Reportagereisen Mythos Tibet Reportage zur Fotoausstellung Stupa im Kloster Samye Mythos Tibet Reise auf dem Dach der Welt

Der Mythos Tibet lebt. Es gibt nur wenige Länder und Regionen, von denen eine solch langanhaltende Faszination ausgeht. Es mag an der langen Isolation des Landes liegen, seiner exponierten Lage und den ewigen Zwist, welche die Neugier wach halten. Doch seit dem Einmarsch Chinas 1950 haben sich Mythos, Menschen und das Land geändert. Heute polarisiert der Name Tibet. Den modernen Einflüs- sen zum Trotz versuchen die Tibeter an ihren Traditionen festzuhalten. Handys und Motorräder stehen im Wettstreit mit Buttertee und Yaks und ergänzen sich gleich- zeitig. Eine Reise durch Tibet ist heute vielschichtig und zwischen Traditionen und Mythen, Politik und Moderne geprägt.

Fotoausstellung Kirche St.Michaelis, Braunschweig 2010 Fotoausstellung Kloster Drübeck / Harz 2012 Fotoausstellung Palmenhaus Bad Dürrenberg 2014

Matthias Ennersch, Ingenieur und Journalist, bereiste das Dach der Welt und zeigt Ansichten aus einem Land, welches zwischen Traditionen und Moderne im Dunst- kreis chinesischer Okkupation steht. 3

Kloster Samye im Tal des Yarlung Tsangpo - Von vormals 6.000 haben nur 13 tibetische Klöster die Kulturrevolution in den 1960er Jahren ohne Zerstörungen überlebt. Einige der zerstörten Anlagen werden seit Mitte der 1980er Jahre wieder restauriert, Mönche und Nonnen füllen die derzeit etwa 250 Klöster wieder mit Leben.

Reise auf dem Dach der Welt Alle Übrigen aber, die inzwischen immer- und seine Menschen indessen verändert. fort Verstärkung erhalten hatten, ritten in Der kulturelle Genozid der Tibeter und Mythos Tibet geschlossenen Gliedern und in wildester systematisch wachsende Einfluss der Chi- Karriere gerade auf unser Zelt los. Wie nesen führt seit Jahrzehnten zu ständigen Vieh wollten wir uns nicht abschlach- Kontroversen, Beifallsbekundungen und „Möge sich wieder ein goldenes Zeitalter voller ten lassen, wir hielten also unsere Waffen Protesten für die Sache der Tibeter; allein Freude und Glück über den drei Regionen Tibets bereit und saßen oder standen, auf das politische Lösungen im Sinne Tibets fallen aus-breiten. Möge sein weltlicher und spiritueller Schlimmste gefasst, in der Zelttür.“ (Sven immer wieder spärlich aus. Den modernen Glanz wieder erstrahlen. Mögen sich Buddhas Hedin, 1901) Einflüssen zum Trotz versuchen die Tibe- Lehren in alle zehn Himmelsrichtungen ausbreiten ter an ihren Traditionen festzuhalten. Han- und alle Wesen im Universum zu einem glorreichen Tibet, das Land auf dem Dach der Welt, dys und Motorräder stehen im Wettstreit Frieden führen.“ (aus der Nationalhymne Tibets) verbotener Mythos, Leidenschaft und Sehn- mit Buttertee und Yaks und ergänzen sich sucht, das seelige Himmelreich, Zankapfel gleichzeitig. Im Herbst 2009 brauchte ich „Der Lama war überzeugt, dass unsere letz- chinesischer Politik. Es gibt nur wenige Abstand zu Deutschland und nichts schien te Stunde geschlagen hatte, aber ich dach- Länder und Regionen, von denen eine sol- mir verlockender, als diesen in Zentralasien te, wenn es wirklich ihre Absicht wäre, uns ch langanhaltende Faszination ausgeht. Es zu finden. Da sich die Einreise nach Tibet umzubringen, so würden sie dazu nicht so mag an der langen Isolation Tibets liegen, aufgrund der scharfen chinesischen Sicher- viele Leute aufbieten und das Blutbad lie- am Himalaya und den Mythen selber, wel- heitsbestimmungen für Journalisten nicht ber des nachts ins Werk setzen. Nach ei- che die Neugier wach halten. Seit 50 Jahren einfach gestaltet, wählte ich den Weg über ner Weile hatte es wirklich den Anschein, erregt dazu noch die chinesische Okkupa- einen Reiseveranstalter und die Gewissheit, als sollte der Lama Recht behalten. Sieben tion die Gemüter. Seit dem Einmarsch der den Mythos mit einer Gruppe Tibet-Enthu- Reiter sprengten ostwärts nach Nakktschu Chinesen und dem Aufeinanderprallen von siasten zu teilen. und einige galoppierten in der Richtung Maos Kommunismus und einem von tie- nach Lhasa davon, um den Dalai Lama fen Traditionen geprägten religiös-mittelal- Nach den Unruhen in Lhasa im März 2008 von unserer Ankunft zu benachrichtigen. terlichen Feudalismus haben sich das Land und 2009, wähnte ich alles im grünen Be- 4

