HISTORISCHE KOMMISSION FÜR NIEDERSACHSEN UND ARBEITSKREIS GESCHICHTE DER JUDEN Sprecher: Dr. Werner Meiners, Oldenburg; Stellvertretende Sprecherin: Dr. Marlis Buchholz, Hannover; Schriftführer: Dr. Jürgen Bohmbach, , Mozartstraße 54a, 21682 Stade; E-Mail: [email protected]

Rundbrief Nr. 27 (August 2013)

Sprecher-Neuwahlen und Perspektive des Über Anregungen und Hinweise von Ihnen Arbeitskreises würde sich das Sprecherteam freuen. Alles weitere am 18. September in Hannover. Werner Meiners Liebe Mitglieder des Arbeitskreises Geschichte der Juden!

Wieder einmal stehen im September Tagung des Arbeitskreises in Bremen Sprecher-Neuwahlen an. Nach neunjähriger am 13. März 2013 Tätigkeit werden Frau Buchholz und ich nicht wieder kandidieren; Herr Bohmbach ist bereit, Der Vorsitzende begrüßt die Anwesenden erneut für das Schriftführer-Amt zu und dankt für die Möglichkeit, die Tagung kandidieren. erstmals auch im Staatsarchiv Bremen durch- Nun stehen wir vor der Aufgabe, Nachfolger führen zu können. zu finden, die zum einen der Historischen Herr Dr. Elmshäuser stellt den Tagungsort Kommission angehören müssen und zum an- und seinen Bezug zum Thema vor. Bremen hat deren noch nicht die Altersgrenze von 65 Jah- erstaunlich geringe Bedeutung für die jüdische ren überschritten haben. Die Altersgrenze gilt Geschichte. im HIKO-Ausschuss, in dem der Arbeitskreis- Sprecher vertreten ist. Themenplanung, Projekte und Was die Perspektive des Arbeitskreises an- Informationen geht, so erscheint mir offensichtlich, dass ein Arbeitsschwerpunkt in der Ausweitung der Herr Meiners verweist auf das Projekt „Reise Zusammenarbeit mit anderen Institutionen ins jüdische Ostfriesland“, an dem sich anläss- und Gremien (wie bereits mit der Stiftung lich der 75. Wiederkehr der Pogromnacht eine niedersächsische Gedenkstätten praktiziert) große Zahl von Einrichtungen beteiligen. liegen muss, und dies über die Landesgrenzen Herr Banse legt eine Broschüre zu „Stolper- hinaus (wie schon in Ansätzen mit Fachkolle- steinen in Uelzen“ aus. gen in Westfalen und ). Innerhalb der Der dritte Teil der Tagung „Juden in Nieder- HIKO sollte die inhaltliche Kooperation mit sachsen“ wird wohl erst in 2014 stattfinden. den anderen Arbeitskreisen vertieft werden. Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Um diese Ziele erreichen zu können, benö- plant eine umfassende Veröffentlichung. tigt der AK ein engagiertes Leitungsteam, das Im September 2013 muss das Sprecher- sich dieser Aufgabe stellt. Ein Hauptproblem gremium neu gewählt werden; Frau Buchholz ist in diesem Zusammenhang, dass dem AK die und Herr Meiners werden nicht kandidieren. personelle Verankerung an den Hochschulen Der Stamm der kontinuierlichen Mitarbeiter verlorengegangen ist und auch nicht zu sehen des Arbeitskreises wird geringer. ist, wie sich dies kurzfristig ändern lässt. Herr Dörfler regt an, sich mit den Themen Wir finden zwar immer wieder Referenten Zionismus und Antisemitismus in Niedersach- unter jüngeren Wissenschaftlern. Diese haben sen zu beschäftigen. aber einen relativ engen thematischen Schwerpunkt und sind kaum zu einer per- manenten Mitarbeit zu bewegen.

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Einführung in das Schwerpunktthema: missverstanden, vom Senat aber als bis 1820 Jüdisches Leben im Weserraum vom 16. begrenzte Zwischenlösung gemeint wurde. Jahrhundert bis Anfang des 19. Jahrhunderts Schon im Jahre 1819 beauftragte der Senat eine Kommission aus den eigenen Reihen mit Herr Meiners umreißt zu Beginn die Frage der Vorbereitung der endgültigen Ausweisung, nach Gemeinsamkeiten und das Problem einer musste aber erneut die kritischen Fragen der Grenzziehung zu anderen Räumen. übrigen Bundesstaaten, besonders der Nach- In den Jahren 1550 und 1564 gibt es erste barn Hannover und Oldenburg berücksichti- Ansiedlungsversuche in Bremen. Wohl beson- gen, die besorgt waren, die aus Bremen aus- ders wegen der Unterstützung der Erzbischöfe gewiesenen Juden könnten sich in ihren Staa- wurden die Juden jedoch von der Stadt abge- ten niederlassen und fragten, wo die bremi- wiesen, stand die Stadt doch seit langem in schen Juden denn schließlich bleiben sollten. einem Souveränitätskonflikt mit den Erzbi- Eine Frage, die dem Senat gar nicht gekom- schöfen, die zu dieser Zeit immer noch, wenn men war, da er etwas naiv davon ausgegangen auch mit wenig Erfolg, die Landesherrschaft war, diese würden einfach an ihre früheren über die Stadt reklamierten. Wohnorte zurückkehren können. Aus Furcht vor einem diplomatischen Eklat Vortrag 1 im Bundestag schlug der Senat anstelle der Andreas Lennert: rigiden Ausweisung einen flexibleren Weg ein, Die Judenpolitik des Bremer Senats unter ohne sein grundsätzliches Ziel aus den Augen Johann Smidt und ihr Nachhall in Bremen bis zu verlieren: Den christlichen Hausbesitzern in die Gegenwart wurden Mietverträge mit jüdischen Familien

