Der Mathematiker Carl Ludwig Siegel in Frankfurt

Der Mathematiker Carl Ludwig Siegel in Frankfurt

Wissenschaftsgeschichte Einer »den irdischen Angelegenheiten möglichst fernliegenden Wissenschaft« gewidmet Der Mathematiker Carl Ludwig Siegel in Frankfurt arl Ludwig Siegel war einer der 1 Carl Ludwig Cbedeutendsten Mathematiker Siegel wurde der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- 1922 im Alter von derts. Er forschte und lehrte 15 25 Jahren ordent- licher Professor an Jahre in Frankfurt, von 1922 bis der Universität 1937. In dieser Zeit entstanden sei- Frankfurt. Anfang ne wichtigsten zahlentheoretischen 1938 wechselte Arbeiten. Danach in Göttingen, ab er an die Univer- 1940 in Princeton und ab 1951 sität Göttingen. wieder in Göttingen, erbrachte Sie- Wegen seiner Ab- gel wichtige Beiträge zur Theorie lehnung der natio- nalsozialistischen der Funktionen mehrerer komple- Politik emigrierte xer Variablen und zur Himmelsme- er von dort aus chanik. Außerdem dehnte er seine 1940 in die verei- Methoden erheblich aus, um addi- nigten Staaten. tive Fragen in algebraischen Zahl- körpern (zum Beispiel das Waring- Problem) zu behandeln. Die Frankfurter Jahre fanden ein Ende, als Siegel zum 1. Januar zehnte vergangen, die Schäden folgendem Zufall. Der Vertreter der 2 Willy Hartner, 1938 nach Göttingen wechselte. sind zum Teil repariert, soweit sie Astronomie an der Universität hat- von 1940 bis Die nationalsozialistische Politik, eben repariert werden konnten, te angekündigt, er würde sein Kol- 1970 Professor die seine jüdischstämmigen Kolle- und insbesondere ist die Mathema- leg erst 14 Tage nach Semesterbe- für Geschichte der Naturwissenschaf- gen und Freunde Max Dehn, Paul tik in Frankfurt wieder in guten ginn anfangen, was übrigens in der ten an der Univer- Epstein, Ernst Hellinger und Otto Händen. Wollen wir hoffen, daß damaligen Zeit weniger als heutzu- sität Frankfurt, Szász aus dem Dienst gedrängt hat- sich niemals wiederholen möge, tage üblich war. Zu den Wochen- nahm nach der te, war Siegel zutiefst zuwider.1 was einst irregeleitete Fanatiker stunden Mittwoch und Sonnabend »Reichskristall- Anlässlich der 50-Jahr-Feier der hier rechtlich denkenden Men- 9 bis 11 Uhr war aber auch eine nacht« den jüdi- Universität (1964) hielt Siegel ei- schen angetan haben!«/8/ 2 Vorlesung von Frobenius über Zah- schen Kollegen nen Vortrag zur Geschichte des lentheorie angezeigt. Da ich nicht Max Dehn und dessen Frau Anto- Mathematischen Seminars der »...so besuchte ich aus purer die geringste Ahnung davon hatte, nie vorübergehend /8/ Universität Frankfurt ( , III Neugier dieses Kolleg« was Zahlentheorie sein könnte, so in seinem Haus in 462 – 474). Willy Hartner be- besuchte ich aus purer Neugier Bad Homburg auf. schreibt diesen Bericht: »Dem äu- Carl Ludwig Siegel wurde am dieses Kolleg, und das entschied Wenige Wochen ßeren Anschein nach kühl distan- 31. Dezember 1896 in Berlin gebo- über meine wissenschaftliche Rich- später, im Januar ziert, jedoch in Wahrheit innerlich ren. Zum Wintersemester 1915/16 tung ...