reich. Was ich indessen nicht bedachte war schwedischen Forschers über seine Reise das Jubiläumsjahr 2009. Doch der Mensch im Transhimalaya wurde zum Standart- denkt und – die chinesische Regierung werk. Als 50 Jahre später Heinrich Har- lenkt. Pünktlich zum 60.Jahrestag des Be- rer auf seiner Flucht Tibet erreichte und stehens der Volksrepublik am 01.Oktober Freund und Lehrer des jungen Dalai Lama wurde Tibet gesperrt. Der rote Drache wurde, lernte der Österreicher ein Land fürchtete Unruhen zum Jubiläum und kennen, wie niemand mehr nach ihm. ließ keine ausländischen Touristen in sei- Nach weiteren 50 Jahre machte ich mich ne Hochgebirgsregion. Zwei Wochen lang in den Himalaya auf. Meine Reise war auf erhielten Reisende keinen Zutritt. Ein tol- drei Wochen angesetzt, mit täglichen Ter- ler Einstieg. Das China Tibet absperren minen, sehr modern und touristisch und würde, verwunderte Experten indessen stand unter dem „Mythos Tibets“. kaum. Die Volksrepublik beansprucht die Region als Teil des eigenen Territoriums. Unsere Reise wurde nur verschoben, nicht Die Tibeter und ihr seit 50 Jahren im Exil gestrichen. Unter den gegebenen Umstän- wohnende Dalai Lama, streben nach Auto- den ein erfreuliches Zeichen. Dem moder- nomie. Nach eigener Aussage jedoch nicht nen Verkehrswesen geschuldet, erfolgte Das 4.500 Meter hoch gelegene Nonnenkloster Tredum mehr nach völliger Unabhängigkeit, wie die unsere Anreise mit dem Flugzeug über lag nur wenige Minuten von unserem Zeltplatz in einer chinesische Regierung im Gegensatz dazu Peking, mit Zwischenstop in Chengdu, benachbarten Schlucht. Bekannt durch seine heißen und stets betont. Für die Chinesen allerdings einige Tage nachdem die Grenzen wieder heilbringenden Schwefelquellen, trafen wir 200 Meter immer noch Anlass genug, auf Meldungen geöffnet wurden. Die autonome Region höher auf einige Nonnen, die den ungewöhnlichen Besuch und Aktivitäten zugunsten eines auto- Tibet erwartete uns sauerstoffarm und neugierig anlachten. nomen Tibets aggressiv sonnendurchflutet. Am Flughafen wurden zu reagieren. wir von einem jungen Tibeter traditionell mit Katas, den typischen weißen Seiden- Seit den Jahren des chi- schals, begrüßt. Lobsang sollte uns in den nesischen Einmarsches kommenden Wochen als Führer begleiten, in Tibet wurde vieles uns Land und Leute näher bringen und oft über das Land im Hi- selber den Kopf über deutsche Ansichten malaya-Gebirge ge- schütteln. schrieben. Die Zeiten eines Sven Hedin und Etwas über eine Stunde, dicht gedrängt in Heinrich Harrer gehö- einem engen Kleinbus, dauerte die Fahrt ren lange der Vergan- vom Flughafen nach Lhasa. Zum ersten Mal genheit an. Das verbor- überquerten wir den mäandernden Yarlung gene Land, Shangri-La, Tsangpo River, der als Brahmaputra nach wurde entdeckt, ver- fast 2.900km in den bengalischen Ganges Bauer in Shelkar: Besonders die Tibeter außerhalb der touristischen messen und vielfach mündet und seine Wasser zum gewaltigen Zentren begegnen uns stets mit einem herzlichen Lachen. Doch beschrieben. Der My- Gangesdelta führt. Lhasa, das Ziel aller Pil- manchmal bestätigen auch Ausnahmen die Regel. thos, der dem Reich ger, Verwaltungszentrum der chinesischen Jahrhunderte anheim Provinzialregierung und mit 3.680 Meter war, änderte sich nach idealer Ort, um sich an die Höhenluft zu der Flucht des Dalai gewöhnen, hielt uns seine Tore offen. Ab- Lamas 1959. Tibet po- gesehen von den neugierigen Blicken der larisiert. Einheimischen, Pilger und chinesischen Touristen, dem wachsamen Auge junger, Meine Recherchen be- chinesischer Soldaten und den aufmun- gannen mit Sven He- ternden Rufen einiger Souvenirverkäufer dins Buch „Abenteuer nahm von uns Deutschen niemand Notiz. in Tibet“ aus dem Jahre 1901. Als Europäer die In den folgenden Tagen gewöhnten wir verbotene Stadt Lha- uns mehr oder weniger an die dünne Luft. sa zu erreichen, war Begleitet von dumpfen Kopfschmerzen vor gut 100 Jahren ein und intervallartiger Atemnot, jedoch ver- Kyi Chu Tal: Eng schmiegt sich eine staubige Piste an die Ding der Unmöglich- schont von Übelkeit und schwereren Pro- braunen Hängen des Tals. keit. Der Bericht des blemen, begannen wir Lhasa zu erkunden. 5

Das Kloster Drepung – welches zu den blick. Chinas Präsenz drei Eliteklöstern des Landes zählt, der ist die einer Besatzungs- Jokhang-Tempel – das religiöse Zentrum macht. So analysierte ich des tibetischen Buddhismus und der Bar- das erste tibetische Gebot kor, Marktplatz der Altstadt, gehörten zu „Fotografier‘ keine Solda- den Höhepunkten. Doch waren es neben ten“. Auch wenn die jun- dem mächtigen Potala-Palast besonders die gen Wehrpflichtigen eher engen Gassen, das Treiben zwischen den an einem Gespräch als an zahlreichen Verkaufsstände und die unzäh- der Verhaftung neugie- ligen Pilger die neben der allgegenwärtigen riger Ausländer interes- chinesischen Militärpräsenz mein Bild der siert wären: den Ärger für ehemals verbotenen Stadt prägten. Das uns würde sich Lobsang ständige Geräusch sich drehender Gebets- einhandeln und im leich- mühlen, das sich sehnsüchtig in den Him- testen Fall seine Lizenz Pilger im Kloster Drepung: Es heißt, dass man mit einer Umdrehung einer mel bahnende om mani peme hung und der verlieren. Gebetsmühle (Manikhor) alle im Inneren der Mühle aufgedruckten Texte durchdringende Geruch flackender Butter- gelesen hat. kerzen begleiteten uns die ganze Zeit. Die große Anzahl chine- sischer Einwohnern war Besonders reges Treiben herrschte um Po- nicht zu übersehen, auch tala und Jokhang in den frühen Morgen- wenn es uns als Green- stunden, wenn Pilger aus dem westlichen horns oft schwer fiel, Ti- Hochland und Upa aus Zentraltibet neben beter von Chinesen zu un- Khampa mit ihren markanten roten Haar- terscheiden. Eindeutig fiel bändern ihre Kora ablegten. Die Straßen die Anzahl chinesischer der Altstadt, um den Barkor, zeigen sich Pauschaltouristen auf, die heute noch größtenteils wie vor hunderten mit großen Spiegelreflex- Jahren. Die alten Gebäude wurden noch kameras jede Nasenspitze nicht, wie in anderen Städten, abgeris- pilgernder Tibeter fotogra- sen. An der Stadtgrenze sieht es hingegen fierte. Hier waren eindeu- schon anders aus. Hier wachsen moderne, tig Originale unterwegs. geräumige Hochhäuser in den tibetischen Dazwischen fielen einige Himmel; werden breite Straßen und Plätze ausländische Touristen auf. betoniert. Vor dem Jokhang Tempel wurde Amerikaner, Holländer, wie vor dem Potala ein riesiger Paradeplatz Russen oder Deutsche, die errichtet. Chinesisches Militär war über- auf ihrer Chinarundreise all präsent. Kleine Gruppen marschierten einen kurzen Stop in Lha- durch die Straßen, bewachten neuralgische sa eingelegt hatten, un- Die Kora um das Kloster Ganden zieht sich atemberaubend um den Berggip- Punkte und behielten von Dächern aus ter der Last der Höhe die fel herum. Weit reicht der Blick ins Tal. Hier oben, direkt bei den Göttern, den Über- touristischen Attraktionen finden wir auch den ersten Platz der Himmelsbestattungen. besichtigten und sich wie- der in die Tiefebenen zurückflogen. Ein nesischen 50-Yuan-Banknote abgebildet. fragwürdiges Unterfangen. Wir hörten Respekt der Besatzer vor architektonischer von einigen Brasilianern, die sich Leistung oder politisches Kalkül? Glückli- seit Wochen mit Kopfschmerzen cherweise überlebte der Palast die zerstöre- abmühten und erfuhren von rischen Jahre der Kulturrevolution nahezu einigen Kanadiern, die wieder unbeschadet. Die ehemalige Residenz des ausgeflogen werden mussten, Dalai Lama ist heute zum Museum degra- da sie sich ständig übergaben. diert, ausgestattet mit Überwachungskame- Die Höhe ist nicht zu unter- ras und regimetreuen Museumspersonal. schätzen; doch Panik nicht Der Eintritt ist extrem hoch und nicht für notwendig. jeden Pilger erschwinglich; so dass den meisten Tibetern nur die Kora um den Pa- Der heute verwaiste Potala lastberg bleibt. Uns blieben 66 Minuten, ist für die Tibeter immer noch um einen Blick in die dunklen Zimmer Symbol ihrer Traditionen. Das und engen Gänge des weißen und roten mächtige Bauwerk ist auf der chi- Palastes zu werfen. Die Besuchszeit wurde 6