Nachdem Bremen über Jahrhunderte die untersagt, Juden sollten mit der Androhung, Ansiedlung von Juden verhindert hatte, muss- anderenfalls ihre Warenlager und Kontore zu te die Stadt sich im Jahre 1803 verpflichten, schließen, zur Lösung einer Fremdenkarte anlässlich der Übernahme bis dahin hannover- verpflichtet werden und die „Polizey“ wurde scher Dörfer auch einige hannoversche beauftragt, mit den jüdischen Familien jeweils Schutzjuden mit ihren Familien zu überneh- individuelle Ausreisetermine zu vereinbaren. men, erlaubte ihnen aber keine Ansiedlung in Schließlich wurden die seit 1803 „bremischen“ der Stadt selber. Erst in der Zeit der französi- Juden zur Rückkehr in ihre Dörfer aufgefor- schen Okkupation ließen sich bis 1813 ca. 30 dert. jüdische Familien bzw. einzelne Juden in der Schon ein halbes Jahr später, 1821, musste Stadt selbst nieder. sich der Senat das Scheitern seiner Anstren- Sobald die Stadt ihre alte Freiheit wieder- gungen eingestehen: Die Hausbesitzer, unter gewonnen hatte, war die Rückführung dieser ihnen ein Mitglied des Senats, weigerten sich, Juden in das bremische Landgebiet und die ihre jüdischen Mieter auf die Straße zu setzen, Ausweisung der nichtbremischen Juden un- einige forderten vom Senat Mietausfallent- umstrittenes Ziel des Senates. Über mehrere schädigung. Jahrzehnte beschäftigte ihn der Wunsch, Bre- Die Juden missachteten die Auflage der men wieder zu einer judenfreien Stadt zu ma- Fremdenkarte, und der Senat musste zuge- chen. ben, dass sie auch mit der Verpflichtung zur Anfangs hinderten ihn die noch offenen Fremdenkarte so wenig aus der Stadt wären Verhandlungen über die Bundesakte und die wie ohne. Eine Bereitschaft der Herkunftsorte Stellung der Juden im zu gründenden Deut- zur Wiederaufnahme der Juden war ebenfalls schen Bund und entschiedene Interventionen nicht zu erreichen. der drei Großmächte Österreich, Preußen und Die angedrohte Beschlagnahme der Waren- Russland zugunsten der bremischen Juden an lager blieb so lange wirkungslos, wie sich einer radikalen Ausweisung. Im Jahre 1814 christliche Kaufleute als Vertreter und Ge- gewährte man den jüdischen Familien ein auf schäftsführer für jüdische Kollegen fanden. So sechs Jahre befristetes Bleiberecht, das von musste sich der Senat auf eine Politik der ju- den Juden als Beginn eines jeweils der Verlän- denfeindlichen Nadelstiche verlegen: Dienst- gerung bedürftigen dauernden Aufenthalts boten, alleinstehende Kaufmannsgehilfen und Arbeiter, z. B. in den Zigarrenmanufakturen 3

wurden polizeilich ausgewiesen, die wohlha- Bürgermeister den Kontrollverlust über eine benden Kaufleute, denen das Leben schwer Bevölkerungsgruppe mit eigener Gemein- gemacht wurde, verließen nach und nach die destruktur und autonomen Sozialeinrichtun- ungastliche Stadt. gen. Übrig blieben die Vermögens- und Einkom- Lange Zeit hat die Judenaustreibung im menslosen, die nirgendwo anders einen Woh- Bremer Gedenken an Johann Smidt keine Rol- nort fanden. Die Macht des Senats scheiterte le gespielt. Mit Recht galt er als der bedeu- gerade an den Ärmsten. Die notwendige Rück- tendste bremische Staatsmann des 19. Jahr- sicht auf die übrigen Bundesstaaten hinderte hunderts und wurde als solcher gefeiert. den Senat daran, sie einfach über die Grenze Erst 1921 erschien die erste umfassende Be- zu schicken. In Einzelfällen scheute der Senat schreibung der Judenpolitik des Bremer Se- aber auch keine Kosten. So finanzierte er z. B. nats und Smidts unter dem Titel „Bürgermei- noch 1841 einer minderbemittelten Familie ster Smidt und die Juden“ von Richard Rüth- die Überfahrt nach Nordamerika einschließlich nick. Allerdings handelte es sich um die Schrift eines „Eingliederungsgeldes“ – gegen die eid- eines antisemitischen Lokalpolitikers, der dem liche Zusage, nie wieder nach Deutschland Ruhme Smidts ein weiteres Blatt hinzufügen zurückzukehren. wollte. Dementsprechend erschien eine zwei- Als Motor und Repräsentant dieser juden- te Auflage im Jahre 1934. feindlichen Politik gilt gemeinhin Johann Selbst nach dem 2. Weltkrieg fand die bre- Smidt. Die Akten zeichnen aber das Bild eines mische Judenvertreibung keine weitere Er- sich in dieser Frage weitgehend einigen Se- wähnung, auch nicht anlässlich des Staatsak- nats. Smidt ist derjenige, der diese Politik als tes zu seinem 100. Todestag im Jahre 1957. Vertreter Bremens sowohl auf dem Wiener Erst anlässlich des 200. Geburtstages von Kongress als auch im Deutschen Bundestag Smidt im Jahre 1973 kam es zur öffentlichen vertreten muss. Nicht zuletzt deshalb liegen Auseinandersetzung und zum Eklat. Herbert umfangreiche schriftliche Berichte dazu aus Weichmann, der ehemalige hochangesehene seiner Hand vor. Bürgermeister Hamburgs, lehnte die Bitte des Fragt man nach seinen Motiven, bleibt auch Senats, die Festrede auf Smidt zu halten, mit heute noch manches unklar. Sein Denken der Begründung ab, auch Smidt würde es scheint weder von zeitgenössischen reaktionä- nicht gewollt haben, dass er als Jude diesen ren christlich-deutschtümelnden Vorstellun- würdige. gen bestimmt, noch treiben ihn wirtschaftli- Im gleichen Jahr war die umfangreiche Un- che Interessen Bremens. Im Gegenteil, seine tersuchung von Werner Biebusch über Smidts Unterstützer waren die wirtschaftlichen Kräfte Wirken in der Revolution von 1848 erschie- der Vergangenheit, die zäh ihre „altherge- nen, in der deutlich wurde, dass Smidt selbst brachten“ Privilegien verteidigenden Ämter, im hohen Alter mit anderen Regierungen des etwa das der Kramer oder Tuch- und Wein- Deutschen Bundes gegen die demokratischen händler. Umwälzungen in Bremen konspiriert hatte. Die schon damals mit ihrem Reichtum her- Dies war das eigentliche Ende der blinden ausragenden ökonomischen Kräfte der Stadt, Verehrung Smidts in Bremen, auch wenn seine international agierende Fernhändler, oder die unbestreitbare Bedeutung für die Stadt nicht damaligen „Fabrikanten“, die auch jüdische geleugnet wurde. Arbeiter beschäftigten, scheinen der Judenpo- Noch einmal flammte 2012 in Bremen die litik des Senats ausgesprochen skeptisch ge- Diskussion über Smidts antijüdische Politik genüberzustehen, intervenieren auch – erfolg- auf, als die Stadt einen Ort suchte, durch des- los – zugunsten einzelner jüdischer Mitarbei- sen Benennung man den mit Radio Bremen ter, ohne dass ihre Interessen vom Senat be- eng verbundenen Loriot ehren könne. Ein rücksichtigt worden wären. Abgeordneter schlug dafür die zentrale Jo- Eher gilt: Zu Smidts idealisiertem Bild einer hann-Smidt-Brücke vor mit der Begründung, vom Senat gelenkten republikanischen Bür- Smidt habe eine solche Ehre sowieso nicht gergemeinschaft passten keine autonomen verdient. Minderheiten, seien es ethnische, religiöse Als Ergebnis einer aufgeregt geführten Dis- oder kulturelle. Er fürchtete als Senator und kussion in den bremischen Medien ist seitdem 4

