Karin Wallner

Erfassung, Selektion, „Gnadentod“ Die NS-Euthanasie aus Sicht der Autoritarismusforschung

MASTERARBEIT

zur Erlangung des akademischen

Grades Master of Science

Studium: Psychologie Alpen-Adria-Universität

Begutachter: Univ. Prof. Dr. Axel Krefting Institut: Fakultät für Kulturwissenschaften

Mai, 2015

Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende wissenschaftliche Arbeit selbstständig angefertigt und die mit ihr unmittelbar verbundenen Tätigkeiten selbst erbracht habe. Ich erkläre weiters, dass ich keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle aus gedruckten, ungedruckten Quellen oder dem Internet im Wortlaut oder im wesentlichen Inhalt übernommenen Formulierungen und Konzepte sind gemäß den Regeln für wissenschaftliche Arbeiten zitiert und durch Fußnoten bzw. durch andere genaue Quellenangaben gekennzeichnet.

Die während des Arbeitsvorganges gewährte Unterstützung einschließlich signifikanter Betreuungshinweise ist vollständig angegeben.

Die wissenschaftliche Arbeit ist noch keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt worden. Diese Arbeit wurde in gedruckter und elektronischer Form abgegeben. Ich bestätige, dass der Inhalt der digitalen Version vollständig mit dem der gedruckten Version übereinstimmt.

Ich bin mir bewusst, dass eine falsche Erklärung rechtliche Folgen haben wird.

Klagenfurt, am 07.05.2015

Inhalt

1. EINLEITUNG ...... 4 1.2 ZENTRALE FORSCHUNGSFRAGE ...... 7 2 EUTHANASIE ...... 9 2.1 LEBENSUNWERTES LEBEN ...... 9 2.2 HISTORISCHER EXKURS ...... 13 2.2.1 Beginn der Euthanasie ...... 16 2.2.2 T4 Aktion und die Einrichtungen ...... 17 2.2.3 Der Meldebogen ...... 20 2.2.4 Die Rolle der Ärzte und ihre Bedeutung ...... 24 3 LANDESKRANKENHAUS KLAGENFURT ...... 30 3.1 HISTORISCHER ABRISS ...... 30 3.2 EUTHANASIE AM LANDESKRANKENHAUS ...... 34 4 EUTHANASIE IN HARTHEIM ...... 40 4.1 DR. GEORG RENNO ...... 43 5 THEORETISCHE GRUNDLAGEN ...... 46 5.1 AUTORITARISMUSFORSCHUNG ...... 46 5.1.1 The Authoritarian Personality (Theodor W. Adorno et al.) ...... 46 5.1.2 Erich Fromm und die Theorie des autoritären Charakters ...... 52 5.1.3 Grundlegende Autoritarismus-Studien nach 1950...... 56 5.1.4 Friedrich Hackers Zehn Kategorien des Faschismus-Syndroms ...... 57 5.2 MASSEN- ODER SOZIALPSYCHOLOGIE ...... 61 5.3 EXKURS - SOZIALE DOMINANZ (SOCIAL DOMINANCE THEORY) ...... 63 6 EMPIRIE ...... 66 6.1 METHODIK/VORGEHENSWEISE ...... 66 6.1.1 Qualitative Inhaltsanalyse ...... 66 6.2 DATENGRUNDLAGE / MATERIALIEN ...... 71 6.3 ERGEBNIS ...... 72 6.4 INHALTSANALYSE DR. FRANZ NIEDERMOSER ...... 86 6.5 KRIMINALPOLIZEILICHER AKT / GERICHTSPROTOKOLL ZU NIEDERMOSER-AKT ...... 88 6.6 ERGEBNIS DER INHALTSANALYSE DR. FRANZ NIEDERMOSER ...... 97 6.7 VERGLEICH RENNO / NIEDERMOSER ...... 104 7 SCHLUSSWORT UND RESÜMEE ...... 109 LITERATURVERZEICHNIS ...... 111 QUELLEN ...... 115 ABBILDUNGSVERZEICHNIS ...... 117 ANHANG ...... 118 KATEGORIENBILDUNG DR. RENNO ...... 118 KATEGORIENBILDUNG DR. NIEDERMOSER ...... 122

„Das Dritte ist vorbei, und man wird daraus Bücher machen. Miserable, sensationelle und verlogene, hoffentlich auch ein paar aufrichtige und nütz- liche Bücher. Eine psychologische Untersuchung, die sich mit dem Verhalten des Durchschnittsbürgers beschäftigt, wird nicht fehlen dürfen. Und sie könn- te etwa >Die Veränderbarkeit des Menschen unter der Diktatur< heißen. Ohne eine solche Analyse stünden die fremden Rächer, Forscher, Missionare und Gruselgäste ohne Leitfaden im Labyrinth. Sie wüßten nicht aus noch ein. Und auch wir, die im Labyrinth herumtappten, als es noch kein Museum war, son- dern als der Minotaurus und seine Opfer noch lebten, auch wir werden das Buch nötig haben“ (Kästner, 1998, S. 430).

1. Einleitung

Seit dem offiziellen Ende der nationalsozialistisch-faschistoiden Herrschaft(en) in Mitteleuropa sind mittlerweile mehr als 70 Jahre vergangen, und dennoch erregen die untrennbar mit NS-Gedankengut verbundenen Euthanasiediskussionen immer noch heftigste Emotionen. Zu diesen Verbrechen existiert bereits unzählige Literatur an Forschungsergebnissen, Statistiken und (auto)biographischem Material. Dennoch will diese Masterarbeit einen erneuten Versuch wagen, die einstigen medizinischen Gräueltaten aufzuzeigen und darzulegen, wie sich ein (per se) unmenschliches NS-Konzept nicht nur rechtfertigen, sondern sogar idealisieren ließ. Unverständlich und erschreckend erschienen nicht nur die Morde, sondern auch das Verhalten der Täter während der sogenannten „NS-Euthanasie-Prozesse“. Die Vernichtung von Menschen wurde als Erlösung und Gnadentod präsentiert. Die Massenverbrechen an psychisch Kranken und behinderten Menschen wurden als Schutzmaßnahme für das Gemeinvolk angesehen (Klee, 2010). Ärzte und Pflegepersonal befürworteten großteils die Euthanasie-Maßnahmen, und Tötungen wurden von Ärzten und teils auch Krankenschwestern und PflegerInnen durchgeführt. Dennoch wurde ein Gesetz dafür nie erlassen beziehungsweise ist das genaue Datum, an dem Hitler die Ermächtigung zur Durchführung für die Euthanasie gab, nicht bekannt. Aufgrund einer Aussage Karl Brandts im Nürnbergprozess konnte jedoch nachgewiesen werden, dass der sogenannte „Führer-Erlass“ mit Bedacht von Hitler auf den 1. September 1939 rückdatiert wurde (Klee, 2010).

Ziel dieser Arbeit war es daher mitunter, erneut daran zu erinnern, dass die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ 1 auch im heutigen Österreich stattfand und der „Tötungsbetrieb“ in den betreffenden Kranken- und Pflegeanstalten „bestens“ funktionierte.

1 Diese Bezeichnung geht auf den Juristen Binding K. und den Psychiater Hoche A. (1920) zurück. 4

Die lokalen Schwerpunkte dieser Arbeit werden anhand der damaligen Landes-Irren- und Landes-Siechenanstalt Klagenfurt sowie der ehemaligen Tötungsanstalt Hartheim2 bei dokumentiert werden. Den Hauptfokus legte ich auf die leitenden Verantwortlichen, Dr. Franz Niedermoser, der in Klagenfurt wirkte, und Dr. Georg Renno (Hartheim). Aufgrund des dürftigen Datenmaterials, welches Dr. Niedermoser betrifft, wurden – um ein valides Ergebnis zu erhalten – Fakten vom und über das allgemeine Pflegepersonal in Klagenfurt während der Kriegsjahre miteinbezogen. „Die fast vollständige Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen ist ein weltweit einmaliges Verbrechen“ (Klee 2010, S. 17). Das vom Regime durchdachte Programm wurde vom medizinischen Personal nicht nur großteils billigend in Kauf genommen, sondern aktiv, oft scheinbar in voreilendem Gehorsam, in die alltägliche Praxis des Umgangs mit lebensunwertem Leben3 integriert, ohne dass ein expliziter Befehlsnotstand zu herrschen schien. Lebensunwertes Leben war nicht brauchbar, wer nicht brauchbar war, musste damit rechnen, ermordet zu werden. Nazi-Ideologien wurden unter anderem auch von Kirchenvertretern befürwortet, von Medizinern angeordnet und vom damaligen Pflegepersonal mit radikalsten Methoden ausgeführt (Klee, 2010).

„Ich schwöre bei Apollon dem Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, indem ich sie zu Zeugen rufe, daß ich nach meinem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Vereinbarung erfüllen werde“.... (Ein Auszug aus dem Eid des Hippokrates). Der hippokratische Eid wurde zwischenf 1939 und 1945 in aller Regel gebrochen. Die Vorstellung, dass augenscheinlich ein ganzer Berufsstand kläglich versagte, ist noch heute kaum nachvollziehbar und spielt vor allem vorm psychologischen Hintergrund dieser Masterarbeit eine wichtige Rolle.

Am Beginn dieser Masterarbeit wird ein kurzer Überblick über die zentrale Fragestellung gegeben, um die einleitenden Kapitel schließlich mit einer allgemeinen Aufarbeitung zur Begriffsgeschichte der „Euthanasie“ zu schließen.

2 Es handelt sich dabei um das Renaissanceschloss Hartheim, das bis 1940 von den Barmherzigen Schwestern als „Anstalt für Schwach- und Blödsinnige, Idioten und Cretinöse“ geführt wurde (Dokumentationsstelle des oö. Landesarchivs, 2013). 3 Laut Binding (Binding & Hoche,1920) hatten nur lebenswerte Menschen „das unbeschränkte Rechtsgut Leben, welches den nützlichen Gliedern der Gesellschaft gehöre, wie den Arbeitern und Soldaten“ (S. XXVI). Geisteskranke, Menschen mit einer unheilbaren Krankheit – also solche, die ihr Dasein auf Kosten der Volksgemeinschaft fristeten; deren Leben als unnütz anzusehen sei, führten ein zweckloses Leben, galten als die Lebensunwerten und für die Gesellschaft nicht tragbar (Binding & Hoche, 1920). 5

In den weiteren Abschnitten dieser Masterarbeit werden insebsondere die damalige Euthanasie in Klagenfurt (Kapitel 3) sowie die Euthanasie in Hartheim (Kapitel 4) beschrieben. In diesen beiden Kapiteln werden die beiden Protagonisten, Dr. Franz Niedermoser sowie Dr. Georg Renno beziehungsweise ihre Lebensläufe, dargestellt.

In Kapitel 5 geht es um die theoretischen Grundlagen; der wesentliche Aspekt liegt hier auf der Autoritarismusforschung. Dabei wird die Studie der Authoritarian Personality von Theodor W. Adorno et al. beschrieben. Weitere Autoritarismus-Forscher wie Robert Altemeyer oder Detlef Österreich werden in diesem Abschnitt ebenfalls kurz besprochen und in Beziehung zur Forschungsfrage gesetzt. Erich Fromms Interpretationen definierten den autoritären Charakter als einen prinzipiell sadomasochistiscn und ergänzten das Bild – wie sich herausstellte – des auffallend typischen Charakters, der dem Faschismus zugeordnet wird. Des Weiteren wird die Massen- oder Sozialpsychologie (laut Mitscherlich / Freud) kurz dargestellt, um mit einem Abriss zur Autoritarismusforschung zu schließen.

Im sechsten Kapitel folgt die Darstellung der Methodik meiner Masterarbeit. Hier soll die methodische Vorgehensweise erklärt werden. Es wird angenommen, dass es sich bei den – in weiterer Folge – beschriebenen Euthanasietätern um autoritäre Charaktere handelte, also um solche Personen, die die Merkmale des potentiell faschistischen Charakters aufwiesen. Da es wichtig ist, als Forscher einem Thema unvoreingenommen und mit einer gewissen „wissenschaftlichen Naivität“ zu begegnen, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, gilt es trotz der offensichtlich historischen Tatsachen, diese Annahmen empirisch zu überprüfen.

Daher war es von bedeutendem Interesse festzustellen, wieviele der Variablen der F- Skala von Adorno überhaupt auf die beiden „Forschungssubjekte“ zutreffen. Der Autor Walter Kohl führte mit Dr. Georg Renno in seinen letzten Lebenstagen ein Interview; auf dieser Grundlage wurde eine Inhaltsanalyse durchgeführt. Hier habe ich mich entschlossen, mittels der Kategorienbildung deduktiv vorzugehen. Die Kategorien selbst wurden aus der Faschismus-Skala (Adorno et al., 1950) gebildet. Im selben Kapitel gibt die Inhaltsanalyse über Dr. Niedermosers Persönlichkeitsmerkmale Aufschluss. Franz Niedermoser, der am LKH Klagenfurt tätig war, wurde nach Kriegsende des Mordes schuldig gesprochen. Als Datenmaterial hiefür dienten der kriminalpolizeiliche Akt aus dem Jahr 1945 sowie der Gerichtsakt aus der 6

Hauptverhandlung des Senates aus dem Jahr 1946. Abschließend wurden aufgrund dieser Ergebnisse die beiden Protagonisten beziehungsweise deren Charaktere miteinander verglichen.

Im letzten Kapitel, Resümee und Schlusswort, wurden die Ergebnisse zusammengefasst und nochmals kurz interpretiert.

1.2 Zentrale Forschungsfrage

Inwieweit konnten bei den Tätern die Merkmale des autoritären beziehungsweise des potentiell faschistischen Charakters konstatiert werden? Wie bereits angedeutet, sollte bei dieser Masterarbeit herausgefunden werden, ob es sich bei den zu verantwortenden Tätern um autoritäre Persönlichkeiten beziehungsweise um solche mit potientiell faschistischem Charakter handelte. Der Nationalsozialismus war ein augenscheinlicher Nährboden, um autoritäre Persönlichkeiten zu stärken. In diesem Zusammenhang folgte diese Arbeit der Autoritarismus-Forschung. Hier stützte ich mich im Wesentlichen auf die Theorie der Authoritarian Personality von Adorno. Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass es sich bei den – in weiterer Folge – beschriebenen Euthanasietätern um autoritäre Charaktere handelte, also um solche mit Merkmalen des potentiell faschistischen Charakters. Um die Charakterstrukturen und den Grad der faschistischen Ausbildung der beiden „Hauptuntersuchungspersonen“ dieser Arbeit besser identifizieren zu können, wurde die von Adorno geprägte F-Skala als Forschungsinstrument zur Hilfe gezogen. Zudem wurde in diesem Kontext die Massenpsychologie und –hysterie erläutert. Das Festhalten an Macht, der immer wieder wahrzunehmende Zynismus sowie (im Gegensatz dazu) die totale Unterwerfung sind wesentliche Merkmale, die sich vor allem auch in der Autoritarismus- Forschung wiederfinden lassen. Aus diesem Grund erschien es besonders naheliegend, diesem Forschungsweg zu folgen, um festzustellen, ob es sich bei Renno und Niedermoser um autoritäre Persönlichkeiten handelte. Die bereits angeführten Merkmale, die die Autoritarismus-Forschung prägten, waren auch beim Klagenfurter NS-Euthanasie-Prozess präsent. Die Angeklagten folgten während der Gerichtsverhandlung großteils alle derselben Argumentationslinie, indem die Unschuld beteuert wurde. Erschreckend war dabei die

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Überzeugung, dass richtig gehandelt wurde – die Banalität wurde seitens der Täter zur Normalität. Retrospektiv betrachtet handelten diejenigen, die über Leben und Tod entschieden – wie sie selbst angaben - aus einer Art Pseudobarmherzigkeit heraus, denn sie waren stolz auf ihre Anordnungen sowie „Großtaten“ und sprachen von humanen Rücksichten.

Der Hauptfokus war primär auf die Ärzte, Dr. Franz Niedermoser und Dr. Georg Renno, gerichtet. Nachdem sich das Datenmaterial bezüglich Dr. Niedermoser als sehr dürftig erwies, wurde zusätzliches Augenmerk auf das Pflegepersonal gelegt. Dr. Renno, der als stellvertretender Anstaltsleiter von Hartheim im Rahmen der „T4-Aktion“ für den Tod von rund 28.000 Menschen (Kepplinger, 2008) verantwortlich war, gab dem Autor Walter Kohl zu Lebzeiten ein Interview. Dieser Dialog bildete die Grundlage für eine analytische Texinterpretation. Dabei wurde mittels qualitativer Inhaltsanalyse vorgegangen.

Des Weiteren ergaben die Dokumente aus dem Akt der Kriminalpolizei sowie die der Hauptverhandlung des Volksgerichtes (Außensenat Klagenfurt) eine wichtige Datengrundlage für diese Arbeit. Anhand der Dokumentenanalyse wurde versucht, die Charaktere der Täter – aufgrund ihrer Schilderungen bei der Vernehmung durch die Kriminalpolizei sowie beim Prozess - zu analysieren, um feststzustellen, ob es sich dabei tatsächlich um Personen mit potentiell faschistischen Charaktereigenschaften handelte.

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2 Euthanasie

Historischer Überblick Der Begriff „Euthanasie“ stammt aus der griechischen Philosophie (griechisch: æ = gut, Thanatos = Tod) und bedeutet soviel wie „sanfter und guter Tod“, den man in der Antike als Privileg durch die Gunst der Götter erfahren konnte. Durch seinen möglichst schnellen und schmerzlosen Verlauf wurde dieser gottgegebene Sterbeprozess zwar als natürlich empfunden, dennoch kann man aus den historischen Beschreibungen kaum direkte Bezüge zur medizinischen Praxis und/oder ärztlichen Beiträgen entnehmen (Feldmann, 2010). In Deutschland gewann der Begriff der Euthanasie ab 1920 an Bedeutung, nachdem durch den Psychiater Alfred Erich Hoche und den Juristen Karl Binding das Werk „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ erschien. Die beiden Autoren argumentierten für die Tötung „Minderwertiger, Kranker und Behinderter“, ebenso sprachen sie sich in ihren Schriften ausdrücklich für die Sterbehilfe bei Todkranken aus. Binding & Hoche befassten sich nicht nur mit den Betroffenen (PatientInnen) selbst, sondern auch mit deren Angehörigen. Es war die Rede von Mitleid, und dass die Anstaltsinsassen ausschließlich als Ballast für die Gesellschaft betrachtet und ihr Tod als Erlösung für den Volkskörper angesehen wurde (Binding & Hoche, 1920).

2.1 Lebensunwertes Leben

Diese Bezeichnung geht – so wie die gesamte Schrift über die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – auf den Juristen Binding und den Psychiater Hoche zurück. Binding, der in diesem Werk den Rechtspositivismus erklärte, gab zu verstehen, dass durch ein Trennen von Norm und Gesetz die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens ermöglicht wird. Man sprach bei dieser Unterscheidung von „Bindings Normentheorie“ (Binding & Hoche, 1920, S. XIII). Daraus war laut Binding zu schließen, dass Normen den Gesetzen voraus sind. „Das Gesetz, ‚wer tötet wird bestraft‘, ruht auf der Norm ‚Du sollst nicht töten‘. Ein Mensch, der tötet, verstößt gegen diese Norm, nicht gegen das Gesetz“ (Binding & Hoche, 1920, S. XIV). Daraus folgte, dass jemand nicht bestraft werden könne, der nicht gegen das Gesetz verstieß.

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Zuständig für den Beleg, dass das Verbot der Tötung für das lebensunwerte Leben nicht galt, folglich dieses Leben straflos getötet werden dürfen, waren der Strafrechtswissenchaftler Binding und der wissenschaftlich arbeitende Psychiater Hoche (Naucke zit. nach Binding & Hoche, 1920, S. XVIII). Mit dieser Normentheorie war somit eine weitere ideologische Grundlage gegeben, um die Gesetzmäßigkeiten und Regeln im Dritten Reich nicht in Frage zu stellen und somit die Vernichtung von lebensunwertem Leben durchzuführen. Zu Bindings Kernfrage, ob man Menschenleben töten darf, argumentiert dieser, dass die „unheilbar Blödsinnigen [in der Realität Patienten, die ohne jede Zuwendung weggesperrt sind und so tatsächlich ‚verblöden‘] getötet werden dürfen“ (Klee, 2010, S. 22). Er war der Meinung, sie hätten keinen eigenen Willen zu leben oder zu sterben, überhaupt seien diese Menschen völlig nutzlos und ihr Tod könnte niemandem schaden – eventuell der eigenen Mutter oder seiner Pflegerin – quasi aus emotionalen Gründen. Binding beschränkte sich jedoch auf einen Zusatz, indem er angibt:

„Jede unverbotene Tötung eines Dritten muß als Erlösung mindestens für ihn empfunden werden: sonst verbiete sich die Freigabe von selbst. Daraus ergibt sich aber eine Folgerung als unbedingt notwendig: die volle Achtung des Lebens- willens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen“ (Klee, 2010, S. 23).

Laut Binding müsste eine Kommission, die aus zwei Ärzten und einem Juristen bestände, die Tötung einstimmig beschließen. (Binding & Hoche, 1920). Alfred Erich Hoche, ein Pfarrerssohn, Ordinarius in Freiburg und Direktor der Universitätsklinik gab ebenfalls klar zum Ausdruck, dass er sich in seinen Ausführungen nicht etwa um diagnostische Erkenntnisse bemühen wollte, sondern um eine reine Unterscheidung verschiedenartiger Gruppen von Blödsinnigen, die ihn eventuell als kranke Menschen interessieren könnten. Er deklarierte sie in zwei Gruppen von „unheilbar Blödsinnigen“ (Klee, 2010, S. 22) und meinte, diese sollten besser „Zustände geistigen Todes“ genannt werden (ebd., S. 24). Seiner Ansicht nach müssten sie unterschiedlich behandelt werden. Es gäbe solche, bei denen sich der geistige Tod erst im Laufe des späteren Lebens einstelle; die Betroffenen hätten sich – so Hoche – vorher zumindest eine „Durschnittlichkeit“ angeeignet. „Dazu zählen Greisenveränderungen des Gehirns, wie jugendliche Verblödungsprozesse, also Schizophrenie“ (ebd.). Jene, die die zweite Gruppe umfasst, sind die, „deren geistiger Tod angeboren oder in früher Kindheit erworben wurde“ (ebd.). Bei den ganz früh Verblödeten habe niemals ein „geistiger Rapport mit der Umgebung

10 stattgefunden“ (Klee, 2010, S. 24). Hoche weitete seine Ausführungen noch aus und beschuldigte die „Vollidioten“, die Allgemeinheit am meisten zu belasten (ebd.).

Binding und Hoche sprachen sich gegen eine Erhaltung jenes menschlichen Lebens aus, das nicht als Vorbild für die gesamte Gesellschaft und den Staat gelten konnte. Sie vertraten die Meinung, dass psychisch Kranke und behinderte Menschen als Last, als wertloses Leben anzusehen seien, von denen man sich befreien sollte. Damit schufen sie die ideologische Basis für eine Rechtsordnung, die zukünftig als lebensvernichtend gelten sollte. Vorbild waren gesunde Menschen, und ein „reiner Volkskörper, der frei von Geisteskranken war und der die zwangsweise Sterilisation“ (Binding und Hoche, 1920, S. XXXV) vorschrieb.

Der Mord an Behinderten: „Es wird wieder mehr gestorben werden müssen“ (Klee, 2010, S. 29). Am 2. September 1925 präsentierte der Tübinger Ordinarius Robert Gaupp, ein Schüler Emil Kraepelins, auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie sein Thema: „Die Unfruchtbarmachung geistig und sittlich Kranker und Minderwertiger“ (Klee, 2010, S. 29). Gaupp gab dabei klar zu verstehen, dass der Wissensstand bezüglich der Erblichkeitsgesetze seines Erachtens noch nicht ausreichend genug sei, um mit „eugenischen Zwangsregeln vorgehen zu können“ (ebd.). Dennoch forderte er die Sterilisierung bei Kriminellen, Fürsorgezöglingen, Debilen, Leicht- und Mittelschwachsinnigen sowie beim „Gros der Degenerierten und Psychopathen“. „Geisteskranke sind nur deshalb kein Fall zur Sterilisierung, da sie in ihrer großen Mehrzahl und den Anstalten [durch Trennung der Geschlechter] der Fortpflanzung entzogen sind“ (ebd.). Zwei Jahre später erschien eine Dissertation von Joseph Mayer unter dem Titel „Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker“; 40 Jahre danach äußerte Mayer, dass er für diese Frage besonders geeignet gewesen sei, „weil ich im Caritasverband an führender Stelle tätig war“ (ebd.). Anzumerken sei an dieser Stelle, dass Mayer als Privatdozent für Moraltheologie und Moralethik sowie Hauptschriftleiter der „Caritas“, Untertitel: „Zeitschrift für Caritaswissenschaft und Caritasarbeit“ (ebd., S. 30) verrantwortlich zeichnete. Mayer vertrat die Meinung, Geisteskranke und Verbrecher überschwemmten die Menschheit. Mayer zitierte Thomas von Aquin (mit seinen eigenen Kommentaren): „Darum beobachten wir: wenn zur Rettung des ganzen Körpers die Entfernung eines Gliedes, das brandig oder sonstwie den andern Gliedern verderblich ist, notwendig wird, dann ist es durchaus löblich und heilsam, daß es entfernt wird. Jede Einzelperson verhält sich aber zur Gemeinschaft wie der Teil zum Ganzen.Wenn darum der Mensch der ganzen Gemeinschaft 11

gefährlich ist und sie durch irgendein Vergehen zu verderben droht, ist es löblich und heilsam, ihn zu töten, damit das Gemeinwohl gerettet wird (Klee, 2010, S. 30-31).

Joseph Mayer war ab diesem Zeitpunkt ein gefragter Redner. Ein Moraltheologe, der für Geisteskranke kein Lebensrecht finden konnte, der in ihnen nur unvernünftige Tiere sah, diesbezüglich wissenschaftliche Werke verfasste, die seitens der Caritas befürwortet wurden, war gern gesehen. Der Psychiater Hermann Simon ging noch einen Schritt weiter, als er im Oktober 1931 Folgendes bemerkte: „Schon der Hilfsschüler kostet mehr als das Doppelte des Normalschülers. Der Mensch im Krankenhaus, in der Irrenanstalt, im Krüppelheim, im Zuchthaus, im Altersheim kostet mehr, oft viel mehr, als der überwiegenden Mehrheit unseres Volkes in gesunden Tagen zur Verfügung steht […]. Es wird wieder mehr gestorben werden müssen“ (ebd. S. 33).

Simon war Direktor der Anstalt Gütersloh und Vorstandsmitglied des Deutschen Verbands für psychische Hygiene.

Der zu erwartende Widerstand der evangelischen Kirche blieb völlig aus. Der damalige Leiter der Bildungs- und Pflegeanstalt Hephata in Mönchengladbach, Pastor Adolf Nell, sprach sich sogar für die „sittliche Pflicht zur Sterilisierung aus Nächstenliebe“ aus (ebd. S. 45). Doch auch die katholische Kirche zeigte keine ablehnende Haltung gegenüber der Euthanasie. Wie sich erst im Jahre 1967 beim Prozess gegen Renno herausstellte, wurde für die Kanzlei des Führers sogar ein theologisches Gutachten bezugnehmend auf die Euthanasie- Frage bestellt. Ein damaliger Zeuge, Albert Hartl, brillierte zur NS-Zeit als Spitzel. Hartl, der als geweihter Priester bekannt war, belauerte die katholische Kirche und aufgrund seiner daraus resultierenden Darstellung ergab sich, dass seitens des bekannten Moraltheologen Prof. Dr. Mayer ein Gutachten erstellt wurde, aus dem nicht klar hervorging, ob eine Entscheidung für oder gegen die Euthanasie zu befürworten sei. Mayer sprach dabei von einem „probablen Grund sowie von einer Gewissensentscheidung, die der einzelne als Möglichkeit habe“ (ebd., S. 229). Hartl führte weiter aus, dass er dieses Gutachten nie genau durchgelesen hätte. Er wusste aber des Weiteren zu berichten, dass auch Hitler diese Bewertung las und die Maßnahmen willkommen hieß, obwohl in dem Gutachten eigentlich kein eindeutiger Entschluss gefasst wurde (Klee, 2010).

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2.2 Historischer Exkurs Die Rassenhygiene wurde schon weit früher begründet, nicht erst im Nationalsozialismus. Dafür zeichnete der Naturforscher Charles Darwin verantwortlich. Seiner Evolutionstheorie zufolge war die natürliche Selektion von wesentlicher Bedeutung, um gute Nachkommen produzieren zu können; das hieß, dass jene Lebewesen, die sich gut an ihre Umwelt anpassten – davon unabhängig wie diese beschaffen war - in der Lage sein sollten, mehr Nachkommen zu produzieren als jene, die nicht dazu taugten, sich im selben Ausmaß anzupassen (Zimbardo und Gerrig, 2008).

Deutschland befand sich auf einem politischen Weg, der die totale Ausgrenzung verfolgte, unterdessen begann man in den USA, eugenische Konzepte durch psychologische Theorien zu ersetzen. Auf deutschem Raum wurden gleichzeitig die Pflegekosten gesenkt und im Jahr 1932 wurde damit begonnen, die staatlichen Unterstützungen für „biologisch Minderwertige“ (Eilert, 2012, S. 620) zu kürzen. Die Ausgrenzung war somit amtlich belegt (Scharsach, 2000).

Die ersten eugenischen Maßnahmen im Nationalsozialismus traten mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ am 14. Juli 1933 in Kraft. Analog dazu entstand das Gesetz zum „Schutze der Erbgesundheit des Deutschen Volkes“ – auch unter der Bezeichnung „Ehestandsgesetz“ - mit Datum vom 18. Oktober 1935 (Schmidt, 2012, S. 16). Das gesamte Erbgesundheitsgesetz führte zu reinster Hysterie seitens der Befürworter, deren kontinuierliche Sorge für die Verhinderung unerwünschter Nachkommen stets präsent war (Schmidt, 2012). Historische Quellen erbrachten Nachweise, dass die Diskussionen der Eugenik weiter zurückreichten; bereits der 1. Weltkrieg lieferte dazu genügend Material, denn schon zu diesem Zeitpunkt waren die sogenannten „Ballastexistenzen“ (Binding und Hoche, 1920) ein aktuelles Thema. Auf Seite der Deutschen gab es viele gefallene Soldaten, deren Familien außerstande waren, irgendeinen Beitrag zu leisten, um für die Erhaltung der Nation zu sorgen – im Gegenteil, sie waren auf staatliche Unterstützung angewiesen. Der verlorene Krieg gab genügend Anlass, um eine wissenschaftlich und politische Trendwende ins Leben zu rufen. Die Sparmaßnahmen führten innerhalb der eugenischen Forschung zu einer Entwicklung, die fortan auf der Vernichtung erbkranken Nachwuchses beruhte und sich somit entschieden von einer positiven Eugenik 4 (Förderung des erbgesunden Nachwuchses)

4 Die Bezeichnung Eugenik wurde von Francis Galton begründet; positive Eugenik bedeutet „eine gezielte Förderung ‘wertvoller‘ Individuen“ (DÖW, o.A.). 13 wegentwickelte. Zugleich wandte man sich der Schrift Bindings und Hoches zu. Henry Friedlander merkte diesbezüglich auch an, dass der Schmerz und das Leid des 1. Weltkrieges enorm zu diesen Entwicklungen beigetragen hatten (Friedlander, 2000). Die nationalsozialistische Gesetzgebung griff insbesondere in den Gesundheitsbereich ein, der seit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN v. 14.07.1933) zur Umsetzung sämtlicher eugenischer Maßnahmen missbraucht wurde. Die Euthansie selbst hingegen wurde zu keiner Zeit rechtlich verankert, sondern baute auf einem recht nebulösem Schreiben Hitlers vom 01.09.1939 und ausschließlich mündlicher Absprachen der verantwortlichen Personen auf (Schmidt, 2011). Die Beauftragten der NS-Euthanasie waren Karl Brandt und Philipp Bouhler; die Verwaltungsaufgaben hatte Viktor Brack auszuführen. Die Hauptverantwortlichkeit unterlag jedoch immer dem Hauptamt II, der Kanzlei des Führers, das wiederum Brack unterstand (Klee, 2010).

Es war davon auszugehen, dass nirgendwo ein offizielles Gesetz zur Euthanasie verankert werden konnte. Also wurden Überlegungen angestrebt, um von offizieller Seite – von Hitler selbst – einen Befehl zu erhalten. Auch die notwendigen Entwürfe wurden vorgelegt, wie zum Beispiel das „Gesetz über Gewährung der letzten ärztlichen Hilfe bei unheilbar Kranken“ (Leven, 1995, S. 11.). Doch Hitler ließ sich nicht beeinflussen, er wies dies alles zurück. Er war sich der öffentlichen Reaktionen auf ein derart einzigartiges Gesetz bewusst, und so blieb ein dubioser Führererlass ausnahmslos das einzige, schriftliche Dokument, das Zeugnis für die beauftragte Durchführung der Euthanasie ablegen konnte (Friedlander, 2000). Hitler erteilte diesen Führererlass jedoch erst zu einem Zeitpunkt, als die Euthanasie bereits ihren Lauf nahm, sämtliche dazugehörigen Planungen waren ebenfalls abgeschlossen. Dieser etwas schwer nachzukonstruierende Führererlass war später für alle jene, die mit den Krankenmorden betraut waren, eine wichtige Verteidigungsstrategie. Wie schon erwähnt, hatten die Theorien von Binding und Hoche wesentlichen Einfluss und Indizien wiesen ebenfalls darauf hin, dass diese Grundlinien des Juristen und des Psychiaters übernommen wurden, wofür es einen eigenen Paragraphen gab: „§ 2 Das Leben eines Kranken, der infolge unheilbarer Geisteskrankeit sonst lebenslänglicher Verwahrung bedürfen würde, kann durch ärztliche Maßnahmen, unmerklich für ihn, beendet werden“ ( Binding und Hoche, 1920, S. XXXIX).

Das Thema Euthanasie war natürlich bis zum 2. Weltkrieg nicht aus dem Weg geräumt, sondern immer wieder präsent, wie auch auf dem Reichsparteitag im Jahr 1935. Dafür schien der ehemalige Ärzteführer, Richard Wagner, verantwortlich gewesen zu sein.

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Dort reagierte Hitler mit der Aussage, diese Angelegenheit (Euthanasie) im (kommenden) Krieg wieder anzusprechen; zumindest ergaben das die Angaben der Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess. Inwieweit dies den wirklichen Fakten entsprach, war nicht erfassbar, schließlich wollten sich im Nachhinein fast alle aus der Verantwortung ziehen. Die Angeklagten der Nachkriegs-Prozesse beriefen sich gerne auf diesen Sager Hitlers. Damit versuchten sie, ihre Argumentationslinien, wonach sie nur Befehle ausgeführt hätten, zu untermauern. Hitler habe dementsprechend mehrfach die Möglichkeit von Krankenmorden ins Auge gefasst. Niemand sonst hätte auf die Durchführung der NS-Euthanasie gedrängt. In Wirklichkeit sahen sich jedoch bereits 1934 einige Anstaltsleiter veranlasst, drastische Nahrungsmittel-Einschränkungen vorzunehmen, weswegen an eine regelmäßige Versorgung wohl kaum mehr zu denken war (Scharsach, 2000). Es schien, dass das deutsche Reich unter Hitlers Führung seine ideologischen Ziele verfolgte und in diesem Zusammenhang den Ärzten ein großer Teil der Verantwortung – auch im Hinblick auf die medizinischen Massentötungen - zugesprochen wurde.

Am 06.10.1939 endete der Polenfeldzug mit der Kapitulation der letzten polnischen Feldgruppen. Gleichzeitig strebte Hitler eine Lösung der Euthanasie-Frage an und wandte sich damit an Karl Brandt und Philipp Bouhler, der als Chef der KdF (Kanzlei des Führers) namhaft war. In diesem Kontext entstand schließlich ein Schreiben, das von Hitlers Anhängern postwendend zum sogenannten Führererlass verklärt wurde. Dieses bestand nur aus einem einzigen Satz, in dem Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt „unter Verantwortung beauftragt [sind], die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“ (GStA Frankfurt, Anklage Heyde, Bohne und Hefelmann, Ks 2/63, Js 17/59, 22.05.1962, S. 201-206). Hitler selbst veranlasste ein Rückdatieren dieses Schreibens auf den 01.09.1939, an den Tag, als Polen überfallen wurde und den Beginn des 2. Weltkrieges einleitete (Friedlander, 1996).

Im September 1939 war die Organisation für den eugenischen Massenmord abgeschlossen. Bereits Ende Oktober 1939 wurden in Westpreußen Kranke aus den Anstalten Stralsund, Treptow an der Rega, Ückermünde und Lauenburg erschossen. In die Anstalt Meseritz-Obrawalde wurden die letzten Kranken hingebracht, die in weiterer Folge dort getötet wurden. Das heißt, dass die ersten Euthanasieopfer nicht aus dem Altreich stammten, sondern aus den hier zitierten Anstalten (Klee, 2010). Im Zeitraum zwischen dem 07.12.1939

15 und dem 12.01.1940 wurden somit über tausend Menschen vor allem in den deutschen Ostgebieten durch einen Gaswagen umgebracht5.

2.2.1 Beginn der Euthanasie Prinzipiell war zwischen zwei Vernichtungs-Aktionen zu unterscheiden: und zwar den Kindermorden und in weiterer Folge den Morden an den Erwachsenen. Eine besondere Kennzeichnung dieses Sachverhaltes war, dass die damaligen Planungen nicht zu belegen sind. Um Klarheit zu gewinnen, wäre man daher umso mehr auf die Aussagen der Täter angewiesen gewesen. Als offizieller Beginn der Kindereuthanasie wird in der Literatur dennoch der „Fall Knauer“ (Ahmann, 2001 S. 20) genannt, der in den Zeitraum zwischen 1938 und 1939 datiert ist. Bereits daraus lässt sich schließen, dass zuerst die Kindereuthanasie Bedeutung fand, bevor die T4-Aktion in die Tat umgesetzt wurde (ebd., S. 25). Beim genannten Fall Knauer war ein an den Führer gerichtetes Gesuch im Fokus, in dem ein Vater darum bat, dass seinem „missbildetem Kind das Leben genommen wird“ (ebd., S. 81). Wie auch immer dieser fragwürdige Brief entstanden ist oder aufgetaucht sein soll, so gab es dazu nachweisliche Divergenzen. Der Medizinhistoriker Udo Benzenhöfer kam zum Ergebnis, dass demzufolge eine „Richtigstellung“ (Klee, 2010, S. 83). vorzunehmen sei. Benzenhöfer erfuhr von der Schwester des angeblich behinderten Kindes, „dass ihr Bruder normal entwickelt gewesen und am besagten Tag eines natürlichen Todes verstorben wäre“ (Klee, 2010 zit. nach Benzenhöfer, 2007, S. 83). Anzumerken ist hier jedoch, dass es hinsichtlich des Falles Knauer verschiedene Aussagen gab und auch die Literatur diesbezüglich mehrere Angaben darstellt. Fakt ist jedoch, dass der Fall Knauer gerne als Auslöser der darauffolgenden Kindereuthanasie genannt wird, obwohl es diesbezüglich keine handschriftlichen noch sonstigen Aufzeichnungen von Seiten der Verantwortlichen gibt.

Wie schon oben angeführt, fokussierte sich die Literatur auf den Fall Knauer, und dieser Auslöser ging reell in viele Geschichtsbücher als der Fall „Kind K.“ (Benzenhöfer, 2009, S. 33) ein. Karl Brandt, der als Hitlers Leibarzt fungierte, gab seine Erklärung beim Nürnberger Ärzteprozess insofern ab, dass er in Hitlers Auftrag gehandelt hätte, als er sich

5 Es handelte sich dabei um umgebaute Lastwägen, in denen die Abgase der Motoren ins Innere der Fahrzeuge geleitet wurden (Zeit Klicks, o. A.). 16 dieser Sache annahm. Hans Hefelmanns6 Feststellungen entsprechend, könnte der dubiose Fall Kind K. Motive geliefert haben, um in gleichartigen Konstellationen zu reagieren, womit eine Zustimmung für einen solchen „Gnadentod“ (Benzenhöfer, 2009 S. 58) erteilt wurde. Der tatsächliche Beginn der Euthanasie ist schwer nachzuvollziehen. Eine diesbezügliche gesetzliche Regelung wurde nie getroffen. Die Vermutung ging aber dahin, dass die Begründung auf einer mündlichen Vereinbarung zwischen Hitler und Brandt lag. Folglich wurde die Kinder-Euthanasie in Gang gesetzt und es sollte nicht viel Zeit verstreichen, bis die Erwachsenen-Euthanasie und der Völkermord an den Juden begannen (Benzenhöfer, 2008).

