Interpretation als Kritik ’ Polyphonie X im Spiegel seiner Aufnahmen

Von Simon Tönies

Die kritische Rolle von Interpretation ist im allmählich aufblühenden Diskurs über musikalische Reproduktion bisher noch ein wenig kurz gekommen – wenn auch der spezifische Eigenwert des Wahrnehmens wie auch des Musikmachens zunehmend akzentuiert und konstruktiv in Diskurse wie etwa den der Körperlichkeit oder der Performativität eingebunden wird.1 In diesem Beitrag soll daher der Versuch unternommen werden, Interpretation emphatisch als Kritik zu verstehen, als Form ästhetischer Erkenntnis. Dass ein solcher Ansatz nicht in den empirischen Befunden aufgehen kann, die er zur Grundlage hat, sondern auch ästhetisch-philosophische Kategorien einbeziehen muss, sei einleitend gesagt. Bemerkt sei außerdem, dass der hier angewandte Kritikbegriff in Verlängerung der Linie Kant-Hegel-Marx ausdrücklich auf Theodor W. Adorno zurückgeht, dessen Fragment gebliebene Reproduktionstheorie wohl als Ausgangspunkt einer Akzentuierung des kritischen Potenzials von Interpretationen gelten darf. Zwei Interpretationen eines Werks der seriellen Phase sollen in diesem Sinne gegenübergestellt werden. Exemplarisch herangezogen sei dafür das 1951 in Donaueschingen uraufgeführte und später zurückgezogene Stück Polyphonie X von Pierre Boulez. Dass das Signifikant, also die in der Baseler Sacher-Stiftung verwahrte Partitur, Bezugspunkt bleibt und Abweichungen von dieser dokumentiert werden, ist kein Widerspruch zu einer gleichzeitig angenommenen Autonomie der Interpretation: Ihr kritisches Potenzial entfaltet diese, wie sich zeigen wird, gerade durch bedingungslose Abarbeitung am Notentext und nicht durch äußerliche, der Willkür des Interpreten unterliegende Apriori. Adorno nannte eine solche Dynamik „immanente Kritik“2: „Sie opponiert nicht sowohl der Phänomenologie durch einen dieser äußerlichen und fremden Ansatz oder ‚Entwurf’, als daß sie den phänomenologischen mit seiner eigenen Kraft dorthin treibt, wohin er um keinen Preis möchte, und ihm mit dem Geständnis der eigenen Unwahrheit Wahrheit abnötigt.“3

1 Vgl. etwa Utz, Christian: Erinnerte Gestalt und gebannter Augenblick. Zur Analyse und Interpretation post-tonaler Musik als Wahrnehmungspraxis – Klangorganisation und Zeiterfahrung bei Morton Feldman, Helmut Lachenmann und Brian Ferneyhough. In: Jörn Peter Hiekel (Hg.): Ans Licht gebracht. Zur Interpretation Neuer Musik. Mainz et al.: Schott 2013, S. 40-67. 2 Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. In: Gesammelte Schriften. Band 5. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 14. 3 Ebd.

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Boulez selbst sanktioniert in einer seiner späten Vorlesungen die Schriftlichkeit noch im selben Moment, in dem er ihre Losgelöstheit vom wahrnehmbar klingenden Resultat kritisiert: „En d’autres termes, notre perception, plus ou moins statistique, n’a que peu à voir avec ce que l’écriture nous présente [...] mais la constitution de ce qu’on entend n’aurait – du moins, je le pense – pas pu être atteinte par un autre moyen que cette écriture-là.“4 Der Notentext wäre vor diesem Hintergrund als notwendiger Bezugspunkt und Voraussetzung interpretatorischer Autonomie zu verstehen.

