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Linn Burchert Das Bild als Lebensraum Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Kunst, 1910-1960

März 2019, 392 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4545-3 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4545-7

Schon um 1910 konzipierten zahlreiche Maler ihre Werke als Environments: In ihren Schriften legten sie dar, wie ihre abstrakten Bilder eine heilsame und vitalisierende Wirkung auf die Betrachtenden entfalten sollten, wobei Klima, Sonne, Luft und natür- liche Rhythmik als Vergleiche herangezogen wurden.

Linn Burchert formuliert das Modell des Lebensraumes als wesentliche Bildauffas- sung so unterschiedlicher Künstler wie , Yves Klein, Max Burchartz und anderer. Dabei zeigt sich, dass ökologische Ideen schon vor den 1960er Jahren in die Kunst Einzug hielten und auf welche vielfältigen Quellen der Wissenschafts- und Ideengeschichte Künstler zur Begründung ihrer Ideen rekurrierten.

Linn Burchert (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bild- geschichte der Humboldt-Universität zu . Zuvor war sie Doktorandin und wis- senschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Beziehungen zwischen Kunst-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte in der Moderne sowie Naturkonzepte und Naturzugänge in der Kunst von 1750 an bis in die Gegenwart.

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© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Inhalt

1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie | 9 1.1 Das Bild als Lebensraum: Revision des Organismusmodells | 11 1.2 Kunst und Biologie nach 1900: Biozentrik, Bioromantik, Biomorphismus | 15 1.3 Historische und neue Konzepte der Bildmacht | 19 1.4 Methodik, Künstlerauswahl, Begriffe | 30

2. Ökologische Diskurse in Künstlerschriften | 37 2.1 Lebensräumliche Bildkonzepte | 38 2.2 Ökologische Diskurse seit der Antike | 43 2.3 Begriffsdiskussion: Biozönose, Umwelt, Lebensraum, Biosphäre | 48 2.4 Raoul H. Francé, die Bioromantik und die Kunst | 52 2.5 Diskursfelder der Klimatologie, Naturheilkunde, Architektur und Umweltpsychologie | 56

3. Bilder als klimatische Farbatmosphären | 67 3.1 Heilsam-vitalisierende Lichtluftbäder in der frühen Abstraktion | 68 3.1.1 Das Bild als Villeggiatur: | 68 3.1.2 Vitalisierende Farbatmosphären: František Kupka | 78 3.2 Farbklimata bei Max Burchartz | 86 3.2.1 Das Bild als (Teil des) Lebensraum(es) | 88 3.2.2 »Lebenswellen«: Ludwig Klages’ Ausdruckskunde | 90 3.2.3 Impulse der Farbenlehre Goethes und der modernen Psychophysik | 91 3.2.4 Farben in der Umweltpsychologie | 93 3.2.5 Burchartz als Gestalter von Umwelten | 98 3.3 Ansätze der Chromotherapie bei Wassily Kandinsky und | 100 3.3.1 Grundlagen und Rezeption der Chromotherapie | 102 3.3.2 Farbenheilkunde als thermodiätetische Naturheilkunde | 109 3.3.3 Thermodiätetische Bilder bei Kandinsky | 111 3.4 Esoterische Wirkmächte bei Wassily Kandinsky | 112 3.5 Wärme und Lichter Italiens: Otto Nebels lufträumige Farben | 116 3.5.1 Klimatische und atmosphärische Lichtfarben | 117 3.5.2 Ökologische Wirkungsmodelle zwischen Physiologie und Esoterik | 124 3.5.3 Nebels klimatische Bilder | 126 3.6 Geistige Farblichter als Lebensstoffe in der Harmonisierungslehre Gertrud Grunows | 130 3.7 Klimatische Wirkkräfte der Natur: Johannes Ittens Jahreszeitenbilder | 139 3.8 Exkurs: Farbe als Lebensquelle – Varianten und Differenzen | 151 3.8.1 Farben als Lebenskräfte: Piet Mondrian | 152 3.8.2 Farben als Nährstoffe: László Moholy-Nagy | 154 3.8.3 Licht als vitale Energie: Otto Piene | 157 3.9 Atmosphärische Energie: Yves Kleins Blau als klimatische Farbe | 158