Beim Nürnberger Ärzteprozess gab Karl Brandt zu Protokoll, dass sich Philipp Bouhler für die Euthanasie ausgesprochen hätte. Bouhler war der Meinung, einzelne würden ihre Autoritäten ausnutzen und zügellos die Praktiken der Euthanasie durchführen. Viktor Brack, der Stellvertreter Bouhlers und Oberdienstleiter des Hauptamtes II der KdF, stimmte dem zu und sagte ebenfalls aus, dass Bouhler dagegen rebellierte und dass Leonardo Conti7 die prekäre Angelegenheit um die Euthanasie lösen sollte, nachdem er befürchtete, dass auch dieser wohl oder übel den Gnadentod missbraucht hätte. Hitler übergab die Aufgaben rund um die Euthanasie (Planung und Durchführung) dann doch an Karl Brandt und Philipp Bouhler, obwohl er schon im Juli 1939 mit Conti und Martin Bormann8 sowie dem Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, bereits einiges in dieser Angelegenheit besprochen hatte. Dessen ungeachtet handelte es sich hier um eine geheime Reichssache und der Führererlass basierte auf keiner rechtlichen Grundlage.

2.2.2 T4 Aktion und die Einrichtungen Unter dem Tarnnamen T4-Aktion wurde 1939 mit der Erwachsenen-Euthanasie begonnen. Entstanden ist diese Bezeichnung als Kürzel für die damalige Kdf9-Adresse des Führers – die Bürozentrale. Hier befand sich sozusagen die Zentrale für die „Mordaktionen“10 (Klee, 2010, S. 121) und die ihr untergeordneten Institutionen. Die Kdf und T4 arbeiteten eng

6 Hans Hefelmann war Leiter des Hauptamtes IIb in der KdF. Zusammen mit Viktor Brack und Herbert Linden waren diese drei Männer (3 weitere Ärzte wurden dann noch aufgenommen) hauptsächlich für die Kinder- Euthanasie verantwortlich (Jacob, 2012). 7 Leonardi Conti wurde 1939 (auf Befehl des Führers) zum Reichsgesundheitsführer ernannt und leitete den Nationalsozialistischen Ärztebund (NSDAB) (Friedlander, 2000). 8 „Martin Bormann war nach dem 2. Weltkrieg einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt“ (Maxwill, 2012, o. A.). Bormann galt als SS-Obergruppenführer und Reichsleiter der NSDAB neben Hitler als der zweitmächtigste Mann im Reich (Maxwill, 2012). 9 Kdf war die Abkürzung für Kanzlei des Führers (Klee, 2010). 10T4 bedeutete Mordaktion und der „größte Teil der Verwaltung“ war in der Tiergartenstraße 4 in untergebracht; die Bezeichnungen aller Abteilungen waren bloß Tarnnamen (Klee, 2010, S. 121). 17 mit der Gesundheitsabteilung des Reichsministeriums des Inneren (RMdI) zusammen. An dieser Stelle vereinigten sich aber auch die Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH (Gekrat) und die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten. Es handelte sich bei der T4-Aktion eigentlich um eine weitere Tarnmaßnahme, denn es war der Ort, wo man sich mit der Erfassung und Vorbereitung der Krankenverlegungen beschäftigte, wofür wiederum eine eigene Abteilung zuständig war, die sich Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten nannte. Als offizieller Geschäftsführer der Zentraldienststelle zeichnete Dietrich Allers11. Ihm unterstanden Abteilungen, die unter anderem von Werner Heyde, der als Leiter der medizinischen Abteilung an der Durchführung der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde beteiligt war und in der Zentraldienststelle T4 bis 1941 seine Dienste verrichtete. Diesen Posten musste Heyde dann aber an Paul Nitsche12 abtreten, nachdem sich die Gerüchte um seine angebliche Homosexualität verbreitet hatten (Friedlander, 1995). Nitsches Erfahrungen auf dem Gebiet der Dosierung einer tödlichen Medikation reichten aus, um die geeigneten Narkotika zu bestimmen, nachdem er bereits im Jahr 1938 die Gelegenheit hatte, dementsprechende Versuche durchzuführen. Den diesbezüglichen Auftrag erhielt er damals von Bouhler. Seinen Aussagen zufolge behandelte er Anfang 1940 rund sechzig Geisteskranke mit Luminal13, dosiert mit 0,3 g, dreimal täglich. Außerdem war es für die Zuständigen von Bedeutung, die Reaktionen der Behandelten zu dokumentieren. Die PatientInnen starben aufgrund der ihnen dargereichten Medikamente beziehungsweise aufgrund der Behandlungsweise.14 Des Weiteren an der NS-Euthanasie-Planungs- und Durchführungsmaschinerie maßgeblich beteiligt waren Gerhard Bohne, Friedrich Tillmann, Friedrich Lorent, Reinhold Vorber, Friedrich Haus und Gustav Kaufmann. Gerhard Bohnes Stelle übernahm später Friedrich Tillmann (Klee, 2010, S. 25).

11 Dietrich Allers trat 1941 – nach Gerhard Bohne – die Stelle des Geschäftsführers der T4-Zentraldienststelle an. Allers spielte eine wesentliche Rolle bei der Durchführung (und auch Verschleierung) der Euthanasie-Morde (Friedlander, 1995). 12 Paul Nitsche zeichnete sich als „Obergutachter und Leiter der Medizinischen Abteilung der T4-Organisation aus, um kranke und behinderte Menschen töten zu lassen“ (Böhm, 2012, S. 293). 13 „Die Kranken bekamen Luminal oder Veronal in Tablettenform; Luminal wenn sie nicht mehr schlucken konnten. Morphium-Scopolamin wurde verabreicht, wenn Luminal od. Veronal nicht mehr ausreichte – für die dementsprechende Wirkung (Bewußtlosigkeit, Tod)“ (Schmidt, Kuhlmann und Cranach, 1999). 14 Luminal wurde auch in der Wiener Klinik „Am Spiegelgrund“ verabreicht – einer der verantwortlichen Ärzte war dabei Dr. Heinrich Gross. Den Kindern und Jugendlichen wurden Schafmittel (überdosiert), - hauptächlich Luminal - verabreicht. Die Folgen waren Gewichtsverlust, hohes Fieber und Anfälligkeit für Infektionen. Kurz vor deren Tod wurden die Eltern informiert, wenig später starben die Kinder jedoch – mit der offiziellen Todesursache wie z.B. Lungenentzündung (Sandgathe, o.A.). 18

Die Leitung des Hauptamtes II der KdF hatte Viktor Brack inne, er war ab diesem Zeitpunkt auch für das Euthanasieprogramm zuständig. Die Kanzlei des Führers (KdF) gliederte sich in fünf Hauptämter, denen wiederum einzelne Ämter unterstanden. Dazu zählte der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden, welcher als Tarnorganisation zur Durchführung der NS- Kindereuthanasie gegründet wurde. Im Verkehr nach außen gliederte sich die Zentraldienststelle T4 in vier weitere Bereiche auf:

- RAG, Die Reichsarbeitsgemeinschaft war maßgebend für die Erwachsenen-Euthanasie in den Heil- und Pflegeanstalten. Herbert Linden (Arzt und Ministerialrat der Gesundheitsabteilung des RMDdI) war in der Planung und Durchführung der Massenvernichtung federführend. Die Ernennung der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten durch das Reichsjustizinnenministerium und das Reichsinnenministerium bevollmächtigte im August 1943 (laut § 42 b StGb) die RAG, PatientInnen „insbesondere Hangkriminelle“ (Cranach und Siemen, 2012, S. 225) an die Polizei „zum Arbeitseinsatz in Lagern“ (ebd.,) abzugeben, um „zur Gewinnung freier Betten“ zu sorgen (ebd.). Es wurde den Anstalten überlassen, einige der Pfleglinge zu behalten, falls diese für dringende Arbeiten benötigt wurden (ebd.). - Eine Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege, die sich aus juristischen Personen zusammensetzte, genoss die uneingeschränkten Zeichnungsberechtigungen. - Gekrat, die Gemeinnützige Kranken-Transport G.m.b.H, war für die Verlegung der Opfer zuständig. - Seitens einer eigenen Zentralverrechnungsstelle wurde für die Finanzierung der Mordaktionen in den Heil- und Pflegeanstalten gesorgt (Friedlander, 2000).

Die so untergliederte Zentraldienststelle T4 war jedoch nicht mehr als eine Tarnorganisation des Hauptamtes der Kanzlei des Führers. Die KdF war grundsätzlich in sechs Einheiten unterteilt, die somit für die NS-Euthanasie verwantwortlich zeichneten. Nach Außen jedoch sollte keine Verbindung zwischen Zentraldienststelle und KdF sichtbar sein, so dass öffentlichkeitswirksam nur die genannten vier Bereiche (RAG, Gekrat, Stiftung, Zentralverrechnungsstelle) und der Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden interagierten.

19

2.2.3 Der Meldebogen Ab dem Sommer 1939 wurden die Tötungen von psychisch Kranken und geistig Behinderten systematisch durchgeführt. Dafür wurden auch zwei Meldebögen mit einem Merkblatt verfasst. Die Meldebögen wurden von den Euthanasiebeauftragten ausgearbeitet, welche sodann an die voraussichtlichen Heil- und Pflegeanstalten zugesandt wurden. Die jeweils zuständigen Ärzte hatten den Auftrag, die PatientInnen anzuführen, die jene Symptome/Kriterien aufwiesen, welche dem beigelegtem Merkblatt entsprachen. Realiter wurden beispielsweise alle jene erfasst, die eine Schizophrenie, einen Schwachsinn, eine Epilepsie oder Ähnliches aufzeigten. Unter anderem waren Krankheiten vermerkt wie: „Encephalitis, Paralyse oder Chorea Huntington. Weitere neurologische Endzustände hatten natürlich genauso zu erfolgen und mussten erfasst werden. Was die sogenannten Ballastexistenzen betrifft, so sind diese in vier Kategorien unterteilt worden und wurden ebenfalls in den Meldebögen vermerkt. Die Unterteilung beinhaltete folgende Beschreibung: Nicht Arbeitsfähige, die an einer der genannten Krankheiten litten, Personen, die mindestens fünf Jahre ununterbrochen in klinischer Behandlung standen, Personen, die als geisteskranke Strafgefangene verwahrt wurden und Patienten, die nicht deutschen oder artverwandten Blutes waren“ (Scharsach, 2000, S. 118).

Alkoholismus war selbtverständlich im Einteilungsschema genauso angeführt wie zum Beispiel soziale Anpassungsstörungen, die wiederum unterteilt wurden mit den Begriffen „pädagogischer Schwachsinn“ und „medizinischer Schwachsinn“ (Gütt, 1937, S. 4). Bei dieser Liste mit den angeführten Unterteilungen handelte es sich um eine exorbitant umfangreiche Tabelle, die sämtliche Störungen, die von den Nazi-Ärzten diagnostiziert wurden, beinhaltete. Wenn die Meldebögen in der Zentraldienststelle eintrafen, wurden diese an die medizinische Abteilung weitergeleitet. Von den dort vierzig tätigen Ärzten waren jeweils drei als Gutachter tätig und mussten aufgrund des vorliegenden Meldebogens ihr Urteil abgeben, ob der Mensch nun ein Euthanasiepatient wurde oder nicht. Im Detail sah das so aus, dass bei Befürwortung ein Pluszeichen vermerkt wurde; sollte der Patient jedoch zurückgestellt werden, wurde das mit einem Minus versehen. Die Obergutacher waren Werner Heyde, Paul Nitsche und Herbert von Linden. Sie durften dann ihr endgültiges „+“ oder „-“ geben. Ein Pluszeichen bedeutete, dass eine Kopie an die Gekrat zu übermitteln war, um so schnell wie möglich für einen Abtransport der PatientInnen in die entsprechenden Anstalten zu sorgen. Dieser Vorgang war bestens koordiniert. Sechs Tötungsanstalten waren am Anfang der Euthanasiemorde dazu bestimmt worden - dies waren Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Bernstein, Hadamar und Sonnenstein. Jene PatientInnen, die auf dem Meldebogen ein Plus eingetragen hatten, wurden eingesammelt und von Bussen und eigenen Transportern abgeholt, 20 die sie in die Tötungsanstalten brachten. In den dortigen Aufnahmestationen wurden sie wiederum registriert, woraufhin sie sich nackt ausziehen mussten. Es passierte mitunter, dass das zuständige medizinische Personal noch Fotos machte. Daraufhin wurde – auf Anfrage – den Leuten erklärt, sie würden nun eine Dusche erhalten, und sie müssten sich in den extra dafür zur Verfügung stehenden Raum begeben. Sie wurden dann kaltblütig mit dem bereits erprobten Kohlenmonoxyd vergast (Friedlander, 2000).

Die Angehörigen wurden erst nach dem Abtransport der PatientInnen über diesen Vorgang informiert. Häufig kam diese Benachrichtigung zusammen mit der Todesmeldung. Auskünfte erhielten die Angehörigen kaum, wenn es darum ging, eine Erklärung abzugeben, warum eine Verlegung stattgefunden hätte. Die Angehörigen wurden sehr abweisend und grob behandelt, ihre Fragen wurden lakonisch abgetan, mit der Begründung, dass die Entsendungen aufgrund von „Maßnahmen des Reichsverteidigungskommissars“ durchzuführen gewesen wären (Nürnberger Doc. No 840).

Soziokönomischer Faktor Zur Zeit des NS-Regimes assoziierte man bedeutende soziökonomische Aspekte mit lebensunwertem Leben. Statistische Zahlen hatten bedeutenden Charakter; so wurde in der Vergasungsanstalt Hartheim ermittelt, dass sich im Jahre 1942 durch das Desinfizieren15 der Geisteskranken – dabei ging man von einer Zahl von 70.273 Menschen aus – bei einer Lebenserwartung von zehn Jahren eine Ersparnis von RM 141,775.573,80 ergeben würde (Klee, 2010, S. 25). Allein die Tatsache, dass für „nutzlose Schwächlinge“ Kosten für Nahrungsmittel, Kleider, Heizkosten und so weiter entstanden, war eine Vorstellung, die dem Regime nicht zweckdienlich sein konnte. Hitler war der Ansicht, man brauchte die Kranken- und Irrenanstalten, die von den sogenannten nutzlosen Essern besetzt waren, für wichtigere PatientInnen wie zum Beispiel für Angehörige der Wehrmacht. Eine weitere Chance sah Hitler darin, mehrere Ärzte und Pflegepersonal in diesen Institutionen zum Einsatz zu bringen, um für die Rekonvaleszenz der verwundeten Soldaten, die keine nutzlosen Esser darstellten, sondern ehrenvoll für ihr Vaterland und ihren Führer kämpften, vorzusorgen (Klee, 2010). Die Gutachtertätigkeit wurde zudem gut honoriert und es musste mitunter wohl ein wesentliches Motiv für die Verantwortlichen erfüllt haben, in Anbetracht der Gewissheit, für

15 Wenn hier von „Desinfizieren“ gesprochen wird, so handelte es sich dabei um jene Methode, bei der die Menschen durch Vergasen zu Tode kamen – also die „Vergasten“ (Klee, 2010). 21 diese verrichteten Arbeiten nach Extremleistungen bezahlt zu wurden. Im Konkreten wurden zum Beispiel folgende Entschädigungen gewährt: monatlich bis 500 Fragebögen RM 100,-- monatlich bis 2000 Fragebögen RM 200,-- monatlich bis 3500 Fragebögen RM 300,-- monatlich über 3500 Fragebögen RM 400,-- (Klee, 2010, S. 127).

Hier handelte es sich um einen Aktenvermerk, der sich auf Dr. Arthur Schreck bezog, welcher sich „beinahe ohne Ausnahme für die Tötung der Kranken aussprach“ (ebd.). Er ging bei seiner Tätigkeit angeblich so leichtfertig vor, dass er die Meldebögen sogar teilweise in einer öffentlichen Wirtschaft, während er Wein trank, bearbeitet hatte“ (ebd.).

Versuchte Geheimhaltung der Massenmorde Die Verantwortlichen der Euthanasie brüsteten sich förmlich, wenn sie vom Gnadentod und der Wohltat sprachen. Beim Nürnberger Ärzteprozess meinte Bouhler hierauf Bezug nehmend, dass Juden nicht ins Euthanasieprogramm aufgenommen wurden, weil die „Wohltat der Euthanasie nur Deutschen zugute kommen [sollte]“ (Nürnberger Dok. No. 840). Während des Krieges versuchte man jedoch, die Euthanasie weitestgehend vor der Bevölkerung zu verheimlichen. Dennoch war bereits 1941 eine völlige Geheimhaltung über die Ereignisse kaum möglich, da in den betroffen Orten natürlich darüber – wenngleich auch nur hinter vorgehaltener Hand – gesprochen wurde. Durch den Nürnberger Ärzteprozess wurde deutlich, nach welchen konstitutionellen Richtlinien selektiert wurde. Dabei kam zum Ausdruck, dass die Arbeits(un)fähigkeit bei der Krankenauswahl der ausschlaggebende Aspekt war.

Götz Aly, deutscher Wirtschaftshistoriker und Journalist, warf in seinem Buch „Die Belasteten“ die Frage auf, ob es seitens der Familien sowie der gesamten Gesellschaft keine Einwände gegen die NS-Euthanasie gab. Dabei wurde stets klar zum Ausdruck gebracht, wie unberührt sich der Großteil (der Deutschen) zeigte (Aly, 2013). Schockierenderweise stand die Bevölkerung der Tötung idiotischer16 Kinder völlig offen gegenüber. So wurden noch im Jahr 1920 an 200 betroffene Eltern – also solche, die ein behindertes Kind hatten –

16 Idotie fiel unter die Kategorie der Schwachsinnigen und wurde gruppiert. Die Definitionen galten für die schweren Idioten und die höherentwickelten, die u. a. als „völlig apathisch, bewegungsarm oder zu Erregng neigend“ (Dubitscher, 1937, S. 84) beschrieben wurden. Im Vergleich: die Fälle mit schwersten Graudaus- prägungen wurden als jene beschrieben, die „eigentlich nur in dumpf-apathischer Weise ihr Leben dahindämmerten (ebd., 1937, S. 84). 22

Fragebögen verschickt. Sie wurden dazu befragt, ob sie eine schmerzlose Beseitigung 17 befürworten würden. Das Resultat ergab, dass sich lediglich 19 Befragte eindeutig dagegen aussprachen. Um das Ergebnis zu konkretisieren: Von den 200 Fragebögen wurden 162 retourniert, von diesen wurden 73 % mit „Ja“ und 27 % mit „Nein“ beantwortet (Binding und Hoche, 2006).

Götz Aly erläuterte, wie unberührt das Pflegepersonal mit den Schicksalen der AnstaltsPatientInnen umging, trotz der Befürchtung seitens des Regimes vor Unruhen. Hier fiel vor allem jener Widerstand auf, der dazu beitrug, die Euthanasie einzustellen, der von Seiten des Münsteraner Bischofs von Galen ausging. Dieser öffentliche Protest gegen dieses System beziehungsweise die Ermordung der psychisch Kranken und Behinderten war der bekannteste Fall von Ablehnung der NS-Euthanasiemaßnahmen (Aly, 2013). Ein signifikantes Zunehmen der Sterbeurkunden, die die Tötungsanstalten auszustellen hatten, war zudem ein charakteristisches Merkmal. Es war auffallend, dass diese vielen Sterbeurkunden von weit entfernten Anstalten an die jeweiligen Standesämter und Heimatgemeinden geschickt wurden. Immer wieder wurde bspw. vom dicken Rauch über Hadamar berichtet, wie sollte hier eine Aktion bloß geheim gehalten werden? In der Bevölkerung manifestierten sich Angst, Verzweiflung, Zorn und zum Teil auch aktiver Widerstand gegen die Säuberungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes. Bereits den Kindern blieb es nicht verborgen, dass mit den Leuten irgendetwas passierte, die nicht klug waren. Kinder, die sich beim gemeinsamen Spiel neckten, riefen sich gegenseitig zu: „Du bist nicht recht gescheit, du kommst nach Hadamar in den Backofen!“ (Nürnberger Prozess, PS 615). Aber auch aus den Reihen der Wissenschaftler wurden immer mehr Kritiken gegen die Euthanasie geäußert. Aus einem Brief von Heinrich Himmler18 an Brack zeigte sich zudem, dass der Reichsführer Himmler über die doch mangelnde Geheimhaltung der Euthanasie-Aktion beunruhigt war (Nürnberger Dok. No. 018). Daraufhin wurde - wie bereits erwähnt - im August 1941 die T4-Aktion eingestellt, wobei hier hinzuzufügen wäre, dass der angekündigte Euthanasiestopp in der Fachliteratur mit dem Datum des 24.08.1941 angegeben wird (Scharsach, 2000). Dieser offizielle Stop der T4-Morde war jedoch wiederum nicht mehr als eine Scheinaktion. Hinter den Kulissen wurde bereits die Durchführung einer anderen Form der Euthanasie geplant, wonach sämtliche damit einhergehenden eugenischen

17 Die schmerzlose Beseitigung war eine Tarnung für die Euthanasie. 18 war als Chef der Deutschen Polizei und Reichsinnenminister bekannt, aber vor allem als einer der Verantwortlichen für die Ermordung von unzähligen Zivilisten und Kriegsgefangenen. Nach Bekanntwerden seiner Taten und einem vergeblichen Fluchtversuch suizidierte sich Himmler. 23

Maßnahmen von nun an dezentral und anstaltsintern organisiert werden sollten (Lifton, 1988) Als Dr. Mennecke beim Nürnberger Prozess seine Aussage machte, wurde zudem aufgedeckt, dass die Kindereuthanasie praktisch als Ersatz für diejenigen Erwachsenen diente, die aufgrund des Erwachsenen-Euthanasie-Stopps zuvor nicht erfasst werden konnten. Das Alter der Reichsausschuss-Kinder wurde im Zuge dessen erhöht und letztendlich auf 17 Jahre festgesetzt (Mitscherlich und Mielke, 1949). Bis zum Kriegsende wurden Kinder und Jugendliche auf perfide Weise getötet und von Medizinern für die Wissenschaft missbraucht, weil sie in deren Augen lebensunwertes Leben darstellten oder eben nicht der Ideologie der Nationalsozialisten entsprachen.

2.2.4 Die Rolle der Ärzte und ihre Bedeutung Offiziell wurden ab September 1941 keine Vergasungen mehr vorgenommen. Doch ab diesem Zeitpunkt wurde den Medizinern selbst die Verantwortung zur Sicherstellung eines erblich unbelasteten und gesunden Volkes übertragen. Das Ende des Euthanasieprogramms sollte demnach auf keinen Fall ein Ende der Vernichtung der sogenannten „Ballastexistenzen“ bedeuten. Stellvertretend für die Tötungsanstalten mit den darin befindlichen Gaskammern wurden die Leiter der verschiedenen Krankenhäuser und Pflegeanstalten aktiv. Sie führten die NS-Euthanasie weiterhin anstaltsintern durch, obwohl der Krankenmord als eingestellt galt. In Wahrheit wurde damit auf hinterhältige Weise weitergemacht. In einem Brief vom 12.10.1942 schrieb Heinrich Himmler an seine Frau, dass im Osten eine Abordnung (unter der Führung Bracks) sei, die dort verletzte Soldaten abholte. Dabei sollten sich auch zwanzig bis dreißig Ärzte befunden haben, die aus rein humanitären Absichten ihre Mission erfüllen wollten. Richtigerweise ist jedoch anzunehmen, dass dies alles eine reine Tarnung war, um an den Schwerverletzten die Euthanasie vorzunehmen und idealerweise die notwendigen (Todes)-Lager in Polen zu errichten. Viktor Bracks Wissen um die Massentötungen, das er sich bereits angeeignet hatte, kam dabei zu Gute. In weiterer Folge hatte er maßgeblichen Anteil beim Aufbau der Vernichtungslager Treblinka, Belzec und Sobibor. Aber auch Christian Wirth blieb nicht ungenannt mit seinen technischen Kenntnissen, die er sich als Euthanasie-Beauftragter in Hartheim, Grafeneck und Brandenburg erworben hatte. Seine Erfahrungen auf dem Gebiet konnte er nun für den Aufbau des Vernichtungslagers Belzec weitergeben. Es dauerte daher nicht lange und das ehemalige T4-Personal durfte sich wieder freuen, Führungspositionen im RdMI anzutreten, oder sie bekamen Gelegenheiten, ihre Karriere in den Tötungszentren fortzusetzen (Lifton, 1983).

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In Hadamar hatte sich nach dem offiziellen Euthanasie-Stopp der penetrante Geruch sowie der Rauch, der immer wieder aus den Öfen der Anstalt wahrgenommen wurde, verzogen. Doch der Schein konnte trügen – die Menschen waren nicht im Stande, das wahrzunehmen, was sich auf lakonische Weise hinter den Gemäuern der einzelnen Anstalten abspielte. Höchst eifrige Ärzte zeigten unglaubliches Engagement, wenn es darum ging, Spritzen und Tabletten in tödlicher Dosis zu verabreichen (Scharsach, 2000). Doch diese Methoden reichten nicht aus, die Tötungsstrukturen wurden erweitert. In dieser Zeit, auch als wilde Euthanasie bezeichnet, wurden viele Menschen nebenbei durch Verhungern-lassen getötet (Wegscheider, 2013). Das bedeutete, dass hier ein billiges Verfahren ausgeführt werden konnte. Laut Schwarz (2001) setzte bereits am 17.05.1935 der Wiener Bürgermeister konkrete Zielsetzungen zur Durchführung dieser Einsparungen für die Heil- und Pflegeanstalten. Anstelle der Gaskammern sorgten ab ca. 1941/42 passionierte NS-Ärzte für die wilde Euthanasie, die in ihrem Fanatismus die Wissenschaft zu neuen Ergebnissen bringen sollte (DÖW, o.A.). In Anbetracht der wissenschaftlichen Forschung ist davon auszugehen, dass auch hier ein Schwerpunkt zu suchen war. Die einzelnen Institute und Universitäten kooperierten miteinander; prägnante Namen wie Kaiser-Wilhelm-Institut 19 oder Universitätsklinik Leipzig waren bekannt für ihre Hirnforschungen. Selbstverständlich war dabei der finanzielle Nutzen nicht zu unterschätzen. Niedergelassene Hebammen bekamen zusätzlich pro Meldung eines missgestalteten Neugeborenen zwei Reichsmark als Honorar (Aly, 2013, S. 109).

Um für erbgesunden arischen Nachwuchs zu sorgen, wurde seitens des Nazi-Regimes beziehungsweise dessen Ärzteteams anhand des Erfassungsbogens versucht, die „einschlägigen Fälle“ (Aly, 2012, S. 241) frühzeitig zu erfassen. Die Diagnose war somit Hauptindikator auf jenen Bögen. Berichte von Kindern mit Idiotie, Mongolismus (Down- Syndrom), Epilepsie, Schwachsinnigkeit oder Paralyse führten aufgrund der zahlreichen Pfleglinge schon damals zur Ausführung der Pränataldiagnostik (Aly, 2012). Binding war überhaupt der Meinung, und Hoche schloss sich an, „dass er weder vom rechtlichen noch vom sozialen, noch vom religiösen Standpunkt schlechterdings keinen Grund sieht, diese Menschenleben freizugeben, die das furchtbare Gegenbild eines Menschen bilden“ (Klee

19 Nach Kriegsende (1945) wurde das Institut nicht weitergeführt. Nur die in Berlin verbliebene Abteilung für experimentelle Erbpathologie wurde 1953 als Max-Planck-Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in die Max-Planck-Gesellschaft übernommen.

25 zitiert nach Binding und Hoche, 2010 S. 32). Hier wurde die Haltung und Erwartung, die die Mediziner in die Forschung steckten, ziemlich offensichtlich. In ihrem fanatischen Gedankengut ging es hauptsächlich um die Ausbeutung der Euthanasie-Opfer. Die toten Körper wurden geplündert und missbraucht, um für die Humanwissenschaften dienlich zu sein.

Wie schon einige Male angesprochen, begann die Vernichtung unwerten Lebens vor der eigentlichen T4-Aktion und – wie ebenfalls bereits erwähnt – gab dazu der Fall Kind K. den Anlass, die Kindereuthanasie einzusetzen, die in weiterer Folge zur Erwachsenen- Euthanasie führte. Offiziell ist dies mit einem Runderlass des Reichsministeriums vom 18.08.1939 zu belegen. Das dementsprechende Schriftstück, das an alle Hebammen, Ärzte und Gesundheitsämter verschickt wurde, war mit der Anmerkung „streng vertraulich“ (Sandner, 2003, S. 635) gekennzeichnet. In dem Schreiben wurde an die Genannten appelliert, schwer behinderte und missgestaltete Kinder dem Reichsausschuss zu melden. Dieser Reichsausschuss formierte sich aus den drei Gutachtern Werner Catel, Hans Heinze und Ernst Wentzler; verstärkt wurden sie durch die Euthanasie-Beauftragten Viktor Brack, Karl Brandt und Philipp Bouhler. Ihnen zur Seite standen Hellmuth Unger, Hans Hefelmann und Herbert von Linden, wobei die beiden letzteren ihre Aufgaben als Beamte im administrativen Bereich zu versehen hatten. Der Runderlass, der an alle Landesregierungen und notwendigen Institutionen erging, hatte zum Inhalt, dass „ [z]ur Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiete der angeborenen Missbildung und der geistigen Unterentwicklung eine möglichst frühzeitige Erfassung der einschlägigen Fälle notwendig [sei]“ (Runderlass des RMdI vom 18.08.1939, S.1). Als einschlägige Fälle wurden solche Fälle / Kinder bezeichnet, die an - Idotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind) - Mikrocephalio20 - Hydrocephalus schweren beziehungsweise fortschreitenden Grades - Missbildungen jeder Art, besonders Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule und so weiter - Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung21 litten.

20 Dabei handelte es sich um die sogenannten Schwachsinnigen mit einer neurologische Ausfallserscheinung (Gütt, S. 82, 1937). 21 Bei der Littlescher Erkrankung handelt es sich um eine von Geburt an bestehende Kinderlähmung (Gütt, 1937). 26

Die Meldung erfasste ursprünglich nur Kinder bis zum dritten Lebensjahr. Doch nach dem offiziellen Aus des Euthanasie-Programmes wurde diese Altersgrenze drastisch hinaufgesetzt. Der Amtsarzt war dazu verpflichtet, die an ihn weitergeleiteten Meldungen zu überprüfen. Dieser Passus wurde eigens im Runderlass als Punkt 8 angeführt (Benzenhöfer, 2000). Fakt ist jedoch, dass das nicht geschehen ist, sondern unbekümmert ohne irgendwelchen Kontrollen Meldungen an den Reichsausschuss weitergeleitet wurden (Klee, 2007). Die Meldungen erhielten zuerst Hefelmann 22 und Hegener 23, die sie dann an die „Sachkenner auf dem in Frage kommenden medizinischen Spezialgebiet“ (Schreiben des RMdI vom 20.09.1941, S. 2) – Catel, Heinze und Wentzel – übermittelten. Deren Entscheidung war ausschlaggebend, ob nun ein Kind überlebte oder nicht. Das System ähnelte dem der Erwachsenen-Euthanasie – und zwar wurde auch hier mit den Symbolen Plus und Minus gearbeitet. Dies vollzog sich so, dass bei einem einstimmigen Beschluss zur Behandlung, das jeweilige Kind getötet wurde. Zuvor kamen die Betroffenen in eigene Kinderfachabteilungen. Zusätzlich wurde angeraten, den Eltern zu sagen, dass

„durch eine rechtzeitige Anstaltsunterbringung ihnen und dem Kind am besten gedient sei, dass eine Anstaltsunterbringung später doch notwendig werde, dass bei Verweigerung der Anstaltsunterbringung gegebenenfalls für sie oder für das Kind später wirtschaftliche Belastungen eintreten können, so dass unter Umständen geprüft werden müsse, ob nicht in der Zurückweisung des Angebots eine Überschreitung des Sorgerechts zu erblicken ist“ (Schreiben des RMdI vom 20.09.1941, S. 3).

Mit welcher Problematik die Eltern hier zu kämpfen hatten, lässt sich wohl kaum nachvollziehen; einerseits die Gewissheit, ein behindertes Kind zu haben, andererseits dann auch noch erfahren zu müssen, dass man als Eltern eines erbkranken Kindes sämtliche finanzielle Unterstützungen seitens des Staates verliert. Solche Schicksalsschläge bedeuteten einen enormen psychischen Druck für alle Beteiligten. Dass einige der Angehörigen aufgrund einer derartigen prekären Situation der Empfehlung zustimmten, die Kinder der Obhut der vorgeschlagenen Institute anzuvertrauen, ist nachvollziehbar. Den Angehörigen wurde ein Gesundheitssystem angeboten, das sie automatisch unter Druck setzte, aber dafür einen finanziellen Nutzen brachte. Um das Sorgerecht nicht zu verlieren, befürworteten einige die Möglichkeit zur Einweisung der Kinder. Götz Aly (2013) meinte dazu, dass die Hauptverantwortlichkeit bei den Anverwandten zu suchen sei. Ernst Klee (2010) verwies

22 Hans Hefelmann trat stark hervor, indem er für den Gnadentod eintrat; nach dem Krieg kam er mit Hilfe der Caritas, des Internationalen Roten Kreuzes und der französischen Besatzung nach Buenos Aires (Grunenberg, 1964) 23 Richard von Hegener „war einer der Hauptverantwortlichen für den tausendfachen Mord an behinderten Kindern und hatte die organisatorischen Vorraussetzungen zur Ermordung kranker Erwachsener im Rahmen der Euthanasie-Aktion mitgeschaffen“ (Vandenhoeck und Ruprecht, 2011, S. 332). 27 diesbezüglich auf Hirnforschungen von Professor Julius Hallervorden, der für das Kaiser- Wilhelm-Institut in Berlin tätig war. Um seine Hirnforschungen ausführen zu können, wurden Hallervorden hunderte Hirne durch die Gekrat geliefert. Dieser drückte seinen Dank dafür aus und wusste in weiterer Folge seine Kontakte zur Euthanasie-Zentrale zweckmäßig auszuschöpfen un sich Zugang zu den Krankenakten von ermordeten PatientInnen zu verschaffen. Hallervorden konnte so aus den übermittelten Akten die für ihn interessanten Fälle auswählen und die entsprechenden Präparate sezieren. Die Leiterin der Nervenklinik am Kaiser-Wilhelm-Institut, Dr. Gertrude Soeken, schrieb im Dezember 1942 diesbezüglich an den T4-Pädiators Ernst Wentzler, dass es ihr

„[a]n Kranken […] nicht fehlen [werde], da [mich] der Reichsausschuß für die wissen- chaftliche Erforschung schwerer erblicher Leiden […] zur Mitarbeit aufgefordert hat und mir Fälle zuweist. Ich habe vorgeschlagen, mir in erster Linie neurologische Erkrankungen zuzuweisen und hoffe, so trotz Krieg meine Arbeiten weiter fördern zu können“ (Brief Soeken an Vogt vom 30.12.1942, BA NS-51/242).

Es war ein standardisiertes Verfahren, nach denen Mediziner und Wissenschaftler arbeiteten. Der Betrieb hatte nicht nur während der NS-Zeit Bestand, sondern auch noch danach (Klee, 2010). Diesem abartigen Habitus fielen speziell Kinder zum Opfer, damit Ärzte ihrem Eifer und Ehrgeiz nach wissenschaftlicher Anerkennung gerecht wurden. Die Beurteilungen unterlagen in etwa demselben Prozedere wie die der Erwachsenen-Euthanasie; die Symbolvermerke entschieden über das weitere Schicksal, ein Plus oder ein Minus war ausschlaggebend über Leben oder Tod von zahllosen Kindern. Entscheidend war dafür der einstimmige Entschluss zur Behandlung, was die sofortige Einweisung in die dafür bestimmten Kinderfachabteilungen bedeutete. Im Grunde genomme war diese Begutachtunge "eine Farce" (ebd., S. 339). Denn die Kinder wurden nach der Begutachtung zur Tötung sowieso dem Reichsausschuss gemeldet. Die Entscheidung darüber trafen die "Nichtmediziner Hans Hefelmann und von Hegener" (ebd.). Den Kinderfachabteilungen genügte ein Standardschreiben, das zur Tötung ermächtigte (ebd.).

Ein "in Anlehnung an Binding und Hoche verfasstes Gesetz vom 6.7.1940, das die Sterbehilfe bei Schwerstkranken (Krebs) wie die Ermordung der Unbrauchbaren regelt, wird mit Irmfried Eberls Stellungnahme belegt:

Das Wort ‘Sterbehilfe‘ ist ungewohnt, wird aber zweifellos durch das Gesetz den entsprechenden Inhalt bekommen. Die Abgrenzung der vom Gesetz zu erfassenden Fälle ist im § 1 klar. Im § 2 würden darunter fallen: sämtliche Schizophrenen, soweit sie zu keiner oder nur mechanischen Beschäftigung fähig sind; sämtliche Schwachsinnigen, die zu einer 28

produktiven Tätigkeit, auch in der Anstalt, nicht mehr fähig sind; sämtliche Luetisch-Kranken, bei denen der Prozeß soweit fortgeschritten ist, daß sie ebenfalls zu einer produktiven Arbeit nicht mehr fähig sind; sämtliche Epileptiker, die entweder gehäufte Anfälle haben oder deutliche Wesensänderungen zeigen; sämtliche Fälle von seniler Demenz, die erheblich unsauber sind und außerdem der dauernden Verwahrung in einer Heil- und Pflegeanstalt bedürfen und nicht in jüngeren Jahren besondere Leistungen für Volk und Reich vollbracht haben; außerdem alle übrigen geistigen Störungen, die zu einer produktiven Tätigkeit nicht geeignet sind“ (Klee, 2010, S.205)

Die produktive Tätigkeit wurde so definiert, dass die betreffende Person nicht in der Lage sei, mechanische Arbeiten auszuführen, wohl aber in der Landwirtschaft mitzuarbeiten im Stande sei. Sollten sie zu wenig Leistungen vollbringen, wären sie wiederum in einen der oben genannten Punkte miteinzubeziehen (ebd.).

29

3 Landeskrankenhaus Klagenfurt

Etwas nördlich des Klagenfurter Stadtzentrums befindet sich im Stadtteil Feschnig das Kärntner Landeskrankenhaus. Dieses wurde in den letzten Jahren ständig erneuert und ausgebaut, so dass es heute zu einem der modernsten Krankenhäuser in Kärnten zählt. Die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, deren Haupthaus bereits seit 1877 besteht, ist die älteste und auch größte Abteilung des Klagenfurter Krankenhauses (KABEG, 2012). Besucht man das Klinikum heute, so fällt auf, dass die meisten Gebäude komplett neu errichtet bzw. saniert wurden. Auf den ersten Blick erinnert nur mehr wenig an das für damalige Verhältnisse höchst moderne Pavillonsystem, das im Zeitraum vom 14.07.1894 bis zum 29.08.1896 nach den Plänen des Architekten Kuno Waidmann errichtet wurde. Sichtbare Ausnahme bildet der Psychiatriekomplex, welcher seit seiner Errichtung im 19. Jahrhundert anscheinend nur notdürftig erneuert wurde (Posch, 1987).

3.1 Historischer Abriss

Pfleglinge, die in den Jahren 1822 - 1865 im damaligen Irrenhaus in Klagenfurt untergebracht waren, mussten unter äußerst desolaten Verhältnissen leben. Lange galt die gemeinsame Unterbringung von Geisteskranken und Verbrechern in sogenannten Zuchthäusern als allgemein anerkannter sozialmedizinischer Usus. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts verschwand diese Form der Anstaltspflege jedoch auch aus den Klagenfurter Einrichtungen, was aber nicht unbedingt mit erheblichen Verbesserungen der Pflegesituation einherging. Bis zur Errichtung der Irrenanstalt wurden PsychiatriepatientInnen mit Armen, Kranken, Siechen und Waisen in den Allgemeinen Versorgungsanstalten zusammengefasst. Die Nachwehen des jahrhundertelang vorherrschenden Gedankens, Geisteskranke müssten ebenso verwahrt werden wie Kriminelle, dürften zu dieser Zeit noch besonders spürbar gewesen sein. Nur so ist es zu erklären, dass die Pfleglinge des Irrenhauses bei Nacht in sogenannten Zellen eingesperrt wurden (ebd.).