auf einer Tafel neben der Statue Smidts im vollständigen Überblick über die Handelstätig- Rathaus nach der Würdigung seiner Verdiens- keit der Mündener Fernhändler und über die te zu lesen: von ihnen verhandelten Güter. „Die Schattenseiten seines Handelns wurden Fernhandel betrieben auch die beiden Juden dabei lange übersehen. So vor allem seine Moses Ilten und sein Sohn Heine Ilten. Güter Politik gegen die bürgerliche Gleichberechti- transportierten für sie Mündener und Vlother gung und Niederlassungsfreiheit von Juden in Schiffer zu etwa gleichen Anteilen sowie eini- Bremen und gegen die erste demokratische ge Bremer. Verfassung Bremens von 1848.“ Insgesamt sind in den untersuchten vier Jah- ren 385 Schiffsbewegungen oder durchschnitt- Aussprache lich 96 jährlich zu verzeichnen, deren Ladung Herr Dörfler fragt, ob Listen erhalten sind, auch Güter der beiden Mündener Juden um- woher die Juden kamen. Herr Lennert antwor- fasste. tet, dass die Juden meist aus dem Weserraum Zur Abfertigung oder zum Empfang von Gü- und dem Küstengebiet kamen. tern sowie als Waagegäste war Moses Ilten Eingehend wird über die Rolle und die Be- alle drei bis vier Tage auf der Schlagd anwe- wertung Smids diskutiert. Gegenüber anderen send, sein Sohn Heine Ilten bei geringerem Mächten argumentierte Smid konzilianter, Geschäftsvolumen im Durchschnitt wöchent- sein Zorn richtete sich vor allem gegen Roth- lich ein Mal. schild. Die verhandelten Güter waren stromabwärts Herr Meiners weist darauf hin, dass es Bre- hauptsächlich Getreide und andere landwirt- men schon im 16. Jahrhundert vor allem um schaftliche Produkte, Tabak und Eisen, das die Aufrechterhaltung der Souveränität ging. vermutlich von der landgräflich hessischen Die restriktive Haltung des Senats änderte sich Hütte im benachbarten Veckerhagen stamm- erst mit der Reichsgründung. te. Stromaufwärts erhielten sie größtenteils Herr Brinkhus hält einen Vergleich mit ande- Fisch sowie Käse, Olivenöl, Teer, Leder und ren Städten wie Lübeck und Hamburg für inte- Häute. Der Mittelpunkt ihres Erwerbslebens ressant. war für Moses und Heine Ilten die Schlagd. Sie handelten in gleichem Maße und mit den glei- chen Gütern wie die christlichen Mündener Vortrag 2 Fernhändler. Johann Dietrich von Pezold: Moses und Heine Ilten –zwei jüdische Mün- Aussprache dener Fernhändler in den 1660er Jahren. Herr Meiners hebt hervor, dass es sich um Zusammenfassung. bisher unbekannte Ergebnisse handele. Herr v. Pezold hält fest, dass der Weserraum Seit ihrer Gründung im ausgehenden 12. keine Einheit sei. Juden tauchten entlang der Jahrhundert im Mündungsdreieck an der Ver- Weser früher auf als im Binnenland. einigung von Werra und Fulda zur Weser wa- ren Fernhandel und Flussschifffahrt die be- herrschenden Erwerbszweige der Stadt Mün- Vortrag 3 den (erst seit dem 1.1.1991 „Hann. Münden“ Bernhard Gelderblom: !). Der Hamelner Kaufmann Hertz Joseph Det- In den 1570er Jahren wurden die bis dahin mold und seine Kinder. Ein Blick in seine weit seichten Uferlandeplätze an Werra und Fulda reichenden geschäftlichen Beziehungen an- durch Schlagden befestigt. Für deren bauliche hand eines Bündels von Briefen aus der zwei- Unterhaltung genehmigte Herzog Erich II. die ten Hälfte des 18. Jahrhunderts Erhebung eines Schlagdgeldes. Es musste nur Hertz Joseph wurde um 1726 in Detmold für die Güter fremder Kaufleute entrichtet geboren.1 Sein Vater Joseph Isaac (gest. 1770) werden. Die für das 17. Jahrhundert nur lückenhaft 1 erhaltenen Schlagdgeld- und Waagegeldregis- Literatur: Gronemann, S. 136; Michael Guenter, ter erlauben für die Jahre 1662-1665 einen Die Juden in Lippe von 1648 bis zur Emanzipation 1858, Detmold 1973, S. 175 5

