Kosten Im 18. Und 19. Jahrhundert in Den Hansestadten Bremen Und Hamburg
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ROLF ENGELSING LEBENSHALTUNGEN UND LEBENSHALTUNGS- KOSTEN IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT IN DEN HANSESTADTEN BREMEN UND HAMBURG EINLEITUNG Um den Lebensstandard der Bevolkerung in Deutschland vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu erforschen, kann man versuchen, ihn nach den Haushaltseinkommen zu quantifi- zieren, und priifen, wie er sich im Lauf der Zeit verbessert oder verschlechtert. Das ist oft erfolglos, weil die Quellen versagen. Dann kann man versuchen, die verschiedenen sozialen Stufen der Lebens- haltung zu qualifizieren, und darstellen, wie ihr Zuschnitt und ihr Verhaltnis untereinander sich im Lauf der Zeit auf den einzelnen Stufen verschiedenartig verandert.1 Das ist nicht nur moglich, sondern auch notig, weil sich viele Quellenangaben sonst gar nicht sinnvoll kombinieren lassen. Man findet, daG dasselbe Einkommen fur den Angehorigen des einen Standes befriedigend, fiir den Angehorigen des andern elend ist. 1 Unter den jiingsten Veroffentlichungen zur Entwicklung der Lebenshaltung ragen drei franzosische Arbeiten hervor, die theoretisch angelegt und starker politisch als historisch orientiert sind. Sie verfolgen iiber groCe Zeitraume real- und idealtypische Standards, statistisch genau. Paul Combe, Niveau de vie et progres technique en France (1860-1939). Contribution a l'etude de l'economie francaise contemporaine. Postface (1939-1949), Paris 1956; Jeanne Singer-K6rel, Le cout de la vie a Paris de 1840 a 1954 [Recherches sur l'economie francaise, 3], Paris 1961; Marguerite Perrot, Le mode de vie des families bourgeoises 1873-1953 [Recherches sur l'economie francaise, 4], Paris 1961. Starker ins Kulturgeschichtliche reicht Ernst Ackermann, Sechs Jahrzehnte. Wandlungen der Lebenshaltung und der Lebenskosten seit der Jahrhundertwende, Wetzikon 1963, der die Schweizer Verhaltnisse schildert. Wie stark sich der Begriff der Lebenshaltung ver- engt hat, zeigt ein Blick in die kulturgeschichtliche Schilderung von Wilhelm Treue, Der Wandel der Lebenshaltung. Ein Spiegel der Zeiten und Volker, Berlin 1939. Wert- voll bleibt Gottlieb Schnapper-Arndt, Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frank- furt a.M. wahrend des 17. und 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Karl Brauer [Veroffentli- chungen der historischen Kommission der Stadt Frankfurt am Main, 2], Frankfurt a.M. 1915, T. 1 und z. Downloaded from https://www.cambridge.org/core. IP address: 170.106.202.226, on 29 Sep 2021 at 17:47:07, subject to the Cambridge Core terms of use, available at https://www.cambridge.org/core/terms. https://doi.org/10.1017/S0020859000003023 74 ROLF ENGELSING Was am einen Ort ausreicht, reicht am nachsten nur zur Halfte.1 Ein Arbeiter, der Haus und Acker besitzt, kann wohlhabend heiBen, wahrend der nachste mit besserem Verdienst nicht auskommt. Der Lohn, der 1850 notig ist, um die Familie eines Facharbeiters zu unter- halten, reicht aus fur mehrere arme Familien, die auch nicht erwerbslos sind, gibt aber noch keinem Burger eine bescheidene selbstandige Existenz. Einzelheiten sind vergleichbar, doch nicht iibertragbar. Um seinem Erwerb in standesiiblicher Weise nachzugehen und um seinen Pflichten standesgemaB nachzukommen, muB sich mancher Burger mehr Aufwand zumuten, als sein Einkommen erlaubt: z.B. kommt um 1830 ein junger Rechtsanwalt ohne Vermogen in der Verwandtschaft kaum vor, und ein Kaufmann, der Verluste gehabt hat, kann sich um 1800 nicht einschranken, um seinen Kredit auf- rechtzuerhalten. Es gibt also keinen einheitlichen Nenner, etwa den des Existenz- minimums oder eines Haushaltskontos, das Durchschnittswerte ein- fiihrt. Kein MaBstab gilt iiberall gleich. Die Unterschiede zwischen lebensnotwendigem und standesnotwendigem Auskommen und wiederum zwischen standesgemaBem und unbeschranktem Aufwand geben den Ausschlag. Der Zuschnitt jedes einzelnen Haushalts steht im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Verfassung seiner Zeit. Der Historiker versucht, im Hinblick auf die verschiedenen Stande, seien es Geburts- oder Berufsstande, verschiedene Lebenshaltungen zu ermitteln, zu beschreiben und aneinander zu messen, um die Lebensordnung besser zu verstehen. Er beobachtet verschiedene untere und obere Grenzen des Aufwands und das jeweils iibliche MaB. Jeder durchschnittliche Zuschnitt ergibt sich nur innerhalb einer sozialen Ganzheit, nicht als Durchschnitt zwischen ihnen, z.B. zwischen Arbeiterschaft und Unterschicht. Die Lebenskosten weichen aus subjektiven Wertungen und Erfordernissen und nach objektiven Unterscheidungsmerkmalen von einander ab. Subjektive Kriterien der Tradition, der Sitte, des Brauchs machen sich neben objektiven geltend.2 Das wiirde vielleicht nicht allzu viel ausmachen, wenn wir 1 Johann Sebastian