Wissenschaftsgeschichte Einer »den irdischen Angelegenheiten möglichst fernliegenden Wissenschaft« gewidmet Der Mathematiker in

arl Ludwig Siegel war einer der 1 Carl Ludwig Cbedeutendsten Mathematiker Siegel wurde der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- 1922 im Alter von derts. Er forschte und lehrte 15 25 Jahren ordent- licher Professor an Jahre in Frankfurt, von 1922 bis der Universität 1937. In dieser Zeit entstanden sei- Frankfurt. Anfang ne wichtigsten zahlentheoretischen 1938 wechselte Arbeiten. Danach in Göttingen, ab er an die Univer- 1940 in Princeton und ab 1951 sität Göttingen. wieder in Göttingen, erbrachte Sie- Wegen seiner Ab- gel wichtige Beiträge zur Theorie lehnung der natio- nalsozialistischen der Funktionen mehrerer komple- Politik emigrierte xer Variablen und zur Himmelsme- er von dort aus chanik. Außerdem dehnte er seine 1940 in die verei- Methoden erheblich aus, um addi- nigten Staaten. tive Fragen in algebraischen Zahl- körpern (zum Beispiel das Waring- Problem) zu behandeln. Die Frankfurter Jahre fanden ein Ende, als Siegel zum 1. Januar zehnte vergangen, die Schäden folgendem Zufall. Der Vertreter der 2 Willy Hartner, 1938 nach Göttingen wechselte. sind zum Teil repariert, soweit sie Astronomie an der Universität hat- von 1940 bis Die nationalsozialistische Politik, eben repariert werden konnten, te angekündigt, er würde sein Kol- 1970 Professor die seine jüdischstämmigen Kolle- und insbesondere ist die Mathema- leg erst 14 Tage nach Semesterbe- für Geschichte der Naturwissenschaf- gen und Freunde , Paul tik in Frankfurt wieder in guten ginn anfangen, was übrigens in der ten an der Univer- Epstein, und Otto Händen. Wollen wir hoffen, daß damaligen Zeit weniger als heutzu- sität Frankfurt, Szász aus dem Dienst gedrängt hat- sich niemals wiederholen möge, tage üblich war. Zu den Wochen- nahm nach der te, war Siegel zutiefst zuwider.1 was einst irregeleitete Fanatiker stunden Mittwoch und Sonnabend »Reichskristall- Anlässlich der 50-Jahr-Feier der hier rechtlich denkenden Men- 9 bis 11 Uhr war aber auch eine nacht« den jüdi- Universität (1964) hielt Siegel ei- schen angetan haben!«/8/ 2 Vorlesung von Frobenius über Zah- schen Kollegen nen Vortrag zur Geschichte des lentheorie angezeigt. Da ich nicht Max Dehn und dessen Frau Anto- Mathematischen Seminars der »...so besuchte ich aus purer die geringste Ahnung davon hatte, nie vorübergehend /8/ Universität Frankfurt ( , III Neugier dieses Kolleg« was Zahlentheorie sein könnte, so in seinem Haus in 462 – 474). Willy Hartner be- besuchte ich aus purer Neugier Bad Homburg auf. schreibt diesen Bericht: »Dem äu- Carl Ludwig Siegel wurde am dieses Kolleg, und das entschied Wenige Wochen ßeren Anschein nach kühl distan- 31. Dezember 1896 in gebo- über meine wissenschaftliche Rich- später, im Januar ziert, jedoch in Wahrheit innerlich ren. Zum Wintersemester 1915/16 tung ...« 1939, emigrierten stärkstens engagiert, schildert er nahm er das Studium der Astrono- Auf Antrag von Georg Frobeni- die Dehns. [Siegel] seine Frankfurter Jahre, mie in Berlin auf. us (1849 – 1917, in Berlin 1892 – von der Zeit seiner Berufung als »Als ich im Herbst 1915 an der 1916) erhielt Siegel zum Ende sei- 25-Jähriger im Jahr 1922 bis zum Berliner Universität immatrikuliert nes ersten Semesters den trostlosen beschämenden Ende in wurde, war gerade ein Krieg in Eisensteinpreis, der jährlich einem den 30er Jahren.«/1/ Siegel schloss vollem Gange. Obwohl ich die po- begabten Studenten der Mathema- seine Rede mit den bewegenden litischen Ereignisse nicht durch- tik verliehen wurde. Zur Ausstrah- Worten: schaute, so faßte ich in instinktiver lung von Frobenius schrieb Siegel: »Zusammenfassend läßt sich sa- Abneigung gegen das gewalttätige »..., daß ich nicht gut erklären gen, daß die Zerstörung des Frank- Treiben der Menschen den Vorsatz, kann, wodurch die starke Wirkung furter Mathematischen Seminars mein Studium einer den irdischen der Vorlesungen von Frobenius durch die Herrschaft Hitlers für alle Angelegenheiten möglichst fernlie- hervorgerufen wurde. Nach mei- davon betroffenen Dozenten die genden Wissenschaft zu widmen, ner Schilderung der Art seines Beendigung der besten und frucht- als welche mir damals die Astrono- Auftretens hätte die Wirkung eher barsten Zeit ihres Lebens bedeutet mie erschien. Daß ich trotzdem zur abschreckend sein können. Ohne hat. Inzwischen sind drei Jahr- Zahlentheorie kam, beruhte auf daß es mir klar wurde, beeinfl ußte