Die einzige vollständige Aufnahme von Polyphonie X stammt von der Uraufführung durch das SWF-Sinfonieorchester unter Hans Rosbaud.5 Der Komponist hat außerdem 1953 in Napoli den ersten der drei Teile dirigiert und auf Tonband festgehalten.6 Diesen Mitschnitt mit dem Orchestra Alessando Scarlatti della RAI hat Maderna allerdings nie veröffentlicht. Erst posthum, als das Band nach italienischem Urheberrecht bereits gemeinfrei war, hat es seine Frau Christina Maderna als U-Matic dem Label „Stradivarius“ zur Verfügung gestellt.7 Aber so wie auch Polyphonie X trotz seines nicht autorisierten Status ästhetische Gültigkeit unterstellt wird, so soll auch Madernas Aufnahme nicht nur als Folie zur Beurteilung der Kompletteinspielung von Hans Rosbaud behandelt werden, sondern auch als eigenständige und ernstzunehmende Interpretation. Den Einwand, es könnte sich lediglich um einen Probenmitschnitt handeln, halte ich für unbegründet: Wäre das extrem langsame Tempo tatsächlich nur Resultat einer frühen Probenphase, wäre dies kaum mit der – wie sich zeigen wird – außerordentlichen Präzision des Zusammenspiels in Einklang zu bringen. Es gibt vielmehr Belege dafür, dass die Musiker bereits konstruktiv aufeinander hören und das Stadium eines scheuklappenhaften Durchzählens verlassen haben. Schließlich würde aber selbst die Annahme eines Probenmitschnitts die Adäquanz einer ästhetischen Beurteilung kaum versehren – spiegelt doch gerade das Unfertige die spezielle Anlage eines Werkes, das den Schein eines zyklischen Ganzen ideologiekritisch verneint.8

4 [„Mit anderen Worten: Unsere mehr oder weniger statistische Wahrnehmung hat wenig mit dem zu tun, was uns die Schreibweise präsentiert (...) aber die Beschaffenheit dessen, was man hört, hätte – das glaube ich zumindest – nicht anders erzielt werden können als durch genau diese Schreibweise.“] Boulez, Pierre: Entre ordre et chaos. In: Boulez, Pierre: Leçons de musique. Points de repère III. Paris: Christian Bourgois 2005, S. 454. 5 CD: Aurophon 31800, 1990. 6 CD: Stradivarius 10044, 1990. 7 So der Geschäftsführer des Labels „Stradivarius“ Robert Elli in E-Mails vom 7. und 12. September 2016. 8 „Comme tu le vois, c’est une œuvre d’envergure assez vaste. Je voudrais surtout y abolir la notion d’œuvre musicale pour donner au concert, avec un nombre déterminé de mouvements; mais un livre de musique où l’on trouvera les dimension d’un livre de poèmes […]. [„Wie du siehst, ist dies ein Werk von großem Ausmaß. Ich möchte damit vor allem den Begriff des musikalischen Werks abschaffen, das mit einer festgelegten Anzahl von Sätzen in einem Konzert aufzuführen ist; stattdessen ein Musikbuch, in dem man die Dimensionen eines Gedichtbandes vorfindet.“], Brief an , 30. Dezember 1950. Zitiert nach: Boulez, Pierre / Cage, John: Correspondance et documents. Nouvelle édition. Mainz et al.: Schott 2002, S. 160. Die an klassische Dreisätzigkeit erinnernde Anlage ist irreführend - auch für die spätere Fassung Polyphonie X waren weitere Sätze geplant.