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Abbildung 1: „Zelle“ der Klagenfurter Irrenanstalt (ohne Datum), Quelle: http://kaernten.orf.at/radio/stories/2550996/

Der Mangel an geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten und die ständige Zunahme an psychisch Erkrankten veranlassten den Kärntner Landtag schließlich dazu, dem Bau einer eigenen Landes-Irrenanstalt statt zu geben. Der zuständige Architekt – Professor Bäumer – zeichnete die Pläne für die noch heute bestehende psychiatrische Anstalt auf den Gründen der St. Veiter Vorstadt südlich der Glan. Um 1900 wurde der Platzmangel in der 1877 eröffneten Irrenanstalt jedoch wieder besonders akut. Noch immer wurden die PsychiatriepatientInnen mit alten Menschen oder unheilbar Kranken zusammen behandelt. Kuno Waidmann, der bereits für den Bau des Klagenfurter Krankenhauses verantwortlich zeichnete, wurde mit der Errichtung einer Irren-Siechen-Anstalt beauftragt. Es waren nicht humanitäre Gründe, die zu diesem Entschluss führten, sondern vor allem wirtschaftlich-rationale Überlegungen. Ein Vergleich mit der Irren-Siechenanstalt in der Steiermark hatte zuvor gezeigt, dass die PatientInnen einer Siechenanstalt um 40% billiger verpflegt werden konnten. Um eine langfristige finanzielle Entlastung für die Gemeinden und das Land zu erreichen, wurde 1895 der Bau der Irren-Siechenanstalt genehmigt und bereits 1896 fertiggestellt (Posch, 1987).

Das gleiche Schicksal, das bereits das Irrenhaus ereilt hatte, traf nur wenige Jahre nach seiner Erbauung auch das Allgemeine Krankenhaus Klagenfurt. Ebenfalls kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, war das Allgemeine Krankenhaus, das auf den angrenzenden Grundstücken zur Irrenanstalt lag, in einem äußerst bedenklichen

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Zustand. Es war nicht nur der rasante wissenschaftliche Fortschritt, der die Zuständigen am Krankenhaus verzweifeln ließ. Vielmehr gaben die demographischen Entwicklungen Kärntens allen Grund zur Beunruhigung (Posch, 1987).

Obwohl sich die Pavillons des Allgemeinen Krankenhauses auf eine insgesamt 8.300 m² große und verbaute Fläche verteilten, waren die Zimmer und Stationen bald überfüllt. Die Klagenfurter Bevölkerung war innerhalb der vorangegangenen 20 Jahre um 83% gewachsen, was auch einen enormen Anstieg an Verpflegstagen bedeutete. Das Krankenhaus musste dringend ausgebaut werden; aufgrund chronischen Geldmangels konnten jedoch immer nur provisorische und besonders dringliche Maßnahmen umgesetzt werden (ebd.). Vor allem während des Ersten Weltkriegs war die Situation am Allgemeinen Krankenhaus Klagenfurt äußerst prekär und an einen ordnungsgemäßen Betrieb war nicht zu denken. Ab 1917 herrschten katastrophale Zustände, die zu Lebensmittelknappheiten und sogar zu einer achttägigen Einstellung der Heizungsanlagen führten. Etwas besser erging es dem 1913 errichteten Siechenhaus, das ebenfalls am Areal des heutigen Landeskrankenhauses angesiedelt wurde, da es nicht aus Landesmitteln finanziert wurde, sondern Unterstützung durch eine private Stiftung erhielt (ebd.).24 Während die Zwischenkriegszeit und die Jahre der NS-Herrschaft für das Allgemeine Krankenhaus vor allem wirtschaftliche Einschnitte mit sich brachten, bekamen insbesondere die Landes-Irren- und die Landes-Siechen-Anstalt die verheerenden Auswirkungen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik auf das Heil- und Pflegewesen zu spüren.

Am 01.05.1939 trat das Gesetz über den Aufbau der Verwaltung in der (Ostmarkgesetz) in Kraft. Seit dem an das Altreich war Kärnten – bis zum oben genannten Gesetzeserlass – lediglich ein Parteigau der NSDAP gewesen. Erst durch diesen Beschluss wurde Kärnten zu einem , der als eine eigenständige staatliche Verwaltungsbehörde mit Selbstverwaltungskörperschaften agierte (Ostmarkgesetz vom 14.04.1939). Als Gauleiter bekleidete bis zum 12.02.1939 das höchste Amt Kärntens, nach seinem Tod übernahm kurzzeitig die Geschäfte; auf ihn folgte 1941 Dr. . Durch das Ostmarkgesetz konnte der jeweilige Gauleiter, der somit eine offizielle NSDAP-Funktion bekleidete, gleichzeitig auch die Position des – vergleichbar mit dem heutigen Landeshauptmann – einnehmen. Dies war

24 Verwaltungstechnisch war das Siechenhaus mit den Landes-Wohltätigkeits-Anstalten, zu denen auch das Allgemeine Krankenhaus gehörte, verbunden (Posch 1991). 32 keineswegs ein Kärntnerisches Unikum, sondern Teil der typischen NS- Organisationsstrukturen, die die Herstellung einer Einheit aus Staat und Partei forcierten (Posch, 1987). Die Aufgaben, die dem 1942 nach Kärnten versetzten Dr. Rainer als Gauleiter und übertragen wurden, galten vor allem der Bekämpfung von Volkskrankheiten und der Bearbeitung von Angelegenheiten der Krankenanstalten. In diesem Sinne bekleideten die Gauleiter der NSDAP auch wichtige Positionen im Gesundheitsbereich, welcher dadurch komplett der nationalsozialistischen Doktrin zum Opfer fiel (ebd.).

Dr. Wladimir von Pawlowski war einige Zeit als Stellvertreter des für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich tätig. Die zu Beginn der Verwaltungsübernahme der besetzten Ostgebiete eingesetzten ranghöchsten Beamten wurden als Reichskommissare bezeichnet, wobei diese Betitelung vor allem in Hinblick auf die erfolgreiche Wiedervereinigung, welche mit 1940 als abgeschlossen galt, an Bedeutung verlor, und die Position des Reichskommissars aufgelöst und seine Aufgaben an den Reichsstatthalter bzw. Gauleiter von Wien übertragen wurden (ebd.). Interessant ist jedoch, dass Wladimir von Pawlowski in seiner Funktion als Stellvertreter des Reichskommissariats bereits 1938 auf die desolaten Zustände25 im Krankenhaus Klagenfurt hinwies. Er beschrieb dies sehr ausführlich in seinem Aufholprogramm vom 26.11.1939 und vermerkte, dass mindestens 730.800 RM benötigt werden würden, um den aller- notwendigsten Bedarf zu stillen. Ferner würde nur ein Neubau Sinn machen. Obwohl sein Bericht eher einem dringlichen Aktionsplan glich, ließ sich das Reichsinnenministerium scheinbar nicht davon beeindrucken und stellte die erforderlichen Mittel nicht bereit (ebd.).

Während das ganze Krankenhaus von den Wirren des Krieges erfasst wurde, waren es jedoch insbesondere die Siechen- und Irrenanstalt, die in den Fokus der NS-Maschinerie gerieten. Die zentralgesteuerte T4-Aktion, die bereits seit dem 01.09.1939 in den Anstalten Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim, Bernburg und Sonnenstein durchgeführt wurde, erfasste 1940 auch das recht peripher gelegene Klinikum Klagenfurt. Laut Angaben von Dr. Arthur Kuhn, einer der wenigen Ärzte, die trotz Anfrage durch die Zentraldienststelle T4 die Euthanasie ablehnten, traf er bereits im August 1940 auf einer Sitzung, bei welcher

25 Unter anderem kritisierte er den Mangel an notwendigen hygienischen Maßnahmen wie auch den akuten Platzmangel, der mitunter bereits dazu geführt hatte, dass sich mehrere Kinder ein Bett teilen mussten. 33

Fragen der Euthanasie diskutiert wurden, Dr. Kurt Meusburger, Direktor der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Klagenfurt (Posch, 1987).26

3.2 Euthanasie am Landeskrankenhaus

Fakt ist, dass irgendwann zwischen 1940 und 1941 – das genaue Datum kann nicht rekonstruiert werden – eine Kommission des Altreichs, bestehend aus 5 Personen, mit der Begründung diverse Erhebungen durchzuführen, nach Klagenfurt kam. Diese Kommission kündigte Dr. Meusburger bereits im Sommer 1940 an und teilte Dr. Franz Niedermoser mit, dass die Kommission dazu diente, den hohen Bettenstand in der Anstalt zu reduzieren. In seiner Gerichtsaussage gab Niedermoser zu Protokoll, dass von Seiten der Kommission Fragebögen zu den einzelnen PatientInnen aufgrund von Krankengeschichten ausgefüllt wurden. Wenige Wochen darauf teilte Dr. Schmid-Sachsenstamm27, der bis 1942 Direktor der Anstalt war, Niedermoser mit, dass eine bestimmte Anzahl von Pfleglingen, die alle auf einer Liste angeführt seien, abgeholt werden würden. Im Zuge des Prozesses gab Niedermoser an, dass er erst auf Nachfragen von Angehörigen hin zur Vermutung kam, dass die Abtransporte ausschließlich mit darauffolgender Tötungsabsicht erfolgten. Unabhängig von der Glaubwürdigkeit Niedermosers sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass insgesamt 4 solcher Verschickungen stattfanden, wobei die Gesamtzahl der Deportierten laut Herwig Oberlerchner und Helge Stromberger 739 betrug. Von diesen 739 stammten rund 600 Personen aus der psychiatrischen Abteilung, 100 aus dem Siechenhaus und die restlichen Opfer kamen aus weiteren Kärntner Anstalten (Stromberger und Oberlerchner, 2011). Neueren Recherchen zufolge und nach gerichtlichen Angaben von Dr. Niedermoser fuhr dieser 1941 selbst nach Berlin, um sich auf Anraten von Dr. Schmid-Sachsenstamm (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45) über die dezentralen Euthanasiemaßnahen zu informieren (Stromberger und Oberlerchner, 2011). 1942 besuchte der Reichsgesundheitsführer – Dr. Conti – Klagenfurt und gab Dr. Meusburger zu verstehen, dass man bei unheilbar Kranken „mit Morphium nicht sparen“ (Gerichtsakt Niedermoser- Prozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45, 49) solle.

26 Kuhn zufolge hätte sich Dr. Meusburger auch gegen die Durchführung der Euthanasie ausgesprochen. Diverse Recherchearbeiten für diese Masterarbeit können diese Annahme jedoch nicht stützen, weshalb die Rolle, die Dr. Meusburger für die Euthanasiemorde spielte, an dieser Stelle nicht geklärt werden kann (Posch, 1987). 27 Schmid-Sachsenstamm beging kurz vor Kriegsende 1945 Selbstmord. Von 1938-1942 war er als Direktor an der Heil- und Pflegeanstalt Klagenfurt tätig, 1942 übernahm er die Position des Gauamtsleiters für Volksgesundheit und wurde zugleich zum Gauärzteführer ernannt (Posch, 1987). 34

Dr. Niedermoser, der in Personalunion als Primararzt der Irrenanstalt und als Hausarzt der Siechenanstalt tätig war, sagte im Zuge des Prozesses aus, dass er von Dir. Schmid- Sachsenstamm den Auftrag bekommen habe, „in geeigneten Fällen das Leben abzukürzen oder so ähnlich“ (Posch, 1987, S. 57). In Folge wurde Niedermoser die Aufgabe zuteil, Pflegepersonen auszuwählen, die sich bereit erklärten, an der Euthanasie mitzuwirken. Da die MitarbeiterInnen an der Siechenanstalt weitaus bereitwilliger waren, Tötungsaufträge durchzuführen als an der Irrenanstalt, veranlasste Niedermoser als bald die Verlegung zu behandelnder PatientInnen in das Hinterhaus der Geriatrie. Dort wurde den Pfleglingen Beruhigungsmittel (Somnifen oder Morphium) in Überdosis verabreicht. Sie starben daher nicht sofort, sondern meist erst einige Tage später aufgrund von Lungeninfekten oder anderen Krankheiten, die für Außenstehende einen natürlichen Tod vermuten ließen (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45).28 Besonders betroffen machen jedoch die Aussagen zu den routinemäßigen Abläufen im Hinterhaus, die mit dem Bad der Pfleglinge begannen und mit der Tötung dieser endeten. Insbesondere die Angaben der Bedienerin Ilse Printschler zeichnen ein äußerst entsetzliches Bild über den Tötungsalltag in der Klagenfurter Anstalt. Printschler beharrte zu Beginn ihrer Aussage noch darauf, nicht gewusst zu haben, wozu die Pfleglinge gebadet werden mussten, verstrickte sich alsbald jedoch in Widersprüche. Auch den wahren Hintergrund der sogenannten Wäschekammer, die als Tötungsraum verwendet wurde, wollte sie nicht gewusst haben. Relativ schnell wich jedoch ihre vermeintliche Ahnungslosigkeit: „Bevor sie in die Wäschekammer kamen, wurden sie gebadet, das war immer so“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45, S. 19). Wenig später fügte sie noch hinzu: „Ich habe bereits gewußt, was das zu bedeuten hat, wenn jemand in die Wäschekammer kommt, daß er getötet werden soll“ (ebd., S. 20). Der verwaltungstechnische Ablauf war so gestaltet, dass aufgrund der Krankengeschichten Fragebögen ausgefüllt wurden, die von Meusburger bzw. Schmid-Sachsenstamm gezeichnet und nach Berlin geschickt wurden. Einige Wochen darauf kamen die „Behandlungsaufträge“ von Berlin zurück, aufgrund derer Dr. Niedermoser die Anweisungen zur Tötung gab (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45).29

28 Dr. Richard Paltauf, der als Prosektor die Leichname der Toten untersuchte, war in die Vorkommnisse insofern eingeweiht, als dass er wusste, dass Obduktionszettel, die einen Knick hatten, auf Euthanasieopfer schließen ließen (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45). 29 Diese Anweisungen gab er niemals direkt, sondern durch entsprechende Gesten (Berühren des Kopfpolsters) und Anmerkungen wie „hier können Sie noch etwas nachhelfen“ (Posch,1991, S. 58). 35

Ottilie Schellander sagte 1946 aus, dass sie die ersten Tötungsaufträge im Jahr 1942 von Dr. Niedermoser erhalten hätte, diese Aussage wurde unter anderem auch von der Pflegerin Maria Cholawa bestätigt (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45). Zusammengerechnet mit den Opfern der 4 Tötungstransporte nach Hartheim bzw. Brandenburg wurden zwischen 1940 und 1945 insgesamt 1.350 Menschen von den PflegerInnen des Gaukrankenhauses ermordet bzw. in den Tod geschickt.30

Im Zuge der zwei Euthanasieprozesse des Jahres 1946 wurden von den insgesamt 15 Angeklagten, die als Personal an der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Klagenfurt tätig waren, 4 zum Tode verurteilt. Lediglich das Urteil gegen Dr. Franz Niedermoser wurde am 16.11.1946 tatsächlich vollstreckt (Stromberger und Oberlerchner, 2011).31 Die Frage, die im Zuge dieses Gerichtsprozesses logischerweise – unter dem Aspekt der rein juristischen Aufarbeitung – nicht geklärt werden konnte, ist, wie es möglich war, dass ein Großteil des medizinischen Personals am Klagenfurter Krankenhaus scheinbar moralisch problemlos das nationalsozialistische Euthanasie-Programm umsetzte.

Vorboten und „Wegbegleiter“ der Euthanasie Entsprechend dem Umfang einer Masterarbeit ist es nicht möglich, alle Aspekte, die sich möglicherweise auf die Bereitschaft zur Teilnahme an und zur Umsetzung der ideologisch gefärbten NS-Gesundheitspolitik auswirkten, auszuarbeiten und zu analysieren. Unumgänglich ist es jedoch, bestimmte gesamtgesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen aufzuzeigen, die den Pflege- und Medizinbereich maßgeblich beeinflussten.

Allgemein wird meist davon ausgegangen, dass mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten große Umstrukturierungen und Neuerungen im Gesundheitsbereich durchgeführt wurden. Die rassisch und erbbiologisch geprägte NS-Ideologie führte natürlich zu einem Gesundheitssystem, das von Totalitarismus und einem einseitig geprägten Weltbild gekennzeichnet war. Die ersten Strukturen, die es dem Nationalsozialismus ermöglichten, sich derart schnell in die vorherrschende Medizinpraxis zu integrieren, wurden jedoch schon Jahre

30 Die hier genannte Anzahl von rund 1.350 Opfern stammt aus einer nicht veröffentlichten Namensliste des Sozialwissenschaftlers Helge Stromberger. Dieser hat all jene Personen angeführt, die aufgrund von Gerichtsakten, PatientInnen- und Krankenakten, Transportlisten und Sterbebüchern als Euthanasie-Opfer bezeichnet werden können. 31 Die ebenfalls zum Tode verurteilten Ottilie Schellander und Antonie Pachner wurden am 15.11.1946 vom Bundespräsidenten begnadigt. Ein von Dr. Niedermoser eingebrachtes Gnadengesuch wurde abgelehnt. Der ehemalige Oberpfleger der Landes-Irrenanstalt – Eduard Brandstätter – beging Selbstmord (Fürstler & Malina, 2004). 36 zuvor aufgebaut. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte eine Zeit der großen Depression, die vor allem Krankheiten, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und chronische Mangelernährung mit sich brachte. Erhebliche Kürzungen und Einsparungen im Gesundheitssektor waren die Folge und trafen nach 1934 auch die Pflege- und Krankenschulen besonders hart (Fürstler und Malina, 2004). Bereits zu dieser Zeit wurde immer wieder die Frage nach dem Wert eines Menschen und seiner Brauchbarkeit für die Gemeinschaft diskutiert, was sich schließlich in besonderem Maße auf den Sozial- und Gesundheitsbereich auswirkte. Mit dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ (GVG) am 01.11.1938 wurde die Wohlfahrtspflege in Österreich zum Werkzeug nationalsozialistischer Volksideologie. Durch die mit diesem Gesetz geschaffene rechtliche Grundlage sollte sichergestellt werden, dass auch in Österreich die Fürsorge nationalsozialistisch ausgerichtet werde. Für die erfolgreiche Umsetzung dieser Rechtsnorm wurde in erster Linie auf FürsorgerInnen zurückgegriffen, die dem Prinzip der Einheitsfürsorge32 zu folgen hatten (Czech, 2002). Auch die Gesundheits- und Jugendämter sowie die geschlossenen Anstalten wurden für den nationalsozialistischen Traum von der Entschwächung des Volkskörpers instrumentalisiert (Malina, 2007). Als eigenständiger Teil der NSDAP agierte dabei die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt), die große Bereiche in der Wohlfahrtspflege und in der Jugendhilfe kontrollierte. Im Zuge des Klagenfurter Euthanasieprozesses erklärten die Angeklagten wie Eduard Brandstätter, Ilse Printschler, Gottfriede Melichen, Maria Binder oder auch Ottilie Schellander, dass sie Mitglied der NSV waren. Brandstätter wie auch Melichen sagten jedoch aus, dass sie der NSDAP äußerst ablehnend gegenüber standen (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45). Es kann nicht rekonstruiert werden, inwiefern diese Äußerungen wirklich den ideellen Überzeugungen der beiden Pfleger entsprachen, aufgrund der strukturellen Bedingtheiten ist jedoch klar festzuhalten, dass die NSV als eine Parteiorganisation der NSDAP agierte. Dies lässt sich auch anhand eines Schreibens zeigen, das die NSDAP Kreisleitung in Klagenfurt von Seiten der Kärntner Reichsstatthalterei erhielt. In diesem wurde den Zuständigen der NSDAP mitgeteilt, dass es in politischer Hinsicht für die in Folge genannten PflegerInnen keinerlei politische Bedenken für die Ausübung der Krankenpflege gäbe (Schreiben an die Kreisleitung der NSDAP in Klagenfurt vom 10.10.1940, Aktenzahl: III a 301/1/40). Dass sie die Euthanasie nicht nur befürworteten, sondernd auch in die Tat umsetzten, erklärten die Angeklagten einerseits mit blindem

32 Erzieherische, wirtschaftliche wie auch gesundheitliche Belange sollten im Bedarfsfall allesamt einer einzig zuständigen Fürsorgerin überantwortet werden (Czech, 2002). 37

Parteigehorsam und falscher Pflichterfüllung sowie mit der Angst vor möglichen Konsequenzen. Ottilie Schellander erwähnte beispielsweise, dass sie von Dr. Schmid- Sachsenstamm bereits als „Volksschädling“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45, S. 43) bezeichnet worden wäre. Mehrere der ehemaligen PflegerInnen sagten auch aus, dass Ihnen bei Ungehorsam des Öfteren mit Dachau gedroht worden wäre (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45).33 Niedermoser selbst gab an, der nationalsozialistischen Doktrin nur deshalb gefolgt zu sein, weil er hoffte, „unser Volk aus den schweren Folgen des 1. Weltkrieges herauszubringen“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45, S. 50).

Neben der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, die in alle Gesellschaftsbereiche Einzug gefunden hatte, war es vor allem die Kriegssituation, die das Klagenfurter Krankenhauspersonal vor eine zusätzliche Herausforderung stellte. Wie aus mehreren Originaldokumenten hervorgeht, gab es vor allem an der Siechenanstalt ein Gros an unausgebildeten PflegerInnen, die aufgrund des akuten Personalmangels für die alltäglichen Krankenhausarbeiten herangezogen wurden (Schreiben an die NSDAP Gauleitung Kärnten zu Handen des Gauamtsleiters Dr. Schmid-Sachsenstamm vom 06.05.1942).34 Ab 1944 wurde Klagenfurt zum Ziel alliierter Bombenangriffe. Lange Zeit galt Kärnten als Luftschutzkeller des Deutschen , der von Fliegerangriffen verschont blieb. Die Errichtung von Rüstungsbetrieben und die zwischenzeitliche Stationierung einer geheimen Staatseinheit in den Baracken der Klagenfurter Anstalt führten schließlich dazu, dass Klagenfurt und insbesondere auch das dortige Krankenhaus Ziel der insgesamt 46 Bombenangriffe des Jahres 1944 wurden. Dabei wurden rund 50% aller Klagenfurter Häuser beschädigt oder zerstört und auch Teile des Krankenhauses waren betroffen. Die schweren Schäden an der Heil- und Pflegeanstalt veranlassten die Reichsärztekammer, unter anderem die Kinderabteilung und die Infektionsabteilung in andere Gebäude zu verlegen. Aufgrund der größtenteils zerstörten Verkehrswege konnte eine geregelte Wasserversorgung nicht gewährleistet werden. Neben der unregelmäßigen Lebensmittelanlieferung konnte auch die Versorgung der Pfleglinge mit frischer Wäsche kaum mehr aufrechterhalten werden (Posch, 1987).

33 Maria Cholawa hingegen gab zu Protokoll, dass ihr Dr. Niedermoser zu keinster Zeit mit Nachteilen bei Nichtausführung der Euthanasie-Befehle gedroht hätte (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45, S. 30). Auch als sich Josefine Messner weigerte, an sie delegierte Tötungsaufträge durchzuführen, blieb sie gänzlich „unbestraft“ (Fürstler u. Malina, 2004). 34 Aus einer Aufstellung vom 01.08.1944 geht hervor, dass in der Siechenanstalt lediglich eine Oberschwester tätig war, der 14 PflegerInnen und 12 WärterInnen – kaum ausgebildete Pflegekräfte – zur Verfügung standen. 38

Abbildung 2: Zerstörte Häuser nach einem Luftangriff auf Klagenfurt, Quelle: http://www.mein-klagenfurt.at/mein-klagenfurt/klagenfurt-bilder/altes-klagenfurt/klagenfurt-gestern/

Unter der ausschließlichen Berücksichtigung der Kriegssituation ist zu sagen, dass das Klagenfurter Krankenhaus besonders schlimm von den Auswirkungen des Krieges betroffen war und nicht nur mit personellen, sondern auch mit großen materiellen Ressourcenknappheiten konfrontiert war. Die Hoffnungen und Sehnsüchte, die sich aus den Wirren des 1. Weltkrieges entwickelten, dürften das ihrige dazu beigetragen haben, dass nicht nur die ideologischen, sondern auch die organisatorischen Veränderungen bereitwillig aufgenommen wurden. Inwiefern sich die Gräueltaten des Personals des Gaukrankenhauses Klagenfurt jedoch in den verheerenden Mix aus Führertreue, habitualisierter NS-Ideologie und struktureller Neuorientierung einbetten lassen, kann hier nicht näher beleuchtet werden. Wichtig ist es jedoch, einen guten Überblick über jene zeitlichen Gegebenheiten zu erhalten, um insbesondere auch die Rolle und die Person des Dr. Franz Niedermoser in den folgenden Kapiteln in ihrer zeithistorischen Vielschichtigkeit ausführlicher darstellen zu können.

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4 Euthanasie in Hartheim

Das Schloss Hartheim, ein Renaissancebau aus dem 17. Jahrhundert, liegt circa 20 km von Linz entfernt. Bereits 1898 wurde dort mit der Errichtung eines Heimes für Schwach- und Blödsinnige sowie für Cretinöse und Idioten begonnen. Anlass gab das 50-jährige Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Josef I. Für die Zuständigkeit zeichnete der Landes- Wohltätigkeitsverein und für die Betreuung die Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz von Paul verantwortlich (Kepplinger, 2008). Die Anzahl der Behinderten belief sich auf ungefähr 200 geistig und mehrfach Behinderte aus dem oberösterreichischen Raum. Das Konzept der Institution auf Basis einer selbstversorgenden Landwirtschaft rechnete sich als lukratives Geschäft, um zumindest den Betrieb aufrecht zu erhalten. Ein Teil der Kosten musste von den Angehörigen getragen werden – was sich als eine gebräuchliche Vorgangsweise herausstellte. Nachdem es sich aber beim Gros der Pfleglinge um „Armenpfleglinge“ handelte, musste die „Heimatgemeinde im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht aufkommen“ (Kepplinger, 2008, S. 64).

Als 1938 die nationalsozialistische Politik auch in Österreich Wirkung zeigte, wurden sämtliche Einrichtungen und Institutionen enteignet. Nutznießer war das nationalsozialistische Regime. Auch Verbände und Vereine hatten keine Erlaubnis zum weiteren rechtmäßigen Fortbestand und wurden aufgelöst. Seitens des Stillhaltekommissars wurde der bis zu diesem Zeitpunkt agierende Vereinsvorsitzende, Dr. Rudolf Lampl, nun zum kommissarischen Leiter des OÖLWV (Oberösterreichischer Landeswohltätigkeitsverein) bestellt. Er war für die Abwicklung des Vereinsvermögens zuständig. Dieser Abwicklungsprozess war mit 17. Mai 1938 datiert. Am 17. Feb 1939 wurde dann das gesamte Vermögen, das aus dem Oberösterreichischen Landeswohltätigkeitsverein stammte, also Schloss Hartheim und der Gutshof inklusive dem Inventar und Barvermögen, an den /Gauselbstverwaltung delegiert (Kepplinger, 2008). Für die Leitung war ursprünglich Direktor Karl Mittermayer verantwortlich, was sich jedoch mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und dem Gesetz der Überleitung änderte. Ab 1. März 1939 übernahm die Leitung die Fürsorgeabteilung der Gauselbstverwaltung und Mittermayer arbeitete als Sachverständiger im Zuge der Planungsarbeiten. Die Zahl der Pfleglinge wurde per 28.2.1939 mit 191 Personen angegeben. Ab 1939 wurde Schloss Haus bei Pregarten umgebaut, um dann in weiterer Folge die Hatheimer Pfleglinge dort unterzubringen. Die Verantwortlichen sorgten dafür, dass die Vorbereitungen für die bevorstehende Euthanasie so 40 schnell wie mögliche erledigt wurden, denn im April 1939 wurden bereits 20 Pfleglinge von Hartheim in das Stift Schlierbach überstellt (Kepplinger 2008). Nach der Renovierung von Schloss Haus sollte die Unterbringung aller Hartheimer Pfleglinge erfolgen, um dann in Hartheim mit dem Umbau beginnen zu können. Gleichzeitig liefen bereits die Vorarbeiten zur T4-Aktion. Deshalb waren alle Beteiligten bemüht, sämtliche Umstrukturierungen und organisatorische Arbeiten schnellstens zu erledigen.

Die etappenweise Einrichtung der Tötungsanstalt Hartheim verlief zeitgleich mit fünf anderen Anstalten (Sonnenstein in Pirna, Grafeneck, Brandenburg, Bernburg und Hadamar). Viktor Brack sprach sich für das sogenannte „Mordzentrum für die Ostmark, für Bayern und die Untersteiermark“ im Schloss Hartheim (ebd., S. 68) aus. Zwar hielt der Büroleiter der Euthanasieanstalt, Franz Stangl, daran fest, dass Gustav Adolf Kaufmann (ein T4- Beauftragter) für diesen Vorschlag verantwortlich gewesen sei, bestritt dies heftigst. Laut Gerichtsakten wurden Stangls Aussagen bestätigt. Rudolf Lonauer, der ärztliche Leiter und ein persönlicher Freund von Brack und Landesobmann für die erbbiologische Bestandsaufnahme in Oberdonau konnte aufgrund dieser Funktionen später die Tätigkeit als T4-Gutachter ausführen (Kepplinger, 2008). Im März 1940 traten die ersten Angestellten ihren Dienst in Hartheim an. Vor der Neu-Adaptierung bemühte sich der ehemalige Direktor der Anstalt, Karl Mittermayer, um einen Besuch seiner Pfleglinge. Er wollte sich genauere Informationen über deren Schicksale einholen, doch sein Versuch scheiterte. 1947 bei der ersten Sitzung des Landes-Wohltätigkeitsvereins äußerste er sich nachträglich dazu: „Ich gab mich wirklich der törichten Hoffnung hin, dass man in Oberdonau mit Rücksicht auf die Mentalität der streng christlichen Bevölkerung zu einer milderen Observanz hin neigen und ernstlich in diesem abgeschlossenen Winkel unsere Schwachsinnigen sozusagen den Augen der Welt entziehen wolle und deshalb das Schloss (Schloss Haus, BK) in diesem Sinn umgestalte“ (ebd., S. 69).

Für den Bereich des Personalwesens, überhaupt für die Anordnungen der Tötungsanstalten, war Gustav Adolf Kaufmann federführend. Dieser Name tauchte somit immer wieder im Zusammenhang mit der KdF auf. „Gustl“ Kaufmann bekam von Viktor Brack „Sondervollmachten übertragen und sorgte allgemein dafür, ‚dass der Betrieb ins Laufen kam‘“(Kepplinger, 2008, S. 74). Auch der Name des Hartheimer Brenners Josef Vallaster sollte sich noch als prägnant erweisen. Dem gesellten sich natürlich noch mehrere andere dazu, denn es wurde in Dreier-Gruppen in Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet. 41

Während der T4-Aktion wurden nie weniger als 600 Menschen pro Monat verbrannt (Kepplinger, S. 78). Der dortige Maurermeister Lambert erzählte unter anderem über einen Durchbruch zwischen zwei Räumen. Demnach musste eine Tür montiert werden, obwohl sich bereits eine darin befand. Solche wurden entfernt und gegen Luftschutztüren ersetzt. „Das war der Raum, der dann in Hartheim als Vergasungsraum benutzt wurde“ (ebd., S. 75). Auch an ein Guckloch wurde gedacht, welches beim Vergasungsraum angebracht war. Die Umbauarbeiten dauerten nicht länger als ungefähr vier bis fünf Wochen, es wurde demnach Anstoß gegeben, das Ganze flink und schlagartig in Betrieb zu setzen. Das beweist, dass anfänglich nur die notwendigsten Umbauarbeiten durchgeführt wurden. Einige Projekte wurden jedoch als unerlässlich angesehen. So erhielt das Fenster der Gaskammer ein Scherengitter und zusätzlich wurde von innen ein hölzerner Fensterladen angebracht. Um sämtliche Einblicke zu verhindern, wurden die „Euthanasieräume von außen mit Fensterläden oder Brettern abgedeckt“ (ebd., S. 76). Im Leichenraum wurden zunächst keine Änderungen vorgenommen, im Krematoriumsraum wurde der Verbrennungsofen aufgestellt, welcher angeblich bereits am Hauskamin angeschlossen war, so die damalige Erklärung Lamberts (Kepplinger, 2008).

Für den gesamten Verwaltungsbereich war Büroleiter Christian Wirth zuständig, der wiederum der Büroabteilung von T4 unterstand. Der begehrenswerte Posten des Büroleiters war unleugbar ein Synonym, denn dieses Amt bevollmächtigte ihn, die Tötungsanstalt nach seinem Ermessen zu leiten. Diese Leitung war dem der ärztlichen gleichzustellen. Es oblag ihm außerdem auch des Führen des Urnenbuches. Wirth erledigte den Schriftverkehr, der mit den Abgabeanstalten sowie den Angehörigen der Opfer und allen zuständigen öffentlichen Stellen notwendig war. Wegen seiner Verantwortung bezüglich der Organisation des Urnenversandes war er auch um die Geheimhaltung der gesamten Verschleierungs-Vorgänge bemüht. Die Kooperation mit T4 lief auf Hochtouren, um die Angehörigen vollends in die Irre zu führen (ebd.).

Die organisatorische Einteilung der Tötungsanstalt ergab eine Gliederung der ärztlichen und der verwaltungstechnischen Leitung. In der Causa Hartheim wurde mit 1.4.1940 der Psychiater Dr. Lonauer als ärztlicher Leiter bestellt. Lonauer führte als ärztlicher Leiter auch die - Heil und Pflegeanstalt Niedernhart in Linz, mit der Hartheim oft im Zusammenhang stand, nachdem diese als „Durchgangsanstalt“ (Kepplinger, 2008, S. 70) diente. 42

Ihm zur Seite stand stellvertretend Dr. Georg Renno, der seinen Dienst mit 1.5.1940 begann.

4.1 Dr. Georg Renno Georg Renno kam 1907 in Straßburg (im Elsass) zur Welt, von wo er und seine Familie jedoch im Jahr 1919 infolge des Krieges vertrieben wurden. Wie sich herausstellte, sollte dieses einschneidende Erlebnis entscheidend für Rennos Zukunft werden. Kohl (2000) meinte „Straßburg und das Elsaß und die wechselvolle Geschichte dieser Stadt und dieses Landes sind wahrscheinlich Angelpunkt dieser Geschichte, der Kern, der entscheidende Ausgangspunkt von Rennos Sozialisation – banal gesagt, warum er ein Nazi und Mörder wurde“. Denn augenscheinlich blieb der Hass auf die Franzosen lebenslang in Rennos Brust stecken, waren sie doch verantwortlich, dass er seine glückliche Kindheit in Strassburg aufgeben musste. „Das ging ihm 80 Jahre später noch nahe“ (Fallend, 2000, o. S.).

Die Familie Renno war ein Jahr lang auf Freunde und Verwandte angewiesen, bis sie sich im Jahr 1920 in Ludwigshafen niederließen. Georg Renno absolvierte 1920 hier seine Schulausbildung und sein Abitur, um in Heidelberg und München Medizin zu studieren. 1929 wurde er Mitglied im NS-Studentenbund (NSDStB), trat 1930 in die NSDAP ein und 1931 in die SS; Renno war unter anderem ein bemerkenwert guter Querflötenspieler in einem Spielmannszug der SS des Saarlandes (Kohl, 2000).

Im Feber 1933 erhielt Renno seine Approbation als Arzt. 1934 war er als Staffelarzt tätig und trug den Rang eines SS-Unterscharführers. Im Jahr 1935 wurde er zum SS- Untersturmführer befördert und schließlich im April 1943 zum SS-Obersturmführer. In seiner Funktion als Assistenzarzt in Leipzig besuchte Renno einen rassenhygienischen Ärztekurs am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin. Zu diesem Zeitpunkt kannte er auch schon seine spätere Frau (Heirat 1934); dieser Ehe gingen drei Kinder hervor. 1935 entschloss sich Renno für die Ausbildung zum Facharzt für Neurologie – schon ein Jahr später wurde ihm die Ernennung zum Medizinalrat zuteil sowie die Aufnahme in den Beamtenstand. Renno assistierte keinem geringeren als Prof. Hermann Paul Nitsche bei der Erprobung von Medikamenten in der Anstalt Leipzig-Dösen. Nitsche, der sich einen Bekanntheitsgrad wegen seiner resoluten Befürwortung der Rassenhygiene und Euthanasie erworben hatte, wurde dort zum neuen Direktor ernannt. Gleichzeitig war es für Nitsche der Beginn als Gutachter der T4-Aktion. Das bereits erprobte Medikament Barbiturat Luminal sollte Aufschluss geben, ob es in erhöhter Dosis als Tötungsmethode geeignet war. 43

Ab Mai 1940 begann dann Nitsches Dienst als stellvertretender Leiter der medizinischen Abteilung der T4-Zentrale – von diesem Zeitpunkt an arbeitete auch Renno, als sein Assistent, für die Euthanasie. Es war nicht zu übersehen, dass Renno von Nitsches Person und seinen medizinischen Kenntnissen (beziehungsweise Tötungsmethoden) beeindruckt war. Rennos Charakterstrukturen zeigten sich hier schon deutlich, er folgte allen Anweisungen seitens seines Vorgesetzten und setzte sich für die Euthanasierung ein. Er war an der Entwicklung des Systems zur Ermordung durch Luminal beteiligt (Kohl, 2000). Renno war somit von Anfang an in diese Tötungsmaschinerie involviert.

Am 6. Mai 1940 wurde der damals 33-jährige Renno zuerst in der Anstalt Niedernhart eingesetzt. Diese diente bald als Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim, welche sehr nahe gelegen war. Renno wurde zum stellvertretenden Leiter beider Anstalten ernannt. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich in Hartheim gegenüber den Euthanasie-Morden ein Enthusiasmus, welcher auf unverständliche Weise banalisiert, jedoch in grausamster Art vollzogen wurde. Doch nicht nur die Methode lässt erschauern, gleichwohl „die Monströsität der Anzahl der Opfer, der wir in der Übermäßigkeit kein adäquates Gefühl aufzubringen imstande sind, macht das Verständnis und die Verständigung so schwierig“ (Fallend, 2000, o. S.). Denn Renno, als stellvertretender Leiter, und auch Lonauer selbst arbeiteten in ihren hochdekorierten Positionen immens betriebsam bei ihren Vorgehen, über das Schicksal von geistig und psychisch Kranken sowie körperlich Behinderten zu bestimmen. Gleichzeitig beteiligte sich Renno an der „Selektion von kranken und arbeitsunfähigen KZ-Häftlingen in Gusen, einem Nebenlager des KZ Mauthausen“ (Schwarz P., 1999, S. 81).

Im Jahr 1942 lässt die Absurdität erstaunen, als Renno an einer Lungentuberkulose erkrankte, gerade jenem Leiden, das er dafür heranzog, um die Sterbeurkunden zu fälschen. Dieses Ereignis entmutigte ihn nicht, am Euthanasieprojekt weiterhin festzuhalten. Nach seinen Kuraufenthalten im Schwarzwald und in Davos kehrte er 1943 nach Hartheim zurück, wo bereits die Aktion 14f13 35 eingesetzt hatte. Die Aktion 14f13 wurde in zwei Phasen durchgeführt. Bei Rennos Rückkehr begann somit die zweite Phase der Sonderbehandlung 14f13. Für die Tötung im Schloss Hartheim waren nunmehr der stellvertretende Leiter, Dr. Georg Renno, und sein Vorgesetzter, Dr. Lonauer, verantwortlich. Für Tausende Kranke,

35 Die „Aktion 14f13“ war eine Sonderbehandlung in den Konzentrationslagern, um die Gedanken des Faschismus zu stärken und bedeutete die Selektion und Tötung von KZ-Häftlingen (Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Bundesministerium, Wien, o. A.). 44

Arbeitsunfähige, die aus den Konzentrationslagern Dachau, Mauthausen und Gusen nach Hartheim gebracht wurden, bedeutete das den Tod durch Vergasung. Bei dieser Aktion wurde vorher jedoch keine ärztliche Begutachtung mehr durchgeführt (Kepplinger, 2008).

