69. Jahrgang, 24–26/2019, 11. Juni 2019

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Datenökonomie

Shoshana Zuboff Rupprecht Podszun SURVEILLANCE CAPITALISM – KARTELLRECHT ÜBERWACHUNGS­ IN DER DATENÖKONOMIE KAPITALISMUS Ingrid Schneider Michael Seemann REGULIERUNGSANSÄTZE EINE BEUNRUHIGENDE IN DER DATENÖKONOMIE FRAGE AN DEN DIGITALEN Wolfie Christl KAPITALISMUS MICROTARGETING. Markus Spiekermann PERSÖNLICHE DATEN CHANCEN UND ALS POLITISCHE WÄHRUNG HERAUS­FORDERUNGEN Jörn Lamla IN DER DATENÖKONOMIE SELBSTBESTIMMUNG Dirk Heckmann UND VEBRAUCHERSCHUTZ DATENVERWERTUNG IN DER DATENÖKONOMIE UND DATENETHIK

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Datenökonomie APuZ 24–26/2019

SHOSHANA ZUBOFF RUPPRECHT PODSZUN SURVEILLANCE CAPITALISM – KARTELLRECHT IN DER DATENÖKONOMIE ÜBERWACHUNGSKAPITALISMUS Die Digitalisierung hat die Marktwirtschaft nicht Überwachungskapitalisten wissen alles über uns. nur durch neue Produkte oder Dienstleistungen Es genügt ihnen jedoch nicht länger, den Infor- bereichert, sondern ihre Strukturen grundlegend mationsfluss über uns zu automatisieren, das Ziel verändert. Das Kartellrecht steht damit vor besteht nun darin, uns zu automatisieren. Doch ungekannten Phänomenen. diese Entwicklung ist nicht unvermeidbar. Seite 28–34 Seite 04–09

INGRID SCHNEIDER MICHAEL SEEMANN REGULIERUNGSANSÄTZE EINE BEUNRUHIGENDE FRAGE IN DER DATENÖKONOMIE AN DEN DIGITALEN KAPITALISMUS Wie lässt sich eine Brücke zwischen regulierter Wie verhält es sich im Digitalen mit den kommerzieller Datennutzung und Gemeinwohl gängigen Kapitalismuskriterien Kapital, Arbeit, schlagen? Sollten Daten dafür eher als privates Markt, Eigentum und Wachstum? Handelt es Gut, öffentliches Gut, Allmendegut oder mittels sich überhaupt noch um Kapitalismus? Und Treuhandschaft bewirtschaftet werden? wenn nicht, um was handelt es sich dann? Seite 35–41 Seite 10–15

WOLFIE CHRISTL MARKUS SPIEKERMANN MICROTARGETING. PERSÖNLICHE DATEN CHANCEN UND HERAUSFORDERUNGEN ALS POLITISCHE WÄHRUNG IN DER DATENÖKONOMIE Parteien nutzen umfassende Daten über Wäh- Die Datenrevolution ist in vollem Gange und lerinnen und Wähler für politische Kampagnen, verändert unser aller Leben. Die gewaltigen insbesondere im Online-Bereich. Welche Rolle wirtschaftlichen Potenziale der Datenökonomie spielen und Klick-Ökonomie? Und was werden jedoch vor allem in Deutschland bei bedeutet das für Öffentlichkeit und Demokratie? Weitem noch nicht ausgeschöpft. Seite 42–48 Seite 16–21

JÖRN LAMLA DIRK HECKMANN SELBSTBESTIMMUNG UND VERBRAUCHER­ DATENVERWERTUNG UND DATENETHIK SCHUTZ IN DER DATENÖKONOMIE Wieviel Schutz brauchen personenbezogene Selbstbestimmung wird in der Datenökonomie Daten in der Datenökonomie, wie sehr zu einer Herausforderung. Wir sollten in die „schadet“ der Datenschutz den (redlichen) Lage versetzt werden, kritisch prüfen zu können, Geschäftsmodellen in der Digitalwirtschaft, die welche Werte in die Entscheidungsarchitekturen auf die Verwertung von Daten angewiesen sind? digitaler Infrastrukturen eingeschrieben sind. Seite 22–27 Seite 49–54 EDITORIAL

Daten sind heute ein wichtiges Wirtschaftsgut; manche bezeichnen sie gar als „Öl des 21. Jahrhunderts“. Die vielfältigen Möglichkeiten, sie in digitaler Form massenhaft zu sammeln, zu verknüpfen, auszuwerten und weiterzuverarbeiten, eröffnen Perspektiven für neue Geschäftsmodelle und enorme Potenziale für wirtschaftliche Gewinnschöpfung. Davon zeugen nicht nur die Erfolgsgeschich- ten von „Internetgiganten“ wie Google und Facebook, sondern auch die vielen „Disruptionsgeschichten“ sogenannter Plattformunternehmen wie Uber, Airbnb oder Netflix, die in kürzester Zeit ganze Branchen umgekrempelt haben. Die Datenökonomie birgt aber auch weniger spektakuläre Beispiele für datengetrie- bene Innovation, etwa in der Logistik oder Landwirtschaft. Digitale Dienste erleichtern uns in vielerlei Hinsicht das tägliche Leben; überdies sind sie erschwinglich, häufig sogar „kostenlos“. Sie sind zu einer Art Infrastruktur geworden: Wer möchte noch auf Karten-, Wetter-, Chat- oder Video-Apps ver- zichten? Tatsächlich „zahlen“ wir viele dieser Annehmlichkeiten aber mit unseren persönlichen Daten, die mit den Daten der anderen Userinnen und User einen Schatz bilden, den die entsprechenden Unternehmen höchst profitabel auszunut- zen wissen. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wem welche Daten „gehören“ (sollten) – und ob Daten als immaterielle und unendlich vervielfältigbare Güter überhaupt eigentumsfähig sind. Wie ließe sich ihr Wert bestimmen? Neben diesen ökonomischen Aspekten gewinnen Fragen nach dem per- sönlichen Datenschutz, nach der Wahrung der Privatsphäre und letztlich der individuellen Selbstbestimmung an Dringlichkeit, zumal sich Datensammlungen auch politisch instrumentalisieren lassen. Die Europäische Datenschutzgrund- verordnung (DSGVO), die Ende Mai 2018 Geltung erlangte, war mit Blick auf personenbezogene Daten ein wichtiger Schritt. Um Datenverwertung und Datenschutz langfristig in Einklang zu bringen, bedarf es jedoch weiterer, inter- national abgestimmter Schritte – sowie aufgeklärter Bürgerinnen und Bürger.

Johannes Piepenbrink

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ESSAY SURVEILLANCE CAPITALISM – ÜBERWACHUNGSKAPITALISMUS Shoshana Zuboff

Ich wende mich hier und heute nicht nur als Den- ne Auswirkungen hier – seine Ziele wie seine Fol- kerin, Wissenschaftlerin und Autorin an Sie, son- gen sind wir. dern auch als Staatsbürgerin und – nicht zuletzt – Die Zukunft, die der Überwachungskapitalis- auch als Mutter. Über die vergangenen beiden mus für uns bereithält, kommt auf leisen Sohlen. Jahrzehnte habe ich die Entstehung und Ausbrei- Wie die flüsternde Schlange im Garten Eden be- tung einer beispiellosen Mutation des Kapitalis- dient er sich unseres Sehnens nach Befreiung von mus beobachtet, die ich als „Überwachungska- Anonymität, Stress, Ungleichheit und institutio- pitalismus“ bezeichne. Und ich mache kein Hehl neller Gleichgültigkeit. Seine Perspektive ist die aus meiner Besorgnis hinsichtlich seiner Auswir- der verlockenden ersten Person; in der Sprache von kungen für unsere Ökonomien, für die Aussich- „Selbst-Ermächtigung“, „Personalisierung“ und ten von Marktdemokratie und Privatsphäre, ja „Bequemlichkeit“ versichert er uns, Hilfe sei be- hinsichtlich seiner Bedeutung für die Zukunft des reits unterwegs. Lassen Sie mich Ihnen jedoch eines Kapitalismus selbst. sagen, meine Freunde: Hilfe ist mitnichten unter- In sieben Jahren eingehender Beschäftigung wegs – aber wir. Und zwar unterwegs zu einem um- mit dem Phänomen bin ich zu der Überzeugung fassenden Verständnis des Überwachungskapitalis- gelangt, dass die Folgen des Überwachungska- mus und seiner Gefahren. Ich habe beträchtliche pitalismus weit hinausreichen über die traditi- Zeit auf die Benennung des Phänomens verwandt, onellen Domänen des Kapitalismus und seiner weil ich weiß, eine solche ist der erste Schritt, diese Ökonomien. Die tiefere Wahrheit ist, dass er die aus dem Ruder gelaufene Spielart des Kapitalismus Gesellschaft des 21. Jahrhunderts auf eine eben- an die Kandare zu nehmen, ihr Einhalt zu gebieten, so menschen- wie demokratiefeindliche Art und ja sie sogar für rechtswidrig zu erklären zugunsten Weise umwälzen wird – und das allein um des fi- der Werte und Freiheiten, die es braucht, um die nanziellen Gewinns aus der Überwachung willen. Autonomie des Einzelnen und die demokratische So entstehen die größten Gefahren aus den über- Perspektive für unsere Familien und künftige Gene- wachungskapitalistischen Ambitionen denn auch rationen zu hegen, zu verteidigen und zu schützen. unseren Kindern, die schon jetzt – sozusagen als Mein neues Buch, „Das Zeitalter des Über- Vorhut – dieses neue Terrain durchstreifen. wachungskapitalismus“, 01 beschäftigt sich mit Tobten die Titanenkämpfe des 20. Jahrhun- drei Themenkreisen: erstens mit den grundlegen- derts zwischen Industriekapital und Arbeiter- den Mechanismen und ökonomischen Imperati- schaft, steht im 21. Jahrhundert das Überwa- ven des Überwachungskapitalismus; zweitens mit chungskapital der Gesamtheit unserer Gesellschaft der beispiellosen, von diesen ökonomischen Im- gegenüber, bis hinab zur und zum letzten Einzel- perativen angestoßenen Machtform; und drittens nen. Der Wettbewerb um Überwachungserträge mit den Implikationen beider für die Gesellschaft zielt auf unsere Körper, unsere Kinder, unsere Zu- des 21. Jahrhunderts. Lassen Sie mich hier mit der hause, unsere Städte und fordert so in einer gewal- Frage beginnen: „Was ist Überwachungskapita- tigen Schlacht um Macht und Profit die mensch- lismus?“ So kurz ich mich notwendigerweise fas- liche Autonomie und demokratische Souveränität sen muss, hoffe ich doch, mit meinen Gedanken heraus. Wir dürfen uns den Überwachungskapi- einen neuen Diskurs anzustoßen und dass so ei- talismus nicht als etwas „irgendwo da draußen“, nige von uns neue Wege zur gemeinsamen Arbeit in den Fabriken und Büros einer vergangenen an einer digitalen Zukunft finden, die wir als Zu- Ära vorstellen. Vielmehr sind seine Ziele wie sei- hause bezeichnen können.

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WAS IST tektur zugänglich ist oder künftig zugänglich sein ÜBERWACHUNGSKAPITALISMUS? wird. Ich habe dieser Architektur den Namen Big Other ­gegeben. Seit Langem schon sind wir uns einig über die In dieser digitalen Umklammerung wird jedes Entwicklungsmechanismen des Kapitalismus – „smarte“ Gerät, jedes Interface, jeder Touchpoint dass er außerhalb der Marktdynamik Existieren- zum Knotenpunkt eines unermesslichen Nach- des in Beschlag nimmt und in ein Marktgut ver- schubnetzes, das einzig dem Aufspüren, Verfol- wandelt. Der Historiker Karl Polanyi sah 1944 gen, Herbeiführen und Extrahieren von weiterem in seiner grandiosen Abhandlung „The Great Verhaltensüberschuss dient. Triebfeder dieser Transformation“ die Ursprünge einer sich selbst Jagd ist ein ganz neues, vom Wettbewerb be- regulierenden Marktwirtschaft in drei ebenso stimmtes Ringen. In einer Welt allzeit verfügba- erstaunlichen wie kritischen Erfindungen, die rer Produkte und Dienstleistungen wenden sich er als „Warenfiktionen“ bezeichnete. Die erste heute Unternehmen dem Verhaltensüberschuss davon war, dass unser Menschenleben sich der als lang ersehnte Erfolgsroute zu höheren Gewin- Marktdynamik unterordnen und – als „Arbeit“ nen zu. Ergebnis dieser Entwicklung sind ganze wiedergeboren – kaufen beziehungsweise ver- Ökosysteme von Verhaltensüberschusslieferan- kaufen lässt. Die zweite war, dass Natur sich – ten, da Unternehmen aller Sektoren Mittel und als „Land“ oder „Grundbesitz“ wiedergeboren Wege suchen, von dieser universellen Enteignung – auf den Markt „bringen“ lässt. Die dritte be- privater Erfahrung zu profitieren. stand darin, dass Austausch als „Geld“ wieder- In diesen wachsenden Beständen von prop- geboren werden kann. Das Zeitalter des Über- rietärem Verhaltensüberschuss finden Sie Ihre wachungskapitalismus hat seinen Ursprung in Tränen, Ihre zornige Miene, die Geheimnisse, einer gar noch verblüffenderen und kühneren die Ihre Kinder mit ihren Puppen teilen, unsere Erfindung: Er erklärt Erfahrungen von Privat- Frühstücksunterhaltung, unsere Schlafgewohn- menschen zum kostenlosen Rohstoff für Pro- heiten, den Lärmpegel in unserem Wohnzimmer, duktion und Verkauf. die Anordnung der Möbel darin, Ihre zerschlis- Ist menschliche Erfahrung erst einmal für den senen Joggingschuhe, Ihr Zögern beim Anblick Markt beansprucht, wird sie zur Berechnung in eines Pullovers auf einem Ladentisch und die Verhaltensdaten übertragen und analysiert. Und Ausrufezeichen in Facebook-Postings, die man auch wenn ein Teil dieser Daten der Verbesse- früher einmal völlig arglos und voll Hoffnung rung von Produkten oder Dienstleistungen die- in die digitale Entwicklung schrieb. Diese neuen nen mag, der Rest wird zum proprietären „Ver- Versorgungsketten sind der Nachschubweg für haltensüberschuss“ (behavioral surplus) erklärt. ein neues „Produktionsmittel“, das uns als „Ma- Dieser Überschuss umfasst Daten von erhebli- schinenintelligenz“ bekannt ist. Hierbei handelt chem Vorhersagewert, die weit über alles hinaus- es sich um New-Age-Fabriken, in denen Verhal- gehen, was man zur Verbesserung eines Produkts tensüberschuss zu etwas verarbeitet wird, was oder einer Dienstleistung braucht. Seien Sie sich ich als „Vorhersageprodukte“ (prediction pro- darüber im Klaren: Wenn von aus menschlicher ducts) bezeichne: Kalkulationen, die ahnen, was Erfahrung extrahiertem Verhaltensüberschuss die wir jetzt, bald oder irgendwann tun. Diese Vor- Rede ist, bleibt nichts ausgenommen. Ihren Ur- hersageprodukte werden schließlich in rasantem sprung hatten diese Operationen in dem Verhal- Tempo vom Marktleben absorbiert und in eigens tensüberschuss, der aus unserem Online-Verhal- für Vorhaltensvorhersagen konstituierten Märk- ten – Browsing, Suche, Social Media – gewonnen ten gehandelt, die ich „Verhaltensterminkon­ ­ wurde, sie erfassen heute jedoch jede Bewegung, trakt­märkte“ (behavioral futures markets) nenne. jedes Gespräch, jeden Gesichtsausdruck, jeden Aufgrund der Zahl der Unternehmen, die darauf Laut, jeden Text, jedes Bild, das der ubiquitären, aus sind, Wetten auf unser künftiges Verhalten rund um die Uhr arbeitenden Extraktionsarchi- abzuschließen, haben Überwachungskapitalisten es mittels dieser Handelsoperationen zu immen- sem Reichtum gebracht. 01 Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power, New York Vergessen Sie das Klischee „Wenn es nichts 2019 (deutsche Ausgabe: Das Zeitalter des Überwachungskapita- kostet, bist Du das Produkt“. Sie sind mitnich- lismus, Frank­furt/M.–New York 2018). ten das Produkt, sondern lediglich die kostenlose

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Quelle für den Rohstoff, der zu marktfähigen Pro- durch sich bestimmte Werbung bestimmten Nut- dukten verarbeitet wird. Ich muss dabei an Ele- zern zuordnen lässt. Ersonnen und erstmals ein- fanten denken, die majestätischsten aller Säugetie- gesetzt wurden diese neuen Methoden zwischen re: Überwachungskapitalisten sind Wilderer; sie 2001 und 2004, und das unter strengster Geheim- schlagen Profit aus unserem Verhalten und lassen haltung. Erst als Google 2004 an die Börse ging, die Bedeutung, die unseren Körpern, unseren Ge- erfuhr die Welt, dass die Einkünfte des Konzerns hirnen, unseren schlagenden Herzen innewohnt, während dieses Zeitraums um 3590 Prozent ge- achtlos liegen, was eine gewisse Ähnlichkeit mit stiegen waren. dem monströsen Abschlachten von Elefanten um Heute ist klar, dass dieser neue Einsatz von des Elfenbeins willen hat. Nein, Sie sind nicht das Verhaltensdaten ein historischer Wendepunkt Produkt; Sie sind der zurückgelassene Kadaver. war. Das behavioral surplus hat sich in seiner Ei- Das „Produkt“ zieht man aus dem Verhaltens- genschaft als kostenloser Aktivposten, der sich überschuss, den man Ihrem Leben entreißt. über die Verbesserung der Dienstleistung hinaus selbst zum Austausch auf dem Markt einsetzen URSPRÜNGE lässt, als bahnbrechend erwiesen. Es geht dabei freilich nicht um einen Austausch mit dem Nut- Der Überwachungskapitalismus ist Menschen- zer, sondern vielmehr mit anderen Unternehmen, werk; er lebt im historischen Kontext; er ist keine die dahintergekommen sind, wie mit der nahezu technologische Unvermeidbarkeit. Der Überwa- risikolosen Wette auf das künftige Verhalten ei- chungskapitalismus wurde im Trial-and-Error- nes Nutzers Geld zu verdienen ist. Mit der Ma- Verfahren bei Google erprobt und entwickelt nagerin Sheryl Sandberg migrierte der Überwa- – so wie bei Ford seinerzeit die Massenproduk- chungskapitalismus von Google zu Facebook tion oder der Management-Kapitalismus bei Ge- und entwickelte sich danach rasch zum Standard- neral Motors. Ersonnen hat man ihn als Lösung modell des Informationskapitalismus für nahezu für Googles finanzielle Notlage nach dem Plat- jedes Internetunternehmen, jedes Startup, ja jede zen der Dotcom-Blase 2000, als das Vertrauen der App. Wie eine invasive Spezies ohne natürliche Investoren in das junge Unternehmen zu schwin- Feinde bemächtigte er sich kraft seiner finanzi- den begann. Unter dem wachsendem Druck der ellen Tüchtigkeit der vernetzten Sphäre und ent- Geldgeber entschloss sich die Google-Führung stellte damit den Traum von der digitalen Tech- seinerzeit, zur Steigerung der Werbeeinnahmen nologie als befähigende, emanzipatorische Kraft den exklusiven Zugang zu den Datenlogs seiner aufs Entsetzlichste. Nutzerinnen und Nutzer in Kombination mit Waren in der ersten Phase Online-Werber die der damals schon erheblichen Rechenleistung dominanten Player der neuen Verhaltenstermin- und den analytischen Fähigkeiten zu nutzen, um kontraktmärkte, beschränkt sich der Überwa- daraus Vorhersagen über Klickraten zu erstellen, chungskapitalismus inzwischen ebenso wenig auf aus denen sich die Relevanz eingeblendeter Wer- die zielgerichtete Online-Werbung, wie die Mas- bung erschließt. Operativ bedeutete dies, dass senproduktion auf Fords Model T beschränkt Google seinen wachsenden Bestand an Verhal- blieb. Heute kann jeder an der Monetarisierung tensdaten als behavioral surplus einer neuen Ver- wahrscheinlichkeitstheoretischer Informationen wendung zuführte und gleichzeitig Methoden über unser Verhalten Interessierte mit dem nöti- entwickelte, sich aggressiv nach neuen Quellen gen Kleingeld auf einer ganzen Reihe von Verhal- für Verhaltensüberschuss umzusehen. tensterminkontraktmärkten mit unserem künfti- Googles eigenen Wissenschaftlern zufolge gen Verhalten spekulieren. entwickelte das Unternehmen neue Methoden der Überschussgewinnung, durch die sich Daten ENTWICKLUNG aufspüren lassen, die Nutzer eigentlich bewusst für sich behalten wollen und die darüber hinaus Während es unmöglich ist, sich den Überwa- weitreichende Schlüsse auf persönliche Informa- chungskapitalismus ohne das Digitale vorzustel- tionen ermöglichen, die Nutzer – bewusst oder len, ist die Vorstellung des Digitalen ohne Über- unbewusst – nicht zur Verfügung stellen. Die- wachungskapitalismus überhaupt kein Problem. ser zusätzliche Überschuss wird anschließend Man kann es gar nicht genug betonen: Überwa- auf vorhersagekräftige Muster analysiert, wo- chungskapitalismus ist nicht gleich Technologie.

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Digitale Technologien können viele Formen an- vorhersagekräftigeren Quellen für Verhaltens- nehmen und auf vielerlei Arten wirken, je nach überschuss umzusehen. Ich nenne das den „Vor- der gesellschaftlichen und ökonomischen Logik, hersageimperativ“ (prediction imperative). Dieser die sie zum Leben erweckt. Der Überwachungs- verlangt sowohl Größenvorteile als auch Diver- kapitalismus baut auf Algorithmen und Sensoren, sifikationsvorteile (economies of scope): Maschi- Maschinenintelligenz und Plattformen, aber er ist nenlernen bedarf über das Volumen hinaus auch nicht mit diesen gleichzusetzen. Ein Röntgenbild der Datendiversität, was die notwendigen Nach- zeigt Knochen und Muskeln, nicht aber das wei- schuboperationen zum einen in die Offline-Welt che Gewebe, das sie miteinander verbindet. Tech- treibt – das, was wir als Realität bezeichnen –, nologie entspricht in unserem Fall den Knochen zum anderen aber auch tiefer in unsere intime Er- und Muskeln, der Überwachungskapitalismus fahrungswelt: unsere Stimmen, Gesichter, Per- jedoch ist das weiche Gewebe, das die Elemen- sönlichkeiten und Emotionen. te miteinander verbindet und sie agieren lässt. Er Mit zunehmender Wettbewerbsdynamik rei- ist der Schatten, der über das Digitale fällt, die chen schließlich auch Diversifikationsvorteile verborgene Variable, die erklärt, wie diese einst nicht mehr aus. Überwachungskapitalisten stel- emanzipatorische Plattform Menschen und Ge- len fest, dass man den vorhersagekräftigsten Ver- sellschaft in den Rohstoff für anderer Leute wirt- haltensüberschuss durch das zielgerichtete Ein- schaftlichen Profit verwandelt hat. greifen in den Stand der Dinge erhält, indem man So wie der Überwachungskapitalismus nicht Verhalten aktiv in Richtung profitabler Ergebnis- mit Technologie gleichzusetzen ist, hat man ihn se stupst, lockt, treibt. Der Gedanke dahinter ist sich auch nicht länger auf einzelne Unternehmen längst nicht mehr, alles über unser Verhalten in oder nur auf den Internetsektor beschränkt vor- Erfahrung zu bringen; vielmehr geht es darum, zustellen. Der Überwachungskapitalismus hat es in Richtung eines garantierten kommerziel- sich auf nahezu alle Bereiche wirtschaftlicher Ak- len Erfolgs zu manipulieren. Dieser neue Grad tivität ausgebreitet – Versicherungen, Gesund- an Wettbewerbsintensität führt zu etwas, was ich heitssektor, Einzelhandel, Unterhaltung, Trans- als „Handlungsvorteile“ (economies of action) be- port, Bildung, um nur eine Handvoll zu nennen zeichne. Es genügt nicht länger, den Informati- – und umfasst ein breites Spektrum von Pro- onsfluss über uns zu automatisieren, das Ziel be- dukten und Dienstleistungen. Was 2001 als Lö- steht nun darin, uns zu automatisieren. sung für einen finanziellen Notstand begann, ist In dieser Phase sind die Produktionsmittel heute eine blühende, auf Überwachung gegrün- zunehmend komplexen und umfassenden „Ver- dete Wirtschaftsordnung: eine Überwachungs- haltensmodifikationsmitteln“ (means of behavio- wirtschaft. So können wir zu unseren Lebzeiten ral modification) untergeordnet. Und hier kommt beobachten, wie der Kapitalismus sich verändert: Big Other ins Spiel, eine nahtlose Umgebung Zunächst ging es um Profite aus Produkten, dann psychologischer Verstärkung, die das Verhalten aus Dienstleistungen, schließlich aus Spekulatio- von Einzelnen, Gruppen, ja ganzen Bevölkerun- nen und jetzt um Profite aus der Überwachung. gen ausformen soll. Das Design dieser Prozes- Die Anhäufung von Verhaltensüberschuss ist se sorgt mit akribischer Sorgfalt für Unwissen- der Hauptantrieb, um den herum sich die Wett- heit beziehungsweise Ahnungslosigkeit, indem bewerbsdynamik des Überwachungskapitalis- es das Bewusstsein des Einzelnen umgeht, um mus kristallisiert hat. Und hier fangen wir an, jede Möglichkeit zur Selbstbestimmung zu eli- einige seiner bestürzenden Imperative zu verste- minieren. Ein Datenwissenschaftler erklärte mir hen. Alles beginnt mit Größenvorteilen (econo- das folgendermaßen: „Wir können den Kontext mies of scale); sie definieren, was ich den „Extrak­ um ein bestimmtes Verhalten herum konstruieren tionsimperativ“ (extraction imperative) nenne. und so eine Veränderung erzwingen … Wir ler- Maschinenlernen erfordert Volumen, und die nen, die Musik zu schreiben, und sorgen dann da- Qualität seiner Ergebnisse verbessert sich ste- für, dass sie die Leute zum Tanzen bringt.“ tig mit der Bewegung in Richtung Totalität. Mit Beispiele dafür finden sich überall. In mei- zunehmender Intensität des Wettbewerbs um nem Buch beschreibe ich, wie arglose Pokémon- Vorhersageprodukte wird jedoch klar, dass Vo- Go-Spieler zum Essen, Trinken und Einkaufen lumen allein nicht genügt. So sehen sich Überwa- sanft zusammengetrieben werden in den Restau- chungskapitalisten gezwungen, sich nach immer rants, Bars, Imbissstuben und Geschäften, die für

07 APuZ 24–26/2019 die Mitwirkung auf den Verhaltensterminkont- te Erfahrung anzueignen und unser Verhalten raktmärkten bezahlen. Ich schildere die skrupel- zu manipulieren, tun die meisten Menschen sich lose Enteignung von Verhaltensüberschuss aus schwer, sich dem Griff des Überwachungskapita- Facebook-Profilen zur Einflussnahme auf indivi- lismus zu entziehen, und so mancher überlegt, ob duelles Verhalten – vom durch soziale Angst aus- es überhaupt möglich ist. In meinem Buch führe gelösten Kauf einer Antipickelsalbe am Freitag um ich die Gründe dafür aus, warum dem so ist; ich 17.45 Uhr über den Klick auf ein „Ja“ zum Kauf beschränke mich hier auf das Folgende: In erster neuer Sportschuhe im Endorphinrausch nach dem Linie hat der Überwachungskapitalismus Erfolg, langen Sonntagmorgenlauf bis hin zur Stimmabga- weil er uns schlicht keine Wahl lässt; Abhängig- be bei der nächsten Wahl als Resultat sozialer Ver- keit und „No Exit“ sind die Dreh- und Angel- gleichsdynamiken, die das Unternehmen raffiniert punkte seines Erfolgs. ausgetüftelt hat. Dass Verhaltensmodifikation zum Wir sehen uns in der Falle einer ungewoll- kommerziellen Imperativ geworden ist, räumt ten Fusion persönlicher Bedürfnisse und ökono- endgültig mit der Illusion auf, dass der vernetzten mischer Enteignung. Die Kanäle, auf die wir uns Form so etwas wie eine immanente Moral eigen hinsichtlich sozialer Interaktion, Arbeit, Bildung, sei – dass „verbunden“ zu sein doch vom Wesen Gesundheit, Zugang zu Produkten und Dienst- her prosozial und integrativ sein müsse oder von leistungen und vielem anderem mehr angewie- Natur aus zur Demokratisierung von Wissen nei- sen sehen, dienen gleichzeitig als Lieferketten für ge. Stattdessen nützt man digitales Verbundensein die Überschussströme des Überwachungskapita- heute schamlos für anderer Leute Marktziele aus. lismus. Das Resultat ist, dass eine effektive Teil- Diese Macht, Verhalten zum Profit Dritter zu nahme am Sozialleben über die Verhaltensmodi- manipulieren, ist ganz und gar selbstverliehen. fikationsmittel geschieht, was zwangsläufig die Sie entbehrt jeglicher demokratischer oder mo- Entscheidungsmechanismen aushöhlt, die einst ralischer Legitimation; insofern werden durch sie eins mit dem Privaten waren: Ausstieg, Wider- Entscheidungsrechte usurpiert und Prozesse in- spruch und Loyalität (exit, voice, and loyalty). Es dividueller Autonomie untergraben, die für das gibt schlicht keine Möglichkeit, sich Prozessen Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft zu entziehen, die bewusst so gehalten sind, dass unabdingbar sind. Die Message hier ist einfach: sie das individuelle Bewusstsein umgehen und für Once I was mine. Now I am theirs. Ahnungslosigkeit sorgen, zumal wenn es sich da- bei um eben die Prozesse handelt, auf die wir zum WIE KOMMEN „DIE“ Bestehen unseres Alltags angewiesen sind. Über DAMIT DURCH? die fehlende Möglichkeit des Ausstiegs hinaus fehlt es dem Widerspruch an signifikanten Kanä- Folge dieser Entwicklung ist, dass der Überwa- len, und Loyalität ist nur mehr ein leeres Wort. chungskapitalismus für ganz neue Formen sozi- Teilnahme definiert sich damit eher durch Not- aler Ungleichheit sorgt. Er operiert mittels bei- wendigkeit, Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Resig- spielloser Asymmetrien an Wissen und daraus nation, fehlende Alternativen und erzwungene erwachsender Macht. Überwachungskapitalisten Unwissenheit. wissen alles über uns; ihre Aktivitäten sind jedoch Die Abhängigkeit der Nutzerinnen und Nut- so angelegt, dass sie für uns nicht erkennbar sind. zer entspricht somit dem klassischen faustischen Sie häufen immense Domänen neuen Wissens Pakt, bei dem unser gefühltes Bedürfnis nach ei- über uns an, nur dass dieses Wissen nicht für uns nem effektiven Leben mit der Neigung ringt, den ist; es dient zwar der Vorhersage unserer Zukunft, kühnen Übergriffen des Überwachungskapita- nur eben für anderer Leute Profit. Solange es den lismus zu widerstehen. Dieser Konflikt führt zu Überwachungskapitalisten und ihren Verhaltens- einer psychischen Abstumpfung, die uns dick- terminkontraktmärkten gestattet ist, zu florieren, fellig macht gegenüber der Realität, getrackt, stellt der Besitz der neuen Verhaltensmodifika- analysiert, ausgewertet und modifiziert zu wer- tionsmittel den Besitz der Produktionsmittel als den. Entsprechend neigen wir zu einer zynisch- Quelle kapitalistischen Reichtums und kapitalis- resignierten Rationalisierung und flüchten uns tischer Macht im 21. Jahrhundert in den Schatten. in Verteidigungsmechanismen wie der berüch- Trotz seiner Herrschaft über das digitale Mi- tigten Formulierung „Ich habe ja nichts zu ver- lieu und seiner illegitimen Macht, sich priva- bergen“. Oder wir finden andere Wege, aus Frus-

