der Hörer kennt. Somit talk with the Indians by barking and ma- wäre den Hundsköpfigen zumindest die hu- king signs with their hands (Shafer, 499). mane Identität zurückgegeben. Wer aber sind die Hörer und wer die Sprecher bzw. Das Maurya-Reich wurde um -485 organi- Beller? Die Sprecher sind Kaurava (~ Nach- siert von Kautilya, der viele der clanmäßig fahren des Königs Kuru) genannte Nicht- organisierten Stämme in kleine Einheiten Arier, dunkelhäutig und ohne - zerschlug und umsiedelte: Von all diesen Kenntnisse, die Hörer sind arische Inder, die hochpolitischen und hochkulturellen Vor- Kaukura - sie enstammen dem Yadava-Clan, gängen soll dieser intelligente Arzt nichts einem der fünf indo-arischen Ur-Clane, sie mitbekommen haben? Und dann lokalisiert hatten aber einen großen deal of Nisada er seine Hundsköpfigen auch noch an (black, Bhil) blood, mixed with Iranian (Sha- einem nicht sehr langen und nur zwei Sta- fer, 502). So weit, so gut, mögen die Leser dien breiten Fluss, der angeblich, wie er be- denken und gleich im Anschluss fragen, was tont, durch ganz Indien fließt, wo doch je- es denn auf sich habe mit den Kaurava, wo der weiß, dass selbst die längsten Ströme In- doch soeben nur von den Kalystrioi die Re- diens entweder nur den Westen oder nur de war. Eine gute Frage, die Shafer - mit der den Osten des Subkontinents durchfließen für Sanskritisten üblichen Toleranz - als ein können. Bevor wir nun Ktesias endgültig lautgesetzliches Vertauschen von l und r be- den Hunden zum Fraß vorwerfen, erinnert antwortet: Immerhin habe das Wort seinen Shafer daran, dass in den frühen Epen In- Weg vom Sanskrit übers Persische ins Grie- diens nicht der Ganges der wichtigste Strom chische finden müssen und sei seit 2.300 Jah- des Landes war, sondern der Sarasvati, und ren von mehreren (Ab)-Schreibern transkri- dass in diesen Strom ein kleiner Fluss ein- biert worden. Sei´s drum. Die Konsequenz mündet, der nicht erst seit der indo-arischen aus Shafers Erdung der Indika ist die Er- Invasion eine große Rolle gespielt hat: Es ist kenntnis, dass Ktesias nicht über zoologisch der Drsadvati. Und zwischen den beiden reale Hundsköpfige, also über Fabelwesen, Flüssen - manche lokalisieren es auch auf berichtete, sondern - wahrscheinlich ohne der Wasserscheide zwischen dem Indus- und es zu wissen oder besser: durch seine Ab- dem Ganges-System - lag das einflussreich- schreiber entstellt - über jenes indische Volk ste Königreich des „epischen“ Indien, informierte, das

the one which had rallied most of the had dominated ancient India, and who countries of India to its side, Kuruksetra led two thirds of the Indian people in (Shafer, 499). the great battle against the Pandavas (Shafer, 500). Und schon wieder treffen wir auch im Na- men dieses Königreichs auf die kynoso- Die „Fabelwesen“ repräsentieren also das phisch höchst bedeutsame Silbe KUR. Und politisch wichtigste Volk Indiens, und der im Quellgebiet des kurzen Flusses - so weiß kleine Fluss durchquerte zwar nicht den Ktesias zu berichten - leben die Kalystrioi, ganzen Subkontinent, wohl aber Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 455

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the heart of India, the India that dem Stimmengewirr in Poe´s Rue Morgue counted most, Kuruksetra ununterscheidbar und deshalb gleicher- maßen barbarisch und gleichermaßen iden- genannt, und Kurujangala weiter im Nor- tisch klangen. Nun wissen wir bereits, was den hieß das Gebiet, wo die Dynasten von Shafer nicht weiß: Kukurra ist ein Lehnwort, Kuruksetra, die Kauravas, zu jagen belieb- das aus dem Drawidischen ins Sanskrit im- ten, wie Ktesias berichtet. Wie aber kam es portiert wurde (> I, 27-8, 38), während Vehr- nun zu dieser „Verwechslung“ der Hunds- kana ein rein indo-europäischer Begriff ist. köpfigen mit den heroischen Kauravas? Es ist also nicht gleichgültig, dass beide Wör- ter leicht unterschiedliche Caniden bezeich- In der frühesten Literatur der indo-arischen nen: Ich nehme an, dass die indo-europä- Eroberer - im Vendidad, dem ältesten Teil der ische Tendenz, den Hund zum Wolf zu re- Avesta, wird ein Stamm erwähnt, der an je- barbarisieren, zu der originär indo-europä- nem kleinen großen Fluss lebt, der „ganz In- ischen Fremdbezeichnung des Stamms dien“, also das Herz von Indien, durchquert: geführt hat, während seine Benennung mit Dieser Stamm wird sanskritisch als Vehrkanas dem drawidischen Lehnwort mehr von sei- bezeichnet. Im Indo-Iranischen bedeutet Var- ner eigentlichen totemistischen Identität kana und im Avestischen benennt Vehrha bewahrt. Shafer stützt meine These unwis- den Wolf. Der Sanskritist Arthur Christensen sentlich, wenn er auf eine andere iranische hat diesen Vehrkana-Stamm als totemistische Bezeichnung für Wolf aufmerksam macht: Organisation erkannt; und Robert Shafer hat die Vehrkana-Leute mit den Kaukura-Men- Persian “keluk” (~ wolf) + Pahlevi “sar” schen identifizieren können: Kaukura bedeu- (~ head) was the Persian interpretation tet aber nichts anderes als das Kynosophen of Kuruksetra. The closest approxima- längst bekannte kukurra, womit in der dra- tion I can find to ... “keluk” in any Ira- widischen Sprachfamilie der Hund bezeichnet nian language that I have found is wird. Analog zu Christensen hält auch Shafer Afghan. “lug” ... Pahlevi “gurg” (~ die so benannten Menschen für Angehörige wolf) corresponds very well phonetical- einer totemistischen Organisation: ly with Kuruk(setra) ... It would appear that the Persians still held the tradition I identified this Vendidad people (~ die about wolves from the Vendidad, while Vehrkanas) with the Sanskrit Kaukura the Greeks apparently got their ideas which I had already placed, on other from the Sanscrit, since Ktesias has it grounds, on the map just below the translated “Kunokephaloi” (~ Hunde- Drsadvati. “Kukura” meant “dog” and köpfige), is probably totemic (Shafer, 500). meint Shafer (500) und übersieht, dass gurg Wir stehen nun vor dem Problem, dass wir mit unserer Gorgo (> 269-70) nicht nur pho- einen Stamm vor uns sehen, der einmal den netisch, sondern sogar etymologisch auf Wolf und ein andermal den Hund als Totem- *KUR zurückgeht (> 269-70), nur dass gurg Tier haben soll. Shafer will das Problem lö- im Pahlevi nicht (mehr) den Hund, sondern sen, indem er nun unvermittelt die Identität den Wolf, und dass kuruk als verballhorntes des mit zwei Sanskrit-Begriffen bezeichne- drawidisches Lehnwort im Sanskrit immer ten Stamms - I identified this Vendidad peo- noch den Hund und eben nicht den Wolf be- ple with the Sanskrit Kaukura - in zwei un- zeichnet. Worauf ich hinaus will: Ktesias tat terschiedliche Stämme dissoziiert und eine gut daran, die vor-indo-arischen Kuruk- Verwechslung dieser beiden verschiedenen setra, die er auch Kalystrioi nennt, als Hun- Stämme annimmt, weil für die griechischen de- und nicht als Wolfs-Köpfige zu bezeich- Ohren Kukura und Kuruksetra analog zu nen, er wusste offensichtlich ganz genau, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 456

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dass kuruk trotz phonetischer Beinahe- Kurzer kynosophischer Ausflug Identität semantisch eben nicht identisch in die lange Tradition der war mit gurg. Und dieses Wissen kann er nur antiken Fabelwesen bezogen haben aus jener vor-indo-arischen, heute verschollenen Fassung des Mahabha- Im ideologisch revidierten Maha- rata, aus der allein er ebenfalls nur wissen bharata wird diese positive Wertung der kann, dass die beiden führenden und mit- Hundsköpfigen, die Ktesias aus der frühe- einander im Krieg liegenden Völker in die- ren Fassung übernommen hatte, bezeich- sem frühen Epos Indiens die Kauravas - nender Weise total invertiert, 120.000 an der Zahl - und die Pandavas wa- ren - nur 30.000 Köpfe zählend. Ktesias praising the predatory Pandavas for stützt sich also auf eine Fassung, die noch their righteousness, and referring to nicht nach dem Geschmack der indo- the Pandava King Yudhisthira (> 496- arischen Sieger frisiert ist; seine Quelle ist 502) as “the just”. Our modern publicity ein men are not the first to make black ap- pear white, and modern philosophy is Kuru epic, which was translated and probably not the first to conclude that revised to make it into a Pandava epic. It “might makes right”, is one of the greatest pieces of public dis- tortion in the history of world literature, meint auch Shafer (501) resignierend, nicht wissend, dass diese Umkehrung aller Werte versichert uns Shafer (501) empört und gibt auch ein Effekt der Patriarchalisierung des uns eine Ahnung davon, wie intensiv später Bewusstseins ist, unter der Frau und Hund die Hundeköpfigen von den Siegern in sub- schon immer zu leiden hatten, so z.B. auch humane Kategorien verbannt wurden. Wie im frühen islamisierten Persien: können wir die indo-arische Geschichtsfäl- schung hintergehen, um an die echten In- Die Riemenbeinler und Hundsköpfler formationen zu gelangen? Folgen wir wei- sind energisch, gewalttätig und ter Shafer, der aus der Bezifferung der Be- schmutzig. Sie kennen weder Gerech- völkerungsstärke ableitet, dass die Kauravas tigkeit noch Religion (und unterschei- und die Pandavas die beiden wichtigsten den) weder gute noch böse Taten. Sie Nationen im damaligen Indien waren. Wei- haben auch keine großen Führer, ter schließt er, dass das Kuru-Land das Herz- land Indiens und dass der Kuru-König der antwortet der Weise Zamasp auf die Frage König der Könige im damaligen Indien war, des wissbegierigen Vistasp im persischen Ayatkar i Zamaspik (in: Meier, 342). Die the supreme power in India, all others großen Führer, den hierarchisch gegliederten being feudatory to him (Shafer, 501). Gesellschaften auf zweifelhafte Weise eigen, „fehlen“ den akephalen Kulturen, obwohl Der Kuru-König war mit Sicherheit kein die das nicht als Defizit empfinden; ebenso Pandava, da diese von Ktesias als weiß- „fehlt“ ihnen die richtige Religion, denn die haarig und kriegsgeil, nicht aber als die Be- kann nur die des Weisen Zamasp sein; und herrscher Indiens geschildert werden, wäh- was gut und böse ist, auch darüber hat nur rend die Kalystrioi alias Kauravas alias Hun- der Sprecher absolute Gewissheit. Und wohin deköpfige (die neben einem Hundskopf man(n) blickt, es gibt fast nur noch auch noch einen Hundeschwanz haben!) von Ktesias als geistig-moralisch vollkom- Halbhunde, Langköpfler, Zwerge, mene Menschen von den kriegslüsternen Schattenfüßler, Hundsköpfler, Brust- Pandavas deutlichst abgesetzt werden. öhrler, Brustäugler und Einäugler, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 457

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die, je später die Epoche, nur noch als Fa- dabei nicht an die Samojeden (> I). Davon belwesen begriffen werden (Meier, 344): hat sich 1924 Josef Markwart an die Mon- Schon der antike Historiker und Geograph golen erinnern lassen, die dem italienischen Strabon und erst recht das europäische Mit- Franziskanermönch und Tourist Johannes de telalter vom griechischen Alexanderroman Plano Carpini (* um 1185) geschildert wur- des Pseudokallisthenes bis hin zu Adam von den auf seiner Reise zwischen 1245 und 1247 Bremen und Tzetzes ergötzen sich wohlig als Menschen, die am „Ozean“ lebten (viel- gruselnd an den Phantasiegestalten und leicht am Ozean des Sandes), verlieren deren referentiellen Bezug immer mehr aus dem Sinn. Auch die Figuren selbst deren Beine in Ochsenfüße ausliefen und vermischen sich, ihre Phantastik wird ge- die ein Hundegesicht hätten. Zwei Wor- steigert: Im Alexanderroman des 7. Jahr- te sprächen sie wie Menschen, beim drit- hunderts gibt es schon Hundsrebhühner, ten bellten sie wie Hunde (in: Meier, 347). die als Rebhuhnmenschen mit Hundezäh- nen neben den Riemenbeinlern auftreten, C. Lehrberg kannte die Reiseberichte des so auch öfters in islamischen Quellen (Mei- Carpini ebenfalls und wollte 1816 in den er, 349); im syrischen Alexanderroman ha- Ochsenfüßlern ben die Riemenbeinler selbst Hundszähne (Meier, 349), sind also eigentlich Hunds- die Walrosse mit ihren plumpen Vor- rebhühner und Riemenbeinler in Personal- derfüßen und die Robben mit ihren union, während sie in arabischen Texten hundeartigen Köpfen und ihren bellen- Hundearme haben - aber es gibt auch im- den Stimmen erkennen (Meier, 347), mer noch Weiber mit Hundeschwänzen (in: Meier, 345): Den speziellen Hühnern kön- aber so zoologisch einfach will Markwart es nen auch wir Kynosophen keine biologische sich und uns nicht machen, sehr zu unserem Realität zuerkennen, aber in den Weibern kynosophischen Vergnügen, denn er erdet sehen wir zumindest hypothetisch Frauen, die ochsenfüßigen Fabelwesen ganz in un- die ein Hunde-Teilprotom tragen; nur die serem Sinn: genaue Prüfung der Überlieferung kann dann entscheiden, ob es sich in diesem Fall Die Samojeden tragen, um das Aus- um reine Einbildung oder um Spuren eines gleiten auf dem hartgefrorenen Schnee ehemals referentiellen Bezugs handelt. zu verhindern, Stiefel aus riemenweise Auch die Riemenbeinler oder Schlaffbeinler zusammengesetzten Rentierpfoten (in: hat man zu erden versucht, und die Tat- Meier, 347-8). sache, dass sie eng vergesellschaftet mit Hundemenschen erwähnt werden, erregt Markwart erkennt in diesen Ungeheuern unser kynosophisches Interesse: Wenn die Völker jenseits der Samojeden am Eismeer, wobei er den eben erhaltenen kynoso- Riemenbeinler Leute sind mit phischen Impuls - wie sollte es auch anders krummen, biegsamen Schenkeln, die sein - wieder aus den Augen verliert: Es mehr kriechen als gehen genügt ihm leider, eine Komponente zu er- klären, nämlich die Beine, die in Ochsen- sollen, wie uns Pomponius Mela in seinem füße ausliefen, darüber vergisst er ganz das De situ orbis informiert (in: Meier, 344), dann Hundegesicht, das die Ochsenfüßler angeb- könnten wir an typische Reiterbeine den- lich ja auch noch hätten. Und die Zusatz- ken, worin wir uns bestärkt sehen könnten, information: wenn wir von Isaak Vossius 1686 erfahren, dass gewisse hochnordische Völker die Knie Zwei Worte sprächen sie wie Menschen, nach außen gebogen hätten, dächte Vossius beim dritten bellten sie wie Hunde, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 458

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gerät vollends aus dem Blick - dass die Erfindungen der Phantasie - haben die viel- Samojeden tatsächlich hundemythologisch leicht irgendeine Funktion? Offensichtlich geprägt waren, habe ich im 1. Band nach- keine, über die Herr Meier länger nach- gewiesen: Mit den dort aufgeführten Infor- dächte. Womit wir wieder vor dem Rätsel mationen ist der Nachweis eines referen- stünden, von dem wir ausgegangen: Dan- tiellen Bezugs auch für das Hundegesicht ke, Herr Meier! Aber wir wollen nicht un- möglich; der Rest ist natürlich die übliche gerecht sein bei unserem Ausflug in die Tra- üble Nachrede. In der Mitte des 20. Jahr- ditionsgeschichte der Fabelwesen - immer- hunderts vermutet man dann in den „Mons- hin erkennt Meier (348), tern“ des Alexanderromans dass einerseits solche Phantasievor- ganz allgemein Tiervermummungen stellungen auf wirkliche Beobachtun- wilder orientalischer Krieger, die dann gen stoßen und sich mit diesen amal- in den Erzählungen zu Bestien gewor- gamieren können und andererseits den seien (Merkelbach, in: Meier, 348). Nachrichten von wirklich Beobach- tetem zu Phantasievorstellungen auf- Mit dieser Vermummungsthese ist die Ebe- blühen können. ne der totemistischen Protome erreicht, von wo aus es nur noch ein kleiner Schritt ist zur Beide Richtungen der Traditionsbildung ha- Erkenntnis, dass die Identität des Menschen be ich auf unserer Kynosophischen Zeitreise in frühen Zeiten eine vom Tier entlehnte thematisiert. Und sehr oft ist es gelungen, war. Ich denke, dass dieser bewusstseins- von der Phantasievorstellung auf wirklich geschichtliche und tiefenpsychologische Beobachtetes und umgekehrt zu kommen. Ansatz den Fabelwesen immer noch ge- Die Umkehrung wird in diesem 5. Band viel- rechter wird als die bequeme Position, in die leicht das Übergewicht erlangen, aber die sich Fritz Meier mit seinen Überlegungen zu Erdung wird nie ganz verloren, sondern im- den Riemenbeinlern gegen seinen Lehrer mer intensiv gesucht. Karl Meuli nicht nur profilneurotisch stellt, ist es doch viel einfacher, die Fabelwesen So wäre es z.B. verlockend, wenn wir nicht auf sich beruhen zu lassen statt ihre entfal- eigentlich zur Zeit Station in Indien mach- tende oder deformierende Funktion für das ten, jenem Hinweis nachzugehen, den As- jeweilige Bewusstsein zu ergründen - und sar-i Tabrizi (gestorben um 1382) in seinem das geht so: Epos Mihr u Mustari (~ ein sufitisches Lehr- buch? Zum kynosophisch angehauchten Su- Ich glaube, wir sind am besten beraten, fismus > 511-9) zu den Weichbeinlern und wenn wir die Himantopoden (~ Schlaff- Hundsköpflern gibt: oder Riemenbeinler) in die Gruppe der andern Wundergestalten: Hundsköpf- Der Held Mustari entrinnt mit seinen ler, Brustäugler usw., einordnen und Gefährten dem Meer und schlägt sich uns über diese dem Urteil Strabons durch den Alburz, offenbar am kas- (schrieb um 18 n. Chr.) anschließen, der pischen Abhang. Da heißt es ...: Auf der sie als absichtliche Erfindungen der al- einen Seite lärmten grimmige Dämo- ten Dichter aufgefasst wissen wollte. nen, Auf der andern heulten „gul´s“. Wir sollten allerdings vorsichtiger sa- Der Sitz der Weichbeinler und der Ort gen: Erfindungen der Phantasie, ohne der Hundsköpfler, Das Land der Elefan- uns genauer festzulegen. Dafür spricht tenöhrler und der Menschenfresser. auch die Lokalisierung einmal nach Bald trieben sie die Rosse gegen die Ele- Indien, das andere Mal nach Afrika fantenöhrler, Bald hieben sie den (Meier, 348). Weichbeinlern die Köpfe ab, Bald lagen Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 459

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sie mit den Hundsköpflern im Krieg, lichen Fabelwesen ist mindestens Missbilli- Bald hatten sie mit den „gul´s“ Fehde gung, maximal aber Bekehrung zu mensch- (in: Meier, 365). licher Lebenspraxis: Logisch, dass man diese bedauernswerten Randexistenzen zur rich- Meier präzisiert den kaspischen Abhang des tigen Religion konvertieren muss. Aber kri- Elburz-Gebirges als die Region von Mazan- tische Geister sahen das schon sehr früh daran und fordert ganz kynosophisch wie ganz anders: Die angebliche Randständig- ich, dass die nicht restlos beantworteten keit angeblich hundeköpfiger Menschen Fragen, z.B. die nach den seltsamen Bewoh- entpuppte sich als angeblich höchste mora- nern der Region Mazandaran, durch weite- lisch-geistige Vollkommenheit, nicht nur in re Vorarbeiten beantwortet werden: den Indika des Ktesias, und als wertvolles, im besten Sinn satirisches Gegenbeispiel zu Es müssten die einzelnen Quellenfra- den selbstherrlichen, sich selbst absolut set- gen und die Komplexe, in denen die zenden neuen Herren, die sich nicht nur die Riemenbeinler vorkommen, also auch Erde untertan machen wollen. Hinter den ihre Verbindung mit den Hunds- Hundeköpfigen, diesen scheinbaren Fabel- köpflern, genauer abgeklärt werden wesen, (Meier, 367). a good many historical peoples are pro- Vielleicht findet sich einmal ein kynoso- bably still hiding under these fantastic phischer Orientalist, der sich dieser Fragen disguises, and we may never know erbarmt; Riemenbeinler und Hundsköpfige them unless we can remove the mask, konvergieren zumindest in einem Symptom der Kynanthropie, nämlich in der bedeut- meint Shafer (503) am Ende seines Beitrags samen Schwäche bzw. im Schinden der zu den indischen Hundsköpfigen und pflich- Schienbeine (> VI: Marcellus von Side) und tet Meier bei und setzt sich wie jener zur Ru- somit im Laufen auf vier Beinen. Der kurze he - ein Beispiel, das wir nicht befolgen wer- Ausflug in die lange Traditions- und Rezep- den, denn jetzt fängt die Arbeit erst richtig tionsgeschichte der Fabelwesen von der An- an: Uns genügt ja nicht, dass wir den histo- tike bis ins europäische Mittelalter hat ge- rischen Realitätsgehalt angeblicher hun- zeigt, dass die Erdung der angeblichen deköpfiger Fabelwesen erkannt haben - wir Phantasiegestalten ein lohnender Weg ist, wollen über sie noch mehr wissen, und da- sich mit ihnen zu befassen, da über den re- zu müssen wir uns leider auf ein wissen- ferentiellen Bezug auch die Identitätsge- schaftliches Minenfeld begeben: Dass der winnung derjenigen besser analysiert wer- Hund bereits vor der Einwanderung indo- den kann, die sich über diese angeblich sub- europäischer Völker oder Stämme in Indien humanen Lebewesen zu erheben trachten. eine beachtliche symbolische Funktion inne- Mehr noch: Die Lebenspraxis der Überheb- hatte, rekonstruiert auch der indische Phi- lichen selbst steht auf dem Prüfstand, wenn losoph Debiprasad Chattopadhyaya in sei- sie gemessen wird an der Lebensführung nem grundlegenden, aber weltanschaulich der Hundeköpfigen. Genau dies hat Ktesias, leider leicht angestoßenen Werk: zu dem wir jetzt wieder zurückkehren, wohl auch, aber nicht ausschließlich, beabsich- tigt, als er über das angeblich hundeköpfi- Lokayata ge Volk im Herzen Indiens berichtete, das seiner bzw. seiner Informanten Beobach- Wie ich soeben, aber auch schon zu tung gemäß keineswegs eine Randexistenz Beginn des Kapitels andeutete, begebe ich führte. Insofern ist Ktesias untypisch, denn mich nun in die Schlangengrube eines in- die „normale“ Reaktion auf diese angeb- dischen Wissenschaftler-Kriegs zwischen ei- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 460

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ner materialistisch fixierten und einer Lokayatikas oder Asuras streng idealistisch orientierten Denkschule - das hätte ich gern vermieden, aber nur über Die Asuras sind so etwas wie die dieses Konfliktfeld führt der Weg zur Er- Nachtalben, die Gegner der Lichtgötter in kenntnis, welche symbolischen Funk- der vedischen Literatur Indiens, in deren tion(en) der Hund in der Bewusstseinsent- Welt es nur zwei „Rassen“ gibt: faltung wesentlicher indischer Denkrich- tungen gespielt haben mag. Es gilt also, bei Two races were created in this world, - beiden Parteien die ideologische Spreu vom the “devas” (gods) and the “asuras” (in: kynosophischen Weizen zu trennen, was Chattopadhyaya, 42). mir beim materialistisch interpretierenden Philosophen Chattopadhyaya leichter fällt, Diese im Rig-Veda noch nicht so eindeutige da er zu frühen kulturellen Schichten vor- Trennung in die Guten und die Bösen ist stößt, die er als marxistischer Evolutionist aber guter Nährboden für die Verleumdung zwar auch nicht angemessen zu bewerten und Dämonisierung der Abweichler, die die versteht, die er aber wenigstens in einem Asuras später ja tatsächlich sind. Sie wei- genetischen Kontext zu sehen vermag mit chen ab von der herrschenden Lehre, die in der folgenden Idealisierungswelle indischer diesem Fall die Lehre der Herrschenden ist, Weltweisheit durch vedische Philosophen, und stellen so etwas dar wie die Philosophie während die heutige idealistische Schule, der vor-arischen Inder, die Chattopadhyaya hier in der Kynosophischen Zeitreise ver- Lokayata nennt. Sie werden aus vedischer körpert von Frau Shubhada Joshi, eine Sicht oft Bastarde, Inzüchtler oder Monster genetische Beziehung grundsätzlich leug- genannt: Ihre Feste zeichnen sich aus durch net dieses ach so barbarischen Substrats mit dem ach so idealistischen indischen Denker- dance and song, flower and the red himmel: Es geht ihr und der hinter ihr ste- powder “fag”, swinging and playing, henden Philosophenschule darum, den all these created an atmosphere of light Spiritualismus indischer Weisheit gegen amusements from which all sterner Chattopadhyayas teilweise recht platten laws of sexual ethics were dismissed for Materialismus zu rehabilitieren - Indian Spi- the time being and men and women ritualism reaffirmed heißt denn auch der mixed indiscriminately ... The essential Untertitel ihres trotz fast lebenslänglicher feature of this romance is - love for one Auseinandersetzung mit dem Thema recht with whom one is not bound in schmal geratenen Bändchens, in dem sie wedlock (in: Chattopadhyaya, 424-5). Chattopadhyaya zu widerlegen trachtet durch Ausblendung zahlreicher konkreter Die Asuras alias Lokayatikas entsprechen al- Details, auf die sich Chattopadhyaya stützt so ziemlich genau den missbilligenden Schil- und die gerade das Interesse von uns Kyno- derungen abweichender Sitten, wie wir sie sophen erwecken und die - wenigstens da von Herodot schon kennen. Auch die mo- sind wir uns mit Bertolt Brecht einig - allein dern anmutende Gleichberechtigung der in der Lage sind, uns der Erkenntnis näher Frau dürfte die Verachtung der vedisch- zu bringen: Die Wahrheit - so es denn eine patriarchalen Inder provoziert haben: gibt - ist konkret. Ich konzentriere mich da- her auf Chattopadhyayas materialistische In the meetings ..., men and women Ergebnisse und ziehe Joshis idealistische Kri- take their seats indiscriminately, with- tik nur heran, wenn es darum geht, Chatto- out any scruple, and with full freedom padyayas manchmal platten, historischen ... Caste, rank in society, or orthodoxy of Materialismus zu relativieren, um ihn dann views are out of the question in their zu kynosophieren. society (Chattopadhyaya, 426). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 461

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Im Gegensatz zu den Hindu-Frauen folgen verachtet (Chattopadhyaya, 64), was uns an die Witwen der Asuras ihrem Mann nicht in entsprechende Vorgänge in Afrika erinnert den Tod - eine entsetzliche Vorstellung für (> II, 459). Dass die Mythen und Kulte der den vedischen Inder. Wer waren diese Asu- Asuras von den gesellschaftlich anerkann- ras im historischen Sinn, haben sich schon ten Dichtern nur verzerrt wiedergegeben viele Inder gefragt und meinten wie S.N. werden, gehört zur Strategie der nachhalti- Dasgupta, sie mit den Sumerern identifizie- gen Auslöschung der Vorbevölkerung. So ren zu können (Chattopadhyaya, 42). Das ist nahmen die Asuras natürlich eher zweifelhaft, aber dass die neolithische Wirtschaftsweise vom frühen, the sacrificial oblations into their own wahrscheinlich noch vor-sumerischen Meso- mouths and thereby insulting (the de- potamien nach Indien gelangte, das ist sehr vas) (~ die indo-arischen Götter), wahrscheinlich. Und dass die Importeure des neuen Know-Hows elamischen Ur- weil sie denen nichts abgaben, woraus sprungs waren und keine Sumerer, das ist Chattopadhyaya (60) schließen will, dass sie noch wahrscheinlicher. Und dass sie bei die- grundsätzlich keinem Gott opferten und ser Gelegenheit nicht nur die neolithische mithin keine Götter anerkannten. In dieser Infrastruktur, sondern auch die entspre- Reduktion offenbart sich wahrscheinlich die chende Religion mitbrachten, das ist sicher. Beschränktheit des materialistischen Ansat- Und dass Kernbereich dieser Religion die zes. Die Weltentstehungslehre der Asuras Heilige Hochzeit war, das bezeugt noch die jahrtausende alte Tradition der Heiligen was the same as the cosmogony of the Hochzeit im Tantrismus Indiens, wie sie Tantras ... Lokayata and Tantrism were Heinz Hunger nachweist. Unsere im 3. Band probably the same (Chattopadhyaya, 50). dargelegte KUR-Symbolik (> III, 61-122) findet ihre indische Konkretisierung auf Asuras, Lokayata und Tantrismus konver- dem Berg Meru, auf dessen Gipfel gieren und formen einen Gegenpol zur in- dischen Spiritualität, die sich vornehm des- lies the city of Amaravati, wherein the interessiert zeigt von allem, was irgendwie gods dwell; and beneath Meru lies Ira- mit der Frage der nackten Existenzsiche- vati, the city of the “asuras” ... the ar- rung zu tun haben könnte. Aus Sicht der chaeologist´s spade has really unear- Spiritualisten erscheinen die Asuras bzw. thed the ruins of an ancient city by the Lokayatikas als nihilistische Sekte, die alle bank of Iravati, which, on the evidence höheren Werte leugnet, diese Menschen of the Rig Veda, we are strongly incli- nennt man auch Carvakas (~ materialis- ned to look as the city of the “asuras”. tische Hedonisten), This city is known to us as Harappa (> 361: Karte) (Chattopadhyaya, 57). who only eat ... and do not trust any- thing else but what can be directly per- Im sechsten Mandala des Rig-Veda wird der ceived. They drink wine and eat meat Kampf des indo-arischen Gottes Indra ge- and indulge in indiscriminate sexual in- gen die Asuras geschildert, er wird Asura- tercourse, even incest („Inzüchtler“!). Killer genannt und er habe die Asuras in On a specific day of each year all of Hariyupiya (dem heutigen Harappa im them gather together and unite with Indus-Tal) weitgehend ausgelöscht. Was any woman that they may desire. They dennoch davon übrigblieb, wird in den Ve- do not recognise any “dharma” (reli- den Asuras genannt. Sie werden wahr- gious ideal) over and above “kama” scheinlich in die niedrigen Kasten verbannt, (the erotic urge) ... They behaved like ihre Berufe gelten als unrein und werden common people and for this reason Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 462

462 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

they were called “lokayata” ... To drink ren, dann waren es die Indo-Arier auch, so and to chew is their motto; they are cal- einfach ist das in Indien. Dass wir es beim led Carvakas because they chew (carv), Vamacara tatsächlich mit einer rituellen that is, eat without discrimination (Gu- sexuellen Vereinigung zu tun haben, be- naratna, in: Chattopadhyaya, 51-2). weist eine Stelle aus dem vedischen Chan- dogya Upanishad, mit dem wir uns gleich Die Verleumdung gelingt nicht vollständig: noch ausführlich befassen werden: „Moralisch Minderwertige“ brauchen kei- nen speziellen Tag im Jahr, um ihrem Laster One summons - that is a “Himkara”. He zu frönen - wir haben es hier zu tun mit ei- makes request - that is a “Prastava”. nem Zeremoniell, das spiritualistischen In- Together with the woman he lies down dern, aber auch anderen Zeitgenossen ver- - that is an “Udgitha”. He lies upon the dächtig vorkommt, das aber von Kynoso- woman - this is a “Pratihara”. He comes phen sofort bezogen wird auf jenes Grund- to the end - that is a “Nidhana”. This is muster der Heiligen Paarung, um hier das the “Vamadevya Saman” as woven anrüchige Wort von der - wenn auch - Sa- upon copulation. He who knows thus kralen Promiskuität zu vermeiden. Aber this “Vamadevya Saman” as woven eben jene Sakrale Promiskuität scheint im upon copulation comes to copulation, Zentrum des Zeremoniells der Carvakas ge- procreates himself from every copula- standen zu haben. Sie hatte also rituelle Be- tion, reaches a full length of life, lives deutung, wie auch Chattopadhyaya er- long, becomes great in offspring and in kennt. Allerdings hält er die Diesseitsorien- cattle, great in fame. One should never tiertheit, die aus dem Hedonismus der Lo- abstain from any woman. That is his kayatika (~ Plural von Lokayata) spricht, für rule (in: Chattopadhyaya, 66). einen Proto-Materialismus, wrapped in ar- chaic phantasies (Chattopadhyaya, 52), de- Mit Saman wird das vedische Singen be- nen er jeden religiösen Gehalt absprechen zeichnet, das selbst in die fünf Abschnitte will. Aber die Sexual-Zeremonielle der Lo- gegliedert wird, die identisch sind mit den kayatikas, die ich ab jetzt Heilige Hochzeit Bezeichnungen der o.g. Abschnitte der Hei- nennen werde, entsprechen weitgehend ligen Hochzeit (Himkara usw.). Kopulation den Ritualen des Tantrismus. Für ihn ist die wird also auch in den Veden als Mittel der Vamacara genannte Theorie und Praxis Wahl betrachtet, wenn man den materiel- grundlegend, in der Vama die Frau be- len Reichtum, hier die Zahl der Rinder, meh- zeichnet und vermutlich auch den Eros (~ ren will. Während die indo-arischen Inder Kama), und Acara ist die praktische Umset- den materiellen Reichtum in viehzüchte- zung der Theorie, deshalb Vamacara: rischer Währung bezifferten, benannten ihn die Anhänger des Tantrismus mit acker- The practice (acara) centred in the baulichen Tätigkeiten: So erklärt sich das female and also in the sexual union Wort Lokayata etymologisch in seiner zwei- (Chattopadhyaya, 65). ten Hälfte über die Zusammensetzung a + yat + a (eine Anstrengung machen) und in Dass es beim Vamacara nicht um „reine“ seiner ersten Hälfte über die im Latei- Perversion gegangen sein kann, leitet Chat- nischen lucus genannte Lichtung, die man topadhyaya listig aus der Tatsache ab, dass im Wald anlegt, um Pflanzenanbau betrei- ähnliche Rituale auch in den Veden anklin- ben zu können ( Chattopadhyaya, 72). Ein gen, dem anderen wichtigen Trend früh- weiterer Unterschied zwischen vedischen indischer Kultur. So kann er seinen idealis- und vor-indo-arischen Praktiken liegt in der tischen Kritikern den Wind aus den Segeln Wertschätzung der männlichen Nachkom- nehmen: Wenn die Lokayatikas pervers wa- men und der absichtlichen Erniedrigung der Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 463