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5 Theoretische Grundlagen

5.1 Autoritarismusforschung

5.1.1 The Authoritarian Personality (Theodor W. Adorno et al.) Die Studie The Authoritarian Personality von Theodor W. Adorno, Else Frenkel- Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford hat nach wie vor nicht an Bedeutung verloren, auch wenn das Erscheinungsdatum bereits fünfzig Jahre zurückliegt. Die wissenschaftlichen Kontroversen sind um diese erste Fassung – wie es scheint – jedoch nicht beendet. Das genannte Werk über die Authoritarian Personality gibt die Verhaltensweisen der autoritären Persönlichkeit wieder. Denkmuster von Personen mit starrem Festhalten an Konventionen, Machtorientierung und Unterwürfigkeit, Destruktion und Zynismus sind „potentiell faschistisch“ (Rippl, Kindervater und Seipel, 2000, S. 16). Den Wissenschaftlern war es von Bedeutung, die Ursachen für den deutschen Faschismus herauszufinden, nachdem sie selbst Betroffene36 waren und deshalb in die USA flüchteten. Die namhaften Forscher entstammten der Frankfurter Schule und waren der Auffassung, dass es eine psychologische Erklärung geben müsste, wie solche Mechanismen überhaupt zustande gekommen waren.

Ursprünglich war die Idee der Untersuchung die Feststellung von Einstellungen der Menschen gegenüber Minderheiten. Bald schon war zu erkennen, dass man mehr Befragte mit den unterschiedlichen Ausprägungen faschistischer Charaktereigenschaften identifizieren konnte als angenommen. Es ging dabei um verschiedene Charakterstrukturen, wobei politische, gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Komponenten bedeutende Rollen spielten. Es war auch wesentlich, wie diese Faktoren sich zu einer Einheit bildeten und miteinander verarbeitet und zu einer Struktur – zu einem Denkmuster – formiert wurden (Adorno et al., 1950). Um ihre Ausführungen zu erweitern und besser zu untermauern, integrierten die Autoren auch Freuds Psychoanalyse in ihre Theorien. Die Rede war vom patriarchalischen Vater, der keine Emotionen gegenüber dem Kind zeigt. Die Dominanz des männlichen Elternteiles sowie seine autoritäre Erziehungsweise ließen die Annahme zu, dass gerade solche Kinder in späterer Zukunft zu faschistischen Ideologien neigten; ein zusätzliches

36 Bei den Betroffenen handelte es sich überwiegend um Menschen mit jüdischer Herkunft, um solche, die der Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten unterlagen oder um Intellektuelle, Künster, Publizisten und Wissenschaftler, die sich gegen das Regime aussprachen (Klett Verlag, 2007). 46

Entstehen von Hassgefühlen gegenüber den Eltern – explizit dem Vater – stellte für die Forscher eine erhebliche Ursache dar (Adorno et al., 1950). Adorno und sein Team entwickelten in ihrer wissenschaftlichen Arbeit über den autoritären Charakter neun verschiedene Denkmuster, die sie in der sogenannten F-Skala (Faschismus- Skala) anwendeten. Jene neun Denkmuster beinhalteten jeweils dazugehörige Merkmale, zu denen wiederum ein typischer Satz zur genaueren Erklärung hinzugefügt wurde. Es ging dabei also darum, die Kategorien als „Extreme eines einzigen Kontinuums zu betrachten“ (ebd., S. 9). Dabei war wesentlich, dass die Charakterstrukturen einer Person als etwas Andauerndes zu verstehen waren. Auffallend schien nicht das angeborene Verhalten, das Individuum hatte die Möglichkeit, frei zu entscheiden. Um antidemokratische Trends auszubilden, war unter anderem das Verständnis der Gesellschaft erforderlich (ebd.). Menschen sind im Allgemeinen daran interessiert, zu solchen politischen und sozialen Programmen zu tendieren, die dem eigenen Wohle dienen. Dennoch ist von diesen Interessen nicht immer auszugehen, weil auch Gruppenkonflikte im Vordergrund stehen, anstatt demokratischer Überlegungen. Es kann sich dabei um Minderheiteitengruppen handeln, gegen die Vorurteile gebildet werden, sodass dabei Hassgefühle und Feindschaften entstehen. Adorno et al. stellten sich unter anderem die Frage, „warum sich Menschen so leicht täuschen lassen“ und bemerkten anschließend dazu, „dass es so ist, ihrer Charakterstruktur entspricht“ Außerdem beschrieben sie solche Menschen als mit „lange bestehenden Sehnsüchten und Erwartungen, Ängsten und Unruhen“ (ebd., S. 13). Je mehr Antidemokratie in einem Staat zu beobachten ist, desto höher wird das Potential an faschistischer Propaganda zu verzeichnen sein. Die Autoren waren der „Überzeugung, daß es Sache des Volkes ist, zu entscheiden, ob dieses Land zum Faschismus übergeht oder nicht“ (ebd., S. 14). Damit wollten Adorno et al. zum Ausdruck bringen, dass es zwar Hitler war, der den Nationalsozialismus einleitete, das Volk selbst diese Entwicklung jedoch begünstigte.

Zusätzliche Bedeutung gewann diese Studie durch die sogenannte F(Faschismus)- Skala. Vor der Erstellung der F-Skala waren spezielle methodische Techniken notwendig. Nevitt Sanford legte den Grundstein für das Werk der F-Skala (Fascism-Skala). Theodor Adorno und seinem Team ging es bei ihren Fragestellungen und Auswertungen darum, festzustellen, warum einige Menschen zu Antisemitismus und Ethnozentrismus neigen; und sie waren überzeugt, dass ihre Herangehensweise die Beste sei, wobei die Forscher ihr 47

Augenmerk unter anderem auf das „Konzept verschiedener Schichten im Individuum“ legten (.,Adorno, Frenkl-Brunswik, Levinson und Sanford, 1950, S. 15). Sie wollten dabei Charakterkräfte des Unbewussten zum Vorschein bringen. Dafür waren Gruppen- und Einzelstudien notwendig. Hiefür wurden unter anderem Einzel-Interviews durchgeführt; Gruppen untersuchte man anhand von Fragebögen. Dabei wurde explizit auf verborgene Wünsche, Ängste und Abwehrmechanismen geachtet. Beim Fragebogen stand im Vordergrund, die „potentiell antidemokratischen Individuen erforschen zu können“ (ebd., S. 17). Die Fragen enthielten nicht nur Lebensumstände der Betroffenen, sondern auch „antidemokratische Aussagen mit der Aufforderung, Zustimmung oder Ablehnung zu notieren“ (ebd.,). Das Interview war für die Validität des Fragebogens zweckdienlich und sollte zeigen, ob jene Personen mit hohen antidemokratischen Werten laut Fragebogen auch im Interview mit den gleichen Denkweisen darstellten.

Im Großen und Ganzen ging es den Forschern darum, ein Gesamtbild der Persönlichkeitsmerkmale, die die Variablen für die F-Skala bildeten, zu schaffen. Das Interesse bestand hauptsächlich darin, „Zugang zu den Haupttrends im Individuum zu gewinnen“ (ebd., S. 19). Bedeutend war, nicht nur ein Element des Individuums ins Auge zu fassen, sondern dieses als einen Bestandteil eines ganzen Syndroms zu sehen. Dazu war es notwendig, vorher „eine Skala mit Sätzen zusammenzustellen, die, gemäß Hypothesen und klinischen Erfahrungen, als ˈEnthüllungenˈ verhältnismäßig verborgener Züge in der Charakterstruktur betrachtet werden konnten, und die eine Disposition bezeichneten, faschistische Ideen – bei entsprechender Gelegenheit – spontan zu äußern oder sich von ihnen beeinflußen zu lassen“ (ebd. S. 20). Es wurden mehrere F-Skalen skizziert, die mit jedem Entwurf immer wieder gekürzt wurden. Wenn bei der Skala als Zusatz die Form „60“ dabei stand, war das die Erklärung, dass die Gesamtzahl der Sätze 60 nicht überstieg. Diese Sätze waren jene typischen Sätze, wie zum Beispiel bei der Variable Konventionalismus ersichtlich: 1. „Gehorsam und Respekt gegenüber der Autorität sind die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen sollten. 53. Ein Grundübel von heute ist, daß die Menschen zu viel reden und zu wenig arbeiten“ (ebd. S. 71). Die Autoren wollten eine zuverlässige F-Skala in einer reduzierten Form erzeugen, die trotzdem in ihrer Aussagekraft keinen Verlust darstellte. Deshalb wurde, nachdem die zweite F-Skala noch immer Mängel aufwies, eine dritte erstellt, die dann dreißig Skalensätze aufwies. Die Anzahl der neun Variablen bildeten ein „Syndrom“ (ebd. 101) und es zeigte sich, dass dieses Syndrom „signifikant mit antidemokratischen Trends korrelierte“ (ebd.). 48

Aufgrund der interpretativen Ergebnisse aus den vorherigen Skalen, woraus sich die Variablen des Individuums ergaben, konnten diese in der F-Skala erfasst werden. Die Aufgabe der F-Skala war nun, „der Versuch den potentiell antidemokratischen Charakter zu messen“ (ebd. S. 46). Nachstehend Tabelle zeigt eine Aufstellung dieser Variablen mit kurzer Definition:

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Autoritäre Merkmale (Adorno, 1973, S. 45) Typische Sätze Denkmuster (Adorno 1973, S. 81-84)

Konventionalismus Starre Bindung an die konventionellen Gehorsam und Respekt (coventionalism) Werte des Mittelstands gegenüber der Autorität sind die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen sollen. Autoritäre Unkritische Unterwerfung unter Was dieses Land vor allem Unterwürfigkeit idealisierte Autoritäten der braucht, mehr als Gesetze und Eigengruppe. politische Programme, sind ein paar mutige, unermüdliche, selbstlose Führer, denen das Volk vertrauen kann. Autoritäre Aggression Tendenz, nach Menschen Ausschau zu Sittlichkeitsverbrechen, wie halten, die konventionelle Werte Vergewaltigung und Notzucht mißachten, um sie verurteilen, ab-lehnen an Kindern verdienen mehr als und bestrafen zu können. bloße Gefängnisstrafe, solche Verbrecher sollte öffentlich ausgepeitscht und noch härter bestraft werden. Anti-Intrazeption Abwehr des Subjektiven, des Der Geschäftsmann und der Phantasievollen, Sensiblen Fabrikant sind viel wichtiger für die Gesellschaft als der Künstler und der Professor. Destruktivismus und Allgemeine Feindseligkeit, Diffamie- Es wird immer Kriege und Zynismus rung des Menschlichen. Konflikte geben, die Menschen sind nun einmal so. Aberglaube und Glaube an die mystische Bestimmung Kriege und soziale Unruhen Stereotypie des eigenen Schicksals; die Schicksals; werden wahrscheinlich eines die Disposition in rigiden Kategorien zu Tages durch ein Erdbeben oder denken. eine Flutkatastrophe beendet werden, welche dieWelt vernichtet. Machtdenken und Denken in Dimensionen wie Herrschaft Weder Schwäche noch „Kraftmeierei“ und Unterwerfung, stark – schwach, Schwierigkeiten können uns Führer – Gefolgschaft; Identifizierung zurückhalten, wenn wir genug mit Machtgestalten; Überbetonung der Willenskraft haben. konventionellen Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Ro-bustheit Projektivität Disposition, an wüste und gefährliche Die meisten Menschen Vorgänge in der Welt zu glauben; die erkennen icht, in welchem Projektion unbewußter Triebimpulse auf Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt die Außenwelt. wird, die im Geheimen ausgeheckt werden. Sexualität Übertriebene Beschäftigung mit Die sexuellen sexuellen Vorgängen. Ausschweifungen der alten Griechen und Römer waren ein Kinderspiel im Vergleich zu gewissen Vorgängen bei uns, sogar in Kreisen, von denen man es am wenigsten erwarten würde. 50

Dabei ergab sich, dass nicht bei jeder autoritären Persönlichkeit alle diese neun angeführten Syndrome vorhanden sein müssen – hier kann es gewissermaßen variieren und auch aufgrund dieser angeführten Basis können zusätzliche Ansatzpunkte hinzutreten. Adornos Studie ergab, dass der Mittelstand am meisten Anfälligkeit für den Faschismus zeigte und die ihm Angehörigen die am „stärksten angepaßten Vorurteile hegen“ (Adorno et al., S. 47). Um diese Aussage zu überprüfen, wurde von den Forschern Material gesammelt, das sie in die Skalensätze, die sich auf die Bindung der konventionellen Normen bezogen, aufnahmen. Doch durch die Ergebnisse wurde klar, dass konventionelle Wertvorstellungen und Vorurteile zwar miteinander korrelierten, aber keine eindeutige Signifikanz ergaben. Damit wurde gezeigt, dass ein weiteres Ermitteln unerlässlich war, und auf die anderen Variablen ebenfalls zu achten und als Gesamtbild zu betrachten waren.

Anhand der F-Skala wurden die Grundzüge der autoritären Persönlichkeit festgestellt. Gleichzeitig stellten sich die Forscher die Frage, inwieweit die Entwicklungspsychologie einflussgebend war. In Bezug auf diese Fragestellung stellte sich heraus, dass Kinder, die einer autoritären Erziehung unterlagen, später selber eher dazu tendieren, einen autoritären Charakter zu entwickeln. Für die Wissenschaftler war es dabei wesentlich, zwischen geäußerter Meinung und dem Unbewussten eines Individuums zu unterschieden. Vordergründig ging es also darum, zu zeigen, inwiefern Emotionen und Motive für die autoritären Charaktereigenschaften einer Person verantwortlich sind. Des Weiteren mutmaßten sie insofern, dass „weitgehend unbewusste Feindschaft, die aus Versagung und Repression resultiert und vom eigentlichen Objekt abgewandt wird, ein Ersatzobjekt braucht“ (Fahrenberg und Steiner, 2004, S. 131). Hinzuzufügen wäre diesem Ergebnis, dass es sich dabei um Personen handelte, die einen besonders hohen oder niedrigen Wert in der F-Skala aufwiesen.

Durch die neu entwickelte F-Skala sollte es möglich sein, „tieferliegende Charakterzüge zu erfassen“ (Rippl et al., 2000, S. 17). Dieses Instrument konnte sich aufgrund der hohen Reliabilität und Validität durchsetzen und wurde auch anschließend in vielen anderen Studien beim Bestimmen des potentiell faschistischen Charakters angewendet. Bedeutend für die Forschungsergebnisse waren nicht nur die sozialwissenschaftlichen Berichte der Autoren, sondern allgemein ließ sich feststellen, dass es sich „in mehrerer

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Hinsicht um einen modernen Forschungsansatz handelte“37 (Fahrenberg und Steiner, 2004, S. 132)38.

5.1.2 Erich Fromm und die Theorie des autoritären Charakters Erich Fromm zeichnete grundlegend verantwortlich für die Autoritarismusforschung; „Fromm kann als der wichtigste Begründer der psychoanalytisch orientierten Sozialpsychologie angesehen werden“ (Fahrenberg und Steiner, 2004, S. 129 ).39 Laut Rippl et al. (2000) sei hier hinzuzufügen, dass die „Vorläufer der Forschungsarbeiten zur ‚Authoritarian Personality‘ die Arbeiten von Wilhelm Reich [1936] und die frühen ‚Studien über Autorität und Familie‘ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ sind (ebd., S. 132). Fromm beschrieb den autoritären Charakter sehr treffend, als er meinte, dass normalerweise „zwischen einer Person, die eine andere beherrschen oder aber unterdrücken will und dem anderen Typ, mit der Neigung sich zu unterwerfen, oder sich gar demütigen zu lassen, ein Gegensatz zu erkennen ist. Diese beiden Formen der autoritären Persönlichkeit sind in Wirklichkeit eng miteinander verbunden“ (Fromm, 1957, S.1). Fromm erläuterte wesentliche Aspekte wie Vernunft, Liebe und die Reife eines Menschen. Der Mensch sollte in der Lage sein, seine Vernunft einzusetzen, um das Wesentliche im Leben zu erkennen und danach zu handeln. In seinen Gedanken ist der Mensch gewöhnlich in der Lage, Gefühle zuzulassen und auch Liebe weiterzugeben. Es wird dann von einem reifen und vernünftigen Menschen gesprochen. Der autoritäre Charakter erreicht diese Reife nicht (ebd., 1957).

Erich Fromm nahm Stellung zur Psychodynamik und untersuchte die Charaktere der NS-Ideologie sowie die Neigungen von Menschen zu autoritären Regimen (Fromm, 1958). Fromm sah im autoritären Charakter ein pathologisches Merkmal und verwendete daher die Bezeichnung des sadomasochistischen Charakters und interpretierte diesen als Form „sadomasochistische[r] Strebungen“ (Fromm, 1983, S. 154). Das heißt, die Triebbasis des autoritären Charakters wird von den beiden Strebungen Masochismus und Sadismus bestimmt. Welche der beiden Strebungen zum Einsatz kommt, wird jeweils davon abhängen, ob sie sich auf einen „Stärkeren oder Schwächeren als Objekt bezieht“ (Egle, S. 1, 2014). Der Masochist selbst auf sein eigenes Glück und „zielt darauf ab, unter Preisgabe der

37 Zumindest zum damaligen Zeitpunkt, laut „Modernität der Forschung zur Authoritarian Personality“ (Fahrenberg und Steiner, 2004, S. 132). 38 Eines der letzten Forschungsprojekte, die von Adorno betreut wurden, war jenes von Freyhold. Dabei ging es um die Entwicklung eines Fragebogens, der überdies für eine Umfrage des „Eichmann-Prozesses und zur Lage der jungen Generation“ (Fahrenberg und Steiner, 2004, S. 134) zum Einsatz kam. 39 Fromms Arbeiten erhielten im Schatten Adornos zu wenig Würdigung (Fahrenberg und Steiner, 2004). 52

Individualität der eigenen Persönlichkeit das Individuum an die Macht hinzugeben und sich in ihr aufzulösen“ (Egle, 2014). Der Sadist macht es umgekehrt, indem er einen „anderen zum willen- und wehrlosen Instrument des eigenen Willens macht“ (ebd.). Es kann ihm auch gelingen, dass er diesen Menschen beherrscht, sodass dieser darunter leidet (Fromm, 1980). Der Sadomasochist wurde dabei als jener dargestellt, der durch seine Autorität auffällt, mit der er zu imponieren versteht und nach der er strebt. Ein weiteres Ziel dieses auffallenden Charakters besteht darin, dass er bezweckt, andere sich gefügig zu machen - er beansprucht die totale Abhängigkeit anderer von sich.

Gegenüber Schwächeren und Hilflosen kompensiert der autoritäre Charakter seine Schwäche gegenüber dem Mächtigen. Es ist davon auszugehen, dass Hilflosigkeit in solchen Menschen Verachtung und Hass auslöst, genauso wie Macht Furcht erwecken kann (Fromm, 1980). „Das faschistische System nennt sich aufgrund des überragenden Anteils der Autorität an seinem Aufbau - selber ein ,autoritäres’" (Fahrenberg und Steiner, 2004, S. 130 ). Somit wurde klar, dass diese Persönlichkeits-Attribute über den autoritären Charakter mit jenen einer faschistischen Persönlichkeit übereinstimmten. Denn nicht nur erst gegenwärtig ist die Frage brisant, warum manche Menschen faschistischen Ideologien folgen und andere nicht; damit beschäftigten sich auch, wie angeführt, Adorno und sein Forscher-Team (Frenkl- Brunswik, Levinson und Sanford).

Neuere Ansätze In Amerika führte vor allem Bob Altemeyer mit seinen Publikationen, in denen er die lerntheoretischen Konzepte den psychoanalytisch orientierten Entstehungs- und Verarbeitungsmustern vorzog, den Ansatz weiter. Autoritarismus ist somit – laut Altemeyer - das Ergebnis von Verstärkungs- und Modelllernen (Altemeyer, 1996). Altemeyer gab in seinen Ausführungen zu verstehen, dass frühkindliche Erfahrungen im Elternhaus eine wesentlichere Rolle spielen als spätere Erfahrungen; die selben Ergebnisse lieferte hier die Peer-Forschung (Gruppe Gleichaltriger). Um die Bedeutung der Wurzeln im Elternhauses noch etwas hervorzuheben, sei anzumerken, dass je höher der Bildungsgrad ausgepragt war, desto weniger wahrscheinlich war die Übernahme zur Ausbildung eines autoritären Charakters (ebd.). Altemeyer konstatierte, dass nicht die eigenen Gefühle der Eltern eine Rolle spielten, sondern der Gehorsam, der den Kindern praktisch durch Hiebe beigebracht wurde.

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Altemeyer unterteilte den „right-wing-authoritarianism“ in drei Einstellungscluster. Er benannte sie als - authoritarian submission / autoritäre Unterwürfigkeit, - authoritarion aggression / autoritäre Aggression und - conventionalism / Konventionalismus (Altemeyer, 1996, S. 8)

Dabei war festzustellen, dass Altemeyer mit den genannten Clustern in drei Fällen mit den neun Variablen von Adorno übereinstimmte. Altemeyer war zur Überzeugung gekommen, dass autoritäre Persönlichkeiten im Prinzip nicht aggressiver sind als andere Personen; sie wären nur dann aggressiver, wenn andere autoritäre Personen dies zulassen würden. Deshalb spielten bei Altemeyers Überlegungen Adornos Forschungen eine eher untergeordnete Rolle. Ansonsten war Altemeyer mit den bis dato bekannten Autoritarismus-Skalen nicht zufrieden, für ihn waren diese zu sehr politisch behaftet, was seiner Meinung nach eine objektive Messung ausschließen musste. Adorno und sein Team vertraten ihren Standpunkt mit der Verwendung ihrer standardisierten Befragungstechnik und verwiesen diesbezüglich auf die F- Skala (Rippl et al., 2000).

Auch Detlef Österreich zählte zu den Autoritarismus-Forschern, der sich jedoch mit seinen Ansätzen weitgehend von den vorherigen, klassischen unterschied. Er war der Ansicht, dass Menschen dann autoritär reagieren, wenn sie in unsicheren Situationen nach Schutz und Sicherheit suchen. Sie begeben sich zu solchen Menschen oder Instanzen, wo sie der Meinung sind, von ihnen diese Zuflucht zu erhalten. Dabei entsteht eine autoritäre Reaktion, die durch Flucht in ein Sicherheitsgefühl hervorgerufen wird. Österreich entwickelte zu solchen Krisensituationen ein Messverfahren, dessen Inhalt die Fragen zum Verhalten sowie die Fragen zum Erleben hervorhob; Einstellungsfragen waren für ihn dabei nicht von großer Bedeutung (Österreich, 1996). Österreichs Forschungen strebten eindeutig dahingehend, sich nicht den psychoanalytischen Ansätzen anzuschließen. Vielmehr lenkten seine Erklärungen über den fundamentalen Ansatz des autoritären Syndroms in die Richtung der Lern- und Entwicklungspsychologie. Österreich verdeutlichte dazu „in neuerer Zeit, dass das autoritäre Syndrom die Folge eines Sozialisationsprozesses war, der das Kind überfordert, wenn es zwar den Schutz einer Autorität suchen muss, sich aber deswegen nicht zu einer autonomen Person entwickeln kann“ (Fahrenberg und Steiner, 2004, S. 134). 54

Studien über Autorität und Familie Der Fokus bei diesen Studien wurde auf die Annahme, dass erlebte Angst in der Kindheit auch maßgebend für den Erwachsenen war, gelegt. Der Schweregrad war auf das „Maß“ an Angst gerichtet. „Es ist also nicht in erster Linie die biologische Hilflosigkeit des kleinen Kindes, die ein starkes Bedürfnis nach Über-Ich und strenger Autorität erzeugt“ (Wiggershaus, 1989, S. 174). Erst durch die „soziale Hilflosigkeit der Erwachsenen“ (ebd.) entsteht der Eindruck der biologischen Ratlosigkeit und Entgeisterung des Kindes. Die soziale Hilflosigkeit und die dabei auftretende Triebunterdrückung sowie die Angst spielen eine wesentliche Rolle in den „unteren Schichten“(ebd.). Kinder haben – aus Gründen der familiären Sozialisation – nicht die Möglichkeit, sich das nötige Selbstwertgefühl anzueignen. Das heißt, es fehlt ihnen an „Ich-Stärke“(ebd.). Ein Risiko, sich der „Gefahr auszusetzen, die einer ohnmächtigen Kindheit ähnelt“ (ebd., S. 23), ist enorm. Und Bemühungen von Personen, die genau solche Situationen anstrebten, lassen im Nachhinein für den Betreffenden Ausweglosigkeit und Unterwerfung erkennen. Dieser empfindet dies zwar als Schutz und Sicherheitsmechanismus, unterliegt jedoch trotzdem dem vermutlich Stärkeren völlig, das eigene Ich ist nicht in der Lage eigene Initiative zu leisten. Die Beschreibung traf hier auf die Bezeichnung der monopolkapitalistischen Gesellschaftsform. Damit wird eine kleine Gruppe, die ihre strategischen Machtpläne insofern verwirklicht, dass sich die gesamte übrige Mehrheit komplett von ihr abhängig macht, beschrieben. Damit gelingt es ihr sogar, ohne dem Bemerken der großen Gruppe, ein quasi anonymes Konkretisieren ihrer Vorhaben. Resultierend daraus ergeben sich Ohnmachtsgefühle, die den Eindruck überlegener Macht einerseits aus dem Blickwinkel der Gefährlichkeit, anderseits aus dem der Fürsorge, enthüllen (Wiggershaus, 1989). Fromm zufolge reproduzieren die Untergeordneten eine seelische Haltung, die sie in ihrer Beziehung zu den Eltern und dabei besonders zum Vater erworben haben: „Bei der Untersuchung dieser Wurzeln der libidinösen Bindung der Majorität an die herrschende Minorität wird etwa die Sozialpsychologie feststellen, daß diese Bindung eine Wiederholung beziehungsweise eine Fortsetzung der seelischen Haltung ist, die diese erwachsenen Menschen als Kinder zu ihren Eltern, speziell zu ihrem Vater gehabt haben (innerhalb der bürgerlichen Familie)“ (Fromm, 2009, S. 48).

Zusammenfassend war festzustellen, dass sich die Autoren in ihrer Grundhaltung über die Theorie der autoritären Persönlichkeit einig waren. Menschen handeln aufgrund ihrer autoritären Persönlichkeit, wie es Adorno / Fromm mittels ihrer wissenschaftlichen 55

Erkenntnisse beschrieben. Nicht nur Adorno zeichnete für diese Theorien verantwortlich, sondern vor allem Erich Fromm entwickelte aus Wilhelm Reichs bereits vorausgegangenen Arbeiten die Grundbasis für die Ansätze des autoritären Charakters. Reich analysierte Zusammenhänge zwischen autoritärer Triebunterdrückung und faschistischer Ideologie40. Bezugnehmend auf diese Autoren darf man die autoritäre Persönlichkeit wohl als eine Person charakterisieren, die andere beherrschen, kontrollieren und unterdrücken will. Divergierend dazu gibt es Menschen, die auf der anderen Seite stehen und dazu tendieren, sich von diesen autoritären Persönlichkeiten demütigen zu lassen, sich ihnen unterwerfen, nicht widersprechen und gehorsam alles ausführen, was von ihnen verlangt wird. Die Rede ist von unglücklichen, unreifen Menschen.

Altemeyer (1996) war ebenso der Ansicht, dass beim Autoritarismus ein hoher Grad der Unterwerfung vorliegt. Autoritarismus und Vorurteile werden gleichermaßen durch soziale Identitäten beeinflusst (Altemeyer, 1996). Altemeyer und Österreich distanzierten sich beide von der psychoanalytischen Orientierung (Hopf et al., 2000). Hopf ging davon aus, dass die Bedeutung nicht auf der „Beziehung eines Elternteiles liegt, sondern ihr Ansatz tangierte auf relevante Bindungskenntnisse“ (Hopf , 2000, S. 23). Die Kritik in Bezug auf die Methodik beruht größtenteils auf der F-Skala. „Unbestritten ist bis heute die Existenz dieses Phänomens der Akquieszenz (Rippl et al., S. 18, zit. nach Hyman und Sheatsley, 1954). Hier gehen die Meinungen verschiedener Autoren jedoch auseinander. Kirscht und Dillehay zum Beispiel waren der Ansicht, dass die soziale Schicht eine Rolle spiele und begründeten dies mit der Argumentation, dass Menschen der Unterschicht autoritärer seien. Freyhold widersprach dieser Theorie und meinte, „daß acquiescense response-sets, also die Neigung, im Zweifelsfall einem Satz zuzustimmen, ein gültiges Indiz für den Konventionalismus autoritärer Charakter ist“ (Freyhold, 1972, S. 243). Hauptsächlich wurde seitens Altemeyer und Österreich Kritik wahrgenommen. Wie schon erwähnt, richtete sich die Kritik gegen den psychoanalytischen Ansatz; auch zu den politischen Denkweisen fand Altemeyer keine Parallelen.

5.1.3 Grundlegende Autoritarismus-Studien nach 1950 Nennenswerte Forschungen zum Autoritarismus wurden zwischen 1951 und 1971 durchgeführt, dabei handelte es sich um das sogenannte Pollock-Gruppenexperiment von

40 Diese Theorie bedeutete für Reich den Bruch mit Sigmund Freud (Fallend und Nitzschke, 1997) 56

1955 und die Entwicklung und Anwendung der Frankfurter Autoritarismus-Skala (A-Skala), wobei hier eine große und mehrere kleine Meinungsumfragen ( Freyhold, 1971) durchgeführt wurden. Zusätzlich wurden andere Meinungsbefragungen ausgearbeitet, wie zum Beispiel jene, bei der 232 Personen der Frankfurter Bevölkerung nach aktuellen antisemitischen Vorfällen befragt wurden. Ausgeführt wurden diese Studien am IFS, dem Institut für Sozialforschung, dem damals Adorno als geschäftsführender Direktor vorstand.

Dessen ungeachtet liefen die relevanten sozialpsychologischen Forschungsprojekte in den USA und machten durch das Milgram- und das Stanford-Experiment auf sich aufmerksam; ebenso erwähnenswert ist hier die Publikation von Erich Fromm über die Anatomie der Destruktivität aus dem Jahr 1974 (Fahrenberg und Steiner, 2004).

Gerda Lederer und Peter Schmidt (1995) bestätigten ebenfalls, dass das Ansehen der Autoritarismus-Forschung wieder mehr zunahm und zeigten dies in ihren Trendanalysen und vergleichenden Jugenduntersuchungen im Zeitraum von 1945 bis 1993 in einem Sammelband auf (Lederer und Schmidt, 1995).

5.1.4 Friedrich Hackers Zehn Kategorien des Faschismus-Syndroms Friedrich Hacker war ein Psychoanalytiker, der in Österreich geboren wurde und - wie viele aus seiner Zeit - vor den Nazis in die USA flüchtete. Dort arbeitete er auch mit den emigrierten Mitgliedern der Frankfurter Schule zusammen und leistete seinen Beitrag über den autoritären Charakter. 1945 gründete der bereits bekannte Aufklärer Hacker die Psychiatric Clinic sowie die Hacker Foundation in Beverly Hills, die in weiterer Folge von Theodor W. Adorno geleitet wurde (Munzinger, 1989, o. A.). Die Gründung der Sigmund-Freud-Gesellschaft war ebenfalls Friedrich Hackers Verdienst (Der Spiegel, 1970, S. 220).

Friedrich Hacker war in seinem kritischen Denken mit seinen Äußerungen gegenüber dem Faschismus sehr vorsichtig und warnte vor voreiligen Klassifikationen. Trotz aller Bedenken „läßt sich ein ˈfaschistisches Syndromˈ nicht nur konstruieren, sondern unter den verschiedensten Herrschaftsformen als sozialpsycholgisches, in bezeichnender Gesetz- mäßigkeit auftretendes Phänomen legitim nachweisen“ (Hacker, 1990, S. 15). In weiterer Folge verwies er auch darauf, dass trotz aller Warnungen und einer eventuellen

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Generalisierung davon auszugehen ist, dass der Faschismus nachzuweisen sei, sofern klare Definitionen und Abgrenzungen gegeben sind. Hacker berichtete in seinem Werk über das Faschismus-Syndrom von der Veränderbarkeit des Faschismus, und dass eine Entwicklung in anderen Organisationen sehr leicht möglich sein könnte. Die Zusammenarbeit mit Theodor Adorno wurde auch in diesem Werk ersichtlich. Hacker meinte, Adornos „prophetisches Wort sei zu berücksichtigen, weil das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie potentiell bedrohlicher sei als offen gegen die Demokratie gerichtete faschistische Tendenzen“ (Hacker, 1990, S. 16). Es geht dabei natürlich nicht nur um sozialpsychologische Aspekte, sondern auch um politische, wie Adorno stark zum Ausdruck brachte.

Friedrich Hacker zählte sich ebenfalls zu den traditionellen Faschismusforschern im Sinne von Theodor Adorno, wobei die Persönlichkeitsstrukturen Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit, Machtstreben, Robustheit, Aberglaube, Destruktivität, Zynismus und Projektivität als charakteristisch zu bezeichnen waren (ebd., S. 17). Hacker beschrieb den autoritären Charakter mit zehn eigenen Kategorien und wollte die Gewalt etwas mehr in den Vordergrund bringen. Er war der Ansicht, dass „Gewalt als vorwiegendes oder ausschließliches, ˈreinesˈ und ehrliches Konfliktlösungsmittel verherrlicht wird“ (ebd., S. 33). In Hackers Werk über das Faschismus-Syndrom (1990) wird als erste Kategorie die Maximierung von Ungleichheit genannt. Dabei geht es um Machtverhältnisse, die immer „auf seiten der Stärkeren stattfinden“ (ebd., S. 35). Die zweite Kategorie definierte das Recht des Stärkeren und erklärte auch, dass dieser Stärkere ohne Rücksicht handelt. Hier kommt – typisch für den Faschismus – die angebliche Überlegenheit des Mannes zum Vorschein. Kennzeichnend dafür sind die passive Rolle der Frau gegenüber dem Mann, der als „stark aktiv, eindringend Samen spendend oder vergeudend dargestellt wird“ (ebd., S. 40). Die Unterlegenheit der Schwächeren wird von den Stärkeren ausgenutzt, beziehungsweise: die wehrlosen Opfer werden vernichtet. Vergleichsweise bedeutend ist auch die körperliche Kraft. Ein Schwacher ist nicht in der Lage zu überleben.

Beim Führerprinzip herrscht Ungleichheit und die Rechte des Stärkeren werden ausgenutzt. Kleinführer agieren genauso wie Großführer. Die Führer leben aufgrund der "Spenden" (ebd., S. 43) seitens ihrer Anhänger. "Die regelmäßig benützten Methoden sind die der zwangsweisen Umerziehung, die häufig mit terroristischen Drohungen erreicht wird“ 58

(Hacker, 1990). Der Führer regiert als absoluter Herrscher und erwartet sich von Seiten der Anhänger blinden Gehorsam. Methoden wie Drohungen und Manipulationen werden dabei angewendet, wobei das Merkmal des autoritären Charakters ganz klar zum Ausdruck gebracht wird.

Die Irrationalität beschreibt im Wesentlichen ein Gefühl, das zwar als Gegesatz des Verstandes, hier jedoch nicht als Teil menschlicher Emotionen zu verstehen sein soll, sondern, wie es Hacker in seinem Werk bezeichnet, als „gesundes Volksempfinden“ (ebd. S. 45). Das heißt, es wird mit Vernunft gehandelt, Gefühle haben dabei keine Rolle zu spielen. Um zu gewährleisten, dass das Volk auch so handelt, wird mittels manipulativer Publikationen dafür gesorgt. Begründungen in Richtung von Werten vereinfachen die Angelegenheit.

Die Bedeutung der Dauermobilisierung bringt Hacker sehr wesentlich zum Ausdruck. Es steckt schon in der Bezeichnung selbst, wenn von der Dauer der Mobilisierung gesprochen wird. Den Führungsverantwortlichen ist es das größte Anliegen, dass alles dynamisch erfolgt. Schlagworte, wie „Packeis, das aufgebrochen oder zum Schmelzen gebracht werden muss“ (ebd., S. 51), sind charakteristisch. Dabei wird auch die masochistische Befriedigung bei „Katastrophenprophezeiungen und Endzeitstimmungen“ (ebd.) nicht außer Acht gelassen.

Bei der Vereinheitlichung ist das primäre Ziel, die „völlige Einigkeit und Einheit der Volksgemeinschaft“ (ebd., S. 53). Auch wenn es um ein Negativum geht, wird dieses so dargestellt, dass nur eine grundlegende Meinung Gülitgkeit haben kann. Es wird ein Feindbild dargestellt, das den ganzen Staat bedroht. Deshalb muss man sich verbünden und diesen Feind vernichten.

In weiterer Folge wird die organische Ganzheit dargestellt. „Dem Ganzen wird größere Bedeutung, Würde und Wichtigkeit zugeschrieben als irgendeinem Teil oder der Gesamtheit der Teile“ (ebd., S. 61). Im Grunde genommen bestätigt dieses Merkmal noch einmal die Wichtigkeit der Vereinheitlichung. Die Einheit, das Volk, der Führer, alles läuft nach einer bestimmten Planwirtschaft. Auch wenn gelegentlich Fehlschläge passieren, so wird verlangt, dass man am Glauben festhält, dass der geplante Erfolg trotzdem nicht ausbleiben wird. In diesem Sinne „stellt die Faschisierung auch eine Art psychologischen, sozialen Konstruktions- und Rekonstruktionsversuch dar“ (ebd., S. 62). Das heißt, egal welche 59

Situationen sich ergeben, ein dementsprechendes Handeln ist gesichert, um den Führer als den Stärkeren hervorgehen zu lassen. Er ist Trostspender, Aufklärer oder Unterstützer.

Das Merkmal Totaleinsatz beschreibt den totalen, politischen Einsatz für das deutsche Volk beziehungsweise den Führer. Dabei wird auch zuviel Hingabe gegenüber der Familie oder der eigenen Religion nicht geduldet. „Totaler Einsatz zu allen Zeiten, auch als Forderung, deren Erfüllung zugleich für Zwecke der Manipulation und Administration nützlich ist, eliminiert die Privatsphäre und die Eigenständigkeit (und Berechtigung) des individuellen Lebens“ (Hacker, 1990, S. 66). Der Mensch ist eigentlich nicht mehr mündig, darf nicht mehr autonom entscheiden, ist komplett in seiner Freiheit eingeschränkt. Die eigentliche Passivität wird von einer andauernden Dynamik verschleiert.

Die Gewalt und der Terror von oben werden sozusagen als „brauchbares, mutiges und männlich ehrliches Mittel zur ˈKonfliktbereinigungˈangepriesen“ (ebd., S. 68). Gekonnt wird anhand manipulativer Aktionen gegen vermeintliche Feinde vorgegangen, wobei eigene Aggressionen zum Vorschein kommen. Obwohl Aggression ausgeübt wird, ist es ein Teil der Strategie, dass über „Friedfertigkeit gepredigt“ (ebd., S. 69) wird. Alles wird von oben diktiert und alles muss seine Ordnung haben. So stehen Befehl und Gehorsam in einem engen Zusammenhang, denn dahinter steckt auch ein Lernprozess. Gehorchen muss erlernt werden. Danach erst darf davon ausgegangen werden, selbst einmal befehlen zu dürfen, sofern die Faktoren der „Zucht und Ordnung, Befehl und Gehorsam sowie Überlegenheit und Unterwerfung“ (ebd., S. 70-71) als bedeutende Elemente anerkannt (und auch ausgeführt) werden.

Das letzte Merkmal nannte Hacker das Uralte und das ganz Neue, wobei die Technisierung und Modernisierung im Vordergrund stehen. Im Gegensatz dazu ist die Rede vom „Urältesten“ (ebd., S. 73). Der Faschismus steht hier im Widerspruch. Einerseits wird das Moderne bekämpft, Tradition und Harmonie seien vordergründig, andererseits gehen die Anschauungen dahin, solche Modernisierungen zu benutzen. Aber auch dahinter steckt wieder ein System. Erwartungshaltungen einer besseren Zukunft und Gedanken an die Vergangenheit führen augenscheinlich wiederum zur Aufrechterhaltung einer Gruppe.