gestoppt und das Fotografieren verboten. wurde erst kurz vor den Olympischen überquerten den Nyenchen-Tanglha-Ge- Die Museumswärter waren uns ständig im Spielen 2008 fertiggestellt, einige Ab- birgszug, dessen höchster Gipfel bis auf Nacken. Einige Tage später pilgerten 7.127 Meter emporragt. wir zur ehemaligen Sommerresidenz des Dalai Lama. Der Norbulingka Die Spannungen in der Gruppe – der Edelsteingarten – wurde be- entluden sich zum ersten Mal am reits vom VII. Dalai Lama um 1755 Nam Co, als Uneinigkeit über den errichtet. Seitdem wurden Bauwerk weiteren Reiseverlauf herrschte. und Park mit den vielen alten Bäu- Später konnten wir uns einigen, men als Sommerresidenz genutzt dass ein Teil zum Mt.Everest und stetig erweitert. Basecamp aufbrechen, während die anderen vorausfahren und in Wir blieben drei Tage in Lhasa, bevor Zhangmu auf uns warten sollten. wir zum Campen ins Hochland auf- Auf unserer Route vom Nam brachen. Die erste Nacht verbrachten Co nach Gyantse gönnten wir wir in der Nähe von Ganden, welches, uns nochmal zwei Tage Pause in 1409 gegründet, das älteste Kloster Ernteeinsatz im Kyi Chu Tal: Manche Begegnungen erinnern an längst Lhasa und fuhren von dort weiter des Gelugpa-Ordens ist. Die Anlage vergessene Zeiten. zum Kloster Samye. Das älteste schmiegt sich auf 4.300 Meter wie ein buddhistische Kloster des Landes Amphitheater an einen steilen Berg- schnitte sind immer noch im Bau. Wir erreichten wir nach einstündiger hang. Trotz des anhaltend herrlichen Wet- nannten unseren Fahrer liebevoll Kami- Bootsfahrt über den Yarlung Tsangpo. Ein ters fielen die Temperaturen nachts bereits kaze, nachdem wir uns an seinen Fahrstil Sandsturm verhinderte unsere Rückreise unter den Gefrierpunkt. Dem einzigen, gewöhnt hatten und waren froh, vornweg über den Fluss. Es kostete einige Überre- dem die Kälte nichts auszumachen schien, zu fahren, da wir so dem ewigen Staub dungskunst, die Nerven unserer Reisefüh- war Karl, der sich jeden Morgen vor sei- entgingen, den wir aufwirbelten. rer und einige Flaschen Lhasa-Bier, bevor nem Zelt in stoischer Gelassenheit einer wir uns im Kloster einen Bus charterten ausgiebigen Morgenrasur hingab. Unsere Die Landschaft blieb atemberaubend und und auf der diesseitigen Flussseite Rich- Zelte standen meistens in der Nähe kleiner die Luft weiterhin dünn, doch inzwischen tung Tsetang fuhren. Die Stadt erreichten Dörfer, bewacht von struppigen Hunden, hatten wir uns fast akklimatisiert. Von wir glücklicherweise im Dunkeln, was uns die sich ständig balgten, die ganze Nacht Ganden ging es flussaufwärts nach -Tre den Anblick moderner chinesischer Bau- um unsere Zelte strichen und mit ihrem dum mit seinen heißen Schwefelquellen kunst ersparte. Am nächsten Tag fuhren wütenden Bellen die frei umherlaufenden und dem Nonnenkloster; später weiter wir über den 4.794 Meter hoch gelegenen Yaks fernhielten. zum zerstörten Kloster Reting. Auf dem Kampa La (Pass) zum blauschimmernden Weg zum Nam Co (See), dem größten Yamdrok Co, dem Skorpionsee, und wei- Wir fuhren mit den Jeeps abseits der tou- See Tibets, rauschten wir an kleinen Sied- ter zum 4.960 Meter hohen Karo La. In- ristischen Hauptstraßen. Doch was sind lungen vorbei, an Bauern, die mit ihren zwischen lagen die Nerven wieder blank. schon Straßen in Tibet? Staubige Pisten, Yaks das Feld bestellten und die Ernte Die Landschaft litt so sehr wie unsere Le- Schotterwege, selbst der von Kathmandu einbrachten, hüllten Motorradfahrer und bensfreude unter der Fahrweise unseres nach Lhasa führende Friendship-Highway Pilger in unsere Staubwolken ein und Fahrers. Dem schien es nichts auszuma-