DIE SINGENDEN HUNDE 463

Frau bei den Indo-Ariern und dem Respekt 5. Und sie sangen: „Om! ich möchte vor der Frau, den der Tantrismus seinen An- essen, Om! ich möchte trinken; Om! hängern abverlangt (Chattopadhyaya, 73). möge der Gott Varuna, Prajapati und Es genügt uns, hierin typische matriarchale Savitar Nahrung herbeischaffen; o Nah- und patriarchale Kennzeichen wiederzuer- rungsherr, Nahrung schaffe herbei, – kennen. Doch wo bleibt der Hund, woran ist schaffe herbei! Om!“ hündische Konnotation tantrischer Praxis zu erkennen? Auch hier folgen wir Kynoso- Dieses komplett erhaltene Udghita ist nicht phen dem listigen Chattopadhyaya, der ge- zufällig bereits im Original in fünf Ab- rade diese hündische Konnotation wieder schnitte gegliedert. Udghita im weiteren bei den indo-arischen Indern nachweist, Sinn bedeutet - wie uns Chattopadhyaya er- und zwar in jenem Chandogya Upanishad, läutert - das Singen des Sama-Veda, beson- das ich eben schon kurz erwähnte. ders des Sama-Veda im eigentlichen Sinn, d.h. ohne Ergänzungen. Im engeren Sinn bezeichnet Udghita lautes Singen, und es ist die dritte Abteilung des fünfgliedrigen Sa- Die singenden Hunde man, steht also in der Mitte vor dem Him- kara (~ einleitendes Vokalisieren) und dem Prastava (~ einleitendes Loblied) und nach In diesem Upanishad (~ Lehrge- dem Pratihara (~ Antwort) und dem Nidha- dicht; wörtlich: Das Sich-in-der-Nähe-Nie- na (~ Abschluss). Allein diese Position zeigt dersetzen ~ sich zu Füßen eines Lehrers set- schon an, dass im Udghita im engeren Sinn zen) gibt es eine für unkynosophische Leser das Wesentliche sich ereignet, nämlich die auf den ersten Blick kaum verständliche Formulierung der konkreten Fürbitte. Ba- Stelle. Es handelt sich um den 12. Khanda (~ hispavamana ist die Bezeichnung für ein ve- Abschnitt) des 1. Kapitels im Chandogya disches Stoma (~ Singgebet, Hymne), das Upanishad: außerhalb des vedi (~ Altarbereich) gesun- gen wird während des morgenlichen Trank- Zwölfter Khanda opfers. Chattopadhyaya (77) deutet dieses 1. Nunmehr daher der Hunde-Udgitha Udghita der singenden Hunde, indem er (~ Hochgesang). Also Baka Dalbhya, - den Hauptakzent legt auf die Bitte nach der da auch heißt Glava Maitreya – der Nahrung im Sinn eines materiellen Mittels ging auf die Wanderschaft, um zu zur Subsistenz. Er freut sich, hierin den Aus- studieren. druck eines ziemlich intensiven Materialis- 2. Da erschien ihm ein weißer Hund; zu mus erblicken zu können, wenn auch in ei- dem kamen andre Hunde gelaufen und ner primitiven Form, und das in einem Upa- sprachen: „O Herr, ersinge für uns nishad:Man sagt den Upanishaden ja nach, Nahrung, denn wir haben Hunger!“ sie seien Hort spiritueller Weisheit. Es ist da- 3. Und er sprach zu ihnen: „Trefft her die Frage, ob man dieses Udghita redu- morgen früh mit mir allhier zusam- zieren kann auf die Fürbitte nach realer men.“ Dieses beschloss Baka Dalbhya – Nahrung: Unser tägliches Brot gib uns der da auch heißt Glava Maitreya – ab- heute scheint mir eine christliche Parallele zuwarten. zu sein, die sich nur für den aufs Materielle 4. Da kamen sie herangezogen, wie die reduziert, der glaubt, der Mensch lebe vom Priester, wenn sie das Bahish-pava- Brot allein. Doch das zentrale Thema des mana-Stotram singen wollen, einander Chandogya Upanishad ist in der Tat die (am Kleide) anfassend, heranziehen. Nahrungsbeschaffung: Dort heißt es im 2. Und sie setzten sich nieder und stimm- Khanda des 5. Prapathaka auf die Frage: ten das Hin an. Was soll meine Nahrung sein? Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 464

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Alles, was hier vorhanden ist, bis herab beim Totemismus anzukommen, dessen Spu- zu (dem, was) den Hunden und den ren er dann genüsslich auch in den Veden Vögeln (als Nahrung dient). Darum ist nachweist. Diese Perspektive weitet er aus auf dieses alles Nahrung (annam) des Ana die Frage nach dem Verhältnis von Magie und (Odems); denn Ana ist sein unverhüllter Religion und kommt dann zurück zu der Für- Name. Wahrlich, für den, der solches bitte um Nahrung in frühen vedischen Ge- weiß, gibt es nichts, was nicht seine sängen. Jetzt schließt sich der Kreis, der nun Nahrung wäre. als Rahmen erkennbar wird, in den unser Chandogya Upanishad als späte vedische Und die Nahrung von Hunden und Vögeln Form eingebettet werden soll. Über die ma- kann auch der menschliche Leichnam sein - gische Komponente einerseits des Sprechakts womit der Kannibalismus in Initiationsritua- als semantisch aufgeladenem Ausatmen des len der Bünde als Nachahmung des exkarnie- Äthers und andererseits der Rede in (me- renden Hundes erscheint. Aber abgesehen trisch) festgelegtem Rhythmus, also dichte- von diesen Überlegungen gilt, dass Chatto- rischer Rede, überdenkt Chattopadhyaya auf padhyaya die merkwürdige Metaphorik bei höherer Ebene noch einmal das Verhältnis seiner materialistischen Erdung außer Acht von indischer folk culture und vedic culture: lässt, und gerade die Hunde, die singen, trans- Und mit Chattopadhyaya gelangen auch wir ponieren die Thematik doch in Bereiche, die wieder an unseren Ausgangspunkt zurück, nicht nur materialistisch fassbar sind. Wozu den wir mit Robert Shafer benannten als das die „Maskierung“ als Hund, wenn man auch kulturelle Spannungsverhältnis zwischen konkret als Mensch seine konkrete Bitte um „hundsköpfigen“, d.h. hundemythologisch konkretes Brot (in fester und flüssiger Form) geprägten vor-indo-arischen Indern und äußern kann? Und selbst der christliche menschenköpfigen, d.h. nicht (mehr?) hun- Mensch, der sich für diese Fürbitte nicht als demythologisch geprägten indo-arischen In- Hund „maskiert“, versteht seine Bitte um täg- dern. Ich denke, diese Aussicht wird kynoso- liches Brot nicht nur materiell - wenn nicht ge- phisch motivierten Lesern die Kraft geben, rade Hungersnot herrscht. Folgen wir trotz die folgenden, auf den ersten Blick vielleicht dieser Vorbehalte zunächst Chattopadhyaya etwas zu ausführlich geratenen Analysen mit- weiter in seiner Auslegung der singenden zuwandern. Dieser Schein des Aus- und Ab- Hunde, die ihre Nahrung ja u.a. von Varuna schweifenden aber trügt, denn wir werden erbitten, der einzige auch von den Asuras an- im Folgenden Bereiche wiedererkennen, die erkannte vedische Gott und der in West- wir in scheinbar ganz anderen Zusammen- Europa als Sankt Blasius mit seinem Festtag hängen schon diskutiert haben. Ich denke da- am 3. Februar in unmittelbarer Nachbarschaft bei u.a. besonders an den Äther, der in der zu einem der beiden Zeitpfeiler des Jahres paläomentalen Seelenkonzeption eine we- steht: Er ist die christianisierte Form eines sentliche Rolle spielt und der die Auffassung indo-europäischen Hirtengottes mit den Va- vom Hund als Seelengeleiter weitgehend de- rianten Blasius, Vlas, Volos, Veles und Vlaho terminiert (> I, 74, 319, 395 ff.). usw., der einerseits Beschützer des Viehs ist, andererseits als „Herr der Tiere“ den Men- schen die Nahrung gewährt: Ein Gott kann Wer ist Baka Dalbhya? materielle wie geistige Nahrung geben - aber wir folgen weiter Chattopadhyaya: Zentrale fragt sich und uns Chattopad- Figur des Texts ist für ihn Baka Dalbhya, des- hyaya: Für Baka singen ja die Hunde, diese sen Identität er zu präzisieren versucht. Dann Szene soll ihm, der vedische Studien be- untersucht er die mögliche Bedeutung des treiben will, eine Erkenntnis übermitteln: Hundes in diesem Udghita, um schließlich mit Unser Baka betreibt vedische Studien aber den heutigen backward peoples in Indien nicht erst seit heute, denn Chattopadhyaya Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 465

DIE SINGENDEN HUNDE 465

schlägt statt der eleganten Version went Dabei tritt das Indiz in unserem Udghita in forth for Veda-study eine wörtliche Über- Gestalt von singenden, also musizierenden setzung vor, die eine zusätzliche Informa- Hunden (> III, 602: Abb. 38 & > IV, 214-31): tion bietet über unseren Baka: renounced Tierkapellen) als Teil der Heiligen Hochzeit the Veda-studies, denn dann erschließt sich unübersehbar vor aller Augen. Doch noch auch der Sinn des Beinamens Glava (~der ist es zu früh, diese Parallele als echte Ana- Unzufriedene). Maitreya der Unzufriedene logie zu erwägen. Folgen wir also weiter ist unzufrieden mit seinen Veda-Studien, er Chattopadhyayas Analyse: Die Alternative, ist ein Häretiker. Deshalb wird ihm die Sze- ob unser Baka nun ein Häretiker oder ein ne der singenden Hunde vorgeführt, um vedischer Gläubiger ist, erscheint nun als ihn beim rechten Glauben zu halten. Wir falsch: Baka befindet sich im vedischen Sy- dürfen mit Chattopadhyaya vermuten, stem, hat aber Zweifel. Um diese Zweifel dass Baka die materielle Komponente ver- auszuräumen, nimmt er als Zuschauer an misst, dass ihm die vedische Weisheit zu der Szene der singenden Hunde teil: einseitig-spiritualistisch orientiert ist: Des- halb die „materialistische“ Einlage der Für- The scene was somehow or other bitte um Nahrung, suggeriert uns Chatto- connected with what the author of this padhyaya (78) und erinnert an ein anderes passage considered to be the essence of Upanishad, in dem ein gewisser Baka Dal- the Vedic wisdom, or, more specifically, bhya sich auflehnt gegen Indra, den höchs- the wisdom of Vedic chanting, ten Gott im vedischen Pantheon. Obwohl an anderen Stellen im Chandogya Upani- meint Chattopadhyaya (79), und wir wür- shad unser Baka Dalbhya ohne seinen den ihm ja so gern zustimmen, aber leider Alternativnamen Glava Maitreya erwähnt übersieht er, dass die Szene ja für einen wird, können wir vorsichtig annehmen, Zweifler bestimmt ist, von daher nicht so beide Bakas seien identisch. So wird die ohne Weiteres verallgemeinert werden anti-vedische Haltung unseres Baka plausi- kann zur essence of the Vedic wisdom. Viel- bel, auch wenn ihm an anderer Stelle in un- mehr dürfte an der Funktion dieser Szene serem Upanishad bescheinigt wird, er ken- deutlich werden, womit der Zweifler gekö- ne sich in den Geheimnissen vedischen dert werden soll: Man will ihm zeigen, dass Singens bestens aus. Chattopadhyaya er- vedische Weisheit auch die Fürbitte um wähnt angesichts der zweifachen Be- Nahrung einschließt, dass sie auch symbo- namung unseres Baka die Möglichkeit, er lische Hunde in ihren Ritualen duldet. Auch sei von einem anderen zum vedischen Chattopadhyaya konzediert, dass this will Glauben konvertiert. Welcher Art dieser be appear to be most strange, und fragt sich frühere Glaube gewesen sein kann, könn- nun selbst, wie denn die Schnittmenge aus- te eine Bemerkung Samkaras (in: Chatto- sehen könnte zwischen der vedischen Weis- padhyaya, 79) präzisieren, der unseren heit und dem früheren Glauben des mut- Baka wegen seines Doppelnamens als Sohn maßlichen Konvertiten zweifelhafter Her- einer verheirateten Frau sieht, dessen Va- kunft. Man will dem Zweifler eine goldene ter aber nicht der Ehemann dieser Frau sei. Brücke bauen, das kann nicht gelingen, Baka könnte also Verhältnissen entstam- wenn man das Beispiel falsch auswählt oder men, die den moralischen Vorstellungen einfach einen Scherz aufführt, die Szene der der patriarchalischen Veden diametral ent- singenden Hunde muss also ernst gemeint gegenstehen. Für uns Kynosophen eine sein. Dabei gibt es Textbelege, dass man die verlockende Perspektive, schimmert hier Autoren der Upanishaden aus Sicht der eta- doch die Praxis der Heiligen Hochzeit blierten vedischen Religion für oberfläch- durch, die für Chattopadhyaya aber durch lich hielt und lächerlich zu machen versuch- kein weiteres Indiz im Text abgestützt ist. te, indem man sie beschrieb als eine Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 466

466 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

procession of dogs to march like a zum Himmel aufsteigt. Die irokesische procession of the priests, each holding Gottheit selbst ist hündisch konnotiert, hat the tail of the other in front and vielleicht sogar hündische Identität, denn saying: “Om! Let us eat! Om, let us das Opfer ist mit seinem Adressaten we- drink!” (Radakrishnan, in: Chattopa- sensgleich. Die Basken leben seit 35.000 dhyaya, 80). Jahren in den Pyrenäen (> 370-2), die Iro- kesen seit mindestens 10.000 Jahren in Unsere Szene wird also als Satire missver- Amerika, vielleicht schon seit 20.000 Jah- standen, aber selbst als Satire hätte sie ren: Die hündische Konnotation religiöser noch einen referentiellen Bezug haben Vorgänge in Indien ist also nicht in erster müssen, um wirken zu können, d.h. die Linie vedisch, also nicht indo-arisch, son- Wahl des Hundes und keines anderen Tiers dern vor-indo-arisch begründet, wie wir wird auch hier noch eine tiefere Bedeu- bereits mit Robert Shafer erkannten. Die tung gehabt haben, eine Bedeutung, die U-Haplogroup lebt in Indien seit mindes- unkynosophischen Sanskritisten natürlich tens 50.000 Jahren. Kulturelle oder ge- entgeht, wird doch auch hier die Präsenz schäftliche Beziehungen zwischen vor- des Göttlichen just mit dem Mittel bewie- indo-arischen Indern und paläolithischen sen, das im Ersten Akt der Heiligen Hoch- oder auch nur eisenzeitlichen Basken sind zeit rituell exhibiert wird (> III, 124: Abb. bis heute nicht nachgewiesen und eher un- 4). Nicht übergehen sollten wir, dass im wahrscheinlich. Gleiches gilt für Beziehun- Original die „Hunde“ Hand in Hand und gen zwischen Basken und Irokesen (und nicht Schwanz in Hand voranschreiten, zahlreichen anderen nordamerikanischen aber Radakrishnan hat die Hundemeta- Indianervölkern) sowie für Beziehungen phorik unseres Udghita nicht unzulässig zwischen Irokesen und Indern. Und für ei- übers Original hinaus rekonkretisiert: Hun- ne anthropologische Universalie ist das de haben keine Hände, und die baskischen hündische Detail bis in die Fellfarbe zu Jungmänner, die am mythischen, d.h. KU- konkret - da gehe ich lieber mit Schlesier und KUR-symbolischen Felsen Arriba Par- (der über 100 konkrete Übereinstimmun- din (> I, 65) in den Pyrenäen mit dem Penis gen zwischen indianischem und sibi- in der Hand wie Hunde bellend eine Pro- rischem Schamanismus nachgewiesen hat zession veranstalten, sind zwar geogra- (> I, 105 & 562)) von einer gemeinsamen phisch weit weg, mythologisch aber sehr Quelle des europäischen, amerikanischen nah verwandt mit unseren singenden Hun- und asiatischen Hunde-Zeremoniells aus. den in Indien. Warum bellen die einen, sin- Kommen wir nach diesem vielleicht etwas gen die anderen? Wie hört sich das Singen voreiligen Plädoyer für das hohe Alter der von Hunden an? Wie Gebell oder Geheul. hündischen Konnotiertheit unseres Zere- Inder und Basken konvergieren - nicht nur moniells zurück zur konkreten Frage, wa- linguistisch über kukurra und txakurra als rum es gerade Hunde sind, die unseren Bezeichnung für den Hund, sondern auch Baka Dalbhya überzeugen sollen. kultisch-mythologisch: Denn die Präsenz des Göttlichen wird bei beiden durch hün- disches Benehmen erreicht. Indem sie sich Warum ausgerechnet Hunde? dem Göttlichen auf hündische Weise nähern, gleichen sie sich ihm an. Das er- Man hat unser Hunde-Udghita kannten wir schon am Weißen Hund der nicht nur als Satire (miss)-verstanden: Es Irokesen (> I), der zum einen als Hund die handle sich um eine echte Hungersnot, Loyalität der Irokesen am besten repräsen- und da habe ein vedischer Priester sich tiert, zum andern als immaterielle Nah- Essensreste einverleibt von Mitgliedern rung (!) für die Gottheit als Rauchopfer niedrigerer Kasten, und deshalb sei Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 467

DIE SINGENDEN HUNDE 467

the author of this Upanisad ... logical- So the singing dogs of our Upanisadic ly led to describe in the succeeding sec- passage might not have been dogs at tion the Udghita of the dogs, because all; they could have been just human this was the method of obtaining the beings and they were called dogs by food, and as such, was a remedy for the author of the passage not because hunger. The white dog ... was either a he wanted to ridicule them and their god or a sage (risi) that appeared in performance but rather because of the guise of a dog and so were the some other reason which deserves to other dogs that approached him, be objectively investigated into (Chat- though they were of comparatively topadhyaya, 83-4). lesser importance, Berühmte vedische Propheten hatten Tier- fasst Chattopadhyaya (81) seinen Kollegen namen, einer hieß Sunaka/Çunaka (~ der Samkara zusammen. Aber warum sollten Hundeschwänzige). Und dieser weise diese Götter die Gestalt von Hunden ange- Mann wurde in den Veden so genannt, nommen haben, um dem vedischen Pries- weil er „tatsächlich“ einen Hundeschwanz ter göttliche Weisheit zu übermitteln? Ha- hatte - ben sie überhaupt die Gestalt angenom- men oder sich nur mit Hundemasken ver- because he had really the tail of a dog kleidet? Eine Scheinfrage, wie wir wissen, or that he was found of assuming the da das Protom immer über sich hinaus- disguise of a dog (Chattopadhyaya, weist. Die Frage ist nur mit paläomentalen 84). Mitteln zu beantworten, westliche Reduk- tion aufs Biologische amputiert den Text Im vedischen Aitareya Brahmana wird von ums Wesentliche. Es ist daher sinnvoll - wie den uns schon bekannten drei Brüdern wir das schon in West-Asien unternommen erzählt mit den Namen Çunah-pucca, haben - nach Bezeichnungen für Pflanzen Çunah-sepa und Çunah-langula (> 249). und Tiere in den Veden und nach tierisch, Nimmt man alles zusammen, ergibt sich, besser noch: hündisch konnotierten Perso- dass im Chandogya Upanishad tatsächlich nennamen zu suchen: Wir sahen bereits, eine Gruppe von Personen geschildert dass sich unser Baka irgendwann mit Indra wird, die sich „Hunde“ nannten und die angelegt hat. Umgekehrt wird in den sich rituell wie Hunde aufführten: Für in- Veden von Indra erzählt, er habe tausend dische Verhältnisse eine vielleicht umstürz- sahkas zerstört, was uns nicht weiter em- lerische Erkenntnis, für Kynosophen nichts pören müsste, hätten nicht sieben sakhas Ungewöhnliches. Aber auch nur für jene überlebt, deren Namen tierisch konnotiert Inder aufregend, die ihre alte Literatur waren - eines dieser sakhas wurde Sauna- nicht kennen: ka genannt: Kautilya in his “Arthasastra” (um -300) “Saunaka” owes its origin to the dog spoke of a people called “the dogs”. and, of course, there was no satirical They, along with a few other people, motive in use of this name (Chatto- belonged to the “Raja-sabdopajivi-ga- padhyaya, 83). na” („gana“ ~ Clan). A whole chapter of the “Harivamsa” was devoted to Die meisten sakha-Bezeichnungen der ve- describe the genealogy of a highly dischen Samhitas sind auf Pflanzen- oder respected family, called “the family of Tiernamen zurückzuführen, die also kei- the dogs”. The “Mahabharata” refer- neswegs grundsätzlich nur biologische red to a section of the Yadavas called oder satirische Relevanz haben: “the dogs”. The same epic, at least in Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 468

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two more places, mentioned human Vom Hunde-Totem und von der Clan- groups called “the dogs”. One of these Organisation zur hierarchisierten is to be found in the “Bhisma-parva” „vedischen“ Gesellschaft and the other in the “Sabha-parva” ... The “Karandavyuha” referred to a Es kann nicht schaden, in Chatto- mixed caste called the “Kukkura” and padhyayas Worten das für uns Wesentliche the “Mahabharata” to a “muni” (sage) zum Totemismus zu wiederholen: by the same name. The “Visnu Pura- na”, too, mentions the people called The people belonging to the dog-clan, “Kukkura”. More examples may be for example, would consider them- mentioned, selves to be dogs and as descended from the dog. meint Chattopadhyaya (85) zuversichtlich, zieht es aber vor, diese Informationen der Von heutigen totemistischen Spuren kann altindischen Literatur zu verschränken mit auf eine totemistische Vergangenheit ge- den backward peoples im heutigen Indien, schlossen werden, das ist nicht nur Chatto- die noch in der Stammesorganisation le- padhyayas Prämisse. Folglich müssten auch ben und sich selbst mit tierisch konnotier- unsere singenden Hunde ein Indiz für Tote- ten Namen bezeichnen: mismus sein. Wenn also einige Hunde hung- rig sind und sich deshalb einem weißen Of these, the one derived from the dog Hund nähern mit der Bitte um Nahrung, is most relevant for our present dis- dann wollen wir uns in Chattopadhyayas cussion. We shall mention only a few falsche Alternative von Magie und Religion examples. Risley, in his descriptions of nicht verstricken lassen. Was zählt, ist der Er- the Oraons (~ Fremdbezeichnung; folg, auch wenn er nur im Lied besungen, Selbstbezeichnung: Kurukh!), spoke of oder besser - herbeigesungen wird: “wild dogs”. Iyer mentioned “the dogs” among the Mysore tribes and The dogs wanted to have a song for the castes. The “wild dogs” are also there in sake of food and their song was clearly Thurston´s list of the South Indian a food-song (Chattopadhyaya, 95), peoples. Examples like these may be multiplied. What is necessary is only wie zu anderen Gelegenheiten ein Regen- that “the dogs” are not at all rare lied gesungen wird, wenn man um Regen among the castes and tribes of India to- bittet und ihn durch das Gebet herbeizu- day. And it is needless to add that these zaubern wünscht: dogs, like those belonging to the Vedic literatures, are in the company of all This was enacting in fantasy the fulfil- sorts of animal-names like the tortoise ment of the desired reality. And those and the frog, the mule and the fish. who did it - the dogs of our Upanisadic Does ist not imply that the conditions passage - we have already argued, bore still surviving among the backward peo- the stamp of a stage of society at which ples of our country have some light to the community was still an undivided throw on our ancient literatures? whole (Chattopadhyaya, 95).

fragt Chattopadhyaya (86) seine Lands- Die akephale Struktur der community hängt leute, nicht ahnend, dass er damit bei uns natürlich von der Einschätzung des Weißen Kynosophen offene Türen einrennt, sind Hundes ab: Ist er der Adressat oder der An- wir doch schon auf Chattopadhyayas Kon- führer der anderen „Hunde”? Diese Frage sequenz bestens vorbereitet, die da lautet: wird sekundär, wenn wir ihn versuchsweise Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 469

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mit einem weißhaarigen Schamanen iden- Dass die Texte zum Soma-Fest und zu den tifizieren: Die Kollektivität des Vorgangs Sonnenwenden gesungen wurden, ist be- dürfte dann auch noch überwiegen, wie wir deutsam, denn zur Wintersonnenwende ist im 1. Band der Kynosophischen Zeitreise er- in früheren Zeiten eine kritische Nahrungs- arbeitet haben. In der Bezeichnung Udghi- situation erreicht und Soma als König ist der ta selbst ist der Vorgang als kollektives Be- matriarchale Mond, wie Neumann (in: mühen, nämlich Singen, aufgehoben, und Mond, 36) betont: zwar wird der Begriff von den Autoren der Upanishaden selbst so gedeutet: Denn der Mond ist auch der König Soma Indiens, er ist der Rauschtrank- According to them, the word was real- Saft, die Quintessenz der Nahrung, von ly some kind of an abridged sentence: dem es heißt: „Als König Soma, als “ud”, “gi” and “tha”. “Ud” meant Selbst der Nahrung, verehre ich ihn“. breath, “gi” meant speech and “tha” meant food (Chattopadhyaya, 96). Und dieses Selbst der Nahrung entspricht dem matriarchalen Uroboros, widerspricht Daraus ist wohl abzuleiten, dass die übrigen also einer vedisch-patriarchalen Zuordnung. Udghita-Texte ebenfalls um Nahrung bit- So erscheint nicht nur unser Chandogya ten, wenn auch im übertragenen Sinn, wäh- Upanishad als ein vedischer Versuch to rend mit dem Udghita der singenden Hun- rationalise (what) was but the memory of de wahrscheinlich reale Nahrung erlangt very archaic experiences. Es ist genau dieser werden soll. Jedenfalls - und da ist Chatto- alte Kern, der Chattopadhyaya (99) und uns padhyaya wohl zuzustimmen gegen seine besonders interessiert: Nicht die Umwand- idealistischen Kritiker - war dem vedischen lung kollektiven Wissens in eine vedische Singen die Bitte um Nahrung nicht fremd. Geheimlehre - Upanishad bedeutet im über- tragenen Sinn geheimes Wissen - und die Wie jedes Upanishad war unser Chandogya Teilhabe unseres Baka Dalbhya an diesem Upanishad als Anhang gedacht an ein be- Geheimwissen interessiert uns, sondern die sonderes Veda, in diesem Fall war es das Beantwortung der Frage, ob von dieser ve- Sama-Veda, das eigentlich eine Sammlung dischen Fassung eines hündisch konnotier- von Texten ist, die zum Soma-Fest gesungen ten Rituals geschlossen werden kann auf ei- wurden: Logisch, dass die ursprüngliche Be- ne „archaische(re)“ Zeit, in der dieses Ritu- deutung von Sama-Veda die knowledge of al noch kollektive Gültigkeit hatte und das melody ist (Chattopadhyaya, 97). Diese Me- im Chandogya Upanishad verschlüsselt kon- lodien sind mit Sicherheit nicht von den ve- serviert ist. Und die Tatsache gibt uns zu dischen Priestern von Grund auf neu erfun- denken, dass in unserem Upanishad der den worden, eher ist von einer Sammlung Gautama (~ Buddha?) zum König geht und von „Volksliedern“ auszugehen, die gesun- ihn um Antwort bittet auch auf unsere Fra- gen wurden gen und dass ihn der König zunächst be- scheidet mit der Auskunft, dass dies selbst at solstice celebrations and other natio- die Brahmanen nicht wissen, nur die Köni- nal festivals, and yet others may date ge (Chattopadhyaya, 101). Wenn aber nur back as far as that noisy music with die Könige wissen, wie Nahrung zu be- which the pre-Brahmanical wizard- schaffen ist, dann sind sie auch in Frucht- priests - not unlike the magicians, sha- barkeitsrituale involviert, wie wir auch am mans, and medicine-men of the primi- Asvamedha-Zeremoniell erkennen konn- tive peoples - accompanied their wild ten. Nichts anderes aber ist die Heilige songs and rites (Winternitz in: Chatto- Hochzeit, die selbst wiederum auf frühen padhyaya, 98). Zeremoniellen der Heiligen Paarung und Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 470

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der Heiligen Promiskuität beruht, die be- fallen oder befriedigen bedeutet. Es ergibt sonders in winterlichen Krisenzeiten prakti- sich also aus der Etymologie ein Zusam- ziert wurde. Natürlich ging es Gautama menhang zwischen Wünschen und Singen. nicht nur um Nahrung, sondern auch um Die Wünsche der singenden Hunde kennen die Kenntnis der Mittel, mit denen Nahrung wir bereits. Warum aber singen sie? Was von den Göttern zu erlangen sei - eine Par- überhaupt ist Singen? Die vedische Defini- allele zu unserem Baka Dalbhya, der dazu tion des Singens, wie wir sie im Chandogya aber nicht zu einem König geht, sondern Upanishad selbst vorfinden, ist etwas um- von singenden Hunden aufgeklärt wird: Das ständlich, aber sehr aufschlussreich: bedeutet, dass The essence of a person is speech. The the piece of knowledge that the king essence of speech is the Rik (“hymn”). eventually imparted, on closer analysis, The essence of the Rik is the Saman is found to be largely a mystified version (“melody”). The essence of the Saman is of the primitive belief underlying the the Udghita (“loud chanting”) (in: fertility magic of the surviving savages, Chattopadhyaya, 103).

wie Chattopadhyaya (101) ungeniert die an- Nun kommt in der paläomentalen Gesell- geblichen Vorläufer seines Materialismus schaft Singen nicht isoliert vor: Sprechen bezeichnet. Das regt uns aber nicht weiter wird zu hymnischer Rede, und hymnische auf, sondern an, im monopolisierten Wissen Rede wird zu Gesang. Und Singen ist ver- des Königs von der Nahrungsbeschaffung bunden mit der körperlichen Aktion des fürs Volk ein Relikt seiner zentralen Funk- Tanzes, wie uns z.B. das frühe Palästina be- tion in der Heiligen Hochzeit zu erkennen. reits zeigte (> III, 211-3). Aber Singen selbst Das aber bedeutet weiter, dass das Original ist ein körperlicher Vorgang, in dem das hündisch konnotiert war, wie unser Udghi- Ausatmen semantisch aufgeladen wird zum ta von den singenden Hunden bestätigt. Wünschen. Aber Atem selbst ist schon auf Vorläufig letzte Konsequenz ist die Erkennt- der Suche nach Nahrung für sich selbst, wie nis, dass die hündische Konnotiertheit des das Chandogya Upanishad von seinen sin- frühen Fruchtbarkeitszeremoniells nicht nur genden Hunden weiß und wie es ein ande- für die vor-indo-arischen Inder gilt, für die res Upanishad bestätigt: wir sie ja eh schon annehmen konnten mit Robert Shafers Ergebnissen - nein: sie gilt of- Then it (i.e. breath) sang out food for it- fensichtlich auch für die früh-vedischen In- self, for whatever food is eaten is eaten by der. Die für Chattopadhyaya materialis- it. Hereon one is established. Those gods tische Weisheit dieser archaischen Kulturen said: “Of such extent, verily, is this uni- ist aus kynosophischer Sicht eine „matrialis- verse as food. You have sung it into your tische“ Weisheit, wobei wir uns erinnern, own possession. Give us an aftershare in dass die Materie nur eine geistlose Reduk- this food (in: Chattopadhyaya, 104). tion der Mater (~ Mutter) ist. Im Begriff Chandogya selbst ist diese Reduktion noch Die Silbe OM ist die Schnittstelle zwischen nicht angekommen, denn das ursprüngliche Körper und Geist, sie ist Anfang und Ende Wort chandoga bedeutet chandas-Singer, des singenden Wünschens und des wün- wie Chattopadhyaya darlegt, und chandas schenden Singens: kombiniert in sich die Komponenten Zau- berspruch, heiliger Text und Metrum, es be- “Om! Let us eat. Om! Let us drink! Om! deutet also so etwas wie rhythmisches Spre- Deva, Varuna, Prajapati, Savitri, gather chen; gleichzeitig kann chandas mit der food here. O Lord of Food! Gather food Wurzel *chand verknüpft werden, die ge- here. - Yea, gather it here. Om!” Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 471