08 Datenökonomie APuZ tration und Hilflosigkeit den Kopf in den Sand nen, so etwa neuen Gesetzen und Regulierungs- zu stecken. So stellt der Überwachungskapita- regimen, die die prosoziale Dynamik des Kapi- lismus das Individuum des 21. Jahrhunderts vor talismus verstärkten und seinen schlimmsten eine von Grund auf illegitime Entscheidung, mit Auswüchsen die Zügel anlegten. Auch der Über- der es sich erst gar nicht konfrontiert sehen sollte, wachungskapitalismus ist in einem bestimmten und deren Normalisierung uns in unseren Ketten sozialen und historischen Kontext entstanden; in tanzen lässt – wobei allzu leicht vergessen wird, eben diesem Kontext wird man ihn anfechten und dass jemand, der nichts zu verstecken hat, auch transformieren. Das Leben im Jahr 2040 wird von nichts ist. neuen Formen kollektiven Handelns und neuen institutionellen Antworten abhängen, die spezi- ÜBERWACHUNGSKAPITALISMUS fisch sind für unsere Zeit, unsere Herausforde- IST MENSCHENWERK rungen und unsere Existenzbedingungen. Diese Entwicklungen bleiben bislang aus; sie existieren Der Überwachungskapitalismus ist keineswegs noch nicht einmal im Entwurf. Wir werden auf unvermeidbar. Er ist ein Menschenwerk, das sich diese – unsere – Zeit zurückblicken und darin den wie schon so viele andere von Menschenhand Anfang sehen. geschaffene Ungerechtigkeiten im Trojanischen Einer ihrer Kollegen hat Hannah Arendt ein- Pferd eines technologischen Determinismus zu mal auf einem Symposium vorgeworfen, sich bei verstecken versucht. Es ist entsprechend wichtig, ihrer Analyse des Totalitarismus von persönli- sich vor Augen zu halten, dass jede Unvermeid- chen Werten leiten zu lassen. Ihre Antwort da- lichkeitsdoktrin einen waffenfähigen Virus birgt: rauf spricht mir aus der Seele, und ich möchte einen moralischen Nihilismus, der darauf pro- sie deshalb hier abschließend zitieren: „Wenn ich grammiert ist, menschliches Handeln vorherzu- nun diese Bedingungen beschreibe, ohne meiner bestimmen und jeglichen Widerstand ebenso wie Entrüstung zu erlauben, sich einzumischen, habe jegliche Kreativität aus dem Text menschlicher ich dieses besondere Phänomen aus seinem Zu- Möglichkeiten zu löschen. sammenhang in der menschlichen Gesellschaft Die Rhetorik der Unvermeidlichkeit zielt da- herausgehoben und ihm dabei einen Teil seiner rauf ab, uns zu Hilflosigkeit und Passivität zu Natur gestohlen, es eines seiner wichtigsten inhä- verurteilen im Angesicht unerbittlicher Kräfte, renten Eigenschaften beraubt.“ 02 die dem bloß Menschlichen gegenüber anschei- So gilt für mich wie vielleicht auch für Sie: Die nend indifferent sind, ja indifferent sein müssen. bloßen Fakten des Überwachungskapitalismus Hinter dem Gerede von der Unvermeidbarkeit müssen schon deshalb meine Entrüstung erre- verbirgt sich die Hoffnung, dass wir dem natura- gen, weil sie den Menschen herabwürdigen. Und listischen Fehlschluss zum Opfer fallen – dass die so beginnt der Kampf um die Zukunft des Men- Regeln der Überwachungskapitalisten selbstre- schen mit unserer Entrüstung. Wenn die digitale dend richtig und gut sein müssen, weil sie erfolg- Zukunft uns ein Zuhause sein soll, ist es an uns, reich sind. Aber lassen Sie sich nicht täuschen: sie dazu zu machen. Der Überwachungskapitalismus und seine Tech- nologien digitaler Enteignung sind nicht „gut“, Dieser Text ist eine Übersetzung der Keynote, nur weil sie erfolgreich sind. Sie haben kein Recht die Shoshana Zuboff am 11. Oktober 2018 auf auf ein unangefochtenes Eigenleben außerhalb der Konferenz „Zukunft der Datenökonomie“ des unserer Gemeinschaft. Wir stehen erst am Anfang Forums Privatheit hielt (www.forum-privatheit.de). unseres Weges, nicht am Ende. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Bernhard In der Ära der Massenproduktion ging es mit- Schmid, Nürnberg (www.bernhardschmid.de). nichten nur um Maschinen, Fabriken, Produkti- onsverfahren und Management. Sie wurde auch geformt durch die allmähliche Entwicklung neu- er Formen kollektiven Handelns im Verein mit SHOSHANA ZUBOFF politischen und gesellschaftlichen Institutio- ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Sozialpsycho- login sowie emeritierte Professorin an der Harvard 02 Hannah Arendt, Eine Antwort, in: dies./Eric Voegelin, Disput Business School in Boston, USA. über den Totalitarismus, Göttingen 2015, S. 53–62, hier S. 55. www.shoshanazuboff.com

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ESSAY EINE BEUNRUHIGENDE FRAGE AN DEN DIGITALEN KAPITALISMUS Michael Seemann

Ein Gespenst geht um (nicht nur) in Europa, es dem Prinzip der Akkumulation (oder auch: von ist das Gespenst des digitalen Kapitalismus. Und Wachstum). Im Folgenden werde ich prüfen, wie wie es sich heutzutage ziemt, kommt er in vie- es sich im Digitalen mit diesen Kriterien verhält. len Formen und Farben: als Informationskapi- talismus, Datenkapitalismus, Plattformkapitalis- KAPITAL mus, Überwachungskapitalismus oder kognitiver Kapitalismus. Der digitalen Kapitalismen gibt es Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: dem mittlerweile viele, doch zeigen sie alle etwas Ähn- Privateigentum an den Produktionsmitteln, dem liches an: Wir sind Zeuginnen und Zeugen grund- „Kapital“. Gerade hier hat sich durch die Digi- legender Veränderungen. Genau dies führt mich talisierung viel getan. Zu Marx’ Zeiten waren die zu einer beunruhigenden Frage: Handelt es sich Produktionsmittel in erster Linie Land, Gebäude, überhaupt noch um Kapitalismus? Maschinen und vielleicht noch Fahrzeuge. Um Mit „beunruhigend“ meine ich nicht diesel- zu veranschaulichen, wie stark sich die Essenz be Unruhe, in die sich die Autorinnen und Au- des Kapitals durch die Digitalisierung geändert toren der unterschiedlichen Digitalkapitalismus- hat, braucht man sich nur Folgendes vor Augen beschreibungen hineinsteigern. Es geht mir nicht zu führen: Uber, das größte Taxiunternehmen der darum, zu zeigen, dass die neue, digitale Spielart Welt, besitzt keine Fahrzeuge. Alibaba, der wert- des Kapitalismus schlimmer ist als alle vorherge- vollste Einzelhändler der Welt, hat kein eigenes henden. Meine Beunruhigung gilt vielmehr dem Inventar. Airbnb, der weltweit größte Übernach- Kapitalismus selbst. Ich lege ihm gewisserma- tungsdienstleister, besitzt keine Immobilien. ßen meine Hand auf die Schulter und frage lei- Systematischer haben diesen Zusammenhang se: „Alles in Ordnung mit Dir, Kapitalismus?“ die Ökonomen Jonathan Haskel und Stian West- Denn während viele Autorinnen und Autoren lake in ihrem Buch „Capitalism Without Capi- in der Digitalversion des Kapitalismus eine wei- tal“ untersucht. Der Untertitel – „The Rise of the tere Radikalisierung desselben ausmachen, habe Intangible Economy“ – zeigt auch schon an, dass ich eher das gegenteilige Gefühl. Ich glaube, dem das Kapital nicht wirklich verschwunden ist. 01 Es Kapitalismus geht es nicht gut im Digitalen. Ich hat sich nur dematerialisiert. Zu den materiellen will deswegen grundsätzlicher fragen, ob der Ka- Investitionsgütern, die bereits Marx kannte, tra- pitalismus in seiner digitalen Spielweise noch die ten irgendwann Software, Datenbanken, Design, Kriterien erfüllt, mit denen wir dieses System des Marken, Fortbildungen und sonstige nicht an- Wirtschaftens und der Organisation der Gesell- fassbare, immaterielle Werte hinzu. Und sie ka- schaft beschreiben. men nicht nur hinzu. In den USA, Großbritanni- Es gibt verschiedene Kapitalismusdefinitionen, en und Schweden hat der Anteil der Investitionen doch alle haben einen mehr oder weniger überein- in immaterielle Werte die Investitionen in mate- stimmenden Kern. Demnach erfüllt Kapitalismus rielle Werte längst überflügelt. Die Werte der 500 die folgenden fünf Kriterien: Er ist geprägt vom größten börsennotierten US-amerikanischen Un- Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit (zu- ternehmen sind bereits zu 84 Prozent immate- mindest bei Marx), von der Steuerung der Wirt- riell. 02 Die Digitalbranche ist hier Vorreiter und schaft durch den Markt (neoklassische Definition), Treiber der Entwicklung. von Privateigentum an den Produktionsmitteln, „Materiell, immateriell, was macht das für ei- dem Vorherrschen einer Eigentumsordnung sowie nen Unterschied?“, kann man jetzt fragen. Es

10 Datenökonomie APuZ sind vier systemische Unterschiede, die Haskel Der marxschen These nach ist menschliche Arbeit, und Westlake herausarbeiten: Immaterielle Güter genauer: gesellschaftlich notwendige Arbeit, das- sind erstens „versunkene Kosten“ (sunk cost), das jenige, was überhaupt den Wert einer Ware inner- heißt, in immaterielle Werte investiertes Kapital halb der Ökonomie erschafft. Da der Arbeiter aber lässt sich schlecht weiterveräußern. Zweitens gibt nicht in der vollen Höhe seiner Wertschöpfung es häufig Übertragungseffekte, immaterielle Wer- entlohnt wird, sondern nur in etwa in der Höhe, te „schwappen über“ (spill-over). Das heißt, man die notwendig ist, um seine Arbeitskraft wieder- kann Informationen – und das sind immaterielle herzustellen (Reproduktion), streicht der Kapita- Güter immer – nur schwer für sich allein behal- list diese Differenz (Mehrwert) als Profit ein. ten. Drittens lassen sich immaterielle Güter skalie- Schauen wir auf den Einsatz von Arbeit und ren (scalable): Einmal hergestellt, kann ein imma- erzieltem Wert in der Digitalwirtschaft, und hier terielles Gut unbegrenzt und ohne Zusatzkosten auf das besonders eindrückliche Beispiel der ame- überall eingesetzt werden. Viertens sind immate- rikanischen Videothekskette Blockbuster im Ver- rielle Güter synergetisch (synergy): Sie ergeben oft gleich zum Videostreamingdienst Netflix: Net­ erst in der Kombination mit anderen immateriel- flix machte 2018 mit 5400 Mitarbeiterinnen und len Gütern neue Produkte beziehungsweise füh- Mitarbeitern 15,7 Milliarden US-Dollar Umsatz, ren immer wieder zu neuen Anwendungsfällen. während der mittlerweile pleite gegangene Video- Am spannendsten ist der Spill-over-Effekt. verleih in seinem letzten Jahr (2010) mit 25 000 Wir kennen ihn überall dort, wo urheberrecht- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur 3,24 Mil- lich geschützte Werke in Internet getauscht wer- liarden US-Dollar umsetzte. Das bedeutet, dass den. Für industrielle Produzenten kann es aber Blockbuster mit fünfmal so viel Personal gera- auch einfach heißen, dass sich die Konkurrenz de mal ein Fünftel des Umsatzes von Netflix er- die Herstellung von einem Produkt abschaut oder wirtschaftete, obwohl beide in einem ähnlichen eine Software nachbaut. Einige – aber lange nicht Business sind. 04 Die Digitalwirtschaft scheint pro alle – immaterielle Investitionen kann man recht- Mitarbeiter viel mehr Wertschöpfung zu produ- lich schützen lassen. Und hier kommen wir über- zieren als die alte, analoge Wirtschaft. haupt erst wieder ins Fahrwasser unseres Kapita- Gemessen wird dieser Zusammenhang in lismuskriteriums. Nur immaterielle Investitionen, der Wirtschaftswissenschaft als Arbeitsproduk- die man über Urheberrechte, Patente oder Mar- tivität, und wenn wir uns die Zahlen für die Ge- keneintragung schützen kann, können überhaupt samtwirtschaft (zum Beispiel für die G20-Staa- als Privateigentum gelten und tauchen als assets in ten) anschauen, sehen wir in der Tat ein enormes den Bilanzen auf. Aber selbst diese Formen von Wachstum der Arbeitsproduktivität, aber nur ein Privateigentum, also geistigem Eigentum, sind in geringes Wachstum der Löhne. Dass diese Diffe- ihrer Eigentumsstruktur höchst fragwürdig, die renz bei den Kapitalisten landet, ist also folgerich- Bemessung ihres Wertes ist an der Grenze zur tig und bereits von dem Wirtschaftswissenschaft- Beliebigkeit. Im Grunde handelt es sich um rei- ler Thomas Piketty beschrieben, der zeigte, wie ne Monopolverwertungsrechte, 03 oder, überspitzt sich das Wachstum der Anlagevermögen entspre- ausgedrückt, um Eigentums­behauptungen. chend von dem Wachstum der Löhne entkoppelt hat. 05 Unter den arbeitsproduktivsten Firmen der ARBEIT Welt finden wir viele IT-Konzerne. Apple erwirt- schaftet fast zwei Millionen US-Dollar Umsatz Ein wesentlicher Bestandteil jeglicher Kapitalis- pro Mitarbeiter. Auch Facebook und Google ver- musdefinition ist die Funktion von Arbeit bezie- dienen auf Platz zwei und drei weit mehr als eine hungsweise die Gegenüberstellung von Arbeit Millionen Dollar pro Mitarbeiter. 06 Aber alle diese und Kapital als Teile des Produktionsvorgangs. Firmen sind nicht dafür bekannt, dass sie ihre Mit-

01 Vgl. Jonathan Haskel/Stian Westlake, Capitalism Without 04 Vgl. die Wikipedia-Einträge zu Netflix und Blockbuster LLC Capital. The Rise of the Intangible Economy, Oxfordshire 2017. (abgerufen am 23. 4. 2019). 02 Vgl. The Value of Intangible Assets, 10. 4. 2019, www.saltare- 05 Vgl. Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München solutions.com/2018/10/17/the-value-of-intangible-assets. 2014. 03 Vgl. Marcel Weiß, Kann es ein Eigentum an Geistigem geben? 06 Vgl. Anaele Pelisson/Dave Smith, These Tech Companies Nein., 23. 2. 2012, https://neunetz.com/2012/02/23/kann-es-ein- Make the Most Revenue per Employee, 6. 9. 2017, www.businessin- eigentum-an-geistigem-geben-nein. sider.de/tech-companies-revenue-employee-2017-8.

11 APuZ 24–26/2019 arbeiterinnen und Mitarbeiter schlecht bezahlen – Auf die Frage nach der Rolle der Arbeit im im Gegenteil. In Bezug auf Marktpreise verdienen Digitalen bleiben wir also mit vielen unterschied- vor allem die Entwicklerinnen und IT-Spezialisten lichen, einander widersprechenden Theorien und Löhne weit über dem Durchschnitt. Aber gemes- Beobachtungen zurück. Einigkeit scheint allein sen am erzielten Umsatz verdienen sie nur „Pea- darüber zu bestehen, dass Arbeit im klassischen nuts“, und aus einer marxschen Ausbeutungslogik Sinn zumindest nicht mehr der wesentliche Ort heraus betrachtet, zählen sie zu den vielleicht am der Wertschöpfung ist. stärksten ausgebeuteten Menschen der Welt, da der extrahierte Mehrwert so enorm ist. MARKT Wie der gefühlte gesellschaftliche Mehrwert mit dem ökonomischen Mehrwert zusammen- Seit Marx „Das Kapital“ schrieb, ist auch in den hängt, ist allerdings nur schwierig bis unmöglich Wirtschaftswissenschaften viel passiert. Für vie- zu messen. Vor allem, da die Art der Wertschöp- le Ökonominnen und Ökonomen steht heute fung heute ganz und gar anders vonstattengeht, als nicht mehr der Produktionsprozess im Mittel- Marx es damals beobachtete. In dem Buch „Das punkt des Geschehens, sondern der Markt. Und Kapital sind wir“ hat der Publizist Timo Daum so findet sich kaum eine zeitgenössische Kapita- nicht nur eine interessante Beschreibung der di- lismusdefinition, die nicht auch auf den Markt re- gitalen Ökonomie abgeliefert, sondern eine eige- kurrieren würde. Der Markt sei das wesentliche ne These zur Wertschöpfung im Digitalen aufge- Steuerungsinstrument des Kapitalismus. Indem stellt. 07 Diese geschehe nicht bei der Produktion der Markt Angebot (Produktion) und Nachfrage von Waren, sondern in Form von Innovation. (Konsumtion) über das Instrument des Preises im Und wir alle arbeiteten daran mit: Denn wir wer- Gleichgewicht halte, sorge er dafür, dass zu jeder den jederzeit vermessen, während wir die digitalen Zeit immer ungefähr genauso viel von einer Ware Tools verwenden. Die gesammelten Daten werden produziert werde, wie gebraucht werde und sich dann für die Entwicklung neuer Innovation und dieses Angebot auch im bezahlbaren Rahmen be- Verbesserung der Produkte genutzt. Die Har- wege. So lautet jedenfalls die Theorie, die oft und vard-Ökonomin Shoshana Zuboff schlägt in eine gerne kritisiert wird, da sie eine ganze Reihe von ähnliche Kerbe, allerdings klingt bei ihr die Wert- Annahmen voraussetzt, die in der Realität kaum schöpfung wesentlich perfider. Auch bei ihr steht zu erfüllen sind: völlige Markttransparenz, Men- die Überwachung der Nutzerinnen und Nutzer schen als rationale Wirtschaftssubjekte, die Nicht- im Mittelpunkt, doch statt um Innovation geht existenz von Transaktionskosten, die Ausblen- es bei ihr um Manipulation, durch die die großen dung von nicht im Markt abgebildeten Einflüssen Internetunternehmen Wert schöpften (behavioral und Kosten (Externalitäten) und anderes mehr. surplus). 08 Der Digital-Economy-Lecturer Nick Blendet man diese Ungenauigkeiten gutwillig Srnicek hingegen beschreibt Daten als eine Art aus, kann man den Markt auch als „Informations- Rohstoff, der erst durch die Verarbeitung wirklich system“ verstehen, 11 der als Input die Signale von an Wert gewinne. Hier seien es die Programmierer Anbietern und Nachfragern koordiniert. So ge- der Auswertungsalgorithmen und vor allem Data sehen, sollte man annehmen, dass der Markt an- Scientists, deren Arbeit den Wert schöpfe. 09 Der schlussfähig an die Digitalsphäre sein sollte. Und Journalist Paul Mason kam in seinem Buch „Post- tatsächlich: Es stellt sich heraus, dass Marktmecha- Capitalism“ sogar zu dem Schluss, dass sich die nismen sich leicht in Algorithmen nachbauen lassen. kapitalistischen Ökonomien nicht werden halten Genau das hat zum Beispiel Uber mit seinem „Surge können, wenn Information statt Arbeit zum zen- Pricing“ gemacht. Je nach Tages- und Nachtzeit sind tralen Bestandteil der Wertschöpfung werde. 10 unterschiedlich viele Uber-Fahrerinnen und -Fahrer unterwegs, und es gibt unterschiedlich hohe Nach- 07 Vgl. Timo Daum, Das Kapital sind wir: Zur Kritik der digitalen frage nach Fahrten. Entsprechend wird den Kun- Ökonomie, Hamburg 2017. dinnen und Kunden neben dem Standardpreis auch 08 Vgl. Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The der Surge-Preis angezeigt. Dieser ist im Zweifels- Fight for the Future at the New Frontier of Power, New York 2019. Siehe auch den Beitrag von Zuboff in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 09 Vgl. Nick Srnicek, Platform Capitalism, London 2016. 11 So zum Beispiel Friedrich August von Hayek, Der Wettbewerb 10 Vgl. Paul Mason, PostCapitalism. A Guide to Our Future, als Entdeckungsverfahren, in: ders., Freiburger Studien, Tübingen London 2015. 1969, S. 249–265, hier S. 249.

12 Datenökonomie APuZ fall höher als der Standardpreis, aber dafür kommt setzt, ohne mit ihnen inkompatibel zu werden, das Auto sofort. Es handelt sich also um eine Art stammt von den Wirtschaftswissenschaftlern Marktpreis – mit der Besonderheit, dass er von ei- Gunnar Heinsohn und Otto Steiger. 13 Sie definie- nem Algorithmus berechnet wurde. ren den Kapitalismus als Eigentumsordnung, also Aus den vielen Millionen Kundenentscheidun- eine Gesellschaft, die durch das Konzept Eigen- gen für und gegen den Surge-Preis lassen sich auch tum strukturiert ist. Das hört sich zunächst ba- eine Menge weiterer Erkenntnisse ziehen. Bei- nal, offensichtlich und wenig ertragreich an, wird spielsweise sind Leute mit niedrigem Smartphone- aber spannend, wenn man sich die Implikationen Akkustand in der Regel bereit, einen höheren Preis des Begriffes „Eigentum“ genauer anschaut. für eine sofortige Uber-Fahrt zu bezahlen. Auf Während Marx die Ursituation des Kapitalis- dieser Grundlage lässt sich dann auch die „Kon- mus in der Produktion verortet und die Neoklas- sumentenrente“ berechnen, wie ein Team um den siker dafür den Markttausch heranziehen, sehen Ökonomen Steven Levitt am Beispiel Uber gezeigt Heinsohn und Steiger sie in der Unterscheidung hat. 12 Die Konsumentenrente ist, kurz gesagt, die von „Besitz“ und „Eigentum“. Diese Unterschei- Preisdifferenz zwischen dem Preis, den ich für ein dung ist selbst keine ökonomische, sondern vor Produkt tatsächlich zahle, und dem, den ich zu allem eine rechtliche. „Besitz“ ist dabei alles, wor- bezahle bereit wäre, wenn der Preis höher wäre. über ich direkte Verfügungsgewalt ausübe. Darin Diese nichtgezahlte Differenz nehme ich als Kon- unterscheidet es sich vom Eigentum: Eigentum sument sozusagen als Bonus mit. Da jeder Konsu- ist ein Rechtstitel, es ist abstrakte Behauptung. ment eine unterschiedliche Bereitschaft hat, einen Das heißt, ich kann Gegenstände, die mein Eigen- höheren Preis zu zahlen, „erhält“ jeder Konsu- tum sind, in den Besitz anderer Menschen geben, ment somit auch eine individuelle Konsumenten- ohne dass es aufhört, mein Eigentum zu sein. Al- rente. Die allgemeine Konsumentenrente errechnet lerdings funktioniert das nur dann, wenn eine ex- sich somit, wenn man all diese individuellen Diffe- terne Macht dafür sorgt, dass der Rechtstitel auch renzen zusammenrechnet. Die Untersuchung von durchgesetzt, mir der Gegenstand im Zweifelsfall Levitt et al. ergab, dass Uber 2015 eine allgemei- wieder ausgehändigt wird. Für Eigentum braucht ne Konsumentenrente in Höhe von 2,9 Milliarden es also einen Staat mit Gewaltmonopol. US-Dollar erwirtschaftete. Das ist kein Geld, das Wenn wir uns mit dieser Definition wieder in irgendeiner Statistik auftaucht. Es ist Geld, das dem Digitalen zuwenden, kommt einem rasch die nicht ausgegeben wurde, aber möglicherweise aus- Online-Musiktauschbörse Napster in den Sinn. gegeben worden wäre, wenn jede Kundin und je- 1999 gestartet, machte der Dienst alle Musikda- der Kunde einen personalisierten Preis angezeigt teien auf dem eigenen Computer für alle anderen bekommen hätte. Und wenn man weiß, dass eine Napster-User zugänglich. Das Programm hatte Person mehr Geld zu bezahlen bereit wäre, warum eine Suchmaske, mit der man nach jedem belie- ihr dann nicht diesen Preis anzeigen? bigen Song suchen konnte und die daraufhin eine Vergegenwärtigen wir uns, was hier passiert: Liste mit Usern anzeigte, die ihn besaßen und teil- Wenn der Marktpreis ein Informationssystem ist, ten. Ein Klick, und der Download startete. Für und Computer, Internet und Shopsysteme eben- Musiksammler war es das reinste Eldorado. Für falls Informationssysteme sind, dann wurde das die Musikindustrie war dieses Eldorado jedoch Erstere durch die Letzteren quasi gehackt. Die ein major spill-over, der totale Kontrollverlust, IT-Systeme der Anbieter sind einfach intelligen- und das plötzliche Ende ihres Geschäftsmodells. ter als der Markt. Mit der Kapitalismusdefinition von Heinsohn/ Steiger könnte man sagen, dass die Musikindustrie EIGENTUM aus der Eigentumsordnung in eine Download-Be- sitzordnung zurückfiel. Zwar hat die Musikindus- Eine ebenso schlichte wie elegante Kapitalismus- trie (und andere Rechteverwerter) viel für Ur- definition, die sich sowohl von der marxistischen heberrechtsverschärfungen lobbyiert, aber trotz als auch von der neoklassischen Definition ab- allem konnte sie die Peer-to-peer-Tauschbörsen nicht loswerden.

12 Vgl. Peter Cohen et al., Using Big Data to Estimate Consumer Surplus: The Case of Uber, National Bureau of Economic Research, 13 Vgl. Gunnar Heinsohn/Otto Steiger, Eigentum, Zins und Geld. NBER Working Paper 22627/2016, www.nber.org/papers/w22627. Ungeloste Ratsel der Wirtschaftswissenschaft, Marburg 2002.

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Hier nun das Spannende: Dass die Musikin- Der Ökonom Robert J. Gordon argumentiert dustrie heute wieder ein Geschäftsmodell hat, in seinem Werk „The Rise and Fall of American liegt nicht an einer staatlich garantierten Eigen- Growth“, 15 dass heutiges Wirtschaftswachstum tumsordnung, sondern weil eine ganz eigene, neue trotz aller Zukunftsversprechungen durch die Di- Ordnung im Internet entstand: die Ordnung der gitalisierung nicht mehr von tatsächlicher Innova- Plattformen. Als Apple 2002 auf die Musikverla- tion getrieben sei. Er untermauert diesen Befund ge zukam und ihnen iTunes, die unternehmensei- anhand der sogenannten Totalen Faktorproduk- gene digitale Verkaufsplattform für Musik zeigte, tivität (TFP) – einer volkswirtschaftlichen Kenn- stand die Musikindustrie gerade mit dem Rücken zahl, die die Faktoren Kapital und Arbeit aus dem zur Wand. Auch die großen Labels hatten es nicht Wirtschaftswachstum herausrechnet und somit geschafft, den Tauschbörsen ein populäres legales den Anteil der Wertschöpfung angibt, der nicht Online-Angebot entgegenzustellen. Apple-Chef durch diese Faktoren erklärbar ist. Gordon sieht in Steve Jobs konnte den Verlagen die Bedingungen der TFP einen messbaren Effekt von Innovation im letztlich jedoch diktieren, 14 weil sein Unterneh- Wachstum. Da die TFP in den USA zwischen 1930 men etwas hatte, was sie nicht hatten: Ich nenne und 1970 stetig weit über einem Prozent war, da- es „marktfähige Verfügungsgewalt“. Das heißt, vor und danach aber wesentlich darunter, schließt Apple war nicht nur in der Lage, Musik kommer- Gordon daraus, dass die Digitalisierung kaum zu ziell und legal anzubieten, sondern auch, sie durch Innovation geführt habe. Er greift damit eine Be- die technische Infrastruktur von iTunes vorzu- obachtung auf, die der Ökonom Robert Solow be- enthalten, ohne dass es einer weiteren Durchset- reits 1987 formulierte: „You can see the computer zungsgewalt (den Staat) bedurfte. Dem Beispiel age everywhere but in the productivity statistics.“ 16 Apples folgten bald viele weitere Unternehmen, Ich möchte dieser These widersprechen: Mei- die heute die „Plattform-Ökonomie“ ausmachen. ner Ansicht nach sind die digitalen Innovationen Ihre Plattformen sind in erster Linie Kontroll-In- genauso real wie frühere technische Innovatio- frastrukturen zur künstlichen Verknappung po- nen, sie sind jedoch mit herkömmlichen Maßstä- tenziell unbegrenzter Güter. ben kaum zu messen. Sowohl das Bruttoinlands- Doch die marktfähige Verfügungsgewalt der produkt als auch alle davon abgeleiteten Werte Plattformen ist schon lange nicht mehr auf tat- wie Wachstum, Produktivität oder eben die TFP sächliche Rechtstitel beschränkt. Facebook hat basieren auf der Erhebung davon, wie viel Geld in keinerlei Eigentumsrechte an unseren persönli- unterschiedlichen Branchen umgesetzt wird, was chen Daten, und dennoch basiert sein Geschäfts- heißt: alles, was keine Transaktion verursacht, modell auf der Ausübung einer marktfähigen fließt nicht in die Rechnung ein. Nun gibt es aber Verfügungsgewalt über sie. Die Plattformen set- viele Gründe, warum sich gerade digitale Inno- zen bereits eine Form der Kontrolle durch, die vation oft transaktionsneutral oder gar transakti- die Eigentumsordnung gar nicht braucht, son- onsmindernd in den Zahlen niederschlägt: dern diese lediglich stellenweise abbildet. Das Erstens wird durch das Internet die Markttrans- aber bedeutet nichts Geringeres, als dass im Di- parenz erhöht. Unsere Konsumentscheidungen gitalen das Rechtskonzept des Eigentums zumin- sind heute viel fundierter als vor dem Internet, was dest infrage steht. aber auch bedeutet, dass wir weniger Fehlinvesti- tionen tätigen (und somit weniger Transaktionen). WACHSTUM Zweitens hat der erwähnte Spill-over-Effekt dazu geführt, dass wir heute ein weitaus größeres kultu- Ein Kriterium kommt bei Kapitalismusdefinitio- relles Angebot zur Verfügung haben, ohne wesent- nen sowohl aus der marxistischen als auch aus der lich mehr Geld dafür ausgeben zu müssen. Dafür neoklassischen Schule immer wieder auf, und das müssen wir Filme nicht illegal streamen, aber allein, ist das Wachstum. Welche Rolle spielt dieses Kri- dass wir es könnten, zwingt die Anbieter dazu, at- terium in der digitalen Ökonomie?

15 Vgl. Robert J. Gordon, The Rise and Fall of American Growth. 14 Vgl. Steve Knopper, iTunes’ 10th Anniversary. How Steve Jobs The U. S. Standard of Living Since the Civil War, Princeton 2016. Turned the Industry Upside Down, 26. 4. 2013, www.rollingsto- 16 Vgl. Simon Dudley, The Internet Just Isn’t That Big a Deal Yet: ne.com/culture/culture-news/itunes-10th-anniversary-how-steve- A Hard Look at Solow’s Paradox, 12. 11. 2014, www.wired.com/ jobs-turned-the-industry-upside-down-68985. insights/2014/11/solows-paradox.