war amtlich bestallter Hofjude, Kammeragent Hintergrund war, dass Hertz Joseph das Haus und Tabakfabrikant in der lippischen Resi- der jüdischen Gemeinde verkaufen wollte. Die denzstadt Detmold. Hertz Joseph war unge- Petition war mit der Zusicherung verbunden, fähr 26 Jahre alt, als er 1752 nach Hameln ins dass die Hamelner Juden die Kosten dafür auf Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, das Dauer aufbringen würden.5 Der Rat dürfte spätere Königreich Hannover, wechselte. deswegen auf dieser Zusicherung bestanden Spätestens 1767/68, 14 Jahre nach seinem haben, weil sich damals Hertz Josephs Umzug Zuzug, erwarb er das repräsentative Ratten- nach Hannover abzeichnete.6 fängerhaus2 in der Osterstraße, neben dem Vier Jahre später – 1801 – verkaufte Hertz Hochzeitshaus der prächtigste Renaissancebau Isaak sein prächtiges Wohnhaus in der Oster- der Stadt, ein sichtbares Zeichen von Wohl- straße. In Hannover, wo mehrere seiner Kin- stand, Hinweis aber auch auf gesellschaftli- der mit ihren Familien lebten, zog er zu sei- chen Einfluss, über den Hertz Joseph verfügte, nem Sohn Isaak Hertz in die in der Neustadt war damals doch jüdischen Einwohnern Haus- gelegene Lange Straße 52. besitz nur ausnahmsweise gestattet. Dort nannte er sich nun Hertz Joseph Ha- Zusammen mit seiner Gattin Bela Hamm3 meln-Detmold. Er starb am 3. April 1803 und hatte Hertz Josef zehn Kinder. Im Jahre 1776 – wurde auf dem alten jüdischen Friedhof in der im Alter von 50 Jahren – stand Hertz Josef Oberstraße begraben. Sein Grabstein hat sich einem Haushalt von elf Personen vor, darun- erhalten. ter mehrere Bedienstete. In diesem Jahr kaufte er das Fachwerkhaus Als 1899 in Hameln das dem Rattenfänger- Alte Marktstraße 12 und stellte es der Hamel- haus benachbarte Eickhoffsche Haus Oster- ner jüdischen Gemeinde als „der Juden Tem- straße 27 abgerissen wurde, entdeckte man in pel“ zur Verfügung.4 Der Bau diente schon seit der beiden Häusern gemeinsamen Hauswand längerem als Synagoge und Mikwe, war aber ein Bündel von Dokumenten aus dem Besitz nur gemietet. von Hertz Detmold. Zeitweise besaß Hertz Joseph vier Häuser in Der Fund umfasst 13 jüdisch-deutsche Brie- Hameln, darunter ein Nachbargebäude der fe, eine jüdisch-deutsche Quittung, sieben Synagoge, das er gekauft haben mag, um die deutsche Briefe und einen Pass, der den „Hof- Synagoge zu erweitern. Am 31. Mai 1789 ver- juden Hertz Joseph, Sohn des Hofjuden Joseph schied Gattin Bela. 1792 – Hertz Joseph war 66 Isaac, zur Reise von Dettmold nach Hannover, Jahre alt – umfasste der Haushalt des Witwers Dettmold 1746“ berechtigte.7 noch sechs Personen. Achtzig Jahre später – bei Sanierungsarbei- Hamelner Quellen bewahren nur wenige ten im Rattenfängerhaus im Februar 1981 – Nachrichten über die Geschäftstätigkeit von fand sich unter den Dielen das Fragment eines Hertz Joseph auf. 1794 finden wir ihn auf einer handschriftlichen jüdischen Gebetbuches und Liste des Hamelner Krameramtes. Er zählt zu ein weiterer jüdisch-deutscher Brief.8 den Juden, „welche die Jahrmärkte in Hameln Der Erhaltungszustand der Briefe und Do- mit unveracciseten Waaren gewöhnlich zu kumente ist naturgemäß recht schlecht. Es besuchen pflegen“. gibt Feuchtigkeits- und Schimmelspuren. Im Jahr 1797 baten die Hamelner Juden den Manche wirken stark abgenutzt, als seien sie Rat, Synagoge und Mikwe in der Alten Markt- lange mit sich herumgetragen worden. Andere straße 12 auch in Zukunft nutzen zu dürfen. sind mit Zahlenkolonnen versehen und wur- den als Notizzettel verwendet.

2 Es gehörte ihm von 1770-1788, laut dem früheren Hamelner Stadtarchivar Börsch von 1768-1801 3 Bela Hamm ist die Tochter von Moses Hamm, der 5 Offenkundig hat die Stadt dieser Bitte stattgege- seit 1734 aus Hamm kommend in Hameln ansässig ben. Bis 1820 bleibt das Haus im Besitz der Ge- wird. Der Kaufmann Moses Hamm ist Hausbesitzer meinde. und einer der Vorsteher der Gemeinde. Er handelt 6 Laut Kämmereirechnungen hielt er sich bis 1801 u.a. mit Gold, Silber und Spitzen. Später wird er in Hameln auf. Buchhalter des Hauses Oppenheimer in Hannover. 7 Im Museum Hameln 1782 stirbt Moses Hamm in Hameln. 8 Das Exemplar liegt im Museum; vgl. Norbert 4 Feige, Rudolf, Dewezet vom 26. 11. 1963 Humburg in der Dewezet vom 9. 5. 1981. 6

Es sind nur Briefe an Hertz Joseph bzw. in über eine offenbar von Hertz formulierte Be- einem Fall an seinen Vater Joseph Isaak erhal- schwerde aus. ten, nicht jedoch etwa Kopien der Briefe, die Schon lange erhalte er seinen Tee aus genau Hertz Joseph selbst geschrieben hat. Das und der Kiste, die er gekauft habe. Er fährt fort: die Tatsache, dass keinem der Absender mehr „Inzwischen wünsche (ich) Ihnen zu als ein Brief zugeordnet werden kann, macht Dero auszurichtenden (Thee-) Hand- es schwer, den Inhalt der Briefe zu deuten und lung in Hameln viel Glück und Segen, die Namen der Absender zu identifizieren. und wenn Eure Exzellenz gesonnen, Zu den Absendern gehören Familienangehö- die Handlung mit mir fortzusetzen, so rige aus Hannover und Hildesheim, vor allem werde nicht ermangeln, Ihnen jeder aber Geschäftspartner. Sie melden sich aus Zeit so zu begegnen, dass sie völlig Bremen, Detmold, Dohnsen (= Dorf östlich vergnügt sein sollen.“ Bodenwerder), Hameln, Hamm, Hildesheim, Am Schluss des Schreibens findet sich ein Horn, Lemgo, Springe und Stapelage (= Lage Hinweis auf eine gerade eingetroffene, be- im Lippischen). sonders feine Sorte chinesischen schwarzen Die Mehrheit der Absender wohnt im Lippi- Tees, „so vor Congo passiren konnte“. Das schen. Familienangehörige und jüdische Ge- Pfund könne er für 60 Groschen erhalten. Tee schäftspartner korrespondierten mit Hertz war damals ein Luxusartikel. Joseph in Jüdisch-Deutsch, christliche Ge- Das Schreiben eines A. Clüver aus Stapelage schäftspartner in Deutsch. erreichte Hertz im Jahre 1752. Um 100 Nach dem gegenwärtigen Stand der Entziffe- Reichstaler, die ihm die lippische Regierung rung wurde der älteste Brief 1733 geschrie- schulde, zurückzuerhalten, brauche er einen ben, der jüngste 1761. Mehrere Briefe sind Legitimationsschein. Dieser liege beim Hamel- jedoch nicht datiert. Soweit die Briefe zu da- ner Stadtsekretär Katerbach. Hertz Joseph tieren sind, stammen sie überwiegend aus der möge den Schein abholen und ihm zusenden. Zeit vor der Übersiedlung nach Hameln. Außerdem bittet Clüver um Informationen Ein Teil der Briefe weist ein Adressfeld auf, zum Lotteriewesen in Hameln. andere wurden in einem Umschlag versandt, der sich nicht erhalten hat. Das Adressfeld Die jüdisch-deutschen Briefe musste, sollte die Post den Brief befördern, in Insgesamt zehn jüdisch-deutsche Briefe sind deutscher Sprache und Schrift geschrieben überliefert. Mit Ausnahme von drei Briefen sein. Ein Brief muss durch einen jüdischen wurden sie dankenswerterweise im Auftrag Boten transportiert worden sein, weil sein des Museums Hameln für die 2012 neu ge- Adressfeld mit hebräischen Lettern geschrie- schaffene Dauerausstellung übersetzt. Über- ben ist. setzer war der Lektor für Jiddisch an der Uni