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3 erkannte den Wert einer zunächst sehr kurz gefassten Arbeit Siegels aus dem drit- ten Semester. Unter seiner Anleitung ar- beitete Siegel seine Gedanken aus und wurde in 1920 in Göttingen promoviert.

4 Ludwig Siegel bei seiner Doktorzeremonie in Göttingen: Er sitzt im Bollerwagen in der Bildmitte. Hin- tere Reihe: Walfi sz (mit Hut), Rogosinski, H. Kneser, Bessel-Hagen (mit Hut), Windau, Krull, Emersleben. In der vorderen Reihe: Nefs, Fräulein Wolff, Siegel, Grandjot, Kapferer, Boskovic. Die Identifi zierung der Dargestellten ermöglichte S. J. Patterson, der in Martin Knesers Nachlass eine entsprechende Notiz fand.

mich wahrscheinlich die gesamte mich ein neuartiges und befreien- schäftigte sich Siegel, angeregt schöpferische Persönlichkeit des des Erlebnis.« durch eine Vorlesung von Issai großen Gelehrten, die eben auch Dem innerlich abgelehnten Schur, im dritten Studiensemester durch die Art seines Vortrags in ge- Wehrdienst konnte sich Siegel mit dem Problem der »schlechten wisser Weise zur Geltung kam. weitgehend entziehen, dank der Approximierbarkeit« algebraischer Nach bedrückenden Schuljahren Unterstützung durch den Leiter ei- Zahlen durch rationale; Siegel ver- unter mittelmäßigen oder sogar ner psychiatrischen Klinik. Nach schärfte einen Satz des norwegi- bösartigen Lehrern war dies für dem Wechsel zur Mathematik be- schen Mathematikers Axel Thue erheblich [siehe »Approximation algebraischer Zahlen«]. Issai Schur konnte allerdings Diophantische Approximation algebraischer Zahlen mit Siegels extrem kurz gefasster Arbeit nichts anfangen. Edmund Landau (1877 – 1938), der von 1909 bis 1934 in Göttingen wirkte, zeigte sich interessiert und leitete Siegel zu einer ausführlicheren Darstellung an. Die Promotion er- folgte am 9. Juni 1920.

»ein Mathematiker von genialer Schaffenskraft «

Während des Wintersemesters 1920/21 war Siegel Lehrbeauftrag- ter in Hamburg, dann Assistent bei Richard Courant, Göttingen. Die Habilitation erfolgte am 10. Dezem- ber 1921 über die additive Theorie der Zahlkörper; darin entwickelte er eine technisch aufwendige Aus- dehnung der »Kreis-Methode« von Godefrey H. Hardy und John E. Lit- tlewood auf total-reelle Zahlkör- per. Am 1. August 1922 wurde C. L.