14 Datenökonomie APuZ traktive legale Bezahlangebote zu schaffen. Auch ser, Strom, Konsumartikeln bekamen. In der digi- dies verursacht ein Minus in der Wachstumsbilanz. talen Ökonomie bedeutet Wachstum lediglich, dass Drittens darf man nicht vergessen, auf wie viel kos- die Konsumentenrente erfolgreicher abgeschöpft tenloses Wissen wir heute Zugriff haben. Die Wiki- wird, dass also mehr Menschen unnötigerweise pedia ist – bis auf ein paar wenige Spendenzahlun- mehr bezahlen, als sie unter normalen Marktbedin- gen – komplett kostenlos. Netto geht sie allerdings gungen müssten. Wachstum bedeutet, dass immate- mit einem satten Minus in die volkswirtschaftliche rielle Güter erfolgreicher verknappt wurden. Gesamtrechnung ein, wenn man die vielen Verluste der Lexikonverlage gegenrechnet. Obwohl es viel- FAZIT fach versucht wurde, gibt keine sinnvolle Art, den Wert der Wikipedia zu messen. 17 Einen ähnlichen Alle fünf Kriterien, die ich eingangs identifiziert Effekt haben wir durch die Verwendung von Open habe, werden durch die digitale Wirtschaft ad ab- Source Software in der Wirtschaft. surdum geführt. Ausführlich lautet die beunru- Insgesamt werden alle möglichen Prozesse higende Frage also: Ist ein digitaler Kapitalismus innerhalb der Wirtschaft durch Technologie im- mit nur noch behaupteten Kapital und überflüs- mer effizienter. Der Einzug von künstlicher Intel- siger Arbeit, der nicht mehr durch den Markt ge- ligenz und Big Data wird immer wieder mit er- steuert wird, die Eigentumsordnung hinter sich heblichen Einsparungen beworben. Einsparungen gelassen hat und dessen kaum noch vorhandenes sind aber nicht getätigte Transaktionen. Es sind Wachstum aus der künstlichen Verknappung von Verschlankungen der Bilanz, denen zumindest Immaterialgütern resultiert, noch Kapitalismus? nicht zwingend eine zusätzliche Investition ge- Vermutlich nein. Aber was ist er dann? Zu- genübersteht. Digitale Innovation spart also mehr nächst stehen wir mit mindestens einem Bein ja Transaktionen ein, als sie zusätzlich schafft. Doch noch voll und ganz im guten, alten analogen Ka- warum gibt es dann überhaupt noch wirtschaftli- pitalismus. Und was das digitale Bein betrifft: Wir ches Wachstum? Meine These dazu: Ähnlich wie haben Kapitalismus immer nur in Abgrenzung 2007 befinden wir uns in einer Blase, dieses Mal zu Kommunismus oder Sozialismus – bestenfalls aber mit immateriellen Werten. Ich glaube, Imma- noch Anarchismus oder Feudalismus – zu verste- terialgüter sind massiv überbewertet – und zwar hen gelernt. Das, was die Digitalwirtschaft dort allein deshalb, weil sie künstlich am spill-over ge- tut, ist keines von dem. Wir müssen uns an dieser hindert werden, der im Digitalen eigentlich der Stelle der Neuheit der Situation gewahr werden. „Naturzustand“ jeder Information ist. Plattform- Dies ist unser aller erste Digitalisierung und so- kontrolle, drakonische Urheberrechtsgesetzge- mit sollten wir der Möglichkeit Rechnung tragen, bung und -durchsetzung haben zu einer künst- dass es sich hier auch um eine komplett neue Form lichen Verknappung von Ideen, Gedanken und der Ökonomie handelt. Eine, für die wir noch kei- kreativen Leistungen geführt, die auf der einen nen Namen haben und noch gar nicht wissen, wie Seite unser aller Leben verarmt, um es uns auf der sie funktioniert. Etwas, das noch im Werden ist. anderen wieder teuer verkaufen zu können. Dieses Etwas ist nicht automatisch besser oder Wachstum bedeutete einst, dass mehr Menschen schlechter als der Kapitalismus, nur eben hinrei- mehr Dinge tun können, dass Produkte billiger chend anders. „Die alte Welt liegt im Sterben, die wurden, mehr Menschen Zugang zu fließend Was- neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster“, soll der marxistische Philosoph Anto- 17 Siehe zum Beispiel Leonhard Dobusch, Wert der Wikipedia. nio Gramsci sinngemäß geschrieben haben. 18 Wir Zwischen 3,6 und 80 Milliarden Dollar?, 5. 10. 2013, https:// haben es hier mit einem Monster zu tun, einem netzpolitik.​org/2013/wert-der-wikipedia-zwischen-36-und-80-milli- (noch) namenlosen Wesen. Monster sind nicht au- arden-​dollar. 18 Zit. nach Slavoj Žižek, A Permanent Economic Emergency, in: tomatisch böse, aber sie machen uns Angst, weil New Left Review 64/2010, https://newleftreview.org/issues/II64/ wir sie nicht verstehen. articles/slavoj-zizek-a-permanent-economic-emergency. Das Zitat ist allerdings umstritten, vermutlich hat Žižek folgende Zeilen frei paraphrasiert: „The crisis consists precisely in the fact that the old MICHAEL SEEMANN is dying and the new cannot be born, in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear.“ Antonio Gramsci, „Wave of ist Kulturwissenschaftler, Sachbuchautor und Materialism“ and „Crisis of Authority“, The Prison Notebooks, New Journalist. York 1971 (1949/51), S. 275 f. www.michaelseemann.de

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CHANCEN UND HERAUSFORDERUNGEN IN DER DATENÖKONOMIE Markus Spiekermann

Die rapide Entwicklung neuartiger Informations- formen, da gerade personenbezogene Daten ver- und Kommunikationstechnologien – vom Inter- schiedenen rechtlichen Regelungen, beispielsweise net der Dinge über Cloud-Computing bis zu der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), un- künstlicher Intelligenz – zwingt Unternehmen terliegen und ein verantwortungsvoller Umgang dazu, traditionelle Geschäftsmodelle zu überden- mit diesem sensiblen Datentyp unabdingbar ist. ken und zu erneuern. Die Menge an verfügbaren Wertschöpfungsketten im Bereich der Datenöko- Daten und Informationen durch intelligente Ma- nomie umfassen die Generierung, die Sammlung, schinen, Sensoren, Finanztransaktionen, Social die Speicherung, die Verarbeitung und Analyse Media und viele andere Quellen nimmt exponen- bis hin zur abschließenden Verwertung oder Lö- tiell zu. schung der Daten. Entlang der Wertschöpfungs- Der Begriff „Datenökonomie“ steht dabei für ketten kommen digitale Technologien, Methoden den Grundgedanken, Daten als Wirtschaftsgut zu und Algorithmen zum Einsatz, die einen Mehrwert verstehen und in eigenständigen Geschäftsmodel- aus den Daten realisieren und neue Geschäftsmo- len zu monetarisieren. Der Bedeutungsanstieg von delle, Produktionsmöglichkeiten, Prozessoptimie- Daten als Wirtschaftsgut und Treiber für Innova- rungen und Verbesserungen in der Kundenbindung tionen und Wachstum zeigt sich im Transformati- ermöglichen. onsprozess unterschiedlichster Domänen sowohl Die Kommerzialisierung und Monetarisierung im Bereich der Geschäftsbeziehungen zwischen von Daten ist bereits voll im Gange. Der Begriff Unternehmen (B2B) als auch im Bereich der Ge- der Datenmonetarisierung ist dabei auf den klas- schäftsbeziehungen zwischen Unternehmen und sischen Handel mit Daten zurückzuführen. Mit Endkunden (B2C). Durch geeignete Analysen dem Wachstum des Internets und insbesondere So- können Daten zur Entdeckung neuartiger Zusam- cial Media und E-Commerce werden immer mehr menhänge genutzt werden und somit geschäftli- Adressdaten von Personen und Unternehmen ge- chen wie auch sozialen Mehrwert liefern. handelt. Heute „zahlen“ die Konsumentinnen und Im Folgenden werde ich zunächst näher dar- Konsumenten (bewusst oder unbewusst) häufig mit legen, was unter Datenökonomie zu verstehen ist. ihren Daten im Tausch gegen zusätzliche Dienst- Anschließend werde ich auf die sich verändern- leistungen wie individuelle Produktvorschläge, Na- de Rolle von Daten als wirtschaftliche Ressource vigation oder Kommunikationsfunktionen. eingehen, um dann die Potenziale und Herausfor- Doch mit Datenökonomie sind nicht nur die derungen für Unternehmen in der Datenökono- wirtschaftliche Verwertung und Vergütungsmo- mie zu skizzieren. delle von personenbezogenen Daten gemeint. Durch die digitale Transformation und die steigen- WAS IST DATENÖKONOMIE? den Datenmengen – bedingt durch Konzepte der Industrie 4.0 und sich bildenden digitalen Ökosys- Unter data economy sind alle Aspekte rund um die temen in verschiedenen Industriesektoren wie dem Auswertung und wirtschaftliche Nutzung von Da- produzierenden Gewerbe, der Agrarwirtschaft ten zu verstehen. Konkret ist dabei der Einfluss der und vor allem dem Informations- und Telekom- Daten auf die Wirtschaft als Ganzes zu betrachten, munikationssektor – steigt auch die Verfügbar- was personenbezogene und nicht personenbezo- keit nicht personenbezogener Daten an. Auftrags-, gene Daten einschließt. Was die Möglichkeiten der Maschinen-, Prozess- und Transaktionsdaten wer- wirtschaftlichen Nutzung angeht, gibt es entschei- den gesammelt, verarbeitet, verwertet und in den dende Unterschiede zwischen diesen beiden Daten- digitalen Wertschöpfungsketten monetarisiert.

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Die Charakterisierung von Daten als Schlüssel­ siert. Umweltdaten können helfen, Ausfälle vor- ressource lässt sich dabei als Zeichen einer funda- herzusagen, Stillstände zu vermeiden und damit mental neuen Wirtschaftsepoche deuten. So wie letztendlich Kosten zu sparen. das Kapital unsere Gesellschaft von der Agrar- hin Ungefähr seit dem Jahrtausendwechsel bieten zur Industriegesellschaft verändert hat, so wer- Unternehmen zunehmend Produkte an, deren den auch Daten unser aller Leben gewissermaßen Existenz überhaupt nur durch die Verwendung auf den Kopf stellen – nur dass diese Veränderun- großer und qualitativ hochwertiger Datenmen- gen sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich gen möglich ist. Beispiele sind Google Maps, das noch tief greifender sein werden. Das autonome Transportangebot von Uber, die Leasing- und Fahrzeug, das selbstständig fährt, oder aber der Fleet-Management-Modelle von Hilti sowie vie- intelligente Kühlschrank, der eigenständig Milch le weitere Smart Services für unsere persönli- und andere Produkte bestellt, sind nur zwei le- chen Lebenslagen. In den vergangenen Jahren ist bensnahe Beispiele für viele Veränderungen, die eine Produktisierung der Daten selbst zu erken- uns bevorstehen. nen. Der Kauf und Verkauf von Daten auf sich bildenden Datenmarktplätzen oder Plattformen DATEN ALS WIRTSCHAFTLICHE mit entsprechenden Angeboten werden wie bei RESSOURCE klassischen Produkten nach standardisierten Vo- lumen- oder Zeiteinheiten angeboten und ab- Seit der Einführung der elektronischen Daten- gerechnet. Daten sind nicht länger nur Befähi- verarbeitung und der Automatisierung von Pro- ger und Unterstützer anderer Produkte, sondern duktionsprozessen in Unternehmen steigt die mittlerweile das Produkt selbst. Bedeutung von Daten für unternehmerischen Er- Auf dem Weg in die heutige Datenökono- folg kontinuierlich an. Bereits in den 1960er und mie lassen sich drei unternehmerische Entwick- 1970er Jahren wurden Informationssysteme zur lungsetappen ausmachen. In einem ersten Schritt Unterstützung einzelner Unternehmensfunktio- wurden klassische Geschäftsmodelle um digitale nen eingesetzt. Warenwirtschaftssysteme dienten Prozesse erweitert: Unternehmen digitalisierten beispielsweise der Unterstützung von Lagerpro- ihre Vertriebs- und Kommunikationswege durch zessen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- die Einführung von E-Commerce-Shops und er- tern bei der Suche nach Artikeln im Lagerbestand. möglichten so einen zusätzlichen digitalen Ab- Da der eigentliche Wertbeitrag jedoch ausschließ- satz ihres Wertangebots. In einem zweiten Schritt lich durch physische Produkte erzielt wurde, nah- erstreckte sich die Digitalisierung auf die Produk- men die Daten eine rein unterstützende Rolle ein. te selbst: Klassische Produkte wie beispielsweise Mit der Verbreitung datengestützter Planungs- Bohrmaschinen, Bücher, Zahnbürsten oder Fuß- systeme in den 1980er und 1990er Jahren, die eine bälle wurden um digitale Komponenten erweitert, bedarfsgerechte und unternehmensweite Planung indem Sensorik zur Generierung von Daten und von Ressourcen ermöglichten, entwickelten sich Funktechnologien zur Datenübertragung verbaut Daten zum Befähiger des unternehmerischen Ge- wurden. Hierdurch wurde es Unternehmen auch schäftsprozessmanagements. Daten wurden im- möglich, einen direkten Kundenkontakt nach mer mehr zur strategischen Ressource für die dem eigentlichen Verkaufszeitpunkt aufrecht- Leistungserbringung von Unternehmen, vor allem zuerhalten und somit individuell zugeschnittene in den Bereichen Produktion, Service und Logis- Zusatzdienstleistungen zu verkaufen. In einem tik. So stellt beispielsweise das sogenannte process dritten Schritt wurden schließlich rein digitale mining eine Methodik bereit, um interne Prozes- Geschäftsmodelle entwickelt, die sich durch eine se zu optimieren. Hier ergeben sich insbesonde- rein digitale Wertschöpfung sowie ein rein digita- re Potenziale im Bereich der Durchlaufzeiten, der les Wertangebot und Ertragsmodell auszeichnen: Prozesskosten, der Prozessstabilität, aber auch die Unternehmen in dieser Ebene konzentrieren ihr Sicherstellung von Compliance-Anforderungen, Kerngeschäft auf den Umgang mit Daten und In- zum Beispiel was die Einhaltung gesetzlicher Re- formationen. Dies bezieht sich auf die Generie- gularien betrifft. Ein anderes Beispiel ist das soge- rung, Aggregation und Analyse von Daten. Der nannte predictive maintenance, also die vorraus- Besitz und das Eigentum von physischen Vermö- schauende Wartung von Maschinen und Geräten, gensgegenständen, deren Anschaffung und War- die auf der Auswertung von Maschinendaten ba- tung im Vergleich zu Daten sehr kostenintensiv

17 APuZ 24–26/2019 ist, ist hierfür nicht notwendig, was den entspre- einigten Königreich (31 Prozent) und Frankreich chenden Unternehmen ein sehr rasches Wachs- (26 Prozent). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei tum und hohe Skalierbarkeit ermöglicht. der Ausschöpfung von Digitalisierungspotenzia- Ein Blick auf die Unternehmensgründungen len. Gemessen an 21 Indikatoren – etwa Unterneh- in Deutschland verdeutlicht dies: Die heutige mensinvestitionen im Hard- und Softwarebereich, Start-up-Szene wird klar von digitalen Geschäfts- E-Commerce oder Social-Media-Nutzung – liegt modellen dominiert. 37,8 Prozent der deutschen der Wert des ausgeschöpften Potenzials in Deutsch- Unternehmensgründungen basieren auf Soft- land bei gerade einmal zehn Prozent. Hierbei ist wareentwicklung und anderen Softwareangebo- allerdings anzumerken, dass auch andere Länder ten, weitere 12,9 Prozent auf anderen digitalen das in der Digitalisierung liegende Potenzial bis- Dienstleistungen. Insgesamt setzen 68,4 Prozent her bei Weitem nicht ausnutzen (USA: 18 Prozent, der Start-ups auf digitale Geschäftsmodelle. We- Vereinigtes Königreich: 17 Prozent, Niederlande: nig überraschend sind die meisten jungen Unter- 15 Prozent, Frankreich: 12 Prozent). 04 nehmen in der Informations- und Kommunika- Auch auf politischer Ebene wird der Da- tionstechnologiebranche angesiedelt. Doch auch tenökonomie in der Europäischen Union gro- in den Branchen Ernährung und Nahrungsmittel, ßes Wachstumspotenzial zugesprochen: Die Medizin und Gesundheit, Automobile, Logistik EU-Kom­mis­sion gibt an, dass das Volumen des und Verkehr sowie Freizeit und Sport zeigen die EU-Da­ten­marktes 2015 über 54 Milliarden Euro digitalen Geschäftsmodelle das unternehmerische betrug, zugleich geht sie von einem jährlichen Zu- Potenzial der Datenökonomie. 01 wachs um sieben Prozent aus, sodass es bis 2020 schon 84 Milliarden betragen dürfte. Den Wert POTENZIALE der EU-Datenwirtschaft insgesamt beziffert die Kommission für 2015 sogar auf 272 Milliarden Laut dem Bundesverband der Deutschen Indus- Euro, bis 2020 erwartet sie ein Wachstum um etwa trie (BDI) beträgt das Wertschöpfungspotenzial 133 Prozent auf 634 Milliarden Euro, was im sel- der Datenökonomie bis 2025 alleine für Deutsch- ben Zeitraum mit der Entstehung von 1,4 Millio- land bis zu 425 Milliarden Euro. Betrachtet man nen neuen Arbeitsplätzen einhergehen könnte. 05 ganz Europa, wird dieses Wertschöpfungspoten- Entscheidend dafür, ob der potenzielle Mehr- zial für die nächsten zehn Jahre auf bis zu 1,25 Bil- wert aus den Daten tatsächlich realisiert werden lionen Euro geschätzt. 02 Hierbei zeigen sich un- kann, wird ein intelligenter Umgang mit den Da- terschiedliche Potenziale in den verschiedenen ten sein. Ein wichtiger Faktor zur Ausschöpfung Branchen, jeweils bedingt durch Datenverfüg- der vorhandenen Potenziale ist der unterneh- barkeit und unterschiedliche Reifegrade der di- mensübergreifende Austausch von Daten zur Bil- gitalen Transformation. So wird beispielsweise dung von sogenannten Datenökosystemen. Da- im deutschen Groß- und Außenhandel bis 2025 tenökosysteme zeichnen sich dadurch aus, dass ein Wertschöpfungspotenzial von 14,4 Milliarden mehrere Unternehmen an der digitalen Wert- Euro erwartet, in der Metall- und Elektroindust- schöpfung beteiligt sind und sich neue Verwer- rie 15,1 Milliarden Euro und in der Branche der tungsmöglichkeiten in Form datengetriebener Informations- und Kommunikationstechnologie und kundenzentrierter Geschäftsmodelle erge- sogar 17,2 Milliarden Euro. 03 ben, die ein Unternehmen alleine nicht erbringen Der Anteil von Digitalinvestitionen an der Ge- könnte. Hierbei ist es wichtig, dass alle beteilig- samtwirtschaftsleistung liegt in Deutschland bei ten Unternehmen ihre Daten am Markt verfüg- 25 Prozent, hinter den USA (33 Prozent), dem Ver- bar machen, damit am Ende auch alle profitie- ren können. Dies wird jedoch nur mit geeigneten

01 Vgl. Tobias Kollmann et al., Deutscher Startup Monitor 2018. kontextbezogenen und regulierenden Einschrän- Neue Signale, klare Ziele, Berlin 2018. 02 Vgl. Roland Berger Strategy Consultants/Bundesverband der 04 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) Deutschen Industrie, Die Digitale Transformation der Industrie. Eine (Hrsg.), Weißbuch Digitale Plattformen. Digitale Ordnungspolitik europäische Studie von Roland Berger Strategy Consultants im für Wachstum, Innovation, Wettbewerb und Teilhabe, Berlin Auftrag des BDI, München–Berlin 2015. 2017. 03 Vgl. Kai Lange, Was McKinsey am deutschen Mittelstand 05 Vgl. Europäische Kommission, Europäische Datenwirtschaft: vermisst, 17. 8. 2017, www.manager-magazin.de/unternehmen/ EU-Kommission stellt Konzept für Daten-Binnenmarkt vor, Presse- artikel/​a-1163125.html. mitteilung, 10. 1. 2017.

18 Datenökonomie APuZ kungen, speziell für personenbezogene Daten, ten die Kernressource ihres Geschäftsmodells und sowie geeigneten Ertragsmodellen möglich sein, lassen deutliche Fortschritte in den Dimensionen damit ausreichende Sicherheiten und Anreize für Data Resource Management und Data Valuation die Unternehmen und Personen bestehen, ihren erkennen, das heißt, es gibt bereits eine gesteigerte „Datenschatz“ verfügbar zu machen. Wahrnehmung von Daten als Vermögenswert und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit ihrer mo- DIGITALE REIFE DER netären und nicht monetären Bewertung. 07 DEUTSCHEN WIRTSCHAFT Weiterhin ergab die Studie, dass fast alle deut- schen Unternehmen prognostizieren, dass sich ihre Das Fraunhofer-Institut für Software- und Sys- Prozesse innerhalb der nächsten fünf Jahre stärker temtechnik ISST Dortmund hat jüngst mit dem digitalisieren werden. Etwa zwei von drei befragten Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) auf Unternehmen erwarten, dass dies eine stärkere In- Basis des IW-Zukunftspanels 2018 eine empiri- tegration externer Daten – etwa von Kunden, Liefe- sche Studie erstellt, um den aktuellen Status der ranten oder externen Anbietern – mit sich bringen deutschen Industrie und industrienahen Unter- wird. Der dafür notwendige Handel mit Rohdaten nehmen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zur Teil- spielt dabei in der Erwartungshaltung der meisten habe an der Datenökonomie zu analysieren. Ins- Unternehmen noch eine untergeordnete Rolle. Im- gesamt wurden 1235 Unternehmen befragt, um merhin 12,9 Prozent erwarten einen stärkeren Zu- ihren digitalen Reifegrad zu ermitteln. 06 kauf von externen Rohdaten, während nur 6,8 Pro- Die Feststellung des Reifegrades basiert dabei zent der Unternehmen den Verkauf von Rohdaten auf den drei aufeinander aufbauenden Dimensio- als wahrscheinliche Option sehen. Vor allem klei- nen „Data Resource Management“, „Data Valua- ne und mittlere Unternehmen sind hier noch zu- tion“ und „Data Business“. Die erste Dimension rückhaltend. Bei großen Unternehmen kann sich beschreibt die Grundvoraussetzung zur Teilhabe immerhin fast jedes vierte Unternehmen einen ver- an der Datenökonomie und wird erhoben, indem stärkten Verkauf von Rohdaten vorstellen. 08 die unternehmensinternen Strukturen und Pro- zesse zur Ermöglichung von datenbasierter Wert- WIRTSCHAFTLICHE schöpfung und digitaler Transformation betrach- HERAUSFORDERUNGEN tet werden. Die zweite Dimension beschreibt den wirtschaftlichen und effektiven Umgang mit den Um die gewaltigen unternehmerischen und wirt- Unternehmensdaten. Die dritte Dimension be- schaftlichen Potenziale der Datenökonomie zu re- schreibt die aktive Nutzung und den Austausch alisieren, gilt es, verschiedene Herausforderungen von Daten und datenbasierten Produkten über im Zusammenhang mit der Ressource Daten zu die eigenen Unternehmensgrenzen hinweg. meistern. Aus ökonomischer Sicht stellt sich die Die Auswertung der Befragungsdaten münde- zentrale Frage, wie Unternehmen Daten intelligent te in die Einteilung der Unternehmen in sechs Rei- bewirtschaften sollten, um den potenziellen Mehr- festufen. Hierbei wurde festgestellt, dass 84 Pro- wert aus ihrer Nutzung tatsächlich abzuschöpfen. zent der deutschen Unternehmen im Hinblick auf In diesem Zusammenhang sind neben einem Be- ihre Eignung zur Teilhabe an der Datenökonomie wusstsein über den Bestand an Daten innerhalb noch einen geringen Reifegrad aufweisen, also al- eines Unternehmens und den technischen Impli- lenfalls als „digitale Einsteiger“ gelten können kationen für ihre Erstellung, Speicherung, Ver- (Stufen 0 und 1). 13,8 Prozent der Unternehmen arbeitung und Pflege auch organisatorische und (Stufe 2) sind „digital fortgeschritten“, das heißt, betriebswirtschaftliche Herausforderungen zu be- sie haben die internen Prozesse bereits stärker digi- achten. Hier geht es um Fragestellungen wie bei- talisiert und die digitale Transformation damit ein- spielsweise die Zuordnung von notwendigen Rol- geleitet. Nur 2,2 Prozent der Unternehmen sind len und Verantwortlichkeiten für das Management als „digitale Pioniere“ den zwei oberen Reifestu- der Daten innerhalb eines Unternehmens, aber fen zuzuordnen (Stufen 3 bis 5). Sie sehen in Da- auch um die grundsätzliche Fragestellung, wie man Daten eigentlich ökonomisch bewerten kann.

06 Vgl. Boris Otto et al., Data Economy. Status Quo der deutschen Wirtschaft & Handlungsfelder in der Data Economy, 07 Vgl. ebd., S. 12–17. Dortmund 2019. 08 Vgl. ebd., S. 19.

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Dass eindeutige Bewertungsverfahren bislang die Daten selbst betrachtet, sondern es wird das fehlen, liegt vor allem daran, dass Daten sich in Potenzial ermittelt, das sich aus der Nutzung der ihren Eigenschaften grundsätzlich von materi- Daten ergibt. So können Faktoren wie Prozess- ellen Gütern unterscheiden. Ein wichtiges Cha- optimierung und Kosteneinsparungen als Kenn- rakteristikum materieller Güter ist etwa deren werte herangezogen werden. Dieses Verfahren Verschleiß bei der Nutzung. Solche Abnutzungs- wird bereits zur Ermittlung anderer immateriel- effekte durch Verwendung in verschiedenen ler Vermögenswerte angewendet, beispielsweise Prozessen und Analysen gibt es bei Daten und bei Lizenzen, Rechten und Patenten. Informationen nicht. Zudem werden Güter übli- Gerade in der wachsenden Datenökonomie cherweise verbraucht – ein Faktor, der zentral für ergibt sich noch ein dritter Ansatz, den wir sehr das Funktionieren unserer Volkswirtschaften ist. gut von anderen Produkten und Dienstleistun- Doch auch diese Eigenschaft ist Daten und Infor- gen kennen: der Marktansatz. Hierbei müssen mationen nicht zu eigen. Selbst durch Vervielfäl- sich die Unternehmen die Frage stellen, ob für tigung verlieren Daten nicht an Wert. In diesem die von ihnen angebotenen Daten ein Markt exis- Sinne unterscheidet sich auch der Umgang mit tiert und was potenzielle Kundinnen und Kunden diesen digitalen Wirtschafsgütern von dem mit bereit sind, für sie zu zahlen. Durch die steigen- Gütern, die man anfassen kann. de Verfügbarkeit von Daten auf allen möglichen Es gibt durchaus Versuche, Berechnungsver- Plattformen und Marktplätzen gibt es auch im- fahren für die Bewertung von Daten zu entwickeln. mer mehr Vergleichsangebote, die zur Ermittlung Bei Online-Plattformen, deren Hauptressource die eines Marktwertes beziehungsweise eines Refe- Daten der Nutzerinnen und Nutzer sind, liegt es renzwertes genutzt werden können. nahe, einfach den Unternehmenswert durch die Nutzerzahl zu teilen: Dividiert man zum Beispiel RECHTLICHE die 26,2 Milliarden US-Dollar, die Microsoft 2016 HERAUSFORDERUNGEN bereit war, für die Übernahme der Social-Media- Plattform Linkedin zu zahlen, durch die damali- Was die rechtliche Seite angeht, bewegt sich die ge Nutzerzahl von 433 Millionen, ergibt das einen Datenökonomie mit all ihren datengetriebenen Wert von 60,50 US-Dollar pro Datensatz. 09 Dieser Geschäftsmodellen noch in einem Ordnungs- Ansatz hilft jedoch nicht weiter, da er, wenn über- rahmen aus dem analogen Zeitalter. Eine zentrale haupt, nur auf Unternehmen anwendbar ist, die ein rechtliche Frage im digitalen Umfeld ist die nach ähnliches Geschäftsmodell wie Linkedin verfolgen. dem Eigentum und Besitz der Daten. Sie ist ak- Die Bewertung von Daten ist jedoch eine tuell nicht abschließend geklärt und beschäftigt wichtige Voraussetzung für ihre Monetarisierung Wissenschaftlerinnen genauso wie Rechtsanwäl- und damit für Unternehmen in der Datenöko- te in Unternehmen. Je nach Kontext und Branche nomie nahezu unerlässlich. Zwar gibt es (noch) gelten für verschiedene Datenarten unterschiedli- keine allgemeingültige Formel, aber die folgen- che Verfügungsrechte. 10 Die Frage nach dem Ei- den drei Ansatzpunkte könnten als grundlegende gentum beziehungsweise den Verfügungsrechten Orientierung weiterhelfen: ist für die Unternehmen in der Datenökonomie Wer als Unternehmerin oder Unternehmer nicht nur wichtig, um die rechtlich einwand- gar keine Idee hat, wie viel die eigenen Daten wert freie Verwendung interner und externer Daten sind, kann sich einem initialen Wert nähern, indem für neue Geschäftsmodelle sicherzustellen. Sie ist sämtliche Kosten betrachtet werden, die für die Be- auch entscheidend für die Aufnahme der Daten- schaffung beziehungsweise eigene Erstellung, Spei- ressourcen in die Bilanz der Unternehmen und cherung, Pflege, Aufbereitung, Verfügbarmachung der damit verbundenen „Materialisierung“ des und Löschung oder Archivierung der Daten ange- Vermögensgegenstandes. fallen sind. Hieraus lässt sich dann ein Wert für die sogenannten Wiederbeschaffungskosten ermitteln. Ein weiterer Ansatzpunkt ist der sogenannte 10 Vgl. Nicola Jentzsch, Dateneigentum – Eine gute Idee für die Nutzwert. Hierbei werden nicht die Kosten für Datenökonomie?, 30. 1. 2018, www.stiftung-nv.de/de/publikation/ dateneigentum-eine-gute-idee-fuer-die-datenoekonomie; Christian Rusche/Marc Scheufen, On (Intellectual) Property and Other 09 Vgl. James E. Short/Steve Todd, What’s Your Data Worth?, in: Legal Frameworks in the Digital Economy, Institut der deutschen MIT Sloan Management Review 3/2017, S. 17 ff. Wirtschaft Köln, IW-Report 48/2018.

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Dies gilt sowohl für personenbezogene Da- Daneben müssen die großen Datenmengen ten als auch für nicht personenbezogene Daten. verwaltet und gesichert werden, was leistungs- Während die DSGVO weitgehend regelt, was starke Architekturen erforderlich macht, um ei- und vor allem was nicht mit personenbezogenen nen schnellen, agilen und anwendungsorien- Daten geschehen darf, ist dies für nicht perso- tierten Zugriff zu ermöglichen. Mit den neuen nenbezogene Daten aktuell unklar. Im Falle der Zugriffsmöglichkeiten und der Bereitstellung der personenbezogenen Daten drohen Unterneh- Daten für immer mehr interne und externe Nut- men bei Nichtbeachtung der Regelungen erheb- zerinnen und Nutzer und Systeme steigt auch die liche Strafzahlungen. Im Falle der nicht perso- Notwendigkeit, sich vor Cyberangriffen, Daten- nenbezogenen Daten wird derzeit in mehreren verlust und Systemausfällen zu schützen. Initiativen unter Beteiligung von Ministerien, Eine weitere zentrale Herausforderung ist die Unternehmen und Forschungseinrichtungen an Standardisierung, sowohl in Bezug auf Datenmo- Lösungen geforscht, die einen unternehmens- delle als auch auf Datenaustauschformate. Ohne übergreifenden Datenaustausch unter Wahrung diese Standards kann das Potenzial der verfüg- der sogenannten Datensouveränität ermögli- baren Daten für die neu aufkommenden daten- chen. 11 Datensouveränität ist dabei als die Fä- getriebenen Geschäftsmodelle nicht abgerufen higkeit einer natürlichen oder juristischen Per- werden. Und letztendlich gehört auch das Thema son zur ausschließlichen Selbstbestimmung der Datenqualität zu den technischen Herausfor- hinsichtlich des Wirtschaftsguts Daten zu ver- derungen. Denn eine hohe Qualität der Daten ist stehen. Dies bedeutet, dass ein Unternehmen die Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt sinn- oder eine Person selbst bestimmen kann, wer, voll analysiert werden können. wann und wofür die zur Verfügung gestellten Daten nutzen darf. FAZIT Im Kontext der voranschreitenden Entwick- lung und vermehrten Nutzung von künstlicher Die Datenrevolution ist in vollem Gange und Intelligenz ergeben sich darüber hinaus auch verändert unser aller Leben. Neben den gewalti- Haftungsfragen: Wer trägt die Verantwortung be- gen Potenzialen für die wirtschaftliche Nutzung ziehungsweise wer sollte haften, wenn ein auto- von Daten für neue Geschäftsmodelle, effiziente- nomes System Schäden verursacht? Gerade bei re Prozesse und neue Kundenservices gibt es glei- dem oft zitierten Anwendungsfall des autonomen chermaßen Herausforderungen in wirtschaftli- Fahrens spielen maschinelle Entscheidungen und cher, technischer und rechtlicher Hinsicht. die Haftung dafür eine entscheidende Rolle, was Wie meine Ausführungen gezeigt haben, wird als rechtliche Herausforderung der nächsten Zeit das Potenzial bislang jedoch bei Weitem nicht anzusehen ist. ausgeschöpft, und auch mit Blick auf die ver- schiedenen Herausforderungen gibt es noch viel TECHNISCHE zu tun, möchte man mit der internationalen Ent- HERAUSFORDERUNGEN wicklung Schritt halten. Der Vergleich mit ande- ren Ländern verdeutlicht zudem, dass die deut- Die Datenerfassung erfolgt durch immer mehr sche Wirtschaft hier zu Lösungen kommen und technische Systeme und Endgeräte. Neben ent- Themen wie Datensicherheit und Datenschutz, sprechenden Geräten bei den Verbraucherinnen Datensouveränität, Bewertung von Daten und und Verbrauchern – Smartphones, Smart Watches Bildung von Ökosystemen aktiv vorantreiben oder auch Heimassistenzsysteme wie Amazon sollte, um in der Datenökonomie eine gewichti- Alexa oder Google Home – sind dies vor allem ge Rolle spielen und sich gegen die internationale Sensoren an den unterschiedlichsten Maschinen Konkurrenz behaupten zu können. und Systemen des Internets der Dinge. Die da- raus resultierende Fülle an Daten, oft unter dem Begriff „Big Data“ zusammengefasst, verlangt MARKUS SPIEKERMANN letztendlich ständig neue Speicherlösungen. ist Wirtschaftsinformatiker und leitet die Abteilung „Datenwirtschaft“ am Fraunhofer-Institut für 11 Vgl. etwa Boris Otto et al., Industrial Data Space: Digitale Software- und Systemtechnik ISST in Dortmund. Souveränität über Daten, Whitepaper, München 2016. [email protected]

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DATENVERWERTUNG UND DATENETHIK Dirk Heckmann

Spätestens seit die Europäische Datenschutzgrund- schutzrechts Einfluss nimmt. 02 Schon das bis verordnung (DSGVO) am 25. Mai 2018 Geltung 2018 geltende Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) erlangte, wächst ein neues Bewusstsein für den ging davon aus, dass es einen Markt für personen- Umgang mit Daten heran: Wieviel Schutz brauchen bezogene Daten geben soll. Paragraf 29 BDSG (personenbezogene) Daten in der Datenökonomie, gestattete nämlich unter bestimmten Vorausset- wie sehr „schadet“ der Datenschutz den (redlichen) zungen das geschäftsmäßige Erheben, Speichern, Geschäftsmodellen in der Digitalwirtschaft, die auf Verändern oder Nutzen von Daten zum Zweck die Verwertung von Daten angewiesen sind? Ist der Übermittlung, insbesondere wenn dies der unter den Bedingungen der digitalen Transforma- Werbung, der Tätigkeit von Auskunfteien oder tion sämtlicher Lebensbereiche Datenschutz allei- dem Adresshandel diente. Bei alledem stellt sich ne eine Frage des Rechtsgüterschutzes, den es po- die Ausgangsfrage: Was sind eigentlich „Daten“? litisch auszuhandeln gilt, oder hat der Umgang mit persönlichen Daten auch eine ethische Dimension? DATEN ALS RECHTSBEGRIFF