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Das Chandogya Upanishad liefert selbst die wissheit des Erfolgs in sich birgt, denn OM Definition des OM : ist die Quintessenz aller Essenzen. Mit die- ser Gewissheit aber ist kein Raum mehr für “Which one is the Rik? Which one is the Furcht und Gefahr. In der akustischen Pro- Saman? Which one is the Udghita?” - duktion der Silbe OM ereignet sich die Thus has there been a discussion. The Wandlung von Materie zu Geist, könnten Rik is speech. The Saman is breath (pra- wir westlich verkürzen, wüssten wir nicht na). The Udghita is this syllable “Om”. aus der Paläomentalität, dass schon der Verily, this is a pair - namely speech and Atem ~ Äther (< I) geistvoll ist, er ist Träger breath, and also the Rik and the Saman. der Seele und kommt in der Stimme des This pair is joined together in this sylla- Menschen, auf paläomentaler Clan-Ebene ble “Om” (in: Chattopadhyaya, 105). auch in der Stimme des Totem-Tiers, zu sich selbst, was wir im 6. Band der Kynoso- Rede und Atem kommen zusammen im phischen Zeitreise als vom Tier entlehnte OM: Das kann nur nachvollziehen, wer z.B. menschliche Identität erkennen werden. buddhistische Mönche das OM hat intonie- Gesteigert wird dieses Ereignis durch hym- ren hören - man spreche OM wie das eng- nisches Sprechen, d.i. metrisch gegliedertes lische Home aus, aber nicht mit der Kopf- Sprechen. Weiter intensiviert wird der Vor- stimme, sondern mit Bauch- und Bruststim- gang als Gesang - und wie ein Gespräch kein me und aspiriere dabei das H- so intensiv, Monolog ist, so ist Gesang in der Paläomen- dass man selber hört, wie das hauchende talität immer chorisch. Die vedischen Dich- Ausatemgeräusch auf dem Weg vom h- zum ter laden Indra im sechsten Mandala des -ome vom bloßen Geräusch zum sinntra- Rig-Veda ein, im Gana (~ Clan) Platz zu neh- genden Klang gewandelt wird. Ziel des ge- men und zu singen: samten Chandogya Upanishads ist die Iden- tifikation von Udghita und OM : Then take thy seat with us amidst the gana and sing that we may obtain food The syllable OM comes into existence - we who are singing (in: Chattopad- through a process of incubation that hyaya, 110). gives rise to more and more refined pro- ducts: from the material worlds emerge Indra, der höchste Gott, soll im Chor der the three Vedas, their verbal counter- Fürbittenden mitsingen und entspricht parts; from the three Vedas emerge the funktional dem Weißen Hund, an den sich three sacred sounds, that also stand for unsere singenden Hunde wenden mit der the three worlds; and from these three Bitte um Nahrung: sounds OM comes into being, which is the entire world, This is most remarkable, because this is precisely what our chanting dogs of the so fasst Patrick Olivelle (215) in seiner Study of “Chandogya Upanishad” said and did Chandogya Upanishad 2.23.1 die Entstehung (Chattopadhyaya, 110). und Funktion des OM zusammen, unsere Ana- lyse des OM textimmanent bestätigend: Da die singenden Hunde - mit Hölderlin zu reden - kein Gespräch mehr sind, sondern Indeed, the syllable OM is characterized as Gesang, gehört Indra zu diesem Gesang da- “immortal and free from fear / danger”, zu wie jener Weiße Hund: Durch Gesang entsteht „Harmonie“ zwischen dem höchs- und so bekräftigt Olivelle (216) unsere Ein- ten Gott und den Fürbittenden, und durch schätzung, dass das Singen der Hunde, mit Gesang entsteht Nahrung, zuerst geistig- der Silbe OM beginnend, bereits die Ge- seelische Nahrung in Form von Weisheit. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 472

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Chattopadhyaya verkürzt die Dimension ler Rüstung zur Welt kamen, ob nach Indien dieses Gesangs beträchtlich, wenn er die oder in Indien. Hier ist Chattopadhyaya Bitte um Nahrung aufs tägliche Brot redu- gegenüber Joshi, aber auch gegenüber Oli- ziert - Brot und Wein sind mehr als nur Sät- velle im Vorteil, denn er rekonstruiert im tigungsmittel und Durstlöscher: Udghita der singenden Hunde diese indo- arische Vorgeschichte bzw. bietet deren Re- By placing the highest value on the Konstruktion an (mit von ihm selbst bemerk- material means of subsistence, - by sin- ten auffälligen Parallelen zur vor-indo- ging only of food and of eating and of arischen Kultur, was für eine gemeinsame drinking, - these chanting dogs were, Quelle beider Phänomene spricht), während again, sticking strictly to the original Ve- Olivelle unser Udghita der singenden Hunde dic path (Chattopadhyaya, 112), aus seiner Studie zum Chandogya Upanishad ausblendet und nur noch das zum solis- und wir können ergänzen: Sie befanden tischen Singen des Priesters gewandelte Aus- sich auf dem ursprünglichsten Teil dieses ve- atmen als Ziel (an)-erkennen will: dischen Pfads; dieser Pfad läuft noch nicht durch eine hierarchisierte Gesellschaft, wie The “breath in the mouth” ... is presen- Frau Joshi in ihrer angeblichen Wider- ted as the sixth beyond the five vital legung von Chattopadhyayas Lokayata- functions ... : the sixth, which is homo- Studie behauptet: Die vedischen Inder seien logized with the “udghita” and the sun, immer hierarchisiert gewesen und nie „pri- the knowledge of which permits the mitiv“ - so drückt man sich aus, wenn man priest to secure all his desires through über die Vorfahren spricht -, die vedischen his singing (Olivelle, 217). Inder sind also als „Hochkultur“ entwick- lungslos vom Himmel gefallen und, jetzt Hier findet sie wieder statt: Die Privatisie- wird es besonders widersprüchlich: Sie hät- rung des kollektiven Gesangs zum solis- ten den vor-indo-arischen Indern die Kultur tischen Auftritt, und ihr entspricht der pri- gebracht. Diese werden doppelt enteignet: vate, monopolistische Besitz am Erfolg, wie Zuerst vom idealistischen Ansatz Joshis, wir ihn schon bei den Königen erkennen dann von der heutigen Infragestellung der konnten, auch wenn der später mehr oder indo-arischen Einwanderung: Man habe in weniger großzügig (um)-verteilt wird: der Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts diese Theorie erfunden, um den Indern zu zei- The knowledge of which permits the gen, dass Hochkultur eine ausschließlich priest to secure all his desires through arische Angelegenheit sei. his singing ...

Um diesen offensichtlichen Unsinn aus der Nicht so bei den singenden Hunden: Hier Welt zu räumen, muss man aber nicht das gilt noch das echte Wir statt des Ichs der Kulturgefälle nur verlagern von der Einwan- Priester und des verlogenen „Wir“ der derungstheorie zu seiner Entstehung inner- Könige. Es ist verständlich, dass alle Her- halb Indiens selbst, sondern man sollte die kunftslinien zu dieser clanmäßigen und Maßstäbe in Frage stellen (oder auch legiti- paläomentalen Organisation in der ve- mieren), die ein Kulturgefälle allererst ent- dischen Tradition möglichst gekappt wer- stehen lassen. Die vor-indo-arischen Kultu- den, um Funktion und Leistung von Priester ren Indiens waren anders, aber auf ihre Wei- und König noch mehr zu profilieren. se ebenso kultiviert wie die Indo-Arier, die ih- re heute rekonstruierte „Hochkultur“ auch Dass aber ihre Vorgänger dieselbe Funktion erst einmal entfalten mussten und die nicht, und Leistung aus einer stammes- und clan- wie Athene aus dem Haupte des Zeus, in vol- mäßig strukturierten Gesellschaft heraus Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 473

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und nur für diese praktizierten, ist hinrei- It is during the mid-summer drought, chend nachgewiesen, z.B. durch die Studien when, as the vrata-rhymes describe it, Alföldis; und innerhalb des Chandogya Upa- “the Ganga is sunken and the sky but a nishad soll ja unser Baka Dalbhya gerade heap of ashes”. Naturally, the vrata is de- durch das Beispiel der singenden Hunde signed to fulfil the desire for rain, for und nicht das eines solistisch singenden plenty of water. The peasants sing. They Priesters vom richtigen Pfad zur (vedischen) sing of the shower and in the song they Erkenntnis überzeugt werden. Wenn dieser see the scorched earth submerged and ursprünglichste Teil des vedischen Pfads the children swimming merrily. And they noch nicht durch eine hierarchisierte Gesell- also act. They create the rain. They hand schaft läuft, dann durch einen clanmäßig a jar on the tree, fill it with water and organisierten Stamm, in dem Gesang noch bore holes in it. The jar is the cloud. Wa- chorisch und noch nicht solistisch ist, in dem ter drips from it. It rains. That is how they durch Gesang ein kollektives Wünschen kol- enact in fantasy, the fulfilment of the lektiv ausgedrückt und kollektiv erfüllt wird desired reality (Chattopadhyaya, 114). und in dem ein Sänger noch kein Star ist, sondern jemand, der Wünsche erfüllt, für Aus Chattopadhyayas Perspektive sind die sich und gleichzeitig für alle anderen Sän- Bäuerinnen schon verschwunden, aber wir er- ger und Nichtsänger. So sind wohl auch die innern uns an die saharische Göttin im Lotus- „Tier-Musikkapellen“ aus Palästina und sitz (> II, 250: Abb. 20), die von Pfählen um- dem Tell Halaf und dem frühen Sumer zu geben ist, an denen gefüllte „Bocksbeutel“ verstehen (> III, 214-31), und in Bengalen hängen. Um diese Frau, die im Verhältnis zum fand Chattopadhyaya dazu noch Parallelen Paar links von ihr gut den dreifachen Raum aus dem 20. Jahrhundert - die Vratas: einnimmt und deshalb als Göttin bezeichnet werden kann, um diese Göttin also sind klei- These are folk-rituals, often seasonal, ne Szenen angeordnet mit Rindern, Hunden performed more particularly by peasant und Vogelköpfen. Die gefüllten Beutel in der women ... The nucleus of a “vrata” is a Sahara entsprechen den mit Wasser gefüllten desire. Clustering round it are rhyme, Krügen in Bengalen - das Felsbild ist wahr- riddle, song, dance ... All these are meant scheinlich die zusätzliche pictorial represen- to represent the desire as if it were al- tation des Regenmacher-Zeremoniells, das ready fulfilled (Chattopadhyaya, 113). vor der Felswand (in der Zeit der Hundstage?) durchgeführt wurde - mit einem kleinen, Sind uns aus Palästina und Mesopotamien maskierten Mann, der vor einer Frau kniet, nur noch die pictorial representations über- und mit Rindern, Hunden und Vogelköpfen. liefert, so können wir mit den singenden Wie zur Illustration und zur Bestätigung zog Hunden und den bengalischen Vratas die eine Wolke über die Szene in dem Moment, Szene vervollständigen. Hier geht es nicht in dem sie fotografiert wurde. Natürlich hat wie in der monotheistischen Religion da- weder diese noch irgendeine andere Wolke rum, sich vor dem einen Gott zu erniedri- ursächlich etwas zu tun mit dem Zeremoniell, gen, sondern die Götter einzuladen, am Fest das die Präsenz der Wolke durch ihre Re-Prä- teilzunehmen - mögen sie als Bär oder sentation als „Bocksbeutel“ oder Krug er- Weißer Hund erscheinen. Durch kollektive zwingen will. Warum also wird dann solch ein Zeremonielle, nicht durch Solo-Auftritte, Zeremoniell durchgeführt? Wenn die benga- werden Wünsche artikuliert und voraus- lischen Bäuerinnen und Bauern ihre Kinder eilend erfüllt. Man gibt wenig und erhält glücklich in Teichen schwimmen sehen, die viel. Die Bäuerinnen in Bengalen führen das längst ausgetrocknet sind, dann haben wir es vasu dhara vrata auf, um zur Zeit der Hunds- nicht mit einer materiellen, sondern mit einer tage Regen zu „realisieren“: psychologischen Realität zu tun: Die Gesänge Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 474

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betäuben das Gefühl der Hilflosigkeit und the ritual sexuality of the Lokayatikas Ausgeliefertheit an eine feindliche Natur. Das als part of the matriarchal-agricultural Gefühl, die Misere durchs Zeremoniell zu context überwinden, das ist die Realität. Natürlich ist die Natur nicht so entgegengesetzt, wie die sehen will, dann sitzt er dem Vorurteil des westliche Formulierung es suggeriert: Dass späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf, mit bengalischer Sommerhitze und Dürre die matriarchale Strukturen hätten sich - wenn Hundstage und der Sirius zu identifizieren überhaupt - erst im pflanzenproduzierenden sind, dürfte vor diesem Hintergrund nicht Neolithikum entwickeln können. Wenn ma- mehr nur als bloße Anmutung erscheinen. triarchale Strukturen tatsächlich mit der Für die saharischen Rinderzüchter ist daher weiblichen Beschäftigung mit Pflanzen die Teilnahme von Rindern und Hunden am korreliert sind, dann müssen sie älter als das Zeremoniell unabdingbar: Gelingt es, die Neolithikum sein. Umgekehrt spricht vieles Hunde zu integrieren, zum irgendwie gear- dafür, im Überwiegen der Viehzucht viel- teten Mitmachen zu überreden, dann wird leicht nicht den Beginn, aber den wesent- auch der Sirius als Hundsstern wieder koope- lichen Katalysator der Patriarchalisierung zu rativ werden. Ob in Bengalen auch Hunde vermuten. Dass dies keine gesetzmäßige Ent- mit von der Partie sind, ist leider nicht über- wicklung war, zeigen die saharische Göttin, liefert. Aber die strukturelle Gleichheit des umgeben von Rindern und Hunden, und das bengalischen Zeremoniells mit dem ve- Paar links von ihr. Wahrscheinlicher aber ist, dischen Ritual der singenden Hunde und der dass matriarchale Strukturen nur zum Teil saharischen Szene sowie die Präsenz von Hun- aus Pflanzensammeln und/oder -produktion den im vedischen wie im saharischen Zere- entstanden sind, wie die paläolithisch- moniell lässt Gleiches auch für Bengalen ver- mesolithisch-neolithische Tradition der muten. Bei soviel Gleichheit sollten die Diffe- Großen Göttin nahelegt. Nichts Vergleichba- renzen nicht verschwiegen werden: res in dieser Kontinuität ist für eine männ- liche Gottheit nachweisbar. So trickreich The desires behind the Vedic songs Chattopadhyaya vorgeht, es hilft ihm alles were characteristically masculine while nichts, er wird im Tricksen noch übertrumpft those behind the vrata songs are cha- von Shubhada A. Joshi, die ja angetreten ist, racteristically feminine (Chattopad- Debiprasad Chattopadhyaya zu widerlegen. hyaya, 116).

Bäuerinnen in Bengalen, männliche Priester Frau Joshi oder: Wie der Hund aus in den Veden. Ist es die Betonung der Vieh- dem Diskurs getilgt wird - und die zucht, die zur Maskulinisierung führt? Die Symbolik der singenden Hunde vedischen Inder sind auch Ackerbauern, aber ihr Prestige gewinnen sie in und mit Natürlich erkennt auch Frau Joshi - der Viehzucht. Für Chattopadhyaya ge- wie wir und wie Chattopadhyaya - die rinnen sie zu reinen Viehzüchtern, die er singenden Hunde als Symbol. Joshi weist gegen die vor-indo-arische, angeblich rein auf zahlreiche weitere Tier-Symbole in den agrarisch ausgerichtete Bevölkerung stellt: Veden und den Upanishaden hin und er- Für ihn beginnt das Neolithikum mit der klärt diktatorisch, weil ohne jede weitere Pflanzenproduktion, wir wissen aber, dass Einbettung des Tier-Symbols in die Be- das Sammeln und erste Kultivieren von wusstseinsentfaltung: Pflanzen schon viel früher begonnen hat, nämlich im ausgehenden Paläolithikum, These animal symbols are not totems as und dass es wahrscheinlich Sache der Frauen Debiprasad (~ Vorname Chattopad- war. Wenn Chattopadhyaya (116) hyayas) considers them to be! Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 475

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Das ist natürlich richtig für die Zeit der Upa- Joshi, 41). Auch im Rig-Veda lesen wir mit nishaden und wahrscheinlich auch schon für Joshi (41): The father is the protector of the die Zeit der Veden, aber die Funktion unse- son. Und wer schützt die Tochter? Ach ja: res Hunde-Udghita, einen Zweifelnden vom rechten Pfad zu überzeugen, blendet Joshi The Vedic people though desired the aus: Das adressatenspezifische Argument, brave and valliant sons, daughters were das überzeugen soll, ist in der Tat ein kollek- not unliked (Joshi, 41). tivistisches, wovon wir uns eben überzeu- gen konnten: Im Rahmen der Upanishaden Eine universitäre Karriere war wohl für Frau und der sie hervorbringenden hierarchisier- Joshi nur möglich, wenn sie die Wertmaß- ten Gesellschaft sind die Tier-Symbole kein stäbe ihrer männlichen Kollegen und Vor- totemistisches Zeichen mehr, sie waren es fahren unhinterfragt akzeptierte. Dass sie aber vorher. Wenn Joshi erwähnt, dass die dann auch die patriarchale Farbmetaphorik vedische Weisheit an Priester übermittelt als das Nonplusultra übernahm, gehört zu wurde von einem „Stier“ oder einem diesem Mechanismus dazu. Und innerhalb „Schwan“ als Erscheinungsform der Gott- der Veden und erst recht der deutlich spä- heit, dann wissen nicht nur wir Kynosophen, teren Upanishaden gilt selbstverständlich was es mit diesen Erscheinungsformen auf nur noch diese Farbmetaphorik. So können sich hat - das habe ich schließlich in den ers- wir mit Joshi vom Weißen Schwan auf den ten beiden Bänden unserer Zeitreise dank Weißen Hund in unserem Udghita übertra- vieler „Vorarbeiter“ hinreichend belegt; gen, dass auch er the symbol of path of und was diese besondere Tier-Mensch-Rela- knowledge of light and of knowledge itself tion für die Entfaltung des menschlichen Be- darstellt, und nichts anderes hat auch Chat- wusstseins impliziert, können wir im 6. Band topadhyaya behauptet. Während der aber der Kynosophischen Zeitreise sehen. Von das kollektive Moment am Weißen Hund dieser bewusstseinsgeschichtlichen Proble- und den other dogs betont, weiß Joshi ohne matik weiß Frau Joshi nichts, statt dessen weitere Begründung, dass die other dogs ih- stürzt sie sich frohgemut auf die Farbsym- rer vier an der Zahl sind, was der von Chat- bolik: Der Schwan topadhyaya benutzten Übersetzung nicht zu entnehmen ist und von Joshi deshalb zu is white and whiteness means purity erläutern wäre - ihre Methode, mit dem also. In Candogya (!) itself Swans also Text umzugehen, ist die, die sie Chattopad- occur in the story of Raikva and Jansruti hyaya vorwirft: Sehen wir uns an, wie Joshi Pautrayana (4.1). So swans are the sym- zu ihrer indirekten Festlegung auf vier bol of path of knowledge of light and Hunde kommt; dabei fallen wichtige Er- of knowledge itself (Joshi, 129). kenntnisse für uns ab:

Akzeptieren wir diese Setzung, ohne sie mit The chief amongst the dogs is described dem Hinweis auf die paläomentale Farbme- as white one (Joshi, 130). taphorik zu relativieren - das ist im Moment nicht nötig, obwohl schon jetzt deutlich Das ist auf den ersten Blick richtig, etwas be- wird, wie sehr Frau Joshi nicht nur die pa- denklich erscheint die Benennung des triarchale Farbmetaphorik verinnerlicht hat: Weißen Hundes als chief, weil damit unge- Über die vedische Gesellschaft informiert sie filtert eine Hierarchisierung angenommen uns vollkommen affirmativ z.B. und ohne wird, die so in gewisser Weise auch nicht zu mit der weiblichen Wimper zu zucken, dass leugnen ist, die aber gerade den auch vor- the aim of marriage was to get a son (Joshi, handenen kollektivistischen Akzent von 40). Und im Rig-Veda heißt es: The wife is vornherein eliminiert. Das Potenzial des the home, she is the lap to one to rest (in: Texts wird so reduziert. Immerhin ist für Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 476

476 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

Joshi ab hier nur noch der Weiße Hund Vedas and Vedic symbol of Light i.e. weiß, während eine Seite früher auch Baka cow also accompanies him. So the chief Dalbhya von weißer Farbe war, was unse- white dog is the Vayu or Chief Prana as rem Text auch nicht zu entnehmen ist (hier Candogya 4.3.4 equates between the gilt also der gleiche Einwand wie oben): dog and Vayu. The chief prana is always Baka soll etymologisch Kranich bedeuten, described as the supporter of speech, und deshalb Baka, like Swan is also white eyes, ears, mind, etc. Throughout the and stands for purity (Joshi, 129). Es gibt Candogya Upanisad wherever Prana is tatsächlich fast weiße, aber keine rein mentioned as Supreme, it is always weißen Kraniche, und zum in Indien vor- mentioned along with speech, eyes, kommenden Sarus-Kranich informiert uns ears and mind. So the other dogs may Grzimeks Tierleben (8. Band, Vögel 2, 113 & be treated as symbol of these. It is the Abb. S. 119 & Abb. S. 120, 2), dass er alles an- Chief Prana, surrounded by the sub- dere als weiß ist. Er ist der einzige in Indien ordinate Prana is the topic of this Ud- vorkommende Kranich: Sollte Baka weiß ghita Vidya. Sauva Udghita in other bleiben, kann es sich nicht um den indischen words is Prana as Udghita. The sage Kranich handeln. Diese indirekte, aber Baka Dalbhya witnessed this Vidya offensichtlich misslungene Gleichsetzung (~Weisheit). That is why he worshipped Bakas mit dem Weißen Hund einerseits und main Prana as Supreme and was given dem Gott in Erscheinung eines weißen Tiers the name Baka Dalbhya (Joshi, 130). andererseits ist sicher verlockend aus ve- discher Sicht, aber nicht nur zoologisch kei- Wir können hier nicht alle Gleichsetzungen neswegs überzeugend: Sollte Baka über die analysieren, die Joshi berechtigt oder unbe- Farbe identifizierbar sein mit dem Gott, der rechtigt vornimmt: das Wissen hat und es übermittelt, weshalb sollte er dann an der Szene mit den singen- Wichtig ist zunächst die Erkenntnis, dass sie den Hunden als Zuschauer teilnehmen? Er über die zunächst gar nicht limitierten wüsste dann ja schon alles... Kommen wir al- Fähigkeiten, die auf Prana basieren - man so wieder zurück zu der spannenden Frage, beachte das etc. am Schluss der Aufzählung: wie es Joshi gelingt, die unbestimmte An- zahl von other dogs auf vier zu reduzieren: The chief prana is always described as Der Hund heißt im Sanskrit auch Svan(a) : the supporter of speech, eyes, ears, mind, etc. - The word Svan is derived from the root “Sva” literally means breath, or swift über den Gott Dattatreya und die ihn um- moving, or panting one, the strong in gebenden vier Hunde die Symbole generell breath etc. In Rigveda 1.161.13 Sayana und nun auch im Chandogya / Candogya explains the word Svanam by Vayu. Upanishad auf vier reduziert: 1.179.4 he explains the word Svasantam as “all powerful”, “strong in breath”. Throughout the Candogya Upanishad “The Great Moving one” or “All power- wherever Prana is mentioned as ful” or “One breathing in space or sky” Supreme, it is always mentioned along is the Supreme. In Rigveda Sarama (> with speech, eyes, ears and mind. 156-7 & 241-4) is the messenger of Gods and helps them to search the stolen Keine Rede mehr von den anderen, unbe- cows by Panis. Dog as a symbol of know- nannten Fähigkeiten, angedeutet eben ledge also occurs in the pantheon of noch als etc. Jetzt endlich hat Joshi die Leser God Dattatreya (> III, 607). Four dogs vorbereitet auf die Identifikation dieser nur surrounding Datta are symbol of four noch vier Fähigkeiten mit den other dogs: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 477

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So the other dogs may be treated as sich nun den Nahrung ersingenden Hunden symbol of these. zuwenden will. Doch zuvor sollten wir den Aspekt des Körperlichen noch etwas präzi- Jetzt sind es also nur noch vier other dogs. sieren, denn an ihm hat der Hund alias Was hat sie damit gewonnen? Vergessen wir Svana beträchtlichen Anteil - und diese Er- nicht, dass es um die Widerlegung Chatto- kenntnis verdanken wir Frau Joshi: padhyayas geht: Sah der in den singenden Hunden die Erinnerung an die totemistische, The dog or Svana has connection with vor-vedische Organisation der Indo-Arier, Vayu. The word Svan is derived from folglich ein auf dem Clan als Einheit basie- the root “Sva” (Joshi, 130), rendes Kollektiv, das sich mit dem Stammva- ter, hier einem Weißen Hund, identifiziert, und diese Wurzel *Sva bedeutet wörtlich so kann Joshi nun Chattopadhyaya als wi- Atem, schnelle Bewegung usw., wie wir derlegt hinstellen, hat sie doch jeglichen ge- oben schon sehen konnten. Die schnelle Be- sellschaftlichen Gehalt aus dem Udghita wegung möchte ich zunächst mit schnellem weitestgehend eliminiert bzw. spiritualisiert. Ein- und Ausatmen gleichsetzen und dann Wir wissen, dass dies eine Enthistorisierung erst auf andere Bewegungsformen übertra- eines historischen Vorgangs ist: Mithin reine gen. Je schneller ein- und ausgeatmet wird, Ideologie. Genau dies aber wollte und sollte um so mehr Umsatz von Äther erfolgt. Das sie Chattopadhyaya nachweisen. Aber seien bedeutet, dass ein schnell atmender Hund wir nicht undankbar: Wir verdanken Frau ein Maximum an Ätherdurchsatz hat. Sein Joshi auch konstruktive Erkenntnisse, die wir Hecheln wird u.a. durch schnelle Laufbewe- bei Chattopadhyaya nicht ganz gewinnen gung und/oder hohe Temperaturen provo- konnten: Dazu gehört die Erkenntnis, dass ziert, sodass, wenn die von Joshi vorge- im Chandogya Upanishad (4.3.4) die Iden- schlagene Etymologisierung stimmt, ein he- tität von Prana und Vayu ausdrücklich be- chelnder Hund zum Symbol Sva wird von je- glaubigt wird. Dazu müssen wir zunächst mand, der einen hohen Ätherdurchsatz wissen, dass unser aufweist. Was das bedeutet, können wir er- messen, weil wir erkannt haben, welchen Baka Dalbhya worshipped OM by means Rang der Äther als Seelenkonzeption im of Prana and became chief amongst the Weltbild nicht nur der indo-arischen Inder sages of Naimisa forest (in: Chandogya einnimmt. Der Hund wird zum Symbol des Upanisad 1.2.13; in: Joshi, 129). Äthers und desjenigen, durch den dieser Äther hindurchzieht. Wir sahen, dass der Prana wird an mehreren Stellen im Chan- Äther (~ Wind, reine Luft, Ton, Klang) in der dogya Upanishad (1.2.10, 11 & 12) identifi- Silbe OM zu sich selbst kommt, in der ziert mit dem Körper oder mit Körper- Artikulation dieser Silbe seine eigentliche lichem: Ein anderer Weiser als Baka wor- Bestimmung als „begeisternder“, d.h. Geist shipped OM by means of Prana und wird ge- stiftender Faktor erfährt. Nachdem wir uns nannt the essence of body (Aga) i.e. Prana diesen Sachverhalt in Erinnerung gerufen (Joshi, 129). Vayu wird der Chief Prana ge- haben, wollen wir uns mit Frau Joshi endlich nannt, und diese Identifikation finden wir den singenden Hunden zuwenden: mit Joshi im Chandogya Upanishad an der Stelle 4.3.4: Wir können Vayu vielleicht als The dogs asked for food. But the food hierarchisierte „Essenz“ von Prana anneh- also is symbolic one. Because the food is men. Wenn wir aber schon bei der essence asked from Varuna, Prajapati and of body vorbeigekommen sind, ist es nicht Savita. Savita and Prajapati also are mehr weit zur Nahrung, die die singenden symbols of the Supreme or the Highest. Hunde erbitten. Das spürt auch Joshi, die The Sun is called Annapati. In the same Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 478

478 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

Upanisad Sun is called the store of ho- merkung hinzufügen, die man bei Brüder- ney. The anna which is there in Sun is fi- lichkeitsbeschwörungen in hierarchisierten gurative one and that the worship as Gesellschaften nie hinzuzufügen vergessen well as prayer is connected with Udghi- sollte: ta or OM also suggested by stating that they uttered the prayer asking food ... so all should live with peace, frater- from the Sun thrice. It is OM which has nity, tolerance and equality ... three constituent letters that is why Santi which is Udghita or OM is uttered Im patriarchalen Kontext sind all nur die, die thrice. Similarly this prayer is uttered dazu gehören, deshalb gibt es zu fraternity thrice. The word suggests that all are auch nicht das für wirklich alle unerlässliche staying under the fatherly shelter of Pendant Schwesterlichkeit. Dass all in vor- OM or Udghita. It is the samatva which patriarchal organisierter Gesellschaft etwas is the guiding principle, so all should mehr bedeutete, entgeht Frau Joshi, der es live with peace, fraternity, tolerance eigentlich gerade auf diese Erkenntnis hätte and equality (Joshi, 130). ankommen sollen. Sie bekämpft stattdessen den, dem sie diese Erkenntnis hätte verdan- Nahrung ist aber nicht nur symbolisch zu ken können: Debiprasad Chattopadhyaya. verstehen, räumt Joshi ein und gewinnt so einen Vorteil über Chattopadhyaya, der in Eine enttäuschende Studie zur Philosophy food ausschließlich materielle Nahrung se- of Realism - a Study Based on Chandogya hen wollte: Upanishad legte 2003 K.B. Archak vor. Er setzt sich vom idealistischen Ansatz ab, The food in Sauva Udghita also can be ohne Joshis idealistische Arbeit überhaupt taken literally as in Candogya itself food zur Kenntnis zu nehmen, kennt aber auch or anna is stated as primary condition of nicht Chattopadhyayas nun wirklich unidea- Prana and it is treated as necessary for listische Ergebnisse. Mit Archak landet man the survival of Prana (Joshi, 130). in der plattesten Pseudo-Wissenschaftlich- keit, und ich erwähne ihn nur, um den Ge- Food or anna als Honig ist so wenig wörtlich halt der Arbeit Chattopadhyayas zu profi- zu verstehen wie die Sonne, die der store of lieren: Auch für Archak (57) ist Baka Dal- honey ist, oder wie das Land, durch das bhya ein Lernender, der Milch und Honig fließen; und dennoch kommt auch der materielle Aspekt zu went out for Vedic study. With a view to seinem Recht als unerlässliche Basis des favouring him, Mukhya Vayu in the Geistigen, um wieder das westlich-gegen- form of dog, accompanied by other dei- sätzlich zu formulieren, was paläomental ties like Rudra etc. who also were in gui- konvergiert zu einer höheren Einheit: se of dogs, appeared before Baka-Dal- bhya. All disguised gods then approa- ... food or anna is stated as primary con- ched Mukhya Vayu and asked to initia- dition of Prana and it is treated as ne- te into the method of meditation upon cessary for the survival of Prana ... the Udgitha Brahman (Archak, 57).