Regensburg, Holger Nath.9 Die deutschen Briefe Ein nicht datierter Brief eines Süßkind geht Unter den sieben deutschen Briefen befin- an Hertz Joseph und seine Frau Bela. Der det sich einer, der ohne Datum und Absender Schreiber, offenkundig ein Bediensteter, legt überliefert ist. Der Schreiber offenbart darin darin Rechenschaft über zwei Aufträge ab, die eine akute finanzielle Not. Er erbittet eine Hertz Joseph ihm erteilt hat. Süßkinds Kinder Vorauszahlung von 50 Talern und bietet dafür hätten ungefähr 1000 Zentner Pferdefutter in ein Pfand. Das Geld brauche er noch am Ottenstein gekauft. Dafür sei das ihnen ausge- Abend, spätestens aber am folgenden Tag händigte Geld komplett aufgewendet worden. morgens um 8 Uhr. Jetzt stelle sich die Schwierigkeit ein, das Fut- Dem Schreiben eines Händlers aus Bremen ter außer Landes zu bringen – Ottenstein liegt vom 15. Mai 1752 ist zu entnehmen, dass im Herzogtum Braunschweig. Das hätten die Hertz Joseph, damals noch in Detmold, aber Behörden verboten. schon auf dem Sprung nach Hameln, in Ha- meln eine Tee-Handlung eröffnen wollte. In dem sehr sorgfältig formulierten Brief 9 Snell, Gesa, „Mein lieber Herr Hertz“ – Briefe an drückt der Absender seine Verwunderung einen jüdischen Kaufmann, in Museumsverein Hameln, Jahrbuch 2011/2012, S. 35-54 7

Soll Süßkind nun das Futter wieder verkau- Vortrag 4 fen? Den zweiten Auftrag, den Pferdehandel, Werner Meiners: habe er persönlich abgewickelt; darum müsse Auf der Suche nach einer Existenzgrundlage. Hertz sich nicht sorgen. Am Schluss richtet Juden als „Eindringlinge“ in „abgesteckte“ Süßkind Grüße an Sohn Jakob aus. Da dieser Handelsreviere an der Mittel- und Unterwe- 1767 starb, muss der Brief früher geschrieben ser um 1800 sein. Es gibt noch einen weiteren Anhalt zur Datierung. Die erheblichen Mengen an Pferde- Im Mittel- und Unterweserraum war die jüdi- futter, mit denen Hertz Joseph handelt, sind sche Ansiedlung gegen Ende des 18. Jahrhun- nur auf dem Hintergrund des Siebenjährigen derts so weit fortgeschritten, dass Teile der Krieges, also zwischen 1756 und 1763, denk- Region nicht nur aus behördlicher Perspektive, bar. Hertz Joseph war also auch als Heereslie- sondern auch aus Sicht der bereits niederge- ferant tätig. lassenen Juden als bereits relativ dicht „be- Anrührend ist ein Brief, den Bela Hamm ih- setzt“ galt. Wenn ein junger Jude, besonders rem Verlobten schreibt.10 Die Sehnsucht nach sofern er nicht von einer inländischen Schutz- Hertz Joseph, der für einige Tage nach Det- judenfamilie abstammte, hier noch auf Dauer mold verreist ist, lässt sie nicht essen, nicht unterkommen wollte, musste er dazu Nischen trinken, nicht schlafen. Es sei kaum auszuden- und Unterstützung finden. ken, wie sehr sich die Entfernung von nur fünf Aus der Vielzahl der inzwischen bearbeiteten „Parasangen“ auf ihr Gemüt auswirke. Seit sie Zuwanderungsfälle wird beispielhaft die Er- nun einen Brief von ihm erhalten habe und folgsbilanz dreier 1756 bis 1769 geborener wisse, dass er gut angekommen sei und gute Immigranten vorgestellt, die im Zeitraum 1774 Geschäfte mache, gehe es ihr besser. bis 1789 aus weit entfernten Regionen in den Über ihre eigenen Geschäfte berichtet sie, Unter- und Mittelweserraum einwanderten etwas gekauft und Schulden bezahlt zu haben. und hier 1789 bis 1804 einen Schutzbrief er- Um wieder liquide zu sein, sei sie gezwungen hielten. gewesen, etwas zu versetzen. Als Quellen stehen in den ersten beiden Fäl- War es ein bewusster Akt, die Briefe aufzu- len amtliche Akten zur Verfügung, im zweiten bewahren oder sind sie einfach „verlegt“ und Fall enthält das Schutzgesuch zudem einen am Ende vergessen worden? Das Konvolut relativ ausführlichen Lebenslauf. Im dritten wirkt wie eine zufällige Sammlung; neben Fall geht es um den bekannten Autobiogra- Geschäftsbriefen stehen Briefe rein familiären phen „Ascher Lehmann“, doch ist diese Misch- Charakters. form seines Namens wohl nur ein nachträgli- Der Umfang der Sammlung ist verhältnis- ches Konstrukt. Ich bleibe im Folgenden bei dem „bürgerlichen“ Namen „Lehmann Aaron“, mäßig gering, und die Zeitspanne, aus der die Briefe stammen, außerordentlich groß. den er im hier behandelten Zeitraum trug. Die Startbedingungen dieser Zuwanderer Aussprache waren durchaus unterschiedlich: Der Pferdehandel könnte mit dem Siebenjäh- (1) Moses Levi Abraham stammte aus der rigen Krieg zusammenhängen. Umgebung von Frankfurt a. M., verließ nach Die Grabsteine wurden von christlichen dem Tod seiner Eltern seine Heimat, ging auf Steinmetzen hergestellt. Wanderschaft und war etwa 18 Jahre alt, als Hertz hat schon früh eine Konzession zum er 1774 in Bruchhausen eine Anstellung als Hauskauf erhalten. Der (konvertierte) Sohn Hausierknecht fand. Dort blieb er zwölf Jahre Johann Hermann Detmold war ein bekannter (zumindest offiziell) im Dienst, hielt sich aber die meiste Zeit in Bremen und dessen kurhan- Advokat. 1 noverschen Umland auf.

