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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Mr. Marilyn und Mr. Manson Wandeln in einer Albtraumwelt

Autor: Wolf Eismann Redaktion: Ellinor Krogmann

Sendung: 13.12.10 um 19.20 Uhr in SWR2

Wiederholung: 04.09.12 um 19.20 Uhr in SWR2

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Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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MANUSKRIPT

Musik: : The Hands Of Small Children

Atmo Stimme aus dem Radio: Prof. Hans-Peter Rodenberg: Ich glaube, die Lust an Horrorgeschichten rührt daher, dass wir scheinbar in einer sehr geordneten Welt leben, in der die Dinge scheinbar alle so sind, wie sie uns erscheinen, tatsächlich aber sich dahinter ein Chaos verbirgt, um das wir wissen. Wir alle wissen…

Brian: Es wiegelt rastlos Satan neben mir, verschwimmt wie Luft ungreifbar eingedrungen. Ich atme ihn und spüre Sündengier, die nie verraucht, vom Brand in meinen Lungen. Weil meine Sucht nach Kunst er kennt…!

Musik: Marilyn Manson: Shitty Chicken Gang Bang

Stimme aus dem Radio wieder im Vordergrund: Prof. Hans-Peter Rodenberg: Jeder von uns kennt eigentlich das Erlebnis als Kind, dass wir in irgendwas Dunkles gehen müssen... bei den Großeltern auf den Dachboden... – Wir finden den Lichtschalter nicht, und die berühmte Sache ist die, dass man dann singt oder klopfenden Herzens darunter geht. Das klopfende Herz... Das verlässt uns ja eigentlich nie…

Brian: Gut und böse, schön und hässlich, männlich und weiblich. Marilyn und Manson. Das will ich darstellen. Es ist ein Statement über die amerikanische Kultur. Es ist ein Statement über die Macht, die wir Menschen verleihen, weil wir sie zu Ikonen machen. Es geht um das Paradoxe. Es geht um zwei entgegengesetzte Vorbilder: die Göttin der Liebe und den Gott des Hasses.

Atmo: Eine Eisentür schlägt zu. Stille. Schritte in einer Wohnhalle; irgendwo im Raum ein tropfender Wasserhahn. Die Atmosphäre ist angespannt.

Brian: Hier ist es also passiert…!

Manson: Fünf Menschen. Bestialisch abgeschlachtet. Unter ihnen Sharon Tate. Im achten Monat schwanger. 17 mal haben sie auf sie eingestochen. Um ihren Hals war ein Lampenkabel geschnürt, ihre Klamotten: von Blut durchtränkt. Mit dem Blut haben sie das Wort „Schwein“ draußen an die Haustür geschrieben. Sharon Tate hatte noch um das Leben ihres ungeborenen Kindes gefleht: (imitiert eine Frauenstimme) „O Gott! Nein, bitte nicht! O Gott, nein, tut es nicht, nein…!“

Brian: Nun, es wird hier nicht spuken, oder? Ich meine, es gibt keine rasselnden Ketten oder sowas. Andererseits wird es unserem ersten Album eine gewisse Finsternis

2 verleihen, wenn wir es hier in diesen Räumen aufnehmen. - Wer weiß? Vielleicht hört Sharon uns sogar zu…?

Manson: Der Blick von der Eingangstür bietet die beste Aussicht über L.A., die ich je gesehen habe.

Brian: (ruft in den Raum) Sharon…? - Hörst du uns…?

Musik: Marilyn Manson: Wrapped in Plastic Guilt is a snake we beat with a rake / To grow in our kitchen in the pies we bake / Feed it to us to squirm in our bellies / Twisting our guts make our spines to jelly / Stay, don't want to go now…

Atmo: Ein anderer Raum zu einer anderen Zeit; Straßenlärm dringt durchs Fenster herein. Die Atmosphäre ist entspannt.

Brian: Wissen Sie, warum der Rock’n’Roll so verdammt harmlos und langweilig geworden ist?

Marilyn: Nein. Sagen Sie es mir.

Brian: Für die meisten Menschen ist Musik nichts weiter als ein Produkt. Für mich aber ist Musik eine Form von Kunst. Ich möchte den Rock’n’Roll packen und…! - Die Leute müssen wachgerüttelt werden aus dem Koma, in das das Christentum und die Medien sie versetzt haben.

Marilyn: Und Sie sind der Auserwählte?

Brian: Warum nicht?