Gebetsfahnen am Lalung La Pass

„Der Mittelpunkt des ganzen Staatsgebäudes ist die Religion. ... Der Tagesablauf des Volkes wird vom Glauben diktiert, unauf- hörlich drehen sich die Gebetsmühlen, mur- meln die Gläubigen die frommen Formeln, wehen die Gebetsfahnen von den Dächern der Häuser und auf den Pässen der Berge. Re- gen, Wind und alle Naturerscheinungen, die einsamen Gipfel des eis- und schneebedeckten Gebirges sind Zeugen der Allgegenwart der Götter: Im Hagelsturm zürnen sie, Gedeihen und Fruchtbarkeit zeigen ihr Wohlwollen. Das Leben des Volkes ist ausgerichtet nach diesem Willen, dessen Interpreten die Lamas sind.“ (Heinrich Harrer, 1948) 7

chen, ständig enge Kurven zu schneiden, der ein einzelnes Leben so viel gilt wie ein rausforderungen reifen. Letztlich setzte er dicht neben steil abfallenden Schluchten zu Blatt im Herbstwind.Im September 2009 es durch, dass der gestörte Busfahrer abge- fahren und beharrlich auf entgegenkom- erschien die Lebensgeschichte der drei löst und wir zwei Tage später andere Fahrer mende Viehherden und Menschen zuzu- Frauen, doch zu diesem Zeitpunkt ordnete erhalten sollten. halten, bis diese dem PS-stärkeren Wahn- ich mein Leben wieder einmal selbst um. sinn ausweichen mussten. Wir revoltierten, Im Monat darauf saß ich in einem Reise- Wir waren überglücklich, als wir „unseren wollten „unseren“ Kamikaze wieder, den wir bus mit einem wildgewordenen Busfahrer Kamikaze“ wieder für uns hatten und in Lhasa zurück lassen mussten, wollten kein auf dem Weg nach Gyantse. Auch wenn drängten uns wie in den Tagen zuvor in Kloster mehr sehen, keinen ranzigen Butter- ich in meinen Ansprüchen grundsätzlich dem engen Jeep zurecht. Auf den Offroad- geruch mehr riechen und fanden die dünne b e s c h e i - den bin Strecken kämpfte Gerald meistens auf Luft zu dünn. Selbst das Bier wollte nicht dem Beifahrersitz gegen aufkommende mehr schmecken. Das Gebot „Schone die Übelkeit, während ich mich gemeinsam mit Nerven Deines Reiseleiter“ galt in diesem Tina und Lobsang über die enge Rück- Moment nicht für uns. sitzbank schaukelte. Den Rhythmus gaben tibetische Musikcharts an, „Die Chinesen hatten bereits in die hoch- und runtergespielt wur- ihrem eigenen Riesenreich mit den. Unser Reiseleiter entpupp- der „Umerziehung“ ihrer vielen te sich als Gesangstalent. Den Hundert Millionen Menschen meisten Tibetern liegt das Sin- begonnen, und diese Methode gen augenscheinlich im Blut. setzten sie nun auch in Tibet Ich bin überzeugt, dass nur ein. Zu diesem Zweck hatten wir Deutschen viel zu oft zu die Soldaten im Dorf Pang steif sind und sich vor der ein Zelt aufgestellt, in dem sie Peinlichkeit schämen, tiefsin- regelmäßig Versammlungen nige Volksmusik von sich zu abhielten. An denen mussten geben. Es waren traditionelle, nicht nur Dorfbewohner teilneh- melodiöse und doch moderne men, sondern auch die Mönche Lieder, die uns von Nyid Sesung und Nonnen, die in den entlegenen Tashi und Jyaldu Dro Sherten Klöstern und Einsiedeleien der Ber- entgegen strömten. Die Landschaft ge lebten. Also wanderte Mola ins Tal, war wunderbar, goldgelb die zahl- quetschte sich in die Menge und hörte zu, reichen Pappelhaine und die Berge hoben was die Chinesen vortrugen. Sie berichte- ihre braunen Flanken in den nicht enden ten von fürchterlichen Zuständen in der ti- u n d wollenden blauen Himmel. In diesen Au- betischen Gesellschaft, von ausgebeuteten mir mehr an den direkten Erfahrungen genblicken lebte der Mythos Tibet hell vor Bauern und bösen Großgrundbesitzern, mit Land und Leute gelegen ist; spätestens uns auf. Wir ließen die deutsch-tibetische von nichtsnutzigen Mönchen und raffgie- als wir vor unserer Übernachtung, einem Verbundenheit 4.300 Meter hoch leben, rigen Rinpoches. … Nachdem die Chinesen hässlichen Betonbunker in einem dunklen opferten für ein Campfeuer etliche getrock- mit ihrer Agitation fertig waren, mussten die Hinterhof, standen, war mir meine Be- nete Yakfladen und mit unseren tibetischen Dorfbewohner selbst sprechen. scheidenheit schnuppe. Den meisten aus Reisebegleitern einige Flaschen Lhasa-Bier. unserer Gruppe war in diesem Augen- Auch wenn der deutsche Rhythmus nicht Einen nach dem anderen holten die Soldaten blick klar, dass wir vor unserer tibetischen ganz stimmte und von hoher Textunsi- nach vorne aufs Podium und forderten auf, Reifeprüfung standen. Wir boykottierten cherheit begleitet war; „Die Gedanken sind „Selbstkritik“ zu üben. Die Dörfler sollten den tibetischen Starrsinn, den Buddhis- frei“ klang nie schöner als an jenem Abend ihren Lebenslauf erzählen und dabei alles mus und die Traditionen, beklagten unser in der Nähe des Klosters Reting. überlieferte Tibetische als feudalistisch und Schicksal und uns ausgiebig bei unserem alles Chinesische als richtig, fortschrittlich, Reiseleiter. Das Verhältnis zu unserem schön und eine glückliche Zukunft verhei- deutschen Reiseveranstalter hatte seinen Die ehemalige Festungsstadt Gyantse und ßend darstellen.“ In der Familiensaga „Ei- Tiefpunkt erreicht und sich – an dieser die Palkor-Klosteranlage am Nyang Chu senvogel“ reist die Schweizer Schauspielerin Stelle zugegeben – bis heute nicht erholt. boten nur noch ein bescheidenes Ab- Yangzon Brauen zurück zu ihren tibetischen Ich glaube, Timo kam damals ebenfalls zu bild früherer Zeiten. Die kleine Provinz- Wurzeln. Es ist die Vergangenheit ihrer Mut- der Ansicht, dass die Reiseleitung in Ti- stadt lebt irgendwo zwischen altem Glanz ter und Großmutter, die 1959 über den steilen bet nicht für einen praktizierenden Bud- und chinesischer Moderne. Die aus dem Gebirgszug des Himalaya nach Indien flie- dhisten wie ihn geschaffen wurde. Doch 14.Jahrhundert stammende Festung diente hen. Es ist die Geschichte Tibets in den letz- in den kommenden Wochen sollte er an in früheren Jahren der tibetischen Regie- ten einhundert Jahren und des Umbruchs, in den ständigen, nicht abnehmenden He- rung zur Kontrolle der Handelsroute nach 8