1 Zu den Aufenthaltsbedingungen im „judenfreien“ 10 Auf wen die Zuschrift in Blei „Schreiben der Bremen vgl. demnächst Werner Meiners, Jüdische Braut (oder Frau) des Herz Detmold an Letzteren Grenzgänger. Die Migration von Juden in das Bre- 1751“ zurückgeht, ist unklar. Der damalige Muse- mer Umland und die Aufenthaltsbedingungen für umsleiter Heinrich Spanuth hatte keine hebräischen Juden in Bremen 1770 – 1810, in: Bremisches Sprachkenntnisse. Jahrbuch 92, 2013. 8

Als er sich 1788 in unmittelbarer Nähe zu ken, zog aber als Zwanzigjähriger um 1789 Bremen selbständig niederlassen wollte, konn- nach Bruchhausen, als er von einem bereits te er auf einen treuen Kundenstamm, einen dort arbeitenden Vetter von besseren Mög- guten Leumund, ein Eigenkapital von 1.300 lichkeiten zu beruflichem Erfolg und Etablie- Talern und eine ausstehende Mitgift seiner rung in Nordwestdeutschland hörte, als seine Braut verweisen, der Tochter des wohlhaben- Heimat sie ihm bot: eine typische Kettenwan- den Schutzjuden Hertz Hein in Bremervörde. derung und ein Beleg von vielen für ein funk- Die Regierung in Stade erlaubte ihm zwar tionierendes Informationssystem zwischen nicht die Niederlassung auf dem direkt vor den jüdischen Gemeinden Mitteleuropas. den Toren Bremens gelegenen Barkhof und auch nicht in ebenfalls günstig liegenden Dör- Lehmann Aaron kam allerdings durchaus fern Hastedt (wo erst 1785 ein Schutzjude nicht in das erhoffte „goldene“ Land. Als Hau- „angesetzt“ worden war) bzw. Schwachhau- sierknecht in Bruchhausen und Hoya betrugen sen, wohl aber versuchsweise auf drei Jahre in seine Ersparnisse nach drei Jahren lediglich der kleinen Ansiedlung Burg im Nordwesten zehn Taler, obwohl er (unerlaubterweise) „auf von Bremen. halben Profit“ arbeitete. Erst als er 1795 – bei Da Burg drei Stunden Fußmarsch von der sich bessernder Konjunkturlage und erst recht Stadt entfernt lag, bemühte sich der geschäft- verbotenerweise – auf eigene Rechnung Han- lich erfolgreiche Moses Levi Abraham bei der del trieb, konnte er sich 100 Taler zusammen- 1795 anstehenden Schutzverlängerung um sparen, verlor jedoch den größten Teil wäh- eine Umzugsgenehmigung nach Hastedt. rend des folgenden strengen Winters schon Dort ließ er bereits durch einen Schneider wieder. Männerkleidung für den Verkauf in Bremen Als Angestellter eines jüdischen Heeresliefe- anfertigen und bot sich nun an, den zahlreich ranten verdiente er anschließend in kurzer in Hastedt wohnenden Strumpfwebern die Zeit 300 Taler. Er machte sich wieder selb- benötigte Wolle preisgünstiger zu beschaffen ständig, traf dabei aber auf die Abwehr der als die bisherigen Bremer Zulieferer. der bereits etablierten Schutzjuden, die ihren Als sich dann 22 Strumpfweber für seine Handelsdistrikt gegen den Eindringling vertei- Ansiedlung in Hastedt aussprachen, sah die digen, der nicht dem eigenen Familienverband Regierung in Stade keinen Grund mehr, sich angehörte. dem Umzugswunsch zu widersetzen und ver- Angesichts seiner perspektivlosen Lage traf längerte zugleich den Schutz auf unbestimmte Lehmann Aaron die Entscheidung zur Rück- Zeit, 1795 auf Lebenszeit. kehr „nach meinem Vaterland“. Als er bereits Kassel erreicht hatte, „hieß es, daß die Franzo- (2) Ebenfalls verwaist war der 1765 geborene sen in Bamberg seien und alle jungen Leute zu Ezechiel Abraham aus Amsterdam. Nach dem Soldaten nähmen.“ Verlust seiner Eltern in seiner „zartesten Kind- Er kehrte fast mittellos in den Mittelweser- heit“ wurde von seinem Onkel Jacob Alexand- raum zurück, konnte sich aber durch den Uh- er in Achim aufgenommen. renverkauf an Soldaten wieder ein kleines Als er 20 Jahre alt war, besorgte ihm sein Grundkapital ersparen und war anschließend Onkel ihm eine „Lehrstelle“ bei einem seiner so erfolgreich, dass sein Vermögen 1803 bis zu Freunde, dem bereits erwähnten Hertz Hein. 1.500 Taler betrug und anschließend weiter 1792 wollte er sich in Schwachhausen selb- stieg. ständig machen. Offenbar nur aufgrund der unübersichtlichen Er erklärte, allein im bremischen „Ausland“ politisch-militärischen Lage mit häufigen geschäftlich tätig werden zu wollen und Truppendurchzügen und Stationierungen so- dadurch Geld ins Hannoversche zu ziehen. wie durch Protektion ihm geschäftlich verbun- Daraufhin wurde ihm der Schutz erst einmal dener Beamter ist es Lehmann Aaron möglich auf drei Jahre erteilt, 1795 auf weitere drei gewesen, jahrelang ohne Einschreiten der Jahre verlängert und 1798 auf Lebenszeit er- Behörden seine illegalen Geschäfte zu betrei- teilt. ben und Quartier zu finden. Obwohl er keinen (3) Lehmann Aaron kam dagegen aus geord- Schutzbrief besaß, stellte ihm das Amt Verden neten häuslichen Verhältnissen in Oberfran- 1802 ein besonders positives Attest aus. 9