Diese höhere Einheit ereignet sich in der Ar- Die Hunde sind also jetzt verkleidete Götter, tikulation des OM. Übergehen wir großzügig einen Weißen Hund kann Archak nicht Frau Joshis patriarchale Akzentuierung - die erkennen, und obwohl Baka Dalbhya der Leser können Joshis fatherly shelter of OM eigentliche Initiand ist, geraten ihm die ebenso ummodulieren in eine unpatriarcha- Götter selbst zu aufklärungsbedürftigen le Tonart wie Joshis letztem Satz jene Be- Nichtwissenden - meint Archak (57): Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 479

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Those gods recieved (!) the secret chapters also sing about the glory of meaning of the hymns. They then, Udghita and Sama only, but using having uttered “hinkara” (!) started other symbols and names (Joshi, 131). praising the Supreme Brahman, the Indweller of Mukhya Vayu: “May the Diese anderen Symbole und Namen dürften Deva, Varuna, Prajapati, Savitr bring us adressatenspezifisch ausgewählt sein, um food. O Lord of food, bring here food. anders totemistisch geprägte Konversions- Yea, bring it”. kandidaten von der Weisheit der Veden zu überzeugen. Nicht der singende Hund allein Was unter food zu verstehen, hält Archak kann die totemistische Vergangenheit zu- nicht für erläuterungsbedürftig. Mukhya künftiger Indo-Arier beglaubigen, es muss Vayu und Supreme Brahman fließen für auch andere Totemzeichen gegeben haben. Archak zusammen in den angerufenen Göt- Halten wir aber fest, dass dem Hund und tern Deva, Varuna, Prajapati und Savitr: keinem anderen Tier die wesentlichen Er- kenntnisse in den Mund, pardon: in die They two are called “Prajapati” for they Schnauze gelegt wurden. Bringt ein kleines nourish all the beings (Archak, 59). Entgegenkommen wie singende Hunde nicht den gewünschten Effekt, dann muss Und als diese als Hunde verkleideten Götter der missionierende Priester der vedischen endlich Brahman kennengelernt haben, er- Inder eine hundsgestaltige Gottheit einfach halten sie die ersehnten Früchte: ins vedische Pantheon aufnehmen, so z.B. den Gott Bhairava, der eindeutig hündisch Those gods like Rudra etc. having konnotiert ist und mit dem wir uns gleich be- known Brahman thus, meditated upon fassen werden. Aber bei weitem nicht alle Him and obtained their desired fruits, hundemythologisch geprägten Inder konn- ten von der vedischen Weisheit trickreich so schließt Archak (59) seine knapp zwei überzeugt werden. Im Tantrismus hat sich Seiten lange Analyse der Szene mit den sin- dieses frühe Beharrungsvermögen konser- genden Hunden. Die zentrale Symbolik des viert; dabei ergibt sich die Unvereinbarkeit OM spielt für Archak natürlich auch keine von vedischen und tantrischen Ritualen erst große Rolle. Hätte ich nur seine, nämlich mit der weiteren Ausdifferenzierung und die bislang jüngste Arbeit zum Chandogya „Spiritualisierung“ der vedischen Zeremo- Upanishad gekannt, ich hätte den Text ver- nielle. Ein Vergleich bringt an den Tag, dass ständnislos abgelegt. Ein anderer Hunde- in der Frühzeit die Zeremonielle beider Rich- sohn aber erklärt im Chandogya Upanis- tungen tatsächlich konvergierten: had, dass Udghita identisch mit Sama ist:

In 1.9.3 and 4 of Candogya another son Vedische und tantrische Rituale of Sunaka (~ Çunaka; > 467) is mentio- ned as expert of Udghita Vidya. He Vedische Rituale wollen wie der told Udarasandilya that Udghita is Sa- Tantrismus (mit der Dualität Siva - Shakti) ma, it is Akasa. So we may conclude und wie der Taoismus (mit der Dualität Yin saying that Udghita is OM, is Pranava, und Yang) die Einheit hinter der Vielfalt der Sama, Aditya, Prana, etc. It is the cen- Erscheinungen sichtbar und erfahrbar ma- tral topic of discussion of Candogya chen. Für die vedischen Seher waren die Upanisad (and even other Upanisads Hauptkräfte des Universums das Feuer und also, but we have argued in detail das Wasser, analog dazu (der obere Himmel about Candogya only). Not only the als akasha ~ Äther) und die Erde. Das Paar first two chapters but the remaining wurde sexuell konzipiert, und der Himmel Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 480

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war der Vater, die Erde die Mutter. Die Ver- Da ist sie wieder, die Ausgrenzung anderer einigung von Himmel und Erde war not- denn monogamer Sexualmoral als un- oder wendig für die Befruchtung aller weiblicher vor-zivilisiert. Und diese „Zustände“ sind Wesen auf Erden. Diese Vereinigung wurde auch im indo-arischen Epos Mahabharata re-präsentiert durch Zeremonielle, in denen dokumentiert, wenn Pandu zu Kunti sagt: das kosmisch Männliche durch eine Men- schen- und/oder Sach-/Tiergestalt repräsen- Women formerly were not immured tiert wurde, z.B. Butter, Feuer, Pferd (im within houses and dependent on hus- Asvamedha-Zeremoniell; > 236-44) oder das bands and other relatives. They used to gharma genannte Gerät, während manch- go about freely, enjoying as best liked mal, nicht immer, die weiblichen Kräfte by them ... They did not then adhere to durch eine public woman (Joshi, 184) reprä- their husbands faithfully, and yet, O sentiert wurden, handsome one, they were not regarded sinful, for that was the sanctioned usage specially selected for the ritual, which of the times. That very usage is followed also speaks of and explains the impor- to this day by birds and beasts without tance of the prostitute in religious and any exhibition of jealousy ... the practice auspicious functions ... In another va- is yet regarded with respect among the riety the wife of the sacrificer represen- Northern Kurus. Indeed, this usage so ted the earthly feminity through whom lenient to women hath the sanction of the heavenly seed was sought to be gai- antiquity. The present practice, how- ned ... The sacrificer´s wife acted the ever, hath been established but lately ritual woman for all these and she had (in: Chattopadhyaya, 166). also her ritual male in the priest called the Adhvaryu (Dange, in: Joshi, 184). Die nördlichen Kurus sind uns bereits be- kannt (> 453-6); vor dem Hintergrund dieser Im Asvamedha-Zeremoniell tritt an die Stel- Information aus dem Mahabharata wird die le der public woman (> 239) die Hauptfrau Rede des Ktesias von den Hundsköpfigen des Königs, während der Sohn dieser Hure alias Kurus noch plausibler. Die Andeutung die Stelle des Königs beim Hunde-Opfer ein- der Gleichheit von früh-indo-arischen und nimmt. Klarer kann die Identität dieser Ze- nicht-indo-arischen Zeremoniellen mag für remonielle mit dem und die Filiation aus unsere kynosophischen Zwecke genügen - dem, was man Heilige Hochzeit nennt (> III), statt weiter nach Spuren der Heiligen Hoch- nicht belegt werden. Chattopadhyaya (165) zeit bzw. Paarung in den früh-vedischen weist auf die Verachtung der Brahmanen- Schichten zu suchen, ist es ergiebiger, jetzt Priester für die Sexualmoral gewisser in- die tantrischen Rituale näher zu betrachten: discher Stämme hin. Wir können diese Hal- tung - they were indiscriminate like the If agriculture was the invention of wo- beasts - mit der Herodots und „moderner“ men, then it is only logical that agricul- Ethnologen gleichsetzen und bemerken tural magic in its origin should belong befremdet, wie Chattopadhyaya (165) ein exclusively to the province of women. klassisches Eigentor schießt: Here we have an important clue to Tan- trism. For ... Tantrism, too, originally However, the fact is that what was consisted of ritual practices in which looked at with such contempt was some only the women participated. form of marriage relationship prior to the monogamian one and mono- Nehmen wir im Gegensatz zu Chattopad- gamian marriage was fully established hyaya (272-3) an, dass die Anfänge von only with the advent of civilisation. „Landwirtschaft“ in einigen Regionen be- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 481

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reits um -15.000 zu datieren sind, und erin- Nur die female force kann die Fruchtbarkeit nern wir daran, dass Tieropferrituale im Neo- der Erde bewirken, wie wir in Afrika und an- lithikum auch von Frauen durchgeführt wur- derswo (> II, 254-7) an dem Brauch erken- den (> 306: Abb. 37.1), dann können wir mit nen konnten, mit menstruierenden Frauen Chattopadhyaya teilweise einig sein, dass der vor der Aussaat einen Felderumlauf zu ver- Tantrismus ein landwirtschaftlich geprägtes anstalten. Tantrische männliche Yogis müs- Zeremoniell darstellt, das durch den neoli- sen die Weiblichkeit in sich selbst aktivieren, thischen Schub zur Entfaltung der latent und mit C.G. Jung, aber auch mit jenem al- schon viel früher betriebenen „Landwirt- ten Afrikaner (> 585-8: Motiv der Beschnei- schaft“ ausdifferenziert wurde. Die Regen- dung), erahnen wir, dass es im Grunde um macher-Funktion afrikanischer Könige wird die tiefenpsychologisch formulierte Frage von Frauen kontrolliert (> II). Und das Zere- nach dem Anteil von anima und animus im moniell der Dionysien in Griechenland re- Bewusstsein geht. Tantrisch gesprochen: präsentiert u.a. die „Erfindung“ der Land- wirtschaft - die dionysischen Rituale waren The seven lotuses on the “susumna”- unerlässlich für die Befruchtung des Landes cord (~ the central nerve-cord vom und wurden von Frauen durchgeführt, Män- Becken zum Hirn) are ... nothing but the ner waren weitgehend ausgeschlossen, nur seven seats of feminity, which is, accor- als Opfer zugelassen. Die Patriarchalisierung ding to Tantrism, inherent in every hu- dieser Zeremonielle und die Marginalisie- man being (Chattopadhyaya, 281-2). rung des Hundes bzw. der hündischen Göttin habe ich paradigmatisch mit der Home- C.G. Jung als Tantriker - wer hätte das ge- rischen Hymne an Demeter analysiert (> III). dacht? Die sieben Lotus-Blüten haben ihre Die Frauen, die früher an Stelle ihrer männ- eigene Ikonographie (vgl. > II, 246 unten & lichen Kollegen die zentralen Rituale durch- das Sat-Cakra;zu den sieben Lotus-Blüten führten, waren Schamaninnen, und die chi- als Sitz der Weiblichkeit im Menschen: > nesische Bezeichnung des Schamanen allge- Chattopadhyaya, 280, Fig. 1). Om mani pad- mein - wu - zeigt, dass die ersten chinesischen me hum - „Om, das Juwel im Lotus, Amen!“ Schamanen Frauen waren, denn nur die - nicht jedem Buddhisten dürfte die sexuel- weiblichen Schamanen heißen wu und le Dimension dieses täglich zu sprechenden männliche Schamanen werden mit dem Mantras bewusst sein. Wir erkannten die se- speziellen hsi benannt (Göttner-Abend- xuell konnotierte Fruchtbarkeits-Symbolik roth,19992, 98-9). Im Tantra wurden weib- des Lotus schon in der Sahara und in Ägyp- liche Schamanen bhairavis und yoginis ge- ten (> II, 261: Abb. 25), und der Lotus-Sitz nannt, aber die Mehrzahl der tantrischen nicht nur der frühen saharischen Göttin (> II, Schamanen ist männlich - und die Frage ist in- 250: Abb. 20) bedeutet die Exhibition ihres teressant, ob diese Männer als Männer im Ze- Genitals nach Vollzug der Heiligen Hoch- remoniell funktionieren oder als „Frauen“, zeit: Diese Exhibition wurde in Indien, wie wie wir das bereits erkannten an den west- Heinz Hunger berichtet, als Prozession vom asiatischen Galloi und Korybanten (> III, 142). zentralen Ritualplatz zu allen beteiligten Und im Acarabheda Tantra findet Chatto- Dörfern realisiert. Aber wir wollen nicht an padhyaya (278) für uns die indische Antwort: der Oberfläche bleiben: Die sieben Lotus- Blüten sind Stufen der Bewusstheit, und the Worship the five principles (panca tatt- highest lotus on the “susumna” is ... the va), the sky-flower (khapuspa) and the highest seat of consciousness (Chattopad- “kula” (~ archaisches KUR ?) woman. hyaya, 282). Im höchsten Zustand der Be- That will be vamacara (> 462). The ulti- wusstheit ist jede Dualität aufgelöst, becau- mate female force is to be propitiated se, evidently, everything is lost into the pu- by becoming a woman. re all-absorbing feminity which aroused Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 482

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within, meint Chattopadhyaya (282) und lo- dern steht auf ihm. Deshalb muss man den kalisiert den Tantrismus zielsicher, aber oh- Hund als „Reittier“ und folglich den auf ihm ne es zu ahnen, tiefenpsychologisch im ma- stehenden, also nicht reitenden Gott nicht triarchalen Uroboros. Die antike Rede von an die Erfindung der Reitkunst binden. Aber den Hundsköpfigen in Indien und Afrika, in der Figur des Bhairava wird nicht nur der aufgefasst als ein (Bewusstseins)-Kontinent, hundefreundliche indo-arische Gott Indra ist also kein leeres Gerede. Und ob nun die fortgesetzt, auch die ursprünglich vedische Indo-Arier „die“ Kultur nach Indien brach- Mythologie von Rudra wird hier weiter ge- ten oder ob „die“ Inder ihre Kultur aus sich führt, so dass Indra und Rudra in dieser Fi- selbst hervorgebracht haben, das ist für Ky- gur konvergieren. Wie ist dieser schwarze nosophen eine Scheinalternative: Hun- Gott, der auf einem Hund reitet, in den in- demythologisch geprägt waren sie beide, dischen Himmel gekommen? In den Veden sowohl die indo-arischen Inder als auch die wird Rudras grimmiger Charakter betont. drawidischen Inder. Eine späte Synthese aus Die Götter machen ihn zum Herrn der Tiere; den ursprünglich hündisch konnotierten Er- in den späten puranischen Mythen wird er oberern und den hündisch konnotierten an /Siva angeglichen: Jetzt streiten die Unterjochten stellt der Gott Bhairava alias Götter Brahma und Visnu, wer von ihnen Bhairon (> unten & auch > 507-9) dar. der erste ist; darauf erscheint Siva in einem Feuerball. Der fünfköpfige Brahma belei- digt Siva, indem er ihn Rudra (~ schreiendes Baby) nennt. Da erschafft Siva einen riesen- Bhairava - großen schwarzen Mann namens Bhairava, der „demokratische“ Schamane dem er umgehend den Befehl erteilt, Brah- mas vorlauten fünften Kopf abzuschneiden. Das macht Bhairava auch, hält aber nun den Im hinduistischen Pantheon Indiens fünften Kopf Brahmas fest verwachsen an erscheint der Kult des schwarzen Gottes seiner Hand. Siva weiß aber auch jetzt klu- Bhairava (~ der Schreckliche, Furchtbare; gen Rat und empfiehlt eine zwölfjährige schreckliches Kind) auf den ersten Blick wie Kreuzfahrt durchs Universum - in Wirklich- ein Fremdkörper. Aber er ist eine Variante keit wird Bhairava zum Outcast und Bettler, Indras, dessen Status als Gott von den Brah- der wie die Chandalas (> 251) auf Fried- manen immer weiter geschmälert und der höfen und Schädelstätten lebt und sich mit in der puranischen Mythologie durch Bhai- Leichenasche bedeckt. Da er mit dem Ab- rava ersetzt wird. Bhairava ist ein hinduis- schneiden des fünften Haupts zum Brahma- tischer Himmelswächtergott und hat in die- Killer geworden ist, verfolgt ihn eine ser Funktion selbstredend eine Affinität schreckliche Hexe, vor der er sich bei Visnu zum Hund. Er erscheint in acht oder zwölf in Sicherheit bringen will. Der enthüllt ihm, selbständigen Formen, aber auch als Beina- dass er, Bhairava, in Wirklichkeit Siva ist, und me , dessen extreme Form er darstellt: dass er nur nach Benares gehen muss, um Er ist dessen dämonenhafte Variante, die von allem Schrecklichen befreit zu sein. Ge- aus den Augenbrauen Shivas hervortritt. sagt, getan: Bhairava badet in einer Stadt im Sein vahana (~ Reittier) ist der Hund. Das Norden von Benares, der fünfte Kopf fällt Reiten auf dem Pferd wurde erst nach dem ab von seiner Hand, und er selbst wird Poli- Wagenfahren mit dem Pferd erfunden: Ist zeichef der Stadt - hätte Platon Bhairavas der auf einem Hund reitende Gott also eine Karriere gekannt, er hätte ihn als Hund der relativ neue Erfindung? Wir wissen, dass die Polis bezeichnet. Der schwarze Gott Bhaira- alteuropäische Große Göttin vorgestellt va ist also eine Erscheinungsform Sivas, des- wurde als auf dem Stier tanzend. Unser Gott sen enge Verbindung mit dem Hund uns Bhairava sitzt aber nicht auf dem Hund, son- schon bekannt ist - Siva als Bhairava ist Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 483

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Fleischesser und daher sehr potent, wie die Analogie vor zu Bhairava und seinem „Reit- Gläubigen annehmen, und er bestimmt das tier“, dem Hund. Im Avesta hat der indo- menschliche Schicksal und den Tod. In Be- arische Yama einen indo-iranischen Dop- nares glaubt man, dass Yamas Entschei- pelgänger, Yima genannt. Die Ähnlichkeit dungskompetenz durch Siva ausgehebelt ist der Namen setzt sich beim Vater fort: Vi- und dass die, die in Benares sterben, von vanghant ist der Erste Opferer, dem Gott Siva sofort befreit und ins Paradies geführt zum Lohn den bestmöglichen Sohn ver- werden. Diese Aktion führt in Sivas Auftrag spricht, eben den iranischen Yima. Der avan- Bhairava durch. In dieser Funktion ist Bhai- ciert denn auch zum Idealen König in der rava Herr der beiden Hundesöhne von mündlichen Überlieferung wie in der Lite- Sarama, er tritt also an die Stelle Yamas. ratur des Iran - zum König eines Goldenen Bhairava wird meist mit einem Hund darge- Zeitalters, der aber aufgrund einer mora- stellt, oft „reitet“ er stehend auf seinem lischen Fehlleistung in ein hundertjähriges Hund (> 486: Abb. 11), manchmal erscheint Exil gehen muss, um danach von den Div (> er selbst als Hund, kein Wunder, wo er doch 336: Abb. 4) auf grausame Weise zweige- ein Yama-Ersatz ist. teilt zu werden. Von einem Hund bzw. von zwei Hunden als seiner neuen Erschei- nungsform ist in dieser zertrümmerten Va- Yama zur Erinnerung riante des Erzählmusters vom schlafenden Ideal-König nicht explizit die Rede, aber da In den Veden gilt Yama (> 154-6) als in einer anderen Variante Yima nicht stirbt, Sohn des Vivasvat, des Stammvaters der sondern in die Reihe der unsterblichen Kö- Menschheit, der später unsterblich und zum nige aufgenommen wird und in seiner Höh- Gott erhoben wurde. Yamas Mutter ist we- le - analog zu Noah auf seiner Arche - die niger gut bekannt, sie hat keinen Namen, besten Menschen, Tiere und Pflanzen um man weiß nur, dass ihre Gestalt furchterre- sich versammelt, kann man implizit zumin- gend - wie Bhairava - gewesen sein muss. dest folgern, dass der Hund in diesem Dass Yamas Mutter keinen Namen hat, ist (unter)-irdischen Paradies dabei ist, wenn vielleicht ein Hinweis auf eine Tieramme - auch nicht in der herausragenden Position, vielleicht auf eine Hündin oder Wölfin -, der wie er sie beim indischen Yama einnimmt. noch bestärkt wird durch die Tatsache, dass Bhairava erscheint in dieser Erinnerung als Yama einen Zwillingsbruder Manu hat, von eine Verselbständigung ausgewählter Ei- dem alle späteren Menschen abstammen. genschaften seines Vorgängers Yama. Aber Yama ist der erste Tote, der als Erster Toter Bhairava hat noch andere Modelle, auf die im Himmel als König regiert; in vedischer auch Yama selbst zurückgehen kann: Denn Zeit wird er dann zum Gott der Toten be- Bhairavas Transport auf dem Rücken eines fördert. Indem er den Sterbenden den letz- Tiers, hier natürlich eines Hundes, schließt tem Atem von den Lippen pflückt, wird der an unmittelbar an die Tradition des schama- Erste Tote zum Letzten Jäger, zum Jäger des nischen „Reit“- bzw. besser: Transporttiers: letzten Atems. Aus dieser Vorstellung mag die Idee von der stürmischen Wilden Jagd Animals invariably transport novice entstanden sein. Yama hat als Letzter Jäger shamans into the netherworld, some- zwei Assistenten, nämlich jene zwei „vier- times by swallowing, killing, and reani- äugigen“ Hunde, als Paar Sarameya ge- mating them; sometimes by carrying nannt, die in metaphysischer Hinsicht Ya- the shamans on their backs or in their mas verlängerter Arm sind, in psycholo- mouths. By this process shamans return gischer Perspektive als doppelte Projektion to the dawn of time when animals and Yamas in tierischer Gestalt aufgefasst wer- people lived together in paradise den können - hier liegt eine dissoziierte (Smith, 101). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 484

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Bhairava als Yama-Ersatz, als Erscheinungs- solche Behexung jedoch mit Hilfe eines form Sivas, als Schamane: Dieser jetzt als Be- Exorzistenpriesters versichern, der die liebigkeit erscheinende Gestaltwechsel des Besessenheitsgeister durch seine eigene Gottes dürfte ursprünglich eine streng chro- mächtige Schutzgottheit vertreibt. nologisch-psychologische Abfolge gewesen Manchmal gilt der Hundegeist nicht ei- sein: Der schwarze Gott Bhairava in Men- ner bestimmten Person, sondern einem schengestalt ist die letzte Erscheinungsform einzelnen Haus zugehörig, so dass sich einer Reihe, an deren Anfang ein schwarzer die Macht, Hexereien zu begehen Hund als göttliche Erscheinung stand, der in (meist sind es ältere Frauen, die sich sol- der Tiefenpsychologie Neumanns (263) die chen Künsten ergeben), etwa von der Projektion des menschlichen Bewusstseins Hausmutter auf die Schwiegertochter nach Außen als „Natur“ darstellt. Dann vererben kann (Findeisen, 65-6). folgt der Schamane, der auf dem Hund zum Ursprung zurückreist, und dann kommen Die indische Sekte der Aghoris (~ die keine die Substitutionen der indischen Gotthei- Angst vor dem Tod haben) in Varanasi und ten. Bhairava wird natürlich auch Sekten- die ebenfalls hundeverehrende Sekte der gründer, und seine Sekten sind grundsätz- Kapalika (~ Schädelträger in Erinnerung an lich und demokratisch gegen die Priester Brahmas fünften, an Bhairavas Hand fest- und gegen die Einteilung der indischen Ge- gewachsenen Schädel) sollen sogar Bezie- sellschaft in Kasten eingestellt. Auch kön- hungen zu dem griechischen Philosophen nen Ausgestoßene Mitglied in seinen Sek- Diogenes gehabt haben, der den Beinamen ten werden: Dieser neue-alte Gott zeigt al- Hund trug, was ihm und seinen Gefährten so intensive egalitaristische Züge - was dem die Bezeichnung Kyniker (~ Zyniker) eintrug Hund zugute kommt: Die Bhairava-Tempel und der sich wie ein Hund aufführte: In ei- sind die einzigen Hindu-Tempel, zu denen ner Tonne (> 195) wohnte, bellte und auf Hunde Zutritt haben und wo sie sogar ver- der Straße zum Urinieren das Bein hob wie ehrt werden. In Benares gibt es einen Bhai- ein Hund und durch diese öffentlich zur rava-Tempel, in dem die Gläubigen einem Schau getragene Schamlosigkeit gegen die Hundebild Opfer bringen in Gestalt von zunehmende Sinnenfeindlichkeit in Grie- Hundefigürchen aus Zucker. Auch sind die chenland protestierte. Sontheimer ist 1984 Bhairava-Tempel die einzigen Hindu-Tem- (166) etwas vorsichtiger und meint nur, dass pel, die die Angehörigen der Kaste der Un- berührbaren betreten dürfen. Bhairava ist some of their attire and behaviour can aus diesen egalitaristischen Gründen ein at- very well be compared with the Cynics traktiver Gott für die eingeborenen, also in Ancient Greece. nicht-arischen Völker Indiens, besonders für die Sabaras im Südosten spielt der Hund ei- Auch die griechischen Kyniker trugen rau- ne große Rolle in ihrem Glauben: Sie ehren wollige Kleidung und können so analogi- ihn als Bruder, und ihre Schoßhündchen be- siert werden mit den indo-arischen Vratyas erdigen sie auf ehrenvolle Weise (D.G. Whi- und den bis in die heutige Zeit nachgewie- te, 103). In Japan könnte es übrigens einen senen Vaggayyas (> 486) auf der Deccan- ins Negative vereinseitigten Bhairava ge- Halbinsel. Hier, im geographischen Zentrum ben: Dort werden Menschen verhext, sind Indiens, verselbständigte sich im indischen also krank und/oder von Geistern besessen, Mittelalter der Bhairava-Kult zu einer Form von Hundemenschen-Kult, wie ihn Dioge- um sich im letzteren Falle wie ein Hund nes sich nicht schöner hätte erträumen kön- zu benehmen, d.h. auf allen Vieren zu nen. Die Vratyas der vedischen Tradition des laufen, zu bellen usw., oder vielleicht frühen indo-arischen Indien wurden hier gar zu sterben. Man kann sich gegen wieder zum Leben erweckt, und zwar be- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 485

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Der Heilige meint, dass Khanderav (!) und der Hund not different bzw. sogar identical seien, was durch dasselbe Trägermaterial - eben Gold - ausgedrückt werde (Sontheimer, 163). Arme Verehrer Khandobas ersetzen Gold durch bhandar, d.i. ein turmeric powder, das in Süd-Indien aus der Wurzel der Gelbwurz- Pflanze gewonnen wird, die man auch zur Färbung und Würzung von curries verwen- det. So heißt es von , er sitze auf ei- nem Pferd, sei umgeben von Hunden und vernarrt in turmeric powder. Deshalb glaubt man, dass dieses Pulver die Substanz des Gottes repräsentiere - während der „kriege- rischen“ Khandoba-Zeremonielle „badet“ oder „tauft“ man alles in diesem Pulver:

Even all the other gods are said to throw it on Khandoba in his praise at the end of the battle. Thus “bhandar” (~ das Gelbwurz-Pulver) provides the the ritual and substantial link between god, men, “daityas” (~ Dämonen: Khandoba mit seinen beiden Frauen: “Mhalsa, the first Söhne der Nachtgöttin Diti, Gattin des wife, has turned away her face as if annoyed by the pre- Kashjapa, Himmelsgott und Vater des sence of , the really beloved of Khandoba. The Indra), and animals which reflects a omnipresent dog and the two daityas/warriors are at “communitas” (~ Gemeinde) of all who the base”. Bild & Zitat in: Sontheimer, 165 & Fig. 5. are present at the festival. The “daitya” (> links) also receives a constant offe- zeichnender Weise von Hirten, die den Gott ring of “bhandar”. Even (?!) the black zuerst mit einem Stein (~ KUR) identifizier- temple dogs in Jejuri or ordinary stray ten, bevor sie ihn als Hund (~ KU) verehrten. dogs receive a generous coating on In der Legende dieser Mallari- oder auch their foreheads (Sontheimer, 165). Khandoba-Hundekulte, benannt nach sei- nen regionalen Kollegen, soll Bhairava min- Die „Hunde“ des Mallari- oder Khandoba- destens von einem Hund, meist von einer Hundekults nannte man in Marathi vaghyas Meute, manchmal sogar von sagenhaften und in Kannada vaggayya, beide Formen 700 Hunden (~ hundsköpfige Hirtenkrie- gehen zurück auf das Sanskrit-Wort vyaghra ger?) begleitet sein: (~ Tiger), das heute in leicht veränderter Schreibweise tigerhaftes Verhalten von The dog or pack of dogs is associated in Männern in Schlafzimmern oder sonstwo the art, ritual and mythology of the verspricht: Man(n) springt als Tiger und lan- Mallari / Khandoba cult from the ear- det als Bettvorleger - Endstation: Dinner for liest times, One. Die „Paarung“ bzw. Vermischung von Tiger und Hund ist in Indien betont Sontheimer (163). Der Heilige Eka- nath, 1533 in Paithan in gebo- chronic in myth, ritual, and in art. Rudra ren, erwähnt schon eine goldene Statuette, / Siva - as presumably shown on the fa- die Khandoba auf einem Hund sitzend zeigt: mous Indus seal - is also in the company Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 486

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of a tiger. He is seated on a tiger skin or clad in a tiger skin ... Thus Bhairava´s “vahanas” are occasionally the dog and the tiger or two animals which are a mixture of both (Sontheimer, 166; Her- vorhebung von Sontheimer!).

Diese speziellen Verehrer von Bhairava/ Khandoba waren also zunächst Tiger, die Bhairava zuerst in Menschen verwandelte und denen er dann beibrachte, sich wie Hunde zu benehmen - eine kynisch/zynische Domestikationsleistung, die hier nur der Gott vollbringt. Noch heute empfiehlt Rich- ard Rosen im Asana Workshop zur Bewusst- werdung des Bewusstseins, man möge mög- lichst oft die Hund-Haltung einnehmen (> in: www.yoga-aktuell.de). Eine germa- nische Halb-Parallele zu Bhairavas Ver- wandlungskünsten bieten die Berserker, die als hündische Bundesgenossen sich vom Bären zum Hund wandeln (Falk, 19). Samar- tha Ramdas (1608 bis 1681), einer der größ- ten indischen Heiligen, spricht von

dogs as big as tigers in one of his “abhangs” on Khandoba (Sontheimer, 166).

Ähnlich tigergroße Hunde werden im Ra- majana (II 70, 21) erwähnt, das aber später entstanden ist als Herodots Gerücht von der Tiger-Hund-Connection: In Indien würden Eine Bhairava-Statue mit Hund. In: Dale-Green, Abb. 5 c. Hündinnen mit Tigern gekreuzt... Nicht ganz so sinnlos wie dieses Gerücht waren die Laute, die unsere „Tiger-Hunde“ aus- the Vaggayyas still occasionally act like stießen: dogs during “jahtras” performing a round dance accompanied by drums This reminds us somewhat of the an- and chants. In the middle of the circle cient Pasupata vow which involved devotees throw coins on a black woolen “avitad-bhasana” - uttering senseless or blanket and the Vaggayyas pick up the contradictory words (Sontheimer, 166). coins with their mouths, entertaining the devotees. The coins in this instance Nicht nur die Pasupata-Sekte, auch die alten tend to replace the food which devo- Vratyas und noch die Mallas verhalten sich tees offer to the bowls of the Vag- hündisch und erscheinen ihrer Epoche ver- gayyas. One is reminded of the famous rückt. Aber absurdes Theater ist kein Unsinn scene of the dog dance rite in the Chan- - und auch in diesen Zeremoniellen berührt dogya Upanishad (1.12;> 463-82)per- sich „Sinnloses“ mit Karnevaleskem, denn formed with the “udghita” chant in or- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 487

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So schließt sich der Kreis von den Mallari- Hundemenschen zu den Hundemenschen der Vratyas wie zu den Singenden Hunden Der Hindu-Gott Bhairava reitet auf seinem Hund - an im Chandogya Upanishad. Bhairava fand einem Türeingang in Benares, Indien, 1985; das Reittier Jünger im Deccan, im Norden und Westen Hund konnotiert die Unabhängigkeit des Reiters von Indiens, in Bengalen und in Nepal (> oben), Raum und Zeit; ein Beiname Bhairavas ist “Svasva” (~ wo er immer noch - mit anderem Namen - der den Hund als Pferd benutzt). Foto: David G. White © als hohe Gottheit verehrt wird (in Nepal ist University of Chicago.In:D.G.White,Abb.11.Rechts:Ein Kol- der Hund eines der vier zu verehrenden Ge- lege Bhairavas in Nepal: Der Gott Yamantaka auf (s)ei- schöpfe). In Nord-Indien erscheint Bhairava nem Hund stehend. In: Leach, 12. zur Geistervertreibung als schwarzer Hund (D.G. White, 105). Abgesehen von diesen positiven Aspekten Bhairavas empfinden der to procure food. This is in remarka- die Hindus den mit Schädel-Emblemen ge- ble accordance with the explanation ... schmückten Gott als fürchterlich. Nach der of the origin of the dog in the Martan- Übernahme des Gottes in den Hinduismus da Bhairava / Khandoba cult: the werden zu seiner Entlastung seine Hunde “Samaveda” ... became the dog of Siva mit schrecklichen dämonischen Zügen aus- and would forever stay at Siva´s gate ... gestattet, während sie in der Ursprungszeit I noticed devotees of Birappa (~ Bhaira- auch verehrt wurden: Damals Ambivalenz va) in Andhra ritually drinking milk like pur, jetzt negative Vereinseitigung. Ähnlich dogs, barking and biting each other, erging es ja den Hunden des Yama, die ur- and imitating the copulation of dogs, sprünglich einen freundlichen Charakter hatten und erst in der späteren brahma- berichtet Sontheimer noch 1984. Das kar- nischen Literatur mit dämonisch-bösartigen nevaleske Verhalten passt gut zum Termin Akzenten versehen werden (Hummel, 505). der Zeremonielle, die Februar/März statt- Wir sehen auf einem Bild aus Benares (> finden zur Feier des indischen Neuen Jahrs. oben links) Bhairava auf einem stilisierten, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 488

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Khandoba und seine erste Frau Mhalsa “in a typical fashion“ auf einer Form zum Prägen - die Abbildung ist daher seitenverkehrt - von Silberplaketten, die hauptsächlich zur Verehrung der Götter und Ahnen in Hausaltären dienen. Unter dem Pferd der Hund und rechts unten Khandobas zweite Frau Banai. Rechts > 489: „Statuette von Bhairava, Originalhöhe 20 ... cm. Links Bhairava mit „trisul“, Schwert („kadga“), „kapala“ und „cakra“. Unten der Hund, der an Daksas abgeschlagenem Kopf leckt.“ Bemerkenswert ist die analoge Haltung des Hundes im Zentralbild des Mithras-Kults (> 261):Eine verhaltensbedingte Übereinstimmung oder ein Derivat aus derselben Bildquelle mit dem entsprechenden mythologischen Hintergrund? Bild & Zitat in: Sontheimer, 1976, Tafel 4, Abb. 1. (oben) & T. 16, Abb. 2 (rechts). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 489

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schutzhund (> 155: Abb. 119): Über den Au- gen schwach angedeutet die Vieräugigkeit. Ginge es dem Künstler bei der Gestaltung des Bildes nur um den farblichen Kontrast, hätte ein durchgängig weißer Hund als Kontrapunkt zum schwarzen Gott vollkom- men genügt. So aber können wir Intensi- tätsunterschiede in den gefärbten Berei- chen erkennen, die eher dem Realismus ver- pflichtet sind. Bemerkenswert ist, dass der Aalstrich sich vom Hinterhauptbein bis zur Rutenspitze durchzieht. Man kann in der Darstellung des aufwärts reitenden Bhaira- va eine Formparallele sehen zu Schamanen der asiatischen Steppen, die z.B. nach dem Pferdeopfer auf einem „Krafttier“ reiten, himmelwärts auf einem Pferd, in die Unter- welt auf einem Bären, wie die Novizen. Der Hund nimmt bei Bhairavas Aufstieg die Stel- le des Pferdes ein - so wird verständlich, dass Bhairavas Kult gerade die nicht-„arischen” Teile der indischen Bevölkerung anspricht, ist doch das Pferd zunächst geradezu das Sinnbild der kriegerischen Überlegenheit der indo-arischen Invasoren; erst später ver- drängt es im Rang den Hund als Transport- tier: Jetzt ist das Pferd echtes Reittier, und der Hund darf Pferd und Reiter nur noch be- gleiten (> links & 488: Abb. 1).