4. Bilder als Emanationen des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen | 167 4.1 Das Bild als Sonne: Robert Delaunay | 170 4.2 Sonnenbäder und Lichtscheiben: František Kupka | 178 4.3 Göttlich-geistige Sonnen: , Wassily Kandinsky und František Kupka | 183 4.4 Ästhetische und wissenschaftliche Perspektiven auf die Sonne: Wassily Kandinsky | 188 4.5 Ausstieg aus dem Bild? Das Kunstwerk als leuchtende Lebensquelle | 193 4.5.1 Das Kunstwerk als Höhensonne: Nikolaus Braun | 194 4.5.2 Bildkritik und die Lichtbewegung als Lebensprinzip: László Moholy-Nagy | 199 4.6 Energie des reinen Sonnenlichtes: Otto Piene | 206

5. Bilder als klimatische Luft- und Atemräume | 215 5.1 Luft und Atem im Bild | 217 5.1.1 Atmende Farben und schwebende Formen | 217 5.1.2 Atmosphärische Bildwirkungen | 224 5.2 Texte, musikalische Kompositionen und Schriftbilder als Luft- und Atemräume | 227 5.2.1 In Gedichten und Texten atmen: Lebensrhythmus und klare Gedanken | 227 5.2.2 Musik als Luft- und Atemraum | 231 5.2.3 Tuschmalerei, Kalligraphie und Bildschrift als Atemfiguren | 234 5.3 Luft und Gesundheit zwischen Naturheilkunde und Esoterik | 236 5.3.1 Pneuma, Prana, Qi | 236 5.3.2 Luft als Krankheitsauslöserin und Heilmittel | 239 5.3.3 Natürliche und geistige Klimata in Künstlerselbsthistoriographien | 242 5.4 Lebensatem einflößen: Produktionstheorien bei Johannes Itten, František Kupka und Yves Klein | 244 5.5 Vom Bild zur Luftarchitektur: Yves Klein und Werner Ruhnau | 252 5.5.1 Architektur, Bioklimatologie und Technik | 252 5.5.2 Kleins und Ruhnaus Rückkehr zum Paradies | 255 5.5.3 Klimautopie und Rosenkreuzerlehre | 258 5.6 Reizklima und Breathing Space: Mark Rothko | 261 5.6.1 Das Bild als Luft-, Atem- und Lebensraum | 262 5.6.2 Dionysische Kunst: Verbindungslinien zu Friedrich Nietzsche | 267 5.6.3 Breathing Spaces | 270

6. Bio- und Naturrhythmen im Bild | 275 6.1 Natur- und Lebensrhythmen in den Künstlerkonzepten | 276 6.2 Rhythmen der Natur: Denkmodelle und Heilskonzepte seit der Antike | 283 6.2.1 Die rhythmische Ordnung der Natur | 283 6.2.2 Die Wiedergewinnung des natürlichen Rhythmus durch Bewegung und Kunst | 287 6.3 Einfühlungstheorie und Musik als Modelle für naturrhythmische Bildkonzepte | 292 6.3.1 Einfühlung, Psychophysik und Abstraktion | 293 6.3.2 Natürliche Rhythmen in Musik und abstrakter Malerei | 298 6.4 Lemniskate und Villeggiatur: Paul Klee im Kontext von Rhythmus- und Musiktheorien | 305 6.5 Naturrhythmischer Weltbau: Otto Nebel im Kontext von Gertrud Grunow und Raoul H. Francé | 312 6.6 Im Einklang mit den Jahreszeiten: Rhythmik bei Johannes Itten | 317 6.7 Das rhythmische Bild als Biozönose: Max Burchartz | 323 6.8 Biotechnische Rhythmen bei László Moholy-Nagy: Kunstwerke als vitalisierende Systeme | 328 6.8.1 Kinetische Systeme, Wahrnehmungstraining und Zivilisationskritik | 331 6.8.2 Biotechnische Energiesysteme | 335 6.8.3 Rhythmische Systeme im künstlerischen Werk Moholy-Nagys? | 337 7. Fazit und Ausblick: Bild und Kunst als Lebensraum und Ökosystem | 339 7.1 Bildmodell Lebensraum | 339 7.2 Kunst und Ökologie seit den sechziger Jahren | 342 7.2.1 Erweiterter Kunstbegriff: Kunst-, Medien- und Kulturökologie | 342 7.2.2 Kunstwerke als Energiesysteme | 346 7.2.3 Klimaräume in der zeitgenössischen Installationskunst und Architektur | 349 7.3 Ausblick | 353

