Geologische Exkursion : Aar- und Gotthardmassiv, Urseren-Zone

Autor(en): Labhart, Toni / Wyss, Roland

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Bulletin für angewandte Geologie

Band (Jahr): 10 (2005)

Heft 2

PDF erstellt am: 23.09.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-225573

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http://www.e-periodica.ch Bull, angew. Geol. Vol. 10/2 Dezember 2005 S. 86-95

Bericht der 72. Jahresversammlung der VSP/ASP in : 24. Juni: Geologische Exkursion: Aar- und Gotthardmassiv, Urse- ren-Zone Toni Labhart, mit einem Beitrag von Roland Wyss

Übersicht 1 Einführung in der Die Exkursion vom 24. Juni 2005 führte in die weitere Schöllenenschlucht Umgebung des Tagungsortes Andermatt. Sie war gleichermassen Ergänzung zu den Neat-Stol- lenbefahrungen vom Vortag und Vorbereitung zu Toni Labhart begrüsst die fast hundertköpfige einigen Vortragsthemen des folgenden Tages. Teilnehmerschar beim Suworow-Denkmal Erkundet wurden der Südrand des Aarmassivs im der Schöllenen auf russischem Territorium Querprofil Schöllenenschlucht - Steinbruch Alt- in chilch bei Andermatt, ein Längsprofil parallel zur in symbolträchtiger Umgebung: Die Bruchzone am Südrand des Aarmassivs vom subglazial tief in den Aaregranit eingeschnittene Gutsch ob Andermatt zum Lutersee und schliesslich Strasse, ein Querprofil entlang der Kraftwerkstrasse Schlucht, durchquert von ins Val Curnera vom Tavetscher Zwischenmassiv Schiene und Brücken sowie die Allgegenwart durch das Permokarbon der Garverazone ins militärischer Festungsanlagen, verkörpern Gotthardmassiv. hier die drei zentralen, auf vielfältige Neben einem allgemeinen Überblick waren alpine und postglaziale bis rezente Störzonen und die Art und Weise miteinander verknüpften Gott- Überprägung alter Lithologien und Strukturen hardthemen Geologie, Verkehr und Militär zentrale Themen. (Fig. 3 und 4).

1.1 Geologie

Wir befinden uns im Zentralen Aaregranit, hart am Südrand dieses im Urner Reussprofil rund 8 km mächtigen grössten Granitkörpers y der Schweiz. Sein spätvariszisches ti ¦ !¦-' Alter konnte mit Uran-Blei-Altersbestimmungen an Zirkon sehr präzis datiert werden (298 ±2 ma; Schaltegger & Quadt 1990). Augenscheinlich ist die alpintektonische T, Überprägung. Sie reicht von mächtigen, morphologisch durch Couloirs markierte Bruchzonen in den Wänden bis zu einer im Aufschluss- wie im Handstückbereich erkennbaren selektiven Mylonitisierung, Ver- gneisung und Verschieferung. Es ist das klassische Bild eines unter niedrig metamorphen Bedingungen überprägten und tektoni- sierten Granits. Die Schöllenen ist eine km-tief eingeschnittene Schlucht an der Stelle, wo Eis und Fig. 3: In der Schöllenenschlucht werden die Zu¬ Schmelzwässer des alten mächtigen Urse- zwischen der Geschichte der sammenhänge rengletschers den Durchbruch aus den Teufelsbrücke (Bild), heutiger Verkehrslage weichen und Geologie auf eindrückliche Weise fassbar. Gesteinen des Urseren-Längstals nach (Foto: Christine Pümpin) Norden in den Aaregranit geschafft haben.

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Fig. U: Die Kongregation vor dem Suworow-Denkmal ist fasziniert von den Ausführungen von Prof. Toni Lab¬ hart. (Foto: Ciaire Mohr)