Lhasa. Während der blutigen Invasion tät seiner Einwohner geprägt worden. Das ber 1950 überquerten chinesische Truppen unter dem Engländer Francis Younghus- geheimnisvolle Land auf dem Dach der die tibetische Grenze. 1959 floh Tenzin band 1904 wurde die Anlage erobert. Mit Welt. Unerreichbar hinter dem höchsten Gyatso, der XIV. Dalai Lama, nach Indien. der Expedition Younghusbands zwang Gebirgskamm der Welt, verschlossen durch Hundertausende Tibeter folgten. In den das britische Königreich den Tibetern drei eine lebensbedrohliche Landschaft im Nor- Jahren der Kulturrevolution 1966 bis 1976 Handelsmissionen auf und etablierte einen den und Westen. Tibets frühe Jahrhunderte wurde Angst und Terror in ganz China britischen Stützpunkt in Lhasa. Der mäch- waren geprägt von Krieg und Glauben; im verbreitet, allein in Tibet wurden tausende tige Kumbum-Chörten, den Fürst Rabten 7.Jahrhundert leistete das chinesische Reich Tempel und Klöster niedergerissen, hun- Kunzang 1427 fertigstellen lies, gilt heute Tribut. Einzelne Fürstentümer bekämpften dertausende ermordet oder in Gefängnisse als eines der bedeutendsten Denkmäler ti- sich erbittert. Die Priester der alten Bön- gesteckt.1980 beschloss das Zentralkomi- betischer Kunst. Diese riesige begehbare Religion kämpften nach der Einführung tee der Kommunistischen Partei eine Li- Stupa, die „Stupa der 100.000 Buddha“, des Buddhismus um ihren früheren Ein- beralisierung in Tibet: Die Religionsausü- war unser erstes Ziel im Klosterkomplex. fluss und ihre gesellschaftlichen Stellungen. bung wurde wieder erlaubt, Besuche von Ein etwa 12jähriger Tibeter in einem en- Das Großreich Tibet zerfiel in viele kleine Angehörigen im Exil genehmigt und den gen Kassenhäuschen gewährte uns kri- Teilreiche und im 13.Jahrhundert in den Bauern und Nomaden wieder mehr wirt- tischen Blicks den Eintritt. Kora, Kora, Machtbereich der Mongolen. 1578 erhielt schaftliche Selbstständigkeit zugestanden. in der Zwischenzeit hatte sich bei uns die Sonam Gyatso vom Mongolenherrscher Umrundung heiliger Stätten im Uhrzei- Altun Khan als erster den Ehrentitel „Dalai Von den 6.000 tibetischen Klöstern über- gersinn eingeprägt. Fünf Etagen ging es Lama“ – Ozean der Weisheit. Seinen bei- standen nur 13 die Kulturrevolution ohne hinauf bis zur Plattform. Der Chörten hat den Vorgängern wurde der Titel posthum Zerstörung. Einige der zerstörten Anlagen einen Durchmesser von 108 Ellen und hat verliehen. Erst unter dem „Großen Fünf- werden seit den 1980er Jahren wieder müh- 108 Türen. ten“, Dalai Lama Lobsang Gyatso, wurde sam restauriert, Mönche und Nonnen sind Tibet um 1642 zu einer Theokratie. Macht in die etwa 250 Klöster wieder zurückge- Die Zahl 108 ist heilig im Buddhismus und und Religion lagen weiter in den Händen kehrt. Der sozialistische Mensch als solcher entspricht der Multiplikation von neun weniger. hat sich mit neuen Gefahren auseinander- Maßeinheiten mit zwölf Tierkreiszeichen, zusetzen. Religionsfreiheit mit Auflagen. also der Multiplikation von Raum und Tibet blieb bis 1950 ein feudal geprägtes Der Aufbau der Abteien erfolgt mühsam, Zeit. Der Aufstieg von einem Stockwerk Reich in selbstgewählter Isolation. Unter ehrenamtlich und mit spärlichen Mitteln. zum nächsten symbolisiert die rituelle dem XIII. Dalai Lama begannen erste Re- Es gibt einige Ausnahmen wie beim Potala, Umwandlung des Menschen bis zur Erlö- formen zur Modernisierung des Landes. bei denen öffentliche Mittel zur Verfügung sung. Die Klosteranlage von Gyantse ist Globalpolitische Prozesse warfen während gestellt werden. eine Besonderheit, da sich innerhalb ihrer der Jahrhundertwende ihre langen Schat- Mauern 18 unabhängige Klöster befinden, ten voraus: die Kolonialherrschaft des bri- Unsere Reise führte uns zu den wichtigsten die zu unterschiedlichen tibetischen Sek- tischen Empires in Indien, der Einmarsch Klöstern des Gelugpa-Ordens: Drepung ten gehören – Gelugpa, Sakapa, Shalupa, Younghusbands mit dem Ziel, russischen und Sera bei Lhasa, Ganden hoch oben in Brupgpa und Karmapa. Überhaupt Reli- Einflüssen zuvorzukommen, die Erkun- den Bergen. Wir machten unsere Kora um gion. Während unserer Reise standen die dung Tibets durch europäische Forscher Tashilumpo, den Sitz des Panchen Lama in Klöster Tibets im Mittelpunkt. Stark ist und Militärs und die Beanspruchung der Shigatse – den wir leider nicht antrafen – der Mythos Tibet auch von der Religiosi- Vorherrschaft durch China. Am 7.Okto- und sprachen mit Mönchen im arg herun-