Bach, Thomaskantor in Leipzig, schrieb 1730 an einen Bekannten: ,,In Thiiringen kann ich mit 400 Thalern weiter kommen als hiesiges Ortes mit noch ein- mal sovielen hunderten, wegen der excessiven kostbaren Lebensart." Albert Schweitzer, J. S. Bach, Wiesbaden 1952, S. 119. Vgl. fur Schweden die sorgfaltigen statistischen Nachweise bei [Gunnar Myrdal, Sven Bouvin,] The cost of living in Sweden 1830-1930 [Wages, cost of living and national income in Sweden 1860-1930, by the staff of the In- stitute for Social Sciences, University of Stockholm, Vol. 1] [Stockholm economic studies, 2], London 1933, S. 74ff.; fiir Deutschland Gerhard Bry, Wages in Germany 1871-1945 [National Bureau of Economic Research, 68, General Series], Princeton i960. 2 Vgl. Carl Brinkmann, Lebensstandard, in: Handworterbuch der Sozialwissenschaften, VI (1959). S-544- Downloaded from https://www.cambridge.org/core. IP address: 170.106.202.226, on 29 Sep 2021 at 17:47:07, subject to the Cambridge Core terms of use, available at https://www.cambridge.org/core/terms. https://doi.org/10.1017/S0020859000003023 LEBENSHALTUNGEN IN BREMEN UND HAMBURG 75 es im 19. Jahrhundert mit einem differenzierten Mittelstand zu tun hatten. Aber je deutlicher sich die Gesellschaft in Stande schichtet, desto starker trennen subjektive Kriterien die eine Lebenshaltung von der andern. Die folgende Studie versucht, durch Kombination verschieden- artiger Nachrichten verschiedener Herkunft in Norddeutschland, vor allem in Bremen, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. die verschiedenen Grundeinheiten von Haushaltungen zu identifizieren und sie wirtschafts- und sozialgeschichtlich einzuord- nen. II DER ARMENHAUSHALT Die unterste Einheit eines stadtischen Haushalts war im 19. Jahr- hundert in Bremen der unterstiitzungsbedurftige Armenhaushalt. Er war auBerstande, sich den eigenen Lebensunterhalt zu beschaffen, und auf offentliche und womoglich private Unterstiitzung angewiesen. Durch den Bedarf an Unterstiitzung wurde die Lebenshaltung auf die niedrigste Stufe herabgedriickt. Sie lieferte die Mittel, die zur Fort- setzung der Existenz notig waren. Dabei wurde aber nicht voraus- gesetzt, daB die Armen ihre Arbeitskraft erhalten und voll ausiiben sollten, und es wurde nicht bezweckt, daB sie sie wiederherstellen konnten. Dazu war die Unterstiitzung zu gering. Die Lebenshaltung eines Armenhaushalts unterschied sich daher erheblich von der eines Arbeiterhaushalts. Zwischen dem Existenzminimum der Armen und dem Existenzminimum der Arbeiter war oft ein Unterschied von 100 Prozent und mehr. Aus der Zeit um 1820 ist Genaueres iiber zwei arme bremische Familien bekannt. Eine Frau mit vier Kindern im Alter bis zu zehn Jahren war von ihrem Mann, einem Musikanten, verlassen worden. Sie lebte in der Altstadt in einem Arme-Leute-Viertel und verdiente sich im Jahr durch Nahen und Spinnen 15 Taler. Das war ungefahr ein Zehntel dessen, was ein Handarbeiter jahrlich nachhause brachte, und ein Fiinfzigstel der Summe, die fur die Fiihrung eines beschei- denen biirgerlichen Hauses notig war. Die Frau konnte daher mit ihrem Verdienst nur gerade ihre eigene Ernahrung bestreiten. Da sie im Jahr auBerdem an Kostgeld fur die Kinder 34 bis 35 Taler, fur Feuerung und Licht 7 Taler und fur Miete 8 Taler brauchte, war sie darauf angewiesen, aus offentlichen Mitteln einen ZuschuB von bei- nahe 50 Talern zu bekommen, um ein Existenzminimum zu erreichen. Downloaded from https://www.cambridge.org/core. IP address: 170.106.202.226, on 29 Sep 2021 at 17:47:07, subject to the Cambridge Core terms of use, available at https://www.cambridge.org/core/terms. https://doi.org/10.1017/S0020859000003023 76 ROLF ENGELSING Es betrug 65 Taler und damit knapp ein Zehntel dessen, was der ein- fachste biirgerliche Haushalt erforderte.1 Ebenso elend war eine andere Familie daran. Ein Strumpfwirker im Alter von 70 Jahren, der friiher Soldat gewesen war, lebte mit seiner kranken Frau und einem achtzehnjahrigen blodsinnigen Sohn zu- sammen. AuBerdem gehorte seine arbeitslose Schwester zur Wohn- gemeinschaft, aber nicht zum Haushalt. Der Mann hatte eine Militar- pension von 12 Talern und arbeitete in seinem Beruf, die Frau spann, soweit es ihre Krafte erlaubten, der Sohn war nicht erwerbsfahig. Der Mann verdiente durch seine Arbeit jahrlich 12 Taler, die Frau 6 - zusammen soviel wie ein Zigarrenmacher in anderthalb Monaten er- warb. Spenden und Unterstiitzung betrugen 9 Taler jahrlich. Um ein Existenzminimum von 63 bis 64 Talern zu schaffen, schoB die Armen- fiirsorge jahrlich 24^ Taler zu. Die Summe reichte fur 10 Taler Miete, fur 8 Taler Feuerung und Licht und fur gut 45 Taler zurErnahrung der Familie. Davon entfielen auf den Strumpfwirker 17 Taler, auf die Frau 15 Taler und auf den Sohn 13 Taler.2 Einen hamburgischen Kaufmann kostete aber schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein Dienstmadchen