DATEN ALS WIRTSCHAFTSGUT Der Begriff „Daten“ ist in verschiedenen Rechts- gebieten von Relevanz – zu nennen ist natürlich Wenn man unter Wirtschaftsgütern sämtliche Gü- das Datenschutzrecht, aber auch beispielsweise das ter versteht, die in einem Arbeitsprozess für die Strafrecht. Auch deshalb hat sich noch kein einheit- Leistungserstellung notwendig sind (Sachgüter, licher Rechtsbegriff des Datums beziehungsweise Dienstleistungen, Rechte), dann gehören hierzu in von Daten herausgebildet. Aufgrund des Vorschlags einer zunehmend digitalisierten Wirtschaft auch für eine europäische Richtlinie über bestimmte ver- Daten. Wie bedeutsam Daten als Wirtschaftsgut tragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler sind, zeigt nicht zuletzt die Diskussion um das Inhalte 03 könnte der Begriff der Daten auch im Zi- automatisierte und vernetzte Fahren und die mit vilrecht noch größere Bedeutung erlangen. diesem einhergehenden Fahrzeug-, Fahrer- und Unter Daten im kommunikationswissen- Fahrverhaltensdaten. Dies wirft nicht nur Fragen schaftlichen und auch im technischen Sinne sind des Datenschutzes und der Rechte zum Zugriff die auf einem Datenträger festgehaltenen Zeichen auf diese Daten, sondern auch ethische Fragen oder Zeichenfolgen zu verstehen. Zeichen sind auf. So befasste sich schon die Ethikkommission dabei zunächst interpretationsfreie Elemente der für automatisiertes und vernetztes Fahren mit die- Sprache oder der Schrift, also etwa ein Symbol, sem Komplex. Sie wurde im September 2016 vom eine Zahl oder ein Buchstabe, die sich mit ihrer Bundesminister für Verkehr und digitale Infra- Fixierung auf einem materiellen Datenträger von struktur eingesetzt und legte im Juni 2017 ihren gesprochener Sprache und visueller Beobachtung Abschlussbericht vor. 01 Die im September 2018 unterscheiden. Dies umfasst die syntaktische, eingesetzte Datenethikkommission der Bundes- vom Inhalt der Daten losgelöste Ebene. regierung greift diese Überlegungen auf und er- Begibt man sich hingegen auf die semanti- weitert das Spektrum auf grundlegende Fragen zu sche Ebene, misst man den Daten also eine Be- Datenrecht, Datenpolitik und Datenethik. deutung bei, so handelt es sich streng genommen Selbst die Rechtsprechung bezeichnet inzwi- nicht mehr um Daten, sondern um Informationen. schen (etwa im insolvenzrechtlichen Kontext) Auf dieser Ebene differenziert beispielsweise das explizit Daten als Wirtschaftsgut und geht über- Datenschutzrecht etwa über den Begriff der „per- dies davon aus, dass die zunehmende wirtschaft- sonenbezogenen Daten“. Nur wenn personenbe- liche Bedeutung von Datenerhebungen auch auf zogene Daten vorliegen, ist das Datenschutzrecht die Entwicklung des Verständnisses des Daten- anwendbar und entfaltet seine Schutzwirkung für

22 Datenökonomie APuZ den Persönlichkeitsschutz. Nach der DSGVO kleine mittelständische Unternehmen können Da- sind personenbezogene Daten alle Informationen, ten als Gegenleistung und damit als Wirtschaftsgut die sich auf eine identifizierte oder identifizierba- interessant sein. Dabei ist zu differenzieren, wie an re natürliche Person (im Folgenden: „betroffene zwei Anwendungsfällen gezeigt werden kann. Person“) beziehen. Als identifizierbar wird eine Anwendungsfall 1: Das Unternehmen S ver- natürliche Person angesehen, die direkt oder in- treibt Gartenteiche. Über dessen Website ist es direkt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer möglich, die Gartenteiche auch online zu bestel- Kennung wie einem Namen oder zu einer Kenn- len. Hierbei muss der Kunde seine persönlichen nummer oder ähnlichem identifiziert werden kann Daten, beispielsweise Name und Adresse, in eine (Art. 4 Nr. 1 DSGVO). Dabei ist es nicht zwin- Maske eintragen und den entsprechenden Teich gend notwendig, dass die Informationen, die zur auswählen, damit der Vertrag erfolgreich abgewi- Identifizierung einer Person erforderlich sind, nur ckelt werden kann. Die Konfiguration der Gar- einer einzigen Person zur Verfügung stehen müs- tenteiche erfolgt mittels direkter Kommunikation sen. 04 Ein Personenbezug ist daher bereits dann zwischen Unternehmen und Kunde. herstellbar, wenn die datenverarbeitende Stelle Anwendungsfall 2: Das Unternehmen S möch- über rechtliche Mittel verfügt, die es ihr erlauben, te nun ein Kundenportal mit einem sogenannten den Betroffenen anhand der dadurch erhaltenen Gartenteichkonfigurator einsetzen. Mithilfe des Informationen zu identifizieren (etwa über gesetz- Konfigurators kann der Kunde bestimmte Daten lich geregelte Auskunftsansprüche gegen Dritte). seines Grundstücks, beispielsweise Angaben über Demgegenüber hat der Daten-Begriff bislang Größe, Form und Hangneigung, eingeben. Außer- noch keinen Eingang ins Bürgerliche Gesetzbuch dem soll der Kunde persönliche Angaben machen, gefunden. Das ist insofern bemerkenswert, als beispielsweise über sein Alter und die Anzahl der die unstreitige Bedeutung als Wirtschaftsgut eine im Haushalt lebenden Personen. Hier ist insbeson- Einordnung in das Zivilrecht nahelegt. In die- dere anzugeben, ob sich darunter Kinder befinden se Richtung geht auch die derzeit heftig geführte und wie alt diese sind. Auch Angaben zu einer et- Diskussion um ein „Dateneigentum“ – also etwa waigen Bepflanzung oder Tierhaltung werden ge- die Fragen, wem die Daten gehören beziehungs- fordert. Aufgrund dieser Daten wird dem Kunden weise wem sie zuzuordnen sind. daraufhin der Gartenteich (einschließlich Zubehör und weiterer Services, beispielsweise Sicherungen DATEN ALS GEGENLEISTUNG zum Schutz kleiner Kinder) angeboten, der am besten zu ihm und seinem Grundstück passt. An- Der Einsatz von Daten als Wirtschaftsgut birgt hand der Bepflanzung und Tierhaltung sollen die für Unternehmen ein enormes Potenzial. Neben Intervalle für die Reinigung und Wartung des Gar- der Produktentwicklung und der Produktverbes- tenteichs bestimmt werden. Neben der Erfüllung serung können sie auch der gezielteren Vermark- auf diese Weise avisierter und assoziierter Kunden- tung von Produkten dienen, wobei hierdurch wünsche möchte S die eingegebenen Daten seiner noch lange nicht sämtliche Einsatzfelder aufge- Kunden auch für andere Zwecke nutzen, beispiels- zählt sind. Dabei muss es nicht immer um Pro- weise, um seine Produkte zu verbessern oder die fildaten gehen, wie sie bei Suchmaschinen oder in Produktpalette an die von den Kunden am meisten sozialen Netzwerken generiert werden. Auch für nachgefragten Gartenteiche auszurichten. Das Un- ternehmen ist bereit, dem Kunden für die Preisga- 01 Vgl. Bericht der Ethikkommission automatisiertes und vernetz- be seiner Daten einen Preisnachlass zu gewähren. tes Fahren, Juni 2017, www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikatio- Im Anwendungsfall 1 werden die Daten ledig- nen/DG/bericht-der-ethik-kommission.html. Der Verfasser dieses lich zur Vertragserfüllung benötigt, sie bilden da- Beitrags war Mitglied dieser Ethikkommission. Er wurde zudem 2018 in die Datenethikkommission der Bundesregierung berufen. gegen nicht selbst den Gegenstand des Vertrags. 02 Vgl. Landgericht Düsseldorf, Urteil vom 9. 3. 2016 – 12 O Die Erhebung der persönlichen Daten des Kunden 151/15 – ZD 2016, 231, 233 unter Rn. 62. und die anschließende Nutzung für eigene Ge- 03 Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des schäftszwecke ist hierbei ohne Weiteres zulässig, Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertrags- da diese für die Begründung und Abwicklung eines rechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte, 9. 12. 2015, COM(2015) 634 final. rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnisses mit dem 04 Vgl. Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 19. 10. 2016 – Betroffenen erforderlich sind (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 C-582/14 – Breyer/Deutschland Tz. 43. lit. b DSGVO). Würde der Unternehmer S nicht

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über die Daten seines Kunden verfügen, wüsste er stöße empfindliche Sanktionen vorsieht. Für die beispielsweise nicht, an wen der Gartenteich gelie- Verarbeitung personenbezogener Daten ohne Ein- fert werden sollte, und die Vertragserfüllung wäre willigung des Betroffenen können, sofern die Verar- unmöglich. Daher sind die Erhebung und die Nut- beitung nicht durch eine gesetzliche Grundlage ge- zung dieser Daten, die allein der Vertragserfüllung deckt ist, Bußgelder bis zu 20 Millionen Euro oder dienen, datenschutzrechtlich zulässig. vier Prozent des gesamten weltweit erzielten Jah- Im Anwendungsfall 2 erlangen die Daten dage- resumsatzes eines Unternehmens verhängt werden gen einen Gegenleistungscharakter, da dem Kun- (was freilich nur bei erheblichen Verstößen auch nur den im Gegenzug zur Preisgabe seiner Daten ein annähernd eine solche Größenordnung erreicht). Preisnachlass gewährt werden soll. Die Bereitstel- In diesem Zusammenhang ist zudem zu beden- lung der Daten bildet somit bereits eine der Haupt- ken, dass sich eine Rückabwicklung des Vertrags, leistungen des Vertrags. Aufgrund des Grundsat- beispielsweise wenn der Gartenteich im genannten zes der Vertragsfreiheit ist die Festlegung von Fallbeispiel einen Mangel aufweist, gerade bei Da- Daten als Gegenleistung grundsätzlich möglich. ten als Gegenleistung sehr schwierig gestaltet, da Diese vertragliche Regelung gewährt dem Unter- die Daten bereits mit anderen Daten verknüpft sein nehmen S ein Zugriffsrecht auf die Daten des Be- könnten. Aus technischer Sicht empfiehlt es sich troffenen, das jedoch aufgrund gesetzlicher oder daher, dass der Datensatz stets im Ganzen lösch- vertraglicher Vorgaben eingeschränkt sein kann. bar bleibt. Insgesamt gilt, bereits im Vorhinein all Zudem stellt sich – beiden Vertragspart- diese Fragestellungen zu bedenken, um nachträgli- nern – die Frage nach dem Wert der Daten, des- che Schwierigkeiten vermeiden zu können. sen Bestimmung große Schwierigkeiten bereitet. Dies ist unter anderem dem Umstand geschul- WERT DER DATEN det, dass Daten oft erst durch die nachträgliche Verknüpfung mit anderen Daten an Wert gewin- Dass Daten, vor allem im digitalen Raum, einen nen. Eine erste Herausforderung wird daher sein, ökonomischen Wert haben, ist unbestritten. Nicht den Preisnachlass anhand der zur Verfügung ge- nur Sachdaten können einen enormen wirtschaft- stellten Daten zu bestimmen. Überdies müssen lichen Wert aufweisen. Auch personenbezogene zur Wirksamkeit des Vertrags seine wesentlichen Daten sind oft Teil der Vermarktungsstrategie von Inhalte genau festgeschrieben werden. Dies be- Produkten und Dienstleistungen, auch werden sie deutet, dass genau festgelegt werden muss, wel- als eigener Produktionsfaktor bezeichnet. Sie neh- che Daten für die Gewährung des Preisnachlasses men damit eine wichtige Rolle im Warenzyklus zur Verfügung gestellt werden und was mit diesen ein. Der ihnen hierdurch zukommende Wert macht Daten geschieht. sie zudem für den Datenhandel attraktiv. Den wirt- Weil die Daten im Anwendungsfall 2 für die schaftlichen Wert von Daten präzise zu bestim- Vertragsabwicklung als solche nicht erforderlich men, stellt jedoch eine große Herausforderung dar. sind, bedarf es nach dem Grundsatz des Verbots Durch die doppelte Nutzbarkeit der Daten mit Erlaubnisvorbehalt (Art. 6 Abs. 1 DSGVO) der für die Entwicklung und Vermarktung von Pro- Einwilligung des Betroffenen. Diese ist neben der dukten und Dienstleistungen (Gebrauchswert bloßen Hingabe der Daten – und neben dem (rest- von Daten) entstand auch ein von den Markt- lichen) Kaufpreis – als Hauptleistung geschuldet, mechanismen Angebot und Nachfrage bestimm- da eine Verarbeitung der Daten nur bei Erteilung ter Datenhandel. Hierbei werden einzelne (Kun- der datenschutzrechtlichen Einwilligung möglich den-)Daten oder Datenpakete entweder zwischen ist. Die Einwilligung muss informiert erfolgen, was Unternehmen verkauft beziehungsweise gekauft bedeutet, dass der Betroffene genau über die Art oder diese werden dem Unternehmer von Nut- der preisgegebenen Daten und deren beabsichtig- zern im Rahmen der Inanspruchnahme einer IT- te Verarbeitungszwecke aufgeklärt werden muss. Dienstleistung, etwa eines sozialen Netzwerks, Der Verarbeitungszweck ist daher bereits vorab zur Verfügung gestellt (Tauschwert von Daten). zwingend festzulegen, weshalb das Unternehmen Der Gebrauchs- und Tauschwert von Daten S von Anfang an wissen muss, für welche Zwecke rechtfertigt es, ihnen einen Warencharakter zuzu- die Daten verarbeitet werden sollen. schreiben. Die Annahme eines Warencharakters von Es ist wichtig, die datenschutzrechtlichen An- Daten findet ihre Bestätigung ebenso im Vorschlag forderungen einzuhalten, da die DSGVO für Ver- für eine europäische Richtlinie über bestimmte ver-

24 Datenökonomie APuZ tragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler nalen Vorschriften strengeres Koppelungsverbot vor. Inhalte vom 9. Dezember 2015: „In der digitalen Dieses soll vor allem für die Konstellationen gelten, Wirtschaft haben Informationen über Einzelper- in denen eine Einwilligung in die Datenverarbeitung sonen für Marktteilnehmer immer mehr einen mit nicht erteilt werden muss, aber der Betroffene bei Geld vergleichbaren Wert. Digitale Inhalte werden Verweigerung der Einwilligung auch keinen Ver- häufig nicht gegen Zahlung eines Preises bereitge- trag abschließen kann. So sollte es im Ausgangsfall stellt, sondern gegen Erbringung einer anderen Leis- möglich sein, den Kauf auch ohne Konfigurator ab- tung als Geld, d. h. durch Gewährung von Zugang zuschließen. Weiterhin muss der Kunde eine infor- zu personenbezogenen oder sonstigen Daten.“ 05 mierte Einwilligung abgeben können. Ihm müssen alle für die Disposition über seine Daten relevanten DATENSCHUTZRECHT Informationen bereitgestellt werden. Darüber hinaus ist die Einwilligung stets frei Nicht nur dem Anbieter des Gartenteichkonfi- widerruflich (Art. 7 Abs. 3 DSGVO), hierauf kann gurators, bei dem (auch) die Kundendaten zum der Datengeber auch nicht wirksam verzichten. Vertragsgegenstand werden, stellen sich daten- Sind Daten jedoch nunmehr die Gegenleistung ei- schutzrechtliche Herausforderungen. 06 Auch der nes Vertrags und wird die Einwilligung nachträg- Verkäufer beim „klassischen“ Vertrieb über einen lich widerrufen, stellt sich die Frage, wie mit die- Online-Shop könnte sich beispielsweise überlegen, ser „nachträglichen Nichterfüllung“ umgegangen ob er dem Käufer via E-Mail-Newsletter oder Tele- werden muss. Dies ist juristisch umstritten und fonanruf nach ein paar Monaten ein Zubehör- oder höchstrichterlich noch nicht geklärt. Ersatzteil anbieten darf. Dies zeigt, dass im Rah- men der hier maßgeblichen Beleuchtung von Daten AUF DEM WEG ZUM DATENRECHT als Wirtschaftsgut der klare Fokus auf den Kunden- daten liegt. Werden Kundendaten als ökonomisch Als die DSGVO vor etwas über einem Jahr Gel- bedeutsame Gegenleistung angesehen, stellt sich in tung erlangte, war die Aufregung groß: Vom Bü- datenschutzrechtlicher Hinsicht das Problem, wie rokratiemonster war die Rede, von Rechtsun- der Grundsatz informationeller Selbstbestimmung sicherheit und Überforderung, besonders bei zur Geltung gebracht werden kann. Vereinen und kleinen Unternehmen. Tatsächlich Der Grundsatz der Zweckbindung besagt da- hatten es die verantwortlichen staatlichen Stellen, bei zunächst, dass die Verarbeitung der Daten nur allen voran die Datenschutzaufsichtsbehörden, für die Zwecke erfolgen darf, für die sie auch erho- zunächst versäumt, frühzeitig aufzuklären, prakti- ben wurden und die dem Betroffenen kommuni- sche Tipps zur Umsetzung der DSGVO zu geben ziert wurden. Daher muss der Zweck auch bereits und Ängste zu nehmen. Als dies dann im Sommer bei Abschluss des Vertrags festgelegt sein. Greift 2018 nachgeholt wurde, hatte das im Ansatz groß- für die jeweiligen datenschutzrechtlich relevanten artige europäische Regelwerk bereits ein schlech- Handlungen kein spezifischer Erlaubnistatbestand, tes Image, das es bis heute nicht losgeworden ist. sind hierfür nach dem sogenannten Verbot mit Er- Der gebetsmühlenartig vorgebrachte Hinweis, ei- laubnisvorbehalt die Einwilligungen der Kunden gentlich ändere sich kaum etwas an der bisherigen erforderlich. Diese müssen zu ihrer Wirksamkeit Rechtslage, nutzt in Zeiten verunklarender Pa- zahlreiche Voraussetzungen erfüllen, die im Ein- nik in den sozialen Netzwerken eher wenig. Dass zelnen wiederum Probleme bereiten können: nunmehr von Beratung statt Strafen bei Erstver- Zunächst muss eine datenschutzrechtliche Ein- stößen die Rede ist, beruhigt nur wenig, weil sich willigung stets freiwillig sein. Dies wäre etwa nicht die Verunsicherung mittlerweile verfestigt hat. der Fall, wenn personenbezogene Daten verlangt Dabei ist das in der DSGVO normierte, aus werden, die grundsätzlich nicht für die Erfüllung des der bislang geltenden Datenschutzrichtlinie ent- Vertrags erforderlich sind (Art. 7 Abs. 4 DSGVO). wickelte Datenschutzrecht so konzipiert, dass es Damit sieht die DSGVO ein gegenüber den natio- dem Anliegen einer informationellen Selbstbe- stimmung der Betroffenen Rechnung trägt, die Verantwortlichen in die Pflicht nimmt, Daten- 05 Europäische Kommission (Anm. 3), S. 18. 06 Ausführlich hierzu Dirk Heckmann/Martin Scheurer, Daten- verarbeitung transparent zu machen, und die schutzrecht, in: Dirk Heckmann (Hrsg.), juris Praxiskommentar aufsichtsbehördlichen Instrumente stärkt. So Internetrecht, Saarbrücken 20196, Rn. 182 ff. verhängte die polnische Datenschutzbehörde mitt-

25 APuZ 24–26/2019 lerweile ein Bußgeld von über 200 000 Euro an eine wendige politische Auseinandersetzung um sinn- Wirtschaftsauskunftei, ein Krankenhaus in Portu- volle Datennutzung zu unterbinden. Man muss gal musste 400 000 Euro zahlen, und in Frankreich freilich auch konstatieren, dass die Gestaltungs- wurde Google mit dem bislang höchsten Bußgeld möglichkeiten des Gesetzgebers im Daten(schutz) in Höhe von 50 Millionen Euro belegt. recht begrenzt sind, weil Regulierung im Internet Dass der Schutz personenbezogener Daten und auch vor dem Hintergrund internationaler Ver- der Privatsphäre dennoch nach wie vor lückenhaft flechtungen und autonomer Steuerung der Akteu- ist, hat andere Gründe: Zum einen gehen viele Be- re wenig Durchschlagskraft hat. troffene selbst sowohl mit ihren Daten als auch mit Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: Sehr ihren IT-Systemen sorglos um; zum anderen ist ju- viele Services werden heute cloud-basiert angeboten, ristisch noch nicht geklärt, ob die massenhafte Er- entsprechende Inhalte auf verteilten Servern bereit- stellung von Nutzerprofilen mit eher rudimentärer gehalten, wo sie die Nutzer orts- und zeitunabhängig Information für die Betroffenen als Teil redlicher abrufen können. Zu den größten Anbietern gehören Geschäftsmodelle („Daten als Gegenleistung“) US-amerikanische IT-Dienstleister, deren Angebo- rechtmäßig oder gerade wegen der tendenziellen In- te oft wirtschaftlich attraktiv und kundenorientiert transparenz im Hinblick auf die dahinter stehenden sind, sodass sowohl private als auch geschäftliche Geschäftsinteressen unzulässig ist. Wie präzise und und gar behördliche Nutzer gerne darauf zugrei- nachprüfbar müssen die Informationen sein, die fen. Weil in den USA aber schon aufgrund vielfäl- ein Unternehmen in Bezug auf die hinter dem Ge- tiger Zugriffsmöglichkeiten der Geheimdienste und schäftsmodell verborgenen Modi und Zwecke der Sicherheitsbehörden kein dem europäischen Recht Datenverarbeitung den Nutzern mitzuteilen hat? vergleichbares Datenschutzniveau herrscht, wird Genau an dieser Stelle schweigt das geltende die Nutzung entsprechender Cloud-Services von Datenschutzrecht. Die in der DSGVO veranker- den Datenschutzbehörden sehr kritisch gesehen. ten Prinzipien der Zweckbindung und Transparenz Ein Verbot der Nutzung eines solchen vermeintlich laufen ins Leere, soweit ein Unternehmen mit sei- unsicheren Dienstes wird gleichwohl kaum vorge- nem datengetriebenen Geschäftsmodell vorder- schlagen, weil es zumindest aus Sicht der Mehrheit gründig Zwecke wie Werbung und „Verbesserung der Nutzer keine brauchbare Alternative gibt. Lö- des Nutzererlebnisses“ angeben kann und nicht zu- sungen wie der sogenannte EU-US Privacy Shield letzt auch deswegen kaum sanktioniert wird, weil (in Ablösung des Safe-Harbor-Abkommens, das der die Nutzer gerade ein solches Geschäftsgebaren for- Europäische Gerichtshof 2015 für ungültig erklärt dern oder zumindest hinnehmen. So mag es im De- hat) sind zweifelhaft, das Dilemma der unterschied- tail kleinere Reformen und Anpassungen des Da- lichen Rechtskulturen zwischen den USA und der tenschutzrechts geben. Was – gleichsam als „großer EU im Hinblick auf den Datenschutz bleibt. 07 Wurf“ – fehlt, ist die Regulierung eines Datenrechts, Und dies ist durchaus symptomatisch für die In- das sich nicht auf einen mehr oder weniger wirk- ternetnutzung. Bestimmte Verhaltensweisen (wie samen Datenschutz kapriziert, sondern die gesam- die Nutzung von Cloud-Services, das Tauschen von te Wertschöpfungskette entlang der Datenerfassung Inhalten in sozialen Netzwerken oder die Selbstver- und Datennutzung interessengerecht in den Blick messung über Fitnesstracker) beruhen auf reinen nimmt. Auch und gerade das Datenschutzrecht Nützlichkeits- und Bequemlichkeitserwägungen, steht einem maßvoll regulierten Datenverwertungs- bei denen das Datenschutzrecht, das Urheberrecht recht nicht entgegen. In diese Richtung geht auch oder der Schutz der Privatsphäre kaum einen Platz die Arbeit der Datenethikkommission der Bundes- finden. Diesen Umstand machen sich viele Anbieter regierung, die bis Oktober 2019 Eckpunkte für ein zunutze. Die Menschen nutzen diese Technologien, ethisch verantwortbares Datenrecht entwickelt. weil sie nützlich, preiswert, attraktiv und besonders Zumindest in der Theorie wirkt das geltende einfach (im Sinne von „plug and play“) gestaltet sind. Datenschutzrecht der DSGVO konsistent. Was al- Die Hersteller forcieren die Verbreitung durch ihre lerdings noch aussteht, ist ein Datenrecht, das auch Geschäftsmodelle. Dieses System setzt eine erheb- nicht personenbezogene Daten einbezieht. Ein liche, permanente und oft unmerkliche Erhebung, solches Datenrecht würde Phänomene wie Big- Verarbeitung und Übermittlung personenbezoge- Data-Analysen, Cloud-Computing, die Informa- ner Daten voraus: Nur so können nämlich der güns- tionsverarbeitung über die Blockchain und vieles andere mehr realistisch einbinden, ohne die not- 07 Vgl. ebd., Rn. 702 ff.

26 Datenökonomie APuZ tige Preis („Daten als Währung“), der hohe Nut- ter Alternativen und Praktikabilität voraus. Einer zen („Mehrwert durch Datenverknüpfung“) und normativen Kraft des Faktischen, wie sie etwa beim damit die starke Verbreitung durch Netzwerkbil- Datenzugriff durch die Betreiber von Suchmaschi- dung („kritische Masse“) gewährleistet werden. Es nen oder sozialen Netzwerken vorherrscht, sollte lässt sich hier durchaus von einer „Plug-and-play- frühzeitig entgegengewirkt werden.“ 09 Falle“ sprechen, weil diesem System ein hoher Ver- Hier wird deutlich, dass sich die Möglichkeit führungsgrad innewohnt, der sich auf die Einwilli- einer Verwertung personenbezogener Daten (hier: gungsfähigkeit zur Datenverarbeitung auswirkt. Die Fahrverhaltensdaten, Standortdaten etc.) nicht al- Datenverknüpfung ist – zum Teil technisch, zum leine nach dem Datenschutzrecht richtet, dass es Teil auch durch das Geschäftsmodell bedingt – un- also nicht genügt, eine Einwilligung einzuholen. merklich, eine kritische Distanz der Nutzer hierzu Vielmehr ist das jeweilige Geschäftsmodell zu hin- weder erwünscht noch praktisch umsetzbar.­ 08 terfragen. Suchmaschinen und soziale Netzwerke Hier gilt es letztlich anzusetzen: Ein wirksa- entfalten insofern eine normative Kraft des Fakti- mer Datenschutz setzt ein Datenschutzbewusst- schen, weil sie eine große Verführungskraft zur In- sein und damit ein hohes, auf ausreichender anspruchnahme des Dienstes entfalten und alsdann Sachkenntnis beruhendes Verständnis von Da- eine faktische Abhängigkeit der Nutzer herbeifüh- tenverarbeitung voraus. Diese „Digitalkompe- ren. Zunächst werden kostenfrei attraktive Services tenz“ gilt es schon früh in den Schulen und dann zur Verfügung gestellt, die von einer großen Anzahl über (betriebliche) Fortbildung bis ins hohe Alter von Personen weltweit genutzt werden, die letztlich zu vermitteln. In der Diskussion um „digitale Bil- nicht mehr auf diese Nutzung verzichten wollen. dung“ ist dies ein wichtiger Punkt. Dass diese Leistungen mit den eigenen Daten „be- zahlt“ werden, erscheint wiederum unkritisch, weil DATENETHIK die Verwertung der Daten zumeist mit dem werbe- finanzierten „Privatfernsehen“ verglichen wird. Nicht zuletzt mit Blick auf die skizzierten Steu- Dass allerdings die Erzeugung und vielfälti- erungsdefizite wird über die Frage rechtlicher ge Verwertung von Nutzerprofilen tiefe Einblicke Regulierbarkeit hinaus auch diskutiert, ob Ge- in das Privatleben und die Persönlichkeit gewährt schäftsmodelle, die einen schleichenden Verlust und über die Ermittlung von Nutzerpräferenzen zu an Privatheit zur Folge haben können, überhaupt Werbezwecken weit hinausgeht, machen sich vie- ethisch verantwortbar sind: Wie redlich ist es, un- le nicht bewusst. Und so erreicht diese flächende- zählige Internetnutzer in die „Plug-and-play-Fal- ckende Auswertung von Persönlichkeitsmerkma- le“ tappen zu lassen? len eine ethische Dimension. Scheint diese Form Die Ethikkommission für automatisiertes der „Selbstausbeutung“ bei der Nutzung von Goo- und vernetztes Fahren hat hierzu in ihrem Ab- gle und Facebook kaum mehr reversibel, soll etwa schlussbericht eine Regel formuliert: „Erlaubte beim autonomen Fahren verhindert werden, dass Geschaftsmodelle, die sich die durch automatisiertes die Betroffenen die Hoheit über die vielfältig damit und vernetztes Fahren entstehenden, für die Fahr- verbundenen Daten aus der Hand geben. Diese Fra- zeugsteuerung erheblichen oder unerheblichen Da- ge ist zukunftweisend: Was beim autonomen Fah- ten zunutze machen, finden ihre Grenze in der Au- ren schon vielfältig, aber noch einigermaßen über- tonomie und Datenhoheit der Verkehrsteilnehmer. schaubar ist, verliert im Internet der Dinge vollends Fahrzeughalter oder Fahrzeugnutzer entscheiden alle Konturen. Wenn künftig alles mit allem ver- grundsätzlich über Weitergabe und Verwendung knüpfbar ist, sind unbegrenzte Möglichkeiten ihrer anfallenden Fahrzeugdaten. Die Freiwilligkeit denkbar, (vermeintlich) nützliche Geräte, Anwen- solcher Datenpreisgabe setzt das Bestehen ernsthaf- dungen und Dienste anzubieten, die „das Nutze- rerlebnis verbessern“. Es kostet nur die Privatheit. 10 08 Zur Plug-and-play-Falle vgl. Dirk Heckmann, Persönlichkeits- schutz im Internet, in: Neue Juristische Wochenschrift 36/2012, DIRK HECKMANN S. 2631–2635. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, 09 Ethikkommission automatisiertes und vernetztes Fahren Sicherheitsrecht und Internetrecht sowie Leiter der (Anm. 1), S. 12. 10 Zu möglichen Schutzkonzepten vgl. Dirk Heckmann, Smart Forschungsstelle für IT-Recht und Netzpolitik an der Life – Smart Privacy Management, in: Kommunikation und Recht Universität Passau. 1/2011, S. 1–6. [email protected]

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KARTELLRECHT IN DER DATENÖKONOMIE Rupprecht Podszun

Das Oberlandesgericht Nürnberg hatte 2016 ei- ge. Sie senken die Suchkosten und führen auf be- nen Fall zu entscheiden, der auf den ersten Blick queme Weise Anbieter und Nachfrager zusam- wenig aufregend scheint. 01 Es ging um eine Sat- men. Die eigentlich relevante Leistung bleibt zungsbestimmung der Taxizentrale Nürnberg, aber die Beförderung eines Fahrgastes. Das erle- der fast alle der rund 300 in der Stadt tätigen digt kein Silicon-Valley-Unternehmen, sondern ­Taxi-Unternehmen angeschlossen sind. Die Ge- ein selbstständiger Taxler mit überschaubarem nossenschaft hatte in der Satzung festgelegt, dass Verdienst. geschäftliche Informationen, die Fahrerinnen und Fahrer von der Zentrale erhalten, nicht wei- ENTWICKLUNG tergegeben werden dürfen. Das klingt zunächst DES KARTELLRECHTS: nach einer Selbstverständlichkeit: Der Schutz ZÄHMUNG DER TITANEN von Betriebsgeheimnissen ist anerkannt. Doch die ­Taxizentrale stellte klar, dass das Weitergabe- Das Beispiel aus Nürnberg zeigt auch, wie sehr verbot auch für Positions- und Bewegungsdaten sich in kurzer Zeit die Erwartungen an die Ord- der Fahrzeuge gelte, wenn die Daten im Zusam- nung des Wettbewerbs – und diese leistet das menhang mit einem von der Taxizentrale vermit- Kartellrecht – gewandelt haben. Denn inzwi- telten Auftrag stünden. Im Klartext: Erhält ein schen wird nach den Regeln zum Schutz des ­Taxi-Unternehmer einen Auftrag über die Zen- Wettbewerbs nicht mehr primär gerufen, um trale, darf er nicht an Dritte berichten, wo er Schneisen für datenbasierte Geschäftsmodelle zu sich gerade befindet. Die Folge: Konkurrieren- schlagen. Vielmehr sollen mit rechtlichen Regeln de Vermittler wie Mytaxi oder Uber hätten nicht nun die Auswüchse eines Wildwest-Kapitalis- gewusst, wo sich Taxen gerade befinden. Ist es mus eingefangen werden. Selbst der des Sozialis- erlaubt, eine solche Satzungsbestimmung zu ver- mus unverdächtige „Economist“ rief 2018 nach einbaren? Das Oberlandesgericht kippte die un- einer Zähmung der Technologie-Giganten. 02 An- scheinbare Bestimmung und machte damit den dreas Mundt, der Präsident des Bundeskartell- Weg frei für die digitalen Vermittlungsdienste. amts, und Margrethe Vestager, scheidende Wett- Unter Berufung auf das Gesetz gegen Wettbe- bewerbskommissarin der Europäischen Union, werbsbeschränkungen (GWB) konnte der Wett- sind zu „Stars“ geworden, das Kartellrecht ist bewerb Fahrt aufnehmen, und innovative, nut- zur Projektionsfläche für eine neue Wirtschafts- zerfreundlich gestaltete Apps traten neben den ordnung geworden. Bundeskartellamt und Eu- Anruf bei der Taxizentrale. ropäische Kommission, so scheint es, sind für Der Rechtsstreit ist symptomatisch für die viele die willkommenen Gegenspieler zu den Verschiebungen im Wettbewerbsgefüge einer da- sogenannten GAFA-Unternehmen geworden: tengetriebenen Ökonomie. Daten sind zu einem Google, Amazon, Facebook und Apple, jene entscheidenden Wettbewerbsparameter gewor- sensationell erfolgreichen Titanen des Internet­ ­ den. Neue Angebote drängen in den Markt und zeitalters,­ die immer mehr Aspekte des Lebens treten in Konkurrenz zu etablierten Geschäfts- und der Wirtschaft kontrollieren. Können die modellen, was zu Verteilungskämpfen führt, Kartellbehörden das? die auch mit rechtlichen Waffen gefochten wer- Kartellrecht hat die Aufgabe, den wirtschaft- den. So willkommen der Wettbewerb ist, so we- lichen Wettbewerb zu schützen: Unternehmen nig sollte übersehen werden, was eigentlich das sollen in Rivalität miteinander in das Ringen Neue ist. Die App-Anbieter vermitteln Aufträ- um Angebot und Nachfrage eintreten. Sie dür-