Bhairavas hundereitende Kollegen

Der nepalesisch-indische Gott Bhai- rava ist die vermutlich südöstlichste Mani- festation einer vorbuddhistischen Vorstel- lung, die in ähnlichen Varianten über fast äußerst großen und substanzvollen Hund, ganz Eurasien verbreitet ist. Im lamaistischen der viele Merkzeichen des Herdenschutz- Tibet gibt es die Gestalt des weißgekleideten, hunds aufweist. Die Kopfstruktur entspricht weißbärtigen Alten Vaters Khen-pa (> 637- dem Steppentyp. Die Rute ist etwas be- 46), der auf einem weißen Hund (als Milch- franst, das Fell hat eher Stockhaartextur. Es straße gedeutet) reitet und als Gottheit des kann sich auf dem Bild von 1985 um einen Himmelsraums über die Geister der Luft ge- schwarz-weiß-gescheckten Hund handeln, bietet (Hummel, 353). In Riten, die dem aber eher sehe ich hier einen „gelben“ Khen-pa gelten, wird ein Hundeschädel bei Hund mit lohfarbenen Abzeichen, dessen der Errichtung von Fadenkreuzen verwendet Schwarz durch ein Verdünnungsgen auf- - dadurch sollen schädliche Geister gebannt gehellt ist, analog zum Istrianer-Herden- werden. Diese Praxis erinnert an nordasia- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 490

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tische Hundeopfer, denn der Hundeschädel bei den Birarcen reitet er auf einem Tiger - vergegenwärtigt den Hund real: In den scha- von dort ist nicht überliefert, ob er sich - wie manischen Vorstellungen der Jäger-Kulturen in Indien - dem Tiger angleicht, so wie er sind die Knochen und besonders der Schädel sich kynanthropisch bei den mandschu- eines Tiers von fundamentaler Bedeutung rischen Evenken dem Hund angleicht. Aber für die Vergegenwärtigung des betreffen- Tiger und Hund dürften hier wie in Indien den Tiers. In dem Alten Weißen Mann der und wie Löwe und Hund in Sumer bzw. Me- Mongolen ist eine Gottheit dargestellt, die sopotamien und wie Bär und Hund in Ost- für Fruchtbarkeit und Herden zuständig ist Asien konvergieren. Der Hund als „Reittier“ (Ripinsky-Naxon, 1993, 217, FN 61) und die des Großen Alten ist nicht nur über weite mit den Funktionen der keltischen Mutter- Teile Nord- und Ost-Asiens verbreitet. Auch göttin of fertility and cattle vergleichbar ist. auf assyrischen Tafeln werden, wie bei den Hier aber im Weißen Alten ist die männliche Hethitern auch, Göttergestalten abgebil- Tradition der Himmelsgötter schamanischer det, die auf Hunden stehen, wie schon Al- Religionen verkörpert, die den Monotheis- brecht (31) bemerkt. Im hethitischen Bo- mus vorbereitet. In Teilen Asiens ist der Hund gazköy sind ein Götterkönig und ein gerin- als „Reittier“ durch das Pferd ersetzt worden gerer Gott auf Hunden stehend dargestellt (> 609 ff.). Aber die hündisch-schamanische (Keller, 147). Und sogar die ägyptische Isis, Tradition ist im Norden und Nordosten Asi- auf die im Laufe der Zeit nahezu alle Eigen- ens fast bis auf den heutigen Tag lebendig schaften der anderen ägyptischen Göttin- geblieben, das nördliche Zentral-Asien dürf- nen, darunter auch die der ärztlichen Hel- te eine, wenn nicht die Wiege des Schama- ferin, übertragen wurden, konnte in Rom nismus sein: Nach mongolischen Traditionen auf einem Hund reitend dargestellt werden, wird der Parallelgott des Weißen Alten, der auch kann sie selbst als Hündin erscheinen Gott Gnam, von zwei Wölfen oder Hunden (> III). Das Volk der Na-Khi, das heute im chi- begleitet und er selbst „reitet“ ebenfalls auf nesisch-tibetischen Grenzland lebt und einem Hund. Die Jäger bei den Rentier-Even- früher im Küke-Noor-Gebiet (Sining: Grenz- ken der Mandschurei richten Gebete an ei- land zwischen China und Tibet) beheimatet nen Herrn der Wildtiere, der Flüsse und Ge- war, bewahrt noch die matristische Vorform birge, der Mahun, Mayun oder Mahin ge- vom Mythos des Weißen Alten als Erdmut- nannt wird. Derselbe Name dient jedoch bei ter mit dem weißen Himmelshund, wobei in den weit entfernt wohnenden Jenissei-Even- diesem Zusammenhang die Erdmutter als ken in der Form Main zur Bezeichnung des Berggöttin (> III) zu verstehen ist. Später er- Himmelsgottes, während Mahin bei anderen gänzt das Pferd den Hund als Reittier des Evenken-Gruppen einfach Jagdglück bedeu- Schamanen und es löst ihn bei den Griechen tet - stellenweise auch das Gegenteil: Götter als Pegasus ab, das geflügelte Pferd der oder Geister können geben, aber auch neh- Dichter (Lommel, 162), der antiken Nach- men. Als Geber des Jagdglücks gilt den fahren der schamanischen Sänger und Se- mandschurischen Evenken der anthropo- her. Die chinesische Ideologie des Wir und morphe, mit individuellen Zügen ausgestat- die Anderen siedelt die Hunde-Menschen, tete Waldgeist Bainaca oder Bajan (~ reicher und mit ihnen gekoppelt die Amazonen- Vater), von dem ausdrücklich berichtet wird, Reiche, in zwei Gebieten an: Südlich des dass er als riesiger Greis mit fahler Haut, lan- chinesischen Reichs und westlich davon. gem grauem Bart, der die Brust bedeckt, und Südlich von China ist bei vielen Völkern der enorm langen Augenwimpern (das alles sind burmesisch-tibetischen Sprachengruppe ei- auch Symptome der Kynanthropie; > VI), ne Hundeabstammungs-Mythologie nach- weisbar (> I). Und westlich von China sind es auf einem Hund mit sehr langen Beinen die zentralasiatischen Turk-Völker und de- reitet (Paproth, 69), ren östliche Nachbarn, die ebenfalls ihre Ab- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 491

BHAIRAVA - DER „DEMOKRATISCHE“ SCHAMANE 491

stammung von einem Hundevater und ei- neben dem von der Seele verlassenen und ner Menschenmutter ableiten. Zwar wirkt deshalb scheinbar toten Körper. Dem See- die chinesische Kultur, in der viele Elemente lenflug-Motiv entspricht auch der vogel- der westlichen und nördlichen Nachbarn ähnliche Kopf des angeblich „getöteten enthalten sind, wie ein Keil, aber bei ge- Menschen”, ein Detail, von dem Clottes nauerer Betrachtung erscheint sie eher wie gänzlich abstrahiert. Schon um -15.000 se- eine verfremdete Brücke zwischen diesen hen wir in Lascaux diesen Seelenflug, und er beiden Regionen der Hundeabstammungs- ist nicht nur in den eurasischen Schamanen- Mythologie und des Schamanismus: So ist kulturen vom franko-kantabrischen Kultur- z.B. die Architektur des chinesischen Hauses, kreis bis nach Indien verbreitet: Er hat sich das rechteckig um einen Innenhof erbaut ist als Metapher gehalten bis hin zum Roman mit neun Kammern (3 x 3), zwar ein Abbild Der lange Schlaf der amerikanischen Schrift- der ursprünglich neun Provinzen des alten stellerin Fran Dorf. Er ist dort verbunden mit China, aber es ist im Zentrum des Hauses einer anderen Art der Reise, dem, was man auch der Weltenbaum als Achse der Welt in der Jugendkultur der späten 1960er Jah- mitgedacht (D.G. White): Der Weltenbaum re einen trip nannte. Diese außerkörper- ist aber ursprünglich nichts anderes als die lichen Erfahrungen sind in der westlichen Leiter des Schamanen in den Himmel, mit- wie in der schamanischen Kultur bekannt: hin ein vorchinesisches Element, das auf die 16% der amerikanischen Bevölkerung des Regionen westlich und nördlich von China Jahres 2000 erklärten, dass sie solche Erfah- rückverweist. Und nicht nur die chinesische rungen gemacht hätten, und bei den Mari- Architektur bewahrt Schamanisches auf: huana-Konsumenten sind es 44% (Whitley, Der hundereitende Gott selbst ist eine Ver- 115). Einige kalifornische Schamanen er- bildlichung des mystischen Flugs des Scha- kennen den Goldadler (aquila chrysaetos) manen Bhairava oder der Schamanin Isis (als als Teil ihres Fluges sowie ihres „Kostüms” Sothis bzw. Sirius). Es ist die in allen schama- während des Flugs als Vogelmensch-Misch- nischen Kulturen weltweit verbreitete Vor- wesen (Whitley, 115). Auch auf die Berg- stellung des Seelenflugs, die sich hier ver- wachtel (oreortyx pictus) wird häufig ver- bildlicht. Verursacht durch gewisse Alkalo- wiesen. Der Herr der wilden Tiere war mit ide, die sich in fast allen Halluzinogenen einem Mantel aus Bergwachtelfedern be- befinden, entsteht das Gefühl der Schwere- kleidet, und der Schamane als Regenmacher losigkeit, hinzu kommt die optische Sinnes- ebenfalls. Graphische Zeichen wie Spiralen täuschung, dass Objekte weiter entfernt oder konzentrische Kreise stehen ebenfalls scheinen als sie es sind, und natürlich die für die fliegerischen Fähigkeiten des kalifor- geistige Spaltung in der Trance, die es der nischen Schamanen. Ist die Funktion von Person im Anderen Zustand erlaubt, aus sich Vögeln, wie Adler oder Wachtel, und von herauszugehen, d.h. den eigenen Körper zu graphischen Zeichen, die einen Wirbelsturm verlassen, und sich von außen, meistens von repräsentieren, wie Spiralen oder Kreis, oben, zu betrachten. Der angeblich getö- leicht nachzuvollziehen als Metapher des tete Mensch (Clottes / Courtin, 159) in der Seelenflugs, so ist die Verwendung des Hun- Grotte Lascaux (> I, 49: Abb. 92) ist wahr- des als Flugtier nicht unmittelbar verständ- scheinlich nichts anderes als die Darstellung lich. Wenn wir uns aber die technische Aus- eines Schamanen, der sich selbst von oben stattung des späteren Hadeshundes Ker- betrachtet, im dritten Stadium der Trance. beros vor Augen führen, dann erscheint der Gestützt wird diese Auffassung durch den Hund selbst als Mischwesen, das sich vorn Vogelstab als dem üblichen schamanischen aus einem Hundekopf, bei Kerberos sogar Requisit, der neben dem „getöteten Men- aus mehreren Hundeköpfen, und ab dem schen” aufgepflanzt ist (> I, 49: Abb. 92) Nacken aus Schlangen- oder Drachenschup- und auf den Seelenflug verweist - er steht pen und Vogelflügeln zusammensetzt (> III, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 492

492 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

494). Bhairava und seine auf dem Hund flie- selbst geht, akklimatisiert er sich ein paar genden Varianten sind demnach Filiationen Tage bei dem Schweinehirten Eumaios. des Schamanen, der sich selbst fliegen sieht Dann wandern beide übers Gebirge zum Pa- auf einer Synthese aus seinem Tiergeist und last in Ithaka. Unterwegs aber treffen sie aus ihm selbst - eine gedoppelte mentale den Ziegenhirten Melantheus, dann end- Dissoziation. Es verlockt, diese mentale Dis- lich, schon vor dem Eingang zum Palast, Ar- soziation als Basis scheinbar unterschied- gos, des Odysseus alten Jagdhund, der sei- lichster literarisch-mythologischer Produkte nen Herrn nach zwanzig mythischen Jahren zu identifizieren. Eine Grundthese der Ky- der Trennung freudig wiedererkennt und nosophie ist ja, dass die verschiedenen kon- dann unverzüglich das Zeitliche segnet. Die kreten Mythologien Eurasiens einer ge- Kynosophin Cosima Wagner kommentiert meinsamen Proto-Mythologie entstammen, das Ereignis nach einer Lektüre der Odyssee die vielleicht paläolithischen, jedenfalls mit ihrem Mann Richard: aber vor-neolithischen Alters ist und die im Neolithikum lediglich neu vermischt, aufge- Abends die Odyssee; das Herrlichste da- frischt und modifiziert wurde. Das klingt raus der Hund Argos; das tiefe Geheim- sehr abstrakt und inhaltsleer, aber getreu nis der Natur wie nahe gerückt und dem Grundsatz, dass die Wahrheit konkret etwas gelüftet. Der kranke Hund ist der ist, bemühe ich mich, meine Thesen an mög- einzige, welcher Odysseus durch die lichst vielen Details zu bewahrheiten. Ähn- Verwandlung und Verkleidung erkennt lich geht N. J. Allen vor, der an der Univer- – und stirbt, nach zwanzigjähriger sität von Oxford für Indo-Europäische Stu- Erwartung! (in: Die Tagebücher, 7. Ja- dien zuständig ist und der sich auf sehr wis- nuar, 1869) senschaftliche Weise fragt, ob nicht nur die griechische und die Sanskrit-Sprache einer Odysseus betritt nun seinen Palast, tötet die gemeinsamen Proto-Sprache entstammen Freier seiner Frau und ist wieder König von (was ja erwiesen ist), sondern ob auch die Ithaka. Weniger bekannt als das Wieder- Mythen oder Epen der Griechen und der sehen von Argos und Odysseus in Homers Indo-Arier auf einen Proto-Mythos zurück- Odyssee ist eine Episode im 3. Buch des in- zuführen sind. Das haben wir auf kyno- dischen Epos Mahabharata, in der es um das sophischem Weg bereits als wahrscheinlich Treffen des Helden Bhima mit einem Affen erkannt, und zu unserem kynosophischen namens Hanuman geht. Dieser Affe stellt sich Glück entwickelt N. J. Allen seine These an bei näherer Betrachtung als hündisch kon- zwei berühmten Episoden aus den bekann- notiert heraus, analog zum ägyptischen Gott testen Epen der Griechen und Inder: Toth, und als ein Verwandter jener vier hun- deköpfigen Affen, die in Ägypten die Sonne bei ihrem Aufgang begrüßen. Die hündische Konnotation dieser Affenart erklärt unbeab- Dem (vor?)-indo-europäischen sichtigt auch Brehm in seinem Tierleben für Proto-Mythos auf der Spur: den Tschakma (~ der Hundsköpfige): Des Odysseus Hund im Lichte des Mahabharata Nur uns und ihm Bekannte durften ein- treten, Unbekannten verwehrte er hart- näckig den Eingang und geberdete sich Die Argos-Episode in der Odyssee dabei so toll, dass er stets gehalten wer- (17, 201-327) ist rasch zusammengefasst: den musste, bis der Betreffende einge- Odysseus kehrt vom Trojanischen Krieg treten war, weil er sonst wie ein wüthen- zurück nach langen Irrfahrten, er ist als Bett- der Hund auf denselben losgefahren ler verkleidet, und bevor er nach Ithaka sein würde (Brehm: Tierleben, 1, 152). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 493

DEM (VOR?)-INDO-EUROPÄISCHEN PROTO-MYTHOS AUF DER SPUR 493

Brehms Beobachtung am eigenen Babuin, Gandhamadana geschickt, um ihr ein paar dem er bezeichnender Weise den spa- Blümchen zu pflücken. Liegt hier eine Vari- nischen Namen perro (~ Hund) gab, und ante des Etana-Mythos vor? Etana fliegt (!) sein Vergleich dieses Affen mit dem Hund zum Himmel, um seiner Frau das Kraut des machen deutlich, warum diese Affenart in Gebärens, das Lebenselixier, zu holen, leider der paläomentalen Logik hündisch konno- ohne Erfolg. Blümchen und Kraut könnten tiert sein konnte. Eine andere Tschakma konvergieren zu einer schamanischen Heil- reizt den anscheinend leicht misogyn ange- pflanze. Arjunas Himmelfahrt und Bhimas hauchten Brehm zu einem weiteren Ver- Bergwanderung könnten die unverstandene gleich mit dem Hund: Dissoziation einer frühen einzigen Seelenrei- se eines Schamanen Bhima-Arjuna sein. Bhi- Die menschliche Gesellschaft liebte sie ma macht auf seiner Wanderung reichlich viel sehr, zog aber Männer ganz entschieden Lärm und weckt den dösenden Affen Hanu- Frauen vor und neckte und ärgerte letz- man, der mit seinem Schwanz schlägt, den tere in jeder Weise. Auf Männer wurde Helden ob der Ruhestörung zur Rede stellt sie bloß dann böse, wenn diese ihr etwas und zur vorläufigen Umkehr zwingt: Der Af- zu Leide gethan hatten, oder wenn sie fe versperrt den Zugang zu etwas, was sich glaubte, dass ich sie auf die Leute hetzen früher als Höhle und Eingang zum kristalle- wolle. In diesem Punkte war sie ganz wie nen Haus (> I, 41-2) am Berghang befand und ein abgerichteter Hund. Man durfte ihr wo der Schamane die „Herrin der Tiere“ um bloß ein Wort sagen oder Jemand Fruchtbarkeit bat. Dazu musste er den Hund zeigen: sie fuhr dann sicher wüthend auf im Eingang zur Höhle überlisten, und eine den Betreffenden los und biss ihn oft erste These ist, dass dieser Hund jetzt jener empfindlich ... Sie folgte mir wie ein Affe ist, der mit dem Schwanz wedelt, was Hund, wenn auch nur in weiten Bogen, auch Argos tat, als er des Odysseus Stimme die sie nach eigenem Ermessen aus- hörte. Allein: Hanuman wedelt nicht wegen führte (Brehm, Tierleben, 1, 156-7). des freudigen Wiedersehens, noch nicht je- denfalls, er ärgert sich über die Ruhestörung. Kommen wir zurück zu Bhima, der zwar auch Aber auch Argos döst auf dem Misthaufen auf dem Weg zu einem Palast ist, aber nicht vor dem „Palast“ des Odysseus, es ist Nach- zu seinem eigenen, sondern zu dem des Gott- mittag, und er genießt die letzten Sonnen- es Kubera (> 644-6): Bhima ist einer der fünf strahlen seines Lebens, wenn auch auf Kot Pandava-Brüder (> 496-500), die sich im Hi- und Urin von Schafen und Rindern; und auch malaya langweilen, denn dort ließ sie und ih- Hanuman ist von Exkrementen umgeben, re gemeinsame Frau Draupadi vor einigen denn Bhima hat auf seinem Weg zum Gipfel Jahren ihr Bruder Arjuna zurück, als er sich Löwen, Tiger und Hyänen zu Tode erschreckt, auf den Weg in den Himmel begab, um dem- so dass sie mehr unter sich ließen, als ihnen selben einen Besuch abzustatten. Ob wir die- und Hanuman vielleicht lieb war. Beide Hel- se Himmelfahrt schon mit dem schama- den - Bhima wie Odysseus - richten das Wort nischen Flug gleichsetzen sollen, überlasse ich an das Geschöpf, das vor ihnen liegt, und den Lesern. Dass es im Himalaya aber tatsäch- zwar deutlich erhöht liegt, denn Argos liegt lich bei indo-europäischen Stämmen Po- auf der Spitze des Misthaufens, und Hanu- lyandrie gab, ist von Peissel an den hündisch man hat es sich auf einem großen Felsblock konnotierten Minaro (> 647 ff.) bis in die Ge- gemütlich gemacht. Aber bevor wir etwas genwart nachgewiesen, und dieses Detail überstürzen, wollen wir uns erst mit dem stützt irgendwie die These vom ethnohistori- Fortgang der noch unbekannten Episode ver- schen Realitätsgehalt dieses indo-arischen traut machen: Bhima verlangt anmaßend Epos. Bhima, der kräftige Zweitgeborene der freien Zutritt zum Berg, aber der Affe be- fünf Brüder, wird nun von Draupadi zum Berg hauptet, zu krank und alt zu sein, um den Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 494

494 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

Weg freimachen zu können. Bhima will über Hanuman kommt der Bitte seines Halb- den Affen steigen, ihm die Episode aus dem Bruders nach und nimmt nun die Gestalt ei- früheren Epos Ramayana in Erinnerung ru- nes riesigen Berges an: Der Affe, hinter dem fend, in der Hanuman, der Affe, einen Sprung wir als Vorbild schon längst einen Hund ver- über den Ozean schaffte - das könne auch er, muten, verwandelt sich also vom KU (~ meint Bhima von sich selbst: Er weiß noch Hund) ins KUR, ins Gebirge, und zwar in nicht, dass dieser Affe jener Hanuman ist, der kein geringeres Gebirge als es der Himalaya in früheren Tagen so beweglich war. Der aber nun einmal ist. Wieder zur Affengestalt ge- bietet ihm stattdessen an, unter seinem schrumpft, gibt er seinem Halb-Bruder noch Schwanz hindurch zu gehen. Doch Bhima ein paar nützliche Tipps und brüderliche schafft es nicht, den Schwanz des Affen an- Ratschläge mit auf den Weg und verschwin- zuheben. Nun gibt sich der Affe endlich als det auf Nimmerwiedersehen. Bhima findet Hanuman, seinen Halb-Bruder, zu erkennen: nun endlich die gesuchten Blumen, besiegt Bhima und er haben denselben Vater, aber nebenher die Raksasas, die dämonischen verschiedene Mütter. Der Vater aber ist der Berggeister (sie wären analog zu sehen zu Windgott - und das lässt uns nebenbei auf ei- den Freiern um Penelope), und findet wie- ne transpersonale Zeugung der beiden durch der zurück zu seinen Brüdern und mit sei- einen gemeinsamen Totemgeist schließen. nem Blumenstrauß zu der Frau, die er sich Nachdem sich nun der Affe als Hanuman ge- mit ihnen teilt - oder zu der Frau, die sich outet hat, erzählt er selbst von seinen Taten fünf Brüder als Männer hält - alles eine Fra- im früheren Epos Ramayana. Bhima will sei- ge der Perspektive. Halten wir bei der Gele- nen Halbbruder in der olympischen Form se- genheit fest, dass die Brüder und ihre Halb- hen, die ihn in früheren Tagen auszeichnete - Brüder aus Verhältnissen stammen, die der und auch das verbindet unseren Affen mit Polyandrie (~ Vielmännerei) im Himalaya Argos, dessen Eifer in jungen Tagen Eumaios scheinbar entgegengesetzt sind: Ihr Vater mit den Worten lobt: hat viele Frauen - aber diese Polygynie (~ Vielweiberei) ist nur scheinbar patriarchal, Freilich, das ist der Hund des ferne ver- denn es handelt sich ja um einen transper- schollenen Helden! Wäre er noch so sonalen Erzeuger: Polyandrie und Polygynie stattlich und leistungsfähig wie damals, müssen keine echten Gegensätze sein. als ihn Odysseus beim Aufbruch nach Troja im Hause zurückließ, sähest sofort Kommen wir nun zu einem kontrastiven du die Schnelligkeit und die Stärke des Vergleich der beiden Tier-Episoden aus der Tieres. Keinerlei Wild entrann ihm in Odyssee bzw. dem Mahabharata, bei dem der Tiefe des Waldes, wenn er es auf- ich mich auf Allens Vorarbeit stütze: Der gescheucht hatte (~ eine Lailaps- Affe spricht, der Hund nicht - jedenfalls ist Variante? > VI); auch Spuren las er vor- er zu keiner menschlichen Rede (mehr?) trefflich. Heute umfängt ihn das Elend, fähig, aber er wedelt mit seiner Rute und sein Herr starb ferne der Heimat,und vermittelt Odysseus so die Information, dass die gefühllosen Frauen versagen ihm er ihn wiedererkennt: jegliche Pflege. Ja, wenn die Herrschaft nicht weiter mit Strenge die Weisungen Argos ... wedelte sacht mit dem Schweif durchsetzt, wollen auch nicht mehr die und senkte die lauschenden Ohren; Dienstleute ihre Verpflichtung erfüllen, nicht mehr reichte die Kraft ihm, sich nimmt doch der weithin schauende seinem Gebieter zu nahen. Zeus dem Menschen die halbe Tüchtig- keit schon, sobald ihn ereilt die Stunde Argos ist tatsächlich zu schwach, Hanuman der Knechtschaft (Homer, Odyssee, 17. täuscht Schwäche vor. Aber beide kommu- Gesang, 312-23). nizieren mit einer Person, die sie aus frühe- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 495

DEM (VOR?)-INDO-EUROPÄISCHEN PROTO-MYTHOS AUF DER SPUR 495

ren, besseren Tagen schon kennen und jetzt sprünglich durchtrainierte Athleten, jetzt wiedererkennen, während der griechische sind beide sehr alt: Argos hat zwanzig Jahre Held seinerseits den gealterten Hund wie- auf dem Buckel, und die Glanzzeit des Ha- dererkennt, aber vortäuscht, ihn nicht zu numan im Epos Ramayana liegt mehr als kennen, Bhima aber seinen Halb-Bruder 11.000 sagenhafte Jahre zurück. Allen be- tatsächlich erst erkennt, als dieser seine merkt, dass der Hinweis aufs hohe Alter in wahre Identität preisgibt. Während Argos beiden Epen der Erinnerung an die Glanz- jünger als sein Herr und mit ihm anschei- taten vorausgeht. Und das alte Epos Rama- nend nicht verwandt ist, entpuppt sich der yana, das im Epos Mahabharata erinnert Affe als viel älterer Halb-Bruder, der dem wird, handelt wie die Ilias, das der Odyssee Helden hier zum ersten Mal begegnet. An- vorgelagerte Epos, vom Raub einer schönen scheinend hat die Argos-Episode keine kon- Frau, zu deren Wiedergewinnung in beiden krete Funktion im Epos, jedenfalls nicht für Epen zahlreiche Helden eine Expedition nach die vordergründige Handlung, hintergrün- Übersee starten. Übereinstimmungen also dig werden durch Argos´ gutes Gedächtnis nicht allein in der konkreten Episode, son- des Odysseus Frau Penelope sowie die Hir- dern auch im Verhältnis der beiden Epen zu- ten Eumaios und Melantheus beschämt, einander. Mit dem schönen Schein der Ober- weil sie im Gegensatz zum Hund Odysseus fläche sollten wir uns nicht bescheiden, der als ihren Gatten bzw. ihren Chef nicht wie- Frauenraub ist sicher ein indo-europäisches dererkennen: Der Hund sieht mehr als der Grundthema gewesen - man denke an den Mensch - ein schamanisches Axiom. Bhima Raub der Sabinerinnen durch die jungen, bekommt hingegen von Hanuman Tipps, aber frauenlosen Gründer von Rom. Aber ohne die er die Blumen wohl kaum oder noch weiter hinten in der Urgeschichte geht nicht so schnell gefunden hätte - Hanuman es um die Seelenreise des ersten Abenteurers ist also unentbehrlich für den Fortgang der der Menschheitsgeschichte, geht es um die Handlung. Der Affe hilft also, während Unterweltsfahrt des Schamanen zur „Herrin Odysseus in der anschließenden Einmann- der Tiere“. Der oder die See unter der Erde, schlacht sich der zahlreichen Freier seiner noch den Mesopotamiern bekannt als Süß- Frau ohne Helfer entledigen muss. Zwischen wasserozean, ist eines der Hindernisse des Odysseus und Bhima gibt es zwar keine nen- Schamanen als Seelengeleiter: Es kann auch nenswerten Übereinstimmungen, obwohl ein reißender Strom sein - konkrete Beispie- beide recht laut bzw. mitteilsam sind, aber le für solche Gewässer gibt es genug im 1. die Korrespondenzen zwischen Argos und und 2. Band der Kynosophischen Zeitreise. Hanuman sind doch nicht so gering und Doch bevor ich die schamanische Seelenreise schwach, als dass weiteres Nachdenken sich als letzten und vielleicht doch zu abstrakten nicht lohnen würde. Das meint auch N. J. Al- Nenner der beiden Episoden kennzeichne len, der völlig unkynosophisch, also ganz und die Leser doch nicht (restlos?) überzeu- unverdächtig den identifizierenden Ver- gen kann, sollten wir uns an das Motto die- gleich durchführt: ser Zeitreise erinnern: Die Wahrheit ist kon- kret. Und wenn es eine indo-europäische Da ist zunächst die erhöhte Position, in der Wanderung gegeben hat, dann gab es auch sich beide Tiere befinden. Beide bewegen ein indo-europäisches homeland. Aller den Schweif, und für beide ist dies die erste Wahrscheinlichkeit nach gab es dort keine Reaktion auf das Herannahen des Helden. Affen, wie die indo-europäischen Sprach- Sie sind beide alt, scheinbar oder tatsächlich historiker dem indo-europäischen Lexikon krank oder schwach, und beide sind sie un- entnehmen - und daraus zieht Allen für die beweglich: Könnte Argos, er liefe auf seinen der Odyssee und dem Mahabharata gemein- Herrn zu; wollte Hanuman, er machte we- same proto-indo-europäische Vorstufe eine nigstens den Weg frei. Beide Tiere waren ur- kynosophisch ungeheuere Konsequenz: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 496

496 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

Most likely then, in the proto-narra- fen-„jung“-frau, die die wölfische Seite ih- tive scene implied by the detailed simi- res Animus auslebt. Und zum anderen er- larities, the hero encountered not an scheint der Schluss der Geschichte jetzt als aged monkey but an aged dog. Maybe verkürzte Variante vom Ideal-König, der there is even a hint of this ..., since tail mit seinen Gefährten und seinem Hund auf wagging is more natural in a dog than die allerletzte Jagd geht, um in einer Höh- the corresponding movement by le im Gebirge auf den neuen Heilseinsatz Hanuman is in a monkey (Allen, 14). zu warten.

