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.de Die grotesken Wal- rosswale von Peru: Odobenocetops von Johannes Albers

Der Wal — das Walross — die Walrosswale. Man denke sich eine Kreuzung zwi- schen Narwal und Walross, und man gewinnt eine Vorstellung von den skurrilen Walrosswalen, wissenschaftlich Odobenocetops. Zwei fossile Arten sind bekannt. Sie lebten vor ca. 3 — 5 Millionen Jahren und kommen nur in Südperu vor, in der weltberühmten Pisco-Formation. Deren reiches Spektrum fossiler Zahn- und Bar- tenwale hat sich den Forschern seit dem 19. Jahrhundert nur nach und nach er- schlossen. Die Walrosswale, erst ab 1993 beschrieben, setzen allen früheren Entde- ckungen die Krone auf. mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion Cetacea.de ([email protected]) nur oder Vervielfältigung © Cetacea.de 2012 / Alle Rechte vorbehalten Veröffentlichung http://www.cetacea.de/palaeocetologie/odobenocetops/odoben_01.htm von Peru: Odobenocetops. Johannes Albers (2003): Die grotesken Walrosswale

Teure Hotels Paracas wird es in Hinblick auf Wale ab und obere Stockwerke einer bestimmten Schicht aufwärts in- 1957 erzählt Annemarie Lennartz in teressant: einem Buch von ihrem Leben als Frau Im selben Jahr wie das Buch von eines deutschen Walfängers in Peru. Annemarie Lennartz erschien in der Sie wohnte in der Hafenstadt Pisco Geologischen Rundschau eine volumi- und fuhr gelegentlich aus dem Ort hi- nöse Arbeit von Werner Rüegg über naus in Richtung Süden, zur öde und die Geologie Südperus. Und südlich abseits gelegenen Walfangstation. von Paracas dehnt sich in der Küsten- Manchmal sogar noch ein Stück weiter, wüste rund 350 Kilometer lang die bis zum Küstenort Paracas. Der war Pisco-Formation aus. Rüegg schreibt: buchstäblich eine Oase in der Wüste "In den mittleren und oberen Stock- der drögen Landschaft Südperus, mit werken kommen gelegentlich gestran- Villen, Hotels und Badestränden. Aber dete Walfische vor, sogar ganze Fried- die zivilisationshungrige Deutsche be- höfe von Incacetus broggii, E. H. COL- fand: "Der Aufenthalt in Paracas ist BERT (1944)". schon durch die Preise nur ab einer Hatte letzterer Autor seinen Incace- bestimmten Schicht aufwärts mög- tus noch für einen Schnabelwal (Fami- lich." Für die Walfängerfrau war hier lie Ziphiidae) gehalten, so wurde die Endstation. Doch gerade jenseits von Art später mit Flussdelphinen vergli-

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Abb. 1: Die peruanische Küste nahe bei Paracas. In dieser Gegend beginnt die fossilreiche Pisco-Formation aus dem Jungtertiär. Sie lieferte Wale, Robben und im Meer schwimmen- de Faultiere. Bild: Erich Nietgen chen und dann in die Verwandtschaft eine ganz eigene Familie: Odobenoce- der Kentriodonten (und damit der topsidae. Delphinartigen) gestellt. Aber in der Pisco-Paläofauna lernte man seit Odobenocetops peruvianus Rüeggs Abhandlung viele neue Gat- Am 21. Oktober 1993 erschien in dem tungen kennen und von Incacetus zu renommierten Wissenschaftsmagazin unterscheiden: Piscolithax, Pliopontos, Nature Muizons Erstbeschreibung des Ninoziphius und Lomacetus sind bei den neu entdeckten, etwa delphingroßen Zahnwalen zu nennen. Nicht immer ist Walrosswals aus dem frühsten Pliozän die Einführung neuer Gattungen un- (vor ca. 4 — 5 Millionen Jahren). Weit umstritten. Ein Beispiel hierfür ist im Süden der Pisco-Formation, bei Piscorhynchus, 1989 von Pilleri und Si- Breitengrad 15,5 in der Süd-Sacaco- ber aufgestellt. Der französische Palä- Gegend, hatte man einen Walschädel ontologe Christian de Muizon bezwei- voller Besonderheiten gefunden: Die felt die Berechtigung dieser Gattung. Schnauze, normalerweise bei Walen Die Walrosswale fallen aber so gro- mehr oder weniger lang nach vorn tesk aus dem Rahmen alles Üblichen, ausgestreckt, ist bei Odobenocetops kurz dass Muizon für sie nicht nur eine und stumpf. Dabei biegen die Knochen neue Gattung einführte, sondern sogar der Schnauzenspitze (die Prämaxillae)