Pilger in Sakya: Das festungsartig gebaute Kloster war lange Zeit das politische Unsere Zelte standen meistens in der Nähe kleiner Dörfer, bewacht von struppigen und kulturelle Zentrum Tibets. Auf mich wirken die grauen, blutrot unterstri- Hunden, die sich ständig balgten und mit ihrem wütenden Bellen die frei umherlau- chenen Farben düster und wenig einladend. fenden Yaks fernhielten. 9

tergekommenen Kloster Reting. Letzteres den ungewöhnlichen Be- lag mit seinen versteckten Einsiedeleien such neugierig anlachten. am Fuße eines uralten und wunderschönen Uns bot sich ein atem- Wacholderwaldes. Die Einsiedlerhöhlen beraubender Ausblick. von Yerpa aus dem 7.Jahrhundert erhielten Eine kleine Meditation ihre herausragende Bedeutung unter ande- verleiht doch Flügel. Wir ren durch den tibetischen König Songtsen hatten uns inzwischen Gampa und Padmasambhava, den Lotus- an den ranzigen Geruch geborenen. Verstreut und eng an den Fel- brennender Butterkerzen sen schmiegten sich die einzelnen Mönchs- gewöhnt, selbst Gebets- klausen in etwa 4.200 Meter Höhe. Für uns fahnen auf Passhöhen war es eine Herausforderung, von Klause aufgehangen und eifrig zu Klause zu ziehen. Die wenigen Meter Gebetsmühlen gedreht. hinauf zu den Höhlen verursachten im- Der liebe Gott meinte es Pilger am Jokhang-Tempel: Es heißt, dass man mit einer Umdrehung einer mer wieder leichte Atemnot und nahmen gut mit uns und belohnte Gebetsmühle (Manikhor) alle im Inneren der Mühle aufgedruckten Texte meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. uns mit nicht enden wol- gelesen hat. Bergauf, bergab führte der Weg. Tief unter lendem schönen Wetter. uns lag das weite Tal das am Horizont von Nur der verkehrten Kora im Kloster Sakya, gen, alten Kassettenrecordern, Basecaps schneebedeckten Bergen eingerahmt wur- dem 1073 gegründeten finsteren Haupt- und anderem Ramsch zahllose Mandalas, de. Es wurde Zeit für unsere erste Medi- kloster der Sakya-Sekte, schien ich meine wundervoll gearbeitete Gebetsmühlen und tation. Im Kloster Ganden liefen die Vor- spätere Grippe zu verdanken, die mich in Türkisketten angeboten. Wir nahmen uns bereitungen zur 600-Jahr-Feier auf vollen Kathmandu mit Fieber ins Hotelzimmer den Rest des Tages frei, erkundeten die Hochtouren. verbannte. Straßen und Gassen und entdeckten dabei zahllose Motorräder, Schulkinder in Uni- Der in 1960er Jahren zerstörte Komplex In Shigatse, der zweitgrößten Stadt Tibets, formen und andere sonderbare Gestalten. strahlte wieder sein blendendes Weiß in leben etwa 90.000 Menschen. Der Ort liegt Vom alten Markt aus lag die Festung nur den wolkenlosen Himmel, die Mönche des am Zusammenfluss von Nyangchu und einen Steinwurf entfernt. Von hier regier- Gelugpa-Ordens diskutierten die letzten Yarlung Tsangpo auf 3.840 Meter Höhe ten die Könige von Tsang bis ins 17.Jahr- heiligen Schriften und die chinesische Ar- und ist somit die höchstgelegene Stadt Ti- hundert große Teile Tibets. 1950 wurde mee fuhr uns in endlosen Kolonnen ent- bets. Das ehemalige Verwaltungszentrum die Festung bis auf ihre Grundmauern gegen. Am Kloster trafen wir auf unsere entwickelte sich am Fuße der alten Festung niedergerissen. 55 Jahre später begann der erste Himmelsbestattungsstätte. Heinrich Samdrubtse, die wie die meisten Befesti- Wiederaufbau mit Förderung aus Shang- Harrer schrieb 1947 über diese tibetische gungen Tibets nur Dzong genannt wurden. hai. Ganz fertiggestellt werden konnte die Zeremonie: „Die Leiche wurde in weiße Von Gyantse kommend, erreichten wir die Betonrekonstruktion jedoch nicht, da die Tücher gehüllt und von einem berufsmä- Stadt in den frühen Nach- ßigen Leichenträger auf dem Rücken fort- mittagsstunden. Breite getragen. Nicht weit außerhalb des Ortes, Straßen, gesäumt von mo- auf einem erhöhten Platz, der durch die dernen, viergeschossigen zahllos auffliegenden Geier und Krähen- Plattenbauten standen im schon von Ferne kenntlich war, zerhackte gleißenden Sonnenlicht einer der Männer mit einem Beil die Lei- Spalier. Überall wurde ge- che. Ein zweiter saß daneben, murmelte baut, standen Baumaschi- Gebete und setzte eine kleine Handtrom- nen am Weg und hupten mel in Bewegung. Der dritte Mann wehrte sich Fahrzeuge ihren Weg die gierigen Vögel ab und reichte von Zeit frei. Tibetische Frauen zu Zeit … Bier oder Tee zur Stärkung. schaufelten tiefe Gräben, Die Knochen wurden zerstampft, damit verlegten Wasserleitungen sie auch von den Vögeln verzehrt werden und Stromkabel. Mönche konnten.“ standen in ihren roten Tüchern am Grabenrand Das 4.500 Meter hoch gelegene Nonnen- und verfolgten die Arbei- kloster Tredum lag nur wenige Minuten von ten. Chinesisches Mili- unserem Zeltplatz in einer benachbarten tär patrouillierte auf den Schlucht. Bekannt durch seine heißen und Hauptstraßen und auf Besonders in den ländlichen Gegenden begegnen wir neugierigen Kindern. heilbringenden Schwefelquellen, trafen wir dem Markt wurden neben Das Leben meint es hart mit den Menschen und der chinesische Fortschritt 200 Meter höher auf einige Nonnen, die frisch geschlachteten Zie- ist auch im 50.Jahr der Besetzung nicht allen Tibetern gleich zugänglich. 10