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5.2 Massen- oder Sozialpsychologie

Für Sigmund Freud gab es keine Trennung zwischen den beiden Bereichen. Er ging auch hier von der Triebbefriedigung aus und vor allem von sozialen und narzistischen Gegensätzen. Wenn nun von Massen- oder Sozialpsychologie die Rede war, wurde auf eine einzelne Beeinflussung abgezielt, währenddessen zeitgleich eine Verbundenheit mit einer großen Anzahl von Menschen existierte (Freud, 1974). „Es gibt Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen Individuen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen“ (Freud zit nach Le Bon, 1974, S. 12). Das heißt, Individuen sind in den Massen veränderbar und bilden sich quasi zu einer Einheit. Dennoch muss man sich im Klaren sein: Es gibt nicht immer nur bewusste Motive, sondern auch die unbewussten, und dass die Genetik – wie des Öfteren – hier auch wieder beteiligt ist. Daraus ist nun auch die Rassenseele abzuleiten.

Alexander Mitscherlich, der sich in seinem Werk über die Massenpsychologie ohne Ressentiment (1972) eingehend mit den Verhaltensweisen von Menschen innerhalb der Massen befasste, gelangte ebenfalls zur Überzeugung, dass unbewusste Erfahrungen einen wesentlichen Beitrag leisten. Der Autor, der mit der Problematik in der Familie begann, machte deutlich, dass mehrere wesentliche Aspekte dabei auftreten, wobei Angst und Aggressionen genauso zu beachten waren, wie Triebbedürfnisse und Ersatzbefriedigung. Aufgrund Mitscherlichs Darstellung über das „Einschwingen in eine Massenerregung oder ein Massenvorurteil“ wurde deutlich, dass ein bestimmter „Auslösungsvorgang“ (Mitscherlich, 1972, S. ) notwendig war, um die notwendige Dynamik in Gang zu setzen. Entscheidend ist, wie Wahrnehmungen verarbeitet wurden, was wiederum von unserer inneren Verfassung abhänge (Mitscherlich, 1972). Eine weitere Bedeutung kommt unserer Sozialisation zu, ob Menschen in der Lage sind, sich gewissen Situationen anzupassen oder nicht. Mitscherlich zitierte Freud und war der Ansicht, dass „das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht und diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse“ (Mitscherlich, 1972, S. 82). Wesentlich ist, wie ein Mensch sich den „egoistisch-aggressiven Triebregungen“ (ebd.) entziehen kann.

Mitscherlich führte an, unter welchen Voraussetzungen ein homogenes Verhalten in einer Massengesellschaft entstehen kann. Gleichzeitig gab er aber auch zu bedenken, dass es uns Menschen kaum möglich sein kann, diese Komplexität vollkommen zu durchschauen.

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Der Autor berichtete von einem berauschenden, großartigen Gefühl und von einem Erregungszustand, der ein solches Gefühl abgeben kann, dass man sich fühle, „unbelastet von aller Daseinsschwere fortgerissen zu werden wie in einem mächtigen Strom“ (Mitscherlich, 1972, S. 10). Es geht also um dieses Mitgerissen werden, dem man nicht entkommt. Es scheint, dass hier ein Widerstand gegen diesen Zustand der Ekstase kaum möglich ist. Ein Zustand innerhalb der Masse, der einen mitreißt und in den Bann zieht. Es wurde hier von „rauschähnlichen“ Zuständen gesprochen, wobei hinterher „Erinnerungslücken notdürftig durch Konfabulationen verdeckt werden“ (Mitscherlich, 1972, S. 10). Der Autor gab damit zu verstehen, dass Menschen sich wirklich nicht mehr erinnern können, was sie einst in der Masse taten; aus psychoanalytischer Sicht gesehen verdrängten sie ihre Taten. Es wäre natürlich zu bequem und einseitig, sich allein auf diese Argumentationen zu stützen. Denn Mitscherlich berief sich hier auf Le Bon, der die Affektsteigerung und Denkhemmung als starke Charakterstrukturen sah (Mitscherlich zit. nach Le Bon, 1972, S. 11). Es bedarf selbstverständlich einer Masse, ein Einzelner kann dabei wenig bewirken. „Im Zustand der Erregungssteigerung und nicht zuletzt durch die Androhung von Strafen“ (ebd.) kann es zu diesem homogenen Verhalten kommen. Mitscherlich verwies darauf - wie schon in dieser Arbeit angeführt -, dass unsere Sozialisierung in der Familie beginnt, beziehungsweise fängt sie exakt mit der Geburt an, er nannte sie die „Primärsozialisierung“ (ebd., S. 12). Wie ein Mensch nun die ersten Phasen seines Lebens erlebt, welche Möglichkeiten ihm für seine Weiterentwicklung geboten werden, sind wesentliche Faktoren, die es zu berücksichtigen gilt. Dabei spielen wiederum die verschiedenen Kulturgesellschaften eine bedeutende Rolle. Diese Person muss dann in ihrem Erwachsenwerden in der Lage sein, Affekte zu steuern. Demgegenüber stehen unsere Triebansprüche, und trotzdem sollte der Betreffende durch Überlegenheit die Situation dementsprechend meistern. Es gibt zwar noch das Gewissen, dessen Aufgabe darin besteht mitzuteilen, was gegen das Gesetz verstößt und was nicht, doch muss oft genug festgestellt werden - und genug Wissenschaftler sind sich dabei einig, dass der Versuchung des Öfteren nicht widerstanden werden kann. Das Individuum Mensch riskiert nicht selten sehr viel, um seine Affektregungen und Triebbedürfnisse zu stillen. Mitscherlich (1972) drückte es so aus, dass der Mensch sich daran gewöhnt, wenn er „Erlaubtes von Unerlaubtem sondert. Beim Blick zu sich selbst, also nach innen, findet der Mensch Erregungen vor, die nun mit den erlernten Verhaltensmustern in Konflikt stehen“ (ebd. S. 14). Es stellte sich für den Autor heraus, dass es sich dabei um etwas Unmoralisches, Unrichtiges handelte. Es wird deshalb als „ich-fremd“ (ebd. S. 14) erlebt. Selbstverständlich möchte niemand mit solchen Gedanken 62 konfrontiert werden und schiebt sie so weit wie möglich von sich – in „die Peripherie des Selbsterlebens“ (Mitscherlich, 1972, S. 14). Somit wird klar, dass solche Antriebe, die zwar erfahren wurden, jedoch als verpönt gelten und deshalb außer Acht gelassen werden müssen, als innere Entfremdung gelten. Versetzt man sich nun in die Situation eines solchen Menschen, so merkt man, dass das „Verdrängte“ für denjenigen als das „Ich-Fremde“ wahrzunehmen ist (ebd.). Mitscherlich zitierte Freud und drückte aus, dass diese Triebregungen an sich weder gut noch böse sind, sondern dass sie als gut oder böse nur erlebt werden können im Kontext eines Kulturverhaltens (Mitscherlich zit. nach Freud, S. 14).

Mitscherlich (mit dem angeführten Zitat) sollte noch einmal die Bedeutung des Verhaltens von Menschen in Gruppen untermauern. Denn in Massen können Menschen extrem grausam reagieren; sämtliche Grenzlinien werden dabei überschritten, es gibt keine Tabus, keine Moral und ethische Standpunkte sind in keiner Weise ersichtlich: „1. Die Neigung des Individuums sind in sehr weitem Umfang gruppenspezifisch. 2. Das Individuum ist hic et nunc eine soziale Institution. Sein Freizügigkeitsspiel- raum ist durch die Verhältnisse in der Gesamtgruppe weitgehend bestimmt. Das Individuum ist in erster Linie Träger einer sozialen Rolle. 3. Die Art und Weise, wie Einzelpersonen ‚die Welt’ sehen, ist sehr stark durch die Gruppe bestimmt, der sie angehören ... Die Fiktion der aus eigenen Erfahrungen gezogenen Schlüsse ist nur innerhalb eines recht engen Spielraumes gültig ... 4. Das Milieu, dessen Einflüsse den Charakter formen, ist in erster Linie sozialer Natur ... 5. Verantwortlichkeit, deren Inhalt und Umfang, sind innerhalb eines Gesellschaftssystems definiert...“ (ebd., S 15).

5.3 Exkurs - Soziale Dominanz (social dominance theory)

Auch die Theorie der sozialen Dominanz erschien mir an dieser Stelle von Bedeutung. Diese kann im Zuge dieser Masterarbeit jedoch nur exkursmäßig angeführt werden.

Bei der Theorie der sozialen Dominanz zeichneten als plausible Indikatoren für Sidanius und Pratto (1999) hier Alter, Geschlecht und das arbitrary-set-system verantwortlich. Arbitrary-sets gelten als die höchsten Einflüsse und existieren nur in kapitalistischen Gesellschaften. Wesentlich ist beim arbitrary-set-system die hierarische Bedeutung, wobei die Annahme gilt, dass es hierarchieverstärkende und auch –minimierende Kräfte innerhalb einer Gesellschaft geben kann (Dorsch, 1987).

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Die Autoren Sidanius und Pratto argumentierten ebenfalls anhand der Authoritarian Personality Theory (APT), wobei sie unter anderem davon ausgingen, dass die „APT ein Resultat der Kindererziehung“ (Sidanius und Pratto, 1999, S. 6) verdeutlicht. Demütigung und Ablehnung gegenüber den Kindern halten diese trotzdem nicht davon ab, den Eltern „bedingungslosen Gehorsam“ entgegenzubringen (ebd.). Mit der sozialen Dominanzorientierung (SDO) wurden - mittels einer Skala – Möglichkeiten vorgegeben, um die stabile Disposition zu messen. Sozial-hierarchische Strukturen werden durch sogenannte „legitimierende Mythen“ (Ittel, Kuhl und Hess, 2006) erhalten. Denn fast alle Gruppen glauben an solche Mythen, schließlich festigen sie die Macht der höheren sozialen Gruppe. Dabei handelt es sich um bestimmte gesellschaftliche Charakteristiken. Die beiden Forscher zeigten aber auch ihre Kritikpunkte gegenüber der APT klar auf und sprachen dabei die F- Skala an, die ihrer Meinung nach aufgrund von Voreingenommenheit keine korrekten Ergebnisse lieferte. Sie schlossen sich Altemeyers Theorie an, der mithilfe der RWA-Skala (Right-Wing-Authoritarian) Messungen durchführte, die seiner Ansicht nach die valideren Resultate brachten (Sidanius und Pratto, 1999).

Dave Grossmann setzte sich mit der Fragestellung auseinander, wie sich scheinbar normale Menschen dann zu derartigen Sadisten entwickeln konnten und wie Hemmschwellen bei Tötungsabsichten derart unproblematisch nahezu verschwanden. Er berichtete 2009 von einer Studie, die im Zweiten Weltkrieg von George C. Marshall durchgeführt wurde. Dabei wurde festgestellt, dass nur 15 bis 20 Prozent der Soldaten an der Front ihre Waffen benützten und auf den Feind schossen. Sie begründeten das damit, ihre Hemmungen seien zu stark gewesen. Grossmann präzisiert dies anhand des Angriff-Flucht-Verhaltens, das nur zwischen verschiedenen Spezies angewandt wird. Eine Konstellation von Erweiterung für Drohgebärden und Unterwerfung ist dann geboten, wenn alles innerhalb der gleichen Art bleibt. Diese Notwendigkeit ist unumgänglich, damit die Todesrate gering gehalten werden kann und für ein Erhalten der Spezies gesorgt ist. Gleichzeitig verwies Grossmann auch auf die massive Traumatisierung, die eintritt, sobald eine Tötungshemmung ignoriert wird. Grossmann vertrat die These, dass es möglich wäre, mittels Konditionierung die Hemmung zum Töten zu senken.

Erich Fromms Werke ließen schlüssige Überlegungen anstellen, weil er der Meinung war, dass der „Gesellschaftscharakter“ (Fromm, 1983, S. 238) die Hauptverantwortung trage. Dabei war für ihn maßgeblich, wie ein menschlicher Charakter in der Lage ist, sich

64 anzupassen, welche dynamischen Prozesse sich dabei aufdecken. Fromm war der Ansicht, dass unsere Gedanken „weitgehend von der Persönlichkeitsstruktur des Denkenden bestimmt werden“ (Fromm, 1983, S. 238). Dass dem Charakter eigentlich für unser autoritäres Handeln, Fühlen, Denken eine Gewichtung zugestanden werden muss, war ein augenscheinliches Indiz. Eine analytische Betrachtungsweise untermauerte die Annahme des Gesellschafts-Charakters; aufgrund von mannigfaltigen Gesellschaften entstehen Ideen, woraus sich wiederum unsere Triebkräfte entwickeln. Das heißt, dass es genügend Menschen mit verschiedenen Charakterstrukturen gibt, die individuell nach passenden Gedanken, Zielen und nach Erfolg streben. Gewissermaßen annäherungsweise ist so das faschistische System mit seinen Vertretern erklärbar. Aufgrund ihrer Charakterstruktur hielten Menschen am Glauben fest, das einzig Richtige zu tun bzw. nur einen erteilten Auftrag auszuführen, was den scheinbar autoritativ untermauerten Tod von Hunderttausenden begründete.

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6 Empirie

6.1 Methodik/Vorgehensweise 6.1.1 Qualitative Inhaltsanalyse

Analyse des Interviews mit Georg Renno

Nach ersten Recherchen der relevanten Literatur und des zentralen Theoriemodells stellte sich in weiterer Folge die Frage nach der geeigneten Analysemethode. Das Datenmaterial bestand grundlegend aus historischen Dokumenten, Gerichtsakten sowie einem bereits literarisch aufgearbeiteten Interview von Georg Renno. Damit konnte nicht nur eine vielfältige, sondern vor allem auch umfangreiche Datenbasis geschaffen werden. Aufgrund des äußerst großen Materialbestandes wurde beschlossen, eine qualitative Inhaltsanalyse (nach Mayring) durchzuführen. Der Vorteil dieser Inhaltsanalyse besteht darin, „dass sie streng methodisch kontrolliert das Material schrittweise analysiert“ (Mayring, 2002, S. 114) und vor allem einen guten Überblick über besonders umfangreiche Quellenlagen liefert. Wesentlich dabei war, dass die Bedeutung der Kategorien erkannt wurde. Patrick Rössler (2005) definierte sie insofern, dass es sich hierbei um „formale und inhaltliche Kriterien, die an das Untersuchungsmaterial angelegt werden, handelt“, das heißt, im Mittelpunkt steht ein „theoretisches Konstrukt, das zur Beantwortung der Forschungsfrage gemessen werden muss“ (S. 244). Das Kategoriensystem selbst wurde aus der Summe aller Kategorien gebildet. Bei der Bildung der Kategorien wurde deduktiv - also theoriegeleitet – vorgegangen. Das zur Verfügung stehende Material wurde in einzelne Teile gegliedert und der Reihe nach bearbeitet. An dieser Stelle sollten aufgrund des erarbeiteten Kategoriensystems jene bedeutenden Aussagen identifiziert werden, die es dann galt, aus den Daten zu filtern (Mayring, 2002). Ein Vorgehen der deduktiven Kategorienbildung verlangt die Bildung der theoriegeleiteten Kategoriensysteme vor der Analyse. Ein wesentlicher Aspekt sollte es sein, das Datenmaterial zwar zu kürzen, trotzdem sollten die bedeutenden Auszüge erhalten bleiben. Außerdem war es „Ziel der Analyse, zu einzelnen fraglichen Textteilen (Begriffen, Sätzen...) zusätzliches Material heranzutragen, das das Verständnis erweiterte, das die Textstelle erläuterte, erklärte, ausdeutete (ebd. S. 115). Das heißt, dass ein genaues Durchlesen des Interviews unverzichtbar war, mitunter war es erforderlich, einzelne Textstellen mehrmalig durchzuarbeiten.

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Im Detail richtete sich das Verfahren grundsätzlich nach folgenden drei Schritten, nach denen vorgegangen wurde: „1. Definition der Kategorien: Es wird explizit definiert, welche Textbestandteile unter eine Kategorie fallen sollen. 2. Ankerbeispiele: Es wurden konkrete Textstellen angeführt, die unter eine Kate- gorie fallen und als Beispiele für diese Kategorie gelten sollen. Diese Ankerbei- spiele haben prototypische Funktion für die Kategorie (Mayring, 2002, zit.nach Eckes/Six 1983, S. 118). 3. Kodierregeln: Es werden dort, wo Abgrenzungsprobleme zwischen Kategorien bestehen, Regeln formuliert, um eindeutige Zuordnungen zu ermöglichen“ (May- ring, 2002, S. 119).

Die Recherchen zu dieser Arbeit zeigten bereits, dass sich autoritäre Persönlichkeiten gegenüber anderen Menschen als Macht- und Kontrollorgane benehmen. Auch wenn aktuellere Forschungsansätze – wie Altemeyer und Österreich – mit Adornos Studien nicht immer konform liefen, so eigneten sich für diese Masterarbeit substanziell jene von Adorno als Grundlage zur Kategorienbildung; gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass Altemeyer in den wesentlichen Klassifizierungen, die hier zur Anwendung kamen, mit denen von Adorno übereinstimmte, da auch die sozialen Aspekte nicht außer Acht gelassen wurden. Aufgrund dieser Parallelen entschloss ich mich, die bedeutenden Merkmale der Faschismus- Skala (Adorno et al., 1950) zur Kategorienbildung heranzuziehen. Ankerbeispiele trugen anhand ihrer prototypischen Funktion dazu bei, um den theoretischen Ansatz der Charakterstrukturen zu erkennen.

Zur genauen Erläuterung werden die für die Kategorienbildung ausgesuchten Merkmale mit exakten Definitionen angeführt (hierzu und in Folge: Adorno et al., 1999, S. 81-84): „Konventionalismus: Starres Festhalten an konventionelle Wertvorstellungen des Mittelstandes.  Gehorsam und Respekt gegenüber der Autorität sind die wichtigsten Tugenden , die Kinder lernen sollten.  Wer schlechte Manieren und Angewohnheiten und eine schlechte Erziehung hat, kann kaum erwarten, mit anständigen Leuten zurechtzukommen.  Wenn die Menschen weniger reden und mehr arbeiten würden, könnte es uns allen besser gehen.  Der Geschäftsmann und der Fabrikant sind viel wichtiger für die Gesellschaft als der Künstler und der Professor.

„Autoritäre Unterwürfigkeit: Unterwürfige, kritiklose Haltunge gegenüber idealisierten moralischen Autoritäten der Eigengruppe.

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 Gehorsam und Respekt gegenüber der Autorität sind die wichtigsten Tugenden , die Kinder lernen sollten.  Die Wissenschaften haben ihre Berechtigung, aber es gibt viele bedeutsame Dinge, die der menschliche Geist wahrscheinlich niemals verstehen kann.  Jeder Mensch sollte einen festen Glauben an eine übernatürliche Macht haben, deren Entscheidungen er nicht in Frage stellt.  Junge Menschen haben manchmal rebellische Ideen; wenn sie aber erwachsener werden, sollten sie das überwinden und sich zufriedengeben.  Was dieses Land vor allem braucht, mehr als Gesetze und politische Programme; sind ein paar mutige, unermüdliche, selbstlose Führer, denen das Volk vertrauen kann.  Kein gesunder, normaler, anständiger Mensch könnte jemals daran denken, einen guten Freund oder Verwandten zu kränken.  Wichtige Lehren muß man stets mit Leiden bezahlen.

Autoritäre Aggression: Tendenz, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Normen verletzen, um sie zu verurteilen, zu verwerfen und zu bestrafen.  Wer schlechte Manieren und Angewohnheiten und eine schlechte Erziehung hat, kann kaum erwarten, mit anständigen Leuten zurechtzukommen.  Wer unsere Ehre beleidigt, muß auf jeden Fall bestraft werden.  Sittlichkeitsverbrechen, wie Vergewltigung und Notzucht an Kindern, verdienen mehr als bloße Gefängnisstrafe; solche Verbrecher sollten öffentlich ausgepeitscht oder noch härter bestraft werden.  Es gibt kaum etwas Gemeineres als einen Menschen, der nicht große Liebe, Dankbarkeit und Achtung für seine Eltern empfindet.  Die meisten unserer gesellschaftlichen Probleme wären gelöst, wenn man die Asozialen, Gauner und Schwachsinnigen loswerden könnte.  Wenn die Menschen weniger reden und mehr arbeiten würden, könnte es allen besser gehen.  Homosexuelle sind auch nicht besser als andere Verbrecher und sollten streng bestraft werden.

Anti-Intrazeption: Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen, Sensiblen.  Wenn jemand Probleme oder Sorgen hat, sollte er am besten nicht darüber nachdenken, sondern sich mit erfreulicheren Dingen beschäftigen.  Heute mischen sich immer mehr Menschen in persönliche Angelegenheiten ein, die Privatsache bleiben sollten.

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 Wenn die Menschen weniger reden und mehr arbeiten würden, könnte es uns allen besser gehen.  Der Geschäftsmann und der Fabrikant sind viel wichtiger für die Gesellschaft als der Künstler und der Professor.

Aberglaube und Stereotype: Der Glaube an die mystische Bestimmung des Schicksals; die Disposition, in rigiden Kategorien zu denken.

 Die Wissenschaften haben ihre Berechtigung, aber es gibt viele bedeutsame Dinge, die der menschliche Geist wahrscheinlich niemals verstehen kann.  Jeder Mensch sollte einen festen Glauben an eine übernatürliche Macht haben, deren Entscheidungen er nicht in Frage stellt.  Manche Menschen kann man in zwei Klassen einteilen: die Schwachen und die Starken.  Eines Tages wird es sich wahrscheinlich zeigen, daß die Astrologie vieles zu erklären vermag.  Kriege und soziale Unruhen werden wahrscheinlich eines Tages durch ein Erdbeben oder eine Flutkatastrophe beendet werden, welche die Welt vernichtet.

Destruktivität und Zynismus: Generalisierende Feindseligkeit, Verleumdung des Menschlichen.  Es wird immer Kriege und Konflikte geben, die Menschen sind nun einmal so.

„Machtdenken und ‚Robustheit‘: Denken in den Dimensionen Herrschaft – Unterwerfung, stark – schwach, Führer –Gefolgschaft; Identifizierung mit Machtfiguren; Überbetonung der konventionlisierten Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit.

 Weder Schwäche noch Schwierigkeiten können uns zurückhalten, wenn wir genug Willenskraft haben.  Was die Jugend am meisten braucht, ist strikte Disziplin, harte Entschlossenheit und den Willen, für Familie und Vaterland zu arbeiten und zu kämpfen.  Wer unsere Ehre beleidigt, muß auf jeden Fall bestraft werden.  Es wäre am besten, man setzte in Deutschland einige Vorkriegsautoritäten wieder ein, um Ordnung zu halten und ein Chaos zu verhindern.  Was dieses Land vor allem braucht, mehr als Gesetze und politische Programme, sind ein paar mutige, unermüdliche, selbstlose Führer, denen das Volk vertrauen kann.  Die Menschen kann man in zwei Klassen einteilen: die Schwachen und die Starken.

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 Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörung bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden.

Projektivität: Die Disposition, an unsinnige und gefährliche Vorgäge in der Welt zu glauben; die Projektion unbewußter emotionaler Impulse nach außen.

 Heutzutage, wo so viele verschiedene Menschen ständig unterwegs sind und jeder mit jedem zusammenkommt, muß man sich besonders sorgfältig gegen Infektionen und Krankheiten schützen.  Heute mischen sich immer mehr Mensch in persönliche Angelegenheiten anderer ein, die Privatsache bleiben sollten.  Kriege und soziale Unruhen werde wahrscheinlich eines Tages durch ein Erdbeben oder eine Flutkatastrophe beendet werde, welche die Welt vernichtet.  Die sexuellen Ausschweifungen der alten Griechen und Römer waren ein Kinderspiel im Vergleich zu gewissen Vorgängen bei uns, sogar in Kreisen, von denen man es am wenigsten erwarten würde.  Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörung bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt wird.

Sexualität: Übertriebenes Interesse an sexuellen ˈVorgängenˈ.

 Sittlichkeitsverbrechen, wie Vergewaltigung und Notzucht an Kindern, verdienen mehr als bloße Gefängnisstrafe; solche Verbrecher sollten öffentlich ausgepeitscht oder noch härter bestraft werden.  Die sexuellen Ausschweifungen der alten Griechen und Römer waren ein Kinderspiel im Vergleich zu gewissen Vorgängen bei uns, sogar in Kreisen, von denen man es am wenigsten erwarten würde.  Homosexuelle sind auch nicht besser als andere Verbrecher und sollten streng bestraft werden.

Obwohl Friedrich Hackers Faschismus-Skala die aktuellere darstellt, fiel die Entscheidung für diese Arbeit zu Gunsten Adornos F-Skala. Die Grundlage sah Hacker ebenfalls in Adornos klassischem Werk des autoritären Charakters. Die Beschreibung der Persönlichkeitseigenschaften umfasste auch bei ihm unter anderem den Mangel an Einsicht, Akzeptanz, Reflexion, Phantasie (Hacker, 1990). Solche Charaktere wünschen sich starke Führer, zeigen diesen gegenüber Gehorsam und Respekt und befürworten „strenge Bestrafung aller Andersartigen“ (ebd. S. 17). Das sind Persönlichkeitsattribute, die auch von Adorno et al. (1950) beschrieben werden. Der Unterschied lag darin, dass Hacker die Skala um zwei Kategorien erweiterte, so dass es sich hier also um 10 Kategorien handelte und jede für sich

70 anders bezeichnet wurde als bei jener von Adornos F-Skala. Des Weiteren hinterließ die F- Skala einen „kompakteren“ Eindruc als jene von Hacker.

6.2 Datengrundlage / Materialien

Walter Kohl, Korrespondent der österreichischen Tageszeitung Die Presse bis 1996, führte mit dem Euthanasiearzt, Dr. Georg Renno, ein Interview. Kohl, der 1997 als freier Schriftsteller mit Renno sprach und sich dazu Aufzeichnungen machte, lieferte mit seinem Buch „Ich fühle mich nicht schuldig“ ein Gespräch, das sich über 332 Seiten erstreckt. Der Fragesteller versuchte, ein Psychogramm des damaligen Euthanasie-Arztes zu erstellen. Während der Recherchen und einzelnen Gespräche verfiel auch Walter Kohl zwischendurch dem einstigen NS-Arzt und hatte Mitleid mit dem erzählenden Greis, der dann doch auch von den Orgien und vom ausschweifenden Leben in Hartheim zu berichten wusste. Renno beharrte aber auch noch kurz vor seinem Lebensende darauf, dass die Idioten sowieso nicht gelitten hätten, wenn sie in Hartheim vergast wurden. Er beharrte immer wieder darauf, dass der Führer das so gewollt hätte, er nur ein kleiner Mann gewesen wäre und er sich nicht schuldig fühlte – und trotzdem hatte man zwischendurch das Gefühl, dass er sich jemandem mitteilen wollte, um sein Gewissen zu erleichtern. Er war ein Mann, der sich für den Mord an rund 28.000 zu verantworten hatte (laut Kepplinger, 2008). Bei dieser Zahl ist die Literatur jedoch etwas divergent. Es handelte sich um so viele Pfleglinge, dass ein genaues Nachvollziehen wohl kaum mehr möglich sein wird. Allein in Hartheim sollen es rund 15.000 Vergasungen gewesen sein, für die Renno verantwortlich zeichnete (Kohl, 2000). Im Prozess 1965 wurde taktisch raffiniert vorgegangen. Renno, beziehungsweise sein Anwalt, gaben immer wieder den schlechten Gesundheitszustand Rennos an. Renno hatte Gedächtsnislücken und konnte sich plötzlich an nichts mehr erinnern, sobald Beweise ihn belasteten. Der Prozess wurde letztendlich abgebrochen und Dr. Georg Renno nie verurteilt, wenn auch nie freigesprochen (Kohl, 2010). Dennoch konnte Renno sein restliches Leben als freier Mann führen. Aufgrund dieses Interviews sollte herausgefunden werden, ob es sich bei Dr. Georg Renno um einen autoritären Charakter beziehungsweise um eine Person mit den Syndromen eines potentiell faschistischen Charakters handelte und wenn ja, inwiefern sich diese Ausprägungen in seinen Handlungs- und Denkweisen manifestiert hatten.

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6.3 Ergebnis

Um zu einem Ergebnis zu gelangen, wurde zur Kategorienbildung die von Theodor Adorno (Adorno et al., 1950) sogenannte F-Skala herangezogen. Die F-Skala umfasste neun Merkmale, jedes Merkmal bildete eine eigene Kategorie, in der F-Skala als Code/Ausprägung bezeichnet. In der Spalte Definition wurde das Merkmal beschrieben. Die Ankerbeispiele gaben inhaltlich wichtige Kernpunkte wieder und waren für ein Nachvollziehen notwendig.

Adorno ging vom autoritätsgebundenem Charakter aus und entwickelte mit seinem Forscherteam die Theorie der autoritären Persönlichkeit, wofür die neun verschiedenen Merkmale kennzeichnend waren. Diese wurden in der F-Skala erfasst, wobei F das Wort faschistisch ersetzte und die Persönlichkeitsmerkmale als antidemokratisch zu sehen waren. Diese Charakterstrukturen wurden zur Auswertung auch bei dieser Arbeit angewandt. Die Begründung, die Kategorien aus der F-Skala zu entnehmen, lag darin, dass in diesen Denkmustern alles enthalten schien, was den potentiell faschistischen Charakter ausmachte. Adornos Definitionen erklärten genau jene Charakterstrukturen, die im Nationalsozialismus im Allgemeinen verkörpert wurden. Es fanden sich sehr viele Sätze in den Unterteilungen wieder, die sich mit den Persönlichkeitsmerkmalen der zu Untersuchenden überschnitten. Die Sätze, die Adorno für die F-Skala heranzog, enstammten teilweise aus ehemaligen Leitartikeln führender Illustrierten. Dass hier sehr viele Parallelen auftauchten, war nicht überraschend. Außerdem war es von bedeutendem Interesse, in Rennos Aussagen gelegentlich dieselben Worte wiederzufinden, wie in Adornos Sätzen der F-Skala. Natürlich waren die Sätze nicht immer genau ident, führten sinngemäß aber vor, dass die Denkweisen eindeutig in Richtung des autoritären Charakters tendierten. Vor der empirischen Analyse für diese Masterarbeit wurden auch Überlegungen angestellt, ob es methodisch überhaupt sinnvoll sei, das Kategoriensystem uneingeschränkt von Adorno zu übernehmen und dieses - ohne vorheriges Materialstudium - quasi a priori zu erstellen. Die von Adorno erstellten neun Variablen zeichnen jedoch ein derart umfangreiches Bild eines potentiell faschistischen Charakters bzw. eines Antidemokraten, sodass es vernünftig erschien, hier eine direkte Brücke zwischen Theorie und Empirie zu schlagen. Methodisch betrachtet spricht sich auch die Inhaltsanalyse nach Mayring für ein derartig methodisches Vorgehen aus. Adorno et al., die sich in ihrer Meinung an Freuds Theorie hielten, gaben zudem an, dass sie bei ihren Messungen der akademischen Psychologie folgten. Sie drückten damit aus,

72 dass für sie systematische Formulierungen und direkte Beobachtungen der Charakterstruktur im Vordergrund standen (Adorno et al., 1999). Nachdem für diese Masterarbeit keine direkte Beobachtung möglich war, weil es seitens der Euthanasietäter keine Überlebenden mehr gibt, erwies sich die Inhaltsanalyse mit Adornos F-Skala als geeignet. Eine Befragung war nicht durchzuführen, das letzte Interview fand 1997 zwischen Walter Kohl und Georg Renno statt, worauf sich die Inhaltsanalyse dieser Arbeit stützte.

Obwohl im Vorfeld schon davon auszugehen war, dass das Ergebnis auf einen antidemokratischen Charakter hindeuten würde, verwehrte ich mich dagegen, allzu voreilige Schlüsse zu ziehen. Das Zuschreiben von bestimmten Denkweisen verlangte deswegen ein genaues Vorgehen, um die einzelnen Persönlichkeitsattribute einem Individuum zuzuordnen und war von wesentlicher Bedeutung. Die von Adorno beschriebenen Denkmuster finden sich nicht nur bei Antidemokraten, sondern sind auch bei ganz Normalen Menschen zu bemerken; zynische Menschen sind zum Beispiel nicht immer beliebt, sind deshalb aber nicht sofort als autoritäre Charaktere abzustempeln. Deshalb war es auch wichtig, bei den Ergebnissen darauf zu achten, in welchem Ausmaß Personen zu einer solchen Ideologie neigten, damit die einzelnen autoritären Denkweisen abschließend wieder als eine Gesamteinheit betrachtet werden konnten.

Dr. Georg Renno zeigte Anzeichen aller neun Charakterstrukturen. Aufgrund der Ankerbeispiele wurde festgestellt, dass Renno am meisten zu Konventionalismus sowie Destruktivität und Zynismus tendierte. Autoritäre Aggression hingegen war ein Merkmal, das kaum zu verzeichnen war. Renno war eher der Mensch, der für den Tod Unzähliger verantworlich zeichnete, damit aber nicht prahlte. Er wollte mit den Tötungen nach Außen hin nichts zu tun haben. Renno war kalt und gefühllos, wollte aber nicht direkt beim Tötungsakt dabei sein, sondern machte seine Beobachtungen durch das kleine Fenster, konnte es nicht ertragen, dass diese Menschen ihn womöglich wahrnahmen. Aber es war ein Fakt, dass Renno als Letzter die Unterschrift beziehungsweise das Plus auf die notwendige Liste für die durchzuführenden Tötungen gab.

Nicht anfreunden wollte sich Renno mit der Tatsache, dass die Tötungen in so großen Gruppen stattfanden. Seine Einstellung gegenüber der Euthanasie konnte er nicht mehr dementieren, er versuchte jedoch immer wieder zu argumentieren, dass er davon überzeugt

73 gewesen wäre, dass er stets nach dem Gesetz gehandelt hätte. Es war ein Eingeständnis, dass er über das Vergasen Bescheid wusste, nachdem er meinte, dass ihm lieber gewesen wäre, es wären nur jeweils zwei bis drei Personen zugleich in den Vergasungsraum gekommen. Ansonsten war Renno der Ansicht, die Vergasung sei ein sanfter Tod gewesen und stellte für die Betroffenen eine Erlösung dar.

Auch wenn Renno sich im Interview immer wieder versuchte herauszureden, war doch deutlich zu erkennen, dass er jedes Mal, wenn es für ihn unangenehm wurde, Erinnerungslücken vorschob. Er fokussierte sich primär auf das Regime beziehungsweise auf den Führer und vor allem auf die T4-Zentrale, die ihn in seinem Glauben gestärkt hätten, dass das alles seine Richtigkeit habe. Er sei immer davon ausgegangen, was der Führer gesagt habe, müsse getan werden und das sei auch alles im Rahmen der Legalität passiert. Auch im Alter von 90 Jahren verstand es Renno, an den Behauptungen festzuhalten, nicht bei den Ermordungen von KZ-Häftlingen im Rahmen der Aktion 14f13 involviert gewesen zu sein. Auch wenn sich diese Arbeit im Wesentlichen mit den Euthanasie- und nicht mit den KZ- Morden beschäftigte, so sollte in diesem Zusamenhang Rennos stereotype Verhaltensweise aufgezeigt werden. Von dieser Darstellung ging Renno auch beim Prozess nicht ab, obwohl es diesbezüglich Zeugenaussagen gab, die ihn schwer belasteten. Renno beschrieb sich selbst und war der Ansicht, er sei kein Nationaler gewesen. Das lässt sich nicht mit der Tatsache verbinden, dass er 1930 in die NSDAP und 1931 in die SS eintrat. Im gleichen Atemzug sagte er, er wisse auch nicht, warum er ein bisschen so sei. Er war sich also mitunter bewusst, dass er eben so war, wie er war. Er war ein Mensch, der alle Charakterstrukturen einer potentiell faschistischen Person zeigte, alle seine Denkweisen, sein Zynismus, seine Arroganz, seine Kälte, seine autoritäre Unterwürfigkeit gegenüber dem Regime kennzeichneten ihn. Und zum Großteil fühlte er sich wohl als Euthanasiearzt. Es war nie die Rede, dass sich Renno gegen einen Befehl ausgesprochen hätte, oder dass eine Vergasung nicht stattgefunden hätte. Dafür war seine Schwäche zu sehr ausgeprägt. Er beteuerte auch immer, nur die Nummer Zwo nach Lonauer gewesen zu. Dieser Umstand muss ihm zum damaligen Zeitpunkt zwar geschmerzt haben, zum Zeitpunkt des Prozesses nutzte Renno diese Tatsache für sich als Ausrede, wie zum Beispiel, dass er nie bei einer Vergasung dabei gewesen wäre, zumindest hätte er nie selbst den Gashahn bedient. In Bezug auf Dr. Lonauer konnte er keine Angaben machen. Obwohl die Durchführung in den Zuständigkeitsbereich der Ärzte gefallen wäre, verwies Renno diesbezüglich auf die Brenner. Es schien, als lebte Renno in dem Irrglauben, dass es nicht so wichtig wäre, was ein Mensch 74 machte, solange er es gut machte. Dies ist genau jenes Merkmal, das der Anti-Intrazeption zuzuordnen ist. Es geht um die subjektive Anschauungsweise. Adorno beschrieb den Anti- Intrazeptiven so, dass „er nicht wissen will, was die Menschen fühlen und denken und lehnt unnötiges Geschwätz ab“ (Adorno et al., 1999, S. 54). Renno interessierte es überhaupt nicht, wie es all den Menschen in den Gaskammern ging. Er vermied jeden Kontakt mit ihnen. Vielleicht hätte das zu einer Beschäftigung mit sich selbst geführt, die ihm Angst bereitete. Hatte Renno Angst, er könnte die Kontrolle über seine eigenen Emotionen verlieren? Das war natürlich eine Vermutung, die berücksichtigt werden musste. Denn laut Adorno et al. (1999) steckt hinter Anti-Intrazeption immer eine Ich-Schwäche. Im Vergleich mit Renno wäre davon auszugehen. Sein Ich konnte er als Euthanasie-Arzt stärken. Die Entscheidungsgewalt über Leben und Tod dürfte ihm wohl die notwendige Stärke gegeben haben.

Die Dorfbewohner von Hartheim und Alkoven erzählten, dass viele Verantwortliche des Schlosses Hartheim – unter anderem auch Renno – sehr wohl Kontakte mit der Bevölkerung pflegten. Sie verweilten in gastronomischen Betrieben und unterhielten sich mit den Einheimischen. Hätte man es im Nachhinein nicht besser gewusst, wäre nicht davon auszugehen gewesen, dass es sich um Nazis und Massenmörder handelte, sondern um ganz normale Menschen. Somit ist anzunehmen, dass bei Renno jemand war, der sein Verhalten so steuerte, wie es von ihm erwartet wurde, ansonsten war er keine allzu auffällige Person, keiner, der Menschen in aller Öffentlichkeit erschoss41, um sich zu profilieren. Er war eher der Duckmäuser, der ohne Ellbögen, wie ihm von einem Vorgesetzten vorgeworfen wurde. „Sein Charakter lag hinter dem Verhalten und in ihm“ (Adorno et al., 1999, S. 6), seine Charakterstrukturen wurden in den Ankerbeispielen deutlich. Das heißt, beim Charakter geht es nicht nur um die Charakterstrukturen eines Individuums, sondern um das Gesamte, auch um die Kräfte, die in einer Person wirken – das Reaktionspotential. Wie schon erwähnt, spielte bei Renno die Vertreibung aus dem Elsass in seiner Kindheit eine wesentliche Rolle. Das bestätigte, wie bedeutend Bedingungen der Umwelt waren und auch höchstwahrscheinlich Rennos Charakter mitprägten. Der soziale Status sowie der wirtschaftliche Faktor wurden dabei nicht außer Betracht gelassen. Renno war ein angesehener Arzt mit gutem Einkommen. Diesen Status erwarb er sich im nationalsozialistischen System, obwohl er im Interview immer versuchte, passende Ausreden parat zu haben. Er bemühte sich, das Gespräch immer dorthin zu leiten, um von seiner Person

41 Es war kein Ort wie Auschwitz, wo Menschen zum Beispiel an der sogenannten „schwarzen Wand“ oder der „alten Rampe“ (Auschwitz Prozess, 1963) exekutiert wurden.