1.2 Verkehr Das mächtige, in den Aaregranit gehauene, 1899 errichtete Denkmal, dessen Grundfläche Jahrhunderte lang war der obere Teil der von 563m2 dem russischen Staat Schöllenen das Haupthindernis auf der geschenkt worden ist, erinnert an den Nordseite der gesamteuropäisch so bedeutsamen russischen General Alexander Suworow Gotthardroute. Das Engnis beim (1730-1800), laut Lexikon «einer der Urnerloch wurde schon früh auf überaus genialsten Heerführer des 18. Jahrhunderts». beschwerlichen Wegen westlich über den Im Herbst 1799 sollte er mit einer Armee Bäzberg oder östlich über den Gutsch (s. von 25'000 Mann von Süden her kommend unten) umgangen. Ein erster Brückenschlag über den Gotthard den im schweizerischen über die erfolgte wahrscheinlich im in Mittelland Bedrängnis geratenen 13. Jahrhundert. Die bekannte Sage über den Verbündeten Hilfe Von zu eilen. französischen Bau der Teufelsbrücke weiss von einem Truppen immer wieder am Ausbruch kongenialen Unternehmervertrag der schlauen Norden gehindert, überschritt er bei gegen Urner mit dem Teufel zu berichten. Noch winterlichen Verhältnissen und unter grössere Schwierigkeiten als die Querung Mitführung schwerer Waffen Kinzig-, Pragel- der Reuss bot das flussparallele Teilstück und Panixerpass, wobei er gegen lO'OOO beim Urnerloch, auf dem der Saumpfad an Mann verlor. Er musste die Schweiz Ketten aufgehängt wurde; das war der schliesslich Richtung Osten verlassen, berühmte stiebende Steg. Anzumerken ohne seinen Auftrag erfüllt zu haben. wäre, dass die Reuss damals, vor der Ablei-