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Siegel ordentlicher Professor in (USA). Auf einem Brief vom 9. Ja- und Führereigenschaften voraus- Frankfurt als Nachfolger von Ar- nuar 1935, der im Frankfurter Uni- setzende Aufgaben zufallen […], thur Schoenfl ies. versitätsarchiv aufbewahrt wird, fehlt dem weiblichen Dozenten Die Naturwissenschaftliche Fa- fi ndet sich ein handschriftlicher künftig die Voraussetzung für eine kultät begründete ihren Beru- Entwurf eines Gutachtens über ersprießliche Tätigkeit«. fungsvorschlag: Siegel durch den Rektor Walter Die Fakultät sah sich nicht in »Wenn die Fakultät in erster Li- Platzhoff. der Lage, das Gesuch von Prof. Sie- nie einen jungen, soeben habili- »Prof. Siegel ist, wie ich allge- gel zu befürworten. »Die pädagogi- tierten Mann vorschlägt, ist sie der mein höre, ein bedeutender Ma- sche Eignung [von Dr. Weber] wird festen Ueberzeugung, daß seine thematiker, z. Zt. in Amerika zu gerade von den Studenten unserer Persönlichkeit und bisherigen Leis- Gastvorlesungen. Auch als Lehrer Universität, darunter dem [NS-] tungen einen so ungewöhnlichen ist er sehr geschätzt. Nationalsozia- Fachschaftsleiter, gerühmt. Der Schritt vollauf rechtfertigen. Nach listisch ist er sicher nicht, steht sehr Vertreter der [NS-]Dozentenschaft einhelligem Urteil aller Sachver- gut mit seinen jüdischen Kollegen. hat erklärt, daß für ihn nur Dr. We- ständigen ist Siegel einer der selte- Charakterlich kaum zu beurteilen, ber als Vertreter in Frage käme.« nen Mathematiker von genialer lebt ganz zurückgezogen, kommt Nebenbei: Werner Weber Schaffenskraft. Aus relativ kurzer zu keiner Veranstaltung, ist Eigen- (1906 – 1975), ab 1940 außerplan- Zeit liegen Arbeiten von ihm vor, brödler und Sonderling.« mäßiger Professor an der Universi- die in der allerersten Reihe mathe- Die Vertretung in Frankfurt er- tät Berlin, wurde 1945 entlassen. matischer Produktion stehen. Sie folgte durch den Dozenten behandeln tiefste arithmetische Dr. Werner Weber aus Göttingen, Probleme – es sei nur die Approxi- der 1933 Anführer des NS-Boykot- 5 Arthur Schoen- mierbarkeit algebraischer Zahlen tes gegen seinen Lehrer E. Landau fl ies war erster Or- und die additive Zahlentheorie in gewesen war. Nach seiner Rück- dinarius für Ma- beliebigen Zahlkörpern hervorge- kehr wehrte sich Siegel massiv, thematik an der Universität Frank- hoben – und zeigen nicht nur eine aber erfolglos gegen die weitere furt. Carl Ludwig vollendete Beherrschung der vor- Beauftragung von Dr. Weber. In ei- Siegel wurde sein handenen zahlentheoretischen nem Brief vom 2. November 1935 Nachfolger. Methoden, sondern größte Erfi n- an den Herrn Reichs- und Preußi- dungsgabe in der Schaffung neuer schen Minister für Wissenschaft, Hilfsmittel und Kraft bei der Ue- Erziehung und Volksbildung in berwindung der gewaltigen Berlin legt Siegel dar, dass die Her- Schwierigkeiten jener Probleme.