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Abb. 2: Die Küstenwüste Südperus. Der Passat weht nicht nur Steine frei, sondern auch fos- sile Walskelette. Sie verwittern im Wind, wenn sie nicht abgeborgen oder an Ort und Stelle geschützt werden. Bild: Erich Nietgen winkelartig nach unten und zu den Das erinnerte an ein Narwal-Männ- Außenseiten ab. Sie bilden Scheiden chen, bei dem freilich der berühmte für ein Paar von Zähnen, die 1993 an bohrerförmige "Stoßzahn" links die Hauer eines Walrosses (wissen- wächst, während das rechte Gegen- schaftlich Odobenus) erinnerten. Daher stück üblicherweise verkümmert und bekam das Tier seinen Gattungsna- von außen unsichtbar bleibt. men. Dieser erste Schädel (Holotyp) Die genauen Verhältnisse bei Odo- eines Walrosswals gehört heute dem benocetops konnte man allerdings nur US-Nationalmuseum für Naturkunde vermuten, da die linke Zahnscheide in Washington. beschädigt und ihr Zahn an der Bruch- stelle ebenfalls abgebrochen war. Auch Die Zähne der große rechte Zahn war ein Stück Die hauerartigen Zähne waren merk- nach seinem Austritt aus der Scheide würdig geformt: Der rechte Zahn war abgebrochen. Deshalb ließ sich über deutlich größer und länger als der lin- die tatsächliche Größe auch dieses ke. Muizon glaubte damals, der linke Zahns nur spekulieren. Hinter den Zahn sei äußerlich wohl gar nicht beiden Hauern waren die Kiefer von sichtbar geworden, sondern innerhalb Natur aus zahnlos. seiner Scheide verborgen geblieben.

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Beim vermutlichen Weibchen sind die Hauer und ihre Scheiden auf beiden Seiten klein, aber links noch etwas kleiner als rechts. Zwar ist der linke Zahn innerhalb seiner Scheide abgebro- chen, doch gehen die Forscher nun davon aus, dass die Zähne auf bei- den Seiten äußerlich sichtbar wurden. Die starke Ausbildung des rechten Zahns beim Männchen gilt als se- kundäres Geschlechts- merkmal, ähnlich dem langen Zahn des Narwal- Männchens. Man schreibt ihm eine soziale Funktion zu.

Abb. 3: Schädel von Odobenocetops peruvianus im Staatlichen Der Schädel Museum für Naturkunde, Karlsruhe. Ansicht von oben. Dach und Hinterwand des Hirnschädels weithin fehlend. Die Schlä- Die Mundhöhle ist hoch fengruben sind nicht überdeckt, da diese Gattung die Knochen- aufgewölbt. Bei Odobeno- überschiebungen (telescoping) moderner Wale stark zurückge- bildet hat. Rechts beachte man den stabförmigen Zahn. cetops peruvianus sieht Bild: Johannes Albers die Umrandung des Gaumens von vorn aus wie ein umgekehrtes V. Einen neuen Schädel derselben Der Vorderrand der Schnauze zeigt Art, des Peruanischen Walrosswals, be- Ansatzstellen starker Muskeln, die auf schrieb ein Team um Muizon im Jahre eine kräftig entwickelte Lippe schlie- 1999 aus der gleichen Gegend. Dieses ßen lassen. Die Nahrungsaufnahme lief Stück gehört dem Staatlichen Museum anscheinend ähnlich ab wie bei einem für Naturkunde in Karlsruhe. Man in- heutigen Walross: Das Tier suchte den terpretiert es als den Schädel eines Meeresboden nach Wirbellosen wie Weibchens, während der Holotyp von Muscheln ab. Die wurden von der Lip- 1993 als Männchen gedeutet wird. pe erfasst und dann ausgesaugt. Dabei