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Hält man Rosbauds Einspielung des ersten Satzes von Polyphonie X neben die von Maderna, sind vor allem zwei zeitbezogene Kategorien in den Fokus zu nehmen: die des übergeordneten Tempos auf der einen Seite und des Verhältnisses der einzelnen Notenwerte untereinander auf der anderen. Sofort fällt auf, dass Bruno Maderna mit 15 Minuten und 35 Sekunden für den ersten Satz mehr als doppelt so lange braucht wie Rosbaud, der dafür nur 7 Minuten und 23 Sekunden benötigt. Madernas Einspielung des ersten Satzes ist damit beinahe so lang wie alle drei Sätze zusammen bei Rosbaud. Die pauschale Annahme, Rosbaud dirigiere doppelt so schnell, ist allerdings zu differenzieren, wie sich mit Blick auf die Zusammensetzung der drei Tempi zeigt. Boulez sieht in der Partitur ein Tempo I mit 76-84 Vierteln pro Minute (im Folgenden bpm) vor, das er als „Modéré“ charakterisiert.9 Die beiden anderen Tempi sind jeweils vom Grundtempo abgeleitet: In Tempo II, „Vif“ (T. 50), entspricht eine punktierte Achtelnote einer nicht punktierten von Tempo I, das Tempo ist also um die Hälfte schneller mit 114-126 bpm. Der gesamte dritte Satz steht in diesem Tempo. Tempo III, „Assez lent“ leitet den zweiten Satz ein (es folgen wie im ersten wellenförmige Anordnungen aller drei Tempi)10, wobei eine Achtelnote so lang dauert wie eine Viertelnote in Tempo I; das Tempo wird demnach halbiert auf 38-42 bpm (vgl. Tabelle 1).

Tempo I: Modéré Tempo II: Vif Tempo III: Assez lent

♩= 76-84 ♩= 114-126 ♩= 38-42 Tabelle 1: Tempovorschriften Polyphonie X

Wie gehen Rosbaud und Maderna mit dieser Vorschrift um? Rosbaud schlägt Tempo I zwischen 62 (Beginn des ersten Satzes) und 72 bpm (gegen Ende des ersten Satzes). Er ist also etwas langsamer, wobei er im Laufe des Satzes schneller wird und fast das geforderte Tempo erreicht. Maderna wird langsamer: Er beginnt mit etwa 32 bpm, was bereits weniger als halb so schnell wie vorgesehen ist, und erreicht gegen Ende nur noch ein Tempo von 24 bpm, weniger als ein Drittel des vorgesehenen Tempos. Tempo II unterscheidet sich bei Beiden kaum von Tempo I: Rosbaud nimmt es mit ca. 76 bpm (vgl. Beginn des dritten Satzes) nur minimal schneller als das Grundtempo, bei Maderna ist es mit 32 bpm - also nominell kaum mehr als ein Viertel der eigentlichen Tempovorschrift! - etwa genau so schnell wie das Anfangstempo. Die Assez-lent-Teile sind dagegen bei Beiden gemäß den vorgesehenen Proportionen ungefähr halb so schnell wie Tempo I. Rosbaud kommt dabei mit 34 Vierteln pro Minute den 38-42 bpm auch absolut gesehen nahe, wohingegen Madernas Tempo bei etwa 18 bpm liegt. Man kann also sagen, dass sowohl Rosbaud als auch Maderna die Proportion 1:2

9 Vgl. Boulez, Pierre: Polyphonie X pour 18 instruments. Manuskript der 2. Fassung, unveröffentlicht, verworfen. Depositum Südwestrundfunk Baden-Baden im Archiv der Paul Sacher Stiftung Basel, T. 1. Alle Taktzahlen beziehen sich auf diese Quelle. 10 Vgl. Zenck, Martin: Pierre Boulez: Polyphonie X (1951). In: Archiv für Musikwissenschaft, Nr. 72, 2015, S. 287.

3 zwischen Tempo I, „Modéré“, und Tempo III, „Assez lent“, wahren, während das lebhafte Tempo II bei Beiden aus dem Rahmen fällt und sich dem Grundtempo angleicht. Rosbaud tendiert dazu, im Grundtempo schneller zu werden, Maderna wird hingegen langsamer. An dieser Stelle kündigen sich bereits zwei konträre Grundkonzeptionen an: Während Rosbaud das Stück aus der Makroperspektive beleuchtet, indem er die Einzelgestalten tendenziell dem Zug des Grundtempos unterordnet, analysiert Maderna quasi mit der Lupe und von Augenblick zu Augenblick tastend.