Mit dieser tierpsychologisch vielleicht nicht ganz überzeugenden Differenz zwischen Affe und Hund geben wir und Allen uns God as a Dog - oder: aber nicht zufrieden: Im sehr kurzen 17. Nicht ohne meinen Hund! und letzten Buch des Mahabharata bege- ben sich in der vorletzten Episode die fünf Pandava-Brüder mit ihrer Schwester und Das Mahabharata ist das große Frau oder die Frau mit ihren fünf Brüdern Helden-Epos Indiens und entstand in ei- und Männern auf ihre letzte Reise, natür- nem Zeitraum von 600 Jahren, und zwar lich zum Himmel im theologischen Sinn, von -300 bis 300 u.Z.; dies zu wissen, ist und dabei sind sie nicht überflüssig angesichts der Tatsache, dass sich trotz massiver canophober Ein- joined by a dog, flüsse der Hund im Schluss des Epos (wie ja auch im Koran) bis heute erhalten konnte wie Allen das als Nicht-Kynosoph emo- - der Hund wird nämlich hier zum Prüfstein tionslos und äußerst knapp zusammen- für die moralische Integrität des idealen fasst. Anders im Mahabharata selbst - dort Königs Yudhisthira, der im Leben nur ein- heißt es von den fünf männlichen Gefähr- mal versagt hat, das allerdings im zere- ten, dass moniellen Würfelspiel gegen seine Kon- kurrenten: Die Folge ist ein dreizehnjähri- Draupadi forming the sixth, and a dog ger Krieg und am Ende der freiwillige forming the seventh (in: Afshar, 226), Rückzug Yudhisthiras von der Macht - auf seiner letzten Reise, die auf dem Weltberg Exakt diese Formel der Aufzählung wie- Meru im Himalaya-Gebirge enden wird, derholt der Koran (> 288-305) in seiner 18. wollen ihn seine vier Brüder Sahadeva, Na- Sure, vom Mahabharata über mehr als 500 kula, Arjuna und Bhima sowie Draupadi Jahre und über tausend Kilometer räum- und der besagte Hund begleiten. Die Reise lich und auch kulturell getrennt. Die For- der aufrechten Sieben wird nun von Allen mel legt den Schluss nahe, dass Draupadi weiterhin recht prosaisch geschildert: als sechster und der Hund als siebter Ge- fährte konzipiert sind - womit die Tatsache, As they traverse the Himalayas, one by dass die Schwester und ihre Brüder one Draupadi and the brothers die, except for Yudhisthira. Disregarding joined by a dog the urgings of the god Indra, Yudhis- thira loyally refuses to abandon the sind, ganz andere Dimensionen erhält: dog, who in the end turns out to be his Nun erscheint die polyandrisch organisier- divine father Dharma in disguise. The te Gruppe als spätes Abbild des Jung- hero is congratulated on his steadfast hirtenkriegerverbands, und zwar als „Bru- sense of duty and is transported to derschaft“ mit einer amazonischen Waf- Heaven (Allen, 15). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 497

GOD AS A DOG - ODER: NICHT OHNE MEINEN HUND! 497

Fünf der aufrechten Sieben sind auf dem en Hund vor dem Tor zum Himmel zurück- Weg gestorben, und so können nur ihre zulassen. Denn er hat als König ja den Amts- Seelen in den Himmel gelangen, denn the eid geleistet, niemals einen gerechten Un- yogic strength of each exhausted because of tertanen im Stich zu lassen. Die hart ge- a certain moral fault (Afshar, 227): Draupa- führte Diskussion zwischen Gott und König di wird z.B. einseitige Parteinahme vorge- endet natürlich damit, dass für diesen Hund worfen, Sahadeva Überheblichkeit, Nakula eine Ausnahme gemacht wird - der König Eitelkeit usw. So bleiben Yudhisthira und hat gewonnen, und dies in zweierlei Hin- der Hund übrig. Jetzt erscheint Indra in sei- sicht: Er ist seinem Prinzip nicht untreu ge- nem Streitwagen und lädt den König ein, worden, und der Hund entpuppt sich als einzusteigen und mit ihm in den Himmel zu Maske von Yudhisthiras Vater Dharma, und fahren, und zwar mit Seele und Leib; aber: der ist die gottgewordene Redlichkeit und Geradlinigkeit in Person - der Apfel ~ Sohn Yudhisthira refuses to leave without his fällt nicht weit vom Stamm(vater): brothers and Draupadi, but the god assures him that their souls have alrea- The dog turns out to be the god dy reached heaven, adding that Yudhis- Dharma in disguise - divine Rectitude thira is the one and only man who shall testing his human reflection, do so in flesh and blood (Afshar, 227). so fasst Afshar überzeugend knapp zusam- So könnte sich Yudhisthira einreihen in die men: Der Vater schuf den Sohn nach seinem prominente Serie der indo-europäischen Ebenbild - also mit übermenschlichen Ei- Idealkönige, die mit Seele und Leib, also un- genschaften, und so soll der Sohn auch blei- sterblich, und mit Pferd und Hund in der ben. Der Hund hilft dem König, den Tod zu Höhle des Weltbergs schlafen und auf das überwinden und seine wahre Natur durch Zeichen warten, in dem sie siegen sollen. Ei- ein moralisch korrektes Leben zu beweisen: ne einmalige Chance, wie Indra selbst be- tont, aber Yudhisthira will die Einladung The divine father (~ Dharma), the nur annehmen, wenn der Hund ihn in den superhuman child (~ Yudhisthira), and Himmel begleiten darf. Nun müssen auch the transmutative, sub-status animal und erst recht in Indras Himmel die Hunde are cuts into the same crystal, leider draußen bleiben, denn allein ihr Blick oder Anblick würde ja schon auf Erden ein meint Afshar (229), diesmal poetisch das zeremonielles Opfer um seinen wohltuen- Prinzip der Konsubstantialität von Mensch den Effekt bringen - wie auf vedischer Er- und Hund formulierend, und er ergänzt, den, so im vedischen Himmel. Und so muss dass die Präsenz des Hundes auch das Er- die Bitte, den Hund im erlauchten Kreis zu- gebnis einer Erzähltradition ist, die dem zulassen, abschlägig beschieden werden, Muster entspricht vom Ideal-König, der we- ganz gleich, welche Verdienste sich der An- gen eines Versagens - das ist für Yudhisthira tragsteller in seinem Leben um die Mensch- die folgenreiche Unaufmerksamkeit im ze- heit erworben hat. Yudhisthira ist nur um ei- remoniellen Würfelspiel - sich von der Welt ne Haaresbreite - wir erinnern uns an die zurückziehen und in einer Höhle auf eine Çinvat-Brücke, die auch genau diese Breite neue Chance warten muss. Es fehlt vom Er- hat - von der Unsterblichkeit entfernt, und zählmuster hier natürlich die Letzte Jagd, er bräuchte nur, so argumentiert Indra, auf aber es fehlt nicht der Hund, der hier, in die- dieses wertlose Tier zu verzichten, aber ser indischen Variante, eine neue und kei- Yudhisthira weigert sich standhaft, einen so neswegs canophobe Motivation erfährt. loyalen und hingebungs- wie entsagungs- Und das, obwohl die Aversion manifest wird vollen Begleiter und Helfer wie diesen treu- in Indras Haltung dem angeblich wertlosen Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 498

498 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

Tier gegenüber. So wird des Königs ambiva- Odyssee zusammenfasste, wie es seine in- lente Charakterstruktur vom canophoben dischen Kollegen für die Epen Ramayana Indra dissoziiert in den redlichen Yudhis- und Mahabharata taten: Vergleicht man die thira und den wertlosen Hund - der Hund letzte Episode des Mahabharata, also die repräsentiert auf paradoxe Weise die min- letzte Reise des Yudhisthira, mit der letzten derwertigen Anteile des königlichen Cha- Reise des Odysseus, dann ergeben sich fol- rakters - paradox, weil er sich gerade hier, gende Übereinstimmungen, die eindeutig auf der Wanderung zum Weltberg Meru hündisch konnotiert sind, wie auch der Ox- und vor dem Himmelstor, eben nicht so ver- forder Nicht-Kynosoph N. J. Allen feststellt: hält, wie Indras canophobes Vorurteil es gerne hätte. So straft der König den Gott One notes a hero traveling on foot Lügen und lässt uns vermuten, dass die spe- through mountains, and one who, zifisch indische Aversion dem Hund ge- shortly before reaching his ultimate genüber keine originär indo-europäische destination, is involved with a dog; the ist, sondern in der überheblichen Abgren- dog does not speak, but is spoken zung der Indo-Arier gegen die Substratbe- about with a third party. No other pas- völkerung ein willkommenes Instrument sage of the epic involves this canine der Auto-Definition der neuen Herren war: form of the god, but the god himself is Wir hier oben, ihr da unten, ihr Hundeköp- intimately linked with the relevant figen. Der Hund, der die Pandava-Brüder hero: Dharma was the progenitor of auf ihrer letzten Reise begleitet, erinnert Yudhisthira, is incarnated in him, and ... auch an die Funktion des Hundes als See- governs his first-functional (> Dumézil) lengeleiter. Darin geht der Hund aber nur personality - which he affectingly dis- auf für Yudhisthira, die anderen Brüder und plays here in his dharmic (~ der all-um- die Frau sterben, bevor sie den Himmel er- fassenden kosmischen Ordnung ge- reichen. Der Hund, dem sich Yudhisthira so mäße) loyalty to the animal (Allen, 15). loyal verbunden sieht, dass er auf seinen Platz an der Sonne zu verzichten bereit ist, Die tierische Erscheinungsweise des Vaters, entpuppt sich als tierische Erscheinungs- der nach indischer Überzeugung in seinem form von Yudhisthiras göttlichem Vater Sohn inkarniert ist, äußert sich im Nach- Dharma (andere nennen auch Yama (in: kommen noch als besondere, ja unabding- Lévy, 581), auch wenn Allen dieses Spezifi- bare Loyalität zum Hund: Lieber verzichtet kum der Erscheinungsweise zur Verklei- Yudhisthira auf den Himmel als auf seine dung verflacht. Wir erkennen hier unschwer dem treuen Hund entlehnte Identität. Mit die Inversion der in Eurasien weit verbreite- Hilfe der Tiefenpsychologie lässt sich diese ten Hundestammvater-Geschichte: Jetzt Erkenntnis von der Oberfläche in die Tie- tritt der Vater sekundär als das auf, was er fenstruktur übertragen: Dazu müssen wir bewusstseinsgeschichtlich nur primär gewe- wissen, dass Yama und Dharma konvergie- sen sein kann: Als tierischer, weil transper- ren in ihrem Aspekt der Harmonie und Ord- sonaler Erzeuger. Der oder die Erzähler des nung. Indem Yudhisthira seinen Hund nicht Epos sind bereits so der clanmäßigen tote- aufgibt, verzichtet er lieber auf einen mistischen Organisation entwachsen, dass äußerlichen Himmel als auf seine innere sie dieses Detail der früheren Fassung nicht Harmonie: Yudhisthira hätte seinen inneren mehr angemessen verstehen und wohl nur Hund(einstinkt) aufgeben müssen. Innere noch der Kuriosität halber weiter kolportie- Harmonie aber ist das höchste Ziel indischer ren, es dabei aber geschickt neu motivieren. Bewusstheit. Repräsentant dieser Bewusst- Ähnlich erging es wohl Homer und seinen heit ist Yama, der Erste Mensch und der Vor-Arbeitern, deren Erzählung(en) er wohl Erste Tote, die Anthropos-Figur der in- künstlerisch vollendend zur Ilias und zur dischen Mythologie. Er wird später Richter Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 499

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an der Seelenwaage der Toten - befindet fragt der angehende Analytiker, und Abt sich die Seele im inneren Gleichgewicht? gibt ihm folgende Antwort: Dieser grüne Und er wird zum Herrn der Unterwelt. In de- Bischof (mit Weinlaub auch im Haar?) kann ren griechischer Abteilung hätten wir auf kein christlicher Bischof sein - so einer wür- Semele treffen können, die Mutter des de Gott niemals mit einem Hund identi- Dionysos, die zuerst von Zeus auf Befehl der fizieren. Im Mittelalter hätte man ihn für eifersüchtigen Hera mit einem Blitz ver- diese Aussage als Häretiker verbrannt: brannt wird, im Sterben ihren Sohn vor der Zeit zur Welt bringt, dann in die Unterwelt If in official Christian doctrine an animal absteigt, von ihrem Sohn aber später erlöst is mentioned, it is usually reduced to und zu einer olympischen Göttin befördert the embodiment of devilish instincts wird. Bevor es aber dazu kommt, muss and greed. But popular feeling has Dionysos, den Zeus als hermaphroditischer always assigned animals to defined Mutterersatz weiter austrägt (> III, 417-20), places and personalities ... In the dream, von „wilden“, im „Wald“ lebenden Frauen the bishop is wearing a green garment als Ammen aufgezogen werden, die später that is made out of grape leaves. This als die Mainaden bekannt werden (> VI) aspect brings him close to nature; the und die wie die hündische Göttin Hekate grape leaves give him the attributes of Fackeln tragen (> III). Dann gehören sie wie Dionysus (Abt, 205). die Nymphen und die Priesterinnen zum ekstatischen Schwarm des nun erwachse- Aus tiefenpsychologischer Sicht kann der Bi- nen Dionysos, der als phallischer Gott der schof mit Weinlaub im Haar verstanden Vegetation für Fruchtbarkeit und speziell werden als ein Seelengeleiter, der zur Be- für Wein sorgt (> VI). Man stellt ihn mit wusstseinserweiterung mehr beiträgt als Früchten und Weintrauben dar, geflügelt ist ein konventioneller Bischof es je könnte: das Wort vom Weinlaub im Haar nicht erst seit Ibsens Hedda Gabler. He is closer to the people than the pope. With the green grape-leaf Ecstasy, drunkenness, orgiastic worship, garment he is complemented by aspects spiritual inspiration but also confusion, of nature and therefore the feminine. hallucination, and delirium were all This image points to a different attitude associated with him (Abt, 206). toward dreams and inspiration from the depths of the unconscious, also to Das alles sind Kennzeichen, die sich für ei- the realm of death, the earth, and the nen christlichen Gott nicht ziemen - der ist dark and dangerous side of nature. The eher apollinisch und weniger dionysisch latter have been neglected in official konzipiert. So entsteht ein Defizit, das Dio- Christian doctrine. Despite being an nysos ausgleichen könnte. Ihn erkennt die archetypal part of human nature, they Tiefenpsychologin Regina Abt in dem could no longer be adressed in ritual Traum eines jungen Patienten, der Analy- and worship, as was and still is the case tische Psychologie studiert. Seinen Traum in all pagan cultures. verschränkt Abt in ihrer Analyse mit der letzten Episode des Mahabharata: Nowadays the result is an irrational fear of the unconscious, on the one hand, A bishop in a green-colored garment with the whole aversion to everything actually made out of grape leaves says that cannot be grasped rationally. On that priests should listen to what God the other hand, there is the fascination says, but God is a dog. Is it my dog of all sorts of esoteric theories and irra- whose name he mentioned? tional movements, and such things as Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 500

500 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

science fiction films and the like, not Der innere Hund - das Symbol forgetting alcohol and drug abuse. In auf der Schwelle zwischen Be- our dream, however, all the parts of hu- wusstsein und Unbewusstem man nature are contained in the image of the Dionysian bishop, who repre- sents a spirit of wholeness and who Dieser Hund wird als Gott zum Ur- could play a new leading role on the bild einer seelischen Instanz und Energie, level of consciousness ... Our dream, as die als hündische Personifikation des Unbe- well as the Mahabharata story, reveals wussten ebenso wie der alltägliche Hund the godly nature of the dog instinct. A gefüttert und gepflegt sein will: Christian bishop would hardly have found out about this dog-god. It is Without our attention this archetype is as Dionysus, a god of nature, who com- lost as a stray dog without a human being. pletes the Christian one-sidedness and In the Mahabharata, absolute faithfulness who brings this realization. To experi- and voluntary self-sacrifice are needed for ence the dog instinct would correspond the sake of the dog - even the willingness to a feeling of harmony, of inspiration to forsake heaven (Abt, 207). from one´s inner nature, and a connec- tion with the deepest regions of the na- In tiefenpsychologischer Sicht erhält Ibn tural spirit, where animals are gods Umails Hund auf dem Dunghaufen der Ge- (Abt, 206-7). schichte (> 294-5) eine neue Dimension, die auch Freud beinah erkannt hätte, wie Vor all diesen Tier-Gottheiten aber ist es der Marie-Louise von Franz spitz anmerkt: Hund, der am ehesten auf der Schwelle liegt zwischen „Natur“ und „Kultur“ und der des- On the one hand he saw that on the halb auf vollkommene Weise das Bewusste dunghill of repressed contents lay the mit dem Unbewussten verbindet. Unser important life principle of the psyche, Träumer muss bereit sein, auf die Stimme but at the same time he denied its being seines inneren Hundes - his master´s voice - the power of God by not seeing the zu lauschen, nämlich der Stimme seines Un- divine aspect of love, but calling it only bewussten, so als ob es Gottes Stimme sei: a biological drive. Our author (~ Ibn Umail) is fully aware of the paradox of This gentle voice could once again open Eros. The symbol of the dog stands for the gates to the unconscious and help what we reject and throw away becau- the young man find his way down into se it seems useless. It is also what we ta- the world of the darkness that has been ke as being banal and self-evident, the rejected, where we are unconscious of naked facts of life so to speak. Within our drives and shadows (Abt, 207). that dung or ashes lies hidden the crea- tive activity of God, which constantly Yudhisthira hat diese Verbindung zum Un- sustains our existence (in: Abt, 208). bewussten gefunden und sieht sie in seinem Hund personifiziert: Vergessen wir nicht, dass auch des Odysseus Hund Argos auf dem Dunghaufen der Ge- God as a dog is a compensation for the schichte lag, wie Hanuman auch. Erst die dreamer´s image of God, which was too Begegnung mit diesen unscheinbaren Hun- lofty and airy and cut off from the in- den ermöglicht den Fortgang der Geschich- stinctual side, which is nowadays true te. Wer diesen Hunden aus dem Weg gehen for most people in our Western culture will, ohne sich ihnen wirklich zu stellen, der (Abt, 207). diffamiert sie als inneren Schweinehund Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 501

DER INNERE HUND - DAS SYMBOL AUF DER SCHWELLE 501

oder als hundsköpfigen Sohn einer „Hün- We need to develop a relationship to din“. Das Symbol des Hundes in Träumen this instinct (~ der Hund(einstinkt) in wie in mythologischen Texten wie in Kult- uns) in order to avoid becoming posses- handlungen bedeutet die Liebe zum Leben: sed. Then this fiery energy is purified of its shadowy aspects, just as fire means The dog is associated with Eros, and it not only destruction but also light and appears whenever the quality of feeling warmth. This goal of containing the fire enters. With its scenting nose it is an in- inside was the goal of alchemical work stinct showing us which way to go, a gui- (für C.G. Jung ist die Alchemie ein Vor- de to the beyond, to the spiritual world, läufer der Tiefenpsychologie; in der Al- to the unconscious. In this respect it is al- chemie spielt der Hund als Symboltier so a healer ... because it sniffs out healing eine wesentliche Rolle: > VI). It all de- impulses for us from the depths of the pends on our way of dealing with it. unconscious psyche. As a god of death The wolf instinct (man denke an die and hell it is associated with the perils of „Wolfs-“, aber auch an die „Hunde“- the unconscious, which can only be resis- Krieger; > 5. Kapitel & > VI) can be dan- ted with a genuine sacrifice and an atti- gerous unless we find the right ap- tude of devotion and respectful mo- proach, but it might also set free un- desty. Entering the unconscious with the known forces. The dream of the Diony- selfish intention of enjoying an advan- sian bishop and the story from tage in outer life means risking the sava- Mahabharata make clear how much we gery of Cerberus (Abt, 208). (~ im Mahabharata ist es immerhin der oberste Gott Indra!) tend to underesti- Es wird sich noch erweisen, ob die heutigen mate this dog instinct. Why else would Versuche, den Sitz religiöser Bedürfnisse im we need such great compensatory ima- Hirn naturwissenschaftlich präzis zu lokalisie- ges? ren, nur ein neuer Trick sind, um den Hund in uns und d.h. auch den Kerberos in uns zu fragt Regina Abt (209), und man kann ihr überlisten - analog zu Hermes, der die Hunde wohl nur zustimmen. Kommen wir jetzt und würgt oder zum Würgen bringt, und Her- zum Abschluss wieder zurück zu unserem akles, der den Kerberos ans Tageslicht des Be- Vergleich zwischen dem griechischen Epos wusstseins schleppt, ihn aber nicht tötet - weil Odyssee und dem indischen Epos Maha- er ihn nicht töten kann? Ob dieser natur- bharata in Bezug auf das Hundsymbol: Die wissenschaftliche Zugang zu unserer inneren vordergründigen Übereinstimmungen zwi- Unterwelt ohne Opfer möglich ist? Man wird schen der letzten Reise des Odysseus und sehen. Das Symbol des inneren Hundes ist der des Yudhisthira gehen nicht so weit, durch seine Ambivalenz besonders gekenn- dass die heimliche Identität auch des Vaters zeichnet: Es kann die Sonnenseiten unserer von Odysseus die eines Hundes ist; aber Psyche, aber auch ihre Schattenseiten ver- Loyalität gibt es auch noch, kurz bevor bildlichen. So ist der Hund als Feuerbringer Odysseus den Hafen der Ehe erreicht. Der ein Bild für den Menschen, der durch Kon- Hund bekundet seine Treue zu seinem trolle des Feuers Wärme, Licht und Schutz vor Herrn, der Herr verdrückt heimlich ein paar wilden Tieren in der Nacht ermöglichte. Der Tränchen ob des beklagenswerten Zustands Schattenaspekt des Feuerbringers aber ver- seines Hundes. Die Loyalität ist nicht bis zur weist auf unkontrollierte Emotionalität. absoluten wechselseitigen Treue ausge- Weiterungen dieses Schattens sind Aggressi- formt, jedenfalls nicht (mehr) auf Seiten des vität, unersättliche Gier, und - wie Abt (209) Odysseus. Diese partiellen Übereinstim- meint - auch eine besonders konservative ge- mungen lassen auch den Nicht-Kynosophen sellschaftspolitische Einstellung. Allen zu dem Schluss kommen, dass man Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 502

502 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

nevertheless, even at this point, one gen Christophorus genau so, bevor er ein might wonder wether Argos results Heiliger wurde, aber auch Gott Dharma - from a fusion of two proto-narrative oder war es doch Yama? - wandelt sich am animals whose distinctness is retained Ende des Mahabharata von einem Hund in in the Sanskrit. If so, the Greek dog seine göttliche ~ menschliche Erscheinung. would be cognate not only with Hanu- Mit dem von seinem Hundskopf erlösten man but also ... with the canine form Christophorus werden wir uns im nächsten of Dharma (Allen, 15). Band befassen. Dass dem treuen oder be- kehrten Hund der Zutritt zum „Himmel“ er- Vergessen wir nicht, dass der methodisch laubt wird, bedeutet aber doch auch, dass er sehr bewusst vorgehende Allen unseren an den (Sternen)-Himmel versetzt wird, dass kynosophischen Hintergrund nicht hat. Er er v.a. dort zu orten ist. Auch das werden wir bewegt sich seiner eigenen Einschätzung im 6. Band der Kynosophischen Zeitreise un- nach auf Glatteis, wenn er die heimliche tersuchen - aber nach dem Dank Yudhisthi- Identität von Hanuman und Argos und de- ras an seinen Hund-(evater) interessiert uns ren heimliche Identität mit einem hün- jetzt der Undank, der so oft der Welt Lohn dischen, transpersonalen Vor-Vater der ist für des Hundes treue Dienste, für seine Griechen und Indo-Arier, hier Dharma, an- beispiellose Loyalität zu seinem Herrn und deutet. Wir Kynosophen müssen so vorsich- zu dessen Familie. tig nicht sein, sind wir uns doch eh des leb- haften Widerspruchs der Nicht-Kynosophen gewiss. Aber nicht nur zwischen dem Maha- bharata und der Odyssee gibt es bemer- Der zu Unrecht kenswerte Übereinstimmungen hinsichtlich verdächtigte Hund des Hundes als Alter Ego eines Menschen:

In der christlichen Legende der Sieben Schlä- Ibn al-Marzuban ist ein arabischer fer von Ephesus ist der Hund der Achte Schriftsteller der früh-islamischen Zeit, der Schläfer und trägt den Namen Viricanus (in: seinen Zeitgenossen tief enttäuscht über Lévy, 580; > 291) - die wesentlichen Kompo- deren moralische Qualitäten den Hund als nenten des leicht verballhornten Namens Wunschspiegel vorhält in seinem sind natürlich vir (~ Mann) und canis (~ Hund). Dieser merkwürdige Hund-(emann) Book of The Superiority of Dogs over gleicht dem Affenmann Hanuman, dem Ge- many of Those who wear Clothes. neral eines Affenheers und der Verkörpe- rung grenzenloser Loyalität sowie über- In diesem Buch, das zum größten Teil eine menschlicher Kraft. Dieser Hund-(emann) Sammlung früher entstandener Texte und soll sich den sieben Bekennern christlichen keine Neuschöpfung des Autors darstellt, Glaubens auf ihrem Weg zur rettenden Höh- findet sich zum Schluss eine Geschichte, die le angeschlossen haben, wie islamische Er- die moralische Thematik auf dramatische zähler der Geschichte zu berichten wissen: Weise bündelt. Es ist die Geschichte vom So erfahren wir z.B. von Sadi im Gulistan, moralisch vorbildlichen Hund, der von sei- dass dem „Hund“, weil er den frommen Sie- nem Herrn zu Unrecht erschlagen wird - ben gefolgt sei, ein menschliches Antlitz ver- nach dem Motto: Erst das Urteil voll- liehen wurde. Verwandelte sich der Hunde- strecken, dann den Prozess führen - eine mensch Viricanus in einen vollwertigen Geschichte, die auch in Europa spätestens Menschen, als er den richtigen Glauben an- vom Mittelalter an verbreitet war bis ins nahm? Mag sein - es erging schließlich dem 20. Jahrhundert und diedort vornehmlich hundsköpfigen und übermenschlich kräfti- den Jagdhund eines Adligen betrifft: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 503

DER ZU UNRECHT VERDÄCHTIGTE HUND 503

Der Hund, irrtümlich erschlagen, nach- Kreuzzüge, es verweist aber auch im nicht- dem er ein kleines Kind vor einer indischen Teil Eurasiens auf eine große Ak- Schlange gerettet hatte, wurde zum zeptanz dieser Hunde- und Menschenge- Gegenstand abergläubischer Ver- schichte, die die Ambivalenz des Hundes ehrung ... Die Bauern ... hörten die Ge- positiv vereinseitigt und dafür die Ambiva- schichte vom edlen Verhalten des Hun- lenz des Menschen ins rechte, nämlich des, für das er hätte belohnt werden äußerst drastische Licht rückt - diese Ak- müssen. Sie besuchten die Stätte (~ des zeptanz ist wohl zurückzuführen einerseits Hundetotschlags), verehrten den Hund auf die Erinnerung an hündisch konnotier- wie einen Märtyrer, beteten dort für te, aber vom frühen westeuropäischen ihre Krankheiten und Nöte. Und viele Christentum in Europa bekämpfte „heid- von ihnen wurden Opfer teuflischer nische“ Mythologien, andererseits auf den Vorspiegelungen und Verführungen unerschöpflichen Mythos vom Helden, der (aus der Sicht der christlichen Missio- mit seinem Hund als Begleittier den Dra- nare, nicht der Bauern und Bäuerin- chen (~ vertreten durch die Schlange) oder nen), denn der Teufel nahm die Gele- sonst ein wildes Tier tötet. In der wali- genheit wahr, die Menschen in den Irr- sischen Variante von Gelert´s Grave (> 504) tum zu locken. Vor allem aber brach- ist es nicht die Schlange, sondern der böse ten Frauen ihre kranken oder Wolf, der in die Ordnung der vom Men- schwächlichen Kinder an diesen Ort schen domestizierten Welt einbricht. Der (Schmitt, Der heilige Windhund). subversive Hintersinn nicht nur, aber be- sonders der europäischen Variante des Dieses Textmuster ist von Europa - dazu Textmusters besteht nun darin, dass es ge- bringe ich ein eigenständiges Kapitel im 6. rade der Mensch ist, der sich mit dem ein- Band der Kynosophischen Zeitreise - bis dringenden Ungeheuer auf eine Stufe Indien weit verbreitet, dort v.a. im drawi- stellt, indem er ebenso unbeherrscht sei- dischen Teil (wie wir gleich noch sehen nen ersten Regungen nachgibt, ohne Ver- werden), was schon zu der Vermutung ge- nunft walten zu lassen. Und es ist gerade führt hat, es sei dort auch erfunden wor- ein Vertreter jenes Standes, dem im Mit- den. Da es aber auch in der buddhistischen, telalter auch die örtliche Rechtsprechung hebräischen, iranischen und europäischen oblag, der hier standrechtlich scheitert: Tradition verbreitet ist, übersteigt das Mus- Anspruch und Wirklichkeit klaffen für alle ter den Rahmen einer einzigen Sprach- sichtbar weit auseinander. So ist z.B. in Wa- familie oder Gesellschaftsform bei weitem. les unsere Geschichte im 13. Jahrhundert belegt in der Für Indien als Ursprungsort des Musters spricht vielleicht die hohe Zahl unter- legend of Prince Llewellyn the Great of schiedlicher Textvarianten - und auch die North Wales (gestorben 1240) and his indische Einbettung des Musters in nicht- hound, supposedly given to him by King mythologische, wenn auch immer noch ju- John, Gellert. The latter´s grave can be ristisch relevante Zusammenhänge spricht seen to this day in the small North für die ungleich höhere Akzeptanz des Wales town of Bedd Gelert. The Textmusters in Indien, während in den modern inscription at the grave tells the übrigen Regionen Eurasiens im Grunde im- tale briefly, the only difference mer dieselbe Variante erzählt wird, die between it and that of this collection (~ aber ihrerseits sich näher am ursprüng- Ibn al-Marzubans Book of The Superio- lichen mythologischen Kern befindet; das rity ...) being the attacker of the baby könnte zwar hindeuten auf einen Import son, a wolf and a viper respectively. The des Erzählmusters, vielleicht zur Zeit der inscription at Bedd Gelert reads: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 504

504 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

GELERT´S GRAVE Snowden (der Hund ~ KU wird auf dem Berg ~ KUR beigesetzt ~ Höhenkult als In the 13th century, Llewellyn, Prince of Ziel einer Wallfahrt), and he named the North Wales, had a palace at Bedd- place Beddgelert (Grave of Gellert). gelert. One day he went hunting with- out Gelert “the faithful hound” who Die Zutaten unserer Geschichte überschnei- was unaccountably absent. On Llewel- den sich zum Teil, weichen aber auch bedeu- lyn´s return the truant, stained and tend ab: Ein moralischer Fehl des Prinzen; smeared with blood, joyfully sprang to natürlich nur ein Sohn, keine Tochter, als meet his master. The Prince, alarmed, mutmaßliches Opfer - und dann auch noch hastened to find his son and saw the in- der einzige Erbe. Die akustische Schnittstelle fant´s cot empty, the bedclothes and zwischen des Hundes Todesschrei und dem floor covered with blood. The frantic Schrei des Babies: Tod und „Geburt“, Verlas- father plunged his sword into the sen und (vermeintliches) Zurückkehren des hound´s side thinking it had killed his (totgeglaubten) Kindes ins Leben - zwei Pas- heir. The dog´s dying yell was answered sagen, die so entgegengesetzt wie komple- by a child´s cry. Llewelyn searched and mentär sind. Welche Passage durchschreitet discovered his boy unharmed. But near hier der Prince of Wales? Er hat nie mehr ge- by lay the body of a mighty wolf which lächelt - was will uns das sagen? Er ist seelisch Gelert had slain. The Prince, filled with tot - also überschreitet auch er mit seiner Tat remorse, is said never to have smiled die Schwelle zwischen zwei sich scheinbar again. He buried Gelert here. The spot ausschließenden Zuständen. Dann die Ent- is called Beddgelert (in: Smith & Abdel gegensetzung von Hund und Wolf - der eine Haleem, 38, FN 62). treu und kultiviert, der andere blutrünstig: Auch sie nur scheinbar, denn der Herr traut Vergleicht man die Inschrift mit dem trocke- seinem Hund ohne weiteres wölfisches Ver- nen Text der Encylopedia Britannica (2003), halten zu (manchmal zu Recht, wie wir seit dann werden wesentliche Stilfiguren deut- Hamburg 2000 spätestens wissen können). lich, die den Hintersinn der Geschichte er- Die unterstellte Ambivalenz des Hundes ist hellen - hier zum Vergleich der sachlich ge- aber in diesem Fall nicht real, sie ist aufge- haltene Text der Enzyklopädie, der sogar spalten zwischen Hund und Wolf. Und sie ist suggeriert, der Hund habe den Auftrag er- aufgespalten zwischen Hund und Herr: Der halten, das Kind zu beschützen: Hund hat sich keiner moralischen Verfehlung schuldig gemacht, sein Herr hingegen schon, Gellert ja, man könnte sagen, in seiner blinden Wut hat sich der Herr nicht wie ein Hund, sondern in Welsh tradition, the trusted hound of wie ein Wolf benommen. Da der Herr gleich- Prince Llewellyn the Great of Wales. zeitig ein Regent ist, hat er sich mit diesem Having been left to guard his master´s moralischen Fehl als Herrscher disqualifiziert, infant son, Gellert killed a wolf that denn er ist offensichtlich nicht in der Lage, attempted to attack the child. Llewellyn, seinen Untertanen zu jeder Zeit eine gerech- returning home to find the baby missing te Behandlung zu garantieren. Insofern ver- and Gellert´s muzzle stained with blood, tritt der Hund die anderen Untertanen des assumed that the dog had destroyed his Prinzen - der Hund als Alter Ego der mensch- son, and stabbed it. He later found the lichen Untertanen. Die Fallhöhe des Prinzen child unharmed beneath the overtur- ist beachtlich, in einer analogen Überliefe- ned cradle, with the wolf´s corpse besi- rung zu einem Rittergrab in der Aber- de him. The remorseful prince caused gavenny Priory Church (in: Emeneau, 8) ist sie Gellert to be honourably buried on Mt. nur unwesentlich geringer. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 505

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Indische Varianten als up. Again I could see nothing amiss, so Quelle des Textmusters? I jumped up and drove them away. The first thing I felt after that was their fal- Weit geringer hingegen ist die Fall- ling on me and shaking me with their höhe in den indischen Varianten, die dafür fore- and hind-legs, as someone awake auch andere Haustiere wie z.B. den Mungo shakes a sleeping man when something (~ Manguste) in die fatale Situation geraten terrible happens. I jumped up and the- lassen: Da den treusorgenden Mungo ein re was a black snake which had come up Brahmane erschlägt, kann man in dieser close to me. I leapt on it and killed it, unhündischen Variante schon von einer mit then went off home. Next to God, the Wales vergleichbaren Fallhöhe ausgehen, two dogs were the cause of my survival. während in den hündischen Varianten der Anlass nichtiger und somit die Fallhöhe ge- Vom arabischen Abenteuer des nackten ringer ist. Den Mungo kennen wir bereits in Überlebens zum komplizierten, aber völlig kynosophischem Kontext aus dem 4. Band, alltäglichen indischen Rechtsgeschäft: Das wo er die Stelle des Hundes einnehmen Personal der Geschichte besteht in Indien kann (> IV, 223). Und auch in dieser indi- zunächst immer aus einem Bankier auf der schen Variante ersetzt er den Hund, ist es einen Seite und einem Händler, Soldaten, doch für einen Brahmanen unschicklich, ei- Jäger oder ganz einfach einem armen Mann nen Hund zu halten. Aber die süd-indischen auf der anderen Seite, der seinen Hund als Varianten kennen den Hund, und zwar Pfand einsetzt: Der Hund haftet für seinen hauptsächlich als Sicherheit für eine Schuld- Herrn, indem er seinen Dienst im Haus des summe: Der Hund sorgt mit seinem „Ge- Geldverleihers absolviert. Hier schreckt er wicht“ dafür, dass die Waage der ge- Einbrecher ab, überführt Diebe, findet ge- schäftlichen Beziehungen ausgeglichen stohlenes und von den Dieben verstecktes bleibt. Auch hier also eine symplegadische Eigentum des neuen Herrn in feuchten Um- Situation (> 136: Abb. 65): Wird der Hund ständen wieder, rettet seinem neuen Herrn seinem Auftrag bzw. seiner Funktion in die- und/oder dessen Familie das Leben, indem ser Situation untreu, so neigt sich die Waa- er ihn/sie gegen Einbrecher verteidigt - oder ge, die symmetrische Beziehung kippt um in er tötet den Liebhaber oder den Vergewal- eine asymmetrische, der Vertrag ist gebro- tiger der Frau seines neuen Herrn. Der Hund chen. Eine arabische Variante dieses Mus- selbst wird danach irrtümlich getötet von ters, allerdings ohne Babyattentat und Hun- seinem alten Besitzer, der gerade die Ab- detotschlag, wenn auch mit Hundeprügel, lösesumme überbringen will und überrascht ist überliefert in Man´s Best Friend, dem ist, dass ihm sein Hund auf halbem Weg zum zweiten Teil des Book of Superiority (in: Geldverleiher entgegenkommt: Der ehe- Smith & Haleem, 32): malige Herr nimmt an, der Hund habe den Auftrag nicht erfüllt und somit das Geschäft I was out one night, drunk, and I went zunichte gemacht. Oder er sieht den noch into one of the gardens for a certain blutigen Fang des Hundes, glaubt, der Hund purpose! I had with me two dogs I had habe den neuen Herrn angegriffen und sich reared personally, and I was carrying a dann aus dem Staub gemacht, sodass die stick. But I fell asleep. All of sudden the finanzielle Schuld unbezahlt geblieben wä- dogs were barking and howling and I re. Das Grundmuster der Geschichte vom zu was awakened by their noise. I could Unrecht verdächtigten und bestraften Hund see nothing untoward, so I hit them and ist in Indien weit verbreitet, v.a. im drawi- drove them away. I went off to sleep dischen Teil, weshalb man dort auch seinen again. Then they started to make a noi- „Sitz im Leben“ vermutet hat. Dass es be- se once more and to bark, waking me sonders im tamilischen Bereich Indiens zahl- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 506