28 Datenökonomie APuZ fen sich nicht zu Lasten ihrer Abnehmer abspre- Kartellrecht als ein politisch-sittlich begründeter chen; wenn sie wirtschaftlich mächtig sind, dürfen Rahmen, der Freiheit sichert, auch damit sich ein sie ihre Macht nicht missbrauchen. Adam Smith, selbstbewusstes Unternehmertum nicht wieder der vom Moralphilosophen zum ersten moder- gleichschalten lässt. nen Wirtschaftswissenschaftler wurde, hatte sol- Von dieser ideengeschichtlichen Grundie- che Grundbedingungen des Funktionierens von rung löste sich das Kartellrecht im Laufe seiner Märkten in einer freien Wirtschaft schon in sei- Anwendungspraxis, es wurde regelrecht entpo- nem epochemachenden Werk „Der Wohlstand litisiert. Insbesondere die in den USA erfolg- der Nationen“ 1776 erkannt. In rechtliche Rege- reiche Chicago School verrückte die Ziele des lungen wurden die Erkenntnisse zuerst Ende des Kartellrechts und auch die Interventionsschär- 19. Jahrhunderts in Kanada und den USA über- fe; ab den 1980er Jahren wurde das Kartellrecht setzt. In den USA waren einzelne Unternehmens- einseitig auf die Sicherung niedriger Verbrau- gruppen (Trusts), etwa die von John Rockefel- cherpreise ausgerichtet. Von echten Kartellen, ler oder J. P. Morgan, so mächtig geworden, dass also Preisabsprachen von Wettbewerbern, ab- sie ökonomisch kaum mehr kontrolliert werden gesehen fand eine Durchsetzung in den USA konnten. Niedrige Preise für Verbraucherinnen kaum mehr statt. Die Nachweisanforderungen und Verbraucher oder technische Fortentwicklun- für eine behördliche Intervention in den Wett- gen sind aber nicht zu erwarten, wenn Unterneh- bewerb stiegen erheblich. Zwar wurde dieser men zu mächtig werden und ihnen die Kontrolle Laisser-faire-Ansatz in Deutschland und Euro- durch den Wettbewerb fehlt. Darum wurden die pa nicht in gleicher Weise nachvollzogen. Doch ersten Wettbewerbsgesetze ­geschaffen. ökonomische Berechnungen (statt rechtlicher Doch der Impuls war nicht nur das Stre- Wertungen) und Schutz des Verbrauchers (statt ben nach Effizienz. Von Beginn an war das Kar- Schutz des Wettbewerbsprozesses) wurden tellrecht auch politisch gedacht. Dem Sena- auch hier bedeutsamer. Dieser „more economic tor John Sherman, nach dem das amerikanische approach“ wird erst seit Kurzem wieder kriti- Antitrustgesetz von 1890 bis heute benannt ist, scher gesehen. 04 war auch der Einfluss der Trusts auf das politi- Während das Kartellrecht derzeit in diesem sche Geschäft ein Graus. Ganz ähnlich ist auch nervösen Selbstfindungsprozess steckt, kommt die deutsche und europäische Kartellrechtsge- es zu Disruptionen in der Wirtschaft. Inzwischen schichte von einem doppelten Impuls geprägt: gibt es keine Branche mehr, die nicht komplett In Deutschland wurde das GWB auf Drängen digitalisiert und damit umgewälzt wird. Darauf der US-amerikanischen Befreier 1958 eingeführt. war und ist das Kartellrecht nicht vorbereitet, ob- Parallel wurde im europäischen Recht das Kar- wohl es seine Aufgabe ist, das Funktionieren der tellrecht verankert. Einflussreich waren damals Marktwirtschaft abzusichern. die Vorstellungen der ordoliberalen Denker der Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz VERÄNDERUNGEN Böhm, die in Wirtschaftsminister Ludwig Erhard DES WETTBEWERBS: einen Partner fanden. Der Freiburger Schule galt NEUE PLANWIRTSCHAFT? Kartellrecht als notwendiger Rechtsrahmen für eine effiziente Wirtschaft, in der sich Unterneh- Die Digitalisierung hat die Marktwirtschaft nicht men immer aufs Neue beweisen müssen. Böhm nur durch neue Produkte oder Dienstleistungen sah den Wettbewerb aber auch als „genialstes bereichert, sondern ihre Strukturen grundlegend Entmachtungsinstrument der Geschichte“ 03 – verändert. Das Kartellrecht steht damit vor un- gekannten Phänomenen. Charakteristisch ist die

01 Vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 22. 1. 2016, 1 U 907/14, Veränderung des Wettbewerbs durch datengetrie- Taxi-Positionsdaten, in: Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) bene Plattformen, die in kurzer Zeit in verschie- 4/2016, S. 194–198. denen Märkten so gewaltige Macht entfalten, dass 02 Vgl. The Economist, 18. 1. 2018, Cover: „The New Titans – traditionelle Strukturen erschüttert und teilweise And How to Tame Them“. ersetzt werden. 03 Franz Böhm, Demokratie und ökonomische Macht, in: Institut für ausländisches und internationales Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Kartelle und Monopole im modernen Recht, Karlsruhe 1961, Bd. 1, 04 Vgl. etwa Lina Khan, Amazon’s Antitrust Paradox, in: Yale Law S. 2–24, hier S. 22. Journal 3/2017, S. 710–805.

29 APuZ 24–26/2019

Die bedeutendsten Unternehmen der Welt, letzt dank dramatisch hoher Skalenerträge. 08 Was gemessen an ihrem Börsenwert, sind Plattfor- die Wirtschaft so umwälzt, ist für das Kartellrecht munternehmen. Online-Plattformen führen ver- schwer zu greifen: Mehrseitige Märkte mit kom- schiedene Nutzerinnen und Nutzer zusammen, plexen Wechselbeziehungen und nicht monetä- sei es zur Kommunikation oder zum Matching re Währungen wie Daten lassen sich noch kaum von Angebot und Nachfrage. 05 Kennzeichen vie- darstellen. ler Plattformen sind die Beziehungen zu mehre- Mit diesen Veränderungen geht auch ein an- ren Marktseiten. 06 Ihre Stärke ziehen sie aus ihrer deres Selbstverständnis der Unternehmen einher. Datenkenntnis und Netzwerkeffekten: Je mehr Der Investor Peter Thiel hat als Philosophie des Nutzer eine Plattform hat, desto attraktiver wird Silicon Valley ausgegeben: „Competition is for sie für weitere Nutzer. Plattformen nehmen dann losers.“ 09 Dieser Satz markiert eine Abkehr vom in der Regel eine Vermittlungsfunktion wahr. Wettbewerbsprinzip als Treiber der Marktwirt- Darin lässt sich durchaus eine Marktplatzfunk- schaft. Für die Operatoren von Plattformen und tion oder gar die Funktion als Regulator sehen Ökosystemen geht es nicht mehr um das dynami- – als eine Instanz, die ihre Regeln selbst setzt. 07 sche Ringen mit Wettbewerbern. Vielmehr wird Durch den Einsatz von Datenmacht gelingt es der Wettbewerb an die Peripherie gedrängt: Dort starken Plattformen, die Transaktionskosten er- kämpfen die klassischen Leistungserbringer da- heblich zu senken und für Nutzer attraktiv zu rum, überhaupt Zugang zur Plattform oder zum scheinen. Netzwerkeffekte und Datenzugang er- Ökosystem zu erhalten, damit noch die Chance höhen mit zunehmendem Erfolg die Marktzu- auf eine Vermittlung an den Kunden gegeben ist. trittsschranken für alternative Anbieter. So wird Wer bei Google nicht gelistet ist, wer seine Pro- der Wettbewerb auf dem Markt rasch zu einem dukte nicht bei Amazon zeigen kann, ist raus. Wettbewerb um den Markt: Hat eine Plattform Die Verteilung knapper Ressourcen (und das eine substanziell große Zahl an Nutzern gewon- leistet die Wirtschaft) wird so neu organisiert: nen, ist die Marktposition kaum mehr bestreit- Im Zentrum des neuen Mechanismus stehen da- bar – der Markt kippt: The winner takes it all. tenhungrige Orchestratoren, die nach Datenlage Für Verbraucher ist es häufig bequem, nur eine Angebot und Nachfrage zusammenführen. Aus Plattform zu nutzen (single-homing), statt paral- der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith) wird lel auf mehreren Plattformen aktiv zu sein (mul- eine Big-Data-Anwendung, aus einem spontanen ti-homing) oder von einer Plattform zu einer an- „Entdeckungsverfahren“ (Friedrich von Hayek) 10 deren zu wechseln. Ist eine Monopolsituation wird ein intelligent designtes Zuteilungssystem. geschaffen, was für den Wettbewerb die denkbar Im Prinzip ist dieses „who gets what and why“ 11 schlechteste Lösung ist, kann diese durch tech- eine modernisierte Form der Planwirtschaft. nische Lock-in-Effekte oder vertragliche Regeln abgesichert ­werden. RICHTUNGWEISENDE Diese „Plattformisierung“ hat die Wirtschaft FÄLLE massiv verändert und den GAFA-Unternehmen volle Kassen beschert. Sie verfügen nun über Dem steht das freiheitsverpflichtete Konzept schier unbegrenzte finanzielle Mittel, nicht zu- des Wettbewerbs entgegen. Es manifestiert sich in einzelnen kartellrechtlichen Fällen. Das Bun- deskartellamt und die Europäische Kommissi- 05 Vgl. Andreas Engert, Digitale Plattformen, in: Archiv für on haben im Umgang mit digitalen Unterneh- die civilistische Praxis 2–4/2018, S. 304–376; Rupprecht men weltweit Maßstäbe gesetzt. Dabei haben sie Podszun/Stephan Kreifels, Digital Platforms and Competition­ im Wesentlichen nur drei Instrumente zur Verfü- Law, in: Journal of European Consumer and Market Law 1/2016, S. 33–39. 06 Grundlegend dazu Jean-Charles Rochet/Jean Tirole, Platform 08 Vgl. Jacques Crémer/Yves-Alexandre de Montjoye/Heike Competition in Two-Sided Markets, in: Journal of European Eco- Schweitzer, Competition Policy for the Digital Era, Report for the nomic Association 4/2003, S. 990–1029. Siehe auch Bundeskar- European Commission, Brüssel 2019, S. 19, https://t1p.de/bnfa. tellamt (BKartA), Marktmacht von Plattformen und Netzwerken, 09 Peter Thiel, Competition Is for Losers, 12. 9. 2014, www. Arbeitspapier, Juni 2016, https://t1p.de/pddz. wsj.com/articles/peter-thiel-competition-is-for-losers-1410535536. 07 Vgl. Heike Schweitzer, Digitale Plattformen als private 10 Friedrich A. von Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsver- Gesetzgeber, in: Zeitschrift für europäisches Privatrecht 1/2019, fahren, in: ders., Freiburger Studien, Tübingen 1994, S. 249–265. S. 1–12. 11 Alvin Roth, Who Gets What and Why, New York 2016.

30 Datenökonomie APuZ gung: Sie können ihre Anordnungen auf das Ver- ren schwer, überhaupt Nutzer zu erreichen. Ein bot wettbewerbsbeschränkender Absprachen, Link, der nicht auf der ersten Google-Suchseite auf das Verbot des Missbrauchs von Marktmacht zu finden ist, wird wesentlich seltener angeklickt. und die präventive Kontrolle von Unternehmens- Die Google-Suche, so die Argumentation, sei übernahmen und -fusionen ­stützen. 12 zum Gatekeeper für Internetangebote geworden. Die Geschichte des digitalen Kartellrechts Google könne so eigene Dienste bevorzugen und begann zunächst im Einzelhandel, als es zwi- am Markt durchsetzen. schen Online-Handel und klassischen Laden- So plausibel die Argumentation scheinen geschäften zu Verteilungskämpfen kam. Her- mag, so schwierig ist der Fall bei genauer juris- steller, insbesondere von Markenprodukten, tischer Prüfung. Das Verfahren kam daher nicht sahen hier die Möglichkeit, den Vertrieb zu vom Fleck. Die EU-Kommission benötigte sie- steuern und teilweise selbst zu übernehmen. ben Jahre bis zu einem Verfahrensabschluss – im Das Bundeskartellamt öffnete den Wettbewerb Internetzeitalter eine halbe Ewigkeit. Doch die durch einen starken Schutz des ungehinderten Beendigung des Verfahrens durch die resolute Online-Vertriebs. 13 Rasch rückten aber Platt- Margrethe Vestager, die den Fall von ihrem Vor- formbetreiber in den Fokus der Ermittlungen gänger übernahm, wurde zu einem Paukenschlag: des Amts. Untersucht wurden insbesondere so- Die Kommission verhängte eine Rekordgeldbuße genannte Bestpreisklauseln von Hotelbuchungs- von 2,42 Milliarden Euro und untersagte die Be- plattformen. 14 Demnach dürfen Hoteliers we- vorzugung eigener Dienste. Ein halbes Jahr später der auf anderen Websites noch selbst günstigere legte sie mit einem Bußgeld von 4,34 Milliarden Raten verlangen als auf der Plattform, die sich Euro wegen der Abschottung des Google-Be- eine solche Bestpreisklausel einräumen lasst. triebssystems ­Android nach. 16 Das Bundeskartellamt untersagte solche Klau- Das Bundeskartellamt erarbeitete sich seinen seln weitgehend, da es eine Abschottung von Ruf als Digitalbehörde vor allem 2019 mit der Märkten fürchtete. Untersagung der Datenzusammenführung ohne Assoziiert wird digitales Kartellrecht aber angemessene Einwilligung bei Facebook. 17 Die- vor allem mit den großen Missbrauchsfällen: Die ses Verfahren endete zwar ohne schwindelerre- Europäische Kommission leitete 2010 ein Ver- gend hohe Geldbuße, ist aber in der Herleitung fahren gegen Google ein. Der Vorwurf: Google und wohl auch in der Auswirkung spektakulärer. habe seine Marktmacht bei Online-Suchanfragen Die Verfügung zielt in das Herz des Geschäftsmo- – das Unternehmen hält hier in fast allen euro- dells von Facebook: Das soziale Netzwerk sam- päischen Ländern beständig einen Marktanteil melt über die eigene Seite, über die Dienste von von über 90 Prozent – ausgenutzt, um auf ande- Tochtergesellschaften wie Instagram und Whats- ren Märkten ebenfalls mächtig zu werden, bei- app sowie über Drittseiten mithilfe der sogenann- spielsweise als Preisvergleichsanbieter. 15 Indem ten Facebook Business Tools (von denen die Nut- der eigene Preisvergleichsdienst Google Shop- zerinnen und Nutzer kaum etwas merken) Daten ping gegenüber Konkurrenten wie Idealo in der und fügt sie zu umfassenden Nutzerprofilen zu- Suchliste besser platziert werde, falle es Letzte- sammen. 18 Dafür, so das Bundeskartellamt, feh- le die datenschutzrechtlich erforderliche Einwil-

12 Rechtliche Grundlagen sind §§ 1, 19 und 35 ff. GWB, Art. 101 ligung der Nutzenden. Durch die Untersagung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie dieser Praxis erreicht das Amt quasi eine „innere die EU-Fusionskontrollverordnung. Entflechtung“ 19 des ­Unternehmens. 13 Vgl. BKartA, Beschluss vom 26. 8. 2015, B2-98/11, Asics, in: Rechtlich ist dieses Verfahren richtungwei- WuW 4/2016, S. 198–205; bestätigt durch Bundesgerichtshof send, weil es das Kartellrecht mit dem Daten- (BGH), Beschluss vom 12. 12. 2017, KVZ 41/17, Preisvergleichs- maschine, in: WuW 3/2018, S. 139 ff. Vgl. auch EuGH, Urteil schutzrecht kombiniert. Damit bringt das Amt vom 13. 10. 2011, Rs. C-439/09, Pierre Fabre, in: WuW 1/2012, S. 93–101; EuGH, Urteil vom 6. 12. 2017, Rs. C-230/16, Coty, in: WuW 1/2018, S. 27–31. 16 Vgl. dies., Beschluss vom 18. 7. 2018, Fall AT.40099, Google 14 Vgl. Stephanie Pautke/Jörg-Martin Schultze, Wettbewerbsbe- Android. schränkungen im Kontext digitaler Plattformen, in: WuW 1/2019, 17 BKartA, Beschluss vom 6. 2. 2019, B6-22/16, Facebook. S. 2–10. 18 Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfie Christl in dieser 15 Vgl. Europäische Kommission, Beschluss vom 27. 6. 2017, Fall Ausgabe (Anm. d. Red.). AT.39740, Google Search (Shopping). 19 Andreas Mundt, zit. in: BKartA, Pressemitteilung, 7. 2. 2019.

31 APuZ 24–26/2019 zwei Schlüsselthemen der digitalen Welt zu- niedrig, um die Transaktion für eine Kontrolle sammen: Datenschutz und Wettbewerb. Der zu qualifizieren. Nur mithilfe eines mühsamen Hebel des durchsetzungsstarken Kartellrechts Umwegs konnte die Europäische Kommission wird eingesetzt, um den in der Durchsetzung die Transaktion doch noch prüfen. Auf gera- traditionell schwachen Datenschutzregeln zum de einmal 36 Seiten legte die Kommission aber Durchbruch zu verhelfen. Die dreiköpfige Be- bereits einen Monat nach Eingang der Anmel- schlussabteilung des Bundeskartellamts, die die dung dar, dass keine wettbewerblichen Beden- Entscheidung getroffen hat, stützt sich auf sel- ken ­bestehen. 22 ten angewendete Normen des Kartellrechts und eine ungewöhnliche Linie in der deutschen WETTBEWERBSORDNUNG 4.0 Rechtsprechung. 20 Der Begründungsaufwand, der auf den 309 Seiten der Entscheidung getrie- Die Bemühungen der Wettbewerbsbehörden le- ben wird, ist erheblich. Damit steht das von der gen so die Stärken und Schwächen des Kartell- breiten Öffentlichkeit überwiegend wohlwol- rechts offen. Eine „Wettbewerbsordnung 4.0“ ist lend kommentierte Facebook-Verfahren auch mit den derzeitigen Regeln nicht zu schaffen. Das sinnbildlich für die Schwierigkeiten, mit traditi- verwundert nicht. Eine völlig veränderte Wirt- onellen Rechtsbegriffen die Phänomene der Di- schaft bedarf auch eines neu gestalteten Ord- gitalwirtschaft zu ordnen. nungsrahmens. Die wenigsten Vereinbarkeitsprobleme von Das gilt zunächst für das Kartellrecht selbst. digitaler Realität und klassischem Recht sind in Der deutsche Gesetzgeber hat dabei bereits der formalisierten Fusionskontrolle zu erwar- eine Pionierrolle eingenommen und etwa eine ten: Hier haben Unternehmen ihre Übernah- 400-Millionen-Euro-Kaufpreisschwelle für Fu- men anzumelden, sobald sie bestimmte Um- sionsanmeldungen eingeführt: Die Whatsapp- satzschwellen überschreiten. Die Behörden Übernahme wäre nun beim Bundeskartellamt prüfen dann – vor Vollzug – ob eine erhebli- anmeldepflichtig. 2017 wurden zudem Regeln che Behinderung wirksamen Wettbewerbs nach eingeführt, mit denen gezielt auf Schwierigkei- dem Zusammenschluss zu erwarten ist. 21 Die ten der Kartellrechtsanwendung auf digitalen Bilanz des Kartellamts und der Europäischen Märkten reagiert wird: Märkte ohne finanzielle Kommission hat indes einen gravierenden Gegenleistungen werden nun als Märkte im Sin- Schönheitsfehler: Die Zukäufe der GAFA-Un- ne des Gesetzes angesehen (§ 18 Abs. 2a GWB). ternehmen blieben weitgehend unkontrolliert, Zudem wurden für mehrseitige Märkte und so- jedenfalls aber ohne substanzielle Beschrän- ziale Netzwerke Kriterien zur Klärung der Fra- kungen. Die Silicon-Valley-Giganten konnten ge aufgenommen, wann ein Unternehmen als durch Einsatz ihrer Finanzmittel ungehindert marktmächtig zu gelten hat, etwa bei Netzwer- weiterwachsen. Das Paradebeispiel liefert die keffekten und sehr gutem Datenzugang (§ 18 Einverleibung des Messaging-Dienstes Whats- Abs. 3a GWB). app ins Facebook-Imperium: 2014 zahlte Face- Mit der in Planung befindlichen zehnten book 19 Milliarden US-Dollar für den poten- GWB-Novelle werden weitere Schritte erwar- ziellen Konkurrenten – eine astronomische tet. 23 Die Bundesregierung hat die Vorberei- Summe, die erahnen lässt, für wie bedeutsam tungen in eine „Wettbewerbskommission 4.0“ die Strategen bei Facebook den Zukauf hielten. verlagert. 24 Schon jetzt liegen eine Studie zur Doch der Fall rutschte durch die Maschen der Verschärfung der Missbrauchsaufsicht und, deutschen und der europäischen Fusionskon- auf europäischer Ebene, der Report von drei trolle: Die Umsätze von Whatsapp waren zu Sonderberatern der Wettbewerbskommissarin

20 Siehe vor allem BGH, Urteil vom 7. 6. 2016 – KZR 6/15, 22 Vgl. Europäische Kommission, Entscheidung vom 3. 10. 2014, Pechstein/ISU, in: WuW 7–8/2016, S. 364–369. Vgl. Torsten Fall M.7217, Facebook/Whatsapp. Körber, Die Facebook-Entscheidung des Bundeskartellamtes – 23 Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Machtmissbrauch durch Verletzung des Datenschutzrechts?, in: 12. 3. 2018, Zeilen 1938 ff. und 2755 ff.,www.cdu.de/system/tdf/ Neue Zeitschrift für Kartellrecht 4/2019, S. 187–195. media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf. 21 Vgl. §§ 35 ff. GWB sowie Art. 1 und 3 der EU-Fusionskontroll- 24 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), verordnung. Kommission Wettbewerbsrecht 4.0, 2018, https://t1p.de/xhzl.

32 Datenökonomie APuZ vor. 25 Fünf Fragen stehen für die GWB-Reform standards gesenkt werden können. Das Erbe im Vordergrund: der Laisser-faire-Ökonomen muss mühsam Die vielleicht schwierigste Frage ist, erstens, überwunden werden, auch in den Instrumen- ob bei einer sich abzeichnenden Monopolisierung ten und Einstellungen unterhalb der gesetzli- frühzeitiger eingegriffen werden kann. Dazu wä- chen Ebene. ren neue Aufgreiffilter und neue Missbrauchstat- Fünftens hat das deutsche Facebook-Verfah- bestände erforderlich. Dann ließe sich das Kippen ren die Diskussion eröffnet, wie das Kartellrecht einzelner Märkte möglicherweise verhindern. 26 im Zusammenspiel mit anderen Rechtsgebie- Ein weiteres Problem stellt sich, zweitens, in ten anzusehen ist. Überschneidungen mit Ver- der Fusionskontrolle: Wie kann es Unterneh- braucher- und Datenschutzrecht liegen auf der men untersagt werden, potenzielle Wettbewer- Hand. Das führt zu Abstimmungsbedarf. Eine ber aufzukaufen (sogenannte killer acquisition)? Schlüsselfrage in der Gesetzgebung ist, ob das Während das Ziel klar erscheint, ist die rechtliche Bundeskartellamt künftig auch Befugnisse zur Umsetzung in Ermangelung harter, rechtssicher Durchsetzung im Verbraucherrecht erhält. An- anzuwendender Kriterien unklar. ders als in fast allen anderen EU-Ländern gibt es Eine zusätzliche Thematik hängt, drittens, in Deutschland bislang kaum behördlichen Ver- an der Bedeutung der Daten für den Wettbe- braucherschutz. 30 Gerade für den digitalen Be- werb. Zum einen wird nach Möglichkeiten ge- reich drängt sich auf, dass das Kartellamt als er- sucht, Unternehmen Zugang zu Daten zu ver- fahrene Rechtsanwendungsbehörde in diesem mitteln, die sie für den Markteintritt benötigen. Grenzbereich zum Kartellrecht tätig werden Kann Google verpflichtet werden, Daten mit an- sollte. 31 Das würde allerdings die Grenzen zwi- deren Unternehmen zu teilen, wie etwa in einem schen Kartellrecht und Verbraucherschutz wei- „Daten-für-Alle-Gesetz“ gefordert? 27 Praktisch ter verwischen. Am Horizont könnte sich dann dürfte das außerordentlich schwierig sein. Zum ein umfassender wettbewerblicher Ordnungs- anderen ist die Frage, inwiefern Unternehmen – rahmen abzeichnen. Das ist für manche eine entgegen dem kartellrechtlichen Verbot des Aus- Hoffnung, für andere, gerade auch für marktli- tausches von sensiblen Daten – Daten poolen, also berale Verfechter eines „reinen“ Kartellrechts, zusammenführen und gemeinsam nutzen dürfen. aber eine Drohung. Das Bundeskartellamt hat in einer Entscheidung zu einer Stahlhandelsplattform eher strenge Kri- WERTE UND terien für ein solches Datensharing aufgestellt. 28 WETTBEWERB Viertens wird – angesichts des „siebenjähri- gen Krieges“ der EU-Kommission gegen Goo- Die Kartellbehörden führen Leuchtturmverfah- gle – geprüft, wie die Kartellrechtsanwendung ren, nicht mehr und nicht weniger. Neue Nor- beschleunigt und vereinfacht werden kann. 29 men werden dies erleichtern, aber die Grundfrage Dazu zählt auch die Frage, inwieweit Beweis- – „Welche Wirtschaftsordnung wollen wir?“ – werden sie nicht lösen. Das Kartellrecht bietet zur Klärung dieser 25 Vgl. Heike Schweitzer et al., Modernisierung der Missbrauchs- Frage großartiges Anschauungsmaterial: In den aufsicht für marktmächtige Unternehmen, Baden-Baden 2018; Crémer/de Montjoye/Schweitzer (Anm. 8); Digital Competition Verfahren werden Geschäftsmodelle analysiert, Expert Panel, Unlocking Digital Competition, London 2019 („Furman-Report“). 30 Seit der 9. GWB-Novelle hat das BKartA erste Befugnisse 26 Vgl. Rupprecht Podszun/Christian Kersting, Eine Wettbewerbs- im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes gemäß dem ordnung für das digitale Zeitalter, in: Zeitschrift für Rechtspolitik Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Vgl. §§ 32e Abs. 5 und § 90 2/2019, S. 34–38; dies., Modernisierung des Wettbewerbsrechts Abs. 6 GWB; Rupprecht Podszun/Gregor Schmieder, Verbraucher- und Digitalisierung, in: Neue Juristische Online-Zeitschrift 10/2019, rechtliche Befugnisse des Bundeskartellamts, in: Christian Kersting/ S. 321–325. Rupprecht Podszun (Hrsg.), Die 9. GWB-Novelle, München 2017, 27 Siehe Andrea Nahles, Digitaler Fortschritt durch ein Daten- S. 84–113. für-Alle-Gesetz, Positionspapier, 12. 2. 2019, www.spd.de/aktuel- 31 Vgl. Rupprecht Podszun/Christoph Busch/Frauke Henning- les/daten-fuer-alle-gesetz. Bodewig, Behördliche Durchsetzung des Verbraucherrechts?, 28 Vgl. BKartA, Fallbericht zur Entscheidung vom 27. 2. 2018, Studie im Auftrag des BMWi, Februar 2018, https://t1p.de/86cb; B5-1/18-001, XOM Metals. dies., Die Durchsetzung des Verbraucherrechts: Das BKartA als 29 Vgl. Rupprecht Podszun, Muss das Kartellrecht schneller UWG-Behörde?, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht werden?, in: WuW 12/2017, S. 577. 10/2018, S. 1004–1011.

33 APuZ 24–26/2019

Marktkräfte eingeschätzt, wettbewerbliche Wir- Transparenzpflichten. Ohne die kartellrechtli- kungen aufgezeigt, rechtliche Lösungen durchge- chen Verfahren, die stets parallel von Juristen wie prüft. Damit hat das Kartellrecht oft eine Schritt- Ökonominnen geführt werden, hätte es solche macherfunktion: Aus einzelnen Fällen, in denen Regelungen nicht gegeben. Missstände durchleuchtet werden, erwachsen Re- Das sind aber nur Mosaiksteine, die es zu ei- gulierungen, die für ganze Branchen gelten. Die nem Gesamtbild zusammenzufügen gilt. Dafür jüngst verabschiedete P2B-Verordnung der Eu- sind die Fragen entscheidend, wie eine Wettbe- ropäischen Kommission 32 ist dafür das beste Bei- werbsordnung 4.0 aussehen soll und welche Wer- spiel: Sie statuiert für Bestpreisklauseln, wie in te in der Wirtschaft gelten sollen. 33 „Ordolibera- den Fällen der Hotelbuchungsplattformen, oder lismus reloaded“, das ist in etwa der Auftrag, der für die Bevorzugung eigener Angebote, wie im sich stellt. Da ist sie wieder, die politische Dimen- Fall Google Shopping, branchenübergreifend sion des Kartellrechts. Sie auszufüllen, ist jedoch Sache der Politikerinnen und Politiker. Das Recht kann letztlich nur in Regelwerke gießen, was die 32 P2B steht für „Plattform to Business“, die Verordnung zielt also Gesellschaft normativ wünscht. auf das Verhältnis von Plattformen zu Unternehmen. Vgl. Christoph Busch, Towards a „New Approach“ for the Platform Ecosystem: A European Standard for Fairness in Platform-to-Business Relations, in: Journal of European Consumer and Market Law 6/2017, S. 227 f.; Rupprecht Podszun, Digitale Fairness durchsetzen!, RUPPRECHT PODSZUN Gutachten für die Finanzplatz München Initiative, Dezember 2018, ist Professor an der Heinrich-Heine-Universität https://t1p.de/7pb6. 33 Vgl. Rupprecht Podszun, Wettbewerb, Werte und Recht im Düsseldorf und dort Direktor des Instituts für Zeitalter der Digitalisierung, in: Roman Herzog Institut (Hrsg.), Werte Kartellrecht. Er bloggt unter www.d-kart.de. – und was sie uns wert sind, München 2018, S. 207–223. [email protected] buto r on tri Der Moment, wenn du merkst, Media / K / oft Media

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34 Datenökonomie APuZ

REGULIERUNGSANSÄTZE IN DER DATENÖKONOMIE Ingrid Schneider

Gemessen an ihrem Marktwert, stehen die fünf ten Weide) bei Daten nicht geschehen. Bei der Dis- „Internetriesen“ Microsoft, Apple, Alphabet kussion um Dateneigentum oder data ownership (Google), Amazon und Facebook inzwischen geht es daher vor allem um Zugangs- und Verfü- unangefochten an der Spitze der weltweit wert- gungsrechte über Daten. 04 vollsten Unternehmen. Google und Facebook so- Im Folgenden werde ich vier Regulierungsfor- wie viele andere digitale Plattformen bieten ihre men untersuchen, die Daten als privates Gut, als Dienste kostenfrei an; ihre Einnahmen generieren öffentliches Gut, als Allmendegut und mittels ei- sie überwiegend aus dem Verkauf von Werbean- ner Treuhandschaft verwaltet und bewirtschaftet zeigen, die durch die Analyse der Nutzungsda- sehen wollen. Dabei werde ich jeweils der Frage ten und durch die Erstellung von digitalen Pro- nachgehen, wie die informationelle Selbstbestim- filen zielgruppengerecht dargeboten werden. 01 mung der Datengebenden gewahrt und ob ein Fragen der Sammlung, Aggregation, des Zugangs Brückenschlag zwischen regulierter kommerzi- und des Ausschlusses von Daten sind inzwischen eller Nutzung und der Nutzbarmachung für das stark mit Machtfragen verknüpft, die über blo- Gemeinwohl ermöglicht werden kann. ße Marktmarkt hinausreichen. Die neuen Macht­ asym­me­trien der Datenökonomie rufen daher DATEN ALS PRIVATES GUT auch in der Politik Besorgnis hervor. So sagte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel im Januar Idee und Ansatz 2018 beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos: „Da- Der Informatiker und Internetpionier Jaron La- ten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Die nier schlägt eine „humanistische Informations- Antwort auf die Frage ‚Wem gehören diese Da- ökonomie“ vor, die darauf beruht, die menschli- ten?‘ wird letztendlich darüber entscheiden, ob che Herkunft personenbezogener Daten nicht als Demokratie, Partizipation, Souveränität im Di- weniger wertvoll als ihre algorithmische Analy- gitalen und wirtschaftlicher Erfolg zusammenge- se und Weiterverwertung zu erachten. 05 Da jede hen. (…) Wir brauchen eine Soziale Marktwirt- Art von automatisierter Datenanalyse auf zuvor schaft 4.0, nicht nur eine Industrie 4.0.“ 02 von Menschen erzeugten Daten angewiesen sei, Daten als solche sind, jedenfalls in Europa, nicht liege genau darin die eigentliche Wertquelle der eigentumsfähig. Sie können aber als Geschäftsge- digitalen Welt. Online-Übersetzungsdienste bei- heimnisse oder urheberrechtlich geschützt wer- spielsweise basierten auf zuvor von Menschen den. Die Rechtsfigur eines Daten­eigentums wider- geleisteten Übersetzungen für das maschinel- spricht dem traditionellen deutschen Zivilrecht, le Lernen. Diese Arbeit tauche jedoch in keiner das (sachenrechtliches) Eigentum nur körperli- Unternehmensbilanz auf und würde auch aus der chen, materiellen Gütern zuerkennt. 03 Daten da- ökonomischen Gesamtrechnung ausgeschlos- gegen sind immaterielle Güter, sie gleichen einem sen. Diese „Entrechtung“ und Entwertung sei öffentlichen Gut, zumindest im Hinblick auf den nur zu stoppen, wenn die Menschen nicht länger Aspekt der nicht rivalisierenden Nutzung: Sie nur als Konsumenten wahrgenommen, sondern können in der Regel nahezu unendlich oft von vie- zu Akteuren der Datenökonomie, also zu „Pro- len Akteuren gleichzeitig genutzt werden, ohne sumenten“ (Hybridform zwischen Produzenten dass sie sich aufbrauchen; sie unterliegen weder ei- und Konsumenten) würden, so Lanier. Der Fak- ner Verknappung noch einer Abnutzung. Deshalb tor Mensch als Urheber von Daten müsse ex- kann eine „Übernutzung“ wie bei klassischen All- plizit in die ökonomische Wertschöpfungsket- mendegütern (etwa einer gemeinschaftlich genutz- te aufgenommen und entlohnt werden. Es dürfe