Marilyn: Narzissmus ist nicht selten ein eindeutiges Merkmal für eine Persönlichkeitsstörung. Ist Ihnen das bewusst?

Brian: Persönlichkeitsstörung? --- Sind wir nicht alle ein bisschen gestört?

Marilyn: Erzählen Sie mir von ihrer Kindheit!

Brian: Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war ständig im Krankenhaus. Wissen Sie, die Ärzte haben mich immer mit diesen Flüssigkeiten abgefüllt, die man dann später auf

3 den Röntgenbildern sehen kann. Immer und immer wieder haben sie mich mit diesen Flüssigkeiten abgefüllt. Vorne und hinten haben sie sie mir reingedrückt; Flüssigkeiten in den seltsamsten Farben… - Ich denke, meine Mutter hatte das erweiterte Münchhausen-Syndrom…

Marilyn: Wie meinen Sie das?

Brian: Ich denke, Sie sind hier die Spezialistin. --- Na ja, so nennt man das doch, wenn die Leute einem immer einreden wollen, dass man krank ist, oder? Damit sie einen länger bei sich behalten können. Meine Mutter hat mir erzählt, ich hätte eine Eierallergie, und ich sei allergisch gegen Weichspüler. All so’n Zeug. - Ich wollte immer so werden wie die Gestalten, die mir als Kind Angst gemacht haben…

Atmo Kindergeschrei

Musik: Marilyn Monroe: Kiss Kiss, kiss me / say you miss, miss me / kiss me love, with heavenly affection / hold, hold me close to you / hold me, see me through / with all your heart's protection / thrill, thrill me / with your charms / take me, in your arms / and make my life perfection

Atmo: Elektronische Störgeräusche, dann Stille. Wieder in der Wohnhalle; irgendwo im Raum der tropfende Wasserhahn. Die Atmosphäre ist angespannt.

Manson: Ich denke, es war schon immer der einfachste Weg, jemanden zum Töten zu bewegen, indem man ihn davon überzeugt, dass er nicht dazu gehört. Die anderen sind die anderen, und wir sind wir, und dass die anderen ganz anders sind als wir. - Es gab immer schon dieses Verhaltensmuster: Sie gegen uns.

Brian: (liest) Dort scheint was Seltsames zu sein, / Ein Etwas, weiß wie Watte. / Es steht bei mir im Dämmerschein - / Ich hielt es für ´nen Besenschrein, / Den man vergessen hatte…

Manson: Was ist das?

Brian: Phantasmagorie. Von Lewis Carroll.

Manson: (lacht)

Brian: Ich will einen Film über ihn machen. Es geht um Desillusionierung. Der Protagonist wächst heran und denkt, dass er seine Träume verwirklichen kann. Irgendwann aber erkennt er, dass er ganz anders geworden ist, als er wollte.

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Manson: Es gibt viele Mittel, Menschen ihrer Umwelt zu entfremden, und dazu sind weiß Gott nicht immer Rauschmittel erforderlich.

Brian: Wusstest du, dass er als Diakon gearbeitet hatte? Eigentlich hieß er Charles Dodgson. Er war ein sehr scheuer Mensch. In Gegenwart Erwachsener soll er immer fürchterlich gestottert haben. Deshalb hat er seine Zeit lieber mit der kleinen Alice und ihren Schwestern verbracht. Er hat ihnen etwas von einem Wunderland erzählt, in dem alle Gesetze von Logik und Physik außer Kraft gesetzt sind. – Er hat auch viel fotografiert; am liebsten kleine, nackte Mädchen. – Nun, auch dort, wo alles bunt und lustig und unschuldig erscheint, gibt es eine andere, dunkle Seite. Aber viele Leute wollen das einfach nicht wahrhaben.

Musik: Marilyn Manson: Sweet Dreams (Are Made Of This) Sweet dreams are made of these / Who am I to disagree? / Travel the world and the seven seas / Everybody's looking for something / Some of them want to use you / Some of them want to get used by you / Some of them want to abuse you / Some of them want to be abused…

Stimme aus dem Radio: Prof. Wolfgang Berner: Wenn sie über die Sexualität als erwachsen genommen werden, ist das zunächst für sie ein sehr verführerischer Reiz, der sie dann eben dazu bringt, bei etwas mitzuspielen, wozu sie sich sexuell-körperlich noch nicht reif und in der Lage fühlen. Das Problem ist, dass sie so eine Grundhaltung erleben: Damit kann ich mir etwas kaufen. Was - übertrieben gesagt - eine Prostituierten - Mentalität schafft. Die Entfremdung seiner eigentlichen zärtlichen Bedürfnisse.