87 tung der Furkareuss in die Göscheneralp ten. Oft waren es Eidgenossen auf dem Weg und der Unteralpreuss in den Ritomsee ins Tessin und nach Norditalien, im 15. und wesentlich mehr Wasser geführt hat als heute. 16. Jh. vor allem zu Fehden mit Mailand, zu Die Felsbarriere beim Urnerloch wurde grossen Siegen und grossen Niederlagen 1708 mit einem 108 m langen Tunnel (Marignano 1515). 1799 war die Region während durchstochen. Der Baumeister Pietro Morettini einiger Monate mit den Kämpfen von aus dem Maggiatal war ein Mitarbeiter des Russen, Franzosen und Oesterreichern berühmten Festungsbauers Vauban. Schon sogar internationaler Kriegsschauplatz (vgl. dieser erste Verkehrstunnel der Alpen wies Kasten Seite 87). eine Budgetüberschreitung von fast 100% Die Befestigung des Gotthards setzte nach aus! der Eröffnung des Gotthardtunnels ein. Zu Die heute nur noch vom Wanderweg benutzte Beginn des 2. Weltkriegs entstand hier die untere Teufelsbrücke stammt vom Ausbau bedeutendste schweizerische Alpenfestung der Gotthardstrasse um 1830. Als mit einer überaus eindrücklichen militärischen Baumeister zeichnete Emanuel Müller, Landammann Infrastruktur. Sie war das Herzstück von Uri, Führer der Urner Truppen im des Réduits, eines alpinen Rückzugsraumes Sonderbundskrieg, einer der Initianten des der Armee im Falle einer Invasion der Gotthardtunnels und Erbauer der (granitenen) Achsenmächte unter Aufgabe des Mittellandes, Nydeggbrücke in Bern. In der Folge seiner Städte, seiner Bevölkerung und seiner entwickelte sich der Gotthard zum meistbefahrenen Industrie. Andermatt wurde dabei zum Alpenpass, nach 1842 mit der Postkutsche, wichtigsten inneralpinen Waffenplatz, und blieb ab 1922 mit dem Postauto. 1872-1882 es auch nach Kriegsende viele Jahrzehnte wurde der Gotthard mit dem Bau des lang. Heute sind die meisten dieser Festungen Bahntunnels erstmals unterfahren, ein weltweites deklassiert (d.h. aus der früher so strikten Pionierwerk, ausgeführt mit einfachsten Geheimhaltung entlassen), stehen leer technischen Mitteln, ohne Elektrizität, Beton oder sind teilweise zu Museen oder gar und ohne jede geologisch-geotechnische Seminarhotels umfunktioniert worden (siehe Prognose. Seiten 101 ff: Exkursion vom Sonntag, 26. 1970-1980 schliesslich erfolgte der Bau des Juni 2005). Damit verbunden sind auch Gotthard-Strassentunnels, dessen Trasse Abbau und Umstrukturierung des berühmten aus technischen Gründen - möglichst kurze und leistungsfähigen Festungswacht- Lüftungsschächte - weit gegen Westen korps, das ein halbes Jahrhundert lang im ausholend der Senke des Gotthardpasses folgt. Urserental der weitaus wichtigste Arbeitgeber Die Strasse durch die Schöllenen wird aber gewesen ist. weiterhin viel befahren als Zubringer zu Andermatt und den Pässen Gotthard, Oberalp und Furka. 2. Profil Teufelsbrücke-Urnerloch- Die Schöllenenbahn Göschenen-Andermatt, in Altchilch: Vom Aaregranit ins Betrieb genommen 1917, vernetzt seit 1926 die Mesozoikum der Urseren-Zone Gotthardlinie mit der wichtigen inneralpinen West-Ost-Schmalspurlinie der Furka-Oberalp- Vom Parkplatz bei der Teufelsbrücke wird Bahn (heute Matterhorn-Gotthard-Bahn). ein rund 900 m langes Profil abgeschritten, abseits vom Verkehr auf dem begrünten 1.3 Militär Dach der Strassengalerie Urnerloch. Es beginnt im Zentralen Aaregranit an der Durch die Schöllenen zogen Jahrhunderte Schöllenenstrasse. lang neben Säumern, Rompilgern und Zahlreiche Vermessungspunkte und -bolzen Bildungsreisenden immer wieder auch Solda¬ zeugen hier davon, dass wir uns auf dem Trasse der berühmten alpenquerenden Wir befinden uns im Mesozoikum der Vermessungslinie Basel-Chiasso befinden, mit Urseren-Zone, welche hier das Aarmassiv vom deren Hilfe die Heraushebung der Alpen Gotthardmassiv trennt. Gemeinsam mit dem dokumentiert worden ist. Durch liegenden (und weit mächtigeren) Permokarbon Präzisionsnivellements wurden ferner hier an mehreren bildet es die tektonisch reduzierte Bruchzonen rezente Verschiebungen Sedimentbedeckung des Gotthardmassivs. Generell nachgewiesen (Eckardt, Funk & Labhart weist es eine Schichtreihe Trias bis 1983). Malm auf; hier in Andermatt ist ein Profil Oben, an der auf die Galerie führenden vom Lias bis in einen fraglichen Malm Wendeltreppe, sind die südlichsten 50 m des aufgeschlossen. Als schmales, senkrecht gestelltes Granits aufgeschlossen. Die Deformation, Band von etwa zweihundert Metern obschon immer selektiv, nimmt generell Mächtigkeit zieht das Mesozoikum senkrecht gegen das Kontaktcouloir hin zu. An der in den direkt darunter liegenden Gott- enormen Plättung ursprünglich kugelig-isometrischer hard-Bahntunnel. Seine Gesteine machten basischer Putzen lässt sich eine den Tunnelbauern schwer zu schaffen. Die starke seitliche Einengung erkennen. In den eigentliche Ursache dieser gefürchteten Wänden sind mit der alpinen Deformation Druckstrecke bei km 2800 ab Nordportal verknüpfte Zerrklüfte zu sehen. Den wurde erst 70 Jahre später geklärt, als Südrand des Granits bildet ein mächtiger, in Sondierbohrungen in Zusammenhang mit einem einem Couloir verlaufender Sprödbruch. geplanten Urseren-Kraftwerk eine kräftige Es folgt nun eine rund 500 m mächtige Übertiefung des Andermatter Beckens mit steilstehende Serie von Biotit-Sericit-Gneisen einer Felsüberlagerung des Tunnels von und -Schiefern des aarmassivischen Altkri- lediglich 30 m ergaben. Hier sind die frühen stallins. Die Gesteine sind alpin stark Tunnelbauer mit viel Glück einer Katastrophe verschiefert, voralpine Strukturrelikte sind hier entgangen, wie sie sich später beim nur stellenweise erhalten. An biotitreichen Lötschbergtunnel ereignet hat. Lagen - zum Teil wohl verschieferte Lampro- Lithostratigraphisch ist die Schichtreihe des phyrgänge - setzen dichte, splittrige, dunkle Urseren-Mesozoikums mit dem südlichen Mylonitzonen an. An granitisch-aplitischen Teil der helvetischen Urirotstock-Decke zu Einlagerungen, ursprünglich Apophysen vergleichen. und Gänge des Aaregranits, lassen sich lehr- Leider ist der Zugang zu diesem viel zitierten buchmässig ausgebildete alpine Zerrklüfte und besuchten Steinbruchaufschluss heute beobachten, mit allen typischen Attributen durch eine Kurzdistanz-Schiessanlage und wie Boudinbildung durch Einbauchung der eine gewisse Steinschlaggefahr erschwert. Schieferung, Ausbleichung des Nebengesteins Im Bruch findet sich (von S nach N) folgende, und Verquarzung. Mit Unterbrüchen senkrecht stehende Schichtreihe: lässt sich dieses Altkristallin bis unmittelbar zu den ersten (nördlichsten) Häusern von - Stark sandige Marmore mit gelben, Altchilch verfolgen. Unmittelbar darauf folgt gelängten Dolomitkomponenten (Lias). der (an der Strasse nicht aufgeschlossene) - Bändermarmore (Lias). Diese Serie ist Kontakt Aarmassiv/Urseren-Zone. stark verfaltet, die Faltenachsen stehen steil, parallel zum markanten Streckungslinear. Hinter der Kirche, im aufgelassenen «Mar- morBB-Steinbruch Altchilch, kommt Roland - Kalkiger Sericitquarzit (Lias), der die Wyss zu Wort, der in seiner Dissertation die hintere Steilwand des Steinbruchs bildet. Auf Urseren-Zone mit räumlichem Schwerpunkt ihr sind boudinartige Dehnungsstrukturen Ulrichen-Oberalppass untersucht hat (Wyss zu erkennen, die als Intersektionsline- 1985 und 1986). ar flach ostwärts einfallen.