35 APuZ 24–26/2019 nicht sein, dass eine riesige Anzahl von Menschen heberinnen und -urheber. Ihren Beitrag möchte über soziale Netzwerke und Suchmaschinen eine er allerdings nicht nur ideell wertgeschätzt, son- enorme Menge wertvoller Informationen produ- dern auch materiell in die Wertschöpfungsket- ziere, der Löwenanteil des Wertes aber an die Un- te aufgenommen sehen. Er konzipiert somit eine ternehmen gehe, die die Daten sammeln, aggre- Art Angebot- und Nachfragemodell für persönli- gieren und weiterverarbeiten. che Daten und suggeriert, die individuellen Nut- Lanier plädiert daher für ein Mikrozahlungs- zerinnen und Nutzer könnten dadurch Markt- system: Jeder aktiv oder passiv generierte Beitrag macht erlangen. in einer digitalen Datenbank oder einem Netz- Insgesamt bleibt Lanier allerdings im Unge- werk soll in Form eines Kleinstbetrages entlohnt fähren. Sollte es jeweils Einzelentscheidungen zur werden. Über die Speicherung der Datenher- Datenfreigabe geben, erscheint dies nicht zu Ende kunft, die Verknüpfung der Daten mit ihrer Ur- gedacht. Eine ständige Fall-zu-Fall-Entscheidung heberin oder ihrem Urheber, solle jeder Zugriff über die Datenfreigabe würde rasch zu Überfor- und jede Nutzung der Daten registriert und ein derung führen: Beim Aufruf einer einzigen Web- entsprechender Betrag vom Datennutzenden au- site werden heute unter anderem durch Coo- tomatisch auf ein digitales Konto des Datenge- kies 50 bis 100 Verbindungen zu Internetdomains benden transferiert werden. Die Entscheidung, von Dritten hergestellt. 06 Laniers Prosument welche Daten man zu welchem Preis am Markt müsste mit jedem dieser Datenverwerter in Preis- anbiete, solle jede und jeder für sich selbst fest- verhandlungen treten. Und selbst wenn man die legen. Der Markt regele Angebot und Nachfra- Aushandlung durch ein Daten-Clearinghouse au- ge. Die Überwachung der Regeleinhaltung und tomatisieren würde, indem man seine Präferenzen die Sanktionierung etwaiger Verstöße könne der angibt, mit wem man zu welchem Preis Daten ge- Staat übernehmen. Zugleich fordert Lanier eine gen Geld zu teilen bereit wäre, würden dadurch Abkehr von der Umsonstmentalität. Die Zeit, in hohe Transaktionskosten entstehen. Zudem ist der gefordert wurde, im Internet müsse jegliche zweifelhaft, ob die Nutzerinnen und Nutzer tat- Information frei verfügbar sein, sei Geschichte. sächlich bargaining power erhalten würden, denn Die Etablierung eines Marktes für Daten be- die Asymmetrie der Marktmacht bleibt beste- ziehungsweise einer solchen „Pay-per-View- hen – die Verhandlungsmacht der Plattform wäre Wirtschaft“ bedeutet, dass Lanier Daten letztlich noch immer wesentlich größer. 07 als privates Gut konzipiert. Das erklärte Ziel ist Lanier berücksichtigt zudem zu wenig, dass dabei die Festschreibung eines Hoheitsrechts je- die Wertschöpfung der Daten im Aggregieren und der Person über ihre persönlichen Daten. Er ver- Auswerten der Daten liegt, nicht aber in einem spricht sich davon mehr Selbstbestimmung und individuellen, einzelnen Datum. Auch in sozial- ein Empowerment der Datengebenden sowie ei- politischer Hinsicht ist sein Modell zweifelhaft: nen Abbau von Machtasymmetrien. Mikrozahlungen könnten gerade finanzschwache Nutzerinnen und Nutzer dazu verleiten, einer Würdigung und Kritik unethischen Datennutzung durch Dritte zuzu- Lanier sieht im Markt nach wie vor die zentra- stimmen oder große Anteile ihres täglichen Le- le Koordinationsinstanz, fordert innerhalb die- bens tracken zu lassen. Datenschutz sollte aber ses Systems aber eine Beteiligung der Datenur- nicht von finanziellen Möglichkeiten abhängen. Überdies werden viele Datengebende den Wert 01 Vgl. Wolfie Christl, Corporate Surveillance in Everyday Life, ihrer Daten möglicherweise überschätzen – und Wien 2017, http://crackedlabs.org. die Konsequenzen, die eine Datenfreigabe für 02 Angela Merkel, Rede beim Jahrestreffen des World Economic sie hat, eher unterschätzen. Berechnungen zufol- Forum, Davos 24. 1. 2018. 03 Vgl. Johanna Jöns, Daten als Handelsware, Hamburg 2016, ge würden nur Bruchteile von Centbeträgen für S. 66. die Preisgabe einzelner Daten fällig. Selbst wenn 04 Vgl. Wolfgang Kerber/Louisa Specht, Datenrechte. Eine rechts- und sozialwissenschaftliche Analyse im Vergleich Deutsch- land–USA, 2017, www.abida.de/sites/default/files/ABIDA_Gut- 06 Vgl. Justin Brookman et al., Cross-Device Tracking: Measu- achten_Datenrechte.pdf. rement and Disclosures, in: Proceedings on Privacy Enhancing 05 Zum Folgenden vgl. Jaron Lanier, Wem gehört die Zukunft?, Technologies 2/2017, S. 133–148. Hamburg 2014; ders., Wenn Träume erwachsen werden, Hamburg 07 Vgl. Nicolas Agar, How to be Human in the Digital Economy, 2015. Cambridge 2019, S. 73–79.

36 Datenökonomie APuZ man den (Werbeeinnahmen-)Umsatz der Unter- seinsfürsorge zu verstehen: Die Daten müssten nehmen auf alle Nutzerinnen und Nutzer umleg- von der marktwirtschaftlichen Dynamik abge- te, ergäben sich etwa bei Facebook nur acht Euro koppelt, die gewerbliche Datensammlung einge- pro Jahr, bei Google etwa 150 Euro – abzüglich dämmt werden. Staatlich reguliert könnten Teile der Unterhaltskosten für die Plattform. 08 der in den digitalen Profilen gespeicherten Daten Es stellen sich weitere offene Fragen zur Ope- in anonymisierter Form von öffentlichen Stellen rabilität. Dass mit der Abrechnungsinfrastruktur (Städten, Gemeinden, städtischen Versorgungs- für die Mikrozahlungen ein gigantisches Über- unternehmen) genutzt werden, um Dienstleis- wachungsnetzwerk orwellschen Ausmaßes auf- tungsangebote wie etwa die Taktung des öffent- gebaut würde, negiert Lanier. Zuletzt stellt sich lichen Nahverkehrs effektiver an den Bedarf der die Frage, wie er die Aufsichts-, Kontroll- und Bevölkerung anzupassen. Auch andere Dienst- Sanktionskompetenz, die er dem Staat zuspricht, leistungen in Verkehr, Bildung, Energieversor- umgesetzt sehen wollte. Denn sein Modell ist rein gung und Gesundheit könnten auf diese Weise zivilrechtlich zwischen Datenverkäufer und Da- effizienter, innovativer und nützlicher gestaltet tenkäufer angelegt. Offensichtlich hat Lanier nur werden. Private Unternehmen könnten weiter- demokratische Staaten im Sinn, nicht aber autori- hin personalisierte Dienstleistungen anbieten, täre oder korrupte, die aus dem Datenmarkt Ren- sofern sie für die Datennutzung bezahlten. Die ten abschöpfen oder ihn zu Hyperüberwachung dafür notwendigen Datenbanken könnten auf und Repression nutzen könnten. Auch wenn po- kommunaler, nationaler oder sogar übernationa- sitiv hervorzuheben ist, dass Lanier den Beitrag ler Ebene angesiedelt sein: „All of the nation’s der Datenurheber explizit anerkennt, erweist sich data, for example, could accrue to a national data sein Datenmarktmodell insgesamt als unzuläng- fund, co-owned by all citizens (or, in the case of lich, würde es doch eine ganze Reihe nicht inten- a pan-European fund, by Europeans). Whoever dierter Folgeprobleme aufwerfen. wants to build new services on top of that data would need to do so in a competitive, heavily re- DATEN ALS ÖFFENTLICHES GUT gulated environment while paying a correspon- ding share of their profits for using it.“ 10 Idee und Ansatz Der breitere Zugang zu personenbezogenen, Das Gegenmodell zu dem von Lanier propagier- aber anonymisierten Daten könne auch das ge- ten Datenmarkt bildet der Ansatz des Publizisten genwärtige Problem der Monopolstellung eini- Evgeny Morozov, der Daten als öffentliches Gut ger weniger großer Unternehmen lösen, denn konzipiert sehen will. 09 Datengetriebene Techno- innovative Start-ups könnten durch Zugang logie berge sowohl Gefahren als auch Potenzia- zu den Daten konkurrenzfähige Alternativen le für die Gesellschaft. Menschliches Verhalten in aufbauen. Morozovs Vision ist also eine öf- Echtzeit zu erfassen und Profile zu speichern, kön- fentliche, gemeinwohlorientierte Nutzung von ne richtig eingesetzt zu effizienterem Ressourcen- Daten mithilfe staatlicher Regularien zur Koor- einsatz, Nachhaltigkeit und entsprechenden Inno- dination des Datenzugriffs und zum Schutz vor vationen beitragen. Morozovs Anliegen ist daher Missbrauch. Finanziert werden solle ein sol- keine Technologiekritik, sondern eine politöko- ches System zudem durch Steuern beziehungs- nomische Kritik des „datenorientierten Kapitalis- weise eine Pflichtabgabe aller Bürgerinnen und mus“, der auf „Datenextraktivismus“ basiere. Bürger. Werbung und die kommerzielle Daten- Morozov plädiert daher dafür, die bislang sammlung solle jedenfalls nicht länger das indi- von Unternehmen gesammelten Daten zu ver- rekte Zahlungsmittel für die Nutzung solcher gesellschaften und als Teil der öffentlichen Da- Dienste sein.

08 Vgl. Jan Schwenkenbecher, Eine Mail-Adresse bringt Würdigung und Kritik 0,75 Cent, in: Süddeutsche Zeitung, 2. 11. 2018, S. 16. Bei Morozovs Modell von Daten als öffentli- 09 Zum Folgenden vgl. Evgeny Morozov, Eine humane Gesell- chem Gut handelt es sich letztlich um eine Ver- schaft durch digitale Technologien?, Essen 2015, S. 29; ders., „Ich staatlichung von Daten. Unklar bleibt, ob er diese habe doch nichts zu verbergen“, in: APuZ 11–12/2015, S. 3–7; ders., Digitale Abhängigkeit. Die Menschen müssen die Daten der Internet-Giganten zurückerobern, in: Süddeutsche Zeitung, 10 Evgeny Morozov, To Tackle Google’s Power, Regulators Have 19. 1. 2018. to Go After Its Ownership of Data, in: The Guardian, 2. 7. 2017.

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Vergesellschaftung auf kommunaler, regionaler, tumsbestände von Unternehmen eingegriffen, nationaler oder gar supranationaler Ebene ange- und wieweit ist dies verfassungsrechtlich zuläs- siedelt sehen will – oder eventuell sektoral organi- sig? Auf alle diese Fragen gibt Morozov in seinen siert, etwa für Energie- oder Verkehrsdaten. Po- Schriften keine Auskunft. sitiv wäre sicherlich, dass kleinen und mittleren Unternehmen dadurch gleiche Zugangschancen DATEN ALS ALLMENDE eröffnet würden. Eine zentralisierte öffentliche Datenverwaltung kann zudem sozialverträgliche Idee und Ansatz und nachhaltig orientierte Forschung und Inno- Das dritte hier vorgestellte Modell, wie Daten vation erleichtern. alternativ bewirtschaftet und genutzt werden Wie aber wäre mit Mehrfachnutzungen von könnten, ist an die Allmendekonzeption von Eli- Daten umzugehen? Denn aus jeder Datenanaly- nor Ostrom angelehnt. Die Politikwissenschaft- tik erwächst gewissermaßen eine neue „Daten- lerin Ostrom, die für die Erforschung von Ge- schicht“ – soll diese ebenfalls in den staatlichen meingütern 2009 als bisher einzige Frau den Datenpool eingebracht oder darf diese privat- Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, wirtschaftlich genutzt werden? Morozovs Vor- geht es um eine Perspektive „jenseits von Staat schlag impliziert unausgesprochen ein Zentra- und Markt“. 11 Sie untersuchte, wie sich natürli- lisierungsmodell, das real durch eine zentrale che Ressourcen wie Wälder und Weiden nach- Datenbank oder virtuell durch Verknüpfung ver- haltig bewirtschaften und im Sinne des Gemein- schiedener dezentraler Datenbanken ausgestaltet wohls nutzen lassen. Dabei interessierte sie sich werden kann. In beiden Fällen stellt sich die Fra- für Handlungsformen, wie sich Gruppen organi- ge, ob die Bürgerinnen und Bürger der Datener- sieren können, um langfristig gemeinsame Vortei- fassung überhaupt noch zustimmen dürften. Wie le zu realisieren und negative Folgen individueller wäre es mit der Freiwilligkeit und der Wahrung Nutzenmaximierung zu verhindern. informationeller Selbstbestimmung bestellt? Ist Ostrom entdeckte solche Formen von Selbst- jeweils eine Zweckbindung gegeben, oder sollten organisation, Entscheidungsfindung und Selbst- Bürgerinnen und Bürger breit einwilligen, ohne verwaltung in gemeinschaftlich ausgehandelten über die vielfältigen Nutzungszwecke aufge- Zugangs- und Nutzungsregeln, mittels derer sich klärt zu werden? Dies wäre ein erheblicher Rück- Interessenkonflikte entschärfen lassen. Sie wider- schritt im Datenschutz. Letztlich wäre damit eine sprach damit der gängigen Annahme, dass All- Bringschuld der Bürgerinnen und Bürger sowie mendeprobleme nur durch eine Privatisierung eine Sozialpflichtigkeit ihrer Daten festgeschrie- von Ressourcen oder durch Kontrolle eines Zen- ben. Gewisse Abhilfe könnte durch eine Pseu- tralstaats gelöst werden könnten, und wies nach, donymisierung und Verschlüsselung der Daten dass sich gemeinschaftlich genutzte Güter durch geschaffen werden. Doch sollte die staatliche Da- von unten organisierte und institutionalisierte lo- tensammlung wirklich auf Online-Dienstleistun- kale Kooperation der Betroffenen in angemes- gen ausgeweitet werden? sener, fairer und nachhaltiger Form bereitstellen Zudem besteht die Gefahr des Missbrauchs und aneignen lassen. Aus der Betrachtung von ge- durch staatliche Überwachung und Repression lungenen und gescheiterten Lösungen leitete sie bis hin zum völligen Verlust der Privatsphäre.­ schließlich die folgenden acht „Design-Prinzipi- Schließlich stellt sich auch hier die Frage der Re- en“ für eine erfolgreiche Allmendenführung ab. gulation: Durch welchen Staat oder staatliche Abgrenzbarkeit: Es gibt eindeutige und ak- Agentur sollte diese erfolgen? Kann der Natio- zeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern nalstaat hier überhaupt noch agieren, wenn es um und nicht Nutzungsberechtigten sowie zwischen transnationale Datenflüsse geht? Und wer ent- einer bestimmten Gemeinressource und ihrer scheidet über die Datenfreigabe für wen, nach Umwelt. welchen demokratisch festgelegten und gegebe- nenfalls gerichtlich anfechtbaren Kriterien? Wel- che Sanktionsmöglichkeiten sollte es bei Miss- 11 Zum Folgenden vgl. Elinor Ostrom, Die Verfassung der All- mende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999; dies./Silke brauch geben? Und soll die Verstaatlichung der Helfrich, Was mehr wird, wenn wir teilen, München 2011; Volker Daten erst ab einem bestimmten Zeitpunkt er- Stollorz, Elinor Ostrom und die Wiederentdeckung der Allmende, folgen oder rückwirkend? Wird damit in Eigen- in: APuZ 28–30/2011, S. 3–8.

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Kongruenz mit lokalen Bedingungen: Die riellen Gütern bereits seit Langem etabliert ist. Regeln für die Aneignung und Bereitstellung ei- Positiv an diesem Modell erscheint zunächst die ner Ressource entsprechen den örtlichen und kul- Transparenz über die Datennutzung und die po- turellen Bedingungen. Die Verteilung der Kosten tenzielle Beteiligung aller Datengebenden über erfolgt proportional zur Verteilung des Nutzens. die Festlegung von Regeln, mittels derer die Da- Gemeinschaftliche Entscheidungen: Die ten kollektiv bewirtschaftet werden. Die Daten an der Allmendenutzung Beteiligten können die – und die Erträge daraus – blieben zumindest Nutzungsregeln mitgestalten. anteilig an ihre Erzeuger beziehungsweise de- Monitoring: Es gibt ausreichend Kontrolle ren digitale Identitäten gekoppelt. Die Gemein- über die Nutzung und den Allgemeinzustand der schaftsmitglieder könnten Ansprüche gegenüber Allmenderessource, um Regelverstößen vorbeu- den Datenverwertern kollektiv geltend machen, gen zu können. Personen, die mit der Überwa- was ihnen größere Verhandlungsmacht sichern chung betraut sind, sind rechenschaftspflichtig. würde. Auch die Verwerter könnten gegebenen- Abgestufte Sanktionen: Verhängte Sanktio- falls Teil der Gemeinschaft sein – oder aber als nen sollen in einem vernünftigen Verhältnis zum externe Dienstleister für die Gemeinschaft auf- verursachten Problem stehen. Die Bestrafung von treten. Da alle Kompetenzen von der Entschei- Regelverletzungen beginnt auf niedrigem Ni- dung über die Datenaufnahme bis zur Festlegung veau und verschärft sich, wenn Nutzer eine Regel legitimer Verwendungszwecke idealtypischer- mehrfach verletzen. weise in der Hand der Gemeinschaft liegen, wäre Konfliktlösungsmechanismen: Festgelegte die Kontrolle der Datengebenden und ihre wir- lokale Arenen sollen helfen, Konflikte zwischen kungsvolle Selbst- und Mitbestimmung in der Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden Datenökonomie gesichert. möglichst rasch, günstig und direkt beizulegen. Fragen stellen sich allerdings dahingehend, Anerkennung von Rechten: Die Regierung inwieweit Ostroms Modell von natürlichen Res- räumt Nutzern ein Mindestmaß an Rechten ein, sourcen auf immaterielle, nicht rivalisierende Gü- sich eigene Regeln zu setzen. ter wie Daten übertragen werden kann. Schon Eingebettete und verschachtelte Instituti- das erste Designprinzip Ostroms, die Abgrenz- onen: Ist eine Gemeinressource eng mit einem barkeit, ist bei Daten schwer zu realisieren. Wer sie umgebenden, großen Ressourcensystem ver- gehört zur Gemeinschaft, wer darf ihr beitreten bunden, werden die Governance-Strukturen auf und wer nicht? Sind die Datengebenden auch Da- mehreren, ineinandergreifenden Ebenen mitei- tennutzende oder gehören sie zu getrennten Ka- nander verschachtelt (polycentric governance). tegorien? Wie soll das gemeinschaftliche Handeln Ostrom beschäftigte sich zwar vor allem mit zum gemeinwohlverträglichen und nachhaltigen natürlichen, ökologischer Nachhaltigkeit bedür- Nutzen der Daten praktisch umgesetzt werden? fenden Ressourcen beziehungsweise Allmende- Und welcher Staat autorisiert die Gemeinschaft? gütern. Gleichwohl können aber zumindest eini- Die bereits bei Lanier und Morozov angespro- ge ihrer Prinzipien auch auf die Verwaltung und chenen Probleme von Staatlichkeit und Territo- Bewirtschaftung von Daten angewandt werden. rialität bei transnationalen Datenflüssen gelten Als praktische Anschauungsbeispiele bestehender auch hier. Zudem sind bei großen Gemeinschaf- digitaler Allmenden dienen insbesondere Open- ten ein Repräsentationsmodell und die Delegati- Source-Software, Creative-Commons-Lizenzen on von Entscheidungen nötig. Wie diese demo- und digitale Commons wie etwa die Online-Enzy​ ­ kratisch ausgestaltet werden sollten, bleibt offen. klo­pädie Wikipedia oder das Online-Karten- dienst- und Navigationssystem Open Street Map. DATEN­TREUHANDSCHAFT

Würdigung und Kritik Idee und Ansatz Im Gegensatz zum Marktmodell von Lanier und Das vierte Modell, das in der Datenökonomie An- dem Staatsmodell von Morozov verortet das Mo- wendung finden könnte, ist das einer Treuhand- dell der Allmende Daten als Gemeingut. Zen- schaft. Ein Treuhandverhältnis liegt vor, wenn traler Akteur ist damit die Gemeinschaft. Damit vertraglich oder kraft Gesetzes die Ausübung wird ein Modell nahegelegt, wie es etwa durch oder Verwaltung bestimmter Rechte (eines Treu- Kooperativen und Genossenschaften bei mate- gutes) vom Treugeber „zu treuen Händen“ an den

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Treunehmer (Treuhänder) übertragen wird. Hier schaft: Demnach müsse der Treuhänder recht- lässt sich an Überlegungen des Wissenschafts- lich und finanziell unabhängig sowie weisungs- forschers David E. Winickoff anknüpfen, der in ungebunden sein. Er müsse der Schweigepflicht Bezug auf genomische Biobanken – bei denen und dem Forschungsgeheimnis unterliegen und sensible Datenschutzfragen mit der wissenschaft- dürfe keinesfalls von der wirtschaftlichen Wert- lichen Nutzung der Daten in Einklang zu bringen schöpfungskette abhängig sein. Eine Datentreu- sind – ein Treuhandmodell entwickelt und hierfür hand könne nur dann unabhängig agieren, wenn als Rechtsform eine gemeinnützige Einrichtung sie ausschließlich gemeinwohlorientiert orientiert (charitable trust) vorgeschlagen hat. 12 sei. 13 Auch in einem Report des britischen Un- Winickoff setzte sich intensiv mit der Fra- terhauses wurde jüngst für die Errichtung von ge auseinander, wie Verfügungsrechte an gespen- „Data Trusts“ im Rahmen eines „Center for Data deten Biomaterialien (wie Gewebe, Blut, DNA) Ethics & Innovation“ plädiert. Regierung und und an dazugehörigen Daten (aus Patientenak- Industrie sollten ein Programm zur Entwicklung ten, Gen- und Analysedaten) geregelt werden von Datentreuhändern aufbauen, durch die Da- sollten. Dabei ging es insbesondere um Zugangs- teninhaber und Datennutzer auf „faire, sichere fragen, ethische Aspekte der informierten Zu- und gerechte Weise“ Daten austauschen könn- stimmung zu Forschungen sowie um mögliche ten. Durch eine derartige Regulierung solle ge- Gewinne und deren Verteilung. Er kam zu dem währleistet werden, dass die Stimmen der interes- Schluss, dass durch den Aufbau einer treuhände- sierten Parteien vertreten sind, und der Wert, der rischen Einrichtung eine angemessene Regulie- aus diesen Daten abgeleitet werden kann, gerecht rung von Biobanken erreicht werden könne, um aufgeteilt wird. 14 den Schutz der Interessen der Daten- und Ma- terialspender zu garantieren. Spender könnten Würdigung und Kritik ihre Verfügungsinteressen über das Biomaterial Das Governance-Modell der gemeinnützigen und die Daten an diese Einrichtung übertragen, Datentreuhandschaft basiert auf der Vorstellung die damit wiederum die treuhänderischen Pflich- einer unabhängigen dritten Instanz, die Hoheits- ten zur Aufbewahrung und Nutzung übernehme. rechte über Daten ausübt, sowie von delegierter Gemeinnützigkeit weise dabei als Organisations- Kontrolle der Datengebenden, die gleichwohl mit form eine Reihe von ethischen, rechtlichen und Partizipationselementen ausgestattet sind. Posi- wissenschaftlichen Vorteilen auf und sichere Ver- tiv an der Übertragung von Vollmachten auf ei- trauen und langfristige Beteiligung. Durch die be- nen unabhängigen Treuhänder ist die Entlastung ratende Beteiligung der Spendergruppe in Gremi- der Datengebenden, die aber durch ein Wider- en und die Einrichtung einer Ethikkommission rufsrecht dennoch gewisse Kontrolle über ihre solle die Wahrung der Spenderinteressen zusätz- Daten behalten. In gewissem Umfang wäre so- lich gesichert werden. Das Treuhandmodell kön- mit eine Zweckbindung der Daten gesichert, und ne Altruismus, gute Governance und öffentlichen durch das Transparenzgebot über die Nutzung Nutzen für das Gemeinwohl miteinander verein- durch Dritte verbliebe den Datengebenden ein baren und damit sowohl strikte Regeln zum Da- Entscheidungsspielraum darüber, welche Unter- tenschutz implementieren wie auch den wissen- nehmen zu welchen Zwecken auf welche persön- schaftlichen Wert der Biobank sicherstellen. lichen Daten zugreifen dürfen. Dies würde den Dass das Modell einer Treuhandschaft auch Stellenwert des Datenschutzes deutlich erhöhen. auf die Verwaltung und Bewirtschaftung von Auch die Repräsentations- und Partizipa- Daten übertragbar ist, zeigen Zertifizierungs- tionsmöglichkeiten der Datengebenden über prozesse von deutschen Datenschutzbehörden Beiräte sind positiv zu vermerken. Allerdings zum Spenderschutz durch Datentreuhänder- bleibt wie bei den anderen Modellen offen, wel-

12 Zum Folgenden vgl. David E. Winickoff/Richard N. Winickoff, 13 Vgl. Wolfgang Zimmermann, Spenderschutz durch Datentreu- The Charitable Trust as a Model for Genomic Biobanks, in: New händerschaft, Beitrag zur Tagung „Die datenschutzgerechte Auditie- England Journal of Medicine 12/2003, S. 1180–1184; David rung von Biobanken“, Kiel 4. 7. 2008, www.datenschutz­zentrum.de/ E. Winickoff/Larissa B. Neumann, Towards a Social Contract for projekte/bdc-audit. Genomics: Property and the Public in the „Biotrust“ Model, in: 14 Vgl. UK House of Commons Science and Technology Commit- Genomics, Society and Policy 3/2005, S. 8–21. tee, Algorithms in Decision-Making, HC 351, 23. 5. 2018, S. 15 f.

40 Datenökonomie APuZ che staatliche Stelle genau den Treuhänder auto- den. Hierzu ist insbesondere die Vertretung der risieren würde. Ebenso wäre zu definieren, auf schwachen Interessen der individuellen Datenge- welcher sektoralen oder verwaltungspolitischen benden, deren Organisierung und Repräsentati- Ebene die Treuhand angesiedelt werden soll. on schwerlich umzusetzen ist, gegenüber macht- Schließlich bliebe zu klären, wie sich eine Beteili- starken Verwertungsinteressen vonnöten. Solche gung und Teilhabe der Datengebenden demokra- Interessen könnten von Verbraucherschutzorga- tisch und gegebenenfalls transnational realisieren nisationen und Datenschutzbehörden wahrge- ließe. Weitere wichtige Fragen münden schließ- nommen werden, wenn sie mit entsprechenden lich in die alte Frage „Quis custodiet ipsos custo- Ressourcen und Mandaten ausgestattet würden. des?“ – „Wer aber überwacht die Wächter?“: Wie Auch die Vertretung der normativen Ansprü- kann der Treuhänder effektiv kontrolliert und re- che an einen ethischen, fairen und gerechten Um- chenschaftspflichtig werden, sodass dieser keine gang mit den Daten und eine Orientierung der partikularen Eigeninteressen verfolgt, in Interes- Datenverwertung an einer nachhaltigen, sozial- senkonflikte gerät und damit seine Vertrauens- und umweltverträglichen, insgesamt menschen- würdigkeit gefährdet? Wie kann die Unabhängig- würdigen Innovation statt ausschließlicher Pro- keit des Treuhänders gegenüber staatlichen oder fitorientierung ist eine wichtige Aufgabe. Diese ökonomischen Instanzen langfristig gesichert kann nur mit starker staatlicher Regulation und werden? Und wie kann die Gemeinwohlorien- der Einbindung einer lebendigen und pluralen tierung der Datennutzung gewährleistet werden? Zivilgesellschaft erreicht werden und sollte daher nicht allein den Marktkräften und der Selbstre- FAZIT gulierung von Unternehmen überlassen werden. Die Komplexität der Datenaggregation und Die vier vorgestellten politökonomischen Regu- -analyse wird mit der Ausbreitung des Internets lierungsmodelle für die Datenökonomie liefern der Dinge, der Weiterentwicklung der künstli- spannende konzeptionelle Ideen, bisher ist aber chen Intelligenz und weiteren Digitalisierungs- keines so ausgereift, dass es bereits unmittelbar schüben noch zunehmen. Sowohl eine Zentrali- anwendbare Lösungen bereitstellt. Als Alternati- sierung der Datenhaltung (angelegt bei Morozov ven zu den bisherigen Praktiken und Geschäfts- und Winickoff) als auch eine Dezentralisierung modellen der Plattformökonomien und deren in- (inhärent bei Ostrom) hätte jeweils Vor-und härenten Machtasymmetrien sind sie allerdings Nachteile, die von Fall zu Fall abzuwägen sind. durchaus bedenkenswert. Ebenso bedürfen die Finanzierungsaspekte bei Insgesamt sind die vier Governance-Modelle den vorgestellten Datenmodellen weiterer Ausar- eher als Idealtypen oder regulative Ideen zu ver- beitung. Zu erinnern ist zudem an die janusköpfi- stehen, nicht als „reine“ Formen. In der Wirklich- ge Rolle des Staates, der ein Garant der Datenver- keit sind Mischformen denkbar, sowohl als Hy- wendung für Gemeinwohl und Gemeinsinn sein bridformen zwischen privaten und öffentlichen kann, sich unter anderen Umständen aber auch in Gütern oder etwa zwischen Allmendegut und einen „Big Brother“ verwandeln könnte. Der Ver- Treuhandschaft. Diese bedürfen weiterer Dis- lust der Steuerungskapazität des Nationalstaats kussion und Konkretisierung. Es sind klare und aufgrund der transnationalen Datenflüsse sollte nachvollziehbare Regeln für die Sammlung, den zur Entwicklung supranationaler Lösungsstra- Zugriff und die Verwendung von Daten nötig, tegien auffordern. Die Europäische Union wird dies erfordert aber kein Eigentumsrecht an Da- hierbei eine wichtige Gestaltungsmacht 16 für eine ten. 15 Wichtig ist ein fairer Interessenausgleich Regulierung der Datenökonomien bleiben. zwischen Datengebenden und Datenverwerten-

15 Vgl. Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb, Ar- gumente gegen ein „Dateneigentum“, 1. 8. 2017, www.ip.mpg.de/ INGRID SCHNEIDER fileadmin/ipmpg/content/forschung/Argumentarium_Dateneigen- ist Professorin für Politikwissenschaft an der tum_de.pdf. Universität Hamburg, dort ist sie am Fachbereich 16 Vgl. Ingrid Schneider, Bringing the State Back in: Big Data- Based Capitalism, Disruption, and Novel Regulatory Approaches in Informatik im Arbeitsbereich „Ethik in der Informati- Europe, in: dies. et al. (Hrsg.), The Politics of Big Data: Big Data, Big onstechnologie“ tätig. Brother?, New York 2017, S. 129–175. [email protected]

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MICROTARGETING Persönliche Daten als politische Währung Wolfie Christl