Der Potala-Palast in Lhasa ist nicht nur Symbol der weltlichen und religiösen Macht des Dalai Lama und ein Meisterwerk tibetischer Baukunst, sondern auch zentraler Pilgerort aller bud- dhistischer Tibeter. Der rote Felshügel, der sich 130 Meter über Lhasas Zentrum erhebt, trägt die 400 Meter lange und bis zu 117 Meter hohe Anlage, 130.000 Quadratmeter Grundfläche und bis zu fünf Meter dicke Mauern. Nach den Jahren der Kulturrevolution leben im Potala heute wieder einige hundert Mönche. Der Besuch des inneren Heiligtums ist jedoch auf 60 kurze Minuten streng reglementiert und nur mit offizieller Führung erlaubt. 11 12

Spendengelder durch den chinesischen und mir blieben die wahren Wonnen ver- asphaltiert vor uns. Wir fuhren an kleinen Verantwortlichen veruntreut wurden. sagt. Wir fanden im „Tashi“ den Spagat Siedlungen vorbei, zerstörten Klöstern Doch die Anlage, die künftig als Museum zwischen einem modernen Restaurant und und Ruinen vergangener Schlachten. Am den Touristen geöffnet wird, war nicht un- tibetischer Tradition. Wegesrand, immer nur eine Haaresbreite ser Ziel. von den vorbeirasenden Fahrzeugen ent- Es war eine ungewöhnliche Erfahrung. fernt, waren Frauen mit Ausbesserungs- Wir waren auf der Suche nach einem tibe- Ständig standen wir kritisch unserer Reise- arbeiten tätig und boten Bauern ihre Wa- tischen Restaurant, hungrig auf Momos, route gegenüber. Wir vermuteten hinter al- ren feil. Die Feldarbeiten waren in vollem den gefüllten Teigtaschen, auf Tsam- len Erklärungen Lobsangs die chinesische Gange. Yaks zogen Holzpflüge durch den pasuppe, Nudeln und Fleisch. Die tibe- Einflussnahme und waren immer wieder braunen Boden, Getreide gedroschen und tischen Gerichte sind in manchen Fällen besorgt, ob wir nicht zu kritisch fragen Stroh gebündelt. Motorpflüge frischten gewöhnungsbedürftig, Fleischgerichte würden, gefährdeten wir doch so unseren immer wieder das mittelalterliche anmu- beinhalten nicht nur Filetstücke sondern jungen tibetischen Reiseleiter eher als es tende Bild auf. ganze Knochen und Speisen recht fad. unser Interesse befriedigt hätte. Irgendwie Der weitverbreitete Buttertee war für schien es eine Reise in die Vergangenheit, Im Süden leuchteten uns die schneebe- mich eine besondere Herausforderung, wieder hinter den eisernen Vorhang, der deckten Gipfel des Transhimalaya entge- galt es doch, nicht nur den ranzigen Ge- sich für die Hälfte unserer Reisegruppe vor gen. Vom Everest Hotel in Shelkar bra- ruch sondern auch erste Würgereflexe zu 20 Jahren geöffnet hatte. Ich fühlte mich chen wir vor dem Morgengrauen zum überwinden. Ein tibetisches Sprichwort plötzlich in der verkehrten Position und Chomolungma auf. Wir passierten mehrere besagt, dass sich der wahre Geschmack konnte doch als gelernter DDR-Bürger Kontrollstationen, bevor wir die staubige erst mit dem dritten Schälchen warmen die Besorgnis, Frust und Wut bei gleichzei- Schotterpiste zum Pang La hochfuhren. Buttertees erschließt. Das typischste aller tigem Arrangement nachvollziehen. Vom 5.150 Meter hoch gelegenen Pass la- tibetischen Getränke wird aus Yakmilch gen die strahlenden Gipfel des Mt.Makalu, hergestellt und gehört mit dem ständig Wir blieben zwei Nächte in Shigatse bevor Mt., Mt. Everest, Mt. Cho Oyu und getrunkenen Tee zu den Getränken, die wir weiter Richtung Shelkar aufbrachen. Mt. XiXiaBangMa erhaben und spektaku- immer und überall in Tibet zu erhalten Der Friendship Highway, Verbindungs- lär vor uns. Bis zum Basecamp lagen noch sind. Mit meinen zwei Versuchen war ich straße zwischen dem nepalesischen Kath- einige Stunden harter Fahrt vor uns. jedoch am Buttertee kläglich gescheitert mandu und Lhasa, lag hier breit und frisch Tibets Ökosysteme sind seit der chine- sischen Besatzung vielerorts gestört wor- den. Waren sich die Tibeter in den voran- gegangenen Jahrhunderten der sensiblen Natur auf dem Dach der Welt bewusst, so galt den Chinesen das Land als „Schatz- haus des Westens“, Xizang. Landschaften, Tiere und Pflanzen waren im Buddhismus verwurzelt, das ökologische Bewusstsein durch die Lehre der gegenseitigen Abhän- gigkeit aller Lebewesen und Dinge geprägt. Chinas Hunger bleibt unersättlich. Die Unzugänglichkeit des Landes erschwerte es lange Zeit, sich der der zahlreichen Rohstoffe zu bemächtigen. Die tibetischen Wälder wurden auf die Hälfte ihrer ur- sprünglichen Fläche dezimiert. Die Folge sind Erosionen und Überschwemmungen nach den starken Monsunregen. Auffor- stungsmaßnahmen durch die chinesische Regierung bleiben nahezu erfolglos. Auch die tibetische Fauna, darunter seltene Tier- arten wie Schneeleoparden, Wildyaks und Tibetantilope. Artenschutz gilt wenig im chinesischen Einflussbereich. Laut dem WWF gelten im Jahr 2009 141 Tierarten in Tibet als gefährdet. Seit Jahren weisen Tibetkenner auf die verheerenden Folgen 1902 erbaut, ist das Kloster Rongbuk das höchstgelegene der Welt und Versorgungsbasis für alle Everest-Touren. Früher wurden von hier die höher gelegenen Eremitagen versorgt, in denen die Mönche meditierten. 13