Danksagung | 355

Literatur | 357

Personenregister | 383

Abbildungsnachweise | 389 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie

»Rotorange ist dicht und undurchsichtig, es leuchtet auf, wie von innerer Wärme erfüllt. Der warme Charakter von Rot steigert sich im Rotorange zu feuriger Kraft. Rotoranges Licht för- dert pflanzliches Wachstum und steigert die organische Funktion.«1 (Johannes Itten, 1961)

»Ich bin jetzt auf dem Lande und arbeite sehr viel, mein letztes Bild ist die Sonne, sie leuch- tet immer stärker, je mehr ich daran arbeite […].«2 (Robert Delaunay, 1913)

»Any picture which does not provide the environment in which the breath of life can be drawn does not interest me.«3 (Mark Rothko, ohne Datierung)

»[…] daß sie [alle Teile des Kunstwerkes] dazu untereinander in harmonischen Intervallver- hältnissen stehen und auf reinen Maßen beruhen: auf naturgegebenen Maßen, die sich in der Musik, im Reiche des Organischen, in allem Lebendigen auf Erden wiederfinden lassen. Unter diesen Bedingungen entsteht in einer Malerei mit Naturnotwendigkeit Rhythmik.«4 (Otto Nebel, 1931)

Das Kunstwerk als klimatischer, von Sonnenlicht und Luft durchströmter, durch natürliche Rhythmen gegliederter Raum? – Diese Beschreibungen erinnern eher an die zeitgenössische Installationskunst als an die abstrakte Malerei in der ers- ten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie lassen etwa an ein Werk wie das Weather Project von Ólafur Elíasson (*1967) denken (Abb. 1-2): 2003 schuf der Künstler im Londoner Tate Modern einen Raum, welcher in vielen Aspekten der ›natürlichen‹ Umwelt glich. Elíasson erzeugte eine Licht- und Luftatmosphäre, die sich aus der Strahlung einer künstlichen Sonne und aus einer nebligen Atmosphäre konsti- tuierte. Photographien dokumentieren, dass die Besuchenden sich mitunter wie zum Sonnenbade auf den Boden der Halle legten.

1 | Itten 1961, S. 134. 2 | Brief an August Macke 1913, zit.n. Vriesen 1992 (1967), S. 151f. 3 | Undatierter Briefentwurf an Clyfford Still, in Ross 1990, S. 170. 4 | Nebel 1931, S. 29. 10 Das Bild als Lebensraum

Abbildungen 1 und 2: Installationsansichten: Ólafur Elíasson, The Weather Project, 2003, Monofrequenzlichter, Projektionsfolie, Nebelmaschinen, Spiegelfolie, Aluminium und Gerüste, 26,7 × 22,3 × 155,4 m, Turbinenhalle, Tate Modern, London 2003