75 abzulenken. Wenn das nicht gelang, konnte er sich nicht mehr entsinnen, wurde immer leiser, ein Verstehen für den Fragesteller, Walter Kohl, unmöglich. Damit verriet Renno aber auch teilweise seine Denkweisen. Bei manchen Fragen bereitete es ihm überhaupt keine Probleme, klar und deutlich zu antworten, war in der Lage, äußerst präzise über bestimmte Situationen zu berichten und es imponierte ihm sogar fast 70 Jahre danach, als er bspw. von den zahlreichen Affären der Anderen im Schloss erzählte. Aber wenn es explizit um ihn selbst ging, für welche Tötungen er die Verantwortung zu tragen hatte, traten Probleme mit der Erinnerung auf. Das einzige Eingeständnis, das Renno machte, war, dass er nach dem Befehl des Führers handelte, jedoch immer mit der Bemerkung, dass er sich nicht schuldig fühlte und die Betroffenen sowieso einfach nur eingeschlafen wären oder nichts mitbekommen hätten. Denn für ihn waren das sowieso nur geistig Tote.

Die qualitative Inhaltsanalyse ergab mittels der Kategorienbildung, dass es sich bei Dr. Georg Renno um eine nach Macht strebende Person handelte, die die Merkmale für den potentiell faschistischen Charakter erfüllte. Auffallend war, dass selbiger sehr zu Destruktivität und Zynismus tendierte, nachdem er mehrmals darauf hinwies, dass Feinde getötet werden sollen, oder Berichte über Gräueltaten in Europa übertrieben worden seien. Renno sprach ebenfalls davon. Er äußerte sich im Interview mit Kohl zum Beispiel über lebensunwertes Leben, dass diese Opfer an ihm und Lonauer (seinem Vorgesetzten) vor ihrem Tod vorbeimarschieren mussten. Und sie wurden dabei auch noch fotografiert. Renno hatte an dem, was Anderen Schmerzen bereitete, Gefallen gefunden. Wie zum Beispiel im Ankerbeispeil von S. 241 kam Rennos autoritärer Charakter wiederum klar zum Ausdruck, als er erzählte, wie einer der Häftlinge einen anderen in den Ofen gestoßen hätte. Er fuhr hier fort und meinte: „Der ist von den Häftlingen euthanasiert worden“ (Kohl, 2000, S. 241). An dieser Stelle wurde bei Renno gleichzeitig deutlich, dass er rund um die Euthanasie Bescheid wissen musste, sonst hätte er diesen fachlichen Begriff nicht verwenden können. Renno bewies sehr viele negative Haltungen gegenüber den Pfleglingen in den Anstalten. Auch im Interview stellte er die Vergasungen derart banalisiert dar, als er die Feststellung machte, dass er nicht mehr genau wüsste, wie lange das Gas gelaufen sei und dann alle am Boden gelegen seien (S. 101). Renno war von seiner guten Arbeit überzeugt, alles andere wäre nur für eine Person schwacher Natur gewesen. Vielleicht sah er sich, beziehungsweise seinen Vater, im Nachhinein als zu schwach, um die Vertreibung aus der Heimat verhindern zu können. Deshalb könnte man davon ausgehen, dass Renno seine Schwäche von damals kompensieren wollte. Jedoch die Hilflosigkeit der betroffenen

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Pfleglinge löste in ihm Verachtung und Hass aus, im Grunde genommen richtete sich dieser Hass aber auch gegen den eigenen Vater, der zur Zeit der Vertreibung aus der Heimat selbst hilflos gegen die Mächtigen war. Seine Eltern versagten, sie konnten ihn als Kind nicht vor den Angreifern, die sie zur Flucht zwangen, beschützen. Aber in der Funktion als Dr. Georg Renno war er der Mächtige, der nicht mehr hilflos dastand, sondern sich zu helfen wusste und zusah, wie es anderen erging, die aus ihrer hilflosen Situation nicht mehr herauskamen; und solche Menschen hasste er im Grunde genommen, weil auch seine Eltern damals überhaupt nichts dagegen unternahmen, damit sie eventuell doch in seiner Heimat, in der er sich so wohl fühlte, hätten bleiben können.

Diese Macht, die Renno in die Position brachte, über Leben und Tod zu entscheiden, könnte tatsächlich die Ersatzbefriedigung von damals gewesen sein. Nun war er nicht mehr das hilflose Kind, jetzt war er der angesehene Euthanasiearzt, Dr. Georg Renno. Ein weiteres Beispiel für Destruktivität und Zynismus war die Situation, von der Pater Jakob Mühlböck berichtete. Dieser war sehr bemüht, den Todeskandidaten beizustehen. Nachdem Pater Jakob die Krücken zweier Ordensbrüder am Bus lehnen sah und sich darüber erkundigte, gab Renno zur Antwort: „Die werden sie ohnehin nicht mehr brauchen“ (Kohl, S. 90). Man merkte, dass für Renno ein Menschenleben keinen Wert hatte, dass einfach Feindseligkeiten vorhanden waren, weil für ihn die Menschen zu verweichlicht waren. Er wollte anscheinend beweisen, wie ein kontrolliertes Leben auszuschauen hatte. Er stellte sich mit seinem forschen Auftreten genau in diese Schiene. Er zeigte auch überhaupt keinerlei Gefühlsregungn, wenn er davon sprach, dass das Sterben in der Gaskammer kein Kampf und keine Qual gewesen seien. Analog zu Adornos Beschreibung dieses Merkmals war auch Renno der Ansicht, dass „zuviele Menschen ein unnatürliches, verweichlichtes Leben führten“ (Adorno, 1999, S. 58). Dabei gab es unzählige Zeugen, die vom Gegenteil berichteten; Menschen die schrien und verzweifelte Klopfzeichen gaben. In welcher Todesangst sich diese Betroffenen befanden, davon war von Renno nichts zu hören. Für diesen Mann galt das alles richtig, wenn er zu seinem eigenen Vorteil handelte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Renno dieses Leben genoss.

Des Weiteren zeigte die Kategorie Konventionalismus, dass Renno auch hier die Merkmale erfüllte. Für ihn war es wichtig, dass ein Mensch Dinge machte, egal welche, Hauptsache er machte sie gut (Adorno, 1999). Renno sprach sehr abwertend über Menschen; er war davon überzeugt, dass Menschen zur damaligen Zeit zu „unkritisch und naiv waren,

77 vor allem was die moderne Kirche betraf“ (Adorno, S. 48). Für ihn galten nur starre Konventionen, davon durfte auf keinen Fall abgegangen werden, dafür war dieser Mann immer wieder eingetreten. Das kommt auch in verschiedenen seiner Aussagen ganz klar hervor, wie zum Beispiel als er meinte: „Es hat eh keiner geschrien, so`nen Tod möchte ich haben, die Pflichterfüllung und Regeln sind wichtig“ (Kohl, 2000, S. 103). In seiner Aussage, in der er meint, dass eine enge Bindung an lebensunwerte Existenzen zu Mitleid führe und trotzdem nichts an der Notwendigkeit des Gnadentodes ändere (ebd., S. 234), wird wiederum bestätigt, wie sehr sich dieser Mensch an die starren konventionellen Bindungen hielt. Auf keinen Fall brach er dafür irgendwelche Regeln. Es lässt abermals die Vermutung aufkommen, dass dies mit seiner in der Kindheit erlebten Vertreibung zusammenhängt. Auch damals wurde rigoros durchgegriffen. Für Renno muss es so erlebt worden sein. Auch für ihn wurden damals die Gesetzte strikt eingehalten, durch die er und seine Familie aus dem Elsass vertrieben wurden.

Die Autoritäre Unterwürfigkeit wurde im Interview ebenfalls sehr deutlich, es kam klar zum Ausdruck, dass Renno einen festen Glauben an eine Macht (an den Führer) hatte, die über ihm stand und deren Entscheidungen er selbstverständlich auch nicht in Frage stellte. Er ging für diese Macht soweit, dass auf seine Befehle hin Menschen getötet wurden. Renno war zwar eine imposante Erscheinung als großer, preußischer Arzt, der seine Befehle gab, die ausnahmslos ausgeführt werde mussten, trotzdem war er ein Mitläufer. Er war der typische Ja-Sager; auch ihm waren noch andere (höhere) Befehlsgeber übergeordnet, deren Anordnungen er zu befolgen hatte, was er im Prozess und auch im Interview immer wieder stark hervorhob. Es war ihm ungeheuer wichtig, „-Jawohl zu sagen, wenn jemand laut etwas andordnete, das gehörte zum Wesen des Mannes“ (Kohl, 2000, S. 13). Einerseits trieb diesen jungen Mediziner anscheinend sein Ehrgeiz dazu, andererseits behauptete er selbst, dass „gemacht werden musste, was der Führer gesagt hatte“ (ebd., S. 49). Gegenüber dem Führer sah er sich bloß als der kleine Mann, der zu jenem aufblicken konnte. Auch wenn er alibimäßig hinterher nachfragte: „Was blieb einem kleinen Mann übrig?“ (ebd., S. 73). Das Leben gefiel dem jungen Arzt, als er endlich gut verdiente und die Einheimischen schüchtern zu ihm aufblickten, wenn er durch den Ort ging. Er bezeichnete sich selbst zwar nur als „Nummer zwo“ (ebd., S. 147) hinter Lonauer, aber es war für ihn dann doch sehr von Bedeutung mit der Prominenz, die immer wieder in Hartheim verweilte, in Kontakt zu kommen. Seine Unterwürfigkeit ist nicht zu übersehen, zum Beispiel, als er erwähnte, sein erster Chef hätte zu ihm gesagt, er hätte keine Ellbogen. Das hatte er alles hingenommen. Er 78 bewies diese Eigenschaft abermals, nachdem er genau mit der gleichen Person und mit den „Amis Likör trinkt“, (Kohl, 2000, S. 265), sich mit ihnen nett unterhielt; er erhielt daraufhin Tag und Nacht Ausgehzeit. Die Amerikaner dokumentieren: „this man is doctor, let him pass for day and night“ (ebd., S. 265). Obwohl für ihn Gehorsam und Respekt oberste Priorität hatten, wusste Renno dies auch sehr gut auszunutzen. Er war dem Führer komplett untertan, hingegen dürfte er gegenüber seinen eigenen Eltern nicht mehr die große Liebe emfpunden haben, sie hatten ihn wohl eher enttäuscht. Adorno beschreibt als Merkmal autoritäre Unterwürfigkeit ebenfalls, dass wirklich verächtlich sei, wer seinen Eltern unaufhörliche Liebe, Dankbarkeit und Achtung entgegenbringt (ebd., S .48). Diese Achtung und Dankbarkeit zeigte er lieber seinem Führer und dem gesamten nationalsozialistische Regime, dem er einen festen Glauben schenkte und sich unterwarf.

Das Merkmal von Machtdenken und die Robustheit (Kraftmeierei) wurde ebenfalls durch Renno verkörpert. Er gab zu verstehen, dass seitens des Regimes eine Kränkung nicht geduldet und jedermann dafür bestraft wurde. Im Ankerbeispiel von S. 22 des Interviews mit Walter Kohl wurde wieder ganz deutlich, wie sehr Renno unter der Vertreibung litt. Er beschrieb den ersten Weltkrieg, und dass die Deutschen als Verbrecher beschimpft wurden. Währenddessen er über seine Erlebnisse berichtete, wurde auch seine gepresste und bittere Stimme bemerkbar – und je öfter er seine Erzählungen darbot, desto grober, hochmütiger und herber wurden auch seine Bemerkungen wie zum Beispiel: „Ich habe doch nicht Medizin studiert, um den Gashahn zu bedienen!“ (Kohl, 2000, S. 73). Oder wenn er von Hartheim prahlte, dass er dort eine schöne Zeit verbracht hätte, er hatte Verbindungen zu sämtlichen Leuten an der Spitze der Partei (Ostmark, Berlin) und auch ein gutes Einkommen. Es kristallisierte sich heraus, wie wichtig diese Prestigeangelegenheiten für Renno waren, in der Öffentlichkeit zu stehen, die Macht nach außen zu demonstrieren und zeigen zu können, dass er sich auch den Parteimitgliedern präsentieren konnte, ihnen seine muskalischen Darbietungen geben durfte. Es war für Renno wichtig, dass er mit im Geschehen war, mit dabei bei den Mächtigen. Für ihn war es von äußerster Wichtigkeit, mit Robustheit aufzutreten, was er auch mit Worten im Interview repräsentierte, als er wieder einmal über einen Pflegling eine Bemerkung machte: „ein totes Objekt praktisch, hat bloß geschrien, nicht ansprechbar“ (ebd., S. 234). Wenn Renno von den Anstaltspfleglingen spach, dann überhaupt nur von Idioten, Objekten oder dergleichen.

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Dass das Merkmal der Anti-Intrazeption ersichtlich wurde, davon war auszugehen und wurde bestätigt. Renno war kein sensibler Mensch, hatte zwar Sinn für die Musik aber ansonsten trat nichts Phantasievolles hervor, vor allem nicht, wenn es um Humanität ging, um menschliche Handlungen. Er versprühte nur Kälte und kannte überhaupt keine Art von Mitgefühl, als er zum Beispiel meinte, nachdem ein Kranker versucht hatte, das Fenster hochzuklettern: „Ich weiß nicht mehr, wie lang das Gas gelaufen ist, die sind dann lang so liegen geblieben und von dort verbrannt worden“ (Kohl, 2000, S. 101). Unter anderem lautete eine Aussage: „An einen kann ich mich erinnern, das war ein Schizophrener, also der hat wirklich dorthin gehört. Ich kann sagen, für die Kranken war das keine Qual“ (ebd., S. 103).

Aberglaube und Sterotypie konnten insofern festgestellt werden, als Renno erneut auf die großen Verletzungen in seiner Kindheit einging. Ohne igendeinen Zusammenhang begann er mit diesen Schilderungen. Es passte überhaupt nicht zu dem, was er gerade erzählte, wie zum Beispiel im Interview (S. 29) ersichtlich wurde. Er verfiel des Öfteren in seine rigiden Denkweisen, die er dann dementsprechend artikulierte. Meistens verfing er sich dabei in der Vergangenheit beziehungsweise seiner Kindheit und Jugend in Verbindung mit seiner Heimat, dem (damaligen deutschen) Elsass.

Auch das Merkmal Projektivität war bei Renno kennzeichnend, wie zum Beispiel im Ankerbeispiel festgehalten, als Renno meinte, dass die Amerikaner dann da waren und Mauthausen besetzt haben und Ziereis42 schwer verwundet worden und verstorben sei (ebd., S. 252). Renno vertrat die Meinung, dass es immer Kriege geben würde, in seinen Äußerungen war sehr viel Negatives zu hören, er glaubte an viele Vorgänge, die er aber als normal empfand. Alle seine negativen Empfindungen wurden in einer Form auf die schuldlosen Pfleglinge projiziert. Bezüglich der Amerikaner glaubte er, dass diese Gefahr bedeuteten und deshalb der Lagerkommandant Ziereis gestorben sei.43 Die Projektion seiner Triebimpulse war ihm natürlich nicht bewusst. Die negativen Gedanken schienen nicht von Bedeutung zu sein, auch nicht beim Erzählen, sondern Renno schweifte ab und gab Informationen, die nicht im Kontext zum zuvor Gesprochenen standen.

42 Franz Ziereis war ein deutscher Nationalsozialist, wurde 1939 nach Mauthausen geschickt, um die Dienststelle des Lagerkommandanten zu übernehmen ( Mauthausen-memorial, o.A.). 43 Am 5. Mai erfolgte die Befreiung durch amerikanische Einheiten, mehr als 20.000 Erkrankte wurden in anderen öffentlichen Krankenhäusern behandelt. An den Folgen starben trotzdem noch tausende PatientInnen (Goldberger J., Sulzbacher C., 2008, S. 256). 80

Was das Syndrom der Sexualität betraf, wusste Renno sehr viel über die intensiven zwischenmenschlichen Konktakte im Schloss Hartheim zu berichten. Renno selbst jedoch dieses Syndrom zuzuschreiben, wäre haltlos. Das einzig Auffallende war, dass Renno beim Untersuchungsrichter von Eröffnungsdrinks mit neuen Bürokräften erzählte und dabei ausdrücklich darauf hinwies, dass diese „Barbesuche völlig harmlos gewesen seien“ (Kohl, 2000, S. 176). Der Eindruck entstand doch, dass Renno auch in dieser Angelegenheit den Fragestellungen auswich. Es war eventuell davon auszugehen, dass mehr dahinter war, als Willkommensgetränke und auch Renno involviert war. Dies wurde dadurch bekräftigt, als Renno zu Frauengeschichten befragt wurde. Plötzlich zeigte sich der Greis von einer jugendliche Seite, mit einem Grinsen auf den Lippen, straffer Körperhaltung und meinte, dass „die Weiber alles Ludern im Schloss gewesen wären“ (ebd., S. 177). Gleichzeitig war sein Bemühen, von sich abzulenken und von den Affären der Anderen zu erzählen. Vielleicht deshalb, weil ihm eine Affäre mit der Büroleiterin und Chefsekretärin Lonauers nachgesagt wurde. Aus dieser Beziehung war angeblich ein Kind entstanden, das Renno – laut eines Fotos – sogar ähnelte. Inwieweit dies der Wahrheit entsprach, war von Renno nicht in Erfahrung zu bringen. Über einen Zeitraum, der viele Jahre danach noch immer die ganze Welt interessierte, vermied es der alte Mann noch immer, von sich zuviel preis zu geben. Dafür reichten auch die Behauptungen über seinen angeblichen Sohn aufgrund seiner ihm nachgesagten Affäre mit der Chefsekretärin Lonauers nicht aus. Aber er redete dann unbeirrt weiter von den intensiven Bekanntschaften zwischen der Hartheimer Besatzung und den Dorfbewohnern sowie den exzessiven Vorgängen im Schloss. Das könnte ein Indiz dafür gewesen sein, dass Renno als Vater von Helene Hintersteiners Kind in Frage gekommen wäre. Er wollte jedoch auch dafür nicht verantwortlich sein und gab seine Vaterschaft nie zu. Er zeigte Abwehrreaktionen und beschloss, auch jetzt in seinem letzten Lebensabschnitt, sich damit nicht mehr zu belasten.

Als Renno am Ende seines Lebens angelangt war, verherrlichte er noch immer alle diese Vorgehensweisen, wusste insgeheim, dass nicht alles rechtens war – so erschien zumindest der Eindruck - gestand sie aber trotzdem nicht ein. Er fühlte sich nicht schuldig, denn er wollte noch immer glaubhaft machen, dass die Euthanasiemorde ethisch vertretbar wären. Eigentlich erwartete man sich als Leser, dass Renno eine Lebensbeichte abgibt, sich seiner Schuld bekennt. Das Interessante dabei war die Erkenntnis, dass seitens Renno zwar ein Eingeständnis bezüglich der Euthanasie bekundet wurde, er sich trotzdem nie schuldig fühlte. 81

Der Fragesteller und Autor, Walter Kohl, war selbst des Öfteren in der Situation dem Bild des Greisen zu verfallen und nicht dem Menschen Dr. Renno, der als NS-Arzt für Zigtausende Tötungen verantwortlich zeichnete (von Mai 1940 bis August 1941 wurden in Hartheim 18.269 Menschen ermordet und verbrannt), zu sehen. Dem Interview war zu entnehmen, dass dieser einst so preußisch kühle, überlegene und hochgestellte T4- Begutachter in seinen letzten Tagen dann doch einen Vertrauten suchte, um sich eventuell von seiner Last zu befreien. Obwohl Rennos Eingeständnis – Walter Kohls Meinung nach - zu spüren war, beharrte dieser nach wie vor darauf – und mit vollster Überzeugung –, dass es Euthanasie heute auch noch gäbe, nur die Medizin sei viel fortgeschrittener. Wie von Adorno beschrieben wurde, hält der autoritäre Charakter starr an Konventionen fest, und auch Rennos Persönlichkeit brachte dies zum Ausdruck. Renno war das Paradebeispiel des Mitläufer-Typs, er sprach oft genug von Pflichterfüllung beziehungsweise den Regeln, die zu befolgen waren und vor allem von Nitsche, der ihm anfangs schon in den Dienst schickte, mit dem Befehl, er solle gut aufpassen, dass nichts passiere. Renno selbst charakterisierte sich beim Interview nachträglich nur als der Aufpasser, er habe im Auftrag einer Autorität gehandelt, der er nicht widersprechen durfte, wobei hier der Aspekt der autoritären Unterwürfigkeit eindeutig vorzuliegen schien. Und er war bis zum Schluss von der Korrektheit überzeugt, die Menschen erlöst zu haben.

Bei Betrachtung des Lebensalters der damaligen Euthanasie-Ärzte, war auffallend, dass sich die meisten im Alter zwischen 26 und 33 Jahren befanden und noch keine lange Berufserfahrungen vorzuweisen hatten – genauso wie Renno. Zudem fehlte es ihnen an „Ellbögen“ (Kohl, 2000, S. 49). Die Struktur musste vorgegeben werden, auch wenn es sich dabei um Tötungsaufträge handelte. Was der Führer anordnete, wurde ausgeführt – nur selbst keine Verantwortung tragen. Der Ehrgeiz für Karriere war dessen ungeachtet vorhanden. Die Position als T4-Begutachter und Euthanasiearzt brachte ein gutes Einkommen, immerhin 1.500 Reichsmark monatlicher Verdienst. Deutlich wurde, dass Gehorsam und Unterordnung gegenüber dem Führer für Renno oberste Priorität hatten und er die damit einhergehenden, unterdrückten Aggressionen auf andere weiter projizierte. Diese Projektionen fanden bei Menschen statt, die keine Möglichkeit hatten, sich in irgendeiner Weise zu verteidigen oder eine Art von Aggression weiterzugeben, sie mussten Aggressionen einstecken und ihnen wurde in weiterer Folge auch das Leben genommen. Bei Renno fiel auf, dass er sehr oft Fragen auswich und dann irgendeine andere Geschichte erzählte. Es war ihm ein Anliegen,

82 von anderen hochdotierten NS-Männern - von „vollkommen versackten“ (Kohl, 2000, S. 119) - zu berichten. Jedes Mal, wenn er ablenken wollte, flüchtete er sich in eine andere Erzählung.

Als die T4-Aktion im August 1941 offiziell eingestellt wurde, agierten in dieser zweiten Phase die Ärzte umso intensiver. Und das auf Kosten unzähliger Menschenleben, allein Zigtausende gingen auf das Konto von Dr. Georg Renno, der angeblich weg wollte von Hartheim, wie er im Interview ausdrückte. Doch dagegen deuteten zu viele Indizien. Wenn Beweise zu erdrückend wurden, konnte sich der ehemalige Nazi-Arzt nicht mehr erinnern. Sogar als alter Mann mit 90 Jahren gab er auf keinen Fall preis, dass ihm Hartheim gar nicht zuwider war, und er es genoss, seine autoritäre Persönlichkeit auch der Bevölkerung darzubieten.

Vom tiefenpsychologischen Standpunkt betrachtet, können laut Mitscherlich (1972) Erinnerungslücken auftreten, und möglicherweise konnte sich Renno im Nachhinein tatsächlich nicht mehr erinnern, für welche Taten er, als stellvertretender Leiter der Anstalt, einst in der Masse federführend war. Die Masse, die dafür notwendig war, war vorhanden; darüber hinaus konnte man den Aspekt der Androhung von Strafen hinzuziehen, sodass auch das ein zusätzlicher Faktor gewesen sein könnte. Doch Rennos kognitiver Zustand – auch während seines Prozesses - schien nicht beeinträchtigt. Es war augenscheinlich eine gute Taktik, die hier angewendet wurde. Eine gut durchdachte Vorgehensweise des Rechtsanwaltes und des Angeklagten, Dr. Georg Renno, die für den einstigen Euthanasiearzt auf diese Art und Weise einen Gefängnisaufenthalt abwenden konnte.

Georg Renno hatte es zeitlebens anscheinend nie verkraftet, dass seine Familie aus der elsässischen Heimat vertrieben wurde. Ein Verzeihen, vor allem seinem Vater gegenüber, gelang dem verletzten Renno nie, weil seine Eltern nicht im Stande gewesen waren, die Vertreibung zu verhindern. Die damalige Hilflosigkeit des Vaters hatte in Renno den Hass ausgelöst, der mutmaßlich ein Leben lang in ihm steckte. Es kam immer wieder ganz klar hervor, mit wieviel Hass und Verachtung Renno auf die Menschen reagierte, die ihm hilflos gegenüber standen. Er spürte auch deren Abhängigkeit von ihm, und auch ihre Angst, die sie vor ihm hatten. All dies deutet auf Charaktereigenschaften, die dem autoritären Charakter und auch dem Faschismus zuzuordnen sind, hin. Inwieweit dem Vater Rennos eine patriarchalische Rolle zuzuweisen wäre, war nicht nachkonstruierbar, wäre aber von Interesse gewesen, da gerade solche Kinder dann zu faschistischen Ideologien neigen. Renno 83 kennzeichnete sich durch mehrere pathologische Merkmale. Sadomasochistische Symptome verdeutlichten, wie leicht es ihm fiel, die Menschen in seiner Umgebung nicht nur zu peinigen, sondern kaltblütig auf grausame Weise euthanasieren zu lassen. Während mit Kollegen rauschende Feste gefeiert wurden, mussten Menschen zum gleichen Zeitpunkt im selben Gebäude sterben, worüber die anwesende Gesellschaft zu scherzen wusste.

Renno beteuerte vor Gericht immer wieder, nicht schuldig zu sein. Ansonsten präsentierte sich der Euthanasie-Arzt gerne in seiner glanzvollen, faschistischen Welt, in der er mitentscheiden durfte über Leben und Tod. Aufschlussreich dabei war, dass aus seiner Sicht die unzähligen Tötungen als Erlösung für die Betroffenen dargestellt wurden. Rennos Äußerungen ließen mit anderen Ärzten Vergleiche anstellen. Als der Nazi-Arzt, Fritz Klein, zu den Euthanasiemorden gefragt wurde, antwortete dieser lapidar: „Natürlich bin ich Arzt und möchte Leben erhalten. Und aus Respekt vor dem menschlichen Leben würde ich einen entzündlichen Blinddarm aus dem kranken Körper entfernen“ (Lifton, 1988, S. 21). Klein assoziierte den Blinddarm mit den Juden. Renno und auch alle anderen Euthanasieärzte dürften ebenfalls den Drang verspürt haben, Enzündungen im Körper der Menschen zu entfernen. Alle Menschen, die nicht völlig gesund oder arisch waren, mussten beseitigt werden, denn sie wurden als Krankheit und somit als Bedrohung gesehen. Vielleicht war es ebenfalls reine Taktik, oder Renno dachte an die Vertreibung, als er im Interview zum Ausdruck brachte: „Ja, ich habe auch schon oft überlegt, warum war ich denn ein bissel so bin – aber ich war kein Nationaler, absolut nicht.“ Fallend (2000) interpretierte treffend, indem er Renno zitierte, er „war ein nationaler Hasser“. Diesen Hass konnte er in seiner Funktion als Euthanasiearzt sehr gut abgeben, er genoss sogar alle Vorteile dabei. Er war genau derjenige, der nicht Nein sagte, er war nur der, der in übermäßigem Fleiß begutachtete und die Meldelisten ausfüllte. Er verherrlichte das System und eigentlich auch sich selbst. Renno hatte schließlich zugegeben, dass die Euthanasie gut sei, dass er den Gashahn aufdrehte und dass das alles notwendig gewesen sei. Es war sein Machtdenken, sein destruktiver Zynismus, sein autoritärer Charakter. Dass er mit dem Vergasen überhaupt kein Problem zu haben schien, ist ein Phänomen, das laut Lifton (1988) mehrere Ärzte betraf. Bei dieser Tötungsmethode konnten sich die Ausführenden sehr gut von den Hinzurichtenden distanzieren44. Das Thema Alkohol war nicht außer Acht zu lassen, nachdem Renno (und auch andere Ärzte) - mit einer unglaublichen Gleichgültigkeit - von exzessiven Feiern berichtete. Renno erzählte

44 Das war eine Überlegung der Nazis, „um psychische Probleme bei Erschießungen von direkt gegenüberstehenden Juden“ zu vermeiden (Lifton, 1988, S. 20). 84 schwärmerisch von den rauschenden Festen, und dass Alkohol von der gesamten Obrigkeit gerne konsumiert wurde.

Rennos weiterer Lebensweg verlief angesichts dieser Tatsachen recht einzigartig. Nachdem er mit gefälschtem Namen beim Pharmakonzern Schering zuerst als wissenschaftlicher Mitarbeiter eine Stelle erlangte, wurde ihm auch die Stelle des Leiters für den Außendienstbereich angeboten. Auch Rennos Verhaftung verlief bemerkenswert. Er wurde einvernommen, angeklagt und dann doch auf freien Fuß gesetzt. Bei Beginn des Prozesses wurde seitens Renno alles geleugnet. Nachdem das für eine Verurteilung nicht auszureichen schien, plädierten sein Anwalt und Renno selbst immer wieder darauf, dass er aufgrund seiner Krankheiten nicht vernehmungsfähig sei (Kohl, 2000). Von abermaligen Versuchen, die Schuld auf jene zu lenken, die bereits verstorben waren, wie Dr. Lonauer (durch Selbstmord) oder Christian Wirth, der als Kriegsgefallener sein Leben lassen musste (Schwarz, 1999), sah er nicht ab. Wie schon beim Interview durch Walter Kohl (2000) konnte bei Renno dann auch bei der Verhandlung die totale Verdrängung festgestellt werden, als er zu Hartheim befragt wurde. Seine Antwort lautete: „Ein Arzt war an der geschilderten Prozedur nicht beteiligt“ (ebd., S. 85). Es war Kohl auch nicht möglich, Auskunft darüber zu geben, wie lange sich die PatientInnen im Vergasungsraum aufhielten. Auch dazu gab es nur die lakonische Antwort, indem er meinte: „Da ich den Vorgang nie selbst miterlebt habe, kann ich hierzu nähere Angabe nicht machen. Soweit ich unterrichtet bin, war an der unmittelbaren Vergasung der PatientInnen kein Arzt beteiligt; ich selbst auf keinen Fall“ (Schwarz, 1999, S. 85). Renno verwickelte sich hier jedoch in Widersprüche. Er sagte aus, dass die Brenner für die Vergasungen verantwortlich gewesen wären. Fakt ist jedoch, dass es sich dabei um eine Hauptarbeit der Ärzte handelte. Bei solchen heiklen Fragestellungen gab Renno überhaupt keine Antwort oder , gab ausdrücklich zu verstehen, dass er von den Tötungen in Hartheim nichts gewusst habe. Mitunter wurde von ihm angegeben, er sei nur als Stellvertreter von Lonauer im Schloss gewesen und ab 1943 wäre er als Leiter der Nervenabteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Linz gewesen (Schwarz, 1999). Aufgrund der taktischen Vorgehensweise der Staatsanwälte sowie einiger Zeugenaussagen gestand Renno im Feber 1965 dem Untersuchungsrichter dann doch „seine Mitwirkung an der Tötung der nach Hartheim überstellten PatientInnen“ (Schwarz, S. 85). Renno zeigte während der Verhandlungen nie irgendwelche emotionalen Regungen. Schwarz 85

(1999) beschreibt ihn als kühlen Arzt, der die Vergasung als sanften Tod durchgeführt hatte und für die „betreffenden Kranken als Erlösung dargestellt hatte“ (Schwarz, 1999, S. 86). Diese Personifizierung wurde auch von Kohl widergegeben.

Daraufhin ließ das Gericht Renno amtsärztlich untersuchen und er wurde für verhandlungsunfähig erklärt. Ein Verfahren gegen einen Euthanasiearzt, der Menschen vergasen ließ, sogar selbst den Gashahn aufdrehte, wurde 1975 endgültig eingestellt. Renno hatte somit die Möglichkeit, 22 Jahre ein gutes und ruhiges Leben zu führen, er bekam sogar eine staatliche Pension. Er lebte trotz schwerer Krankheit noch viele Jahre in einem Reihenhaus in Bockenheim (Landkreis Frankenthal). Wie Renno des Öfteren im Interview erwähnte, hatte er ein ruhiges Gewissen, war der Meinung, dass es keine Qual für die Leute war, die getötet wurden. Er sah es als eine Erlösung und meinte, dass er „mit diesem Gefühl einmal von hier fortgehen werde, wieder zurück in die Ewigkeit, wo ich hergekommen bin. Alles andere ist nicht gewesen“. Für Renno war es einfach nicht gewesen, er hatte es verdrängt und somit auch seine Schuld. Ansonsten war er von seinem richtigen Tun vollauf überzeugt.

6.4 Inhaltsanalyse Dr. Franz Niedermoser

Ein erstes methodisches Vorgehen dieser Arbeit bestand in der Durchführung der Inhaltsanalyse, welche mittels deduktiver Kategorienbildung ein Feststellen des autoritären Charakters (laut Faschismus-Skala) ermöglichte. Da auch bei Dr. Niedermoser davon ausgegangen wurde, dass selbiger zu einer solchen Charaktereigenschaft tendierte, wurde dieselbe Methodik angewandt. Das heißt, die Kategorien wurden mittels F-Skala (laut Adorno et al., 1950) gebildet. Die F-Skala umfasste wieder jene neun Merkmale, die bereits für die Kategorienbildung bei Dr. Georg Renno verwendet wurden. Jene neun Merkmale, die mit ihren Definitionen darauf hinwiesen, dass eine Person zu einem faschistischen Charakter tendieren könnte. Im Fokus stand abermals, ein Gesamtbild über die Persönlichkeitsstrukturen eines Individuums zu erhalten. Gegenstand dieser Forschung stellten Prozessakten dar. Einerseits stand ein kriminalpolizeilicher Akt vom 12.11.1945 zur Verfügung, andererseits der Gerichtsakt vom 20.03.1946 des Volksgerichtes Graz, Senat Klagenfurt. Aufgrund dieser beiden Dokumente, die aufgrund der Angeklagten- beziehungsweise Zeugen-Aussagen verfasst wurden, konnten Vergleiche gezogen werden. Dabei konnte festgestellt werden, dass 86 die Betroffenen nicht immer identische Angaben (vor der Kripo und beim Prozess) machten. Eine mehrmalige, intensive Auseinandersetzung mit den Aussagen war aus diesem Grund erforderlich.

Eine Demonstration menschlichen Handelns sollte anhand der Dokumente einen dementsprechenden Überblick geben, um abschließend einen Vergleich der beiden analysierten Charaktere (Renno und Niedermoser) durchführen zu können. Nachdem auch bei Dr. Niedermoser davon ausgegangen wurde, dass Merkmale eines autoritären Charakters vorlagen, und es sich somit um einen potentiell faschistischen Charakter handelte, wurde zur Ermittlung wiederum Adornos Faschismus-Skala herangezogen. Nach intensiver Auseinandersetzung mit den Aussagen der Angeklagten durch den kriminalpolizeilichen Akt zu Zahl 16 Vr 907/45 (vom 12.11.1945) sowie durch den Gerichtsakt vom 20.03.1946 zu Zahl 18 Vr 907/45 bestand die Aufgabe darin, wieviele und welche Merkmale des autoritären Charakters vorlagen.

Wie im Protokoll der Hauptverhandlung des Volksgerichtes Graz, Senat Klagenfurt (18 Vr 90745) einleitend angeführt, wurde die Strafsache gegen Dr. Franz Niedermoser und Genossen wegen Mordes und Verletzung der Menschenwürde und der Gesetze der Menschlichkeit verhandelt. . Die Namen der angeklagten Täter lauteten: Dr. Franz Niedermoser Oberschwester Antonia Pachner Oberpflegerin Ottilie Schellander Pflegerin Paula Tomasch Krankenpflegerin Juliana Wolf Pflegerin Gottfriede Melichen Pflegerin Ilse Printschler Pflegerin Maria Hochmaier Bedienerin Ludmilla Lutschounig Oberpflegerin Maria Cholawa Oberpfleger Ladislaus Hribar

Die hier angeführten Personen wurden vor ihrem Prozess am 20.03.1946 durch die zuständige Kriminalpolizei einvernommen. Anhand dieses kriminalpolizeilichen Aktes (zu 87

Zahl 16 Vr 907/45) wurden klare Einblicke gegeben, dass dem Vernehmen nach die Aussagen der Angeklagten und auch jene der Zeugen nicht immer mit den Darstellungen jener der Hauptverhandlung vom 20.03.1946 übereinstimmten. Das umfangreiche Protokoll der Kriminalpolizei beinhaltete – gleich wie der Akt der Hauptverhandlung – alle Zeugenvernehmungen sowie die Aussagen der Beschuldigten.

6.5 Kriminalpolizeilicher Akt / Gerichtsprotokoll zu Niedermoser-Akt

Dr. Franz Niedermoser, der am 03.12.1901 in geboren wurde und dort auch bis Oktober 1928 als Sekundararzt in der Nervenklinik Innsbruck tätig war, kam am 01.11. desselben Jahres nach Klagenfurt in die dortige Heil- und Pflegeanstalt. Nach einjähriger Tätigkeit wurde er zum Hausarzt ernannt. Zu diesem Zeitpunkt war er der Männerabteilung bei Primarius Nemitz zugeteilt. Nach dessen Pensionierung im Jahre 1939 wurde Primarius Meusburger zum Leiter der Irrenanstalt bestellt. Die Funktion des Krankenhausdirektors hatte Dr. Schmid-Sachsenstamm inne. Nach dem Tod Dr. Winters führte Niedermoser – nach eigenen Angaben – die Männerabteilung selbstständig45. Nebenbei fungierte er nach wie vor als Hausarzt im Siechenhaus (seit April 1938).

Im Herbst 1940 erfolgte der erste Abtransport von Pfleglingen, die offiziell aus planwirtschaftlichen Gründen in eine andere Anstalt verlegt werden sollten. Nach einigen Wochen erkundigte sich der damalige Bürgermeister von Ferlach beim zuständigen Anstaltsleiter, Dr. Meusburger, warum binnen kurzer Zeit drei Kranke aus Ferlach, welche bis vor kurzem noch in Klagenfurt waren, in Brandenburg verstorben wären. Laut kriminalpolizeilicher Einvernahme gab Niedermoser am 11.01.1946 zu Protokoll, es wäre ihm erst zu diesem Zeitpunkt das erste Mal klar geworden, dass die Pfleglinge der Euthanasierung zum Opfer gefallen wären (Kriminalpolizeilicher Akt zu Zahl Vr607/45). In der Hauptverhandlung am 20.03.1946 gab derselbe jedoch an, er hätte sich vorher schon viel mit Euthanasie beschäftigt, darüber nachgedacht und auch viel in der Literatur gelesen. Gleichzeitig führte Niedermoser an, er wäre „zur Anschauung gekommen, daß er Euthanasie nicht durchführen kann“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, 18Vr 907/45, S. 657). In der Hauptverhandlung wurde Niedermoser mit seinen Aussagen noch deutlicher und erklärte, dass kein geringerer als Franke vom Reichsministerium für Inneres ihm klar gemacht hätte,

45 Die selbstständige Führung von Niedermoser war seit Herbst 1943 (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl: 18Vr 907/45, S. 13). 88 dass das Gesetz zur Euthanasierung zwar nicht veröffentlicht werden würde, dass es jedoch eine „Weisung des Führers sei und die ganze Euthanasierung im Geheimen durchzuführen wäre mit der zusätzlichen Auflage, dass darüber nicht gesprochen werden dürfe“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl Vr18 907/45, S. 657). Nachdem Niedermoser diese Informationen auch an seinen Vorgesetzten Dr. Schmid-Sachsenstamm weitergeleitet hatte, merkte dieser an: „Ich gebe Ihnen hiemit den Auftrag, das, was ich Ihnen gesagt habe, und das, was Sie in Berlin gehört haben, durchzuführen ist“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl Vr18 907/45, S. 658). Im Prozess gab Niedermoser an dieser Stelle zu, selbst Euthanasierungen durchgeführt zu haben, obwohl er ansonsten immer wieder seine Unschuld beteuerte und vom Gegenteil überzeugen wollte, nie einen Menschen getötet zu haben. Niedermoser wörtlich: „ Ich habe dann in ganz einzelnen und extremen Fällen die Euthanasie durchgeführt“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, Aktenzahl Vr18 907/45, S. 658). Des Weiteren äußerte sich Niedermoser über die Kritik Schmid-Sachsenstamms, dem es nicht gefiel, dass seines Erachtens zu wenig Menschen starben. Und Niedermoser interpretierte die Äußerung Meusburgers (1942) so, der auf Anweisung Contis hin, den Auftrag erteilte, dass bei unheilbar Kranken nicht mit Morphium zu sparen sei. Der Angeklagte, Dr. Niedermoser, lenkte den Themenschwerpunkt auf die Reichskanzlei und Ministerialrat Franke, zu dem er – laut seinen Ausführungen – ein zweites Mal hin befohlen und ihm dort unmissverständlich klar gemacht wurde, dass er die Befehle zu befolgen hätte; geschickt wies er dann auf eine nachträgliche Sitzung hin, an der eine Anzahl von Irrenärzten teilnahmen und die sich – laut Niedermoser – alle für die Euthanasierung aussprachen. Von dieser Sitzung wusste Niedermoser im November 1945 noch nichts zu berichten (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45). Sehr wohl gab er zu, dass aufgrund des Befehles – seitens des Führers – ab Herbst 1941 die Euthanasierungen begannen. Der Versuch Niedermosers, von seiner Schuld abzulenken, mißlang. Anhand der Listen, die über die Kranken erstellt wurden, war die Vorgehensweise nachvollziehbar. Jedes Vierteljahr mussten alle Fragebögen von den verantwortlichen Ärzten ausgefüllt nach Berlin übermittelt werden. Die Listen wurden wieder an die Anstalten retourniert, mit der Aufforderung, bestimmte Pfleglinge zu euthanasieren.

