Interpretation Als Kritik Pierre Boulez’ Polyphonie X Im Spiegel Seiner Aufnahmen
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Interpretation als Kritik Pierre Boulez’ Polyphonie X im Spiegel seiner Aufnahmen Von Simon Tönies Die kritische Rolle von Interpretation ist im allmählich aufblühenden Diskurs über musikalische Reproduktion bisher noch ein wenig kurz gekommen – wenn auch der spezifische Eigenwert des Wahrnehmens wie auch des Musikmachens zunehmend akzentuiert und konstruktiv in Diskurse wie etwa den der Körperlichkeit oder der Performativität eingebunden wird.1 In diesem Beitrag soll daher der Versuch unternommen werden, Interpretation emphatisch als Kritik zu verstehen, als Form ästhetischer Erkenntnis. Dass ein solcher Ansatz nicht in den empirischen Befunden aufgehen kann, die er zur Grundlage hat, sondern auch ästhetisch-philosophische Kategorien einbeziehen muss, sei einleitend gesagt. Bemerkt sei außerdem, dass der hier angewandte Kritikbegriff in Verlängerung der Linie Kant-Hegel-Marx ausdrücklich auf Theodor W. Adorno zurückgeht, dessen Fragment gebliebene Reproduktionstheorie wohl als Ausgangspunkt einer Akzentuierung des kritischen Potenzials von Interpretationen gelten darf. Zwei Interpretationen eines Werks der seriellen Phase sollen in diesem Sinne gegenübergestellt werden. Exemplarisch herangezogen sei dafür das 1951 in Donaueschingen uraufgeführte und später zurückgezogene Stück Polyphonie X von Pierre Boulez. Dass das Signifikant, also die in der Baseler Sacher-Stiftung verwahrte Partitur, Bezugspunkt bleibt und Abweichungen von dieser dokumentiert werden, ist kein Widerspruch zu einer gleichzeitig angenommenen Autonomie der Interpretation: Ihr kritisches Potenzial entfaltet diese, wie sich zeigen wird, gerade durch bedingungslose Abarbeitung am Notentext und nicht durch äußerliche, der Willkür des Interpreten unterliegende Apriori. Adorno nannte eine solche Dynamik „immanente Kritik“2: „Sie opponiert nicht sowohl der Phänomenologie durch einen dieser äußerlichen und fremden Ansatz oder ‚Entwurf’, als daß sie den phänomenologischen mit seiner eigenen Kraft dorthin treibt, wohin er um keinen Preis möchte, und ihm mit dem Geständnis der eigenen Unwahrheit Wahrheit abnötigt.“3 1 Vgl. etwa Utz, Christian: Erinnerte Gestalt und gebannter Augenblick. Zur Analyse und Interpretation post-tonaler Musik als Wahrnehmungspraxis – Klangorganisation und Zeiterfahrung bei Morton Feldman, Helmut Lachenmann und Brian Ferneyhough. In: Jörn Peter Hiekel (Hg.): Ans Licht gebracht. Zur Interpretation Neuer Musik. Mainz et al.: Schott 2013, S. 40-67. 2 Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. In: Gesammelte Schriften. Band 5. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 14. 3 Ebd. 1 Boulez selbst sanktioniert in einer seiner späten Vorlesungen die Schriftlichkeit noch im selben Moment, in dem er ihre Losgelöstheit vom wahrnehmbar klingenden Resultat kritisiert: „En d’autres termes, notre perception, plus ou moins statistique, n’a que peu à voir avec ce que l’écriture nous présente [...] mais la constitution de ce qu’on entend n’aurait – du moins, je le pense – pas pu être atteinte par un autre moyen que cette écriture-là.