Einem Sonnenbade gleich beschrieb auch Robert Delaunay seine Kompositio- nen. Johannes Itten betrachtete die Farben als biochemische Wirkmächte und Mark Rothko sprach gar von einem Lebensatem, der aus seinen Werken gezogen werden könne. Diese Textstellen geben nur einen kleinen Einblick in die Fülle an Analogien, die zwischen den Medien der Malerei, natürlichen Kräften und ökologischen Existenzbedingungen in Bildkonzepten zwischen 1910 und 1960 hergestellt wurden. In ihren Bild- und Wirkungsmodellen antizipierten Künstler somit Leitkategorien und -medien künstlerischer Environments. Dabei ging es ihnen nicht nur darum, das »Publikum sinnlich vielfältig zu affizieren, es über atmosphärische Qualitäten und möglichst viele Wege der Wahrnehmung zu er- reichen«,5 wie es häufig Anspruch der zeitgenössischen Installationskunst ist. Vielmehr wollten die Künstler mit ihren abstrakten Werken temporäre Lebens- räume schaffen, die etwa bei Otto Nebel den ›natürlichen‹ Lebensrhythmen ent- sprechen und eine heilsam-vitalisierende Wirkung entfalten sollten. Das Verständnis der künstlerischen Mittel als Äquivalente zu Umwelt- und Le- bensbedingungen führt in Gebiete der Ökologie. Ihren Status als wissenschaftli- che Disziplin hatte die Ökologie 1866 durch den Zoologen Ernst Haeckel erhalten. Zwar ist die Bedeutung Haeckels für die Kunst um die Jahrhundertwende durch seine Zeichnungen im Band Kunstformen der Natur (1899-1904) immer wieder thematisiert worden, jedoch wurde das eigentliche Erkenntnisinteresse der Öko- logie hierbei gar nicht einbezogen.6 Wie Daniela Hahn herausstellt, geht es im

5 | Dickel 2016, S. 5. 6 | Siehe exemplarisch Christoph Kockerbeck, Ernst Haeckels ›Kunstformen der Natur‹ und ihr Einfluß auf die deutsche bildende Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M./ Bern/New York 1986. Die Kunstwissenschaftlerin Sabine Bartelsheim schreibt in einem Aufsatz zum Gestalter und bildenden Künstler Max Burchartz, dass die Ökologie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »in der Kunstwelt intensiv rezipiert und mit eigenen Theoriemodellen verbunden« wurde (Bartelsheim 2010, S. 231). Obgleich Bartelsheim dies 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 11

Kunstformen-Band schließlich nicht um Lebensformen »in ihren ökologischen Zusammenhängen mit ihrer Umwelt«, sondern um die »Formenvielfalt und Dif- ferenzierung der organischen Formen«.7 Auf eine solche »Ästhetisierung« von Formen, die der »Funktion der mimetischen Darstellung« verhaftet blieb,8 sind künstlerische Auseinandersetzungen mit der Ökologie allerdings nicht zu redu- zieren. Dass die natürliche Umwelt ab 1900 in gesellschaftlichen Diskursen, insbe- sondere im Kontext der Lebensreformbewegung, eine zentrale Rolle einnahm, ist bekannt. Die Bedeutung von Licht, Luft und Klima für die Gesundheit erlangte in Folge der Industrialisierung Relevanz. Zusammenhänge von Kunstgeschichte und Lebensreform sind zwar punktuell gründlich, aber nicht umfassend unter- sucht worden.9 So sparte die Forschung das Fortbestehen lebensreformerischer Ideen sowie die Hinwendung zu ökologischem Denken in der abstrakten Kunst weitestgehend aus. Obwohl klimatische, lebenspendende Farben, Sonnenlicht- äquivalenz, ein Luftgehalt sowie eine naturrhythmische Ordnung von Bildern in Künstlerschriften vielfach zur Sprache kommen, sind diese Aspekte bislang nicht untersucht worden. Ein Grund hierfür ist darin zu suchen, dass sich diese Kate- gorien nicht in das aktuell in der Forschung dominante Bildmodell der Abstrak- tion fügen. Hier hat sich das Konzept des Bildes als Organismus durchgesetzt. Für dieses wird im Folgenden eine Erweiterung vorgeschlagen (Kap. 1.1). Diese Erweiterung eröffnet neue Aspekte und ermöglicht so die Ausformulierung des Modells des Bildes als Lebensraum. Dieses Vorhaben wird anschließend im For- schungsstand zum Verhältnis der abstrakten Kunst zu Biologie und Lebensphilo- sophie (Kap. 1.2) und in den historischen Debatten zur Wirkmacht von Bildern verortet (Kap. 1.3), bevor die Ziele und Methoden der Studie zusammenfassend zur Darstellung kommen (Kap. 1.4).