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Abb. 4: Odobenocetops peruvianus in Seitenansicht. Die rechte Zahnscheide des Schädels ist auf eine Filmdose gestützt. Etwa oberhalb der Zahn-Bruchstelle erkennt man die Augenhöh- le. Bild: Johannes Albers scheint die Zunge wie ein Kolben fungiert zu haben, und die abge- knickten Zahnscheiden wirkten wie ein Schlitten, mit dem das Tier über den Grund fuhr. Möglicherweise trug das Maul einen ausgeprägten Besatz mit Tasthaaren. Mit der starken Lippe und den abgeknickten Zahnscheiden erinnert das Maul nicht nur an ein Walross, sondern auch an eine Seekuh (Du- gong). Deshalb liegt es nahe, dass Christian de Muizon in der Erfor- schung dieser Wale mit dem Seekuh- Experten Daryl P. Domning zusam- menarbeitet. Bei typischen Walen sind die o- Abb. 5: Odobenocetops peruvianus, Schädel beren Nasenöffnungen des Schädels von vorn oben. In der Mitte sieht man die run- den Nasenöffnungen. Der Vorderrand des weit nach hinten verlagert. Dadurch Mauls bildet ein umgekehrtes V. bedingt, treten Überschiebungen Bild: Johannes Albers

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Abb. 6: Holotyp von Odobenocetops leptodon im Staatlichen Museum für Naturkunde, Karls- ruhe. Der Langzahn wurde kurz hinter seinem Austritt aus der Scheide künstlich abgetrennt und kann, wie hier, zu Demonstrationszwecken aufgesetzt werden. Vom Schädel sieht man die Unterseite. Bild: Johannes Albers

einzelner Schädelknochen auf (tele- Einzelne Gehörknochen dieser Art scoping). Bei Odobenocetops sind die besitzt auch das Staatliche Naturkun- Öffnungen wieder merklich nach vorn demuseum in Paris. gerückt und die Überschiebungen ent- Die Augen waren 20 — 30 % größer sprechend zurückgebildet. Vor den Na- als bei heutigen Delphinen üblich. Die senöffnungen tragen andere Zahnwale Augenhöhlen sind in dem Winkel nach ein fetthaltiges Gewebekissen (Melo- vorn und zur Oberseite des Schädels so ne), das mit der Fokussierung des ausgekerbt, dass die Gesichtsfelder Schalls bei der Echoortung in Verbin- beider Augen sich überschneiden dung gebracht wird. Bei Odobenocetops konnten. Da die Forscher von einer peruvianus ist es fraglich, ob dieses Or- Kopfhaltung ausgehen, die normaler- gan überhaupt existierte. Bestenfalls weise etwas nach vorn geneigt war, er- kann es nur in verkümmerter Form gibt sich eine stereoskopische Sicht in seinen eng begrenzten Platz auf dem Schwimmrichtung. Ähnliche Verhält- Schädel gefunden haben. Anscheinend nisse zeigt das heutige Walross. Diese hat diese Walart ihre Fähigkeit zur E- gute Sicht scheint ein Ersatz für die choortung verloren. Zur Beurteilung eingebüßte Echoortung gewesen zu ihrer akustischen Systeme gehört je- sein. doch auch der Befund, dass der äußere Gehörgang und die Mittelohrhöhle Odobenocetops leptodon größer gewesen sein müssen als bei 1999 wurde der Fachwelt eine zweite typischen Delphinartigen. Art der Walrosswale vorgestellt: Odo- 6

© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Abb. 7: Odobenocetops leptodon, Schädel mit abgetrenntem Langzahn. Man beachte den Größenunterschied zwischen rechtem und linkem Zahnstumpf im Querschnitt. Deutlich wird auch die Geräumigkeit der Mundhöhle. Bild: Johannes Albers benocetops leptodon ist etwa eine Milli- don-Art gestellt. Die komplette Kör- on Jahre jünger als die peruvianus-Art. perlänge der Spezies schätzt man auf Das heißt: O. leptodon lebte vor ca. 3 — 4 etwa 3 Meter. Millionen Jahren, und zwar in dersel- ben Gegend wie die erste Art. Der Ho- Die Zähne lotyp ist ein Schädel samt Atlas im Be- Die größte Überraschung beim Fund sitz des Museums in Karlsruhe. Das Pa- des leptodon-Holotyps war die Länge riser Museum besitzt Reste eines ande- der Zähne des vermutlichen Männ- ren Individuums, bei dem zwar der chens: Der kleine linke Zahn ist im- Schädel stark beschädigt ist, aber Teile merhin auf 25 cm Länge erhalten und der Wirbelsäule, der Rippen und der dann erst an der Spitze abgebrochen, linken Brustflosse erhalten sind. In Pa- der große rechte Zahn misst beeindru- ris befindet sich auch ein weiterer Ge- ckende 135 cm. Damit erinnert er nicht hörknochen, der wahrscheinlich dieser mehr an den Hauer eines Walrosses, Art zugehört. sondern wirkt wie der umgeknickte Ein fünfter geborgener Odobenoce- "Stoßzahn" eines Narwals. Man muss tops-Schädel wird ebenfalls zur lepto- damit rechnen, dass der rechte Zahn 7

© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Abb. 8: Schädel von Odobenocetops leptodon auf der Seite liegend, Blick auf die Front. Links ist die Oberseite. Rechts sieht man, wie der Vorderrand des Mauls ein umgekehrtes U bildet. Bild: Johannes Albers auch bei O. peruvianus über einen Me- lang, und mit ihr der lange Zahn, der ter Länge erreichte. keinen Zahnschmelz trägt: Beim Karls- In normaler Schwimmstellung ruher leptodon-Holotyp zeigt sich an zeigte der Zahn nach hinten. Damit der Spitze des Langzahns eine deutli- muss ein leptodon-Männchen in etwa che Schleifspur, die von der regelmä- so ausgesehen haben, als trüge es ei- ßigen Grundberührung Zeugnis gibt. nen Wanderstab über oder unter der Die Asymmetrie der Zähne und ih- Schulter. Durch eine Kopfbeugung rer Scheiden bei dem vermutlichen drehte sich der Stab so die Flanke ent- Männchen hatte noch mehr zur Folge: lang, dass seine Spitze sich über die Zum Fressen musste das Tier sich oder Rückenlinie erhob. Bei der Nahrungs- seinen Kopf um die Längsachse etwas suche am Meeresboden aber scheint nach links drehen. Sonst wäre der lan- das Tier den Kopf in die andere Rich- ge Schmuckzahn einfach im Weg ge- tung gezogen zu haben: nach hinten in wesen. Diese verdrehte Fressstellung eine Position, die bei anderen Tieren wird im Bau der Schnauze wiederum als normal gelten würde. Der Rumpf ausgeglichen. "Was man doch alles für hing dabei in einem vertikalen Winkel die Schönheit in Kauf nimmt", meinte zum Boden, so dass der Schwanz im eine deutsche Frau dazu, "sogar schief freien Wasser schräg nach oben zeigte. zu fressen!" Das symmetrischer gebau- So glitt die Schnauze am Grund ent- te (peruvianus-) Weibchen hingegen 8

© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. konnte ohne solche Rotation den Was die leptodon-Prämaxillae aber Grund entlanggleiten. haben, die von O. peruvianus jedoch nicht, sind an der Oberseite bestimmte Der Schädel seichte Eintiefungen distal vor den Na- Die Saugkraft des Mauls bei O. leptodon senöffnungen. So etwas kennt man muss noch größer gewesen sein als bei von anderen Zahnwalen: Hier lagen die O. peruvianus. Die Umrandung des brei- so genannten Prämaxillarsäcke. Sie teren und noch höher aufgewölbten sind ein Teil des komplizierten Luft- Gaumens sieht von vorn aus wie ein sacksystems, das bei Zahnwalen die umgekehrtes U. Die Oberlippe hatte Melone umgibt. Aus dieser Struktur mehr Anheftungsfläche als bei O. peru- lässt sich schließen, dass O. leptodon vianus und trug vielleicht ebenfalls vie- eine Melone und damit eine Echoor- le Tasthaare. tung besaß, anders als O. peruvianus. An der Schnauzenspitze sitzen rät- Dafür fehlt bei O. leptodon die auf- selhafte Zusatzknochen. Sie sind auf fällige Auskerbung der Augenhöhlen, der Oberseite des Schädels zwischen die bei O. peruvianus das stereoskopi- den Prämaxillae eingefügt und weiten sche Gesichtsfeld als Ersatz für die E- sich an der Vorderseite der Schnauze choortung schuf. Offenbar setzten die aus. Zu ihrer anatomischen Interpreta- beiden Arten unterschiedliche Akzente tion gibt es verschiedene Hypothesen in der Sinneswahrnehmung. (Pränasalia, völlige Neubildungen oder evtl. Septomaxillae). Was immer sie Einordnung der Walrosswale sind, sie verbreitern jedenfalls das Die Familie der Walrosswale (Odobeno- Maul. cetopsidae) steht systematisch in der Die Prämaxillae selbst zeigen meh- Nähe der Familie der Nar- und Weiß- rere Abweichungen gegenüber O. peru- wale (), die heute aus vianus und anderen Zahnwalen: nordischen Gefilden bekannt ist, aber Die anderen Arten haben hier an während des Jungtertiärs auch in Peru der Oberseite große Öffnungen (Prä- vorkam. Der lange Zahn des Männ- maxillarforamen) für Arterien und chens erinnert an den Narwal, die e- Nerven. Bei O. leptodon fehlen sie. Hier norme vertikale Beweglichkeit des nehmen Adern und Nerven einen an- Kopfes übertrifft noch die des heuti- deren Verlauf, den der Pariser lepto- gen Weißwals. Diverse Einzelheiten im don-Schädel erkennen lässt: Sie zwei- Knochenbau zeigen Anklänge an die gen sich auf und treten durch kleine Monodontidae: von Bau und Aufhän- Kanäle an der Vorderseite der Schnau- gung der Gehörknochen über einzelne ze aus, andere Zweige an den rechten Knochennähte der Schnauze bis zu und linken Außenseiten der Schnauze. freien Halswirbeln und Details des O-

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. berarmknochens. Freilich gibt es auch Zeitgenossen: Meeresfaultiere Unterschiede. In der gleichen Gegend und zur selben Die Frage nach dem Verhältnis der Zeit wie Odobenocetops lebten auch beiden Odobenocetops-Arten zueinan- Vierbeiner von ähnlicher Eigentüm- der erweist sich als schwierig: Da beide lichkeit: Faultiere, die im Meer in der gleichen Gegend lebten, O. peru- schwammen und sich wohl von See- vianus etwas früher und O. leptodon et- gras oder Tang ernährten. Auch sie was später, liegt der Gedanke nahe, haben das Pliozän nicht überlebt. Man dass die eine Art aus der anderen kennt eine Gattung mit fünf Arten: entstanden ist. Aber so einfach scheint antiquus, 2003 be- es nicht zu sein: schrieben, trat bereits im späten Der jüngere O. leptodon hat zwar Miozän in der Sacaco-Gegend auf und eine größere und stärkere Schnauze fraß womöglich noch am Strand. Er mit zusätzlichen Knochen ausgebildet, war kleiner und zierlicher als der et- und der lange Zahn ist noch größer was jüngere geworden als bei O. peruvianus. Auch Thalassocnus natans aus dem spätes- die Abschaffung der großen Prämaxil- ten Miozän. Er wurde 1995 als Ty- larforamen ist eine stärkere Ableitung pusart der Gattung aus der Süd-Saca- von der Zahnwal-Grundform. co-Gegend beschrieben. Damals glaub- Dafür ist der ältere O. peruvianus te man noch, das Tier sei erst im aber in der Reduzierung oder gar Ab- Pliozän erschienen. Auch hier zeigen schaffung der Melone stärker von der sich Anklänge an Seekühe mit einer Grundform abgeleitet. Höher speziali- vermutlich starken Lippe und etwas siert ist auch sein Bau der Augenhöh- nach unten abgebogenen Prämaxillae. len und damit das Gesichtsfeld. Um beim Fressen den Kopf am Grund Deshalb nehmen die Forscher an, zu halten, führte der ins Wasser aufra- dass beide Arten aus einer gemeinsa- gende Schwanz wohl kräftige Bewe- men Wurzel stammen und zueinander gungen aus. in einem Schwester-Verhältnis stehen. Thalassocnus littoralis erschien im Das würde bedeuten, dass die Gattung frühsten Pliozän, aus dem auch Odobe- verschiedene Strategien parallel aus- nocetops peruvianus stammt. Diese Form probiert hat, die in je unterschiedli- wurde 2002 beschrieben, nachdem chen Zeitphasen besonders erfolgreich man schon bei der Einführung der Gat- waren. Letzteres wiederum lässt an die tung 1995 vermutet hatte, dass nicht sich immer wieder ändernden Um- alle geborgenen Funde von der glei- weltbedingungen denken, die wohl chen Art stammen. auch der Grund dafür sind, dass Odobe- Thalassocnus carolomartini, ebenfalls nocetops das frühe Pliozän nicht über- 2002 beschrieben, lebte am Übergang lebt hat. vom frühen zum späten Pliozän und