89 Weiter gegen Norden, ausserhalb und oberhalb 3. Von Andermatt auf den Gutsch des Steinbruchareals findet man - Sandig-kalkige Schiefer (oberster Lias) Die anschliessende Dislokation führt Richtung - Tonige Schiefer (Dogger) Oberalppass zum Nätschen und auf - Kalkmarmor (fraglicher Malm). den Gutsch (vgl. Fig. 5). Die Oberalpstrasse Mangels Zeit wird auf eine eingehende verläuft mit ihren vielen Schleifen zwischen Inspektion der Gesteine verzichtet. Rege Andermatt und Nätschen durchwegs im Diskussionen finden aber im weiteren Verlauf Permokarbon. Es sind steilgestellte Metakon- der Exkursion statt, wobei die Hauptthemen glomerate und Metapsammite mit silbergrau der Zusammenhang der Urseren-Zone glänzenden sericitbelegten Schieferflächen. mit der Disentiser Zone und der Garvera- Die Kaffeepause auf der Terrasse des Restaurants Zone sowie die Korrelation mit der helvetischen Nätschen bietet bei schönstem Schichtreihe sind. warmem Wetter eine prächtige Aussicht südwärts ins Gotthardmassiv. Die Weiterfahrt auf den Gutsch erfolgt auf einem schmalen aber gut unterhaltenen Militärsträsschen.

Gutsch Pazolastock Lutersee I

Oberalpp 3SS &S» & C> fr« <> & ^ VT \> c> e< ^ Cv c V \* * / \&^ & D * Scha ö Cn Nätschen cu co ^ o -5C Q>°^ M

< "=T 10 7 0\v B-l_ 7 Urnerloch Teufelsbrücke Mich Ich -iaa'tup &" nyv,R&5S -y. ¦*-Schöllenen S£*r oca <9 pfl *eu$, äsüir *7r Andermatt Xm. Fig. 5: Geländeansicht mit Geologie. Blick über Andermatt Richtung ENE zum Oberalppass (Zeichnung: T. Labhard).