„Durch Bekanntschaft mit mehreren Herr- - wenn die Behördenvertreter die ju- schaften“ und mit „großen Kosten“ erhielt denrechtlichen Vorschriften lax hand- Lehmann Aaron schließlich auch einen habten bzw. wegen unübersichtlicher Schutzbrief für Hoya. Dort konnte er sich mit Verhältnisse nicht zu genauen Kontrol- seiner Frau aber erst nach heftigem Wider- len in der Lage waren oder Beamte stand des örtlichen Amtmanns niederlassen. bzw. Militärkommandanten den Zu- Unter westfälischer Herrschaft zog Lehmann wanderer protegierten. Aaron, nun ein den Christen rechtlich gleich- - Eine weitere Möglichkeit, auf Dauer gestellter Staatsbürger, 1810 in das bislang im Lande unterzukommen, war die „judenfreie“ Verden um. Mit der Ansiedlung Konversion zum christlichen Glauben von Lehmann Aaron und weiteren jüdischen – auch dieser Weg wurde von mehre- Familien begann 1810 bis 1813 unter französi- ren jüdischen Knechten gewählt. scher Herrschaft die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Verden. Ein Katalog mit vielen „Wenn“, bezogen auf die Lebenswirklichkeit allerdings mit noch Die drei Beispielfälle sind geeignet, exempla- mehr „Aber“. Gelingen konnte die Existenz- risch die Chancen und Hindernisse für jüdische und Familiengründung unter den herrschen- Zuwanderer in Nordwestdeutschland um 1800 den Verhältnissen nur Einzelnen. Sie schafften aufzuzeigen. Deutlich wird, dass es flexiblen es, in Nordwestdeutschland dauerhaft „Wur- und geschäftlich talentierten jungen Männern zeln zu schlagen“. gelingen konnte, hier Fuß zu fassen, Was aber geschah mit der gegen 1800 immer - wenn sie eine Anstellung als umsatz- größer werdenden Zahl von Juden, die bei der beteiligter Knecht eines geschäftlich Suche nach einem sicheren Unterkommen erfolgreichen Schutzjuden fanden erfolglos blieben? Angesichts der für sie gel- oder unter dem Namen eines Schutz- tenden restriktiven Zulassungspolitik war es juden auf eigene Rechnung tätig wer- kein Wunder, dass nicht nur Süddeutschland den konnten; sondern auch unsere Region zunehmend von - wenn die besonderen politisch- „Betteljuden“ durchzogen wurde. Doch das ist wirtschaftlichen Verhältnisse (hier be- ein anderes Kapitel … sonders die Wirtschaftsbelebung um 1800) es dem Zuwanderer ermöglich- Aussprache ten, mit geringem Eigenkapital in kur- Frau Obenaus stellt die Frage, warum sich die zer Zeit relativ große Handelsgewinne Juden in Verden haben halten können. Unter- zu verbuchen; schieden werden muss zwischen dem Wider- - wenn sich die Möglichkeit bot, in eine stand der Zünfte gegen Juden und deren För- etablierte und bei den Behörden gut derung auf dem Land. angesehene Schutzjudenfamilie ein- In der Aussprache wird bedauert, dass die zuheiraten; jüdische Gemeinde in Harburg zu wenig er- - wenn sie einen Ort zur Niederlassung forscht und bekannt ist. fanden, der eine ausreichende „Nah- Herr von Pezold unterstreicht, dass Juden rung“ versprach und aus behördlicher zwei Dinge besser getan haben; sie haben Sicht die Ansiedlung eines (weiteren) Stadt und Land verknüpft, verbunden, und sie Juden „vertrug“; haben landwirtschaftliche Produkte, Vieh, - wenn ihr Niederlassungswunsch von Pferde vermarktet. Einwohner, besonders aber den örtli- chen Beamten befürwortet wurde; Arbeitskreis Planung - wenn ihr illegaler Aufenthalt und ihre Herr Meiners weist noch einmal auf die an- illegale Geschäftstätigkeit von der stehenden Neuwahlen hin. Herr Obenaus regt Landbevölkerung gedeckt und von an, die Möglichkeiten einer Kooperation mit konkurrierenden Schutzjuden nicht Hamburg, vielleicht auch mit Ostwestfalen zu oder nur erfolglos bei den Behörden prüfen. denunziert wurden; 10

Auswahlbibliographie zur Geschichte der In: Reitemeier, Arnd / Ohainski, Uwe (Hrsg.), Juden in Niedersachsen und Bremen Aus dem Süden des Nordens. Studien zur nie- (Stand: Juli 2013) dersächsischen Landesgeschichte für Peter Aufgebauer zum 65. Geburtstag. Göttingen

2013, S. 33-38 (Veröffentlichungen des Insti- Die Auswahlbibliographie berücksichtigt in tuts für Historische Landesforschung der Uni- erster Linie Titel, die von der „Gottfried Wil- versität Göttingen) helm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Casemir, Kirstin, Die Namen der jüdischen Landesbibliothek“ in ihre „Niedersächsische Bevölkerung in Ostfalen bis zum Beginn der Bibliographie online“ (http://www.gwlb.de/ Neuzeit. In: Reitemeier, Arnd / Ohainski, Uwe nis/niedersaechsische_bibliographie/) aufge- (Hg.), Aus dem Süden des Nordens. Studien nommen worden sind. zur niedersächsischen Landesgeschichte für Die Liste wird ergänzt durch Publikationen, die Peter Aufgebauer zum 65. Geburtstag. Göttin- dem Arbeitskreis „Geschichte der Juden“ di- gen 2013, S. 77-96 (Veröffentlichungen des rekt mitgeteilt werden. Autorinnen und Auto- Instituts für Historische Landesforschung der ren von Aufsätzen in Zeitschriften, Jahrbü- Universität Göttingen) chern oder Sammelbänden werden gebeten, Ehrhardt, Frank / Bergemann, Kirsten / Voges, die Titel ihrer Arbeiten zu melden. Jonathan, Zwischen Erfolg und Ablehnung.

Jüdische Braunschweiger und ihr Engagement Marlis Buchholz in der Gesellschaft. Eine Spurensuche. Hrsg. Franz-Bork-Str. 15 Arbeitskreis Andere Geschichte. Braunschweig 30163 Hannover 2013 – Porträtiert werden Dr. David Mansfeld, [email protected] Max Jüdel, Dr. Norbert Regensburger, Emilie