Um die Hypothese zu überprüfen, ist ein Blick auf die zeitliche Gestaltung der Mikroebene nötig, also des Verhältnisses der einzelnen Dauern untereinander. Die Vermutung liegt nahe, dass die Akzentuierung übergeordneter Zeitverläufe bei Rosbaud notwendig Unschärfen in den Mikorstrukturen hervorruft, während sich umgekehrt diese Mikrostrukturen bei Maderna auf Kosten der Makroebene relativ unbeschadet entfalten. Für den Nachweis ist allerdings ein größerer Aufwand erforderlich: Die einzelnen Notenwerte sollen unabhängig vom gewählten Grundtempo auf ihren theoretisch-rechnerischen Idealwert bezogen und der jeweilige Grad der Abweichung vergleichbar gemacht werden. Dazu müssen Ausschnitte gewählt werden, die weder vorgeschriebene Ritardandi noch Accelerandi enthalten und trotz der tontechnischen Unzulänglichkeiten noch gut durchhörbar sind. Exemplarisch habe ich mich für den Beginn (T. 1- 8) entschieden, wobei der erste Flageolett-Ton der Geige bei Rosbaud abgeschnitten ist und daher nicht einbezogen wird. Außerdem habe ich das Quartett aus Blechbläsern und Altsaxophon (parallel erklingende Stimmen anderer Instrumente bleiben unberücksichtigt) im ersten Assez-lent-Teil (T. 75-83) herausgegriffen sowie das kurze Duo aus und A-Klarinette (T. 147-149). Ich habe für jeden der drei Ausschnitte eine synthetische Midi-Datei erstellt und mithilfe des Programms „Sonic Visualiser“ jeweils die Dauern zwischen zwei Notenimpulsen in Sekunden berechnet, also die Länge einer erklingenden Note vor Hinzutreten einer neuen. Diese absoluten Werte wurden dann, zwecks Vergleichbarkeit, prozentual auf die Durchschnittslänge einer Achtelnote im jeweiligen Ausschnitt bezogen. Auf diese Weise spielt das Grundtempo keine Rolle mehr, sondern nur noch die Proportionen der einzelnen Dauern untereinander. Für die Takte 1-8 ergibt sich folgendes Bild:

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Abbildung 1: Polyphonie X, Beginn, relative Notenwerte im Vergleich

Die relativen Wertigkeiten bei Rosbaud und Maderna sind jetzt auf einen Blick mit den eigentlich vorgeschriebenen, durch die Midi-Datei repräsentierten Notenwerte vergleichbar. So zeigt sich, dass etwa der 5. Notenwert bei Rosbaud und der 9. bei Maderna deutlich kürzer sind als sie sein müssten. Andersherum ist sowohl bei Rosbaud als auch bei Maderna der 24. Wert zu lang. Will man nun beide Aufnahmen mit Blick auf die jeweilige Stärke der Abweichungen in Beziehung zueinander setzen, bietet es sich an, ein zweites Diagramm zu erstellen, das die Abweichungen von der Midi-Datei darstellt - immer noch in Prozent der Länge einer Achtelnote:11

Interessant sind natürlich vor allem die eklatantesten Abweichungen, also etwa diejenigen über 50% und somit Abbildung 2: Polyhphonie X, Beginn, relative Abweichungen

über dem Wert einer Sechzehntelnote. Bei Rosbaud gibt es fünf solcher besonders starken Abweichungen, bei Maderna nur zwei. Die stärkste Abweichung findet sich bei Rosbaud beim bereits erwähnten 5. und beim 19. Notenwert. Der 5. Wert (T. 2) ist der zweitlängste des

11 Durch die besondere Art der Berechnung fallen bewusst längere Noten stärker ins Gewicht als kürzere. Verdoppelt sich also in einer Aufnahme etwa die Länge einer Zweiunddreißigstel auf die einer Sechzehntel, erscheint dies weniger eklatant als die Verdopplung einer Viertelnote. Dies ist nötig, um einen zu großen Ausschlag der zufälligen Messabweichung auf kleine Werte zu verhindern, entspricht aber auch der realen Hörerfahrung.