« anziehung einer auswärtigen Lehr- Es sollte angemerkt werden, kraft nicht notwendig sei, weil dass Siegels (frei vorgetragene) Fräulein Doktor Moufang und Do- Vorlesungen für ihre Klarheit be- zent Dr. Wilhelm Magnus einsprin- rühmt waren. Im Sommer-Semes- gen könnten, und er äußert Zwei- ter 1930 war Siegel Gastprofessor fel an Webers wissenschaftlicher in Göttingen, um den emeritierten Qualifi kation: David Hilbert zu vertreten. In »... Dementsprechend hat er, so- Frankfurt wurde Siegel durch weit mir bekannt geworden ist, 6 Ernst Hellinger, vertreten, die seit nach einer 1930 unter dem Einfl uß seit 1914 Profes- 1922 außerordentliche Professorin von Prof. Emmy Noether, damals sor für Mathema- in Göttingen war. in Göttingen, entstandenen Disser- tik in Frankfurt, wurde nach der tation und zwei dasselbe Gebiet be- Progromnacht für Mutiger Kritiker handelnden Veröffentlichungen sechs Wochen im des Nationalsozialismus keine produktive wissenschaftliche Konzentrationsla- Siegel machte aus seiner Ver- Arbeit mehr geleistet. Er hat nicht ger Dachau inhaf- achtung für die nationalsozialisti- das wissenschaftliche Format eines tiert. Im Februar sche Ideologie kein Geheimnis. Er Universitätslehrers ...« 1939 gelang es weigerte sich, seine Vorlesungen In Siegels Brief wird auch Ernst ihm durch die Ver- mittlung seiner in mit dem »Deutschen Gruß« zu er- Hellinger angeführt, seit 1914 Pro- den USA lebenden öffnen oder als Sammler für das fessor für Mathematik in Frank- Schwester, in die »Winterhilfswerk« tätig zu sein. furt; dieser wurde 1935 wegen Vereinigten Staa- Seine Arbeit in den Transactions of seiner jüdischen Abstammung ent- ten auszuwandern. the American Mathematical Socie- lassen; nach der Pogromnacht ty 1936 widmete er Paul Epstein, (9./10. November 1938) war er dessen Lehrtätigkeit 1935 beendet sechs Wochen im KZ Dachau in- Provokationen eines hoch worden war; nach einer Vorladung haftiert; im Februar 1939 gelang angesehenen Wissenschaftlers durch die Gestapo wählte Epstein ihm die Emigration in die USA. Ob Siegels kritische Haltung Fol- am 11. August 1939 den Freitod. Ruth Moufang konnte sich zwar gen hatte? »Wegen des außeror- Vom 1. Januar 1935 bis zum 1936 in Frankfurt habilitieren, er- dentlichen Ernst[es] der Devisenla- Ende des Sommersemesters 1935 hielt aber nicht die Lehrerlaubnis, ge« durfte Siegels Schüler Theodor übernahm Siegel eine Gastprofes- »da dem Dozenten im Dritten Schneider (1953 Ordinarius in Er- sur an der University of Princeton Reich […] wesentlich erzieherische langen, ab 1959 in Freiburg i. Br.)