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. zeigt am Schädel eine größere Anpas- er auf uns heute kurios und bizarr. A- sung an das Meeresleben. Ähnlich ist ber all diese Tiere waren offenbar an Thalassocnus yaucensis, 2004 als ganz bestimmte Verhältnisse ange- pliozäne Spätform beschrieben. Die passt, die sich im Verlauf des Pliozäns beiden letzten Arten haben eine weiter änderten. Noch viele Rätsel umhüllen verlängerte Schnauze und fraßen wohl ihre Gestalt, ihr Leben und ihre Ge- in größerer Tiefe als die früheren Ar- schichte. Aber sie bringen Fachleute ten. Dann verschwindet die Gattung. wie Laien zum Staunen und demonst- In antarktischen Gefilden ver- rieren wieder einmal die unaus- schwindet auch der frühpliozäne Del- schöpfliche Experimentierfreudigkeit phin Australodelphis mirus, der mit ei- der Natur, mit der das Leben selbst alle nem langen, aber zahnlosen Maul wohl Nischen zu erobern sucht. Tintenfische aufsaugte. Wie die Meer- esfaultiere und die Walrosswale wirkt

Staatliches Museum für Naturkunde Museum am Friedrichsplatz Erbprinzenstraße 13 76133 Karlsruhe (geöffnet Di-Fr: 9.30-17 Uhr, Sa-So: 10-18 Uhr) Telefon: 0721/ 175-2111, Fax: 0721/ 175-2110 E-Mail:mailto:[email protected] Internet:www.naturkundemuseum-bw.de/karlsruhe Das Museum besitzt nicht nur Odobenocetops-Schädel und Material von Thalas- socnus, sondern hat einen ganzen Ausstellungsbereich mit Walfunden der Pisco-For- mation. Herrn Prof. Dr. Eberhard ("Dino") Frey gebührt mein herzlicher Dank für den freund- lich gewährten Zugang zu den Originalschädeln von Odobenocetops.

LITERATUR ZUM VERTIEFEN

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© Copyright Cetacea.de. Veröffentlichung oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion Cetacea.de. Palaeocetologie - Fossile Wale Weitere Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Wale von Johannes Albers finden Sie bei Cetacea.de: www.cetacea.de/palaeocetologie/ Johannes Albers erreichen Sie per Email [email protected] Cetacea.de Cetacea.de ist ein nicht kommerzielles Projekt zur Förderung des Wis- sens über Waltiere. Cetacea.de soll einen Beitrag zum Schutz des Le- bensraums Meer und seiner Bewohner leisten. Wenn Sie Bilder, Photos, Texte für Cetacea.de zur Verfügung stellen können oder Cetacea.de anderweitig unterstützen wollen, schreiben Sie uns bitte. Vielen Dank. Cetacea.de wird herausgegeben von Jan Herrmann ([email protected])

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