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Ausschnitts. Es handelt sich um ein Streicherflageolett im p mit dem Wert einer halben Note. Bei Rosbaud (0:03) ist dieser Wert um gut 80 Prozent einer Achtel kürzer, erklingt also fast um ein Viertel zu kurz. Der 19. Wert zwischen dem c’’’ der Klarinette und dem Cellopizzicato (T. 5 f.), eine Viertel mit übergebundener Sechzehntel, wird bei Rosbaud fast um ein Drittel verkürzt (0:14). Der Wert, der bei Beiden deutlich länger gehalten wird, ist nominell eher kurz: eine Achtel mit übergebundener Quintolen-Zweiunddreißigstel (T. 6 f., Flöte und Klarinette). Er ist sowohl bei Rosbaud (0:16) als auch bei Maderna (0:37) um mehr als die Hälfte zu lang. Es lohnt sich, ausgehend von den extremen Abweichungswerten, ein Blick zurück auf die erste Grafik (Abb. 1). Betrachtet man das Umfeld dieser besonders stark abweichenden Notenwerte, also 5, 15, 19, 20, 24 bei Rosbaud bzw. 9 und 24 bei Maderna, kann man sehen, dass bei Rosbaud die zu kurz geratenen Werte mit einiger Zuverlässigkeit von benachbarten zu langen Werten ausgeglichen werden und umgekehrt – ähnlich dem klassischen Rubato. Bei Maderna trifft das nicht zu, was für eine grundverschiedene Interpretationshaltung spricht: Er scheint sich tatsächlich induktiv von kleinsten Einheiten ausgehend fortzubewegen und die Gesamtheit dadurch erst zu konstituieren, die bei Rosbaud von vornherein durch den Zug des Durchschlagens vorgegeben ist. Dies führt bei Rosbaud zu stärkeren Ungenauigkeiten im Kleinen: So spielt etwa die erste Geige vor dem kleinen Vorschlag12 c’’ in Takt 2 ein nicht notiertes as’ (0:01) und auf der siebten Achtel im selben Takt setzen Geige und stark versetzt ein (0:04). Im Schnitt weichen die Notenwerte bei Rosbaud um 27 Prozent einer Achtelnote ab, also etwa um den Wert einer Zweiunddreißigstel. Bei Maderna sind es nur 18 Prozent, was etwa dem Wert einer Quintolen-Zweiunddreißigstel entspricht.

Die zweite Vergleichsstelle (T. 75-83, Abb. 3) scheint die bisherigen Beobachtungen zu relativieren: Zwar bleibt die durchschnittliche Abweichung bei Rosbaud mit 24 Prozent, also ca. einer Zweiunddreißigstel relativ konstant. Abbildung 3: Polyphonie X, T. 75-83, relative Abweichungen

12 Die Vorschläge wurden in den Berechnungen ausgespart. Auf die Länge der jeweils folgenden Note haben sie keine Auswirkung, da sie wie üblich vor der Zählzeit erklingen sollen. Im entgegengesetzen Fall macht Boulez dies gesondert deutlich: Vgl. etwa Douze Notations, Stück 8.