Galka Scheyer

Hartmann, Jürgen, „Vom Zahne der Reform Arends, Silke, Der Glaube lebte in fünf Häu- und des Indifferentismus benagt“. Zur religiö- sern. Neustadtgödens gehörte einst zu Ost- sen Ausrichtung jüdischer Lipper von der Mit- friesland und war weithin dafür bekannt, dass te des 19. bis ins 20. Jahrhundert. In: Rosen- hier Lutheraner, Reformierte, Katholiken, land. Zeitschrift für Lippische Geschichte Mennoniten und Juden gemeinschaftlich den 14(2013), S. 21-43 – Toleranzgedanken pflegten. In: Ostfriesland- Anmerkung: www.rosenland-lippe.de Magazin. Zeitschrift für Land und Inseln zwi- Hoffmann, Andrea, Der Armenarzt in der Fla- schen Dollart und Jadebusen. Norden Jg. 29 niermeile: Philipp Simon Dawosky und das (2013) Heft 3, S. 70-77 Wohnhaus Zöllnerstraße Nr. 29. Vastorf (Kreis Arends, Silke, Ein Stein. Ein Name. Ein Lüneburg) 2013 (Buchreihe Nexus Band 4, Mensch. Mit Stolpersteinen wird europaweit Celle) an das Schicksal jener Menschen erinnert, die Jüdische Ärzte in Hannover. Erinnerung und in der NS-Zeit ermordet, deportiert, vertrieben Gedenken. Arbeitskreis „Schicksale jüdischer oder in den Suizid getrieben wurden. In Aurich Ärzte in Hannover", Ärztekammer Niedersach- findet in diesem Monat die fünfte Verlegung sen, Bezirksstelle Hannover. Redaktion solcher Gedenksteine für ehemalige jüdische Raimund Dehmlow. 2. korrigierte Auflage Mitbürger statt. In: Ostfriesland-Magazin. Hannover 2013 Zeitschrift für Land und Inseln zwischen Dol- Jürging, Michael, Schicksale jüdischer Ge- lart und Jadebusen. Norden Jg. 29 (2013) Heft schäftsleute am Schwarzen Bären [Hannover- 2, S. 90-91 Linden]. Hannover 2013 Banse, Dietrich u.a., Stolpersteine in Uelzen. Kieckbusch, Klaus, Die jüdische Familie Rot- Spurensuche. Erinnerungen an Uelzener Bür- henberg. Aus Mackensen über Arholzen in die gerinnen und Bürger jüdischen Glaubens. Welt. In: Jahrbuch für den Landkreis Holzmin- Hrsg. Geschichtswerkstatt Uelzen e.V. – den. Hrsg. im Auftrag des Heimat- und Ge- Anmerkung: Zu beziehen über: kontakt@ schichtsvereins für Landkreis und Stadt Holz- geschichtswerkstatt-uelzen.de minden e.V. Holzminden Bd. 31(2013), S. 21- Böhme, Ernst, Zwei jüdische Beschneidungs- 44 amulette im Städtischen Museum Göttingen. 11

Köß, Irene, Ein Seebad für alle. In: Ostfries- Programm der Tagung des Arbeitskreises land-Magazin: Zeitschrift für Land und Inseln „Geschichte der Juden“ am Mittwoch, zwischen Dollart und Jadebusen. Norden Jg. 18. September 2013 in Hannover 29(2013) H. 7, S. 60-61 (vorläufige Planung und Arbeitstitel der Vor- Krueger, Thomas, Wir sind doch keine Juden? träge) Jüdisches Leben und sein Ende im südnieder- sächsischen Industrieflecken Delligsen. In: 10.30 Uhr: Begrüßung Reitemeier, Arnd / Ohainski, Uwe (Hg.), Aus dem Süden des Nordens. Studien zur nieder- 10.40 – 11.30 Uhr: Sprecher-Neuwahlen. Ar- sächsischen Landesgeschichte für Peter Auf- beitskreis: Perspektive und Themenplanung. gebauer zum 65. Geburtstag. Göttingen 2013, Projekte und Informationen.

S. 305 (Veröffentlichungen des Instituts für 11.30 – 12.15 Uhr Historische Landesforschung der Universität Gero Conring: Göttingen) Vorstellung des Emder Schülerprojekts „Eine Kurth, Hansdieter, Endstation Theresienstadt Reise nach Lodz – Auf der Suche nach den 1942. Die „Todesfallanzeigen“ für Ludwig und Spuren der letzten ostfriesischen Juden“. Bertha Leeser. In: Unter der Staleke. Heimat- zeitung für die Samtgemeinde Hagen. Hagen Schwerpunktthema: Jüdische Schulen im Bremischen 2013, Nr. 189, S. 50-51 – und jüdische Lehrer vom 18. bis zum 20. Anmerkung: Bramstedter Kaufmannsehepaar, 1941 nach Bremen, anschließend nach There- Jahrhundert – Geschichte und Erinne- sienstadt deportiert, 1942/43 gestorben rungskultur (Teil I) Sieve, Peter, Juden in Vechta 1709-1939. Überblick zur Geschichte der Synagogenge- 12.15 – 13.00 Uhr meinde Vechta. Herausgegeben von der Stadt Sibylle Obenaus: Vechta. Vechta 2013 – Baruch Schlesinger (1814 - 1885), jüdischer Anmerkung: Kontakt über [email protected] Lehrer und Kultusbeamter in Förste, Bremke, Strobach, Berndt, Bei Liquiditätsproblemen: Adelebsen, Osterode, Celle und Göttingen.

Folter. Das Verfahren gegen die jüdischen 13.00 – 14.00 Uhr: Mittagspause (Kantine) Kaufleute Gumpert und Isaak Behrens in Han- nover, 1721-1726. Berlin 2013 – 14.00 – 14.55 Uhr Klappentext: „Folter im aufgeklärten 18. Jahr- Johann Dietrich v. Pezold: hundert? Durchaus! Die späte Frühe Neuzeit Simon Mauer, von 1831 - 1866 jüdischer Leh- hegte noch beträchtliche mittelalterliche Res- rer in [Hann.] Münden. te: Zwei insolvente jüdische Bankiers in Han- 14.55 – 15.10 Uhr: Kaffeepause nover sollten preisgeben, wohin sie Werte aus der Konkursmasse angeblich verschoben hat- 15.10 – 16.00 Uhr ten. Die (erfolglose) Tortur war der Höhepunkt Rolf Uphoff: eines Prozesses, in dem wahnhaftes obrigkeit- Die Geschichte der Israelitischen Schule in liches Misstrauen und die Wut frustrierter Emden (Schwerpunkt: Das Ende der Schule Gläubiger ihre Opfer fanden. Im Verdacht der unter nationalsozialistischer Herrschaft). Beihilfe: der im preußischen ‚Ausland‘ lebende 16.00 – 16.30 Uhr: Fortsetzung der Arbeits- Halberstädter Hofjude Berend Lehmann. Es kreis-Planung. Projekte und Informationen. kam zu juristisch-diplomatischen Streitigkeiten zwischen dem britisch-hannoverschen König Unsere Tagungsstätte ist wiederum das Lan- Georg I. und dem preußischen ‚Soldatenkönig‘ deskirchenamt Hannover, Rote Reihe 6, Raum Friedrich Wilhelm I.“ 130 („Großer Kollegsaal“, im ersten Stock- werk). Das Landeskirchenamt liegt nahe der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis (gleich nördlich vom Hauptstaatsarchiv). Das Mittagessen wird in der Kantine des Landes- kirchenamtes eingenommen.