506 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

reiche Untertypen gibt, wie wir oben an- Untertanen am absolutistischen Anspruch deutungsweise gesehen haben, spricht in der Herrschenden: In einigen indischen Va- der Tat dafür, dass wir es hier mit einem Sitz rianten nimmt sich der reuevolle Übeltäter im Leben zu tun haben, aber wahrscheinlich das Leben, in der walisischen Variante ist er nicht mit dem Sitz des Textmusters im Le- nur noch ein Wiedergänger seiner selbst, ben, da in zahlreichen Varianten das Blut ein Zombie, der nicht mehr lachen kann - und andere definitive Kennzeichen des Ver- auch eine Art, sich das Leben zu nehmen. räters fehlen; die Veralltäglichung des Mus- ters ist einerseits Hinweis auf seine perma- nente Verfügbarkeit und daher auf seine Hund, Wasser und Sirius in Indien tiefsitzende Verwurzelung im (Unter)- und anderswo - 1. Teil Bewusstsein, sie ist aber auch eine Ver- harmlosung und Entschärfung, denn nur Es gibt innerhalb der verschiedenen der Extremfall kann mythologisch werden. indischen Erzählmuster eine Gruppe, die aus Nord- und Zentral-Indien stammt und in Deshalb plädiere ich dafür, den drawi- der die Erzählung eine ätiologische Deu- dischen Bereich als das Rückzugsgebiet ei- tung eines Kulturdenkmals der jeweiligen nes Textmusters anzusehen, das vor der Region liefern soll: In der Variante von Mir- Patriarchalisierung durch semitische, isla- zapur wird die Zisterne, in der die Einbre- mische und indo-europäische Hirtennoma- cher die Wertsachen versteckten und die den in Eurasien weit verbreitet war, aber der Hund aufspürt, Motis Zisterne genannt nach der Patriarchalisierung nur noch in sei- - Moti oder Motiya ist der Name des Hundes ner mythologischsten Variante überleben und bedeutet Perle, ein durchaus üblicher konnte, nämlich im Erzählkern vom Helden, Hundename in der Mirzapur-Region wie der den Drachen tötet. Dass der Text nicht auch in der Nasik-Region, in der es eine ana- von den Herrschenden erzählt wurde, ver- loge Geschichte mit demselben Hundena- steht sich von selbst, begeisterte Rezipien- men gibt. Die Zisterne wurde von dem ten und Erzähler des Texts waren die, die dankbaren Kaufmann, dessen Schuldschein unter der Doppelmoral der Herrschenden der Hund Moti war, mit einem kostbaren zu leiden hatten: Rand versehen, um den herum wiederum ein Tempel gebaut wurde. Die Zisterne wur- Sie feiern unausgesprochen die Eliminie- de also zweifach sakral eingefasst, der tem- rung des menschlichen Helden aus der poräre Aufenthaltsort entwendeter Wert- Drachentöter-Geschichte zu Gunsten des sachen wird nun selbst zu einem sakralen Hundes, der jetzt allein den Kampf gegen Wert gesteigert und dem klugen Hund Moti das Ungeheuer besteht, während sein Herr gewidmet. sich dem lustvollen Zeitvertreib der Jagd hingibt - eine Variante des Totschlags, der In der Variante der Kathiawar-Region ließ am Ende der Geschichte eintritt, die aber der Eigentümer des Hundes ausdrücklich ei- mit dem hohlen Anspruch auftritt, das Ganz ne riesige Zisterne an dem Ort ausheben, an Andere in der Zeremonialjagd unterwerfen dem der Hund irrtümlich getötet wurde, er und/oder domestizieren zu können. Dabei nannte sie, die wohl eher einem kleineren erweist eine Attacke des Undomestizierba- Stausee als einer üblichen Zisterne glich, ren aufs Ureigenste des Herrn, nämlich sei- Chitros Zisterne nach seinem Hund Chitro - nen wertvollen männlichen Nachfolger, die an exceeding intelligent dog (Emeneau, 11) moralische Inkompetenz des feudalen -, und in der Mitte des Stausees ließ er auf Herrn. Insofern also ist die Eliminierung des einer künstlich angelegten kleinen Insel ei- herrschenden Retters aus dem Drachen- nen Tempel errichten, in dem er das Bild des töter-Textmuster eine subversive Rache der Hundes aufstellte, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 507

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which is there to this day. Afterwards a being orally diffused to contain a foot- village was founded near the tank, note or a tailpiece saying that it is an which was called Chitrasar also after etiological myth. this small lake (Emeneau, 11). Es drängt sich nicht nur Emeneau (7), der Die Akzeptanz in der Bevölkerung für dieses diese Varianten akribisch recherchiert und hündisch konnotierte Heiligtum ist so groß, untersucht hat, der immer stärker werden- dass ein Wallfahrtsort entsteht - ganz ana- de Verdacht auf, dass hier eine Geschichte log zum Aufblühen ökonomisch darbender einen geheimnisvollen Ort erklären soll, Orte in Europa nach dortigen Marien- dessen ursprünglicher Sinn verloren war. erscheinungen. In den Varianten aus den Emeneau schlägt vor, die gemeinsame Quel- Central Provinces Indiens scheint die Affi- le dieser almost identical similarity in einem nität zum Wasser verloren zu sein, denn hier Gott zu finden, der im Norden Indiens Bhai- wird nur erzählt, dass ron, in der Maratha-Region Bhairoba (oder auch Biroba, ja nach Transskription) und im the original owner built a temple Sanskrit Bhairava genannt wird (> 482-92) containing an image of the dog; this und dort als eine der Inkarnationen des temple is called Kukurra Mandhi “Dog´s Hauptgottes Shiva konzipiert ist. Bhairon, Temple” (Emeneau, 7). d.i. „unser“ Bhairava, sind Tempel gewid- met, die In der Variante der Nasik-Region wird offensichtlich die Wasser-Affinität ver- contain images either of himself and his schleiert fortgeführt, wenn es dort heißt: dog, or occasionally merely of the dog. Though the godling (~ Bhairon usw.) is The banker was assured that though not mentioned in our story-versions in Moti (~ sein Hund) had seemed but a connection with any of these dog- dog of the dogs, there had been in him shrines, it seems most plausible that (!) something God-like. Therefore he they are shrines of the Bhairon-cult to fashioned the dog ... and built for it (!) which the folk-tale (~ unser Textmuster) a temple, that Moti may guard our has become attached because they con- village for ever ... the banker comme- tain merely a dog and no god. It is pre- morated the dog by building a temple cisely in the area of Bhairon-worship with a (!) dog´s image, and the pass at that we find our story attached to a the foot of which the village and tem- temple where a dog is worshipped, ple are situated is called Kuttar Bari “Dog´s Gorge” (Emeneau, 13 & 7). hebt Emeneau (7) hervor, der doch mit seinem Hinweis auf Bhairon usw. selbst nur In dieser Hundeschlucht (~ KUR ) dürfen wir eine weitere ätiologische Erklärung liefert, wohl mit Recht einen Fluss- oder zumindest die den Mythos als solchen keineswegs Bachlauf vermuten. Diese Assoziation mit erklären kann, denkt man z.B. an die Was- dem Wasser - über die Zisterne, den Stausee ser-Assoziation. Warum sollte denn gerade und die Schlucht - wird sich weiter unten als in Regionen, in denen Bhairon (im Norden höchst bedeutungsträchtig erweisen, doch als schwarzer Hund), Bhairoba und Bhai- folgen wir vorläufig noch Emeneaus durch- rava noch jetzt als Hund verehrt werden, aus zutreffender Feststellung, dass eine ätiologische Erklärung geliefert wer- den, wenn doch der Kult des Gottes lebt? we do not expect an event to happen Nur wenn die ursprüngliche Bewandtnis with almost identical similarity five vergessen ist, braucht man eine ätiolo- times, nor do we expect a story which is gische Erklärung. So ist es z.b. der Fall in Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 508

508 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

islamisierten Regionen nicht nur Indiens, folger des Mungo - Emeneau verkennt, sondern auch Pakistans, auf die Emeneau dass ein Mungo als Hundersatz den Brah- selbst hinweist, ohne zu merken, dass nur manen begleiten muss, weil die Nähe oder hier das vermeintlich ätiologische Element gar die Berührung eines Hundes, und wä- tatsächlich ätiologisch funktioniert: re es „nur“ dessen physische Vernichtung, einen Brahmanen total „verunreinigen“ In the Hyderabad version (Emeneau würde - in der folgenden Version unseres meint zwar, es handle sich wahrschein- Textmusters kann ein anderer holy master lich um die Stadt Hyderabad in der durchaus einen Hund in seiner Umgebung indischen Deccan-Region, da aber der dulden, ohne dadurch entheiligt zu wer- Herausgeber zu diesem Text sagt: A den. Diese Version wird von den Pathans similar story is told by the Marri Baloches, erzählt, und sie könnte scheinbar Eme- and the tomb of the dog is shown near neaus These stützen von der rein zufälli- their capital Káhan, scheint sich die Ge- gen Kombination eines in islamisierter Um- schichte doch auf das pakistanische und gebung nun unverstandenen Hundetem- mithin islamische Hyderabad in Belut- pels mit der Geschichte vom zu Unrecht er- schistan zu beziehen, wodurch die Be- schlagenen Hund, denn die Pathans sind deutung der Geschichte noch um eine Dimension wächst) the dog and its mas- much more orthodox than the Brahui. ter, who committed suicide in remorse, “Hard by the shrine of the sainted were buried in one grave, which the ver- Husain Nika stands the shrine of his dog. sion says is still to be seen (Emeneau, 7). Never was there so wonderful a dog, we are told. A world of trouble it used to Die ätiologische Funktion dieser Erzählung save its holy master. For, whenever erschöpft sich darin, die im Islam etwas ab- visitors came along, it would bark - for wegig erscheinende Beisetzungspraxis zu every visitor a bark, no more, no less. erklären. Die Version, die aus den Kirthar- Now one fine day, lo! came four men to Hügeln der islamisierten Brahui (> 361: Kar- see the saint. But the dog barked thrice, te) Belutschistans überliefert wird, gibt and then lay down. And when the saint wohl die ätiologische Erklärung, warum in arose, lo! there were not three men but einem Tempel, in dem Schafe geopfert wer- four. And he was so incensed that, with- den, sich das Grab eines Hundes befindet: out staying to ask the why or the where- fore, he slew the dog then and there. It merely happened that the local Well, there was an end to the dog, there circumstances made it easy to attach was no doubt about that. But imagine the story and worship to a grave which the remorse of the saint, I ask you, when presumably did contain a dog´s body, the fourth man stood revealed as an unbelieving Hindu, who in his naughtin- meint Emeneau (8) und glaubt, es gebe ess had dressed himself up for all the ganz offensichtlich world like a true believer. All that a saint could do to make amends, Husain Nika no connection between this shrine and did. For he gave the dog a decent burial, those temples which we have thought and ordered that he himself should be to belong to the Bhairon-cult laid to rest close to the grave of his dog. Nay, he ordained this moreover - that - wie Emeneau ja auch glaubt, die Ge- whosoever should come to worship at schichte vom Faithful Dog as Security for a his shrine should first worship at the Debt sei abgeleitet vom Brahman and the shrine of his dog. And so it was, and so it Mongoose Story-Type, der Hund sei Nach- is to this day.” (in: Emeneau, 8). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 509

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Die Parallele zwischen dem indischen Brah- im 6. Band noch ausführlich beschäftigen. manen und dem islamischen holy man Es genügt an dieser Stelle, wieder eine Af- zeigt, dass die Variante mit dem Hund und finität zu Wasser, wenn auch zunächst ne- nicht die mit dem Mungo die ältere ist. gativer Art, zu erkennen, nämlich in Ge- Und was hätte sich die Inquisition im stalt einer Aversion gegen Wasser, gegen mittelalterlichen Europa doch Arbeit er- die wiederum der Hund bzw. sein Gebäu- sparen können mit dem Einsatz von Hun- de bzw. der Staub aus der Umgebung die- den zur zuverlässigen Früherkennung von ses Gebäudes ein wirkungsvolles Gegen- Ungläubigen und Hexern und Hexen. In gift abgibt: Eine direkt positive Affinität diesen islamischen Beispielen dominiert zum Wasser ergibt sich in den die ätiologische Funktion der Erzählung, und sie lässt uns Kynosophen mit gutem Lucknow stories. The Lucknow I ver- Recht annehmen, dass das Kultmuster um sion gives the fuller account and says den indischen Gott Bhairon/Bhairoba/Bhai- that from the spot where the dog was rava weit über Indien hinaus verbreitet killed sprang the river Kukrél ... The war, wenn auch nicht mit diesem Namen Lucknow II version says merely that the und nicht unbedingt mit identischen Kenn- event happened near this river. Both zeichen. add that the water of the river is, in consequence of the event, efficacious Den islamischen Varianten ist aber nicht as an antidote for hydrophobia. This is mehr die Wasser-Affinität zu entnehmen, the only point in common with the die in Versionen aus der Cawnpore-Region Cawnpore version. The name of the ri- - in einer der Cawnpore-Geschichten heißt ver is obviously connected, really or by der Hund sogar Bhyro (~ Bhairo ~ Bhaira- “folk-etymology”, with the Awadhi va) - und aus der Lucknow-Region mehr word for dog, “kukur” (Emeneau, 7). oder weniger deutlich zu bemerken ist: In der Cawnpore-Variante mit Bhyro errichtet Für Emeneau ist die Affinität vom Hunde- der Besitzer des Hundes, der von ihm wie totschlag zum Wasser nicht weiter erklär- his own son gehalten wird, zwar keinen bar, er spürt auch nicht das Defizit, das er Tempel, aber dennoch ein großes Gebäude zumal im kynosophisch geübten Leser hin- auf dem Platz, an dem Bhyro zu Tode kam, terlässt. Dabei gibt er selbst - ohne es zu und merken - massive Hinweise:

the dust of the neighborhood is Persons in Oudh bitten by dogs make a accounted an antidote for hydro- pilgrimage to the Kukral, near Luck- phobia. The place is called “Koo- now, in which they bathe. There is a le- kurreea Gaon”, i.e. “Dog´s Village” ... gend attached to this river, which ac- whither the natives who may have counts for the custom (Emeneau, 10). been bitten by dogs, resort, they belie- ving that the dust collected from the Ein Hundebiss kann also durch ein Bad in vicinity of Bhyro´s tomb, when applied einem heiligen Fluss geheilt werden. Der to the wounds, is an antidote for Name des Flusses steht in (volks?)-etymo- hydrophobia (Emeneau 7 & 10). logischem Zusammenhang mit kukur (~ Hund): Wer das Unheil zufügte, der kann In Kookurreea erkennen wir wieder leicht auch davon erlösen, in diesem Fall ist der die Grundform kukurra, und die Wasser- Erlöser der Hund. Es bleibt die Frage, wa- scheu, die durch Hundebiss hervorgerufen rum die Heilung gerade durch Wasser er- wird und gegen die der Staub aus des folgt - dass auch der Staub aus der Umge- Monuments Nachbarschaft hilft, wird uns bung eines hündisch konnotierten Gebäu- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 510

510 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

des dieselbe Wirkung wie hündisch kon- Der treue Hund - ein Vorbild notiertes Wasser haben kann, ist zwar auch im fortgeschrittenen Islam nicht die Regel, aber vielleicht fehlt etwas in jener Erzählung: Dass der Staub mit Wasser angerührt ein heilendes Getränk Für Ibn al-Marzuban gleichen seine ergibt. Und das ist keine Spekulation, wie muslimischen Zeitgenossen den schlimms- wir dann sehen werden, wenn das Text- ten Affenarten - diesen „Affen“ stellt er den muster in seinem kompletten Kontext er- Hund als Gegenentwurf gegenüber: scheint. Das aber werden wir erst im 6. Band betrachten, weil die europäischen Gone are the real people; they have gone Varianten vielfältiger sind, auch wenn ihr off on their own. We are left behind Modell in seinen christianisierten Formen amongst the worst kinds of apes! Among auf den ersten Blick kaum als das Textmus- people who look like people, but, when ter vom treuen Hund zu erkennen ist - was they are put to the test, turn out not to wiederum nicht verwundert, denn hier be people! (in: Man has gone to the wird das Muster vom faithful dog kunst- dogs! ~ Book of the Superiority 1. Teil; in: voll vermischt mit der Traditionslinie des Smith & Haleem, 2). zuerst hundsköpfigen heidnischen, dann zum Christentum konvertierten Elitekrie- Eine moralische Misere, die wir so früh im Is- gers. lam nicht erwartet hätten - und darf der hündische Spiegel als besondere Provoka- Wenden wir uns statt dessen ein letztes tion angesehen werden für eine Religion, Mal dem Hund im Islam zu - und zwar sei- die antrat, um alles besser zu machen? ner Rolle als Heiliger und Märtyrer in der Variante, die er im Islam spielt: Der 1. Teil The political and economic situation in der 18. Sure des Koran ist Teil einer escha- the Abasid empire at that time must tologischen Tradition, die sich in einem have increased the feeling of nostalgia von Indien bis England verbreiteten among its population and certainly not Textmuster dokumentiert, in dem ein least among the inhabitants of Iraq Hund in einer Höhle eine wesentliche (Smith & Haleem, X). Funktion einnimmt. Dass der Islam dem Hund eigentlich keine Märtyrer- und Hei- Ist es also die religiös bedingte, weil religiös ligenrolle zubilligen kann, ist uns bereits motivierte militärische Expansion des Islam klar geworden. Dennoch ist die Lage des vormals nach Westen, jetzt mit den Abbas- Hundes im Islam nicht immer trostlos, es siden nach Osten, die mit den Abbassiden gibt auch islamische Gegenentwürfe zur an die Grenze der Leistungsfähigkeit stößt Aversion gegen den Hund als unreinstes und die Untertanen sich nach vermeintlich Tier. sichereren Zeiten zurücksehnen lässt? Ist der treue, ehrliche, loyale Hund ein Lockange- Kommen wir daher noch ein Mal zurück zu bot an die iranischen Konvertierten, die die unserem arabischen und islamischen Hun- Abbasiden tatkräftig unterstützen? Die Ab- deverehrer Ibn al-Marzuban, der im 4. bassiden revanchieren sich, indem sie Jahrhundert i.Z. (also in „unserem“ 10. Jahrhundert) den meisten seiner zwar klei- take over much of the Persian (Sasa- dertragenden, aber im moralischen Sturz- nian) tradition of government. Support flug befindlichen Zeitgenossen in seinem by pious Muslims likewise led the Werk Fadl al-kilab den Hund als Spiegel Abbasids to acknowledge publicly the vorhält, auf dass sie sehen, wie menschlich embryonic Islamic law and to profess to sie sind: base their rule on the religion of Islam, Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 511

DER TREUE HUND - EIN VORBILD AUCH IM FORTGESCHRITTENEN ISLAM 511

wie uns die Encyclopedia Britannica (2003) Wenn Gott der Schöpfer aller Menschen informiert. Machtpolitisch motivierte Kon- ist, so ist zwischen den Menschen Güte vergenzen einerseits zum Iran, anderer- und Brüderlichkeit („Geschwisterlich- seits zum Islam: Ist es das, was die Leser des keit“ wäre eine anachronistische For- Ibn al-Marzuban und ihn selbst abstößt? mulierung) angezeigt: Durch den Glau- ben hat Gott aus den früheren Feinden Oder ist es eher der Rückgriff auf den Freunde, gar Brüder gemacht. Die Gläu- Koran, den die Harigiten, deren soziale bigen, Männer und Frauen, sind unter- Grundlage arabische Nomaden waren, we- einander Freunde, unter denen Groß- gen der wachsenden sozialen Unterschiede mut und Freundlichkeit walten sollen. unter den Muslimen predigen (Küng, 286)? Smith und Haleem bieten diese Perspektive Und das Gesetz der Vergeltung? Es ist an, ohne dabei die zuerst aufgezeigte keineswegs typisch für den Islam. Denn außer Kraft zu setzen: der Koran kennt auch durchaus die Ver- zeihung! Zwar darf man Böses mit Bö- This nostalgia was not a new phenome- sem vergelten, aber Verzeihung ist bes- non among the Arabs in this age, for it ser. Wer zur Verzeihung bereit ist, dem existed before and after the time of our wird auch Gott verzeihen. Ja, es wird author. Desert life with all its isolation, dem Muslim sogar empfohlen, Böses hardship and the need to be constantly mit Gutem zu vergelten: „Die gute Tat on the move demanded of its people ist nicht der schlechten gleich(zuset- absolute mutual trust and confidence zen). Weise (die Übeltat) mit etwas within the tribal unit. zurück, was besser ist (als sie), und gleich wird derjenige, mit dem du (bis Diese Forderung nach einem Vertrauen, dahin) verfeindet warst, wie ein war- das absolute mutual ist, wurde durch den mer Freund (zu dir) sein. Aber es (die Islam als neue Religion noch verstärkt into Fähigkeit, Böses mit Gutem zu vergel- a sense of total brotherhood, wie Smith & ten) wird nur denen dargeboten, die Haleem meinen, aber die Stammesorga- geduldig sind, - nur einem, der großes nisation ist ebenso vor-islamisch wie die Glück hat.“ - Ob sich ein solches neues Kreuzcousin-Cousinen-Heiraten, die tat- Ethos des Einzelnen nicht auch in der sächlich schon vor dem Islam zu dem Ge- Gesellschaft auswirken wird? fühl führen, dass jeder mit jedem eng ver- wandt ist. Brüderlichkeit ist also keine Das wäre die Norm und die große Frage, die islamische Erfindung. aber schon Ibn al-Marzuban negativ be- antwortet, und zwar auf eine Weise, die im If your dog wags his tail at you, then Islam aufs Schärfste provozieren muss: Er you can be sure that his tail-wagging is gibt die Antwort, indem er den Hund als das genuine. But do not trust in the tail- große Vorbild für die Muslime darstellt - Ibn wagging of people! Many´s the tail- al-Marzuban erscheint gar als Wegbereiter wagger who is treacherous! (in: Man´s der Sufi-Bewegung, die eine dem Islam Best Friend ~ 2. Teil des Book of Supe- völlig konträre, wenn auch in sich immer riority ...;in:Smith &Haleem, 8-9). noch sehr ambivalente Sicht auf den Hund entwickelt hat: Sieht „der“ Islam den Hund Die Kritik Ibn al-Marzubans an der früh- als faules, lasterhaft-bösartiges und un- islamischen Wirklichkeit, die ja die sozial ab- reines Tier, so achten die Sufi den Hund federnden Clanstrukturen zerbricht, könnte besonders, weil er in Armut und Elend lebt nicht besser theologisch zusammengefasst - sie identifizieren sich fast so sehr mit dem werden als von Hans Küng (201): Pariahund wie ihr griechischer Kollege Dio- Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 512

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genes (> VI), ziehen dann aber doch den Hunde lieben ihre Freunde und beißen ausgebildeten Hund vor, so sagt ´Ali Ibn Abi ihre Feinde, ganz anders als die Taleb, einer der Gründer des Sufismus: Menschen, die reiner Liebe unfähig sind

Amongst dogs, good is found only in the hunting and sheep dogs (in: Nur- bakhsh, xi).

Diese Präferenz wird aber nicht nur islamisch- utilitaristisch begründet mit dem Nutzen des ausgebildeten Jagd- oder Herdenhundes, sondern auch mit der Überzeugung, dass

the Sufi master, when instructing peo- ple, utilizes this same idea (vom Nutzen des ausgebildeten Hundes) to teach them that in addition to benefiting from the society in which they live, they must also serve and contribute to the well-being of that society. The idle indi- vidual is like a stray dog, worthless and Sigmund Freud streichelt seine junge Chow-Hündin Lun unproductive, while the useful indivi- Yug, die er im Juni 1928 bekam und die schon im dual, like the dog that is beneficial to Sommer 1929 bei einem Unfall starb. „Freud zögerte society, is valuable to that society and zuerst Annas angebotenen Ersatzhund anzunehmen, als worthy of respect (Nurbakhsh, xii). wollte er nicht sofort eine neue intime Verbindung ein- gehen. Doch Anfang 1930 kam eine neue Hündin ins Die Sufi-Texte vermitteln den Zeitgenossen Haus, wieder ein Chow, die Jofi, die sehr schnell zum die hündischen Werte der Demut, Treue Liebling der Familie wurde“; man muss wissen, dass usw. als Vorbilder, ganz so wie schon die Ge- Freuds Tochter Anna, die im Elternhaus lebte, einen schichten Ibn al-Marzubans, und gipfeln in männlichen Deutschen Schäferhund namens Wolf be- der Erkenntnis: saß, Freud aber hatte immer nur weibliche Hunde, die ihm wohl u.a.die jüngste Tochter Anna „ersetzten“: Als Happy is the one who leads the life of a Chow waren sie genauso selbständig wie Anna, ließen dog! For the dog (natürlich der ausge- sich aber wahrscheinlich ein ganz klein wenig besser bildete und daher nützliche Hund) has dressieren. Tochter Anna - ein phallisches Mädchen? - ten characteristics which every believer realisierte ihre notwendigerweise verweigerte Rolle should possess (in: Nurbakhsh, xii). der gehorsamen Tochter dennoch, indem sie den Hun- den der Familie ihre Stimme lieh in drolligen, aber Es folgen nun die zehn erstrebenswerten Qua- unterschwellig Vater-Tochter-Konflikte andeutenden litäten wie z.B. Besitzlosigkeit, daher kann der Hundegedichten: „Es ist nicht uninteressant, dass es ein Hund auch kein Erblasser sein, eine weitere er- Hund war, der Vater und Tochter zur einzigen gemein- strebenswerte Qualität. Für die Sufis wie für samen Publikation zusammenführte.“ Ibsen spräche Ibn al-Marzuban ist der Hund ein Spiegel, der wohl von einem gemeinsamen Kind: „Es ist das Buch den Zeitgenossen vorgehalten wird. Psycho- von Marie Bonaparte „Topsy: Der goldhaarige Chow“, analytisch nicht ganz korrekt übersetzt und das Anna und Sigmund Freud gemeinsam übersetzten. soziologisch und religionskritisch stark redu- Diese Arbeit hatte die Funktion der Ablenkung, als die ziert könnte die Erkenntnis Ibn al-Marzubans Nationalsozialisten die Macht ergriffen und beide auf in der Erinnerung von Anna Freud an einen ihre Auswanderungsdokumente warteten.“ Bild & Zi- Ausspruch ihres Vaters (> rechts) so lauten: tate in: Molnar, 87-8 & 90. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 513

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und jederzeit Liebe und Hass in ihren Lün, der (die) (Lüns Geschlecht ist nicht Objektbeziehungen mischen müssen genau bekannt, Freuds Systematik (in: Molnar, 81-2). spricht aber für eine Hündin) wie die Vorgängerinnen stets erstaunliche Der Sufi-Meister Naseho´d-Din argumen- Toleranz gegen Geruchsbelästigungen tiert sehr ähnlich, wobei einerseits die aller Art, gegen Tabakqualm und ande- schamanistischen Wurzeln - der Hund als ren Mief im stickigen Therapeuten- Geister- und Gottseher - bei ihm noch mit- zimmer (Freuds) an den Tag gelegt hat, schwingen, aber auch schon die plato- erträgt den Krankheits- und Todes- nische Wertschätzung des Hundes als geruch nach Krebs und Knochennekrose Wächter des Staates anklingt - Naseho´d- nicht. Lün mag es redlich versucht ha- Din achtet seinen Hund, ben, aber schließlich meidet der Hund die Nähe des Moribunden, kann ihn because of its capacity for friendship nicht mehr „riechen“. So erteilt das Tier with God, because it knew friend from seinem Herrn noch eine letzte Lektion foe and because it could distinguish über das Wesen von Tierliebe: Die bitte- between a lover and a repudiator of re Wahrheit von der Kraft des Instinkts God ... These are the qualities that the und der Gnadenlosigkeit einer „Zunei- dog of the Companions of the Cave (> gung ohne Ambivalenz“ (Etzold, in: Die 288-305) possessed. Dogs have always Zeit (9), 23.02. 2006). had these qualities. They are no diffe- rent today from what they were then Ob Freud Etzolds Projektion akzeptiert hät- (in: Nurbakhsh, 20). te? Wer täuscht sich hier wirklich über Lün? Vielleicht wäre Freud diese Ent-Täuschung Der atheistische Freud schätzte an seinen erspart geblieben, wenn er einen gut trai- Hunden - anders als die Sufis - wohl kaum nierten sag-did- oder sadis-Hund (> 153, deren schamanischen Draht zu göttlichen Abb. 5 d) für seine letzten Lebensjahre ein- Erscheinungen; und anders als an seiner geplant hätte. Freud war wohl immer auf jüngsten und eifersüchtig behüteten und der Suche nach einem nicht-ambivalenten deshalb besonders renitenten Tochter Verhältnis zu einem anderen Lebewesen Anna schätzte Freud an seinen Hunden und glaubte es mit seinen Hunden realisiert zu haben. Der Hund aber ist im Prinzip nie Anmut, Ergebenheit und Treue; was frei von Ambivalenz, er ist geradezu das er oft lobend hervorhob - als ausge- Symboltier der Ambivalenz - nur in der all- sprochenen Vorzug im Vergleich zu täglichen Relation zwischen Hund und Hun- den Menschen -, war die Abwesenheit debesitzer einerseits und Hund und Frem- jeglicher Ambivalenz, den andererseits - also nicht nur als Kon- trastprogramm, wie Canophobe wähnen so erinnert sich auch Freuds jüngste Toch- könnten - erscheint die Unbedingtheit des ter Anna (in: Molnar, 81) zwei Jahre vor jeweiligen Individuums Hund zu Recht als ihrem Tod an ihren Vater: frei von Ambivalenz, das Gattungswesen Hund hingegen ist geradezu gekennzeich- Hier werden die Hunde als Sinnbild für net von einem Übermaß an Ambivalenz - ambivalenzlose, vollkommene Liebe was den Hund natürlich zum Spiegel und beschrieben Alter Ego des Menschen prädestiniert. Abu ´Ubaydah bringt diese spezielle Freiheit von meint Molnar (82) zu Recht - und dennoch Ambivalenz mit einem Zweizeiler auf den wird Freud am Ende seines Lebens von sei- Punkt, kommt aber danach auch nicht ohne nem letzten Chow enttäuscht: weitere Erklärungen aus: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 514

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“Saluki being given water in the desert.“ Das Bild illustriert eine Geschichte im „Bustan“,enthalten in einem größe- ren Manuskript vom „Kulliyat“ des Autors Sa´di aus der Safawidenzeit. 974 A.D.; 1566 Persian. British Library MS, Add 24944, f 37a. Die Szene ist vielleicht auch eine Anspielung auf ein Hadith Mohammeds (> 61),das den Zugang ins Paradies auch dem verheißt, der einem durstigen Hund in der Wüste Wasser gibt. Bild & Zitat in: Smith & Abdel Haleem, Abb. 3.

His neighbor and blood brother turn der schwer verwundet von den Räubern in their backs on him, while his dog digs einen Brunnenschacht gestoßen und mit him out alive, even though he has Erde bedeckt wird. Nur der Hund, obwohl beaten him (in: Man´s Best Friend ~ 2. von seinem Herrn oft verprügelt, versucht Teil des Book of Superiority ...;in:Smith ihn mit seinen Pfoten wieder auszugra- &Haleem, 18). ben; eine vorbeikommende Karawane sieht den Hund, glaubt, er schaufle ein Der Besitzer des Hundes fällt mit seinem Grab, geht näher heran und entdeckt und Nachbarn und seinem Blutsbruder unter befreit des Hundes Herrn. Abu ´Ubaydah die Räuber, seine beiden Begleiter können behauptet, der Ort des Geschehens werde entkommen und kümmern sich nicht wei- seitdem Des Hundes Brunnen genannt ter um ihren „brüderlichen“ Gefährten, und das Ereignis beweise Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 515

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Wer seinen Hund pflegt, der hat einen dankbaren Hund: “A dog greeting his master. From the ´Miftah al-Fodha- la´ by Mohammad Ebn Mahmud Shadiyabadi, a glossary of rare words and proper names according to ancient Persian poetry.The miniatures in this manuscript are in the Persian style dating from the 15th century.This picture illustrates the entry for the word ´dumbaleh´ (tail wagging)“, erläutern die Herausgeber von Nurbakhshs “Dogs from a Sufi point of view”. British Library MS, Or 3299, f 128a”; > 516: Der dankbare Hund verteidigt Leib und Gut seiner Leute: “Intruder repelled by dogs. ´Gulistan´ of Sa´di. 975/A.D. 1567 Persian. British Library MS, Or 5302, f 76b.” Bild & Zitat in: Smith & Abdel Haleem, Abb. 2 & 6 (> 516). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 516

516 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 517

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Die mystische Fuchsjagd in ihrer sufitischen Variante - eine Illustration zum „Makhzan al asrar“ von Nizami: “The dog disappears one day and the hunter, grief-sticken, manages to maintain his composure, relying on patience and reason. A fox comes on the scene. Seeing the hunter in this distraught state he berates him for his devotion to the dog, and counsels him to put the dog out of his mind. A moment later, as the picture illustrates, the hunter´s dog runs up and seizes the deceptive fox.The hunter´s patient faith and devotion to the dogs loyalty and service, based on his certainty and trust in Providence, allows Nizami to draw this moral:

´Whosesoever certitude leads him to devotion Shall be at least befriended by good fortune For certain, feet become heads by motion By thought - for sure - is stone to gold transformed´.