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7 Theodor mit einer in wichtigen Teilen ab- sen Ende führte), doch offenbar Schneider, einem weichenden Methode. Schneider konnte er sich als hochangesehe- brillanten Schüler wurde auch 1935 in Frankfurt die ner Wissenschaftler einige Provo- Siegels, der das Annahme der Habilitationsschrift kationen leisten. Viele von Theo- siebte Hilbert’sche Problem löste, verweigert, da er nicht über die dor Schneider erzählte Anekdoten wurde 1935 die von den Nazis geforderten Füh- über Siegel hat Prof. Dr. Liselotte Habilitation ver- rungsqualitäten verfüge. 1938 folg- Kappe (State University in Bingh- weigert, da er te er Siegel nach Göttingen. amton), eine Schneider-Schülerin, nicht über die von 1937 wurde Siegel nach Paris zu gesammelt. Eine Veröffentlichung den Nazis gefor- Vorträgen eingeladen. Am 15. Juni wäre wünschenswert. Zum Frank- derten Führungs- 1937 berichtet Siegel an den Rek- furter Schülerkreis von C. L. Siegel qualitäten verfüge. tor Platzhoff. gehören auch Wilhelm Maier, Kurt »Euer Magnifi zenz melde ich Mahler, Helene Braun. Der Verfas- gehorsamst, dass ich vom 20. Mai ser dieses Artikels ist Schüler von bis zum 6. Juni 1937 in Paris gewe- Theodor Schneider. sen bin, um Vorlesungen an der Sorbonne und am Collège de 8 Otto Szász war France zu halten. 9 Hel Braun, seit 1921 außeror- Nach längerm Warten bekam eine Frankfur- dentlicher Profes- ich von der Deutschen Kongress- ter Schülerin sor an der Univer- Zentrale die Mitteilung, dass für Siegels, folgte sität Frankfurt. ihrem Lehrer 1933 emigrierte er meine Reise keine Devisen zur 1938 nach in die Vereinigten Verfügung stehen. Obwohl ich des- Göttingen, wo Staaten und lebte halb in Paris mit nur 10 RM ein- sie sich 1940 von einem schma- traf, kam ich dort nicht in Not, da habilitierte. len Gehalt als mir ein französischer Kollege so- Gastprofessor am lange Geld lieh, bis ich von der Massachussetts In- Sorbonne das Honorar für meine stitute of Technolo- gy (MIT). Vorlesungen erhalten hatte. Die von Eurer Magnifi zenz an- geordneten Besuche bei der deut- schen Auslandsvertretung und bei der Pariser Zweigstelle des Deut- nicht zum Internationalen Kon- schen Akademischen Austausch- Zum 1. Januar 1938 wechselte greß der Mathematiker vom dienstes habe ich gleich nach mei- Siegel an die Universität Göttingen. 13. – 18. Juli 1936 nach Oslo fah- ner Ankunft ausgeführt. Im Frühjahr 1940 emigrierte Siegel ren, obwohl dieser in seiner Frank- Dagegen konnte ich zu meinem in die Vereinigten Staaten von furter Dissertation 1934 das siebte grössten Bedauern den Pariser Lei- Amerika. Theodor Schneider wuss- Hilbert’sche Problem gelöst hatte. ter der Auslandsorganisation der te von Siegels Absicht, zu emigrie- Der Beweis gelang ihm nur wenige N.S.D.A.P, mit dem ich mich nach ren. Siegel hatte ihm vorgeschla- Wochen nach Aleksander O. Gel- Möglichkeit in Verbindung zu set- gen, mitzukommen, aber Schnei- fond (und unabhängig von diesem) zen hatte, nicht erreichen, da die der wagte es nicht, alles hinter sich Sprechstunden dieses Herrn gerade zu lassen – in der Erwartung einer in die Zeit meiner Vorlesungen und reichlich unsicheren Zukunft. Sie- wissenschaftlichen Besprechungen gel, 1935 als Gast in Princeton, Hilbert’sches Problem fi elen. brauchte wegen seiner Zukunft in Die Vorlesungen habe ich in den USA nicht besorgt zu sein. avid Hilbert (1862 – 1943), einer der größten französischer Sprache abgehalten. Bis 1945 hatte Siegel ein For- DMathematiker der ersten Hälfte des 20. Jahr- Sie fanden guten Besuch, reges In- schungsstipendium am Institute for hunderts, stellte 1900 in seinem Hauptvortrag teresse und lebhaften Beifall. … Advanced Study in Princeton, beim zweiten Internationalen Kongreß der Ma- Am 8. Juni sollte noch mir zu 1945 bis 1951 war er dort in fester thematiker in Paris 23 Probleme vor, als Heraus- Ehren eine Zusammenkunft im Stellung. Als Gastprofessor ver- forderungen für die Mathematik des 20. Jahrhun- Rapprochement Universitaire in brachte er das Wintersemester derts. »Solving one of Hilbert’s problems has been der Sorbonne stattfi nden. Da mei- 1946/47 in Göttingen. Seit 1951 the romantic dream of many a .«/9/ ne Geldmittel aufgebraucht waren, war Siegel wieder ordentlicher musste ich leider schon vorher ab- Professor in Göttingen. Die Emeri- 7. Hilbert’sches Problem (gelöst durch Gelfond und reisen.« tierung erfolgte zum 1. April 1959. Schneider) Nach Meinung von Theodor Viermal hielt Siegel Gastvorle- Sind α und β algebraische Zahlen, wobei α ≠ 0, ≠ 1 Schneider hatte Siegel es provoka- sungen am Tata-Institut in Bom- ist und β irrational ist, so ist die Zahl tiv darauf angelegt, aus dem Dienst bay. 1963 erhielt Siegel den Orden α β = exp(β · log α) entfernt zu werden (insbesondere Pour le Mérite (weitere Ordensträ- später in Göttingen mit einem ger aus der Mathematik waren Fe- transzendent, das heißt nicht Nullstelle eines Po- Brief an den Polizeipräsidenten, lix Klein (1923), David Hilbert lynoms mit ganzzahligen Koeffi zienten. der nur wegen einer Intervention (1926) und von Helmut Hasse zu keinem bö- (1991)), 1964 das Große Verdienst-