Atmo: Der andere Raum zu einer anderen Zeit; Straßenlärm dringt durchs Fenster herein. Die Atmosphäre ist entspannt.

Marilyn: Wann hatten Sie Ihre erste Begegnung mit der Sexualität?

Brian: Als ich ein Pin-up-Foto von Ihnen in einer Illustrierten gesehen habe.

Marilyn: Konzentrieren Sie sich. 50 Minuten sind schnell vorbei.

Brian: Ich kann es kaum erwarten.

Marilyn: Wann hatten Sie Ihre erste Begegnung mit der Sexualität?

Brian: Interessiert Sie das persönlich? --- Okay, okay. Im Haus meines Großvaters. Er hat nur etwa 20 Minuten zu Fuß von uns entfernt gewohnt, und als kleiner Junge habe ich ihn oft zusammen mit meinem Cousin besucht. Das Haus war ein dunkler Ort… - voller alter Kondome, grotesker Erotika und abscheulicher Sexspielzeuge. Lauter 5

Dinge, die man nicht unbedingt im Haus seines Großvaters erwartet, Sie verstehen? Er hatte Kehlkopfkrebs, und seine knurrige Stimme kam durch eine Röhre in seinem Hals. In seinem früheren Leben ist er Truckfahrer gewesen, und es gibt diese Geschichte über ihn, wie er einen Unfall hatte. Als man ihn ins Krankenhaus eingeliefert hatte, stellte man fest, dass er Damenunterwäsche unter seinen Klamotten trug. – Etwas, was einen Erwachsenen schockiert, muss nicht zwangsläufig auch ein Kind schockieren, oder?

Marilyn: Und Ihr erstes eigenes sexuelles Erlebnis…?

Brian: Mein Vater hat mir immer gesagt, dass er eine Prostituierte für mich bezahlen würde, die mir an meinem 16. Geburtstag meine Unschuld nimmt. Ich hatte wirklich Angst davor...!

Marilyn: Angst?

Brian: Haben Sie schon mal von Agent Orange gehört? Ein hochgiftiges Entlaubungsmittel. 80 Millionen Liter davon hat die US-Armee im vietnamesischen Dschungel versprüht. Um ihn zu entlauben, damit man die Verstecke der Vietcong besser ausmachen konnte, wie es hieß. Viel zu spät hatte man begriffen, dass das Zeug Krebs und Geburtsschäden verursachte. - Mein Vater war Hubschrauberpilot im Vietnamkrieg, und ich war in meiner Jugend von einer Menge verkrüppelter und entstellter Menschen umgeben.

Musik: Marilyn Manson: Babble babble bitch bitch / Rebel rebel party party / Sex sex sex and don't forget the "violence" / Blah blah blah got your lovey-dovey sad-and-lonely / Stick your STUPID SLOGAN in: / Everybody sing along. / Babble babble bitch bitch / Rebel rebel party party / Sex sex sex and don't forget the "violence"…

Atmo: Eine Eisentür schlägt zu, dann Stille. Wieder in der Wohnhalle; irgendwo im Raum der tropfende Wasserhahn. Die Atmosphäre ist angespannt.

Brian: Was sind die sieben Todsünden? Wollust, Völlerei, Geiz, Trägheit… Das sind doch alles Dinge, die jeder von uns wenigstens einmal am Tag in sich spürt. - Es hört sich irgendwie albern an. So ein bisschen nach Hippie-Mentalität. Aber ich weiß nicht, warum man nicht im Einklang mit der Natur existieren kann. Warum man sich selbst nicht so akzeptieren kann, wie man ist. Wieso muss man sich ständig schuldig fühlen? Das Konzept der Sünde ist meiner Meinung nach eine traurige Idee. Es lässt so viele Menschen jahrelang leiden. Tiere kennen diese Idee der Sünde nicht. Tiere bitten nicht um Vergebung.

Manson: Beeindruckende Narben. Sehr sexy.

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Brian: Was? – Ja. - Auf der Bühne vergesse ich mich total. Manchmal kann ich mich hinterher echt nicht mehr daran erinnern, was ich gemacht habe. Aber es gibt Abende, an denen ich mich noch animalischer fühle als sonst. Deshalb spielt in meinen Shows Blut so eine große Rolle. Da zerschlage ich auch schon mal eine Flasche und ziehe mir die Scherben über die Brust. Wenn die Leute dann erbost sind, ist das okay. Sie sollen nur nicht behaupten, ich würde Kinder foltern. Dann werde ich stinksauer. Das geht eindeutig zu weit. Okay, ich bin nicht Neil Diamond, aber ich tue längst nicht alles, was die Leute behaupten.