This book is contained within a larger manuscript of a Khamseh, dated 1664-7. The miniature is signed by the Turkoman artist Talib Lala of the Du´l-qadir tribe, done in the Isfahan style during the Safavid period (add. 6631, f. 16b B.L. London). In: Nurbakhsh, 69. Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 518

518 6. KAPITEL · DER MYTHOS VOM HUND IM FRÜHGESCHICHTLICHEN INDIEN

the dog´s natural faithfulness, his in- fragte: „Was hat er mit dem Hund ge- nate friendliness and staunch defence macht?“ „Ich weiß nicht, aber ich habe of his master; also his experience, pati- gesehen, wie er sein Maul mit einem zer- ence, nobility, wonderful resourceful- rissenen Stück Stoff befeuchtet hat, dass ness and his exceptional usefulness (in: er in schlammiges Wasser getaucht hat- Man´s Best Friend ~ 2. Teil des Book of te“, antwortete der Mann. „Er ist ein Superiority ...;in:Smith &Haleem, 18). besserer Muslim als du es bist, denn er ist gut zu Tieren“, sagte der Prophet. Wenn also mit dieser Geschichte und weite- ren Varianten das menschliche Defizit in der Und mit diesen beiden Hadithen konkurriert frühislamischen Gesellschaft aufgezeigt ein Passus aus den mittelalterlichen Marien- wird, dann hat der Islam zumindest nichts wundern, die im Frankreich des 12. Jahrhun- zur Reduktion des Defizits und nichts zur derts verfasst wurden und die bis in die äthio- Rückkehr zu den good old days beigetra- pisch-koptische Kirche hineinwirkten: In ara- gen. Das wird auch nicht ausgeglichen durch bischer Übersetzung liest man in der kop- jenes bewegende Hadith (~ dem Propheten tischen Variante, dass ein durstiger Hund von Mohammed zugeschriebene Worte oder Ta- seinen Leuten von der Quelle verjagt wurde - ten, die für Muslime direktiven Charakter da stand die junge Maria auf und brachte dem haben), das von einem durstigen Mann er- Hund Wasser in einem ihrer Holzschuhe, und zählt, der in einen tiefen Brunnen steigt, um dies zur großen Überraschung der Hunde- seinen Durst zu löschen. Als er wieder nach feinde. Diese Tat der Jungfrau wurde - wie vie- oben kommt, sieht er einen ebenso dursti- le andere natürlich auch - sehr oft auf äthio- gen Hund, der aber statt des ihm nicht er- pischen Bildern dargestellt (in: > Mahmoud Zi- reichbaren Brunnenwassers vor lauter Ver- bawi, Orients chrétiens, 1995, 257). Schmei- zweiflung Sand schleckt. Der Mann steigt chelt sich mit dieser Anekdote (~ eine nicht nochmals in den Brunnen hinab, um auch veröffentlichte Geschichte; ein Hadith ist ja für diesen Hund Wasser zu holen. Als er wie- tatsächlich ein nicht herausgegebenes Wort der nach oben kommt, sind ihm alle Sünden des Propheten) eine Religion in die Herzen vergeben - Zarathustra hätte an diesem tierliebender Heiden ein? Hat so ein Marien- Hadith des Propheten seine Freude gehabt. wunder bzw. Hadith auch eine korrigierende Eine andere Variante wird noch deutlicher: Wirkung nach innen? Das Marienwunder wird in Frankreich selbst kompensiert von Eines Tages näherte sich ein sterbender dem Heiligen Josse, der uns nicht nur phone- Hund einem Anhänger Mohammeds. tisch an die Wäscherinnen von Josselin in der Der Mann hatte keine Möglichkeit, Was- Bretagne (> VI) erinnert, wenn auch als deren ser für den Hund zu beschaffen, denn christliche Inversion: Der heilige Josse - so be- Brunnen in der Wüste trocknen schnell richtet Albertus Magnus -, trifft auf seiner täg- aus. Da bemerkte er in der Nähe einen lichen Promenade den Vicomte Aymont, der kleinen Teich mit schlammigem Wasser. von der Jagd zurückkehrt und so erhitzt (!) ist, Er zerriss sein Hemd, tränkte es mit dem dass er nicht mehr reden kann - die Unfähig- Wasser, nahm den Hund auf den Schoß keit zur Rede indiziert seinen bestialischen Zu- und befeuchtete sein Maul mit dem nas- stand: Er hat sich seinen Hunden angeglichen sen Tuch. Ein anderer Araber, der dies wie König Arthus (> VI). Der heilige Josse sah, ging zu dem Propheten und sagte: schickt ein Stoßgebet zum Himmel, pocht mit „Einer deiner Anhänger hat ein drecki- seinem Stab auf einen Felsen - dem sofort küh- ges Tier (soll wohl heißen: ein unreines les (!) und klares Wasser (des Geistes) ent- Tier), einen Hund, berührt, und daher springt und den Vicomte ins menschenwür- sollte es ihm nicht erlaubt werden, hier- dige Leben zurückbringt (von der Funktion her zurückzukommen.“ Mohammed wie das Abklingbecken der Berserker). Die Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 519

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Hunde wollen natürlich auch trinken, aber der Moralia, mithin eine bewusste Entschei- hygienebewusste Heilige erschließt für sie ei- dung des arabischen Redakteurs Ibn al-Mar- ne weitere Quelle, und so heißt noch heute zuban, zumindest bezieht er virtuell inner- die eine Quelle der Jäger, die andere Quelle halb einer erst viel später offen entbrann- der Hunde (Saintyves, 1922, 159). Die Diskri- ten islamischen rechtsphilosophischen Dis- minanzfunktion dieser Legende ist ungleich kussion frühzeitig und dezidiert Stellung: größer als die des Marienwunders - aber bei- de Legenden schmeicheln sich und ihre Reli- In any case this legal description of the gion in die hundevernarrten Herzen der in Eu- dog´s ritual uncleanness (im Hayawan ropa zu Bekehrenden ein. Die Anwendung noch unwidersprochen tradiert) is not dieses Topos im Islam wendet sich aber offen- universal and it did become one of the sichtlich an die Hundeverächter unter den differences of legal opinion in Islamic Muslimen. Für diese immanent islamkritische law (ikhtilaf) between the orthodox Komponente des Hadith spricht auch, dass Ibn schools of law (madhahib). For instance al-Marzubans größter Zulieferer an Hundege- the Maliki school appears to have been schichten, nämlich Jahiz mit seinem Hayawan, ready to accept the ritual cleanliness of schon gut fünfzig Jahre früher in dieselbe kul- the dog, whereas the Shafi´is were not. tur- und gesellschaftskritische Kerbe schlug. The point has been highlighted by the Auch Ibn al-Marzubans redaktionelle List, die recent publication of an Arabic ma- Geschichte vom zu Unrecht erschlagenen nuscript preserved in the University of Hund ans krönende Ende der Textsammlung Leeds ... The work is in three parts, the zu stellen, very emphatically underlines the first being a list of eight reasons advan- message of the entire collection, das meinen ced by the Maliki lawyer, Ali b. Muham- auch Smith & Haleem, ohne auf die potentiell mad al-Ujhuri, who died in 1066/1656, islamkritische Komponente einzugehen. Auch an Azharite from Egypt, for regarding wenn in die Textsammlung viele Erzählungen the dog as ritually clean, the second a re- aus der früher veröffentlichten iranischen futation of these by an unknown Shafi´i Sammlung Hazar afsana eingegangen sind, and the third the response by al-Ujhuri, so stammen doch nicht wenige aus originär powerfully refuting the Shafi´is own re- arabischer Tradition. Hier in Arabien aber ist es futations and insisting on the cleanliness vorher nicht der Hund, sondern der Falke, der of the dog (Smith & Haleem, XXX). den mustergültigen Helden abgibt. Vor dem Falken bzw. der Erfindung der Jagd mit Falken In „der“ islamischen Tradition ist der Hund gilt, also längst nicht so unrein, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte: that the hound´s importance to the very existence of the familiy and tribal unit There are two Traditions in Bukhari, as a meat provider cannot be over- each reading almost word for word like emphasised, for hawking was all but the other. The prophet tells of a man unknown at this time. This close rela- walking along overcome by thirst. He tionship between hunter and hound manages to find a well, goes down it assured for the saluki a position far su- and drinks his fill. Emerging, he finds a perior to that of the ´ordinary´ dog in panting dog eating moist earth in an later times (Smith & Haleem, XXVII). attempt to quench his thirst. The man realises that the dog is as thirsty as he Die Abkehr vom Falken und die Rückkehr was and goes down the well again, fills zum natürliche(re)n Muster „Hund“ ist eine his shoe (vgl. Maria) and gives the dog Zuwendung zu persisch-iranischen und eine to drink. The Prophet adds ´God than- Abwendung von frühislamisch motivierten ked him and forgave him (his sins)´. In Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 520

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the Tradition of Muslim, it was a prosti- Certainly with regard to animals - even tute (vgl. nochmals Maria!) who quen- with respect to our dogs that we know ched the dog´s thirst (die Hure und ihr and love best, we are often in the dark Hund!); even she is to be forgiven! as to what is their momentary dispo- sition and requirement. But how ins- wundern sich selbst Smith und Haleem tructive it is to watch precisely such (XXX). Auch Jahiz, ein führender Theologe animals thus dear to us - I mean their seiner Zeit, verteidigt den Hund in seinem knowledge and love of us, and their Hayawan in der Debatte zweier Theologen need of us and of our love! über Wert und Unwert von Hahn und Hund Our dogs know us and love us, human by pointing out the wonders of the individuals, from amongst millions of Creator with reference to such see- fairly similar other individuals. Our dogs mingly unimportant creatures as these know us and love us most really, yet ... Jahiz even continues with certain they doubtless know us only vividly, not capabilities with which God has en- clearly; we evidently strain their minds dowed the dog and which man lacks after a while - they then like to get (Smith & Haleem, XXXI). away amongst servants and children; and, indeed, they love altogether to Diese Position ist umso erstaunlicher, als die escape from human company, the rich Verteidiger des Hahns den Hund natürlich and the dim, or (at best) the vivid expe- vehement kritisieren - es wird nicht deut- riences - the company that is above lich, ob sie die relative Gleichwertigkeit von them, to the company of their fellow- Hahn und Hund - wie z.B. in Afrika (> II, creatures, the company that affords so 579), wo die mit dem Hund importierte much poorer but so much clearer im- Mythologie besonders gut erhalten ist - als pressions - the level company of their Tiere auf der Schwelle und folglich als See- brother-dogs. And yet, how wonderful! lengeleiter nicht erkennen. Aber trotz aller dogs thus require their fellow-dogs, the Gegenargumente der Hahn-Fans beharrt shallow and clear, but they also require Jahiz auf dem Wert des Hundes. Der Hund us, the deep and dim; they require in- avanciert bei ihm sogar zum Modell des deed what they can grasp; but they as Menschen in Bezug auf Gott: really require what they can but reach out to, more or less - what exceeds, We are told that someone said to a protects, envelopes, directs them. And, certain wise man: Give me some good ad- after a short relaxation in the dog- vice. The wise man replied: Be an ascetic world, they return to the bracing of the in this world and do not compete with man-world. Now pray note how if reli- others there. Be sincere to God Almighty gion is right - if what it proclaims as its as the dog is to his master; for they may source and object, if God be real, then starve the dog and beat him, but he will this Reality, as superhuman, cannot pos- still protect them loyally (in: Man´s Best sibly be clearer to us than are the reali- Friend ~ 2. Teil des Book of Superiority ...; ties, and the real qualities of these rea- in: Smith & Haleem, 8). lities, which we have been considering.

Moderne Theologen trösten ähnlich, so z.B. The source and object of religion, if re- Friedrich von Hügel, der on the prelimina- ligion be true and its object be real, can- ries to religious belief and on the facts of not, indeed, by any possibility, be as suffering, faith and love eine seiner kri- clear to me even as I am to my dog (Hü- tischen Leserinnen so belehrt: gel, 102; Hervorhebungen von Hügel). Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 521

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Und sollte das Gottvertrauen nicht reichen, dass die arabische Variante die metaphy- so genügt es dennoch, den Hund zu imitie- sische Überhöhung der indischen story auf- ren, um zu überleben: weist. Wie in Indien der Gott Indra, so schätzt in Arabien der Amir (~ König?) die When a man loses his way in the desert moralische Integrität seines Dieners höher and is afraid of the dark, he barks like a als seine eigene Aversion gegen dogs im dog to make the bedouin dogs bark Sinn von nicht-hounds. Man könnte also die back. Then he follows the noise that arabische Haltung zum Hund mit Smith und they make until he arrives at the en- Haleem (XXXIII) so zusammenfassen: campment (in: Man´s Best Friend ~ 2. Teil des Book of Superiority ...;in:Smith The dog was accepted by the Arabs, par- &Haleem, 8-9). ticularly on account of his ability to hunt and to guard. In the former connection, Natürlich sind diese akustischen Lotsen the ´long-eared´ hound (aghdaf), the sa- hounds und keine einfachen dogs, nur in luki, rose to predominance from very absoluten Ausnahmefällen, wenn ein dog early times, becoming in practical terms sich als Lebensretter betätigt hat, wird er, als above other dogs in rank and station. wäre er ein hound, im Haus geduldet. Ist das The great obstacle to a close relation- Rassismus oder eine Synthese aus Zunei- ship between man and dog amongst the gung und Zweckrationalität? Könnten wir Arabs has mainly been the high stan- doch Nasim fragen, dards of hygiene and cleanliness de- manded by Islam. But the dog among how the Amir could approve of his brin- the Arabs has generally been misunder- ging a dog into the house, when he was stood and seemingly critical statements not a hound (in: Man´s Best Friend ~ 2. have often been quoted out of context. Teil des Book of Superiority ...;in:Smith With Jahiz and more pointedly with Ibn &Haleem,22). al-Marzuban and his “Fadl al-kilab” the record has been set straight. In einer Fußnote bestätigen Smith und Ha- leem (37, FN 47) diese diskriminierende Ein- So mag es denn auch für die Kynosophische teilung in Über- und Unter-Hunde als gän- Zeitreise gelten, die hiermit auch has been gige Tatsache: set straight ... Es fehlt in der Korrektur mei- ner bislang etwas einseitigen Sicht auf die The story teller is here referring to the islamische Haltung zum Hund leider eine fact that the dog is not a saluki and Darstellung des Kitab al-Said, in dem should not therefore be permitted to enter the house. a good deal on hunting dogs (Serjeant, 86, FN 7) Am Ende seiner Geschichte hält Nasim denn auch fest: zu lesen ist. Und es fehlt leider auch eine Darstellung des 35. und letzten Kapitels aus This is my story and that of my dog. To dem Kitab al-Filaha, einem arabischen Kom- me he is dearer than any family or rela- pendium zur erfolgreichen Landwirtschaft, tions. von Abu l-Jayr um 1100 bis 1101 verfasst, der auch aus antiken Quellen schöpft. In der mir Eher hätte er wohl auf den Dienst im Haus zugänglichen französischen Ausgabe aus des Amir verzichtet als auf seinen Hund, dem Jahr 2000 sind alle Kapitel enthalten, und er erinnert so an die indische Legende nur nicht das 35., und in der spanischen Aus- von Dharma, seinem Sohn und Indra, ohne gabe von 1991 sind nur die den Ackerbau Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 522

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betreffenden Kapitel resümiert, nicht aber eignissen und Tatbeständen, besonders vor die die Viehzucht betreffenden und schon der „Andersartigkeit“, wurden ins Bild vom gar nicht das 35. und letzte, das sich mit der Hund als dem unreinen Tier par excellence Zucht und Aufzucht des Hundes als einem gepresst. Die Rede vom Hund war immer unentbehrlichen Helfer in der Landwirt- auch und sogar in allererster Linie eine im- schaft befasst. So ist leider festzuhalten, dass plizite Abhandlung über die vermeintliche die einseitig aufs Negative reduzierte Sicht- Beschaffenheit menschlicher Wesen, die z.B. weise einiger islamischer Rechtsgelehrter nicht männlichen Geschlechts waren / sind, durch den Verfasser des Kitab al-Filaha gut die z.B. einem nicht-muslimischen Glauben hätte ausbalanciert werden können in dieser anhängen oder die auch einfach nur so ein Kynosophischen Zeitreise, wenn seine euro- „Hund“ sind. Wenn von Mohammed das päischen Herausgeber nicht die pseudo(?)- Hadith überliefert wird, dass Esel, Hunde, arabisch-islamische Schere im Kopf oder ei- Frauen und Nicht-Muslime, so sie vor beten- ne hundegleichgültige oder gar canophobe den muslimischen Männern vorbeigehen, Einstellung gehabt hätten. Bilanziert man deren Gebet annullieren, dann zeigt die Ge- die gesellschaftliche Position des Symboltiers mengelage die Austauschbarkeit dieser ganz Hund in der islamischen Gesellschaft, so besonderen vier Elemente an. Und wenn kann man mit Khaled Abou El Fadl als einem vom unreinen Hund die Rede ist, dann kann der wenigen muslimischen Kynosophen (in: man mit Fug und Recht eines der anderen www.scholarofthehouse.org/dinistrand drei Elemente an seine Stelle setzen: Der na.html) nicht nur sagen, dass zeitgenös- Spruch wird immer richtig sein. Und wenn sische des Propheten zweite und Lieblingsfrau Aisha gegen diesen Spruch protestiert, weil Islamic discourses on the nature, and die Frauen unzulässig herabgesetzt werden, function of dogs are representative of a und wenn islamische Rechtsgelehrte diesen range of tensions regarding the roles of Spruch wegen Aishas Protest als unecht ab- history, mythology, rationality, and mo- qualifizieren, dann beweist doch schon allein dernity in Islam, Aishas Protest, dass dieser Spruch des Pro- pheten doch echt gewesen sein muss - und nein, auch schon im frühen Islam spiegelt dass sie seine Aversion gegen den Hund teil- sich im Verhältnis zum Hund die te. Das Dilemma modernisierender isla- mischer Rechtsgelehrter liegt offensichtlich challenging dynamic between revealed in der Alternative, einerseits entweder echte religious law, and the state of creation von unechten Sprüchen des Propheten un- or nature. In addition, certain aspects of terscheiden bzw. solche Unterschiede kon- these debates pertained to the power struieren zu müssen, um in der heutigen Zeit dynamics of patriarchy, and more gene- bzw. in „moderne(re)n“ Gesellschaften ko- rally, the construction of social attitudes existieren zu können, oder andererseits die towards marginal elements in society. Historizität der gesamten religiösen Doktrin anzuerkennen. Erst wenn der zweite Teil die- Zu diesen Randelementen der Gesellschaft ser Alternative allgemein erreicht ist, wird gehören nicht nur im Islam - aber hier in heu- man von einem modernisierten Islam spre- tiger Zeit besonders auffällig -, sondern auch chen können. Bis es so weit ist, wird man sich in anderen Kulturen, z.B. in der griechisch- zur Legitimation des Hundes in menschlicher römischen Antike, aber auch noch in der so- Gesellschaft über seinen bloßen utilitaris- genannten europäischen Moderne, die Frau- tischen Aspekt als Jagd-, Herdenschutz- und en. Männliche und im weiteren Sinn soziale Wachhund hinaus immer behelfen müssen Ängste vor unerklärlichen, bedrohlichen mit hilflosen Hinweisen auf die Tatsache (?), oder auch einfach nicht vorhersagbaren Er- dass die young cousins des Propheten Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 523

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and some of the companions owned mosque, für ihn ist und bleibt der Hund un- puppies (Abou El Fadl), oder dass other rein, auch wenn Jane Vernon, eine blinde reports indicated that the Prophet Britin, mit ihrem Führhund vor seinem Taxi prayed while a dog (his dog?) played in steht und nach Hause möchte. Der Inhaber the vicinity. Oder dass in addition, der Taxifirma, so berichtet Mrs. Vernon, there is considerable historical evi- dence that dogs roamed freely in Me- Niven Sinclair, was also very insensitive, dina and even entered the Prophet´s telling me that what had happened to mosque (Abou el Fadl). me wasn't really very important, and I should have more respect for other Will man sich auf diese Argumentation ein- people´s culture. They have shown very lassen, dann ist der Verweis auf die 18. Sure little respect for my rights as a disabled doch wohl der beste Beweis, dass alle cano- person and have never once offered me phoben Positionen zum Hund im Islam un- an apology (in: www.dailymail.co.uk). gültig sind: Das blinde Verständnis für andere Kulturen Wir wendeten sie (~ die sieben Schläfer) und die Hintansetzung elementarer Rechte auf die rechte und die linke Seite, wäh- von Behinderten der eigenen Kultur aber ist rend ihr Hund seine Beine in ihrer Mit- kein islamisches, sondern ein europäisch- te ausstreckte (in: Koran, Sure 18, 18). westliches Problem, das uns hier nicht wei- ter interessiert. Auch dass Jack Straw den Wir - das sind Gabriel und andere Engel, Vorfall begierig aufgriff, um ihn in ein an- oder gar: Gabriel und Allah persönlich. Wa- deres, wenn auch damit verwandtes Pro- rum hält man sich dann noch mit jenem Ha- blem umzumünzen - Straw row intensifies dith auf, das uns versichert, dass Engel, die as he calls to scrap veils completely - ist hier Gnade und Vergebung spenden, niemals in nicht von Belang, denn der muslimische ein Haus einkehren, in dem ein Hund oder Taxifahrer trug keinen Schleier, so viel ist gar mehrere sich aufhalten? Das würde ja sicher. bedeuten, dass 309 Jahre lang kein Engel die Höhle betreten hat, dass die Schläfer Solange also die Auseinandersetzung mit 309 Jahre lang nicht regelmäßig von der ei- der Projektion sozialer Ängste auf den nen auf die andere Seite gewendet wurden. Hund nicht explizit thematisiert wird, tra- Und dennoch versichert Allah via Gabriel: dieren auch die islamischen Befürworter des Hundes die Vorbehalte gegen die anderen Wir wendeten sie ... während ihr Hund drei Elemente der o.g. Gemengelage - und seine Beine in ihrer Mitte ausstreckte. somit auch die Aversion gegen den Hund, auch wenn sie das alles nicht beabsichtigen. Mehr noch: Der Hund wird durch die zwang- Solange wird dieses kulturell bedingte Vor- hafte Aufzählung zusammen mit den drei, urteil nicht nur gegen den Hund, sondern fünf oder sieben Schläfern zu ihrem Gefähr- auch gegen Esel, Schwein, Frau und Nicht- ten erhoben: Der Koran auf der Spur des Ge- Muslim im Islam weiter überleben. Daran fährten! Was will man mehr? Aber was in- konnte schon Ibn al-Marzuban nichts än- teressiert schon jenen Taxifahrer Abdul Ra- dern, und auch mein um Ausgleich bemüh- sheed Majekodumni im London des 6. Ok- ter und die Auseinandersetzung mit dem Is- tober 2006 der Nachweis, dass ihr Hund lam abschließender Verweis auf einige seine Beine in ihrer Mitte ausstreckte, wäh- islamische Mythen zur Entstehung des Hun- rend Gott und/oder Gabriel die Schläfer des, die ich Mahmoud und Teresa P. Omid- wendete, oder dass dogs roamed freely in salar verdanke, wird an dieser pessimis- Medina and even entered the Prophet´s tischen Einschätzung nichts ändern können: Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 524

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Three distinct myths of the creation of ten Varianten der Erzähltradition noch er- the dog can be reconstructed from halten können. Die Begründung des Ver- Islamic texts. bots, Hundefleisch zu verzehren, sei eine Form von Kannibalismus, verweist auf den According to a tradition related on the früheren Glauben der Konsubstantialität authority of Ali b. Abi Taleb, when von Mensch und Hund sowie auf totemis- Adam and Eve were cast out of para- tische Vorstellungen, deren Spuren im Vor- dise, Satan came to the beasts of the deren Orient ich im 4. Band als Indizien für earth and encouraged them with vio- einen Hunde-Clan rekonstruiert habe. lent cries to attack and devour the couple; his spittle flew out of his Eine der drei Hauptgottheiten des frühen mouth, and God fashioned a male and sumerischen Pantheons, Bau alias Gula (> a female dog from it. The male was IV) wurde als hundsköpfige Göttin des Le- sent to guard Adam and the female to bens und des Heilens dargestellt: Ihre Hun- protect Eve. The enmity between the de heilen durch Lecken der Wunden - und dog and wild animals was thus initia- rufen sie so auch die im Kampf gefallenen ted. Krieger wieder ins Leben zurück? Das wäre eine Analogie zu den Aralez-Hunden der In a second version, God created the Armenier (> VI). Ich gebe zu: Für die ins Le- dog from the clay left over from His ben zurückleckenden Hunde der Gula gibt creation of Adam, which may lie be- es kein explizites Zeugnis, aber die könig- hind the assertion in some sources that lich-sumerischen Schrifttafeln nennen den dog bones and tissue may be grafted Kriegshelden ur-sag (~ wörtlich: Super- to the human body. Hund) - diese hündische Konnotation des Elite-Kriegers lässt mich denselben Kreislauf The third myth may be deduced from in Mesopotamien annehmen, wie ihn die a tradition about the taboo on eating Aralez-Hunde in Armenien suggerieren. the dog´s flesh because the animal is Diese Aralez-Hunde können wir wiederer- “metamorphosed”; the implication is kennen in dem treuen Hund des Heiligen that human sinners are transformed Rochus, der seinen Herrn leckend von der into dogs and that eating the flesh Pest befreit und so ins Leben zurückholt (> would be a form of cannibalism. A tra- VI). In Mesopotamien treten an die Stelle dition about the domestication of the des leckenden, d.h. heilenden Hundes die dog was related on the authority of sieben Töchter der hundsköpfigen Göttin Ebn Abbas: When Adam was cast out Bau: Sie versehen als Lukur-Priesterinnen of heaven and attacked by Satan, God den Dienst in den Bau-Gula-Tempeln, die ja reassured him and sent Moses´ staff as auch so etwas wie die ersten Krankenhäuser a means of defense; Adam struck a dog über haupt darstellen. Und mit den Kelabim with it, but God commanded him to (~ Hunde) genannten Priestern der Göttin pat the animal on the head. The ani- Inanna, die sieben Hunde besitzt, und des mal thus being domesticated, befrien- Gottes Dumuzi, der sich ebenfalls ein Meu- ding Adam and his seed (in: Dog in te von schwarzen (!) Hunden hält, organi- Ancient Iran - The Circle of Ancient Ira- sieren sie wohl zusammen die jährlich statt- nian Studies (CAIS)). findende Heilige Hochzeit. Eine der Lukur- Priesterinnen hieß Urnuntaea, und auch in Vor-islamische und wahrscheinlich auch vor- Lukur steckt vielleicht die Wurzel ur (~ jüdische, also vor-monotheistische Kompo- Hund). Die Assoziation der treusorgenden nenten der Hundeverehrung haben sich als Aralez-Hunde mit den Kriegern wie mit Splitter in diesen monotheistisch gedämpf- dem Heil- und Wiedererweckungsvorgang Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 525

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finden wir auch in Israels 13. Stamm, dessen Hundestammvater Kaleb (~ der Hunde- artige; > III) abgeleitet ist von kalev, was Hund bedeutet, aber auch - bezogen auf nur den Hund - treuer Gefährte. Wenn wir also den faithful dog von Indien bis England explizit nachweisen konnten, so finden sich doch implizit hinreichend Indizien, dass der Früheste Siedlungen in den Tälern Hund als treuer Gefährte des Menschen des Himalaya und die Spur nach auch in nachmals canophoben Kulturen und China Religionen bekannt war. Die unshapely dogs der jüdischen Tradition (> VI) erhalten Erst um -3.000 wagen sich die neo- ihre Gestalt zurück in jener Geschichte aus lithischen Menschen in die Randgebiete des dem 12. Jahrhundert, aber auch im Jeru- Himalaya, und die unwirtliche Lage zwingt salemer Talmud in einer Fabel des Rabbi sie, Erdhäuser zu bewohnen, um der Kälte Meir: Hier rettet ein treuer Hund seinem entrinnen zu können. Im neolithischen Herrn selbstlos das Leben, indem er sich an Burzahom im Kaschmir-Tal hielten es diese dessen Stelle opfert - wenigstens vom Hund Menschen von -2.920 bis -1.700 aus, sie aus gesehen gibt es immer Konsubstantia- sicherten sich ihren Unterhalt aber auch zu lität mit dem Menschen: Der Hund sieht, einem beträchtlichen Teil durch die Jagd, wo- wie eine Schlange die Milch vergiftet hat, bei ihnen der Hund behilflich war: Das belegt die sein Herr, ein Schäfer, jetzt trinken möchte. Der Hund bellt aufgeregt, aber ver- an engraved hunting scene on a stone geblich, denn sein Herr missachtet die War- slab with two identical suns and dog nung vor der Lebensgefahr und will die Milch zu einem Brei für sich und seine Kol- aus der neolithischen Periode von Burza- legen verrühren. Da trinkt der Hund ver- hom im District Srinagar (in: www.ignca. zweifelt die Milch und stirbt unverzüglich, nic.in; > oben). Und diese Neolithiker be- aber unter entsetzlichen Qualen. Er rettet seinem Herrn und den anderen Schäfern das Leben. Sie bestatten den Hund und er- richten ihm ein Grabmal zum Gedenken.

So schließt sich der Kreis von den ersten Sei- ten dieses Kapitels bis zu dieser Erkenntnis, dass auch canophobe Gesellschaften den treuen Hund nicht aus ihrem kulturellen Langzeitgedächtnis tilgen können. Dazu Der (ocker)-rote Hund aus Meluhha (> 30: Abb. 29 & > 52 f. war der Hund wohl zu lange, über Jahrtau- & > 68 f.) als Repräsentant des Tod-Leben-Prinzips? “Dog sende, vielleicht sogar über Jahrzehntau- figurine with a collar from Harappa (Breite x Höhe x Durch- sende hinweg zu sehr der Wegöffner und messer: ca. 1,9 x 5,3 x 3,3 cm). Some texts from Ancient Wegbereiter des weisen Menschen. Mesopotamia mention imports received from “Meluh- ha”, widely considered a reference to the Indus civiliza- Verlassen wir nun die potentiell versöhn- tion.Among these imports, according to some interpreta- lichen Aspekte, die uns Kynosophen die mo- tions, is a colored dog. A number of dog figurines have notheistischen Religionen eher unfreiwillig been found at Harappa and at other Indus sites.The collars bieten, und reisen wir vom indischen Sub- found on dog figurines probably signify domestication, kontinent jetzt weiter nach Norden - nach unlike the collars on the rhinoceros or the large felide Kaschmir, Tibet und China. figurines.” In: www.harappa. com/figurines/55.html Band_5_5.-6.Kapitel A Version neu 12 (486-8) 24.06.2008 14:42 Uhr Seite 526

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gruben manchmal ihre Lieben mit einem ten“ Völkern wie den ostasiatischen Gilya- Hundeschädel und auch z.B. mit antlered ken alias Nivkh (> I), den Ulchis und den Gol- deer - eine Cernunnos-Analogie? Die Bei- den in der Amur-Region (> I). Die in den setzung mit Hund gilt in Indien als ein Fundstätten südlich des Himalaya gefunde- nen Jade-Perlen gelten als eindeutiger Be- peculiar feature ... without parallel in leg für Handelskontakte mit den Regionen the subcontinent, and included the pur- nördlich des Himalaya. Und man hat auch poseful burial of other animals, such as Reis bei Grabungen im Swat-Tal gefunden: wolves and ibex (Allchin/Allchin, 113). Deutlicher können Hinweise auf den Trans- In der Tat sind Allchin/Allchin sehr erstaunt himalaya-Handel nicht sein, denn zu der Re- über die Tatsache, dass neben Wölfen und gion östlich des Indus und der Thar-Wüste, Steinböcken (ein weiteres Cernunnos-Indiz; wo vermutlich weltweit das erste Zeugnis > III, 205: Abb. 57) vor allem Hunde ihre Be- für Reisanbau gefunden wurde (Allchin, sitzer ins Grab begleiteten: Das sei 118), bestanden in jener Periode keine (nachweisbaren) Beziehungen. foreign to the Indian tradition ... the placing of domestic dogs in graves with Und obwohl die neolithische Kultur des their masters ... (Allchin/Allchin, 116), Swat-Tals zeitgleich ist mit der frühen und der reifen Phase der Harappa-Kultur (> 525: und die Form bestimmter steinerner Geräte Abb. ) im Indus-Tal, gibt es keinen Hinweis, sowie das Vorkommen von Jade-Perlen in dass diese beiden Kulturen Kontakt gehabt Burzahom bringt sie auf die richtige Spur: hätten (Allchin, 116; nicht betrachtet ist hier All diese Charakteristika findet man nicht in der östliche Ausleger des Indus-Tals, nämlich Indien, sondern im Neolithikum von Nord- Tibet, und nicht eingerechnet ist die Ein- China, und diesen Rückverweis in Burzahom wanderung der arischen und iranischen aufs chinesische Neolithikum werden wir „Völker“ aus der kasachischen Steppe über auch noch in Ban Chiang in Thailand an- Turkmenistan nach Iran und Indien). treffen (> 568 ff.). Die zuerst in Nord-China lokalisierte neo- Dort aber hat der Hund eine ganz andere, lithische Yangshao-Longshan-Kultur dehnte nämlich viel chinesischere Funktion. So sich bis in die Innere Mongolei aus (Fund- könnte man im Umkehrschluss die These stätte Ashan bei Baoutou am Huanghe, Ol- wagen, dass in Burzahom vielleicht Vorläu- sen, 60). In der auf -1.685 (± 135) datierten fer oder Verwandte der Minaro lebten (> bronzezeitlichen Fundstelle Dadianzi bei 647 ff.), die die Tradition der zeremoniellen Aohan Banner fand man Reste des Haus- Steinbockjagd mit Hund bis in unsere Zeit hunds zusammen mit Rind, Pferd, Schwein, praktizierten. Schaf und Ziege. Trotz des Schweins ergibt sich hier bereits das Bild einer proto-noma- Beide Fundorte - Ban Chiang in Thailand disierenden Viehwirtschaft, die in frühhisto- und Burzahom in Kaschmir - zeigen also ei- rischer Zeit die asiatischen Steppen domi- ne Spur, die nach China führt, denn dort nieren sollte. sind Bestattungen von Hunden in der neoli- thischen Ang-Ang-Hsi-Kultur in der Man- Die Hunde dieser Nomaden waren größer dschurei belegt. Der Hund war ein Kult- als ihre Kollegen, die Protein-Lieferanten „Objekt“ in der Shilka-Höhlen-Kultur am der Yangshao-Longshan-Kultur. Die Bestat- oberen Amur; und Hunde wurden bis ins tungszeremonielle von Dadianzi lassen be- vergangene Jahrhundert geopfert und mit reits auf eine deutlich und dauerhaft hier- ihren Besitzern beigesetzt bei „benachbar- archisierte Gesellschaft schließen.