Spätestens seit 2016, mit der Wahl Donald wurde auf Profildaten von 87 Millionen Face- Trumps zum US-Präsidenten, dem -Refe​ ­ book-NutzerInnen zugegriffen und diese mit rendum­ sowie den Datenskandalen um Face- Informationen aus Wahlregistern und von priva- book und Cambridge Analytica, tobt eine glo- ten Datenhandelskonzernen verknüpft. 02 Dazu bale Debatte über digitale Kommunikation und war Cambridge Analytica Teil eines undurch- Demokratie. Die einst mit dem Internet ver- sichtigen Firmennetzwerks, das sowohl für Re- bundenen emanzipatorischen Hoffnungen sind gierungen und militärische Informationsopera- in den Hintergrund getreten. Kaum ein Wahl- tionen in Afghanistan als auch für zwielichtige kampf, bei dem nicht über die digitale Verbrei- Wahlkampagnen rund um den Globus gearbeitet tung von Falschmeldungen oder Hetze disku- hat – etwa in den Philippinen, Indien, Pakistan tiert oder gar versteckte Manipulation vermutet und Kenia. 03 wird. Auch kommerzieller Datenmissbrauch Die Trump-Kampagne hat im letzten Monat und die Macht der Tech-Plattformen sind in den vor der Präsidentschaftswahl fast eine Million Fokus gerückt. US-Dollar täglich für Online-Werbung ausgege- Parlamente in aller Welt haben Untersu- ben, mit einem Fokus auf wenige Bundesstaa- chungen angestoßen. Ironischerweise war es ten. 04 Eigenen Angaben zufolge wurden dabei ausgerechnet der Einsatz von Daten in politi- Listen von WählerInnen mit bestimmten Merk- schen Kampagnen, der die Debatte über unsere malen an Facebook geschickt. Die Plattform hat digitale Infrastruktur erst ausgelöst hat. Es geht die entsprechenden NutzerInnen identifiziert dabei unter anderem um datengetriebenes „Mi- und als adressierbare Zielgruppen zur Verfügung crotargeting“ – also um Praktiken, bei denen gestellt. Darüber hinaus hat Facebook nach Per- kleine Gruppen auf Basis von Datenanalysen sonen mit ähnlichen Merkmalen gesucht. Da- mit fein abgestimmter Kommunikation poli- mit konnten viele kleine Gruppen mit angepass- tisch beeinflusst werden sollen. 01 Parteien, po- ten Inhalten versorgt werden – zum Teil auch, litische Kampagnen und andere Lobbys nutzen um sie zu verunsichern und von der Wahl abzu- heute umfassende Daten über die Bevölkerung, halten. 05 Botschaften, Formulierungen und Ge- insbesondere im Online-Bereich. Wie funkti- staltung wurden dabei laufend getestet und ver- oniert Microtargeting? Welche Rolle spielen messen, um die effektivsten Kombinationen zu Facebook und die datenbasierte Klick-Ökono- finden. Dazu wurden täglich bis zu 100 000 un- mie? Und was bedeutet das für Gesellschaft und terschiedliche Varianten von digitalen Werbean- Demokratie? zeigen eingesetzt. 06 Welche Rolle die Daten- und Analysekapazi- CAMBRIDGE ANALYTICA täten von Cambridge Analytica dabei genau ge- UND DIE TRUMP­WAHLKAMPAGNE spielt haben, ist nach wie vor nicht geklärt. Die Firma hat sich aggressiv selbst vermarktet, die Ef- Es ist kein Wunder, dass die Beteiligung der Da- fektivität ihrer „psychometrischen“ Datenana- tenfirma Cambridge Analytica bei den Kam- lysen wird allerdings infrage gestellt. 07 Generell pagnen für den Brexit und die Wahl Trumps sind die Aussagen von Beteiligten wegen ihrer Besorgnis erregt hat. Das Unternehmen hat um- Eigeninteressen mit Vorsicht zu genießen. 08 Me- fassende Datenbanken über ganze Bevölkerun- dienberichten zufolge hat Facebook die Trump- gen zusammengestellt, mit Tausenden Merkma- Kampagne aber auch in internen Dokumenten len pro Person. Mit Hilfe eines Online-Quiz als Musterbeispiel für eine „innovative“ Nutzung

42 Datenökonomie APuZ der Plattform dargestellt und dabei die perma- politische Kampagnen für digitale Werbung aus- nenten Tests an ahnungslosen NutzerInnen her- geben, von 0,3 Prozent im Jahr 2011 auf 43 Pro- vorgehoben. Trump hat laut Facebook in den zent im Jahr 2017 gestiegen. 13 Monaten vor der Wahl 44 Millionen US-Dollar Auch wenn Parteien in Europa betonen, Da- investiert und dabei in Summe 5,9 Millionen Va- tenschutz zu respektieren, machen auch sie sich rianten von Inhalten getestet, Clinton hingegen vielfach eine Infrastruktur zunutze, die letzt- „nur“ 66 000 Varianten. 09 lich auf permanenter Echtzeit-Überwachung Ist Microtargeting also für den Wahlsieg von großer Teile der Bevölkerung beruht. Digitales Trump verantwortlich? Allein sicher nicht. Aber Marketing basiert auf komplexen Mechaniken, hat es eine Rolle gespielt? Welche Wirkung ha- die sowohl aus der Makro- wie aus der Mikro- ben derartige Praktiken? Die Antwort ist: Wir perspektive betrachtet werden müssen. So kann wissen es nicht genau. Ein kürzlich veröffentlich- Online-Targeting im Einzelfall ungenau sein ter Überblick zum Forschungsstand diagnosti- und große Streuverluste in Kauf nehmen – aber ziert „fehlende Transparenz und viele offene Fra- in Summe trotzdem Verhalten verändern. Meist gen“. 10 Klar ist: Es ist ein riesiges Geschäft. 2018 sind nicht Einzelne das Ziel, sondern Gruppen hat Facebook mit der selektiven Einblendung von mit bestimmten Eigenschaften. Basis ist trotz- Inhalten 55 Milliarden US-Dollar eingenommen, dem die flächendeckende Erfassung und Ver- Google gar 113 Milliarden Dollar. 11 Mit politi- knüpfung von Daten auf individueller Ebene. scher Werbung hat Facebook in den USA allein Um zu verstehen, wie Online-Targeting einge- seit Mai 2018 über 550 Millionen Dollar erwirt- setzt werden kann, ist es notwendig, die Funkti- schaftet. 12 In Großbritannien ist der Anteil, den onsweise der digitalen Klick-Ökonomie genauer zu betrachten.

01 Vgl. Frederik J. Z. Borgesius et al., Online Political Microtarge- BEEINFLUSSUNGSMASCHINE ting: Promises and Threats for Democracy, in: Utrecht Law Review 1/2018, S. 82–96. KLICK­ÖKONOMIE 02 Vgl. Jeff Chester/Kathryn C. Montgomery, The Role of Digital Marketing in Political Campaigns, in: Internet Policy Review Seit etwas mehr als zehn Jahren werden Daten zur 4/2017, https://policyreview.info/archives/2017/issue-4. individuellen Adressierung von Online-Werbung 03 Vgl. House of Commons/Digital, Culture, Media and Sport eingesetzt. 14 Wenn wir heute eine Website besu- Committee, Disinformation and „Fake News“: Interim Report, London 2018, S. 17, S. 53 ff., S. 298. chen oder eine App nutzen, wird unser Profil im 04 Vgl. and Hillary Clinton’s Final Campaign Spen- Hintergrund innerhalb von Millisekunden an den ding Revealed, 9. 12. 2016, www.theguardian.com/us-news/2016/ Höchstbietenden versteigert. Wer die Auktion dec/09/trump-and-clintons-final-campaign-spending-revealed. gewinnt, darf eine Botschaft einblenden. Gleich- 05 Vgl. Joshua Green/Sasha Issenberg, Inside the Trump Bunker, zeitig werden bei jedem Klick Dutzende bis Hun- With Days to Go, 27. 10. 2016, www.bloomberg.com/news/artic- 15 les/2016-10-27/inside-the-trump-bunker-with-12-days-to-go. derte Drittfirmen informiert. Diese ergänzen 06 Vgl. Lois Beckett, Trump Digital Director Says Facebook damit ihre digitalen Profile und vermessen, wie Helped Win the White House, 9. 10. 2017, www.theguardian.com/ wir auf die eingeblendeten Botschaften reagie- technology/2017/oct/08/trump-digital-director-brad-parscale- ren. Bezahlt wird meist nicht pro Einblendung, facebook-advertising. sondern nur, wenn im Anschluss bestimmte Ver- 07 Vgl. Dave Karpf, Will the Real Psychometric Targeters Please 16 Stand Up?, 1. 2. 2017, https://civichall.org/civicist/will-the-real- haltensweisen zu beobachten sind. Das definier- psychometric-targeters-please-stand-up. te Ziel kann etwa der Klick auf einen Link sein, 08 Vgl. Andreas Jungherr, Einsatz digitaler Technologie im Wahl- kampf, in: Harald Gapski et al. (Hrsg.), Medienkompetenz, Bonn 2017, S. 92–101. 13 Vgl. UK Electoral Commission, Digital Campaigning. Increa- 09 Vgl. Ryan Mac/Charlie Warzel, Congratulations, Mr. sing Transparency for Voters, Juni 2018, S. 4, https://t1p.de/bqgy. President: Zuckerberg Secretly Called Trump After The Election, 14 Vgl. Wolfie Christl/Sarah Spiekermann, Networks of Control. 19. 7. 2018, www.buzzfeednews.com/article/ryanmac/congratula- A Report on Corporate Surveillance, Digital Tracking, Big Data & tions-zuckerberg-call-trump-election-2016. Privacy, Wien 2016, S. 118. 10 Vgl. Landesanstalt für Medien NRW, Forschungsstand: Mi- 15 Vgl. Wolfie Christl, Corporate Surveillance in Everyday Life, crotargeting in Deutschland und Europa, Düsseldorf 2019. Juni 2017, S. 44 ff.,https://crackedlabs.org/dl/CrackedLabs_ 11 Vgl. Mozilla, Internet Health Report v.1.0, 2018, S. 66 f., Christl_CorporateSurveillance.pdf. https://internethealthreport.org/2018. 16 Vgl. z. B. Yu (Jeffrey) Hu/Jiwoong Shin/Zhulei Tang, Incentive 12 Vgl. Facebook, Werbebericht, www.facebook.com/ads/archi- Problems in Performance-Based Online Advertising Pricing, in: ve/report, Zugriff am 28. 4. 2019. Management Science 7/2016, S. 2022–2038.

43 APuZ 24–26/2019 das Ansehen eines Videos, eine Registrierung, ein Boulevardmedien diese Dynamiken. Ein öster- Kauf oder Anderes. Wird dieses Ziel erreicht und reichischer Chefredakteur hat bezüglich Klick-​ die adressierte Person verhält sich wie geplant – Maxi­mie­rung offen über das symbiotische Ver- klickt also zum Beispiel auf einen Link – spricht hältnis mit einer politischen Partei gesprochen. 21 man von einer „Konversion“ (also einer „Bekeh- Im Unterschied zu früher kann heute aber rung“). Viele Anbieter versuchen darum, mit Da- nicht nur das Zielpublikum einer bestimmten ten über unseren Alltag möglichst gut vorherzu- Zeitung oder einer TV-Sendung angesprochen sagen, wie wir uns künftig verhalten werden, und werden. Es können quer durch die Bevölkerung verkaufen dieses Wissen unzählige Male pro Se- Menschen mit bestimmten Eigenschaften gefun- kunde. Die Ökonomin Shoshana Zuboff hat für den und adressiert werden – durch die flächende- diesen Hochfrequenzhandel mit menschlichem ckende Erfassung und Verknüpfung personenbe- Verhalten den Begriff „Überwachungskapitalis- zogener Daten über viele Firmen hinweg. In einer mus“ etabliert. 17 Studie des US-Forschungsinstituts Data & Socie- Unsere Kommunikationsinfrastruktur ist ty ist von einer „digitalen Beeinflussungsmaschi- heute auf vielen Ebenen von dieser Logik ge- ne“ die Rede, die sowohl kommerziell als auch prägt. Nicht nur soziale Beziehungen, sondern politisch genutzt werden könne. 22 auch mediale Inhalte und öffentliche Debatten werden immer mehr von digitalen Umgebungen RASTERFAHNDUNG UND geformt, die auf die Maximierung von Klicks und VERHALTENSMANAGEMENT Interaktionen sowie auf die Verwertbarkeit von MIT FACEBOOK Verhalten hin optimiert sind. Dabei ist die Klick- Ökonomie stark von Betrug geprägt: Stimmen Facebook spielt mittlerweile eine wichtige Rol- aus der Industrie schätzen, dass ein Viertel der le in der Politik. Ausgangspunkt für den Ein- Klicks nicht von realen Menschen stammen und satz sind die sogenannten Seiten von Parteien Werbetreibenden dadurch ein Schaden von 20 bis und PolitikerInnen­ auf der Plattform. Deutsche 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr entsteht. 18 Au- Parteien betreiben jeweils bis zu 1500 Facebook- ßerdem werden NutzerInnen gern mit Anzeigen Seiten, von Ortsgruppen bis zur Bundesebene. 23 auf Websites mit qualitativ fragwürdigen Inhalten Diejenigen, die einer solchen Seite bereits aktiv gelockt, die wiederum Werbeanzeigen enthalten auf Facebook folgen, können über diesen Ka- und dabei mehr einbringen als die Anzeigen, mit nal mit Inhalten „bespielt“ werden. Aber nur denen sie dorthin gelockt wurden – eine Art Py- ein Bruchteil von ihnen bekommt die Postings ramidenspiel. 19 Auch durch politische Angstma- wirklich zu sehen. Die „organische“ Reichwei- che lässt sich mit Online-Werbung Geld verdie- te – jene, die ohne Zuzahlung erreicht wird – ist nen: Vieles deutet etwa darauf hin, dass obskure im Laufe der Jahre auf ein Minimum gesunken. 24 Websites im US-Wahlkampf 2016 aus rein öko- Bezahlung schafft hier Abhilfe: Postings kön- nomischen Motiven irreführende Informationen nen dadurch an deutlich mehr – oder an ganz verbreitet haben, weil diese einfach viel geklickt bestimmte – NutzerInnen ausgespielt und In- werden. 20 Natürlich nutzen auch traditionelle teraktionen gezielt verstärkt werden. Die Reich- weite erhöht sich auch, wenn viele interagieren

17 Vgl. Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapi- – wenn also ein Posting mit einem „Like“ verse- talismus, Frank­furt/M. 2018. Siehe auch den Beitrag von Zuboff in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 18 Vgl. Pixelate, Desktop Click Fraud Has Risen From 20 % to 21 Vgl. „Zu weit weg von der Bevölkerung“, Interview von Mar- 25 % in 2017, 31. 5. 2017, http://blog.pixalate.com/desktop-ad- kus Huber mit Richard Schmitt, in: Fleisch Magazin 30/2016. click-fraud-rising-stats-data-2017; Laurie Sullivan, Brands Lose Up 22 Vgl. Anthony Nadler/Matthew Crain/Joan Donovan, Weapo- To An Estimated $ 50 Billion Annually From Ad Fraud, 5. 3. 2019, nizing the Digital Influence Machine. The Political Perils of Online www.mediapost.com/publications/article/332752. Ad Tech, 17. 10. 2018, https://datasociety.net/output/weaponi- 19 Vgl. Jake Bialer, Inside The World Of Ad Arbitrage: An Analy- zing-the-digital-influence-machine. sis of 272,220 Taboola Ads, 10. 10. 2018, https://medium.com/@ 23 Vgl. Jörg Diehl et al., How the German Right Wing Dominates jbialer/cc044a54881c. Social Media, 29. 4. 2019, www.spiegel.de/international/germany/​ 20 Vgl. z. B. Dan Tynan, How Facebook Powers Money Machines a-1264933.html. for Obscure Political „News“ Sites, 24. 8. 2016, www.theguardi- 24 Vgl. Brandon Lee, The Death of Social Media Organic Reach an.com/technology/2016/aug/24/facebook-clickbait-political- and How to Overcome It, 4. 9. 2018, www.curatti.com/death- news-sites-us-election-trump. social-media-organic-reach.

44 Datenökonomie APuZ hen, kommentiert oder geteilt wird. Gegen Geld – etwa all diejenigen, die ein Posting kommentiert können diejenigen, die bereits interagiert ha- haben, sich für eine bestimmte Wahlkampfveran- ben, zusätzlich als Werbeträger benutzt werden. staltung „interessieren“ oder sich – als Beispiel – Im Optimalfall entsteht eine selbstverstärkende mindestens zehn Sekunden lang ein Video über Dynamik und die Inhalte verbreiten sich „viral“. „Chemtrails“ angesehen haben. Dies alles als „Werbung“ zu bezeichnen, greift eigentlich zu kurz. DIGITALE ZWILLINGE UND DATEN Facebook bietet viele Funktionen an, um in ABSEITS VON FACEBOOK diese Dynamiken einzugreifen. Dazu sortiert die Plattform ihre NutzerInnen in Hundert- Genau genommen sind Audiences auf Facebook tausende Kategorien entlang demografischer keine statischen Listen, sondern dynamische Eigenschaften, Interessen und Verhaltenswei- Bündel aus Regeln. Welche NutzerInnen ent- sen – darunter viele sensible Attribute, aus de- halten sind, wird abhängig von deren Verhalten nen etwa die politische Einstellung abgeleitet in Echtzeit aktualisiert. Es können viele unter- werden kann. 25 Parteien können beliebig vie- schiedliche Audiences verwaltet und verknüpft le dieser Kategorien kombinieren, um kleine werden. Schließlich kann Facebooks mächtige Gruppen anzusprechen. Diese Art der Raster- „Lookalike“-Mechanik dazu genutzt werden, fahndung kann auch in Kombination mit Pos- um digitale Zwillinge zu finden – also Personen tings eingesetzt werden, die nicht allgemein öf- mit möglichst ähnlichen Verhaltensweisen. Po- fentlich sichtbar sind. Diese sogenannten dark litische Kampagnen können so zum Beispiel mit posts sehen so aus wie andere Inhalte einer Face­ eigens erstellten – und nur für bestimmte Grup- book-Seite, können aber gezielt nur bestimm- pen sichtbaren – Inhalten eine kleine Zahl von ten Gruppen eingeblendet werden. Auch wenn wütenden Menschen in einer Audience „ein- eine Partei nur rudimentäre Targeting-Kategori- fangen“. Facebook sucht dann über die Bevöl- en wählt, um etwa schlicht möglichst viele Nut- kerung hinweg nach ähnlichen und besonders zerInnen in einem Land zu erreichen, nutzt sie aktiven Personen, die als Hebel zur Reichwei- die geballte Datenmacht der Plattform in ihrer tensteigerung eingesetzt werden können. In Ös- ganzen Tiefe. Denn die Face­book-Algorithmen terreich waren im Wahlkampf 2017 zum Bei- sind daraufhin optimiert, auch in diesem Fall spiel nur 8900 Personen für die Hälfte aller unter allen NutzerInnen im Land diejenigen zu Facebook-Kommentare verantwortlich 28 – loh- finden, für die die Inhalte „relevant“ sind und nenswerte Ziele. die wahrscheinlich reagieren. 26 Audiences können auch auf Basis von Daten Eine zentrale Komponente der Targeting- erstellt werden, die außerhalb von Facebook er- Mechaniken auf Facebook sind die sogenannten fasst wurden. Einerseits können politische Kam- Audiences. 27 Im einfachsten Fall handelt es sich pagnen den sogenannten Facebook-Pixel in ihre dabei um Listen von NutzerInnen, die sich aus den Websites und Apps einbauen – ein kleines Pro- gewählten Kategorien ergeben – etwa alle Single- gramm, das Nutzungsdaten an die Plattform Männer über 50 in Leipzig, die sich für Glücks- überträgt. Wer die betroffenen Websites oder spiel, nicht aber für die SPD interessieren. Alter- Apps nutzt, wird von Facebook identifiziert und nativ besteht eine Audience aus NutzerInnen, die in Echtzeit Teil einer Audience, die dann dort bereits mit den eigenen Inhalten interagiert haben weiter eingesetzt werden kann. Andererseits können mit sogenannten Custom Audiences Lis- ten mit Namen, Telefonnummern oder E-Mail- 25 Vgl. José González Cabañas et al., Unveiling and Quantifying Adressen an Facebook geschickt werden. 29 Die Facebook Exploitation of Sensitive Personal Data for Advertising Purposes, USENIX Security Symposium, Baltimore 15.–17. 8. 2018, Trump-Kampagne hat höchstwahrscheinlich www.usenix.org/conference/usenixsecurity18/presentation/caba- Custom Audiences dazu genutzt, um durch Da- nas. tenanalysen erstellte Listen von WählerInnen 26 Vgl. Muhammad Ali et al., Discrimination Through Optimizati- on: How Facebook’s Ad Delivery Can Lead to Skewed Outcomes, 3. 4. 2019, https://arxiv.org/abs/1904.02095. 28 Vgl. Sofia Palzer-Khomenko et al., Facebook: 8900 User 27 Für eine Beschreibung von Audiences/Targeting sie- bestimmten Wahlkampf-Diskurs, 2. 1. 2018, www.mokant.at/1802- he Facebook, Zielgruppen, www.facebook.com/business/ facebook-user-wahlkampf-diskurs. help/168922287067163, Zugriff am 25. 4. 2019. 29 Vgl. Christl (Anm. 15), S. 47.

45 APuZ 24–26/2019 hochzuladen – und dann diese und ähnliche Per- der systematisch untersucht wurde, welchen Ar- sonen adressiert. 30 ten von Targeting europäische NutzerInnen auf Facebook verkauft eine Vielzahl an Funktio- Facebook ausgesetzt sind. Basis waren 85 Per- nen, die es ermöglichen, NutzerInnen zu finden, sonen, denen zwischen April 2017 und Juli 2018 die sich wahrscheinlich wie gewünscht verhalten insgesamt 71 000 bezahlte Postings eingeblen- – also auf bestimmte Inhalte klicken, sie kommen- det wurden. Bei 17 Prozent der Anzeigen wur- tieren oder teilen – und hilft dabei nach, dass sie de Lookalike-Targeting eingesetzt, bei acht Pro- sich so verhalten. Denn die Anregung möglichst zent Verhaltensdaten von externen Websites oder vieler Interaktionen liegt dem Geschäftsmodell der Apps, und bei zwei Prozent wurden Daten ge- Plattform zugrunde. Je provokativer die Inhalte, nutzt, die via Custom Audiences hochgeladen desto günstiger wird es, sie bezahlt zu verstärken. wurden. 35 Über den konkreten Einsatz durch die Basis dafür sind die Datenbestände von Facebook. Politik gibt es jedoch kaum belastbare Daten. So- Mit dem Facebook-Pixel und Custom Audiences wohl Lookalike-Targeting 36 als auch der Face- potenzieren sich die Möglichkeiten, denn damit book-Pixel 37 dürften auch in der EU oft einge- können politische Kampagnen jegliches Verhalten setzt werden, Custom Audiences zumindest zum außerhalb der Plattform zur Grundlage für ihre Teil. 38 In jedem Fall ist der Einsatz von Facebook Aktivitäten auf Facebook machen. Letztlich kann für politische Kampagnen in vieler Hinsicht da- so alles zur Audience werden – egal ob ein Auszug tenschutzrechtlich fragwürdig. 39 aus einer Wählerdatenbank, die BesucherInnen ei- Google bietet ähnliche Funktionen, inklusive nes ganz bestimmten Artikels auf einer Website der Einbindung von extern erfassten Daten. Ab- oder Listen von Personen, die von Datenhandels- seits der großen Plattformen können derartige firmen oder Analysedienstleistern wie Cambridge Audiences – also regelbasierte Listen über Einzel- Analytica zusammengestellt wurden. 31 personen und deren Verhalten – nahezu grenzen- Das manipulative Potenzial vervielfacht sich, los und in Echtzeit zwischen Hunderten Anbie- sobald mit NutzerInnen so lange experimentiert tern verschoben werden. 40 wird, bis sie sich verhalten wie gewünscht – wenn sie also etwa einen Beitrag aufrufen oder teilen. WÄHLERDATEN IN DEN USA Facebook bietet diesbezüglich an, automatisiert UND DER EU verschiedene Kombinationen von Texten, Bil- dern und Videos zu testen. 32 Vor Jahren hat die Online-Microtargeting ist im Grunde die konse- Plattform selbst derartige Experimente gemacht: quente Weiterentwicklung traditioneller Instru- Dabei wurde bei Millionen von ahnungslosen mente: Politische Kampagnen setzen schon seit NutzerInnen die Reihenfolge und Gewichtung Langem datenbasierte Methoden ein, um Unter- der eingeblendeten Inhalte manipuliert, ein ande- stützerInnen zu mobilisieren, Unentschlossene res Mal wurden Aufforderungen, wählen zu ge- hen, eingeblendet. In beiden Fällen habe sich – so 35 Vgl. Athanasios Andreou et al., Measuring the Facebook heißt es in von Facebook publizierten Studien – Advertising Ecosystem, Network and Distributed System Security die Wahlbeteiligung bei den betroffenen Gruppen Symposium, San Diego, 24–27. 2. 2019, www.eurecom.fr/publica- leicht erhöht. 33 tion/5779. 36 Vgl. Tom Dobber et al., Two Crates of Beer and 40 Pizzas: Trumps Team hat auch abseits von Wah- The Adoption of Innovative Political Behavioural Targeting Tech- len Tausende Facebook-Werbeanzeigen im Ein- niques, in: Internet Policy Review 4/2017, https://policyreview.info/ satz, nach eigenen Angaben „um zu testen und archives/2017/issue-4. zu lernen“. 34 Bislang gibt es nur eine Studie, in 37 Vgl. Peter Teffer, Tory and National Front Websites Hid Facebook Tracking Pixel, 13. 4. 2018, https://euobserver.com/ justice/141589. 30 Vgl. Antonio García Martínez, How Trump Conquered 38 Vgl. Information Commissioner’s Office, Democracy Disrup- Facebook – Without Russian Ads, 23. 2. 2018, www.wired.com/ ted? Personal Information and Political Influence, 11. 7. 2018, story/how-trump-conquered-facebookwithout-russian-ads. https://ico.org.uk/media/2259369/democracy-disrup- 31 Vgl. ebd. ted-110718.pdf. 32 Vgl. Florian Litterst, Facebook Dynamic Creative, 39 Vgl. Konferenz der unabhängigen Datenschutzaufsichtsbehör- 18. 11. 2017, www.adsventure.de/facebook-dynamic-creative. den des Bundes und der Länder, Positionierung zur Verantwortlich- 33 Vgl. Christl (Anm. 15), S. 77. keit und Rechenschaftspflicht bei Facebook-Fanpages sowie der 34 Gary Coby auf Twitter, 24. 5. 2018, https://twitter.com/ aufsichtsbehördlichen Zuständigkeit, 1. 4. 2019. GaryCoby/status/999764292181340163. 40 Vgl. Christl (Anm. 15), S. 49 f.

46 Datenökonomie APuZ zu überzeugen, Mitglieder zu rekrutieren, Frei- In Großbritannien verwenden Parteien zent- willige einzubinden oder Spenden zu akquirie- ralisierte Wählerdatenbanken ähnlich wie in den ren – und umgekehrt um andere Kampagnen zu USA. 45 In anderen europäischen Ländern setzt sabotieren. 41 Zunehmend wird auf der Grundlage man – soweit bekannt – auf die Segmentierung von Datenanalysen entschieden, welche Gruppen der Bevölkerung ohne flächendeckende Erfas- mit welchen Botschaften auf welchen Kanälen an- sung von Einzelpersonen. Dabei werden Daten gesprochen werden – von Hausbesuchen und tra- auf der Ebene von mehreren Haushalten oder ditioneller Werbung auf Plakaten, in Zeitungen Straßenzügen zugekauft. 46 In Österreich ist hin- und im Fernsehen über die Ansprache via Post, gegen kürzlich bekannt geworden, dass die Ös- E-Mail und Telefon bis zu den genannten Me- terreichische Post an mehrere Parteien Daten thoden auf Facebook und anderen Plattformen. über Einzelpersonen inklusive politischer Affi- In den USA nutzen Parteien dazu spätestens seit nitäten verkauft hat. 47 Wo jedenfalls sehr wohl 2004 umfassende Datenbanken mit Informatio- auch in der EU eine viel weitergehende Verknüp- nen über die gesamte Bevölkerung. Neben Daten fung personenbezogener Daten stattfindet, ist ei- aus Wahlregistern werden Profile von privaten nerseits im gesamten Online-Bereich und ande- Firmen zugekauft. Auch die bei Hausbesuchen rerseits, wenn es um Personen geht, deren Daten gesammelten Daten werden eingespeist. 42 – zumindest formal – mit „Zustimmung“ verar- In Kombination mit Daten aus Wahlergeb- beitet werden, weil sie in irgendeiner Form Kon- nissen, Geo- und Soziodemografie, Fokusgrup- takt mit der Kampagne hatten. Dabei werden pen und Umfragen werden statistische Modelle Kampagnenplattformen und Apps eingesetzt, erstellt, mit denen die Wahlbevölkerung in grö- die selektive Hausbesuche koordinieren und ßere bis sehr kleine Gruppen unterteilt wird. Da- personalisierte Nachrichten verschicken – sowie rüber hinaus wird für jede Person eine Prognose E-Mail-Adressen und andere Daten sammeln. über das Wahlverhalten berechnet. 43 Die Analy- Parteimitglieder und andere Personen werden sen dienen einerseits der Kampagnensteuerung, mit verhaltenspsychologisch optimierten Beloh- andererseits werden damit Listen von Personen nungsmechaniken „spielerisch“ in Kampagnen erstellt, die dann etwa zu Hausbesuchen führen eingebunden. Sie erhalten etwa für jeden Haus- oder als Custom Audience auf Facebook hoch- besuch und jeden digital geteilten Beitrag virtu- geladen werden. Schließlich wird versucht, jeden elle Punkte und steigen dadurch in einer Rang- Kontakt mit der Kampagne, jeden Besuch einer liste auf, mit der Aussicht auf ein Treffen mit der Wahlveranstaltung und jede Werbeeinblendung Spitzenkandidatin. 48 zu erfassen. Diese Vermessung ist der eigentliche Neben Eigenentwicklungen sticht hier Na- Ausgangspunkt, denn die Kampagnensteuerung tionbuilder heraus, eine integrierte Kampagnen- erfolgt anhand von Kennzahlen und Scores – bis und Datenplattform, die weltweit tausendfach auf die individuelle Ebene. Die NGO Tactical eingesetzt wurde – sowohl von Trump und 3000 Tech hat die politische Nutzung von Daten über- anderen politischen Kampagnen in den USA als all in der Welt untersucht und dabei über 300 pri- auch von der Wahlkampagne des heutigen fran- vate Dienstleister identifiziert, darunter auch Da- zösischen Präsidenten . 49 Na- tenfirmen aus Europa. 44 tionbuilder bietet tief greifende Funktionen zur

41 Vgl. Balázs Bodó et al., Political Micro-Targeting: A Manchu- 45 Vgl. Bennett (Anm. 43). rian Candidate or Just a Dark Horse?, in: Internet Policy Review 46 Vgl. Simon Kruschinski/André Haller, Restrictions on Data- 4/2017, https://policyreview.info/archives/2017/issue-4. Driven Political Micro-Targeting in Germany, in: Internet Policy 42 Vgl. Luke Bunting, The Evolution of American Microtargeting: Review 4/2017, https://policyreview.info/archives/2017/issue-4. An Examination of Modern Political Messaging, in: Butler Journal 47 Vgl. Addendum, Wenn die Post Partei ergreift, 7. 1. 2019, of Undergraduate Research 1/2015, https://digitalcommons. www.addendum.org/datenhandel/parteiaffinitaet. butler.edu/bjur/vol1/iss1/2. 48 Vgl. Mario Voigt/Rene Seidenglanz, Trendstudie. Digital Cam- 43 Vgl. Colin J. Bennett, Voter Databases, Micro-Targeting, and paigning in der Bundestagswahl 2017, Dezember 2017, S. 70–74, Data Protection Law: Can Political Parties Campaign in Europe as https://t1p.de/3of2; Dobber et al. (Anm. 36). They Do in North America?, in: International Data Privacy Law 49 Vgl. Chris O’Brien, How Nationbuilder’s Platform Steered 4/2016, S. 261–275. Macron’s En Marche, Trump, and Brexit Campaigns to Victory, 44 Vgl. Tactical Technology Collective, „Data and Politics project“ 14. 7. 2017, https://venturebeat.com/2017/07/14/how-nation- overview, 2018–2019, https://tacticaltech.org/projects/data- builder-helped-emmanuel-macron-secure-a-landslide-in-frances- politics. legislative-elections.