durch den Abbau der zahlreichen Boden- schätze hin. Die tibetischen Bodenschätze wie Uran, Gold, Kupfer, Zink, Eisenerz und Chrom werden auf umgerechnet 65 Milliarden Euro geschätzt. Insider berich- ten, dass der Einsatz umweltschädlicher Chemikalien zur Gewinnung der Erze dazu führt, dass aus der Umgebung von Abbauhalden immer wieder von neuar- tigen, teils tödlichen Krankheiten berichtet wird, wie z.B. Hautausschläge, Durchfall- und Atemwegserkrankungen. Besonders mit der Fertigstellung der Lhasa-Bahn wird der beschleunigte Ausverkauf des ehemals heiligen Landes verbunden. Einerseits wird die Besiedlung Tibets von Chinesen andererseits der Abtransport der wert- vollen Rohstoffe beschleunigt. Der Trans- port von chinesischem Militär ist schnel- ler möglich, die Bahnstationen fest in der Hand der Zentralregierung. Der Energie- 5.300 Meter - Everest Base Camp: Der höchste Gipfel der Welt ist die Verheißung für Abenteurer, Wagemutige hunger Chinas kann scheinbar nicht gestillt und Wahnsinnige. Der 8.848 meter hohe Berg erhielt seinen Namen vom britischen Landvermesser Sir George werden. Trotz des weltweit umstrittenen Everest, der die Postion erstmals 1841 kartierte. „Drei-Schluchten-Staudammes“ am Yang- zi, der auf Kosten der Umwelt und lokalen nen des Berges gekämpft hatte, wurde er teuerlich war die Piste querfeldein nach Bevölkerung erzwungen wurde, setzen die von einem Lama der Bön-Religion heraus- Tingri. Abseits der Hauptwege lagen ein- Planer in Peking auf ein ähnliches Konzept gefordert. Der Lama machte sich noch in zelne Siedlungen, deren Gehöfte sich flach am südlich von Lhasa gelegenen See Yam- der Nacht auf den Weg, getragen von sei- und grau an den kargen Boden drückten. drok Co. Unterstützung bei der Umsetzung ner magischen Trommel, der Lotusgebore- Yakfladen lagen zum Trocknen verstreut, erhalten die Chinesen durch deutsche und ne Padmasambhava erst bei Tagesanbruch. einzelne Windräder sorgten für den Strom österreichische Firmen. Er gewann den Wettlauf, weil er „auf einem und überall blitzten Parabolspiegel als Stuhl sitzend, von einem Lichtstrahl direkt Kochstelle in der gleißenden Herbstsonne. Die Zelte des Mt.Everest Basecamp wur- zum Gipfel gebracht wurde“ Nachdem er Vor Schmutz starrende Kinder sprengten den zwei Tage vor unserer Ankunft abge- eine Weile oben gewartet hatte, ließ er sei- winkend hinter den Lehmhütten hervor brochen, die Saison war vorbei. Ein kalter, nen Stuhl zurück und begann den Abstieg. und sahen den vorbeirauschenden Jeeps, stetiger Wind wehte uns auf 5.200 Metern Der Bön-Lama gab sich geschlagen und ließ die sie in eine staubige Wolke hüllten, lange vom Berg entgegen; ehrfurchtgebietend seine Trommel am Berg zurück. Bis heute nach. Wir fuhren am tiefen Ra Cha River lag der höchste Berg der Welt vor uns. Klar sind die Tibeter der Überzeugung, dass die vorbei, der sich an manchen Stellen einen zeichnete sich der Gebirgssattel mit den Geister die Trommel schlagen, wenn eine tiefen Canon gegraben hatte. Pfeifhasen „three pinnacles“ in den sauerstoffarmen Lawine zu Tale donnert. Vor jeder Bestei- versteckten sich in ihren Erdlöchern und Himmel. Dort oben lag die Todeszone des gung erfolgt daher eine Opferzeremonie, hinter der nächsten Flussbiegung mussten Everest. Seit den Tagen des George Mal- die Puja. Das Opfer der Puja ist zwingend wir vor einer Herde Yaks in die Vollbrem- lory und Edmund Hillary hatte sich viel für den Seelenfrieden der Sherpas unab- sung gehen. Nomaden waren auf dem geändert. Der Berg wurde zum Synonym dingbar und für die Berggötter notwendig, Weg in ihr Winterquartier. In der Fernfah- überzogener Ansprüche, die Verheißung um sie nicht zu zürnen. rerstadt Tingri stießen wir wieder auf den für Abenteurer und Wagemutige, Amateure Friendship Highway. Von weitem grüßte und suizidgefährdete Touristen. Für die Ti- Ich schlichtete einen kleinen Steinhaufen der Chomolungma zum letzten Mal, bevor beter ist der heilige Berg Kailash indessen neben die vielen anderen, dachte an die er hinter der nächsten Kurve unseren Bli- das wichtigste Ziel gläubiger Buddhisten. vielen Schicksale am Berg und ging zurück cken entschwand. Vom 5.030 Meter hohen Lobsang war dennoch stolz, als er mir er- zum Jeep. Es waren unsere letzten Stun- Lalung La Pass wehten die letzten Gebets- zählte, im kommenden Jahr den Gipfel des den auf dem Dach der Welt. Im Kloster fahnen vor der nepalesischen Grenze, da- Everest mit seinem amerikanischen Freund Rongpu, dem mit 5.100 Metern höchstge- nach ging es nur noch bergab. Ich tauschte erobern zu wollen. Der Legende nach ver- legenen und von einigen Mönchen wieder mit Lobsang die letzten Erkenntnisse über anstaltete Padmasambhava einen Wettlauf besiedelten Kloster, schlürften wir eine Demokratie und Kommunismus und ließ zum Gipfel. Nachdem er einige Zeit auf dünne Nudelsuppe, bevor wir uns wieder ihn im Grenzort Zhangmu zurück. Nepal dem Gipfel meditiert und mit den Dämo- auf den Weg machten. Staubig und aben- empfing uns heiß und schwül. www.Reportagereisen.de

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