90 Dabei wird das morgendliche Profil in 3.2 Gutsch - das Panorama umgekehrter Abfolge durchfahren, vom Permokarbon (in direktem Kontakt mit Trias-Rauh- Vom Gutsch aus bietet sich eine umfassende wacke auf 1930 m ü.M.) durch den Jura und Aussicht in die kristallinen Urner Hochalpen das Altkristallin bis hart an den Kontaktbruch westlich der Reuss. Sie liegen im Bereich der zum Aaregranit. Wir haben hier also Landeskartenblätter Engelberg, Meiental dieselbe tektonische Situation wie am Morgen, und Urseren, ein Gebiet von über 500 km2, nur rund 1000 Höhenmeter über dem welches Toni Labhart für den geologischen Urnerloch. Atlas der Schweiz kartiert hat (die nahezu kompletten Originale wurden anlässlich der 3.1 Gutsch - das Szenarium Tagung erstmals einem weiteren Kreis vorgestellt). Sichtbar sind im Norden und Nordosten Die Kuppe von Gutsch bietet in felsiger, von die Auflagerung des autochthonen Brüchen geprägter Morphologie eine eigenartige helvetischen Mesozoikums in Spannort und Techno-Landschaft. Erster Blickfang Krönten, die grauen Gipfel der Erstfelder- ist das 50 m hohe Windkraftwerk mit mächtigem gneiszone und die roten, amphibolitreichen Rotor und einer Leistung von 600 des oberen Chelentals. Eindrücklich ist die Kilowatt. Erstellt worden ist es 2004 durch die Sicht in die Gipfelwelt des Aaregranits des Kraftwerke Urseren. Der Standort ist gut Göschenertals und der Göscheneralp mit gewählt, zeichnet sich doch der Gutsch der gewaltigen Kette der Dammastockgrup- durch seine hohen Windgeschwindigkeiten pe (an deren Nordrand am Eggstock der aus. Auffallend ist die Häufung von Nordkontakt des Aaregranits gut erkennbar unterschiedlichsten, teils an Film- oder Theaterkulissen ist). Ein Blickfang ist der Salbitschijen mit erinnernde Militäranlagen, die über seinem unglaublich kühnen Südgrat. 100 Jahre Festungsbau und Tarnkunst Gegen Westen geht der Blick in die Längsachse repräsentieren. Peter Eckardt gibt einen kurzen des Urserentals, das hier morphologisch Überblick, wozu er als ehemaliger hoher in seltener Klarheit Aar- und Gotthardmassiv Nachrichtenoffizier der Gotthardtruppen trennt. Sein breiter Talboden ist in prädestiniert ist (Fig. 6). die Gesteine des rund 1,5 km mächtigen Per-

-r»», ^$7% 7r- ¦ ^r ,-t^ \.. -

Fig. 6: Auf dem Gutsch: Dr. Peter Eckardt (nicht im Bild) gibt seine Kommentare über die militärische Bedeutung des Gotthardge- -y. bietes im zweiten Weltkrieg. .-- (Foto: Werner Heckendorn).

91 mokarbons eingetieft (und nicht etwa ins schon spätvariszisch angelegt worden) und Mesozoikum, das am Fuss des nördlichen die meisten von ihnen sind während der Talhangs verläuft). alpinen Gebirgsbildung und später immer Die Berge des Gotthardmassivs südlich des wieder reaktiviert worden, von einer primären Urserentals fallen auf durch ihre im Anlage unter duktilen Bedingungen bis - Vergleich zum Aarmassiv geringere Höhe und unter sinkenden Temperaturen - in den das viel weniger akzentuierte Relief. Markante Kataklase- und den Sprödbereich mit der Gipfel im SW sind der Pizzo Rotondo und Entstehung von Kakiriten. Quartäre Aktivität der Pizzo Lucendro, beide im Rotondogranit gewisser Systeme ist durch Verstellung gelegen. Gut erkennbar ist die Senke der spätglazialer Moränen belegt, rezente durch Gotthardstrasse mit dem Serpentinsteinbruch geodätische Vermessungen im heutigen von Chämleten bei . Exkursionsraum. Zu diesem Thema kommt noch Gegen Süden überblickt man das hoch über einmal Peter Eckardt zu Wort, der diese jungen Andermatt gelegene Skigebiet Gurschen- Brüche in seiner Dissertation und später alp/Gemsstock in der nördlichen Altkristallinzone untersucht hat (Eckardt 1957 und 1974). des Gotthardmassivs (die Gurschen- Besonders konzentriert treten sie in einer gneise der älteren Literatur). Im Mittagslicht Bruchschar am Südrand des Aarmassivs auf, glänzt beim Ausgang der Bergstation die helle die sich über 100 km weit von Brig/Naters Folie zur Abdeckung des Firnfeldes oberhalb bis gegen Trun verfolgen lässt (Eckardt, des Gurschenfirns, die in den letzten Funk B& Labhart 1983). Ausgezeichnete Wochen für Presseschlagzeilen gesorgt hat. Aufschlüsse finden sich auf den nordseitigen Diese symptombekämpfende Massnahme Trogschultern des Urserentals und des steht symbolisch für die Hilflosigkeit, mit Tavetschs; vom Gutsch aus ist der Bruch am der der Mensch auch hier dem rasanten Südrand des Aaregranits über 16 km weit bis Abschmelzen der kleinen Gletscher und der zum Furkastock am westlichen Horizont gut Firnfelder gegenübersteht. Rechts vom überblickbar. Eine Mehrzahl der talparallelen Gemsstock ist das Chastelhorn, nicht nur Brüche zeigt eine relative Heraushebung Punkt der grössten Überlagerung des Gott- des talseitigen Flügels. Entstehung und hard-Bahntunnels, sondern auch ein Berg Bedeutung dieser Brüche für den Gebirgs- aus wahrhaft spektakulärem Gestein (ein bau sind nach wie vor umstritten: Manche hochmetamorpher Inselbogen-Metagabbro denken, dass sie eine wichtige Rolle im alpin- ordovizischen Alters). tektonischen Geschehen und der jungen Heraushebung spielen, andere sehen darin lediglich eine an die Abschmelzung der 4. Brüche mächtigen Talgletscher gebundene glazial- isostatische Erscheinung oder gar ein Aar- und Gotthardmassiv wie auch die Urse- Phänomen atektonischer Gebirgszerreissung. ren-Zone sind von Bruchscharen durchsetzt. Sie spielen für die Morphologie eine wichtige Rolle. Mit der enormen Bedeutung 5. Gütsch-Lutersee-Gand-Oberalp- solcher Störzonen im modernen Tunnelbau ist pass im Zusammenhang mit der Neat das Interesse an diesen Erscheinungen neu erwacht. Nach soviel Theorie war es nützlich, einen Mehrere neuere Arbeiten zeugen davon dieser Brüche im Gelände zu verfolgen. Zu (Wyder & Mullis 1998, Laws 2001, Lützenkir- diesem Zweck wandert die Mehrzahl der chen 2002, Persaud 2002). Sie zeigen auf, wie Teilnehmer auf dem Strässchen Richtung komplex das Phänomen ist: Die Brüche sind Osten gegen den Lutersee. Die Bruchlinie unterschiedlichen Alters (manche sind wohl äussert sich vorerst im Fels als versetzte