Manson: Mitleid ist Königen ein Laster. Tu, was du willst. Das ist unser Gesetz und die Freude der Welt, sagt Alister Crowley, der Begründer des modernen Satanismus. Der Welt Sünde ist die Zurückhaltung. Es geht um die absolute Selbstverwirklichung. Schon Baudelaire hat sich damit beschäftigt. Es existiert ein Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Symbolik des Bösen. In seiner „Litanei des Satans“ erscheint der Teufel selbst als letzte Zuflucht der Unterprivilegierten. Luzifer wird zur Metapher für den sozialen Aufstand, der Rebellion gegen die Ordnung. Er wird zum Freund und Helfer der Unterdrückten und Verstoßenen, ihrer Gegenkultur und ihrer Rebellion gegen alle Werte, die ihren Eltern heilig waren.

Brian: Wie ist es möglich, jenen Grad der Gefühllosigkeit zu erreichen, der in uns die Hemmschwelle gegen das Töten ausschaltet?

Musik: Marilyn Manson: If I Was Your Vampire So soft and so tragic / As a slaughterhouse. / You press the knife / Against your heart. / And say that, / "I love you, so much you must kill me now." / I love you / So much / You must kill me now. / If I was your vampire, / Certain as the moon, / Instead of killing time, / We'll have each other / Until the sun. / If I was your vampire, / Death waits for no one.

Stimme aus dem Radio Wolfgang Sofsky: Viele Gewalttätigkeiten haben mit Aggressionstrieb und so weiter gar nichts zu tun, sondern sie entspringen der menschlichen Freiheit. Und das ist das spezifisch Menschliche. Das zeigt sich auch in seiner Art der Gewalttätigkeit. Das Tier schlägt seine Beute und frisst seine Beute mehr oder weniger immer auf dieselbe Weise. Der Mensch erfindet im Lauf seiner Geschichte immer wieder neue Grausamkeiten...

Brian: Die Figur Satans ist realistischer als die Gottes. Perfekt zu sein wie Gott, ist unmöglich. Gleichgültig, wie religiös man ist, man wird immer einmal irgendwann Hass verspüren oder Lust oder Gier. Keiner kann mir erzählen, dass ein Priester nie einen Ständer hat. Kommt er deswegen in die Hölle?

Stimme aus dem Radio: Wolfgang Sofsky: Dass eine Zivilisation existieren würde, ist ja ein Mythos, den die Gesellschaft immer von sich selber konstruiert. In den zivilisierten Gesellschaften, sind die ärgsten Untaten auf organisierte, auf bürokratisierte Weise begangen worden. Auf hoch technisierte Weise. Die Zivilisation, wenn man den Begriff 7 verwendet, stellt vielmehr neue Technologien bereit für die Gewalt. Sie stellt neue Formen von Organisiertheit, von Zusammenarbeit bereit, um Gewalt effektiver ausüben zu können. Insofern ist es eher umgekehrt. Die Zivilisation ermöglicht eine Steigerung von Gewalt. Sie hemmt sie nicht.

Atmo: Der andere Raum zu einer anderen Zeit; Straßenlärm dringt durchs Fenster herein. Die Atmosphäre ist entspannt.

Brian: Wir sind auf einem Friedhof in New Orleans mal über ein paar Menschenknochen gestolpert. Die Friedhöfe in den ärmsten Gegenden von New Orleans sind in einem ziemlich schlechten Zustand. Wir hatten dann beschlossen, die Knochen zu behalten. Wir haben sie mit uns herumgetragen und überall den Leuten erzählt, dass es die Überreste von unserem Schlagzeuger wären.

Marilyn: Lustig.

Brian: Ich denke, ich bin zum Synonym für alles Schockierende und Anormale geworden.

Marilyn: Ja, wirklich lustig.

Brian: Ich bin der Auserwählte, oder? Sagten Sie nicht so? --- Früher war ich ein Süßigkeitendealer. In unserer Schule waren Süßigkeiten nämlich verboten, aber ich liebte Süßigkeiten. Wir alle liebten Süßigkeiten, und vieles war ja nicht einfach nur Süßkram, sondern rief irgendwelche chemischen Reaktionen hervor. Es zischte im Mund oder färbte einem die Zähne schwarz. Ich meine, sehen Sie nicht auch durchaus einen Zusammenhang zwischen Lollipops und Injektionsspritzen? Viele von euren Pillen, die ihr uns so verabreicht, sind dermaßen bunt und aufregend, dass man sie durchaus mit Süßigkeiten verwechseln könnte.