“4 Der Notentext wäre vor diesem Hintergrund als notwendiger Bezugspunkt und Voraussetzung interpretatorischer Autonomie zu verstehen. Die einzige vollständige Aufnahme von Polyphonie X stammt von der Uraufführung durch das SWF-Sinfonieorchester unter Hans Rosbaud.5 Der Komponist Bruno Maderna hat außerdem 1953 in Napoli den ersten der drei Teile dirigiert und auf Tonband festgehalten.6 Diesen Mitschnitt mit dem Orchestra Alessando Scarlatti della RAI hat Maderna allerdings nie veröffentlicht. Erst posthum, als das Band nach italienischem Urheberrecht bereits gemeinfrei war, hat es seine Frau Christina Maderna als U-Matic dem Label „Stradivarius“ zur Verfügung gestellt.7 Aber so wie auch Polyphonie X trotz seines nicht autorisierten Status ästhetische Gültigkeit unterstellt wird, so soll auch Madernas Aufnahme nicht nur als Folie zur Beurteilung der Kompletteinspielung von Hans Rosbaud behandelt werden, sondern auch als eigenständige und ernstzunehmende Interpretation. Den Einwand, es könnte sich lediglich um einen Probenmitschnitt handeln, halte ich für unbegründet: Wäre das extrem langsame Tempo tatsächlich nur Resultat einer frühen Probenphase, wäre dies kaum mit der – wie sich zeigen wird – außerordentlichen Präzision des Zusammenspiels in Einklang zu bringen. Es gibt vielmehr Belege dafür, dass die Musiker bereits konstruktiv aufeinander hören und das Stadium eines scheuklappenhaften Durchzählens verlassen haben. Schließlich würde aber selbst die Annahme eines Probenmitschnitts die Adäquanz einer ästhetischen Beurteilung kaum versehren – spiegelt doch gerade das Unfertige die spezielle Anlage eines Werkes, das den Schein eines zyklischen Ganzen ideologiekritisch verneint.8 4 [„Mit anderen Worten: Unsere mehr oder weniger statistische Wahrnehmung hat wenig mit dem zu tun, was uns die Schreibweise präsentiert (...) aber die Beschaffenheit dessen, was man hört, hätte – das glaube ich zumindest – nicht anders erzielt werden können als durch genau diese Schreibweise.“] Boulez, Pierre: Entre ordre et chaos. In: Boulez, Pierre: Leçons de musique. Points de repère III. Paris: Christian Bourgois 2005, S. 454. 5 CD: Aurophon 31800, 1990. 6 CD: Stradivarius 10044, 1990. 7 So der Geschäftsführer des Labels „Stradivarius“ Robert Elli in E-Mails vom 7. und 12. September 2016. 8 „Comme tu le vois, c’est une œuvre d’envergure assez vaste. Je voudrais surtout y abolir la notion d’œuvre musicale pour donner au concert, avec un nombre déterminé de mouvements; mais un livre de musique où l’on trouvera les dimension d’un livre de poèmes […]. [„Wie du siehst, ist dies ein Werk von großem Ausmaß. Ich möchte damit vor allem den Begriff des musikalischen Werks abschaffen, das mit einer festgelegten Anzahl von Sätzen in einem Konzert aufzuführen ist; stattdessen ein Musikbuch, in dem man die Dimensionen eines Gedichtbandes vorfindet.“], Brief an John Cage, 30. Dezember 1950. Zitiert nach: Boulez, Pierre / Cage, John: Correspondance et documents. Nouvelle édition. Mainz et al.: Schott 2002, S. 160. Die an klassische Dreisätzigkeit erinnernde Anlage ist irreführend - auch für die spätere Fassung Polyphonie X waren weitere Sätze geplant. 