92 Stufe (Verschiebungsmessungen von voralpinen kaledonischen oder variszischen) Fischer 1990), später in der grossen Schutthalde Strukturen: steile oder ostwärts als markanter Wall mit gehobener Talseite, fallende Faltenachsen aller Grössenordnungen schliesslich als 15-20 m hoher, den Luter- sowie Nord-Süd orientierte Planargefüge, see abdämmender blockbedeckter Felswall. ähnlich wie in den Amphiboliten der weiteren In den Felsflanken und Gräten der östlichen Umgebung direkt bei der Einmündung Fortsetzung manifestiert sich die Störung in und etwas höher an der Oberalpstrasse. Form von Couloirs und Gratscharten. Dank einem Schlüssel für die Barriere An der Strasse liegen frischgesprengte (skeptische Frage des Zentralenchefs bei der Blöcke aus den südlichen Gneisen des Übergabe: «Was wollen Erdölgeologen im Val Aarmassivs: Biotitgneise, oft migmatisch, mit Curnera?») können wir das erste aufschlussarme gut erhaltenen voralpinen Strukturen, manche Strassenstück im Car zurücklegen. Wir mit jüngeren Aplitgängen des unmittelbar durchfahren so das TZM und - in schleifendem nördlich anschliessenden Aaregranits. Schnitt - den Nordteil des Permokar- Einige altgediente Ölgeologen entdecken bons der Garverazone bis Maun traviers, wo hier plötzlich die Faszination der Pétrographie die Strasse mit scharfem Knick ins Val wieder. Curnera einbiegt. Hier fasziniert vorerst die Die gegenüberliegenden Hänge südlich des Aussicht nordwärts auf die hohen Berge des aar- Oberalppasses werden von Gesteinen des massivischen Kristallins mit der klassisch sich rasch gegen Osten verbreiternden ausgebildeten eiszeitlichen Schliffgrenze, Tavetscher Zwischenmassivs aufgebaut. auf die vorgelagerten Kuppen Calmut und Es folgt ein steiler Abstieg in der Mittagshitze Cuolm Val im TZM und den Kessel von auf schmalem rutschigem Pfad nach Gand Sedrun mit dem Sackungsgebiet von Cuolm an der Oberalpstrasse, auf dem sich das de Vi. Teilnehmerfeld weit auseinander zieht. Der Ebenso eindrücklich ist der Blick auf den Mittagslunch im Restaurant Calmut auf der Gegenhang des Val Cavradi mit dem senkrecht Oberalppasshöhe findet daher etwas stehenden, silberhell glänzenden und verspätet statt, ist aber mit reichhaltigem von tiefen Couloirs durchzogenen Schichten Bündnerteller und ausgiebiger Flüssigkeitszufuhr des Permokarbons. Das Echo von Hammerschlägen umso willkommener. erinnert daran, dass dieses steile und gefährliche Gelände (die Cavradischlucht der mineralogischen Fachliteratur) ein 6. Val Curnera berühmtes Strahlergebiet ist, vor allem dank den Vorkommen von Hämatit mit orientiert Ein Car mit etwa der Hälfte der Teilnehmer aufgewachsenen Rutilen. fährt am Nachmittag ostwärts ins obere Das anschliessende Strassenprofil erlaubt Tavetsch für eine Begehung des Profils das Studium des Permokarbons aus der entlang der Werkstrasse ins Val Curnera. Das Nähe. Es handelt sich überwiegend um Profil vom Permokarbon ins nördliche Konglomerate mit einem beträchtlichen Anteil Gotthardmassiv ist entlang der gut unterhaltenen, saurer vulkanischer Komponenten. Schichtung aber für den Privatverkehr gesperrten und Schieferung stehen steil, Werkstrasse zum Staudamm Curnera der andeutungsweise ist eine isoklinale Verfaltung Kraftwerke Vorderrhein KVR auch mit erkennbar. Die Serie ist stark alpin deformiert, grösseren Gruppen gut begehbar. die Komponenten weisen oft eine Ein kurzer Zwischenhalt nahe der Abzweigung beträchtliche Plättung auf. Die vielen der Werkstrasse von der Oberalpstrasse zwischengeschalteten Lagen silberglänzender (Koord. 695T75/167'250; Surpalits) zeigt Phyllite könnten sowohl sedimentärer Gneise des Tavetscher Zwischenmassivs mit als auch tektonischer Natur sein (Fig. 7).