« 1939, emigrierten stärkstens engagiert, schildert er nahm er das Studium der Astrono- Auf Antrag von Georg Frobeni- die Dehns. [Siegel] seine Frankfurter Jahre, mie in Berlin auf. us (1849 – 1917, in Berlin 1892 – von der Zeit seiner Berufung als »Als ich im Herbst 1915 an der 1916) erhielt Siegel zum Ende sei- 25-Jähriger im Jahr 1922 bis zum Berliner Universität immatrikuliert nes ersten Semesters den trostlosen beschämenden Ende in wurde, war gerade ein Krieg in Eisensteinpreis, der jährlich einem den 30er Jahren.«/1/ Siegel schloss vollem Gange. Obwohl ich die po- begabten Studenten der Mathema- seine Rede mit den bewegenden litischen Ereignisse nicht durch- tik verliehen wurde. Zur Ausstrah- Worten: schaute, so faßte ich in instinktiver lung von Frobenius schrieb Siegel: »Zusammenfassend läßt sich sa- Abneigung gegen das gewalttätige »..., daß ich nicht gut erklären gen, daß die Zerstörung des Frank- Treiben der Menschen den Vorsatz, kann, wodurch die starke Wirkung furter Mathematischen Seminars mein Studium einer den irdischen der Vorlesungen von Frobenius durch die Herrschaft Hitlers für alle Angelegenheiten möglichst fernlie- hervorgerufen wurde. Nach mei- davon betroffenen Dozenten die genden Wissenschaft zu widmen, ner Schilderung der Art seines Beendigung der besten und frucht- als welche mir damals die Astrono- Auftretens hätte die Wirkung eher barsten Zeit ihres Lebens bedeutet mie erschien. Daß ich trotzdem zur abschreckend sein können. Ohne hat. Inzwischen sind drei Jahr- Zahlentheorie kam, beruhte auf daß es mir klar wurde, beeinfl ußte Forschung Frankfurt 2/2008 79 1122 UUNINI 22008_02008_02 TeilTeil 0303 PSG.inddPSG.indd 7979 226.06.20086.06.2008 12:28:2312:28:23 UhrUhr Wissenschaftsgeschichte 3 Edmund Landau erkannte den Wert einer zunächst sehr kurz gefassten Arbeit Siegels aus dem drit- ten Semester. Unter seiner Anleitung ar- beitete Siegel seine Gedanken aus und wurde in 1920 in Göttingen promoviert. 4 Ludwig Siegel bei seiner Doktorzeremonie in Göttingen: Er sitzt im Bollerwagen in der Bildmitte. Hin- tere Reihe: Walfi sz (mit Hut), Rogosinski, H. Kneser, Bessel-Hagen (mit Hut), Windau, Krull, Emersleben. In der vorderen Reihe: Nefs, Fräulein Wolff, Siegel, Grandjot, Kapferer, Boskovic. Die Identifi zierung der Dargestellten ermöglichte S. J. Patterson, der in Martin Knesers Nachlass eine entsprechende Notiz fand. mich wahrscheinlich die gesamte mich ein neuartiges und befreien- schäftigte sich Siegel, angeregt schöpferische Persönlichkeit des des Erlebnis.« durch eine Vorlesung von Issai großen Gelehrten, die eben auch Dem innerlich abgelehnten Schur, im dritten Studiensemester durch die Art seines Vortrags in ge- Wehrdienst konnte sich Siegel mit dem Problem der »schlechten wisser Weise zur Geltung kam. weitgehend entziehen, dank der Approximierbarkeit« algebraischer Nach bedrückenden Schuljahren Unterstützung durch den Leiter ei- Zahlen durch rationale; Siegel ver- unter mittelmäßigen oder sogar ner psychiatrischen Klinik. Nach schärfte einen Satz des norwegi- bösartigen Lehrern war dies für dem Wechsel zur Mathematik be- schen Mathematikers Axel Thue erheblich [siehe »Approximation algebraischer Zahlen«]. Issai Schur konnte allerdings Diophantische Approximation algebraischer Zahlen mit Siegels extrem kurz gefasster Arbeit nichts anfangen. Edmund Landau (1877 – 1938), der von 1909 bis 1934 in Göttingen wirkte, zeigte sich interessiert und leitete Siegel zu einer