Niedermoser warf immer wieder ein, dass das nicht sein persönlicher Standpunkt gewesen wäre. Er meinte auch, dass es Befürworter der Euthanasie gegeben hätte, die keine Nationalsozialisten waren und er bezog sich im Prozess auf Gelehrte, Wissenschaftler, Mediziner, Juristen, Theologen, die ihre Überzeugung auch dahingehend äußerten. Er sprach von seiner Hilflosigkeit den Kranken gegenüber, denen man doch nicht helfen konnte, wenn

89 sie unheilbar krank waren. Dass es sich dabei ausnahmslos um „schwer Schwachsinnige und unheilbare Geisteskranke, die zur Verblödung führten sowie um Epileptiker“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess, 18 Vr 907/45, S. 659) handelte, also um lebensunwerte Leben, verstärkte Niedermosers Rechtfertigungsversuche. In der Vernehmung durch die Kripo verwies Niedermoser unter anderem aber auch auf solche Pfleglinge wie Herzkranke, Krebskranke, Schlaganfälle, Nierenkranke, Tuberkulöse und Darmerkrankungen. Niedermoser machte aber eine sehr bedeutende Bemerkung, als er angab, er habe nicht nur die Listen der Kranken an die Pflegepersonen weitergegeben, sondern eventuell auch die Bemerkung, dass „dieser Kranke auch bestimmt“ sei (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, o. A. ). Durch diesen Hinweis wussten die anwesenden PflegerInnen, dass der betroffene Patient zu euthanisieren war.

Niedermoser wurde seitens der PflegerInnen als ein angesehener und anerkannter Arzt beschrieben, der sich auch um die Kranken liebevoll gekümmert hätte. Dieses Bild wurde vom Personal beim Prozess dargestellt. Bei Durchsicht der Vernehmungen durch die Kriminalpolizei kam jedoch eine andere Betrachtungsweise durch Zeugenaussagen zum Tragen, die Niedermoser dieses Attest nicht ausstellten. Eine Zeugin zum Beispiel berichtete über ihren Sohn, der nach einer Flucht aus der Pflege- und Heilanstalt Klagenfurt in eine Einzelzelle gesperrt wurde und dort unbekleidet auf Stroh liegen musste. Hier war hinzuzufügen, dass der Betreffende an epileptischen Anfällen litt und deshalb bei „Auftreten der Anfälle tobsüchtig und irrsinnig wurde“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, S. 1). Aufgrund einer anonymen Nachricht wurde die Mutter aufgefordert, ihren Sohn zu besuchen, da er schwer erkrankt wäre. Als die Frau dort eintraf, war ihr Sohn bereits verstorben. Auf die Frage der Mutter, woran ihr Kind verstorben sei, erhielt sie weitestgehend nur schweigende Antworten. Nachdem sie jedoch nach ca. zwei Jahren die Gelegenheit hatte, den damaligen Wärter persönlich zu sprechen, konnte sie in Erfahrung bringen, dass Dr. Niedermoser – wie es schien – den Tod ihres Sohnes zu verantworten hatte. Der Wärter wusste zu berichten, dass der Pflegling anlässlich einer Visite darum flehte, die Einzelzelle verlassen zu dürfen, in der er sich befand. Doch auf dieses Betteln hin antwortete Niedermoser lapidar: „Ich höre nichts“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, S. 2). Die Zeugin gab dezidiert zu Protokoll, dass Dr. Niedermoser schuldig war, den Tod ihres Sohnes fahrlässig oder vorsätzlich verursacht zu haben (ebd., S. 3).

90

Ein weiterer Zeuge (Oberhofer Josef), der gegen Dr. Niedermoser seine Aussagen vor der Kriminalpolizei tätigte, war als Misshandelter selbst betroffen. Der Mann berichtete, dass er bei der Wehrmacht gewesen sei und „wegen Zersetzung der deutschen Wehrkraft vorerst unter Anklage stand, danach jedoch freigesprochen wurde und in Folge dessen zu seiner Einheit zurückkehrte, von wo aus er zwangsweise in die geschlossene Anstalt des Krankenhauses eingeliefert worden sei“. Der Zeuge weiter: „Während dieser Zeit wurde ich auf die grausamste Weise und persönlich des Besch. Niedermosers gepeinigt und misshandelt“ (ebd., o. A.).

Ein anderer Zeuge gab ebenfalls an, aufgrund des ausdrücklichen Befehles durch Dr. Niedermoser sei er in eine Zwangsjacke gesteckt und zu den „kranken Irren, die am Boden herumkrochen“ (Kriminalpolizeilicher Akt zu 16 Vr 907/45, o. A.), eingewiesen worden zu sein. In der sogenannten Gummizelle musste der Betroffene splitternackt verweilen. Abschließend der Zeuge: „Die Zeit in der Abteilung III war für mich eine ausgesprochene Leidenszeit, ich stelle aber gegen den Besch. keine privatrechtlichen Ansprüche, verlange aber nur, dass er [Niedermoser] wegen dieser Sache zur Verantwortung gezogen wird“ (ebd., o. A.).

Eine Zeugin belastete zwei Pflegerinnen sowie Dr. Niedermoser schwer, indem sie starke Verdächtigungen gegen die Genannten äußerte, die auf die Tötung ihrer Tochter hinwiesen. Vor allem wusste die Frau von Spuren, die auf Misshandlungen hindeuteten, zu berichten - auch dass ihr Kind bei jedem ihrer Besuche immer barfuß und ohne Strümpfe anzutreffen war. Sie berichtete von verbalen Attacken seitens der Oberschwester Pachner, die der Mutter ins Gesicht schrie, dass sie doch „froh sein solle, dass das Kind weg ist“ (ebd., o. A.). Oberschwester Pachner: „Ich bin froh, dass das Kind weg ist, es hat ohnehin nichts getan, als die Kleider zerrissen“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, o. A.). Diese Worte bekam die Mutter vermittelt, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Kind verstorben sei. In der Leichenhalle musste die Frau dann noch feststellen, dass die Schädeldecke und die Brust ihrer Tochter genäht waren. Die betroffene Mutter befürchtete, dass ihr Kind durch eine tödlich wirkende Injektion getötet wurde und gab ihren Verdacht diesbezüglich so zum Ausdruck, dass damit die Oberschwester Ottilie Schellander belastet wurde.

Um sich ein Gesamtbild vom ungefähren Ablauf im damaligen Landeskrankenhaus Klagenfurt machen zu können, wurde auch ein Zeuge, der auch Dr. Schmid-Sachsenstamm belastete, zitiert. Durch dessen Aussage sollte nachgezeichnet werden, ob es wirklich möglich 91 war, dass sich Ärzte und Pflegepersonal untereinander nicht austauschten, wenn es sich um die Behandlung beziehungsweise sogar den Tod von so vielen PatientInnen handelte. Denn an den Verhandlungstagen bestätigte kein Arzt eine Tötungsabsicht eines anderen Mediziners. Eigentlich wusste keiner vom anderen Bescheid. Auch die Vorgesetzten hatten teilweise - so gaben sie zu verstehen - keine Kenntnis darüber, wie das Personal in der Landes- Irren und Siechenanstalt hantierte. Eine der Fragen seitens der Kripo wurde folgend gestellt: „Schildern Sie als ehemaliger Vorgesetzter des Dr. Niedermoser dessen Charaktereigenschaften als Mensch und Arzt“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, o. A. ). In diesem Sinne hatte Dr. Meusburger den Überblick und informierte, welch ein fleißiger, gewissenhafter und herzensguter Arzt er war. Dem Euthanasiearzt wurde hiermit das beste Zeugnis ausgestellt.

Die nächste Fragestellung richtete sich auf die Oberpfleger Brandstätter und Hribar sowie OberpflegerIn Cholawa. Meusburger beschrieb alle drei als „pflichtbewusst und dass sie als verläßlich in der Ausführung von Anordnungen bekannt waren“. Auch gegen Pachner und den Oberpfleger konnte Meusburger „nichts Nachteiliges sagen“ (ebd., S. 118). Die Zeugenaussagen aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis ließen jedoch ein ganz anderes Bild erscheinen. Somit entstand der Eindruck, dass Meusburger bereits bei den Vernehmungen durch die Kripo sehr vorsichtig und gut überlegt agierte. Und auch er konnte sich nicht an alles erinnern, aber er erwähnte zum Beispiel, dass ihn Dr. Niedermoser einlud, sich Kinder anzuschauen, die aus medizinischer Sicht interessante Missbildungen und Krankheitsformen aufwiesen. Zwischendurch wurde von Meusburger angedeutet, dass ein Großteil dieser Kinder, die sich in einem „jammervollen Ernährungszustand“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, o. A.) befanden, im Laufe der Zeit verstorben seien. Dann verwickelte sich Meusburger in Widersprüche auf die Frage, ob Meusburger von einer Vereinbarung zwischen Niedermoser und Paltauf 46 gewusst hätte. Aufgrund dieser Vereinbarung sollten die Obduktionszettel gekennzeichnet werden, damit für Dr. Paltauf sofort sichergestellt war, dass der Verstorbene nicht eines natürlichen Todes verstorben war. Meusburger konnte sich zwar an eine Kennzeichnung durch Totenzettel erinnern, aber nicht zu welchem Zweck diese angebracht waren. Meusburger wurde darauf hingewiesen, dass er einige Male angegeben hatte, von „Tötungsaufträgen nichts gewusst zu haben und dass er auf einmal doch die Behauptung machte, dass es ihm bekannt gewesen sei, dass Pfleglinge mit

46 Paltauf war der damalige Prosektor in der Klagenfurter Pflegeanstalt. 92

Schlafmitteln getötet wurden“ (Kriminalpolizeilicher Akt zu Zahl 16 Vr 907/45, S. 119). Meusburger erklärte, er sei der Meinung gewesen, dass es sich um Kranke handelte, bei denen Betäubungsmittel zur Anwendung kamen (ebd.). Ein Widerspruch zu einer Angabe Niedermosers ergab sich aus der nächsten Antwort Meusburgers, in Folge dessen dieser zu Protokoll gab, nichts von den Tötungen der Pfleglinge gewusst zu haben. In diesem Moment wurde Niedermoser durch Meusburger mit folgenden Worten belastet:

„Von den persönlichen Bedenken sprach ich meines Wissens zu Dr. Niedermoser wiederholt, erachtete es aber für zwecklos, dagegen Stellung zu nehmen, weil ich das Gefühl hatte, daß Einsprüche vergebens seien“ (Kriminalpolizeilicher Akt zu Zahl 16 Vr 907/45, S. 120).

Die Einvernahme durch die Kripo ergab, dass Dr. Paltauf von den Pfleglingstötungen in der Siechen- und Irrenanstalt informiert war, „selbst aber weder einen Auftrag zur Durchführung einer solchen Tötung gegeben oder eine solche Tötung selbst durchgeführt habe“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, o.A.). Das war die Aussage des Prosektors vor der Kriminalpolizei, die ausreichend genug erschien, um dem SS-Arzt Dr. Richard Paltauf eine weitere Darstellung bei der Hauptverhandlung zu ersparen. Das gleiche Ergebnis lieferte die Einvernahme von Dr. Kurt Meusburger.

Eine weitere Anschuldigung gegen Niedermoser kam seitens der Oberschwester Wechselberger durch die kriminalpolizeiliche Einvernahme, in der sie dezidiert angab, dass Dr. Niedermoser ihr erklärt habe, „dass nach Abgang des letzten Transportes nach Niedernhart keine Pfleglingstransporte mehr durchgeführt werden und Niedermoser sinngemäß weiter meinte, von nun ab die Tötungen von Pfleglingen auf der Irrenanstalt in Klagenfurt durchgeführt werden müssen“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16 Vr 907/45, S. 83). Weiters erklärte die Zeugin, dass Dr. Niedermoser die Tötungsaufträge ausschließlich an die Oberpflegerin Cholawa erteilte, und von der sie dann auch auftragsgemäß durchgeführt wurden (ebd.). Die Tötung erfolgte durch Injektion mit Modiskop, Somnifen oder Morphium. Auf die Frage an die Zeugin wann die erste und letzte Tötung dieser Art stattgefunden habe, gab diese an, dass vermutlich Mitte des Jahres 1942 die erste Tötung stattgefunden habe. Was die letzte anbelangte, so schätzte die Zeugin diese auf das Ende des Jahres 1944. Und die Anzahl der Tötungen belief sich ihrer Meinung nach auf ca. 70 – 90. Bei der Frage, um welche Leiden es sich bei den Pfleglingen handelte, für die seitens Dr. Niedermoser an die Cholawa Tötungsaufträge erteilt wurden und ob es solche Fälle waren, die ohne der

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Tötungsinjektion von selbst nach Stunden oder wenigen Tagen ohnehin gestorben wären, erwiderte die Zeugin:

„Bei den Pfleglingen, bei welchen Tötungsaufträge erteilt worden sind, war die Krankheit verschieden. Darunter befanden sich geistig Kranke, Paralytiker und Lungenkranke, sowie Epileptiker. Unter den zu Tötenden befanden sich solche Kranke, die entweder schon im Sterben lagen, oder ohne dies nach wenigen Tagen von selbst verstorben wären, aber eine Anzahl anderer, bei welchen das Ableben nicht voraus zu bestimmen war“ (Kriminalpolizeilicher Akt zu Zahl 16 Vr 907/45, S. 85).

Von gleicher Zeugin wurde – auf die Frage, was sie über partienweise Tötungen im Irrenhaus wisse – berichtet, dass im Jahre 1941 einzelne Stationen der Irrenanstalt frei gemacht werden sollte. Also wurden partienweise – 2 bis 5 – Pfleglinge nach und nach in das Siechenhaus abgegeben47. Es war nach Bombenschäden kein Platz mehr und somit wurden alle ins Siechenhaus überstellt. Wechselberger nannte einen weiteren Grund für die Überstellung ins Siechenhaus. Auf der Irrenanstalt musste für jeden Pflegling vom Arzt eine Krankengeschichte ausgestellt werden, was auf der Siechenanstalt nicht nötig war. Die Zeugin war der Ansicht, dass sich Niedermoser diese Arbeit ersparen wollte. Dr. Niedermoser habe auch die Dosis nie bekanntgegeben, die zu spritzen gewesen wäre, das habe er ebenfalls der Cholawa überlassen (Kriminalpolizeilicher Akt zu Zahl 16 Vr 907/45, S. 86). Beim Prozess selbst reagierte die Zeugin etwas verhaltener, als sie sich dahingehend äußerte, sie wisse nicht mehr genau, was sie vor der Polizei gesagt hätte. Sie erklärte zwar, dass der Angeklagte Brandstätter ihr zu verstehen gab, dass er Injektionen gegeben hätte, aber das Wort Tötungen sei dabei nicht gefallen. Was Dr. Niedermoser selbst betraf, bestätigte die Zeugin wiederholt die Auftragserteilung an Cholawa, und dass Niedermoser von einem Gesetz gesprochen hätte. Sie erwähnte aber auch, sie glaube nicht, dass die Cholawa die Aufträge gerne durchgeführt hätte. Und meinte wieder, „sie wisse nicht genau, was sie bei der Vernehmung angegeben habe“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess zu 18Vr 907/45, S. 67/693). Von Bedeutung war auch die Aussage des Oberpflegers Brandstätter, als dieser zu Protokoll gab, dass er der Meinung wäre, dass auch Meusburger von den Geschehnissen gewusst hätte. Diese Aussage wurde seitens des Gerichtes nicht in Betracht gezogen und hatte für Meusburger keine Auswirkungen, einzig Niedermoser wurde im Endeffekt vor ärztlicher Seite zur Verantwortung gezogen.

47 Es handelte sich um leichtere Fälle, es waren Pfleglinge, die ruhig waren. 94

Eine genaue Angabe bezüglich der Vorgehensweise der Euthanasierungen machte die Angeklagte Antonia Pachner. Sie gab bei der Hauptverhandlung die exakte Menge des Medikamentengemisches, das zur PatientInnentötung herangezogen wurde, zu Protokoll. Außerdem wurde durch die Oberschwester Pachner bekanntgegeben, dass Dr. Niedermoser diese Anweisungen gegeben hätte. In weiterer Folge meinte die Angeklagte: „Die Leute sollten langsam sterben, damit man in der Prosektur einen Befund erstellen konnte. Es wurde auch angeordnet, daß man den Leuten ein Abführmittel eingebe, damit eine Darmrötung auftrete“ (Gerichtsakt Niedermoserprozess zu 18Vr 907/45, o. A.). Antonie Pachner habe auch die Sterbezettel selbst geschrieben. Für die Diagnose war – laut der Oberschwester – der Primarius zuständig. Warum die Todesursache vorgetäuscht wurde, meint Pachner, dass in der „Prosektur auch Nichteingeweihte gearbeitet haben“ (ebd.), wobei sie jedoch den Prosektor ausschloss. Dieser wäre – ihrer Meinung nach – involviert gewesen. Niedermoser wurde seitens A. Pachner auch insofern belastet, indem sie Informationen der Vorgehensweise über die Beschaffung notwendiger Medikamente gab. Von Dr. Niedermoser wurden die Anforderungsscheine, die in der Anstaltsapotheke vorgelegt werden mussten, unterschrieben. In der Funktion als Vorgesetzter und Anstaltsleiter wäre eine genaue Überprüfung der Anforderungsscheine notwendig gewesen. Niedermoser musste also mit dem Handeln des Pflegepersonals – laut dem vorliegenden Aktenmaterial – einverstanden gewesen sein. Des Weiteren bestätigte die Angeklagte, dass das Gift nicht nur „zum Zweck der Tötung gebraucht wurde, sondern auch zu Heilzwecken“ (ebd.). Das hieß, dass die Kranken ein Einschlafmittel (Veronal) erhielten, um sie „einzuschläfern“ (ebd.), bevor ihnen ein Gemisch aus verschiedenen Substanzen oder eine Spritze verabreicht wurde. Dieser Vorgang führte letztendlich zum Tod. Pachner wusste auch noch, dass Dr. Niedermoser ihr erklärte, dass die Tötungen in der Anstalt selbst durchgeführt werden mussten, nachdem keine Transporte mehr stattfanden. Wöchentlich war es zu drei bis vier Tötungen gekommen. Auf die Frage des Vorsitzenden, warum die Angeklagte – trotz katholischer Erziehung – die Tötungen durchgeführt habe, antwortete sie, dass sie dies schon vom Vorderhaus gewohnt war und sie auch jene Fälle übernahm, welche „die Schellander nicht machen konnte“ (ebd., o. A.). Auf weitere Fragen gab die Betroffene an, dass sie versucht habe, Aufträge weiterzugeben, wie zum Beispiel Verabreichungen an Kindern. Außerdem verteidigte sich Pachner damit, dass „Dr. Niedermoser nur ihr oder der Schellander erteilt hätte“ (ebd., o.A.). Etwas Gesetzeswidriges hätte sie dabei nie wahrgenommen, weil es ihr gegenüber als Verordnung oder Gesetz ausgelegt worden sei. Pachner vertrat die Meinung, alles richtig gemacht zu haben. 95

Pachner erwähnte auch die Angeklagte Ilse Printschler, der auch von anderen damaligen Kolleginnen kein gutes Zeugnis ausgestellt wurde. Ilse Printschler war - laut Pachner – „grob zu den Pfleglingen. Sie war unverlässlich und es sollte immer jemand hinter ihr stehen und aufpassen“ (ebd., S. 48/655). Printschler hätte den Pfleglingen sogar ohne irgendeinen Auftrag die Zwangsjacke angezogen. Die Angeklagte Maria Hochmeier, belastete Printschler mit den Worten: „Als die Schellander den Rudolf Schreiber getötet hatte, und ich deswegen weinte, tröstete sie, ich solle über diesen ˈTockerˈ nicht weinen“ (Niedermoserprozess zu 18Vr 907/45, o.A.).

Gegen die oben genannte Angeklagte Pachner wurde wiederum seitens der Angeklagten Ottilie Schellander ausgesagt: „Ich habe die Schuschnig nicht getötet, sondern die Pachner“ (ebd., S 43/645). Schellander kann sich bei der Verhandlung nicht erinnern, von jemandem gebeten worden zu sein, die Tötungen zu unterlassen. Sie gab damit nochmals zu, Tötungen durchgeführt zu haben, was sie auch bei Beginn der Verhandlung schon teilweise bestätigte, jedoch versuchte sie sich zu verteidigen, als sie meinte: „ Ich habe es empörend gefunden, daß man uns diese Tötungen angeordnet hat. Aber was kann man machen, wenn es die oberen vorgesetzten Stellen nicht besser wußten, was Recht und Unrecht ist, die ja am liebsten gesehen hätten, wenn das Siechenhaus samt dem Personal dem Bomben zum Opfer gefallen wäre“ (ebd., S 43/645). Sie erzählte unter anderem auch von der Art und Weise des Dr. Schmidt-Sachsenstamm, der sie als Volksschädling bezeichnete, weil sie zuviel Verbandstoff verwendet hätte. Eine wesentliche Aussage wurde durch die Pflegerin Schellander gemacht, indem sie ihre Auffassung bezüglich der Tötungen preis gab. Sie war der Ansicht, dass die Menschen nicht aus Sparmaßnahmen getötet worden seien, sondern dass sie „angeordnet wurden, weil sie hilflose und leidende Menschen waren“ (Niedermoserprozess zu 18Vr 907/45, S. 43/645).

Den Zeugenaussagen nach war zu entnehmen, dass alle, die in der Landes- Siechen- und Irrenanstalt tätig waren, von den Euthanasierungen gewusst oder geahnt haben mussten. Auch wenn vielleicht nicht jeder die Tötungen aktiv durchführte, von einer Wahrnehmung der Zustände, die im ehemaligen Krankenhaus herrschten, kann ausgegangen werden. Einhellig wurde die Meinung vertreten, dass die angeordneten Aufträge auszuführen waren und keiner den Anweisungen widersprechen wollte oder gar nicht auf die Idee kam. Das Pflegepersonal belastete zum Teil nicht nur Dr. Niedermoser, sondern die Aussagen bezeugten, dass auch ihrerseits Tötungen durchgeführt wurden – teils auf Anordnung, teils aber auch ohne

96 irgendwelchen Auftrag seitens eines Arztes. Teilgeständnisse wurden ebenfalls abgegeben, aber meistens unter der Prämisse, dass aus Gehorsam gehandelt wurde. Außer Antonie Pachner, die sehr wohl zugab, dass Dr. Niedermoser ihr sehr viele Aufträge zur Tötung gegeben habe. Ob Drohungen bei Verweigerung der Durchführung von Euthanasiehandlungen, von denen seitens des Personals berichtet wurde, tatsächlich ausgesprochen wurden, konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Es schien eher, dass es Einschüchterungen untereinander gab. Der Angeklagten Ottilie Schellander wurde, laut ihrer Aussage, von der Generaloberin mit Dachau gedroht. Es gab unter anderem ganz klare Antworten von der Anzahl der Tötungen, die von einzelnen Krankenschwestern oder PflegerInnen durchgeführt wurden. Aus diesem Grund war die Glaubwürdigkeit, bezüglich der Auftragserteilung seitens Niedermosers, kaum anzuzweifeln.

„Am 16. 11. 1946 fand die Vollstreckung des Todesurteiles von Dr. Franz Niedermosers im Landesgericht Klagenfurt statt“ (Fürstler und Malina, 2004, S. 204). Ein Nachvollziehen der gesamten nationalsozialistischen Handlungen ist kaum möglich, aber bei näherer Betrachtung kommt man zur Schlussfolgerung, dass auch die Vorgehensweise des Gerichtes nicht als klar und eindeutig erscheint, zumal Dr. Niedermoser zum Tode verurteilt wurde, für Dr. Meusburger gab es überhaupt keine Verurteilung; viele andere die mitmachten, entgingen einer Strafe durch das Gericht.

6.6 Ergebnis der Inhaltsanalyse Dr. Franz Niedermoser

Harald Welzers Sichtweise war zu entnehmen, dass das Persönlichkeitsprofil, das seitens der Psychologen über die Euthanasie-Täter erstellt wurde, eigentlich keine pathologischen Erkenntnisse brachte. Es handelte sich nicht um besonders sadistische Menschen, es sollten lediglich nur fünf bis zehn Prozent aus der Norm gefallen sein (Welzer, 2005). Auch wenn die pathologischen Merkmale nicht erfüllt wurden, so wurde auch bei Niedermoser von der Annahme ausgegangen – wie schon im Fall Renno – dass es sich um eine Person handelte, die eindeutig dem potentiell faschistischen Charakter zuzuordnen war.

Warum Menschen zu solchen Sadisten werden konnten, wurde aufgrund der Inhaltsanalyse erhoben. Erich Fromm (1983) meinte, dass „der Gesellschaftscharakter die Hauptverantwortung trage“ (S. 238). Dieser Gesellschaftscharakter spiegelte sich auch bei 97 den Nazi-Ärzten und dem Pflegepersonal wider. Denn jeder hat zwar seine eigenen Gedanken und Gefühle, lässt sich aber durch seine Umwelt, durch die Dynamik, die rundherum entsteht, beeinflussen. Diese (Trieb)-Kräfte, die dadurch entstehen, trugen anscheinend dazu bei, das zu tun, was diese Menschen taten. Freud erkannte aufgrund der Massenpsychologie darin Verbundenheit, wobei diese Solidarität den Tod für unzählige Menschen bedeutete.

Niedermoser gab klar und deutlich Aufträge an das Pflegepersonal weiter. Die PatientInnen wurden ihm zuerst vorgestellt und aufgrund der Krankengeschichte der Betroffenen wurde auf verschiedene Arten vermittelt, dass eine Tötung durchzuführen sei. Niedermoser teilte dies entweder durch bestimmte Zeichen (zum Beispiel Einbiegen der Ecke auf der Liste) mit oder verständigte sich verbal. Er sprach aber auch offen aus, wenn ein Patient durch eine Injektion oder ein Giftgemisch getötet werden sollte. Wie sich herausstellte, suchte sich Niedermoser die jeweiligen Schwestern/PflegerInnen aus. Dies wurde auch von der Oberschwester Antonia Pachner in der Hauptverhandlung bestätigt. Niedermoser hätte demnach nur ihr und der Pflegerin Schellander die Tötungsanweisungen gegeben. Anscheinend vertraute er diesen beiden KollegInnen und wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Somit handelte Niedermoser überlegt, wenn er nicht wahllos irgendwem einen Auftrag erteilte. Es war für ihn überhaupt nicht von Bedeutung, dass er bei jeder dieser Anweisungen den betroffenen PatientInnen das Todesurteil ausstellte. Bei den Visiten wurden diese nebenbei mit den Worten „Geben Sie dem etwas, oder helfen Sie diesem nach“ (Niedermoserprozess zu 18Vr 907/45) gegeben. Aber auch ein Handzeichen des Einspritzens mit einer Injektionsnadel hatte die gleiche Bedeutung für die Kranken.

Auch wenn nicht alle Angeklagten verurteilt wurden, die autoritären Charaktere, die potentiell faschistischen Eigenschaften kamen anhand der Inhaltsanalyse zum Vorschein. Die Verteidigungsstrategie aller Angeklagten war durchaus homogen, indem beim Prozess alle ihre Unschuld beteuerten. Die Teilnahme am Tötungsprozess durch Dr. Niedermoser und des Pflegepersonals war nicht mehr zu leugnen. Vor dem Außensenat Klagenfurt des Volksgerichts Graz hatten sich die Angeklagten zu verantworten. Dr. Niedermoser, der für mindestens 400 Tötungen schuldig gesprochen und deshalb auch durch den Strang zum Tode verurteilt wurde, war als Leiter der damaligen Landes- Siechen- und Irrenanstalt verantwortlich für Diskriminierungen und Misshandlungen an Pfleglingen, die großteils zum Tod führten. Die PflegerInnen waren beteiligt, nicht nur in voreilendem Gehorsam getötet zu haben, sondern handelten auch ohne Befehl. Im Nachhinein betrachtet immer mit der

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Schutzbehauptung, sie hätten nur ihren Dienst getan. Wie dieser Dienst ausgeführt wurde, war im Grunde genommen ein Morden mit natioanalsozialistischem Hintergrund. Moralische Aspekte wurden ausgeschlossen, blindlings wurde gehandelt und über Menschenleben entschieden. Das systematische Morden wurde zur Normalität, die keinerlei Emotionen und Schwächen zuließ. Falls Zweifel auftraten, wurden diese mit der Begründung abgetan, dass es sich bloß um lebensunwertes Leben und Nutzlose handelte. Demnach wurden die Arbeiten wie angeordnet verrichtet und nicht weiter nachgefragt. Am Tag nach dem Prozessurteil suizidierte sich der Oberpfleger Eduard Brandstätter. Er wurde – so wie Niedermoser – zum Tode durch den Strang verurteilt. Das gleiche Urteil erging an die Oberschwester Antonie Pachner und die Oberpflegerin Otillie Schellander. Für diese beiden Mitangeklagten wurde letztendlich jedoch eine Begnadigung zu einer langjährigen Haftstrafe erwirkt.

Des Öfteren versuchte vor allem Niedermoser in der Verhandlung zu verdeutlichen, dass die Verabreichung der Injektionen zur Erleichterung der PatientInnen dienen sollte. Anfangs wurde von ihm die Dosis den PflegerInnen noch bekanntgegeben, später überließ er ihnen solche schwerwiegenden Entscheidungen. Es wurden diesbezüglich sämtliche Grenzen überschritten. Niedermoser als Leiter der Anstalt kümmerte sich nicht darum, wie seitens des Pflegepersonals mit Menschen und die für sie bestimmten (Tötungs)-Injektionen umgegangen wurde. Laufend wurde davon gesprochen, wer welchem PatientInnen eine Dosis verabreichte oder nicht und ob sie von Niedermoser in Auftrag gegeben wurde, oder ob die Schwestern und sämtliche PflegerInnen selbst entschieden. Alle Angeklagten sprachen von Befehlen, die sie ausführen mussten und dass sie nur ihren Dienst verrichteten. Während der Verhandlung verfielen sie offenkundig dann doch immer in ihr eigenes Schema – jeder in seine eigene Persönlichkeit, sein Ich, das sie stets verleugnen wollten - denn bei den Aussagen waren die Eigenschaften des autoritären Charakters nicht zu verbergen. Aufgrund der dafür notwendigen Syndrome verrieten sie ihre potentiell faschistischen Charakterzüge. Der Sadismus und die Bösartigkeit waren zudem auffallend und Niedermoser war sehr bemüht, das Ganze als Banalität hinzustellen, wenn er zum Ausdruck brachte, dass es sich bei der Tötung nur um Schwerkranke oder Schwerstbehinderte handelte. Niedermoser und das Pflegepersonal nahmen sich das Recht, Menschen zu selektieren. Das waren Nazi-Ideologien. Krankheit, Behinderung oder auch „Nicht-Deutschheit“ wurden nicht toleriert. Sie waren die Lebensunwerten, die dem Staat nur Geld kosteten und nichts brachten, deshalb wurden sie zu Auserwählten für den Gnadentod .

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In Hinblick auf das enorme Ausmaß an Getöteten und die Bereitschaft zur Durchführung seitens der Ärzte (und auch der Schwestern und PflegerInnen) beeinflussten auch andere Faktoren dieses Phänomen. So fand ich die Antwort für die Gleichgültigkeit in der „psychischen Abstumpfung“ (Lifton, 1988, S. 531). Die Ärzte schützten sich selbst, indem sie sich überhaupt nicht verantwortlich fühlten, sie hatten immer die Möglichkeit, alles auf das Regime, den Führer, abzuschieben. Sie mussten keine Emotionen freigeben, sie taten nur ihre Pflichten und fühlten sich nie schuldig. In der Meinung nicht schuldig zu sein, waren sie auch im Glauben, nicht getötet zu haben. Die Euthanasie wurde praktischerweise zum Synonym für alle diese Morde, ohne dass sich die Verantwortlichen je als Täter fühlten. Robert Jay Lifton (1988) schrieb in seinem Buch über Auschwitz, dass der Sinn des Tötens und des Heilens „in einem auf den Kopf gestellten Verhältnis im Nazi-Regime gerechtfertigt“ (Lifton, 1988, S. 510), lag. Die Idee, dass es für die betroffenen Pfleglinge ein Gnadentod war, manifestierte sich in den Gehirnen derer, die handelten. Für die Ärzte war es ganz selbstverständlich und natürlich, Selektionen vorzunehmen, was für die PatientInnen unumgänglich den Tod bedeutete. Die Maschinerie, die dabei entstand, entwickelte eine Existenz, als wenn eine eigene böse, überdimensionale Macht dahinter gewesen wäre. Es war eine autonome Welt für sich, jede einzelne Anstalt. Die Vorstellung, dass diese Menschen außerhalb dieser Krankenhäuser und Pflegeanstalten vielleicht nicht jenen Charakteren ensprachen, war nicht nachvollziehbar und auch nicht möglich zu rekonstruieren.

Niedermosers Reaktionen als Arzt in der Klagenfurter Landes- Irren- und Siechenanstalt zeigten Macht und Robustheit. Von Mitleid für die PatientInnen war nie die Rede. Er war einer jener Euthanasie-Ärzte, der eine lapidare Antwort gab, mit den Worten „Ich höre nichts“, obwohl der Pflegling um Hilfe bettelte. Die Betrachtungen der Zeugenaussagen vermittelten den Eindruck eines komplett abgestumpften, kühlen, herzlosen Menschen, exakt wie in den (beigefügten) Kategorien mit den Merkmalen beschrieben. Dr. Niedermoser hatte eine doppelte Verantwortung zu tragen. Einerseits den PatientInnen gegenüber, andererseits aber auch gegenüber dem Pflegepersonal, denn er gab ihnen bekannt, welche Behandlungsweise in weiterer Folge durchzuführen war. Auch wenn zum Großteil die Aufträge freiwillig ausgeführt wurden, so hatte doch er als Vorgesetzter die Verantwortung. Von Seiten des gesamten Pflegepersonals wurde die Äußerung Ich tat nur meinen Dienst zu einer eigenen Standard-Argumentation.

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Wie schon zuvor angeführt, wurden hier die Kriterien der Faschismus-Skala ebenfalls zur Analyse herangezogen. Diese bestätigten die Vermutung, dass Niedermoser eindeutig Syndrome des potentiell faschistischen Charakters aufwies. Auffallend war, dass ein Ankerbeispiel für zwei oder sogar drei Merkmale passend war. Das wurde zum Beispiel bei den Merkmalen autoritäre Aggression, Anti-Intrazeption sowie Destruktivismus und Zynismus ersichtlich. Bei Niedermoser waren keine Anzeichen von Sensibilität da. Es war auch nicht davon auszugehen, dass eine Unterdrückung von Sensibilität stattfand, es schien, aufgrund seiner Aussagen, dass einfach keine da war. Niedermoser ließ die PatientInnen seine Überlegenheit spüren, wie schwach sie ihm gegenüber waren und zeigte eigentlich Feindschaft. Feinde waren ein gesellschaftliches Problem und mussten vernichtet werden. Niedermoser gab dazu seine Aufträge. Niedermosers Reaktionen waren jeweils Macht und Robustheit. Von Mitleid für die PatientInnen war nie die Rede.

Das Merkmal des Konventionalismus kam bei Niedermoser insofern zum Vorschein, dass er sich während des Gerichtsprozesses immer wieder darauf berief, dass es sich bei den Euthanasierungen ausnahmslos um „schwer Schachsinnige und unheilbar Geisteskranke, die zur Verblödung führten sowie um Epileptikern“ handelte (Gerichtsakt Niedermoserprozess, 18 Vr 907/45, S. 659). Er beharrte darauf, dass es nur um lebensunwertes Leben ging. Und dass er aufgrund des Befehles des Führers handelte. Die konventionellen Werte waren wichtig, sie mussten um jeden Preis eingehalten werden. Diese starre Bindung zum faschistischen System führte zur Erweiterung von Euthanasierungs-Fällen. Wie im Protokoll durch die Kriminalpolizei festgehalten, wurden auch Pfleglinge mit Schlaganfällen, Herzerkrankungen, Darmerkrankungen euthanasiert. Das war Alltagsarbeit in der damaligen Landes- Irren-und Siechenanstalt. Von Niedermoser war während des gesamten Gerichtsprozesses nie zu hören, dass er durch einen dieser Vorgänge im Nachhinein zumindest moralisch belastet sei. Er war noch immer davon überzeugt, ein paar Euthanasierungen durchgeführt zu haben, die rechtens waren, weil es sich um lebensunwertes Leben handelte. Dieser Krankenhausalltag führte dazu, dass Dr. Niedermoser begann, aus einer Machtposition mittels Handbewegungen oder nebensächlicher Bemerkungen über das Leben oder den Tod des PatientInnen zu entscheiden. Gefühllos und mit einer Gleichgültigkeit verhielt er sich gegenüber den Pfleglingen. Im Hintergrund liefen die Gespräche mit der Anstaltsleitung und auch dem Reichsministerium. Es ist daher nachvollziehbar, dass sich Niedermoser an das von ihm Erwartete hielt – die Euthanasierung. Dass er dabei herzlos und ohne irgendwelcher Empathie gegenüber den PatientInnen vorging,

101 ist laut etlicher Zeugenaussagen ein Faktum. Nicht unbedeutend für den Nachweis des Merkmals Konventionalismus wäre bei Niedermoser, dass nie zum Vorschein kam, dass es sich bei ihm um einen gläubigen Menschen handelte. Nie war die Rede von Religion. Laut kriminalpolizeilicher Aussagen bevorzugte Schmid-Sachsenstamm sogar den konfessionslosen Niedermoser gegenüber Meusburger, um ihn mit der Durchführung und Organisation der Euthanasie zu betrauen (Kriminalpolizeilicher Akt zu 18 Vr 907/45, Vernehmung Dr. Kurt Meusburger 1945: 1/2). Und Adorno (1999) beschrieb uns wie folgt: „Die moderne Kirche, mit ihren vielen Vorschriften und ihrer Scheinwelt, spricht den tiefreligiösen Menschen nicht an; sie wirkt hauptsächlich auf den naiven und unkritischen Menschen“ (Adorno, 1999, S. 48).

Auch die Kategorie der autoritären Aggression wurde von Niedermoser erfüllt. Er war der Meinung, ein Wehrmann hätte die konventionellen Werte nicht erfüllt. Also sah er es als seine Pflicht, diesen Mann zu bestrafen, obwohl dieser dann freigesprochen wurde und wieder zu seiner Einheit zurückkehrte. Trotzdem sah sich Niedermoser veranlasst, diesen Wehrmann in der geschlossenen Anstalt zu verwahren, in zu peinigen und zu misshandeln. Bei diesem aggressiven Verhalten ist eine Selbstgerechtigkeit ebenfalls nicht zu übersehen.

Die Kategorie Destruktivität und Zynismus wurde sehr oft bei den Aussagen deutlich. Dieses Merkmal zeigte, mit welcher Erbarmungslosigkeit und intriganter Bösartigkeit vorgegangen wurde. Die Präzisierung dieser Kategorie lautete unter anderem „Wenn wir die Deutschen und Japaner erledigt haben, sollten wir uns auf andere Feinde der menschlichen Rasse konzentrieren“ (ebd.). Ärzte und deren Pflegepersonal ging es um das Erledigen der kranken Menschen, der Schwachsinnigen, der Vollidioten; das waren sozusagen ihre Feinde.

