Beilage Jazzfest Berlin 2016
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Berliner Festspiele “Sometimes it is important (in society) to have out- spokenness, upset, anarchy, debate … agreeing to disagree is also agreement, in a sense. And so it is also in improvised contexts.” Matana Roberts 2 Vorwort Jazz ist vor allem die Kunst der Konversation, des Austauschs neuer Ideen zwischen Einzelnen, Generationen, Nationen, Geschlechtern. In seiner grundlegendsten Form kann auch nur ein/e Musiker*in seine oder ihre eigene Weltsicht in einem inneren Dialog erforschen. Jazz kann der Dialog zwischen Menschen sein, oder die formalere Zwiesprache zwischen Improvisator*in und Komponist*in. Konversation ist eines der Themen des diesjährigen Jazzfest Berlin, das beginnen wird mit einer musikalischen Hommage der amerikanischen Saxofonistin und Klangkünst- lerin Matana Roberts an die verstorbene deutsche Choreografin Pina Bausch in der Rekonstruktion des berühmten Lichtburg-Probenraums im Rahmen der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Mit dieser Veranstaltung eröffnet das Festival am Dienstag, dem 1. November. 24 Stunden später folgt ein Konzert in einer weiteren neuen Spiel- stätte, der Salle Boris Vian des Institut Français, wo der Sänger Michael Schiefel und das Wood & Steel Trio eine Neuinterpretation der Lieder präsentieren, die Hanns Eisler im Exil in Hollywood komponierte. Einige Konversationen sind in ihrer Konstellation eher intim. Auf der Hauptbühne des Matana Roberts – Die multimediale Hauses der Berliner Festspiele begeben sich mit dem Saxofonisten Joshua Redman Collage in Musik und Tanztheater und dem Pianisten Brad Mehldau zwei alte Freunde in einen Dialog; ein Dreiergespräch Franziska Buhre 4 verbindet den Schlagzeuger Jack DeJohnette mit zwei Musikern, die er seit ihrer Kind- heit kennt: dem Saxofonisten Ravi Coltrane und dem Bassisten Matthew Garrison. Im Blow your horn, man! A-Trane präsentiert eine Serie unter dem Titel „Brooklyn-Berlin Dialogues” drei sich Über die fragwürdige überschneidende Duos, die wie ein Staffellauf strukturiert sind: Mary Halvorson und Männlichkeitsästhetik des Jazz Ingrid Laubrock am ersten Abend, Laubrock und Aki Takase am zweiten, und Takase Wolfram Knauer 8 und Charlotte Greve am dritten. Wadada Leo Smith und Alexander Hawkins spielen zum ersten Mal in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Duette für Trompete und Ein schwier’ges Handwerk: Das Hoffen. Orgel (und Smith spielt mit seinem Great Lakes Quartet auf der Hauptbühne). Über Hanns Eislers Am anderen Ende der Skala präsentiert die hr-Bigband die Uraufführung einer „Hollywooder Liederbuch” Zu sammenarbeit mit dem schweizerischen Pianisten Nik Bärtsch, während das Marc Muellbauer 11 Globe Unity Orchestra – unter Leitung von Alexander von Schlippenbach und Mitwirkung zahlreicher Größen des europäischen Free Jazz – das fünfzigste Jubiläum seines Jazz finden Sie in New York. Stimmt. Debütkonzerts auf einer Bühne dieses Festivals feiert. Neue Ansätze der Verbindung Aber vergessen Sie nicht Brooklyn von Komposition und Improvisation erforschen die norwegische Saxofonistin Tina Edwards 14 Mette Henriette, die französische Pianistin Eve Risser und der New Yorker Saxofonist Steve Lehman. Vielfalt allerorten, Julia Holter integriert Berliner Musiker*innen in ihr Ensemble und bringt die Welt der Einfalt nur bei manchen. Singer-Songwriter auf die Bühne des Jazzfests. Und der Pianist Achim Kaufmann stellt Die Szene für Jazz und für ein zweites Konzert im Institut Français ein neues Oktett zusammen. improvisierte Musik in Berlin Die Seitenbühne gehört zu später Stunde den jüngeren Performer*innen – der Franziska Buhre 18 finnischen Band Oddarrang, der britisch-bahrainischen Trompeterin Yazz Ahmed oder der schweizerischen Sängerin Lucia Cadotsch. Der Reichtum der aktuellen deutschen Globe Unity @ 50 Jazz-Szene wird durch das Debüt einer Zusammenarbeit zwischen dem Quartett der Brian Morton 20 Pianistin Julia Hülsmann und der jungen Saxofonistin Anna-Lena Schnabel aus Hamburg demonstriert. Die amerikanische Pianistin Myra Melford präsentiert Musik, W. Eugene Smith und der Jazz die durch den uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano inspiriert wurde, während Val Wilmer 24 die polnische Saxofonistin Angelika Niescier und der deutsche Pianist Florian Weber gemeinsam ein Quintett leiten, in dem unter anderem der Trompeter Ralph Alessi spielt. Aus einer Quelle: Stimmen der Unschuld und Erfahrung verschmelzen zu Konversationen, die dem Komposition, Interpretation und Geheimnis der Improvisation auf der Spur sind. Auf den verschiedenen Bühnen des Improvisation als kreativer Kreislauf Festi vals werden sich Freunde und Fremde treffen und Musik erschaffen, die in dieser Nik Bärtsch 28 Weise nie wieder gespielt werden kann und die das Publikum niemals vergessen