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Bei Maderna beträgt die Abweichung nun aber 30 Prozent, ist also sogar größer als bei Rosbaud.13 Das bewirken vor allem zwei Ausreißerwerte, deren Abweichung fast den Wert einer Achtelnote erreicht: die punktierte Achtel auf as’ der Trompete (T. 75) vor Hinzutreten der Posaune (4:36), die fast um zwei Drittel zu lang ist, sowie die viel zu kurz geratene Viertel mit übergebundener Quintolensechzehntel zwischen dem Horneinsatz in Takt 81 und dem es’ des Saxophons (5:07). Die Binnenpräzision des langsamen Grundtempos schlägt offenbar im Assez-lent-Teil in Ungenauigkeit um – wenn der Grundschlag der Achtelnote fast zwei Sekunden lang ist, müsste Maderna schon streng in Zweiunddreißigsteln schlagen, um noch einen konsistenten Zählpuls zu erreichen. Rosbaud hingegen erreicht durch Halbierung ungefähr das Modéré-Tempo von Maderna. So wird diese Stelle bei ihm die präziseste der drei untersuchten. Abbildung 4 zeigt, dass die Ausreißerstellen bei 1, 9 und 12 nunmehr auch bei Rosbaud unvermittelt sind, also nicht mehr durch benachbarte Werte ausgeglichen werden. Die Halbierung des Tempos, die beide Dirigenten gleichermaßen vollziehen, hat also Folgen für die Dirigierhaltung: Rosbaud wird veranlasst, von einem eher deduktiven Ansatz zu einem vornehmlich induktiven zu wechseln, das Primat des Ganzen über seine Teile aufzugeben. Boulez erklärt diesen Vorgang auch auf perzeptiver Ebene: „Le passage lent laissera une plus large liberté de manoeuvre à la perception analytique, le passage rapide favorisant, bien évidemment, une perception plus globale.“14 Gleichzeitig kann Langsamkeit, wenn sie wie bei Maderna auf die Spitze getrieben wird, zu weniger statt mehr Präzsion auf der Mikroebene führen und den Dirigenten zu menchanistischem Schlagen in kleinsten Notenwerten zwingen. Man kann also sagen, dass die beiden grundverschiedenen Ansätze sich als Resultat einer dialektischen Bewegung einander annähern.

Abbildung 4: Polyphonie X, T. 75-83, relative Notenwerte im Vergleich

13 Nicht berücksichtigt wurde allerdings bei Rosbaud ein Patzer in Takt 83, wo das c’’’ der Trompete eine Viertelnote zu früh, anstelle des f’ erklingt (2:24). In die Berechnung ging stattdessen das in rhythmischem Unisono geführte Horn ein. 14 [„Eine langsame Passage lässt der analytischen Wahrnehmung mehr Spielraum, während eine schnelle Passage natürlich eher die globale Wahrnehmung favorisiert.“] Boulez Pierre: Entre ordre et chaos. In: Boulez, Pierre: Leçons de musique. Points de repère III. Paris: Christian Bourgois 2005, S. 425.

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Die letzte Vergleichsstelle macht das Korsett des Durchschlagens bei Rosbaud und die resultierenden Unschärfen im Zusammenspiel der Musiker noch einmal evident. Das kurze Duett aus Oboe und A-Klarinette (T. 147-152) leitet über vom neunten Abschnitt mit dem Tempo ‚Modéré’ zum zehnten, ‚Vif‘. Berücksichtigt werden nur die Takte 147-149, da ab Takt 150 ein Accelerando einsetzt. Legt man den Maßstab eines bruchlos funktionierenden Zusammenspiels an, missglückt auch diese Stelle bei Rosbaud, indem das C der Klarinette in Takt 148 mit dem es’’’ der Oboe zusammenfällt, statt erst danach einzusetzen (4:10). Außerdem muss die Oboe für den Spitzenton g’’’ im folgenden Takt zweimal ansetzen, hörbar irritiert durch die Vorschlagsnote gis’’, die die Stelle im geforderten Tempo fast unspielbar macht. Die Übersicht über die relativen Längen und Abweichungen (Abb. 5) spricht eine deutliche Sprache: Madernas langsames Tempo gibt den beiden Musikern die Möglichkeit, aufeinander zu hören und die Stelle präzis umzusetzen. Dagegen sind bei Rosbaud die Abweichungen sehr hoch. Im Schnitt beträgt die Abweichung bei Rosbaud hier 33 Prozent einer Achtel, bei Maderna nur 9 Prozent.