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0 Ostfriesisches Bauernhaus, ge- zeichnet von Sie- gel. Er malte und zeichnete gerne in seiner Freizeit.

kreuz mit Stern. 1978 wurde er perproblem, zum Problem der existierenden) reellen Ausnahme- (zusammen mit Israil M. Gelfand) »Kleinen Nenner« und setzte sich Nullstelle Dirichletscher-L-Funkti- erster Preisträger der renommier- mit dem Verhalten der Lösungen onen von 1 nach unten ab und er- ten israelischen Wolf Foundation. in der Nähe einer Gleichgewichts- möglichte damit den Beweis des Siegel erhielt sechs Ehrendoktora- lösung auseinander./3/ /5/ »Primzahlsatzes von Page-Siegel- te. Er verstarb am 4. April 1981 in In der Zahlentheorie befasste Walfi sz«. Göttingen. sich Siegel mit Approximations- In der Arbeit »Über Riemanns eigenschaften algebraischer Zahlen, Nachlaß zur analytischen Zahlen- Mathematische Arbeiten mit der Begründung der additiven theorie« wird unter anderem eine Siegel machte tiefgründige Ent- Zahlentheorie in Zahlkörpern, mit semikonvergente Entwicklung der deckungen über Automorphe Transzendenzuntersuchungen bei Zeta-Funktion gegeben, die zum Funktionen (»Siegel’sche Modul- Bessel- und allgemeinen E-Funkti- Beispiel später wichtig war, um zu funktionen«), über Quadratische onen und mit ganzzahligen Lösun- zeigen, dass die ersten 1,5 Milliar- Formen und in der Himmelsme- gen diophantischer Gleichungen. den Nullstellen der Zetafunktion chanik; dort arbeitete er beispiels- In der Primzahltheorie schätzte exakt auf der kritischen Geraden weise zum restringierten Dreikör- Siegel den Abstand einer (vielleicht liegen. Die genannte kurze viersei-

q Während seiner Einige wichtige Frankfurter Publikationen Frankfurter Zeit beschäftigte sich von C. L. Siegel Siegel auch mit den Publikationen 1. Additive Theorie der Zahlkörper, II (1923). Bernhard Rie- 2. Über einige Anwendungen diophantischer Approximationen, Abh. manns (1826 – Preuss. Akad. Wiss. 1929. 1866), insbeson- 3. Über Riemanns Nachlaß zur analytischen Zahlentheorie, Quellen dere mit dessen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Beiträgen zur ana- lytischen Zahlen- Physik (1932). theorie. 4. Über Gitterpunkte in convexen Körpern und ein damit zusam- menhängendes Extremalproblem, Acta Mathematica 65 (1935). 5. Über die analytische Theorie der quadratischen Formen, I – III, An- nals of 36 (1935), 37 (1936), 38 (1937). 6. Über die Classenzahl quadratischer Zahlkörper, Acta Arithmetica 1 (1936). 7. Analytische Theorie der quadratischen Formen, Comptes Rendus du Congrès international des Mathématiciens (Oslo) 1937.

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tige Arbeit über die Classenzahl wendungen diophantischer Appro- Im zweiten Teil, »Arthur Schoen - quadratischer Zahlkörper ist wich- ximationen« aus dem Jahre 1929 fl ies zum Gedächtnis«, wird ge- tig für Fragen nach der Verteilung kurz zu beschreiben. Im ersten Teil, zeigt, dass für jedes Polynom f(x,y) der Primzahlen. »Max Dehn gewidmet«, entwickelt mit Koeffi zienten aus einem festen Es ist hier nicht möglich, die vie- Siegel eine allgemeine Methode, algebraischen Zahlkörper (zum len weiteren zahlentheoretischen um zu zeigen, dass Werte der Zy- Beispiel mit ganzen Zahlen als Ko-