wird. Richard Williams Thomas Oberender Künstlerischer Leiter Intendant Berliner Jazzfest Berlin Festspiele Jazzfest Berlin Die multimediale Collage in Musik und Tanztheater Von Franziska Buhre Matana Roberts überschreitet die Grenzen von Jazz und gewohnten Konzertereignissen. Wie einst Pina Bausch, die improvisatorische Verfahren ins Tanztheater einbrachte. ird eine anerkannte Persönlichkeit „Mein Sound kommt aus dem Jazz, aber meine beim Vornamen genannt, liegen Identität besteht aus vielen verschiedenen ameri- Anmaßung und Verehrung nahe kanischen Musiktraditionen”, erzählt Roberts im beieinander. Oder ein Mensch hat Gespräch. „Der Kern meines Tuns ist die Im Wmit seinem Wirken eine solche Strahlkraft ent- provisation, und die existiert in vielen verschie- faltet, dass sein Vorname zum Sinnbild für ein denen traditionellen Musikrichtungen Amerikas. einzigartiges Œuvre wird – wie bei dem Film von Ich bin von Vätern, Onkeln und Brüdern des Jazz Wim Wenders über die Choreografin Pina Bausch aufgenommen worden, aber ich müsste einen Teil von 2011, der „Pina” betitelt ist. Was in Bezug auf von mir verleugnen, würde ich mich in sein das Tanztheater unproblematisch erscheint, ist Zentrum begeben.” Roberts legt großen Wert auf im Hinblick auf die Rezeption und Vermarktung die volle Namensnennung musikalischer Weg- afroamerikanischer Musikformen mit kolonialen bereiter*innen. „Ich kann es nicht ausstehen, Praktiken von Besitz und Entrechtung durch wenn Menschen ältere Musiker*innen nur beim weiße männliche Akteure verbunden. Das Medi um Vornamen nennen,” sagt sie mit Nachdruck. Den Tonträger und die rassistische Vermarktung von Posaunisten, Komponisten und Chronisten der „Race Records” in den Vereinigten Staaten der Association for the Advancement of Creative 1920er bis in die 40er Jahre verführten solvente Musicians (AACM) in Chicago, George Lewis, weiße Käufer zur kolonialen Fantasie über die nennt Matana Roberts daher respektvoll Mr. Lewis. Domestikation afroamerikanischer Künst ler*innen Er prägte den Begriff Sound Experimentalist für im heimischen Plattenregal. Die jahrzehntelan- wagemutige und nicht in Genregrenzen agierende ge Praxis, afroamerikanischen Künst ler*innen Musiker*innen. Roberts konnte sich damit identi- die Urheberrechte an ihrer Musik mangels Na- fizieren, beschreibt ihre Musik inzwischen aber so: mensnennung in Kompositionen und bei der „Ich entwerfe Klänge, platziere sie in eine Struktur, Be teiligung an Aufnahmen zu verweigern, spricht ich skulpturiere sie. Klang ist für mich mit Ge- eine eigene Sprache (neo-)kolonialer Praktiken fühlen verbunden, mit Farben und damit, wie ich in der Musikindustrie. Vor diesem Hintergrund Dinge zusammensetze. Meine Solo-Auftritte sind verortet sich die Saxofonistin und Komponistin Ein-Frau-Klangcollagen. Ich sehe mich als Klang- Matana Roberts zwischen der Würdigung ihrer abenteurerin an.” Matana Roberts spielt Alt- musikalischen Vorfahr*innen und der Entschei- saxofon, sie singt und rezitiert eigene und fremde dung, aus der mitunter einengenden Jazzwelt Texte, sie nutzt Effektgeräte und Sampler, herauszutreten. verfremdet und loopt ihre Sounds und kreiert 4 Videoprojektionen, mit denen sie live interagiert. Interventionen mit großformatigen visuellen Seit einem Jahr tourt sie als Solo-Performerin mit Scores, Videos und Konzerten fort, die sie 2015 dem dritten Kapitel ihres Projekts „Coin Coin”, das während einer künstlerischen Residenz im neuen nach einer historisch verbürgten befreiten Sklavin, Gebäude des Whitney Museum of American Art Geschäftsfrau und Landbesitzerin, die an der begonnen hatte. Nicht nur ihre Arbeiten führen vor Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lebte, benannt Augen, wie sehr es an der Zeit ist, aus dem Jazz ist. Mit dem Projekt begann Roberts vor über zehn kommende Musiker*innen auch als multimediale Jahren, es ist auf zwölf Kapitel angelegt, die Hälfte Künstler*innen wahrzunehmen. hat sie mit Musiker*innen aus New York, Montréal und in ihrer Heimatstadt Chicago aufgeführt. icher sind die Arbeiten von bildenden Kein Plattenlabel wollte sich einlassen auf diese Künstler*innen wie Archibald Motley Langzeit-Erzählung über das US-amerikanische (1891 – 1981), Romare Bearden (1911 – 1988) Trauma der Sklaverei, in der Roberts Geschichten Jean-Michel Basquiat (1960 – 1988) oder aus ihrer Familie mit Ereignissen der amerikani- SRose Piper (1917 – 2005) ohne die Inspiration aus schen Geschichte, kollektive historische Erfahrun- Jazz, Blues und Folk Music nicht zu denken. Doch gen von Afroamerikaner*innen mit einmaligen das Bewusstsein für ähnliche ästhetische und un wiederholbaren Improvisationen verwebt. An liegen eröffnet inzwischen mehr Spielräume Das kanadische Independent-Label Constellation für vielfältige Kollaborationen. Die experimentelle Records in Montréal, das konsequent experi - Künstlerin