Marilyn: Stets unangeschnallt mit durchgeschnittenen Bremsleitungen auf der Überholspur. Sie lieben diesen Kick, oder?

Brian: Sie nicht?

Marilyn: Erinnern Sie sich an Ihren ersten Auftritt?

Brian: Das war ein Theaterstück in der Schule. Ich war sechs oder sieben Jahre alt, und ich spielte Jesus. Man hatte mir ein Handtuch um die nackten Hüften gewickelt. Ein paar von den großen Jungs rissen mir dann während der Vorstellung einmal das Handtuch weg, und alle starrten mich an…

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Musik aus der Ferne: Marilyn Monroe: Kiss Kiss, kiss me / say you miss, miss me / kiss me love, with heavenly affection / hold, hold me close to you / hold me, see me through / with all your heart's protection / thrill, thrill me / with your charms / take me, in your arms / and make my life perfection

Atmo: Elektronische Störgeräusche

Atmo: Wieder in der Wohnhalle; irgendwo im Raum der tropfende Wasserhahn. Die Atmosphäre ist angespannt.

Manson: Seit 48 Jahren liegt Marilyn Monroe in ihrem grünen Emilio-Pucci-Kleid, eingemauert hinter 60 Zentimetern Beton, auf dem Westwood-Memorial-Friedhof in Los Angeles. Doch sie ist präsent wie eh und je: auf Plakaten und Postkarten, auf Krawatten, Tassen und Aschenbechern…

Brain: Als ich klein war, war Marilyn Monroe für mich die absolut perfekte Frau. - Sie erinnert mich an einen Kolibri.

Manson: An einen Kolibri?

Brian: Er ist der kleinste Vogel, den wir kennen. Mit seinen winzigen Flügeln bewegt er sich vor- und rückwärts. Er ist der einzige Vogel, der auch rückwärts fliegen kann. Und er muss ununterbrochen Nahrung aufnehmen, sonst würde er sterben. Die Menschen sehen den kleinen Vogel schwirren und sagen: wie niedlich, wie süß. Dabei versucht der Kolibri nur verzweifelt zu überleben.

Musik: Marilyn Manson: Thaeter

Borwin Bandelow: Die zentrale These ist, dass man nicht durch die Berühmtheit die seelische Störung bekommt, sondern dass zuerst eine Persönlichkeitsstörung besteht und in der Folge man berühmt wird. Und das liegt meines Erachtens daran, dass Narzissmus ein ganz wichtiges Merkmal einer Persönlichkeitsstörung ist. Für einen Narzissten ist Anerkennung durch andere Menschen das Lebenselixier, und deswegen nehmen diese Menschen alles in Kauf, um berühmt zu werden. Was ihnen dann wegen ihrer starken Energie, die sie darin entwickeln, auch oft gelingt. Alle diese Grenzüberschreitungen, die eben Stars machen, das findet unser Gehirn im Unbewussten gut. Der Rockstar lebt für uns stellvertretend unsere geheimen Wünsche aus.

Prof. Hans-Peter Rodenberg: Es ist eine Art Spaziergang in das Schaurige, wo man sich anguckt, was ist es eigentlich, was bedeutet es eigentlich? Wie kann ich damit umgehen?

Prof. Wolfgang Berner: Auf der anderen Seite ist es eben so, dass dieser Glaube an das Vernünftige und an das Materielle sehr oft etwas abdeckt, was auch ein tiefes menschliches Bedürfnis ist, nämlich sich mit einer geistigen Welt auseinander zu setzen… 9

Wolfgang Sofsky: Und dadurch lernt er von sich selber, dass er zu allem in der Lage ist. Das ist eine unglaubliche Erfahrung, dass man alles kann und alles darf. Wann können Menschen in ihrem Leben eine solche Erfahrung machen? Dann, wenn sie ihre Phantasie ausleben dürfen…

Alle reden durcheinander, die Musik übertönt schließlich alles.

Brian: (flüstert in sich hinein) „Hab ich“, so fragt ich mich, „geträumt? / Hab ich zuviel getrunken?“ / Doch Wehmut griff mich ungesäumt, / Und ich war nicht mehr aufgeräumt, / War Tränenreich versunken.

Musik

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