Abbildung 5: Polyphonie X, T. 147-149, relative Notenwerte und Abweichungen im Vergleich

Nimmt man die beiden untersuchten Modéré-Teile zusammen und lässt zunächst den Assez-lent- Teil außen vor, in dem sich die Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehren, ergibt sich für Rosbaud eine durchschnittliche Abweichung von insgesamt 28 Prozent einer Achtelnote, bei Maderna 16 Prozent. Um diese Werte einordnen zu können, empfiehlt es sich, ein nicht serielles Stück heranzuziehen, beispielsweise die Zweite Sinfonie von Karl-Amadeus Hartmann in einer Aufnahme ebenfalls von Rosbaud und dem SWF-Orchester von den Donaueschinger Musiktagen 1950.15 Die Tonsprache dieses Stücks ist noch klassisch-romantisch mit durchgängigem Metrum und einer

15 CD: Aurophon 31800, 1990.

8 relativ schlichten rhythmischen Faktur. Der von mir ausgewählte Ausschnitt 16 umfasst 34 Notenwerte, auch hier ohne Ritardandi, Accelerandi oder Vorschlagsnoten. Rosbauds durchschnittliche Abweichung gleicht in diesem Ausschnitt mit 17 Prozent einer Achtelnote derjenigen von Maderna in Polyphonie X. Gleichzeitig ist sie im seriellen Stück bei Rosbaud um mehr als 60 Prozent höher als im nicht seriellen. Der Vergleich unterstreicht die Professionalität der Maderna-Aufnahme und macht zudem anschaulich, wie eklatant die Mikrostrukturen bei Rosbaud von der Partitur abweichen. Freilich schließt die Einbeziehung des Assez-lent-Teils diese Kluft ein wenig: Rosbaud pendelt sich dann bei 27 Prozent ein, während Madernas durchschnittliche Abweichung mit knapp 21 Prozent deutlich ansteigt.

Führen wir uns die Dialektik der beiden Interpretationsansätze noch einmal vor Augen: Rosbauds Ansatz ist deduktiv, er nimmt seinen Ausgang in globaler Tempogestaltung – der Dirigent beugt sich über sein Orchester. Die Musiker bewahren sich aber gerade im Zwang des Schlagpulses und der überdeterminierten Rhythmik ein Moment individueller Freiheit. Heinz-Klaus Metzger konstatierte 1957 gegen Adorno: „Erst bei den Prozeduren der objektiv-kalkulatorischen Anordnung gibt es Fälle, wo das traditionelle Zählen sei’s durch ein Schätzen, sei’s durch eine an technische Ausführbarkeitsgrenzen orientierte Zeitregulierung ersetzt wird, wo ebenso die traditionellen Intervalle und Tonhöhen einer Intonationsfreiheit innerhalb definierter Felder weichen, wo kurzum Freiheit in bis dahin starr numerisch fixierte Bereiche einzieht.“17 Wie hellsichtig diese Einschätzung ist, zeigt neben Rosbauds Interpretation etwa auch das Gegenbeispiel Kurtág, dessen sogenannte relative Dauernnotation gerade nicht zu größerer interpretatorischer Freiheit geführt hat, sondern bei zunehmend strenger Probenarbeit des Komponisten mit wenigen ausgewählten Ensembles geradezu restriktiv ist.18 Bei Rosbaud werden die Mäkel und Beulen im Zusammenspiel dagegen zum Ausdruck echter, nicht mehr kontrapunktischer Polyphonie; Heteronomie schlägt in Autonomie um, in eine vom Zwang der Vertikalen befreite Selbständigkeit der Stimmen. Maderna auf der anderen Seite geht induktiv vor, das Besondere konstituiert das Allgemeine – er lauscht seinem Orchester. Die Verantwortung, die er damit den Musikern überträgt, fesselt sie gleichzeitig und der Zwang des Aufeinanderhörens reproduziert, auf Kosten der Totale, die