ausführlicheren Darstellung an. Die Promotion er- folgte am 9. Juni 1920. »ein Mathematiker von genialer Schaffenskraft « Während des Wintersemesters 1920/21 war Siegel Lehrbeauftrag- ter in Hamburg, dann Assistent bei Richard Courant, Göttingen. Die Habilitation erfolgte am 10. Dezem- ber 1921 über die additive Theorie der Zahlkörper; darin entwickelte er eine technisch aufwendige Aus- dehnung der »Kreis-Methode« von Godefrey H. Hardy und John E. Lit- tlewood auf total-reelle Zahlkör- per. Am 1. August 1922 wurde C. L. 80 Forschung Frankfurt 2/2008 1122 UUNINI 22008_02008_02 TeilTeil 0303 PSG.inddPSG.indd 8080 226.06.20086.06.2008 12:28:2312:28:23 UhrUhr Wissenschaftsgeschichte Siegel ordentlicher Professor in (USA). Auf einem Brief vom 9. Ja- und Führereigenschaften voraus- Frankfurt als Nachfolger von Ar- nuar 1935, der im Frankfurter Uni- setzende Aufgaben zufallen […], thur Schoenfl ies. versitätsarchiv aufbewahrt wird, fehlt dem weiblichen Dozenten Die Naturwissenschaftliche Fa- fi ndet sich ein handschriftlicher künftig die Voraussetzung für eine kultät begründete ihren Beru- Entwurf eines Gutachtens über ersprießliche Tätigkeit«. fungsvorschlag: Siegel durch den Rektor Walter Die Fakultät sah sich nicht in »Wenn die Fakultät in erster Li- Platzhoff. der Lage, das Gesuch von Prof. Sie- nie einen jungen, soeben habili- »Prof. Siegel ist, wie ich allge- gel zu befürworten. »Die pädagogi- tierten Mann vorschlägt, ist sie der mein höre, ein bedeutender Ma- sche Eignung [von Dr. Weber] wird festen Ueberzeugung, daß seine thematiker, z. Zt. in Amerika zu gerade von den Studenten unserer Persönlichkeit und bisherigen Leis- Gastvorlesungen. Auch als Lehrer Universität, darunter dem [NS-] tungen einen so ungewöhnlichen ist er sehr geschätzt. Nationalsozia- Fachschaftsleiter, gerühmt. Der Schritt vollauf rechtfertigen. Nach listisch ist er sicher nicht, steht sehr Vertreter der [NS-]Dozentenschaft einhelligem Urteil aller Sachver- gut mit seinen jüdischen Kollegen. hat erklärt, daß für ihn nur Dr. We- ständigen ist Siegel einer der selte- Charakterlich kaum zu beurteilen, ber als Vertreter in Frage käme.« nen Mathematiker von genialer lebt ganz zurückgezogen, kommt Nebenbei: Werner Weber Schaffenskraft. Aus relativ kurzer zu keiner Veranstaltung, ist Eigen- (1906 – 1975), ab 1940 außerplan- Zeit liegen Arbeiten von ihm vor, brödler und Sonderling.« mäßiger Professor an der Universi- die in der allerersten Reihe mathe- Die Vertretung in Frankfurt er- tät Berlin, wurde 1945 entlassen. matischer Produktion stehen. Sie folgte durch den Dozenten behandeln tiefste arithmetische Dr. Werner Weber aus Göttingen, Probleme – es sei nur die Approxi- der 1933 Anführer des NS-Boykot- 5 Arthur Schoen- mierbarkeit algebraischer Zahlen tes gegen seinen Lehrer E. Landau fl ies war erster Or- und die additive Zahlentheorie in gewesen war. Nach seiner Rück- dinarius für Ma- beliebigen Zahlkörpern hervorge- kehr wehrte sich Siegel massiv, thematik an der Universität Frank- hoben – und zeigen nicht nur eine aber erfolglos gegen die weitere furt. Carl Ludwig vollendete Beherrschung der vor- Beauftragung von Dr. Weber. In ei- Siegel wurde sein handenen zahlentheoretischen nem

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