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Verknüpfung personenbezogener Daten aus vie- Können damit tief greifende politische Über- len Quellen und mit Social-Media-Plattformen, zeugungen auf Knopfdruck manipuliert wer- die in der EU bereits Gegenstand behördlicher den? Natürlich nicht. Wenn es Effekte gibt, sind Untersuchungen waren. 50 Die Plattform zeichnet sie sehr viel indirekter. Möglicherweise sind die alle Kontakte und Aktivitäten auf, berechnet de- geschilderten Praktiken nicht einmal sonder- ren ökonomischen Wert und überträgt damit die lich wirksam, erzeugen aber trotzdem Kolla- datenbasierten Wachstumsstrategien der Tech- teralschäden für Öffentlichkeit und Demokra- Konzerne auf politische Kampagnen. 51 tie – oder wir sehen erst die Anfänge dessen, was möglich ist. CHANCEN, RISIKEN, Was also tun? Unbestritten ist, dass viel HANDLUNGSOPTIONEN mehr Forschung nötig ist und Online-Targe- ting auf allen Ebenen transparent werden muss Wie wirkt sich datenbasiertes Microtargeting – nicht nur Inhalte, Kanäle und Zeiträume, son- letztlich gesellschaftlich aus? Was die potenziell dern auch Budgets und genutzte Daten müssen positiven Wirkungen angeht, gibt es die Hoff- nachvollziehbar sein. Datenschutzrecht muss nung, dass diese Art der gezielten Ansprache po- auch bei politischen Parteien durchgesetzt wer- litische Mobilisierung, Interesse und Partizipa- den, insbesondere im Online-Bereich, bei Kam- tion stärken und damit gar die Wahlbeteiligung pagnenplattformen sowie bei der Verknüpfung erhöhen könnte. Kampagnen könnten thematisch unterschiedlicher Datenbanken. Darüber hinaus vielfältiger werden und BürgerInnen angesichts müssen EU-weit die Regeln für politische Wer- beschränkter Aufmerksamkeit besser informier- bung an das digitale Zeitalter angepasst werden. te Wahlentscheidungen treffen. Zudem könnten Wo für Chancengleichheit und Demokratie nö- sich Vorteile für kleinere politische AkteurInnen tig, haben sich Parteien auch schon früher auf Be- ergeben – solange nicht auch finanzstarke Kräfte schränkungen bei Wahlwerbung geeinigt. Viele entsprechend aufgerüstet haben. 52 Problematiken stellen sich aber sowohl im kom- Umgekehrt bedroht exzessive Datenerfassung merziellen als auch im politischen Bereich – von durch politische Parteien Privatsphäre und Auto- personalisierter Manipulation und Experimen- nomie. Dies kann eine abschreckende Wirkung hin- ten in digitalen Umgebungen bis zur Macht der sichtlich freier Meinungsäußerung und politischer Tech-Plattformen. Beteiligung haben. An kleine Gruppen angepasste Kommunikation ermöglicht gezielte Irreführung bei minimaler Nachvollziehbarkeit. Selbst wenn keine plumpen Falschinformationen zum Einsatz kommen, können unterschiedliche Schwerpunk- te hervorgehoben werden, was zu einer verzerrten Wahrnehmung politischer Prioritäten führen kann. Microtargeting macht es außerdem sehr viel öko- nomischer, diejenigen Teile der Bevölkerung, die als nicht mobilisierbar eingestuft werden, auszuschlie- ßen. In Summe könnte datenbasiertes Microtarge- ting gesellschaftliche Debatten fragmentieren sowie das Vertrauen in Politik und demokratische Institu- tionen weiter unterminieren. 53

50 Vgl. z. B. Judith Duportail, The 2017 Presidential Election: The Arrival of Targeted Political Speech in French Politics, Dezember 2018, https://ourdataourselves.tacticaltech.org/media/ttc-influ- WOLFIE CHRISTL ence-industry-france.pdf. forscht und publiziert über Datenökonomie, 51 Vgl. Fenwick McKelvey/Jill Piebiak, Porting the Political Cam- Algo­rith­men und Tech-Plattformen und ist Leiter paign: The Nationbuilder Platform and the Global Flows of Political Technology, in: New Media & Society 3/2018, S. 901–918. des unabhängigen Forschungsinstituts Cracked 52 Vgl. Borgesius et al. (Anm. 1), S. 84 ff. Labs in Wien. 53 Ebd., S. 87 ff. [email protected]

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SELBSTBESTIMMUNG UND VERBRAUCHERSCHUTZ IN DER DATENÖKONOMIE Jörn Lamla

Selbstbestimmung wird in der Datenökono- AUTONOMIEFIKTIONEN mie zu einer Herausforderung, die die Kapa- UND STRUKTURDYNAMIKEN zitäten der Einzelnen übersteigt und durch einen verbesserten Verbraucherschutz allein Der Begriff „Selbstbestimmung“ ist insofern wi- nicht zu meistern ist. Sie betrifft die Demo- dersprüchlich, als gesellschaftlich bedingt ist, was kratie und Gesellschaft insgesamt und wirft als Freiheit des Individuums erscheint und diesem grundlegende Gestaltungsfragen auf, die mit sozial oder sogar als Wesenszug zugeschrieben historischen Momenten der Verfassungsge- wird. Zwar ist es durchaus möglich, dass sich In- bung verglichen werden können – geht es doch dividuen an den verantwortungsvollen Gebrauch ebenso um die Formgebung von Grundrech- subjektiver und politischer Freiheitsrechte ge- ten und politischen Basisinstitutionen. Eine wöhnen oder sich den kalkulierenden Umgang Behandlung der Zukunftsfragen von Privat- mit ökonomischen Privatinteressen antrainie- heit und Selbstbestimmung als individuelles ren. Die Idee subjektiver Selbstbestimmung be- Freiheits- und Abwehrrecht von Privatsubjek- findet sich dann mit gesellschaftlichen Instituti- ten, so zeigt der kritische Blick auf die Struk- onen und Strukturen des Rechtsstaats oder der turdynamiken der Datenökonomie, kann die- Marktgesellschaft in einem Passungsverhältnis; ser Aufgabe kaum gerecht werden. Dennoch der Widerspruch fällt nicht weiter auf. Gleich- ist eine solche Sichtweise, die auf Informati- wohl handelt es sich aber um historische Kon- onskontroll- und Einspruchsrechte sowie ent- zepte der Selbstbestimmung, die im gesellschaft- sprechende Pflichten der Nutzerinnen und lichen Wandel an Kraft und Plausibilität verlieren Nutzer von digitalen Diensten zielt, im Daten- können. Wenn sich die Einstellungen und Ge- und Verbraucherschutz weiterhin verbreitet. wohnheiten der Menschen oder die institutio- Angesichts der Asymmetrie von Kontroll- nellen Rahmenbedingungen der Lebensführung potenzialen und der Dezentrierung, die die Le- grundlegend verschieben, wie es mit der Entfal- bensführung unter den neuen soziotechnischen tung der Datenökonomie mehr als wahrschein- Bedingungen der Datenökonomie erfährt, sollte lich wird, kann diese Freiheitsfähigkeit nicht nur Selbstbestimmung nicht länger als Sache einzel- ab-, sondern auch Schaden nehmen. ner Bürgerinnen und Bürger betrachtet werden. Um das Argument zu verdeutlichen, sei auf Verbraucherpolitik, so möchte ich in diesem einen Klassiker der Soziologie verwiesen: Da- Beitrag zeigen, muss sich zur „Verbraucher- vid Riesman, Nathan Glazer und Reuel Den- demokratie“ erweitern, die die Gestaltung von ney beschrieben in ihrem Beststeller „The Lo- Regeln und Konventionen der Datenökonomie nely Crowd“ („Die einsame Masse“) schon 1950, systematisch an Prozeduren öffentlicher Aus- also noch fernab aller Digitalisierungsdynamiken, handlung rückbindet. eine Entwicklung hin zu einer Gesellschaft von Im Folgenden werde ich dafür zunächst die Verbraucherinnen und Verbrauchern, deren Cha- Idee der Selbstbestimmung historisieren und raktereigenschaften so deutlich von denen innen- soziologisch deuten, um darauf aufbauend geleiteter Subjekte abweichen, dass sich das Pro- neue Perspektiven aufzuzeigen und abschlie- blem der Autonomiegewinnung auf völlig neue ßend einige normative Schlussfolgerungen zu Weise stelle. 01 Der neue, zunehmend dominante ziehen. Typus des außengeleiteten Charakters sei vor al-

49 APuZ 24–26/2019 lem ein Informationssammler. Halt und Orientie- renzen und verantwortungsethischen Haltungen rung gewinne er nicht mehr aus verinnerlichten definieren. Solche Autonomievorstellungen fin- ethischen Prinzipien, die im turbulenten Leben den sich bis heute keineswegs nur bei ausgewie- wie ein in sich stabilisierter Kreiselkompass die senen Anhängern des sogenannten Neoliberalis- Richtung anzeigen, sondern er suche die Umwelt mus, sondern ebenso mit Bezug auf das Recht auf wie mit einer Radaranlage permanent nach Hin- informationelle Selbstbestimmung oder im euro- weisen auf Hindernisse und Möglichkeiten ab, päischen Leitbild des mündigen Verbrauchers. um seinen Kurs durchs Leben daran immer wie- Erst in jüngerer Zeit mehren sich Versuche, der neu auszurichten. solche Leitbilder zu relativieren und mit empiri- Die soziologische Qualität der Auseinan- schen Bedingungen der Selbstbestimmung zu ver- dersetzung mit dieser Wandlungsdynamik be- zahnen. 04 Die angebotenen Alternativen, die Ver- steht nun darin, dass Riesman und seine Kollegen braucherinnen und Verbraucher als verletzliche die Entwicklung nicht nostalgisch verteufel- oder vertrauende und nur zum kleinen Teil ver- ten. Selbstbestimmung sei nicht fest an den Ha- antwortungsvoll agierende Subjekte erscheinen bitus der protestantisch geprägten, innengeleite- lassen, tragen zwar der Komplexität und Unüber- ten Bürgerinnen und Bürger gebunden. Vielmehr sichtlichkeit heutiger Märkte sowie der ungleichen müsse Autonomie immer in der Relation von in- Ressourcenausstattung Rechnung. Zugleich verab- dividuellen Charaktereigenschaften oder Haltun- schieden sie sich aber tendenziell von einer Neube- gen auf der einen und gesellschaftlichen Struk- stimmung und -gestaltung von Autonomie, die da- turbedingungen auf der anderen Seite gedacht mit als leere bürgerliche Fiktion zurückbleibt. werden. So könne das, was dem männlich gepräg- Statt Selbstbestimmung durch staatlichen Ver- ten bürgerlichen Privatsubjekt in bestimmten braucherschutz zu ersetzen, käme es jedoch da- Zeiten den Glanz von Autonomie verleihe, etwa rauf an, Verbraucherschutz und Selbstbestimmung die ermöglichenden Normen, Rollenbilder und in neuer Weise zusammenzudenken. Das digitale Routinen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung Zeitalter bietet dafür reichlich Anlass: Mit der Ent- in der Familie, unter veränderten gesellschaftli- faltung der Datenökonomie wird die Struktur der chen Bedingungen zur inneren Geißel werden, Außenlenkung derart auf die Spitze getrieben, dass die es in seiner Fähigkeit zur Veränderung, etwa sich das Problem hier in voller Schärfe stellt. zur Reduktion von Berufsarbeit, stark einschrän- ke. Was einst als Wesenszug der Selbstbestim- SELBSTBESTIMMUNG mung erschien, wird so zum Element starker bis DURCH DATEN? suchtartiger Abhängigkeit. 02 Umgekehrt bedeute die Abhängigkeit der Außengeleiteten von wech- Ein (scheinbar) extremer Fall ist in diesem Zu- selnden und unberechenbaren Informationsströ- sammenhang die sogenannte Quantified-self-Be- men der Umwelt nicht per se den Verlust von Au- wegung. Deren Motto lautet: Selbstbestimmung tonomie. 03 Vielmehr gelte es, Selbstbestimmung durch Daten – womit vor allem quantifizierende zeitgemäß zu fassen und die Bedingungen hier- Informationen über Körperzustände, Leistungsfä- für zu klären. higkeiten, statistische Vergleichsmaße, Scores und Vor diesem Hintergrund verlieren Vorstellun- so weiter gemeint sind. Ein gutes Beispiel ist das gen von Selbstbestimmung an Plausibilität, die Fitnesstracking, das heißt die Nutzung von Apps Verbraucherinnen und Verbraucher überzeitlich wie Runtastic. Diese ermöglichen in Verbindung als innengeleitete Privatsubjekte mit klaren Präfe- mit „smarter“ Sensortechnologie in Mobiltelefo-

01 Vgl. David Riesman/Reuel Denney/Nathan Glazer, Die ein- 04 Vgl. Hans-Werner Micklitz et al., Der vertrauende, der verletz- same Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikani- liche oder der verantwortungsvolle Verbraucher? Plädoyer für eine schen Charakters, Hamburg 1958, insb. S. 251 ff. differenzierte Strategie in der Verbraucherpolitik. Stellungnahme 02 Vgl. Anthony Giddens, Leben in einer posttraditionalen des Wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und Ernährungspo- Gesellschaft, in: ders./Ulrich Beck/Scott Lash, Reflexive Moder- litik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und nisierung. Eine Kontroverse, Frank­furt/M. 1996, S. 113–194, Verbraucherschutz, Berlin 2010; Christoph Strünck, Der mündige insb. S. 129 ff. sowie ders., Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe Verbraucher. Ein populäres Leitbild auf dem Prüfstand, in: Christian und Erotik in modernen Gesellschaften, Frank­furt/M. 1993, insb. Bala/Klaus Müller (Hrsg.), Abschied vom Otto Normalverbraucher. S. 86 ff. Moderne Verbraucherforschung: Leitbilder, Informationen, Demo- 03 Vgl. Riesman/Denney/Glazer (Anm. 1), S. 272. kratie, Essen 2015, S. 19–28.

50 Datenökonomie APuZ nen oder speziellen Uhren beziehungsweise Fit- und kulturelle Moden. Schon dies ist eine Form nessarmbändern durch Auswertung von Kör- medial vermittelter Selbstbestimmung, die durch per- und Bewegungsdaten sowie den ständigen die datenökonomische Verwertbarkeit von Traf- Vergleich mit anderen Personen, die eigene Fitness fic und Nutzungszeiten, Netzwerkeffekten, Ska- zu überwachen, anderen im sozialen Netzwerk zu lierungserfolgen und kulturellen Bedeutungen demonstrieren und gezielt zu verbessern. 05 maßgeblich mitbestimmt ist. Diese vielfältigen Eine Vielzahl von Tools verspricht heute Un- Daten werden über die gezielt eingesetzten Bin- terstützung dabei, self-tracking beziehungswei- dungskräfte sozialer Netzwerke hinaus erfasst se lifelogging als Mittel der Selbsterkenntnis und und verknüpft, um Verhalten zu beobachten und -beherrschung zu nutzen. 06 Der Typus des Infor- vorherzusagen, Nutzerprofile zu erstellen, neue mationssammlers erscheint dabei nicht länger als Marktchancen zu erschließen, Erlebnisse zu per- außengeleitet, sondern als selbstbestimmt und sou- sonalisieren, vielleicht auch Preise zu individuali- verän im Umgang mit Informationen. Daten wer- sieren – alles mit dem Ziel, Zugriffschancen auf die den hierfür als Rohstoff gebraucht, und die für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu erhöhen. Datenproduktion erforderliche Entäußerung der Auch diese, häufig automatisierten Prozes- Person wird – entgegen der verbreiteten Assozi- se bestimmen das jeweilige Selbst mit, das sich in ation des Rechts auf informationelle Selbstbestim- passgenauen (Werbe-)Angeboten wiedererken- mung mit Datensparsamkeit – zur Notwendigkeit, nen kann und soll. Empfehlungsalgorithmen von wenn nicht gar zur allgemeinen Pflicht erklärt. Musikstreamingdiensten wie Spotify etwa kom- Die gesteigerte Abhängigkeit von jenen Plattfor- binieren Daten zu individuellen Hörgewohnhei- munternehmen und Datendienstleistern, die die- ten mit einem riesigen Datenpool, der statistische se Daten erheben, aufbereiten, klassifizieren, kor- Klassifikationen von Musikstilen erlaubt. Damit relieren, interpretieren, damit personenbezogene unterstützt der Dienst die Verbraucherinnen und Profile erstellen und das soziale beziehungswei- Verbraucher bei der Entwicklung ihres ganz eige- se algorithmisch generierte Feedback organisie- nen Musikgeschmacks. 08 Aber dieser Aspekt sin- ren, wird dabei ausgeblendet. Dies wäre sicherlich gulärer Identität ist dann kaum mehr als selbstbe- nicht weiter beachtenswert, wenn es sich tatsäch- stimmt zu bezeichnen. lich um eine Ausnahmeerscheinung handeln wür- Die Kontrollpotenziale sind dabei asymmet- de. In der Datenökonomie jedoch gewinnt dieses risch verteilt, und die Schere zwischen Nutzen- Modell der informationsbasierten Lebensführung den und Diensteanbietern öffnet sich weiter. 09 paradigmatische Qualität. Innengeleiteten Menschen, die nach eigenen Die Bestimmung des Selbst mittels digital auf- Relevanzkriterien konsumieren und verhin- bereiteter Daten und Informationen weist darin dern wollen, dass sich ihre Datenspuren ablösen viele Facetten auf, die in ihrer Zusammenschau zu und als Datenselbst ein Eigenleben entwickeln, erkennen geben, wie sich die Autonomie der Indi- bleibt oft nur die Selbstexklusion von Angebo- viduen in Fremdbestimmung aufzulösen droht. In ten und Nutzungspraktiken. Jene, die der An- der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Me- sicht sind, die Strategien kommerzieller Daten- dien herrscht ein gesteigerter sozialer Druck zur kraken taktisch durchkreuzen zu können, indem Inszenierung des Selbst als singuläre und authen- sie mit konstruierten Identitäten oder Falsch- tische Person. 07 Die Angewiesenheit auf Feedback informationen spielen, unterschätzen indes die und Anerkennung durch andere macht es dabei Möglichkeiten der Anbieter, Daten unterschied- erforderlich, ein feines Sensorium für Meinungs- licher Quellen abzugleichen und in Beziehung umschwünge zu entwickeln, und ein Großteil der zu setzen. Demgegenüber wird die Akzeptanz Kommunikation dreht sich um aktuelle Trends

08 Vgl. Jonathan Kropf, Recommender Systems in der populären 05 Vgl. Ramón Reichert, Die Vermessung des Selbst. Self-Tracking Musik. Kritik und Gestaltungsoptionen, in: ders./Stefan Laser in der digitalen Kontrollgesellschaft, in: Michael Friedewald/Jörn (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken. Für eine Bewertungssoziolo- Lamla/Alexander Roßnagel (Hrsg.), Informationelle Selbstbestim- gie des Digitalen, Wiesbaden 2018, S. 127–163. mung im digitalen Wandel, Wiesbaden 2017, S. 91–107. 09 Vgl. Jörn Lamla/Carsten Ochs, Selbstbestimmungspraktiken in 06 Vgl. Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizie- der Datenökonomie: Gesellschaftlicher Widerspruch oder „priva- rung des Sozialen, Berlin 2017, S. 167. tes“ Paradox?, in: Birgit Blättel-Mink/Peter Kenning (Hrsg.), Parado- 07 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. xien des Verbraucherverhaltens, Wiesbaden 2019, S. 25–39, hier Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, insb. S. 225 ff. S. 31 ff.

51 APuZ 24–26/2019 von Außenlenkung vermutlich noch zuneh- WIDERSPRUCH men, wenn Unterstützungsangebote durch Da- DES LIBERTÄREN PATERNALISMUS tenreichtum, größere Rechenleistung und ver- bessertes machine learning immer treffsicherer Selbstbestimmung, verstanden als rekursiver Op- werden. Es ist allerdings fraglich, ob der Kom- timierungsprozess der Entäußerung und Freiga- fort datenökonomischer Navigationshilfen, die be persönlicher Daten, der maschinellen Verar- bei identitätsrelevanten Problemen der Partner- beitung und Verknüpfung solcher Daten durch suche oder der politischen Wahl ähnlich agieren Dritte, der Ableitung verborgener personalisier- wie beim Konsum oder Autofahren, den erlitte- ter Verhaltensimpulse und deren evidenzbasier- nen Autonomieverlust ausgleichen kann. ter Erfolgsmessung, ist von Fremdbestimmung Die derzeit führende Disziplin in der Ent- nicht mehr zu unterscheiden. Vertreterinnen und wicklung solch datenbasierter Navigationshil- Vertreter der Verhaltensökonomik verweisen zur fen ist die Verhaltensökonomik, deren Expertise Verteidigung auf den Ansatz des libertären Pater- im „Anstupsen“ (nudging) von Entscheidungen nalismus: Anstupser würden das Verhalten kei- besteht: Durch Umgebungsreize, die bestimm- neswegs so starr festlegen wie Vorschriften oder te Emotionen auslösen sollen (affektives pri- Zwangsmaßnahmen. Das handelnde Subjekt sei ming), oder gezielte Situationsrahmungen wer- immer noch frei, sich anders zu entscheiden. Es den Bedeutungen und Attraktivitätswerte von könne in der Kantine weiterhin zu den zucker- Optionen verschoben, um das Verhalten in eine haltigen Riegeln greifen, nachdem die Obstschale bestimmte Richtung zu lenken. 10 Schon heute prominenter platziert wurde; auch könne es die beschäftigen Unternehmen professionelle Ver- Bereitschaft zur Organspende zurückziehen, soll- haltensformer, die mit solcher Expertise die Kun- te das Verfahren auf „Opt-out“ umgestellt wer- denbindung und Zahlungsbereitschaft effektiv den. Doch für die Reproduktion jener Entschei- zu steigern versprechen. 11 Beispielsweise wer- dungsautonomie, die der libertäre Paternalismus den über sogenanntes A/B-Testing​ verschiedene hier unterstellt, wird mit seinen empirisch moti- App-Versionen getestet, indem unbemerkt Nut- vierenden Bindungstechniken nichts mehr getan. zungsdaten erhoben und ausgewertet werden, Vielmehr setzt er Kompetenzen voraus, die mit um durch Designverbesserungen Nutzungs- seiner erfolgreichen Ausbreitung verdrängt wer- zeiten und Umsätze zu erhöhen. Bei Online- den. Diese Kompetenzen zu stärken, wird daher Spielen wird auf diese Weise das Suchtpotenzial zur Aufgabe für den Verbraucherschutz. gezielt gesteigert. 12 In der Datenökonomie ent- In der Verbraucherpolitik manifestiert sich der wickeln sich diese Techniken zum hypernudging, Widerspruch jedoch ebenso: Auch sie will Ver- das durch umfassendes sensorgestütztes Moni- braucherinnen und Verbrauchern vermehrt mittels toring, Big-Data-Analysen, verbesserte Vorher- nudging helfen, ihre wohlverstandenen Interes- sagemodelle und die Möglichkeit zur Echtzeitre- sen einschließlich ihrer informationellen Selbst- aktion, zum Beispiel abhängig von emotionalen bestimmungsansprüche zu realisieren. Nicht nur Erregungszuständen, immer präzisere Verhal- Lebensmittelampeln mit Signalwirkung, sondern tensimpulse zu setzen vermag. 13 Nicht nur Pri- auch gesetzlich vorgeschriebene Voreinstellungen vatunternehmen und Krankenkassen, sondern im Bereich des Daten- und Privatheitsschutzes auch Regierungen sind an solchem Beeinflus- (Privacy by Default, Opt-in-Verfahren, erleich- sungswissen äußerst interessiert. terte Verschlüsselung privater Kommunikation) sind hierfür typisch. Damit scheint es über die ge- sellschaftliche Nützlichkeit der Daten- und Ver- 10 Vgl. Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge. Wie man haltensökonomie einen breiten Konsens zu geben. kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2011. 11 Vgl. Nir Eyal, Hooked. Wie Sie Produkte erschaffen, die Lediglich über die Richtung der Verhaltenssteue- süchtig machen, München 2014. rung und die zentralen Werte, die damit wirksam 12 Vgl. Katharina Zweig et al., Kontinuierliches A/​B-Testing zur Op- werden sollen, wird noch gestritten. timierung von Spielerbindung und Monetarisierung bei „Freemium“- Dabei geht es nicht selten symbolpolitisch zu: Spielen, in: Birgit Blättel-Mink/Peter Kenning (Hrsg.), Paradoxien des Nicht um Profitanteile oder die Sicherung von po- Verbraucherverhaltens, Wiesbaden 2019, S. 43–57. 13 Vgl. Karen Yeung, „Hypernudge“: Big Data as a Mode of litischen Einflusspotenzialen, sondern allein um Regulation by Design, in: Information, Communication & Society Gesundheitsförderung oder nachhaltigen Konsum 1/2017, S. 118–136. geht es dann – und Cookies dienen selbstverständ-

52 Datenökonomie APuZ lich ausschließlich der Serviceverbesserung. Doch Hier ist die Verbraucherpolitik gefordert: Um nur wer eine unabhängige kritische Öffentlichkeit das Prinzip und die Möglichkeit der Selbstbe- nicht mehr zu fürchten braucht, kann sich auf sol- stimmung gegen die Eigendynamik der Daten- che Muster der nachträglichen Rationalisierung ökonomie zu verteidigen, sollte zum einen ge- datenökonomischer Praktiken und Geschäftsmo- setzlich festgeschrieben werden, dass Prozesse delle zurückziehen. Der Schutz und die politische der digitalen Infrastrukturgestaltung nach demo- Stärkung der Verbraucherinnen und Verbraucher kratischen Prinzipien der kollektiven Selbstbe- könnten hier ansetzen: Diese müssten in die Lage stimmung und Aushandlung zu gestalten sind. versetzt werden, kritisch prüfen zu können, wel- Diese Prozesse dürfen nicht länger den verbor- che Werte und Präferenzen in die Entscheidungs- gen operierenden Entscheidungsarchitektinnen architekturen der Datenökonomie eingeschrieben und -architekten überlassen werden, die für die sind und ob es sich dabei tatsächlich um die ihres Gestaltungseliten der Digitalwirtschaft arbeiten. wohlverstandenen Interesses handelt. Sie dürften Zum anderen sollten die Infrastrukturen der Da- demnach den Verhaltensimpulsen nicht nur empi- tenökonomie verpflichtend so gestaltet werden risch folgen, sondern müssten ihr Einverständnis müssen, dass sie die Kompetenz zur kritischen auch nach kritischer Prüfung noch erteilen kön- Reflexion von normierenden Designentscheidun- nen. Doch was meint solche kritische Kompetenz gen erhalten oder sogar steigern. in der Datenökonomie genau, und wie lässt sie sich unter deren Bedingungen entfalten? BEWERTUNGSKOMPETENZ: An dieser Stelle hilft die Soziologie der Inf- VERBRAUCHERSCHUTZ rastrukturen weiter. 14 Für die Verbraucherinnen ALS DIGITALE und Verbraucher wirkt die verhaltensökonomisch INFRASTRUKTURGESTALTUNG eingerichtete und sich zunehmend automatisiert und in Echtzeit anschmiegende datenökonomi- Genauso wie die Hierarchisierung der Werte in sche Umwelt – zumindest dort, wo sie erfolg- der autogerechten Stadt aus umweltpolitischer reich eingerichtet ist – wie eine zweite Natur, eben Sicht kritikwürdig erscheint, müsste der politi- „smart“, aber damit auch undurchdringlich. Infra- sche Gehalt infrastruktureller Vorfestlegungen strukturen ermöglichen Gewohnheitsbildung und auch im digitalen Zeitalter öffentlich präsent ge- stabilisieren gesellschaftliche Konventionen. halten werden. Man denke nur an die Planungs- Ganz anders sieht es aus der Perspektive der fantasien für eine umfassende Verhaltenslenkung Designerinnen und Designer dieser gebauten Um- und Überwachung in „Smart Cities“. Der Ver- welten aus: Sie erscheinen als Architektinnen und braucherschutz sollte mithin dabei helfen, die Architekten von Entscheidungsprozessen und le- Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung gen willkürlich oder gegebenenfalls mit strate- langfristig zu sichern, anstatt mit den gleichen gischem Kalkül fest, welche Konventionen und Steuerungsmitteln um Anteile an den „Verhal- normativen Aspekte im Verbraucherverhalten tensterminkontraktmärkten“ 16 der Datenökono- prioritär gelten und verfolgt werden sollen. 15 Das mie zu kämpfen. Verhalten läuft in infrastrukturellen Bahnen nicht Hierzu müsste die Verbraucherpolitik ein zuletzt deshalb gerichtet ab, weil die Festlegung neues, alternatives Gestaltungsparadigma der der Verhaltensausrichtung durch die Entschei- „Verbraucherdemokratie“ entwickeln und im dungsarchitektur irgendwann aus dem Blickfeld Bereich datenökonomischer Infrastrukturen zur verschwindet. Problematisch ist aber, dass diese Anwendung bringen. 17 Dieses könnte und soll- normativen und verhaltensnormierenden Vorent- te den informationsabhängigen Verbraucherin- scheidungen unter den Gestaltungsbedingungen nen und Verbrauchern die kritische Reflexion der Datenökonomie nicht länger mühsam poli- und Evaluation infrastruktureller Vorfestlegun- tisch ausgehandelt werden müssen, sondern über- gen von Wertordnungen und Bewertungsproze- haupt nicht mehr in den Blick geraten.

16 Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalis- 14 Vgl. etwa Susan Leigh Star/Karen Ruhleder, Steps Toward an mus, Frank­furt/M.–New York 2019, S. 25. Siehe auch den Beitrag Ecology of Infrastructure: Design and Access for Large Information von Zuboff in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Spaces, in: Information System Research 1/1996, S. 111–134. 17 Vgl. Jörn Lamla, Verbraucherdemokratie. Politische Soziologie 15 Vgl. Thaler/Sunstein (Anm. 10), S. 118 ff. der Konsumgesellschaft, Berlin 2013.

53 APuZ 24–26/2019 duren erleichtern, aber auch abverlangen. Hier- Soll ein solcher gesellschaftlicher Digitalisie- für müsste nicht länger die fragwürdig gewordene rungspfad vermieden werden, muss in die fort- Gegebenheit innengeleiteter Subjekte vorausge- schreitende Hybridisierung von menschlicher setzt oder angestrebt werden. Vielmehr würde die und künstlicher Intelligenz eine Sollbruchstel- Autonomie an Strukturen und Prozeduren kriti- le, in das rekursive, datenbasierte Trainieren von scher Evaluation gebunden, die auch kollektive Menschen und Maschinen eine Unwucht einge- Praktiken und Möglichkeiten professioneller Un- baut werden. Erforderlich sind Infrastrukturen, terstützung und Stellvertretung einschließen. So- die eine kritische Bewertung und Evaluation der gar nudging und gamification könnten eine Rolle Rahmengestaltung von Algorithmen und Be- spielen, wenn diese Techniken statt von morali- wertungsordnungen initiieren und wachhalten. scher Reflexion zu entlasten, durch Framing, so- Transparenzpflichten hinsichtlich der mit Algo- ziales Feedback oder emotionale Gratifikationen rithmen- und Interfacegestaltung verbundenen umgekehrt Prüfungen ermuntern, inwiefern Al- Normierungsabsichten allein reichen dafür nicht gorithmen, Plattformen oder Interfaces diskri- aus, da auch die nicht beabsichtigten Folgen und minieren, manipulieren oder sich Einsprüchen Diskriminierungseffekte Beachtung finden müs- entziehen. sen. Vielmehr sollten Prozesse der Informations- Eine Schwierigkeit dieses neuen Ansatzes technikgestaltung gezielt und wiederkehrend mit liegt nun darin, dass Praktiken der Bewertung der Pluralität möglicher Konventionen und Be- und Evaluation bereits als fester Bestandteil ver- wertungsordnungen konfrontiert werden, um haltensökonomischer Entscheidungsarchitek- kritische Reflexionen über deren infrastrukturel- turen in den digitalen Infrastrukturen verbreitet le Priorisierung anzuregen. 19 sind. Nahezu überall werden Verbraucherinnen Diese Praxis müsste zudem mit den Bewer- und Verbraucher mit der Vergabe von Sternchen, tungs- und Entscheidungsroutinen der Verbrau- mit Rankings und Ratings konfrontiert, werden cherinnen und Verbraucher verzahnt werden. ihnen Testergebnisse und Empfehlungen angebo- Denn es macht einen Unterschied, ob diese in den ten und sind sie zugleich aufgefordert, sich selbst Bahnen der Schnäppchenjagd oder sozialen Sta- durch Kommentare, Likes oder authentische Er- tuskonkurrenz, der Bequemlichkeit oder gesund- fahrungsberichte an solchen Bewertungsproze- heitspolitischer Fitnessideale, der ästhetischen duren zu beteiligen. Anmutung, kulturellen Diversität oder ökologi- Insofern – so könnte man meinen – erfüllt die schen Nachhaltigkeit verlaufen. Die Kontrover- Datenökonomie doch längst das Kriterium, Kritik sen, mit denen die Verbraucherpolitik in Berei- anzuregen und kritische Kompetenzen der Ver- chen wie Energie, Wohnen, Verkehr, Tourismus, braucherinnen und Verbraucher zu schulen. Eine Ernährung oder Kosmetik laufend konfrontiert solche Einschätzung übersieht jedoch, dass die- ist, können eine solche Pluralität präsent halten. se Bewertungspraktiken die Äußerung von Kritik Die Kompetenz zur Selbstbestimmung in der Da- als Element einer verhaltensökonomisch gestalte- tenökonomie bildet und erhält sich dann in dem ten Bewertungslandschaft mit programmierten Maße, wie die Verbraucherinnen und Verbrau- Verhaltensroutinen ununterscheidbar verschmel- cher ebenso wie die Designerinnen und Desig- zen. Die menschlichen und maschinellen Bewer- ner lernen, die Pluralität und prinzipielle Offen- tungen und Empfehlungen dienen maßgeblich heit von Wert- und Bewertungsordnungen in den der sozialen Einbettung von digitalen Märkten Alltagsroutinen und technischen Infrastrukturen und datenökonomischen Geschäftsmodellen, in- nicht länger verdrängen zu müssen. dem sie Vertrauen, Loyalität und Akzeptanzbe- reitschaft generieren. 18 Das Resultat aber ist eine hybride Intelligenz, die Kritik nur noch in vorge- JÖRN LAMLA zeichneten Bahnen zulässt und gegenüber den ar- ist Professor für Soziologische Theorie an der Uni­ chitektonischen Vorentscheidungen ihre Distanz veri ­s ­tät Kassel, Mitglied im vom Bundesministerium und unabhängige Urteilskraft verliert. für Bildung und Forschung geförderten Forum Privatheit sowie Sprecher des Koor­di­nie­rungs­

18 Vgl. ebd., S. 278 ff. gremiums im bundesweiten Netzwerk Verbraucher­ 19 Vgl. Luc Boltanski/Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung. forschung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg 2007. [email protected]

54 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Telefon: (0228) 9 95 15-0

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ISSN 0479-611 X

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