2 Hält man Rosbauds Einspielung des ersten Satzes von Polyphonie X neben die von Maderna, sind vor allem zwei zeitbezogene Kategorien in den Fokus zu nehmen: die des übergeordneten Tempos auf der einen Seite und des Verhältnisses der einzelnen Notenwerte untereinander auf der anderen. Sofort fällt auf, dass Bruno Maderna mit 15 Minuten und 35 Sekunden für den ersten Satz mehr als doppelt so lange braucht wie Rosbaud, der dafür nur 7 Minuten und 23 Sekunden benötigt. Madernas Einspielung des ersten Satzes ist damit beinahe so lang wie alle drei Sätze zusammen bei Rosbaud. Die pauschale Annahme, Rosbaud dirigiere doppelt so schnell, ist allerdings zu differenzieren, wie sich mit Blick auf die Zusammensetzung der drei Tempi zeigt. Boulez sieht in der Partitur ein Tempo I mit 76-84 Vierteln pro Minute (im Folgenden bpm) vor, das er als „Modéré“ charakterisiert.9 Die beiden anderen Tempi sind jeweils vom Grundtempo abgeleitet: In Tempo II, „Vif“ (T. 50), entspricht eine punktierte Achtelnote einer nicht punktierten von Tempo I, das Tempo ist also um die Hälfte schneller mit 114-126 bpm. Der gesamte dritte Satz steht in diesem Tempo. Tempo III, „Assez lent“ leitet den zweiten Satz ein (es folgen wie im ersten wellenförmige Anordnungen aller drei Tempi)10, wobei eine Achtelnote so lang dauert wie eine Viertelnote in Tempo I; das Tempo wird demnach halbiert auf 38-42 bpm (vgl. Tabelle 1). Tempo I: Modéré Tempo II: Vif Tempo III: Assez lent ♩= 76-84 ♩= 114-126 ♩= 38-42 Tabelle 1: Tempovorschriften Polyphonie X Wie gehen Rosbaud und Maderna mit dieser Vorschrift um? Rosbaud schlägt Tempo I zwischen 62 (Beginn des ersten Satzes) und 72 bpm (gegen Ende des ersten Satzes). Er ist also etwas langsamer, wobei er im Laufe des Satzes schneller wird und fast das geforderte Tempo erreicht. Maderna wird langsamer: Er beginnt mit etwa 32 bpm, was bereits weniger als halb so schnell wie vorgesehen ist, und erreicht gegen Ende nur noch ein Tempo von 24 bpm, weniger als ein Drittel des vorgesehenen Tempos. Tempo II unterscheidet sich bei Beiden kaum von Tempo I: Rosbaud nimmt es mit ca. 76 bpm (vgl. Beginn des dritten Satzes) nur minimal schneller als das Grundtempo, bei Maderna ist es mit 32 bpm - also nominell kaum mehr als ein Viertel der eigentlichen Tempovorschrift! - etwa genau so schnell wie das Anfangstempo. Die Assez-lent-Teile sind dagegen bei Beiden gemäß den vorgesehenen Proportionen ungefähr halb so schnell wie Tempo I. Rosbaud kommt dabei mit 34 Vierteln pro Minute den 38-42 bpm auch absolut gesehen nahe, wohingegen Madernas Tempo bei etwa 18 bpm liegt. Man kann also sagen, dass sowohl Rosbaud als auch Maderna die Proportion 1:2 9 Vgl. Boulez, Pierre: Polyphonie X pour 18 instruments. Manuskript der 2. Fassung, unveröffentlicht, verworfen. Depositum Südwestrundfunk Baden-Baden im Archiv der Paul Sacher Stiftung Basel, T. 1. Alle Taktzahlen beziehen sich auf diese Quelle. 10 Vgl. Zenck, Martin: Pierre Boulez: Polyphonie X (1951). In: Archiv für Musikwissenschaft, Nr. 72, 2015, S. 287. 3 zwischen Tempo I, „Modéré“, und Tempo III, „Assez lent“, wahren, während das lebhafte Tempo II bei Beiden aus dem Rahmen fällt und sich dem Grundtempo angleicht. Rosbaud tendiert dazu, im Grundtempo schneller zu werden, Maderna wird hingegen langsamer. An dieser Stelle kündigen sich bereits zwei konträre Grundkonzeptionen an: Während