16 Hartmann, Karl Amadeus: Adagio (Symphonie II). Manuskript in der digitalen Bibliothek des MDZ, S. 15 oben. http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0006/bsb00068500/images, 9.9.2016 17 Metzger, Heinz-Klaus: Das Altern der Philosophie der Neuen Musik [1957]. In: Metzger, Heinz-Klaus: Musik wozu. Literatur über Noten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 72. 18 Den Hinweis verdanke ich dem Vortrag „Das Geschriebene darf nicht ernst genommen werden – das Geschriebene muß todernst genommen werden“ – zur Notation und Interpretation musikalischer Gesten im Schaffen György Kurtágs“ von Tobias Bleek beim Kurtág-Symposium der Musik-Akademie Basel am 30.4.2016.

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Mikroproportionen der Partitur. Fluchtpunkt dieser Dialektik ist, wie sich gezeigt hat, der Assez- lent-Teil: Rosbaud verwandelt sich gleichsam in Maderna und umgekehrt, die Prinzipe scheinen sich in ihrer letzten Konsequenz aufzuheben. Die Ambivalenz aus Freiheit und Determination, dem Besonderen und dem Allgemeinen, wird so zum Thema der beiden Interpretationen. Indem sie, von unterschiedlichen Richtungen ausgehend, die implizit im Notentext angelegten Widersprüche austragen, müssen sie Partei ergreifen – ein Vorgang, den Adorno in der Ästhetischen Theorie genau beschreibt:

Wo immer auch der Interpret in seinen Text eindringt, findet er eine unabschließbare Fülle von Desideraten, denen er zu genügen hätte, ohne daß einem zu genügen wäre, ohne daß das andere darunter litte; er stößt auf die Inkompatibilität dessen, was die Werke von sich wollen und dann von ihm; die Kompromisse aber, die resultieren, schaden der Sache durch die Indifferenz des Unentschiedenen. Voll adäquate Interpretation ist schimärisch. Das nicht zuletzt verleiht dem idealen Lesen den Vorrang vorm Spielen: Lesen, darin vergleichbar dem berüchtigten allgemeinen Dreieck Lockes, duldet als sinnlich-unsinnliche Anschauung etwas wie die Koexistenz des Kontradiktorischen.19

Allein, indem er die spezifische Interpretationsrichtung, das Parteiergreifen pauschal als Kompromiss abqualifiziert, fällt Adorno hinter sein eigenes dialektisches Denken zurück. Denn die ‚Koexistenz des Kontradiktorischen’, für ihn ein Spezifikum der Schriftlichkeit, ist nicht nur gesellschaftlich, sondern auch ästhetisch eine ideologische. Erst Interpretation, dafür sind die konträren Aufnahmen von Rosbaud und Maderna ein erhellendes Beispiel, vermag diese Ideologie aufzuheben, immanente Kritik zu üben, indem sie sich ihrer inneren Dynamik kompromisslos überantwortet. Adorno bemerkt schließlich selbst, freilich mit einigem Pathos, in den Skizzen zu seiner Reproduktionstheorie: „Interpretation rettet die Musik indem [sic!] sie sie in ihrer Fehlbarkeit – und deren Sinn – aufdeckt und ihr vergibt. Musik bedarf der Interpretation: als Kritik, die ihr die Ehre der absoluten Wahrheit antut.“20 Wie sehr dies in nuce für das zurückgezogene Polyphonie X und seine beiden Aufnahmen zutrifft, hat der hier angestellte Vergleich zumindest anzudeuten versucht.

19 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [2003]. 5. Auflage. In: Gesammelte Schriften. Band 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014, S. 415. 20 Adorno, Theodor W.: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata. In: Nachgelassene Schriften. Abteilung I. Band 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 105.

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