Die Kategorie Autoritäre Unterwürfigkeit wurde vollends erfüllt. Laut dieser sollte „jeder Mensch einen festen Glauben an eine übernatürliche Macht haben, die über ihm steht, der er gänzlich untertan ist, und dessen Entscheidungen er nicht in Frage stellt. Gehorsam und Respekt gegenüber der Autorität sind die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen sollten. Was dieses Land braucht, sind weniger Gesetze und Ämter, als mehr mutige, unermüdliche, selbstlose Führer, denen das Volk vertrauen kann“ (Adorno, 1999, S. 49).

Niedermoser musste Gehorsam und Respekt gegenüber Meusburger zeigen, angeblich sogar die Entscheidungen von oberster Stelle (Ministerialrat Franke) akzeptieren, und die PflegerInnen hatten wiederum Niedermosers Aufträge zu erfüllen.

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Keine Bedeutung ist den Merkmalen Aberglaube und Stereotypie, Projektivität sowie Sexualität zuzuschreiben. Dabei muss festgehalten werden, dass zu Niedermosers Person kein existentes Datenmaterial für diese Arbeit vorhanden war. Laut Recherchen war Dr. Niedermoser verheiratet, aus dieser Ehe entstammten zwei Töchter. Es war nie die Rede von exzessiven Festen oder irgendwelchen sexuellen Vorgängen im damaligen Landeskrankenhaus. Innerhalb der Landeskrankenhauses dürfte Dr. Niedermoser kaum private Kontakte gepflegt haben. In den schriftlichen Aufzeichnungen wurde nie derartiges erwähnt. Dies trifft auf alle drei genannten Kategorien zu.

Nachdem es sich hier eindeutig nicht nur um einen einzelnen Täter handelte, sondern zahlreiche Personen in dieser Dynamik involviert waren, wäre es unkorrekt gewesen, hier den Aspekt der Massenpsychologie nicht in Betracht zu ziehen. Dr. Niedermoser, der selbst auch die Eigenschaften des autoritären Charakters besaß, unterwarf sich einer höheren Instanz. Die soziale Hierarchie blieb somit gewahrt; wie in dieser Arbeit in Bezug auf die Autoren Sidanius und Pratto (1999) schon verdeutlicht, wurden anhand der Gegebenheiten rund um die Klagenfurter Landes Irren- und Siechenanstalt die sozial-hierarchischen Strukturen festgelegt. Alle Beteiligten beugten sich dem Regime, sie schwammen mit dem Strom und führten sämtliche Befehle aus, die sie bis zu Tötungen steuerten, für die es eigentlich kein Gesetz gab. Mitgefühl für die zu tötenden Menschen gab es insofern, dass es sich nur um lebensunwertes Leben handelte. Die Betroffenen hätten dankbar sein müssen, ein solch unnützes Dasein endlich zu beenden. Die Recherchen ließen erkennen, dass ein unglaublicher Zynismus dahinter stand. Die Pfleglinge wurden nicht als Menschen wahrgenommen, sondern mit einer Arroganz als Idioten oder dergleichen abgestempelt, die sozusagen keinen Anspruch zu erheben hatten, auf eine angemessene ärztliche und humane Betreuung. Dass das Pflegepersonal vor möglichen Konsequenzen Angst hatte, ist teilweise verständlich. Dennoch ist nicht nachvollziehbar, warum das Mitmachen bei diesen unmenschlichen Kapitalverbrechen ohne weiteres hingenommen wurde. Die Möglichkeit des Nein-Sagens wäre realisierbar gewesen – ohne einer Auswirkung zu ihrem eigenen Nachteil. Personen, die diese Mittel von vornherein ablehnten, wurden zwar eindringlich auf ein Stillschweigen aufmerksam gemacht, ansonsten wurden jedoch keine Maßnahmen gegen sie ergriffen. Im Grunde genommen machten alle mit.

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Eine nicht unbedeutende Rolle spielte dann aber doch die Machtposition, die sich auch bei den PflegerInnen bemerkbar machte. Und die Ärzte genossen es ebenfalls, dass ihnen diese hochgestellte Funktion zuteil wurde; besonders deutlich ist diese Charaktereigenschaft durch die Kategorie Machtdenken und Robustheit durch Adornos Faschismus-Skala bekundet. Dieses Merkmal kennzeichnet geradewegs den potentiell faschistischen Charakter: „Falls die verantwortlichen Stellen nichts unternehmen, der wachsame Bürger das Gesetz in die eigene Hand nehmen muß“ (Adorno, 1999, S. 56).

Auch wenn im Endeffekt nicht alle Angeklagten verurteilt wurden, die autoritären Charaktere, die potentiell faschistischen Eigenschaften kamen anhand der Inhaltsanalyse dennoch größtenteils zum Vorschein. Hier traten Elemente auf, die bei der kriminalpolizeilichen Vernehmung noch nicht der Fall waren. Der Faktor Zeit ist dabei sicherlich mitentscheidend. Die Beschuldigten hatten Gelegenheit, sich kontinuierlich mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen. Desweiteren konnten sie sich mit ihren Anwälten besprechen, die wiederum bis zu Prozessbeginn bestimmte Strategien ausarbeiteten.

6.7 Vergleich Renno / Niedermoser

Angesichts der Fragestellung dieser Arbeit dürfte hier am bedeutendsten sein, dass beide Personen Merkmale des potentiell faschistischen Charakters aufwiesen; das ergab sich aus der Inhaltsanalyse mittels deduktiver Kategorienbildung. Als Datenmaterial dienten das Interview zwischen Georg Renno und dem Interviewer Walter Kohl sowie die Akten des Niedermoserprozess und die zuvor geführten Vernehmungen zu diesem Prozess. Die beiden Ärzte, die einige Gemeinsamkeiten aufwiesen, unterschieden sich dennoch. Die bedeutendste Disparität dürfte darin liegen, dass Niedermoser für seine Verbrechen letztendlich zur Verantwortung gezogen wurde und dass das Urteil auch vollstreckt wurde. Das dürfte wohl auch damit zu begründen sein, dass Rennos Verteidiger wertvolle Arbeiten lieferte; der Jurist ging sogar soweit, dass er einen Beschwerdebrief gegen eine junge Ärztin einreichte, die über Renno ein Gutachten erstellen sollte. Angeblich erschien die Begutachterin ohne Anmeldung. In den Akten Rennos, wo dieses dubiose Schreiben zum Vorschein kam, wurde unter anderem Rennos Simulieren und Manipulieren festgestellt, woraufhin die Beschwerde des Rechtsanwaltes verfasst wurde mit dem Inhalt, die Ärztin hätte sich ungewöhnlich geäußert, 104 indem sie meinte: „Euch Euthanasie-Ärzten passiert sowieso nichts! Dieser Verdacht war während der ganzen Exploration nicht zu zerstreuen, gestützt durch die Tatsache, daß Dr. Renno noch bis 1968 im Dienst war, und daß gewöhnlich eine so gravierende cerebrale Sklerose nicht derart schnell progredient ist. [...] Jedoch wird eine etwaige Simulation nicht beweisbar sein, [...] ist er doch durch keine Maßnahme zu zwingen, sich anders zu verhalten“ (Schwarz, 1999, S. 80-92). Dr. Georg Renno wurde als verhandlungsunfähig erklärt. Die einzige Sanktion, die seitens der Staatsanwaltschaft denkbar war, war, ihm den Führerschein abzuerkennen. Der Prozessakt wurde 1971 quasi geschlossen, zu einer Zeit, in der sich Renno längst seine Verteidigungsstrategie (über Jahre) zurecht gelegt hatte, sofern er überhaupt aus vermeintlich gesundheitlichen Gründen im Stande war, im Verhandlungsraum zu erscheinen.

Niedermoser wurde während des Prozesses zusehends nervöser, ihm fehlte eigentlich die Zeit, sich eine geeignete Verteidigungsstrategie zurechtzulegen. Dr. Franz Niedermoser wurde im November 1945 durch die Kriminalpolizei einvernommen und im März 1946 fand bereits der Gerichtsprozess statt. In seinen Worten waren eindeutig Geständnisse erkennbar. Die Versuche, die Euthanasierungen zu erklären, um sein Leben zu retten, indem er abermals wiederholte, dass die PatientInnen ausnahmslos schwer Schwachsinnige und unheilbare Geisteskranke, oder schwere Epileptiker waren, scheiterten. Dazu belasteten auch die vielen Zeugen zu schwer. Wenn auch seitens der PflegerInnen im Prozess teilweise zugunsten Dr. Niedermosers ausgesagt wurde, die negativen Stellungnahmen vor der Kriminalpolizei konnten nicht außer Acht gelassen werden. Die Verteidigung spielte hier keine bedeutende Rolle, oder man kann anmerken, dass sie Niedermoser nicht von Nutzen war. Niedermoser verstand es nicht, so wie Renno, sein ewiges „Ich fühle mich nicht schuldig“ auch wirklich so zu interpretieren und manipulativ darzulegen. Die Fakten bezeugten, dass Renno für Zigtausende Tötungen verantwortlich war, trotzdem brillierte dieser Arzt aufgrund seiner Verhandlungsunfähigkeit, denn er glaubte an seine Unschuld und verstand es anscheinend, das Gericht zu überzeugen. Niedermosers Gesundheitszustand dürfte zur Zeit des Prozesses wohl in keinster Weise einen Anlass zu dieser Überlegung gegeben haben. Er wurde sofort einvernommen, hatte nicht viel Zeit für gut durchdachte Strategien. Anzumerken ist daher, dass für Renno natürlich die Zeit sprach. Niedermoser wurde quasi von seiner Arbeit im Krankenhaus weg angeklagt und war sich zu Beginn des Jahres 1946 sicherlich noch nicht über die Auswirkungen dieses NS-Euthanasie- Prozesses bewusst. Renno hingegen hatte die Prozesse gegen die ehemalige NS- 105

Medizinischerschaft bereits über Jahre hinweg verfolgt und wusste, sich dementsprechend vorzubereiten Von siginifikanter Bedeutung waren bei Renno der unglaubliche Zynismus und Sadismus. Renno und seine Vorgesetzten feierten rauschende Feste, während zur selben Zeit im selben Gebäude Menschen hingerichtet wurden. Nebenbei wurden über diese Aktionen Witze gemacht, über die sie sich köstlich amüsieren konnten. Renno genoss dieses Leben, führte auch Exkursionen durch, um allen zu präsentieren, in welcher Machtposition er sich befand.

Dr. Niedermoser wurde am 11. November 1945 zum Tode verurteilt (am 16.11.1946 vollstreckt), während Dr. Georg Renno immerhin zuerst verurteilt, jedoch der Prozess dann doch abgebrochen wurde. Renno wurde im Endeffekt nie verurteilt, aber auch nie freigesprochen. Ein Nachvollziehen der Judikatur kann in derartigen Entscheidungsfällen Mühe bereiten.

Wie erwähnt, erfüllte Renno alle Kriterien für die Kategorien nach Adornos Faschismus-Skala. Und es stand fest, dass er sich gegenüber Niedermoser eindeutig abhob. Beabsichtigt war nicht, die Frage in den Raum zu stellen, wer mehr Menschen tötete, das spräche wider jegliche Ethik. Der Hauptfokus war darauf gelegt, zu zeigen, ob (und welche) Merkmale bei den untersuchten Personen festgestellt werden konnten, um dem potentiell faschistischen Charakter zugeordnet zu werden. Beide, Dr. Franz Niedermoser und Dr. Georg Renno zeigten die erforderlichen Syndrome. Auffallend war auch bei beiden, dass sie überhaupt keine Schuldgefühle äußerten. Schuld war überhaupt ein Faktum, das von allen Verantwortlichen ignoriert wurde. Nie wurde beim Gerichtsprozess gegenüber den Hinterbliebenen jemals von Reue gesprochen. Sämtliche Aussagen hatten gewisse Parallelen; die Angeklagten leugneten permanent, sich schuldig zu fühlen. Sie zeigten jedoch auch Angst, eine Eigenschaft, die sie zuvor nur von PatienInnen und Pfleglingen kannten. Diese Todesangst hatte sie jedoch nicht berührt, Dr. Georg Renno und auch Dr. Franz Niedermoser kümmerten sich nicht um die PatientInnen, sie überließen sie ihren Schicksalen oder ordneten überhaupt selbst die Vernichtung unzähliger Menschen an. Die Situation glich nicht nur einer Unterwerfung aus Pflichterfüllung, sondern diese Ärzte vermittelten den Eindruck, dass sie sich nicht mit Widerwillen den Situationen anpassten. Und auch die Schwestern und PflegerInnen machten mit. Von den beiden verantwortlichen Ärzten, Dr. Niedermoser und Dr. Renno, wurde nie zum Ausdruck gebracht, sie hätten ein einziges Mal für eine(n) PatientIn gehandelt, sie hätten sich intensiv dafür eingesetzt, dass ein Mensch nicht umgebracht worden 106 wäre. Das kam im Prozess nie zum Ausdruck. Alle vermittelten den Eindruck von egoistischen, unreifen, sadistischen Menschen – vor allem die beiden Hauptverantwortlichen, Dr. Renno und Dr. Niedermoser. Dr. Niedermoser wurde zur Verantwortung gezogen, indem er laut Gerichtsakt zu Zahl Vr18 907/45 zum Tode verurteilt wurde, wohingegen Dr. Renno die Möglichkeit hatte, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen.

Jedes einzelne Menschenleben, das ausgelöscht wurde, war kaltblütiges Morden. Wiederum war unvermeidlich, auf Zigtausende Morde zu verweisen, für welche allein Dr. Georg Renno verantwortlich zeichnete. Ein Mann, der abends des Öfteren als Flötist im Renaissanceschloss Hartheim vor hochdekorierten Zuhörern, wie dem Reichsinnenminister, dem Staatssekretär, Prof. Dr. Nitsche, Prof. Dr. Heyde mit Mozart- oder Bach-Klängen brillierte (Fallend, 2000). Renno war ein Mann mit Ausstrahlung, der sein Leben genoss. Er verstand es, seinen beruflichen Aufstieg zu nutzen, denn im Interview klang oft durch, wie spitzbübisch er sich den Frauen gegenüber verhalten hätte. Hinter dieser Fassade kam tagsüber der „kühle Preuße“ zum Vorschein, der – wie es schien – nie verkraftete, dass er und seine Familie aus dem Elsass vertrieben wurden. Dieses traumatische Erlebnis steckte in ihm sein ganzes Leben lang - eine für ihn nie heilende Wunde. Deshalb war dieser Arzt auch so voller Zorn. In den Positionen als T4-Begutachter und stellvertretender Anstaltsleiter hatte er Möglichkeiten, seinen Hass auszuleben. Gewissensfrage gab es für diesen Mann längst keine mehr, das einzige was noch zählte, war die Treue zum Regime – zum Führer. Hier waren Parallelen zu Niedermoser zu erkennen, auch ihm schien das Gewissen nicht zu plagen, die Ideologien des faschistischen Regimes wurden durchgeführt, was auch immer die einzige praktikable Rechtfertigung für den Prozess ausmachte: „Ich fühle mich nicht schuldig“. Beide waren NSDAP-Mitglieder, was sie jedoch nicht gerne zugaben, die mit blindem Gehorsam die faschistischen Ideale verfolgten und die Befehle des Regimes ausführten. Sie galten als autoritäre Charaktere und beide Ärzte zeigten sehr viel Unterwürfigkeit gegenüber dem Führer beziehungsweise dem gesamten Regime. Ein weiterer Aspekt, der für beide Mediziner zutraf, war der, dass sie das Ziel verfolgten, in der Position als angesehene, hochdotierte Ärzte anerkannt zu werden. Sie entschieden über das Höchste, über das normalerweise kein Mensch entscheiden kann, sie waren in der unglaublichen Machtposition, über Leben und Tod entscheiden zu können. Inwieweit bei Renno als auch Niedermoser von einer unbewussten Feindschaft, die laut Adorno et al. (1995) aus einer Versagung und Repression resultierten, auszugehen war, 107 konnte nur in Erwägung gezogen werden. Dieses Störungsbild wäre wiederum Renno unter Berücksichtigung der traumatischen Vertreibung in der Kindheit zuzuschreiben gewesen. Hier könnte das Thema der Epigenetik eine mitentscheidende Rolle gespielt haben. Die unbewusste Feindschaft könnte schließlich auch die Eltern betroffen haben und Antisemitismus wurde aufgrund dessen ebenso von den Eltern an Georg Renno weitergegeben. Was Dr. Niedermoser betraf, wären sämtliche Spekulationen zu weit gegriffen, hier reichte das Datenmaterial nicht aus, um die Analyse weiter auszubauen.

Als abschließenden bedeutenden Faktor war es unerlässlich anzuführen, dass Rennos Leben im nachhinein vielfach publiziert wurde. Inwieweit Datenmaterial vernichtet wurde, das über Dr. Niedermoser mehr Aufschluss gegeben hätte, ließ sich nicht feststellen48.

Zusammenfassend muss erklärt werden, dass Dr. Franz Niedermoser und auch Dr. Georg Renno Personen waren, die anderen Menschen gegenüber nie Empathie entgegenbrachten, sie bestätigten den Eindruck, dass sie zu denjenigen gehörten, die niemanden lieben konnten. Es waren im Grunde genommen keine reifen Menschen, die Glück ausstrahlen konnten. Sie waren nicht in der Lage, positive Aspekte weiter zu geben, ob es sich dabei um Liebe, Glück, oder dergleichen handelte. Beide fügten sich dem faschistischen System, das solche Dimensionen annahm, dass sich in diesen beiden Personen das autoritäre Potential so stark entwickelte, dass sie jeglichen Bezug zur eigentlichen Realität übersahen. Das Fatale dabei war, dass ihr eigenes Gewissen dabei außer Kraft gesetzt wurde. Die Feststellung, dass das Über-Ich durch diese monströsen Autoritäten ersetzt wurde, musste als traurige Erkenntnis angenommen werden.

48 Fakt ist, dass allgemein Unterlagen vernichtet (wie z. B. jene über Sterberaten) und Zahlen manipuliert wurden (Klee, 2010). 108

7 Schlusswort und Resümee

Die Komplexität dieser Thematik lässt auch heute zum Großteil nur Vermutungen zu; zumindest ist aber ein Nachvollziehen aufgrund etlicher Studien und wissenschaftlicher Forschungen teilweise möglich. Es gäbe – vor allem was Niedermoser betrifft – noch einiges aufzuarbeiten. Es war der Autorin dieser Arbeit nicht möglich, in Erfahrung zu bringen, ob diesbezüglich überhaupt Datenmaterial vorhanden ist oder die wichtigen Unterlagen vernichtet wurden. Wie sich herausstellte, war die Eliminierung von Akten im Psychiatrischen Bereich keine Seltenheit. Am Steinhof zum Beispiel wurden in einem „Archivkeller Listen gefunden, die die Vernichtung von 1.157 Personalakten“ belegten ( Gabriel und Neugebauer, 2002, S. 117).

Bei den beiden Protagonisten handelte es sich um autoritäre Persönlichkeiten, die die Unfähigkeit besaßen, unabhängig zu sein. Sie klammerten sich an ein Regime, von dem sie delegiert wurden und das ihnen die Befehle zum Töten gab. Sie waren nicht in der Lage, Empathie zu zeigen, signalisierten keine Liebe, Vernunft gegenüber den Pfleglingen oder dem Pflegepersonal. Die autoritären Charaktere kennzeichneten sich durch ein Beherrschen lassen seitens des nationalsozialistischen Regimes beziehungsweise seines Führers. Gleichzeitig befanden sie sich in der Rolle der Beherrscher und bewiesen sadistische Züge, indem kranke Menschen gedemütigt und getötet wurden. Sowohl Dr. Georg Renno als auch Dr. Franz Niedermoser konnten demnach ihre masochistischen als auch ihre sadistischen Triebe nicht verbergen.

Die Recherchen erwiesen sich aufgrund einer überaus problematischen Thematik als nicht einfach. Die Täter waren im festen Glauben, die Nazi-Ideologien befolgen zu müssen und führten diese mit einem unglaublichen Zynismus und einer Ignoranz aus. Tötungen, die in ihren Augen keine Morde waren, wurden damit gerechtfertigt, dass nur Aufträge ausgeführt worden seien. Nicht zu übersehen war das Banalisieren der gesamten Gräueltaten. Hannah Arendt (2013) berichtete in ihrem Buch, dass es aus emotionaler Sicht nichts Grausameres gegeben habe,als die NS-Verbrechen. Es wird seit jeher über das Böse im Menschen diskutiert. Dass die Antworten nach dem Bösen sehr vielfältig sind, überrascht nicht. Heinz Sobota befasste sich ebenfalls mit der Problematik und kam zur Überzeugung, dass „das Böse im Menschen wohnt“ (Sobota, 2014). Die dafür verantwortlichen Faktoren versuchte ich in dieser Arbeit zu analysieren. Doch die

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Komplexität und der Umfang des Themas lassen sich in einer Masterarbeit bei weitem nicht zur Gänze einbringen. Hirnforscher, Psychoanalytiker und auch andere Wissenschaftler bzw. Autoren beschäftigten sich bereits mit jenen bösen Taten. Psychologie und auch die Neurologie konnten nicht helfen, das zu verstehen, was sich an Unfassbarem ereignete. Robert Jay Lifton (1988) zitierte in seinem Buch einen Arzt und Überlebenden dazu treffend: „Wir selbst, die wir dort gewesen sind und die wir uns immer diese Frage gestellt haben und sie uns bis zum Ende unseres Lebens immer wieder stellen werden, werden nie verstehen, weil das unverständlich ist“ (S. 16).

Wenn die genannten Negativfaktoren aufeinandertreffen, ist es jederzeit möglich, dass sich Grausamkeiten wiederholen, ob in einer derartigen Dimension, wie sie durch das nationalsozialistische Regime auftraten, und mit einer solchen Kaltblütigkeit ist eher auszuschließen. Solche unmenschlichen Taten, wie sie im Nationalsozialismus von Menschen begangen wurden, sind aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen. Unter Berücksichtigung der äußeren (historischen) Umstände und intrapersoneller Theorien á la Adorno lässt sich jedoch ein Bild zeichnen, das zeigt, warum die nationalsozialistische Ideologie auf viele Menschen derart attraktiv wirkte und sie auch zum Handeln aktivierte. Die Tatsache, dass Menschen zu Massenmördern werden können, sehen wir tagtäglich in den Medien. Egal welche gesellschaftspolitischen Umstände es gibt, ihr Handeln ist in keiner Weise begründet und kann auch nicht legitimiert werden. Dennoch ist es möglich, mit den geeigneten wissenschaftlichen Mitteln, ihre Denk- bzw. Handlungsschemata sichtbar und somit auch erklärbar zu machen.

Die vorliegende Arbeit war daher der Versuch, die Geschehnisse rund um die NS- Euthanasie anhand zweier Beispiele fassbar zu machen. Dabei war nicht nur auf eine ethisch- korrekte Vorgehensweise zu achten, sondern auch den wissenschaftlichen Standards zu genügen und den Umfang einer Masterarbeit nicht zu überschreiten. Eine objektive und sachliche Darstellung dieses Thema war aufgrund des hohen emotionalen Gehalts nicht immer einfach, dennoch habe ich versucht, persönliche Eindrücke auszublenden und mich weitestgehend an der tatsächlichen Faktenlage zu orientieren.

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: „Zelle“ der Klagenfurter Irrenanstalt (ohne Datum), ...... 31 Abbildung 2: Zerstörte Häuser nach einem Luftangriff auf Klagenfurt, ...... 39

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Anhang

Kategorienbildung Dr. Renno Code + Ausprägung Definition Ankerbeispiele Kodierregeln 1. Konventionalismus Starre Bindung an die Renno stellt seinen Rollstuhl so an Folgen nach Adornos De- konventionellen Werte den Schreibtisch, daß er an ihm sitzt finitionen, die aufgrund be- des Mittelstandes. wie der Vorgesetzte in einer stimmter Syndrome den Verwaltungsbehörde.. potentiell faschistischen Charakter be-schreiben. Renno interpretiert „Euthanasie“ falsch – von den Nationalsozialisten missbräuchlich verwendet, geht bis auf Darwin zurück, verharrt auf Rassenhygiene, spricht von Auslese und Volksgesundheit mit dem Ziel, Menschen sollten möglichst lange arbeitsfähig sein. Und: Gesellschaft müsse sich gegen Geisteskranke wehren, wie gegen Verbrecher. ..Und was der Führer gesagt hat, ist gemacht worden.. Durch das Guckloch: ..Kranken nichts bemerkt, wie bei plötzlichem Herztod – fallen zusammen – weg sind sie. Und die sind vielleicht noch sanfter eingeschlafen. Den Eindruck hatte ich (S. 102). ... Es hat keiner geschrien... So ´nen Tod möchte ich haben (S. 103). -> Pflichterfüllung, Regeln.

Sein Chef und Mentor hatte ihm befohlen, er war daher der Vollstrecker. Eine enge Bindung an lebensunwerte Existenzen führe zu Mitleid.. ändere nichts an Notwendigkeit des Gnadentodes (S.234).

Es gibt doch Rassenunterschiede!. Renno ist ärgerlich ->hochgradigste Diabetes hätten auch nur Juden (S.244).

Renno bei der Vernehmung bezgl. Vergasung und seine Empfindungen: „Etwas Fürchterliches habe ich bei der Tötung nicht empfunden, weil ... daß der Tod für Betr. eine Erlösung .. und sanfter Tod darstellte.

Auch wenn Renno sonst nichts zugibt, steht er dazu, Euthanasie an unwerten Existenzen (im Sinne von Hoche) durchgeführt zu haben – gültiges Euthanasie-Gesetz (S. 286). Bleibt felsenfest dabei, ohne sein Zutun abgeordnet“, nach Hartheim gekommen zu sein. 2. Autoritäre Unkritische ..gehört es zum Wesen des Mannes, Folgen nach Adornos De- Unterwürfigkeit Unterwerfung dieses Ja-sagen und Ja-wohl-Sagen, finitionen, die aufgrund be- unter idealisierte wenn jemand laut etwas anordnet? stimmter Syndrome den Autori-täten der Warum duckt er sich? (S. 13) potentiell faschistischen Eigengruppe. ...stottert, verliert den Faden. Er war Charakter beschreiben. der junge, ehrgeizige, Mediziner, war 118

ein Mensch, der nicht nein sagen wollte, wenn der Führer rief. ...Und was der Führer gesagt hat, ist gemacht worden (S.49). Renno (S. 50): „Geeignete Ärzte“, das möchte ich nicht auf mich bezogen haben, das waren die ganz Oberen:

Renno berichtet vom Treffen mit Uni- Professoren und Adolf – was blieb einem kleinen Mann übrig? (S. 73). Rennos „Hinterherlaufen“ als „Nummer zwo“, hat ihn geärgert, war ihm aber doch wichtig, weil die ganze Prominenz anwesend war. ..ist der Hitler verantwortlich gewesen für das Ganze (S. 147). Zum damaligen Zeitpunkt war ihm lange Kranksein peinlich... (1942/43) Renno beweist abermals, dass er Mitläufer ist, als er mit den Amis Likör trinkt, charmant plaudert und Tag und Nacht Ausgehzeit erhält, weil „this man is doctor, let him pass for day and night“ (S. 265). 3. Autoritäre Tendenz, nach Renno angeblich zu einem Folgen nach Adornos De- Aggression Menschen Ausschau zu Anstaltsleiter: „Wiederstand ist finitionen, die aufgrund be- halten, die Sabotage, das hat im Krieg Folgen für stimmter Syndrome den konventionelle Werte Freiheit und Leben!“ (S. 143). potentiell faschistischen mißachten, um sie Charakter beschreiben. verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können.

4. Zynismus und Allgemeine Feindselig- Lonauer und Renno ließen die Opfer Destruktivismus keit, Diffamierung des vor ihrem Tod noch einmal vor sich Menschlichen. vorbeimarschieren, wurden sogar fotografiert. Renno meint Vergasungen in Hartheim sind Massenbetrieb.

Renno weicht auf Fragen aus, wie er es geschafft habe, selbst Vater, Kinder in der Gaskammer sterben zu lassen; seien idiotische Kinder ge- wesen, lebensunwert. Seine Meinung: dass er sie ja nicht zu Normalen er- ziehen konnte (S. 92). Renno war als preußischer Arzt mit seinem forschen Auftreten bekannt; eine bedeutende Situation wurde von Pater Jakob Mühlböck berichtet, nachdem dieser bemüht war, den Todeskandidaten beizustehen. Auf seine mutige Frage hin, warum die Krücken zweier Ordensbrüder bloß am Bus lehnen würden, Renno wörtlich: „Die werden sie ohnehin nicht mehr brauchen“ (S. 90). Renno schilderte lapidar, dass das Sterben in der Gaskammer kein Kampf und keine Qual gewesen sei, obwohl es Zeugen gab (S. 99). Nebenbei, ganz lakonisch: Einer ist mal das Fenster hochgeklettert, die anderen waren still und ruhig.... weiß 119

nicht mehr wie lang Gas gelaufen ist ... dann haben sie alle am Boden gelegen (S. 101). Renno signierte Sterbeurkunden mit Dr. Steiner (S. 106).

5. Anti-Intrazeption Abwehr des Renno: „Es waren in Österreich Folgen nach Adornos De- Subjektiven, des enorm viele schwer idiotische finitionen, die aufgrund be- Phantasievollen, Kinder“ und meinte es wäre besser stimmter Syndrome den Sensiblen. wie bei König Lear (von Shakespear) potentiell faschistischen den Geist nicht zu quälen, sondern Charakter beschreiben. ziehen zu lassen. Renno weiter: „Ich konnte die ja nicht zu Normalen erziehen“. Die Euthanasie war für solche ein Gnadentod (S. 92) Renno: „Einer ist mal das Fenster hochgeklettert, war ein unruhiger Kranker. Die anderen sind still und ruhig gelegen, ich weiß nicht mehr, wie lang das Gas gelaufen ist...“ Die sind dann lang so liegen geblieben und von dort verbrannt worden (S. 101). Renno laut und barsch: „Die sind nicht einmal gefallen, die sind langsam da runter“; er meint damit eine Gruppe von 40 oder 50 sterbenden Menschen (S. 103).

„An einen kann ich mich erinnern, das war ein Schizophrener, also der hat wirklich dorthin gehört. Ich kann sagen, für die Kranken war das keine Qual“. Renno spricht davon, dass Mitleid ein weiteres Motiv für Tötungen hinzu- kam, bei lebensunwertem Leben.

Lonauer und Renno ließen die Opfer vor ihrem Tod noch einmal vor sich vorbeimarschieren, wurden sogar fotografiert. Renno meinte Vergasungen in Hartheim waren Massenbetrieb.

Renno weicht auf Fragen aus, wie er es geschafft habe, selbst Vater, Kinder in der Gaskammer sterben zu lassen; seien idiotische Kinder gewesen, lebensunwert. Seine Meinung: dass er sie ja nicht zu Normalen erziehen konnte (S. 92).

Renno war als preußischer Arzt mit seinem forschen Auftreten bekannt; eine bedeutende Situation wurde von Pater Jakob Mühlböck berichtet, nachdem dieser bemüht war, den To- deskandidaten beizustehen. Auf seine mutige Frage hin, warum die Krücken zweier Ordensbrüder bloß am Bus lehnen würden, Renno wörtlich: „Die werden sie ohnehin nicht mehr brauchen“ (S. 90). Renno schildert lapidar, dass das Sterben in der Gaskammer kein Kampf und keine Qual gewesen sei, 120

obwohl es Zeugen gibt (S. 99). Nebenbei, ganz lakonisch: Einer ist mal das Fenster hochgeklettert, die anderen waren still und ruhig.... weiß nicht mehr wie lang Gas gelaufen ist ... dann haben sie alle am Boden gelegen (S. 101).

Renno signierte Sterbeurkunden mit Dr. Steiner (S. 106).

... ein wirklich weicher, schwäch- licher Mensch, der getrieben von Angst und Ehrgeiz ganz nach oben kam... (S.114) wegen Ja-sagen.

Auf Rennos Abtlg. in Waldniel starben 2 Kinder, er: „ das ist gestor- ben, weil es eben krank war“ (S. 230). 6. Machtdenken und Denken in Dimensionen Renno war als preußischer Arzt mit Folgen nach Adornos De- Robustheit wie Herrschaft – Unter- seinem forschen Auftreten bekannt; finitionen, die aufgrund be- werfung, stark-schwach, eine bedeutende Situation wurde von stimmter Syndrome den Führer-Gefolgschaft; Pater Jakob Mühlböck berichtet, potentiell faschistischen Iden-tifizierung mit nachdem dieser bemüht war, den Charakter beschreiben. Macht-gestalten. Todeskandidaten beizustehen. Auf seine mutige Frage hin, warum die Krücken zweier Ordensbrüder bloß am Bus lehnen würden, Renno wörtlich: „Die werden sie ohnehin nicht mehr brauchen“ (S. 90). „Das war der zweite, dem ich prak- tisch ein qualvolles Dasein - dem ich das Leben gerettet habe (S. 254).

Zwanzig Millionen Deutsche gibt’s zuviel auf der Welt! Das hat sich in mir eingeprägt! (S. 26). 7. Aberglaube und Glaube an die mystische Renno ergreift erneut die große Ver- Folgen nach Adornos De- Stereotypie Bestimmung des letzung seiner Kindheit auf, ohne Zu- finitionen, die aufgrund be- eigenen Schicksals; die sammenhang zu dem, was er gerade stimmter Syndrome den Disposition in rigidien erzählt (S. 29). potentiell faschistischen Kategorien zu denken. Charakter beschreiben.

8. Projektivität Disposition, an wüste Renno: „Ich weiß nicht, ob Sie Folgen nach Adornos De- und gefährliche wissen, wie die Amerikaner dann finitionen, die aufgrund be- Vorgänge in der Welt waren, wie sie Mauthausen besetzt stimmter Syndrome den zu glauben; die haben..... und der Ziereis ist da potentiell faschistischen Projektion unbewußter schwer verwundet worden und ist Charakter beschreiben. Triebimpulse auf die dann kurze Zeit später gestorben (S. Außenweilt. 252). 9. Sexualität Übertriebene Beschäfti- Folgen nach Adornos De- gung mit sexuellen finitionen, die aufgrund be- Vorgängen. stimmter Syndrome den potentiell faschistischen Charakter beschreiben.

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Kategorienbildung Dr. Niedermoser Code + Ausprägung Definition Ankerbeispiele Kodierregeln 1. Konventionalismus Starre Bindung an die ...Niedermoser unterstrich immer Folgen nach Adornos De- konventionellen Werte wieder, dass es sich dabei ausnahms- finitionen, die aufgrund be- des Mittelstandes. los um „schwer Schwachsinnige und stimmter Syndrome den unheilbar Geisteskranke, die zur Ver- potentiell faschistischen blödung führten sowie Epileptiker“ – Charakter beschreiben. lebensunwertes Leben handelte (Ge- richtsakt Niedermoserprozess, 18Vr/ 45, S.659). In der Vernehmung durch Kripo verweist Niedermoser aber auch auf Herz-, Krebs-, Nierenkranke, Schlaganfälle, Tuberkulose und Darmerkrankungen. Die Bemerkung durch Niedermoser, „dieser Kranke wäre auch bestimmt“ (Kriminalpolizeilicher Akt 16Vr 907/45)-

2. Autoritäre Unkritische Niedermoser weist erneut darauf hin, Folgen nach Adornos De- Unterwürfigkeit Unterwerfung dass er in die Reichskanzlei befohlen finitionen, die aufgrund be- unter idealisierte wurde, erklärte, dass er die Befehle stimmter Syndrome den Autoritäten der zu befolgen hatte potentiell faschistischen Eigengruppe. (Kriminalpolizeilicher Akt 16Vr907/ Charakter beschreiben. 45).

3. Autoritäre Tendenz, nach Ein Zeuge, der „wegen Zersetzung Folgen nach Adornos De- Aggression Menschen Ausschau zu der deutschen Wehrmacht vorerst un- finitionen, die aufgrund be- halten, die konven- ter Anklage stand: Während dieser stimmter Syndrome den tionelle Werte miß- Zeit wurde ich auf grausamste Weise potentiell faschistischen achten, um sie verur- und persönlich von Niedermoser Charakter beschreiben. teilen, ablehnen und gepeinigt und misshandelt bestrafen zu können. (Kriminalpolizeilicher Akt 16Vr907/ 45, S. 83). 4. Anti-Intrazeption Abwehr des Ein Pflegling der an epileptischen Folgen nach Adornos De- Subjektiven, des Anfällen litt, wurde in Einzelzelle finitionen, die aufgrund be- Phantasievollen, gesperrt, musste nackt auf Stroh stimmter Syndrome den Sensiblen. liegen; auf sein Betteln hin meint potentiell faschistischen Niedermoser: „Ich höre nichts“ Charakter beschreiben. (Kriminalpolizeilicher Akt 16Vr 907/45, S.2). Anderer Zeuge wurde durch Nieder- moser in Zwangsjacke gesteckt und zu den „kranken Irren, die am Boden herumkrochen“, eingewiesen. In der sogen. Gummizelle musste der Betroffene splitternackt verweilen (Kriminalpolzeilicher Akt 16Vr 907/45, o.A.). Dr. Niedermoser erklärt, dass Tötun- gen von nun ab auf der Irrenanstalt zu erfolgen hätten (Kriminalpolizeilicher Akt 16Vr 907/45, S.83).

5. Zynismus und Allgemeine Feindselig- „Ich höre nichts“ Destruktivisms keit, Diffamierung des (Kriminalpolizeilicher Akt 16Vr907/ Menschlichen 45, S.2). Anderer Zeuge wurde durch Nieder- moser in Zwangsjacke gesteckt und zu den „kranken Irren, die am Boden herumkrochen“, eingewiesen. In der sogen. Gummizelle musste der Betroffene splitternackt verweilen (Kriminalpolzeilicher Akt 16Vr 907/45) 122

Anderer Zeuge wurde durch Nieder- moser in Zwangsjacke gesteckt und zu den „kranken Irren, die am Boden herumkrochen“, eingewiesen. In der sogen. Gummizelle musste der Betroffene splitternackt verweilen (Kriminalpolzeilicher Akt 16Vr 907/45).

6. Machtdenken und Denken in Dimensionen Anderer Zeuge wurde durch Nieder- Folgen nach Adornos De- Robustheit wie Herrschaft – Unter- moser in Zwangsjacke gesteckt und finitionen, die aufgrund be- werfung, stark-schwach, zu den „kranken Irren, die am Boden stimmter Syndrome den Führer-Gefolgschaft; herumkrochen“, eingewiesen. In der potentiell faschistischen Identifizierung mit sogen. Gummizelle musste der Charakter beschreiben. Machtgestalten. Betroffene splitternackt verweilen (Kriminalpolzeilicher Akt 16Vr 907/45). Dr. Niedermoser erklärt, dass Tötun- gen von nun ab auf der Irrenanstalt zu erfolgen hätten (Kriminalpolizeilicher Akt 16Vr 907/45, S.83). Partienweise Tötungen im Irrenhaus: dafür sollten Betten frei gemacht werden.Also wurden 2-5 Pfleglinge ins Siechenhaus abgegeben. Um sich die Arbeit Arbeit für Krankenge- schichte zu ersparen, gab Niedermo- ser die Dosis nie bekannt (Kriminal- polizeilicher Akt 16 Vr 907/45, S.86). 7. Aberglaube und Glaube an die mystische Folgen nach Adornos De- Stereotypie Bestimmung des finitionen, die aufgrund be- eigenen Schicksals; die stimmter Syndrome den Disposition in rigidien potentiell faschistischen Kategorien zu denken. Charakter beschreiben.

8. Projektivität Disposition, an wüste Folgen nach Adornos De- und gefährliche finitionen, die aufgrund be- Vorgänge in der Welt stimmter Syndrome den zu glauben; die Proje- potentiell faschistischen ktion unbewußter Trieb- Charakter beschreiben. impulse auf die Außen- welt. 9. Sexualität Übertriebene Beschäfti- Folgen nach Adornos De- gung mit sexuellen Vor- finitionen, die aufgrund be- gängen. stimmter Syndrome den pot

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