93 Phylloniten, weiter südlich in grösseren geschonten Paketen. Schliesslich gelangt man in nur von einzelnen Störzonen durchsetztes gotthardmassivisches Altkristallin mit mehreren Dezimeter grossen zonar gebauten, polymetamorphen Kalksilikatfelslinsen, wie sie Arnold (1970) aus dieser Region beschrieben hat. Ein Stollenvorkommen ^•Hr wies eindeutige Kreuzschichtung auf; es sind wohl die ältesten erhaltenen i Sedimentstrukturen der Alpen. Die granulitfaziel- le Metamorphose der Gesteine entspricht einer frühen des in i ** Hochtemperaturphase jüngerer Zeit nachgewiesenen und recht gut datierten kaledonischen Metamorphosezyklus (Biino 1994; Labhart 1999). Trotz fortgeschrittener Zeit und aufziehender Gewitterwolken stösst eine Gruppe Unentwegter bis zur Strassenkurve oberhalb der Staumauer Curnera vor und erhascht einen Blick auf den halbvollen Stausee und das einsame, langgezogene, weglose Val Fig. 7: Curnera: Dr. Peter Eckardt leitet die Diskus¬ Curnera, das sich in weit ins sion um die Grenze zwischen dem Permokarbon Nord-Süd-Richtung und dem eigentlichen Gotthardmassiv Gotthardmassiv hinein erstreckt. ein. (Foto: Christine Pümpin) Der einsetzende Regen treibt dann auch diese wissensdurstigen Kollegen in den Bus für Südlich anschliessend folgt die Übergangszone die Rückfahrt nach Andermatt. zum Gotthardmassiv. Sie ist charakterisiert durch enorme Deformation und die Dominanz von Biotit-Sericit-Chloritschie- fern, deren Ursprungsmaterial ebenso gut gotthardmassivische Paraschiefer wie auch permokarbone Sedimente sein können. Literatur (Auswahl) Auch in Stollenaufschlüssen war keine scharfe Grenzziehung möglich (zum Beispiel Arnold, A. 1970: Die Gesteine der Region Nalps- im Gotthard-Strassentunnel: Keller et al. Curnera im nordöstlichen Gotthardmassiv, ihre und ihre Kalksilikatfels-Einschlüsse. 1987). Es ist ein dafür, wie Metamorphose gutes Beispiel Beitr. geol. Karte Schweiz [N.F] 138. ältere, ursprünglich wohl definierte Kontakte Biino, G.G. 1994: The pre Late Ordovician metamorphic durch alpine Tektonik verwischt worden evolution of the Gotthard-Tavetsch massifs (Central from lawsonite to sind. Nach engagierten Diskussionen einigt alps): kyanite eclogi- tes to granulite retrogression. Schweiz, mineral, man sich auf einen Übergangsbereich von petrogr. Mitt. 74/1,87-104. etwa 50 m Breite, der recht genau demjenigen Bonanomi, I. 1989: Geologie, Pétrographie und auf der mitgeführten Originalkarte des Mineralogie der Region Nalps-Cavradi. - Diplomarbeit ETHZ. Atlasblattes Oberalppass von Marianne Niggli Eckardt, P. 1957: Zur Talgeschichte des Tavetsch, entspricht. Typisch für das Gotthardmassiv seine Bruchsysteme und Jungquartären Verwerfungen. Dissertation Zürich. ist das Auftreten von Biotitgneisen und - Eckardt, P. 1974: Untersuchung von rezenten schiefern sowie von Turmalinpegmatiten, Krustenbewegungen an der Rhein-Rhone-Linie. vorerst als kleine linsenförmige Relikte in Eclogae geol. Helv.67/1, 233.