Ar beiten Siegels näher zu beschrei- linderfunktion J0(x) und ihrer Ab- effi zienten) die Gleichung f(x,y)=0 ben; zum Beispiel wären die techni- leitungen, allgemeiner die Werte nur endlich viele ganze Lösungen schen Anforderungen für eine Er - Siegel’scher E-Funktionen (zu die- x,y aus dem Koeffi zientenkörper läu terung der für Jahrzehnte weg- sen gehören die Exponentialfunk- besitzt, wenn das Geschlecht g der weisenden Arbeiten zu quadra- tion und Bessel-Funktionen) an al- Kurve f(x,y) = 0 größer als Null ist. tischen Formen zu anspruchsvoll. gebraischen Stellen x ≠ 0 Erst mehr als 50 Jahre später Allerdings soll versucht werden, transzendent (das heißt nicht alge- konnte Gerd Faltings einen ent- die äußerst wichtige Arbeit »An- braisch) sind. sprechenden Satz mit rationalen Lösungen zeigen (1983, er erhielt dafür 1986 die Fields-Medaille). Faltings’ Ergebnis impliziert, dass Classenzahl quadratischer Zahlkörper die Fermat-Gleichung x n + y n = z n höchstens endlich viele ganze Lö- sungen ≠ 0 besitzt, wenn der Expo- nent n größer als zwei ist. Der end- gültige Beweis der Fermat’schen Vermutung (die Fermat-Gleichung hat für n > 2 keine ganzzahligen Lö- sungen ≠ 0 ) gelang dann, um 1995, erst . Wir schließen mit einer ins Deutsche übertragenen Würdigung Siegels durch K. Chandrasekharan (im Vorwort zu Siegels Gesammel- ten Werken): »In seiner Kombina- tion von arithmetischen, analyti- schen und geometrischen Methoden und seinem untrügli- chen Gefühl für begriffl iches und strukturelles Denken – im Gegen- satz zum rein technischen - stellt Siegel einen typischen Vertreter moderner mathematischer Denk- weise dar. Zugleich klassisch und modern, hat sein Werk die Mathe- matik unserer Zeit tiefgründig be- einfl ußt.« ◆

Literatur Der Autor

Die zitierten Briefe stammen aus dem /5/ Rüssmann, Helmut, Das Werk Sie- Prof. Dr. Wolfgang Schwarz, 74, promovierte 1959 an der Uni- Archiv der Universität Frankfurt. gels in der Himmelsmechanik, Jahres- versität Erlangen als Schüler von Prof. Dr. Theodor Schnei- bericht DMV, 85, 174 – 200, 1983. der. 1964 habilitierte er sich in Freiburg i. Br., 1969 nahm /1/ Hartner, Willy, Aufbau und Geschick er einen Ruf an die Universität Frankfurt an, wo er bis zu der Naturwissenschaftlichen Fakultät /6/ Schneider, Theodor, Das Werk C. L. seiner Emeritierung im Jahr 2002 forschte und lehrte. Sein der Johann Wolfgang Goethe-Universi- Siegels in der Zahlentheorie, Jahresbe- Fachgebiet ist die Elementare und vor allem Analytische tät vor, während und nach dem richt DMV, 85, 147157, 1983. Zahlentheorie. Ebenso gehört die Geschichte der Mathema- 2. Weltkrieg. Frankfurt 1981. tik zu seinen Interessengebieten. 1986 und 1987 war /7/ Schneider, Theodor, Nachruf auf Carl Schwarz Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereini- /2/ Kaemmel, Thomas, Arthur Schoen- Ludwig Siegel, Jahrbuch der Akademie gung (DMV); 1993 – 1994 Sprecher der Konferenz der Ma- fl ies, Mathematiker und Kristallfor- d. Wiss. in Göttingen, 1982, 75 – 84. thematischen Fachbereiche. Er war Mit-Organisator einer scher, Projekte-Verlag 188, Halle 2006. Reihe von Tagungen über Elementare und Analytische Zah- /8/ Siegel, Carl Ludwig, Gesammelte lentheorie im Mathematischen Forschungsinstitut Oberwol- /3/ Klingen, Helmut, Das Werk Carl Abhandlungen, herausgegeben von K. fach; 2004 organisierte er eine Tagung zum gleichen Fach- Ludwig Siegels in der Funktionentheo- Chandrasekharan & Hans Maass, 4 gebiet in Mainz. Wolfgang Schwarz ist Autor mehrerer rie, Jahresbericht DMV, 85, 158 – 173, Bände, Springer-Verlag 1966, 1979. Fachbücher über Primzahlen, Zahlentheorie, Siebmethoden 1983. und Arithmetical Functions (gemeinsam mit J. Spilker). /9/ Yandell, Benjamin H., The Honors /4/ Koecher, Max, Herausgeber, Hel Class, Hilbert’s Problems and Their Sol- [email protected] Braun, Eine Frau und die Mathematik, vers, A. K. Peters, Natick (MA), 2002, 1933 – 1940, Springer-Verlag 1990. 486 pp.

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