94 Eckardt, P., Funk, H. & Labhart, T.P. 1983: Postglaziale Krustenbewegungen an der Rhein-Rhone- Linie. Vermess., Photogramm., Kulturtech. 2/83, 43-56. Fischer, W. 1990: Verschiebungsmessungen im Gebiet Stöckli-Lutersee. Arbeiten 1975-1990. Inst, für Geodäsie und Photogrammetrie ETHZ, Bericht 175. Keller, F., Wanner, H, & Schneider, TR. 1987. Geologischer Schlussbericht Gotthard Strassentunnel. Beitr. Geol. Schweiz, geotech. Ser. 70. Labhart, T.P. 1977: Aarmassiv und Gotthardmassiv. Sammlung geologischer Führer 63. Schweizerbarth Stuttgart. Labhart, T.P. 1999: Aarmassiv, Gotthardmassiv und Tavetscher Zwischenmassiv: Aufbau und Entstehungsgeschichte. In: Vorerkundung und Prognose der Basistunnels am Gotthard und am Lötschberg. S. Low & R. Wyss (Hrsg.). Balkema Rotterdam, 31-43. Mit separater Karte der Massive 1:200000. Labhart, T.P. 2005: Erläuterungen zum Blatt Val Bedretto des Geol. Atlas der Schweiz. Im Druck. Laws, S. 2001: Structural, geomechanical and petrophysical properties of shear zones in the Eastern Aar Massif, . Dissertation ETH Zürich (unpubl.). Lützenkirchen, V. 2002: Structural geology and hydrogeology of brittle fault zones in the Central and Eastern Gotthard massif, Switzerland. - Dissertation ETH Zürich (unpubl.). Mercolli, I., Biino, G.G. & Abrecht, J. 1994: The lithostratigraphy of the pre-Mesozoic basement of the Gotthard massif: a review. - Schweiz. mineral, petrogr. Mitt. 74/1, 29-40. Persaud, M. 2002: Active tectonics in the Eastern Swiss Alps. - Dissertation Bern (unpubl.). Schaltegger, U. & Quadt, A. 1990: U-Pb zircon dating of the Central Aar Granite (Aar Massif. Switzerland). Schweiz, mineral, petrogr. Mitt. 70/3,361-371. Stapff, M. 1880: Generelles geologisches Profil in der Ebene des Gotthardtunnels,- Spezialbeilage zu den Quartalsberichten des schweizerischen Bundesrathes über den Gang der Gotthardbahn- Unternehmung. Stutz, S. 1989: Geologie, Pétrographie und Mineralogie im Gebiet zwischen Pazolastock und Val Curnera. Diplomarbeit ETHZ. Wyder, R.F. 8t Mullis, J. 1998: Geologische Resultate der NEAT-Sonderbohrung SB3 - (Sedrun/GR). - Bull, angew. Geol. 3, 205-228. Wyss, R. 1985: Die Urseren-Zone zwischen Ulrichen und Oberalppass und ihre Fortsetzung nach Westen und Osten. Dissertation Bern (unpubl.). Wyss, R. 1986: Die Urseren-Zone - Lithostratigra- phie und Tektonik. Eclogae geol. Helv. 79, 737-767.

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