1.1 Das Bild als Lebensraum: Revision des Organismusmodells

Dem Organismusmodell liegt die Vorstellung des Kunstwerkes als Lebewesen zu- grunde, das etwa nach den Bildungs- und Funktionsgesetzen von Mensch, Tier und Pflanze oder Teilsystemen eines Gesamtorganismus – z.B. Atmung und Blut- mit großer Selbstverständlichkeit formuliert, fehlen aber weitere Erläuterungen, ebenso wie Hinweise auf Studien zu diesem Thema. Burchartz wird in dieser Arbeit eine zentrale Rolle einnehmen. 7 | Hahn 2015, S. 12. 8 | Ebd., 12f. 9 | Siehe Kai Buchholz (Hg.), Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001 sowie Corona Hepp, Avantgarde: Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München 1987. 12 Das Bild als Lebensraum

kreislauf – gestaltet ist.10 In Künstlerschriften, ebenso wie in der Kunstgeschichts- schreibung und in der Kunstphilosophie tauchte der Begriff um und nach 1900 vielfach auf,11 so etwa 1905 in der Publikation Das Kunstwerk als Organismus. Ein aesthetisch-biologischer Versuch des Kunsthistorikers Wilhelm Waetzoldt. Dieses Bildkonzept war allerdings keineswegs eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern manifestierte sich bereits im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entwicklung einer biologischen Auffassung vom Organismus. Waetzoldt be- zog sich, wie viele Ästhetiker und Künstler seiner Zeit, auf Johann Wolfgang von Goethe, der die »Gesetze des künstlerischen Aufbaues« mit dem Aufbau natür- licher Organismen gleichgesetzt hatte.12 Eine »Neukonstitution des Organismus- Denkens« erfolgte in diesem Sinne weiterhin durch Literaten und Philosophen wie Johann Gottfried Herder, Friedrich Schelling, Novalis sowie August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel.13 Während das cartesianische Denken den Or- ganismus als »Ansammlung von Teilen, die sinnvoll zusammenwirken, als Ein- heit« fasste,14 wurden insbesondere bei den Romantikern vitalistische Ideen maß- geblich für das Verständnis von Organismen und die Kategorie des Lebendigen. Anhand von Jacob Burckhardt zeigt der Kunsthistoriker Reinhard Zimmermann auf, wie die Architektur nunmehr als »wirklich Lebendiges, beseeltes, ›Pulsie- rendes‹« vorgestellt wurde.15 Die sichtbare Ordnung rückte zunehmend in den Hintergrund, in den Fokus traten unsichtbare Lebensfunktionen. Auch in der bildenden Kunst wurde fortan versucht, »sowohl unanschauliche Funktionszu- sammenhänge im Organismus als auch eine systemische Funktionsweise des Lebens zu visualisieren«.16 In der Forschung seit 2000 deutete sich hier und da an, dass der Organismus- begriff in seiner eng auf das organische Leben bezogenen Auslegung nicht fas- sen kann, was als konstitutiv für die von abstrakten Künstlern entworfenen Wir- kungskonzepte zu erachten ist. Dies zeigt sich in Zimmermanns Beschreibung des Kunstwerkes als »Wirk-Organismus«, dargelegt am Beispiel Wassily Kandins- kys. Den Bildelementen komme hier eine »Kraftqualität« zu und das Kunstwerk sei nicht Darstellung eines Lebewesens, sondern sei selbst Lebewesen – »ein Kraft ausstrahlender Wirk-Organismus«.17 Bei Kandinsky gebe es etwa einen »lo-

10 | Blümle/Schäfer 2007, S. 10. 11 | Vgl. Zimmermann 2005. 12 | Waetzoldt 1905, S. 8. 13 | Zimmermann 2005, S. 247. 14 | Ebd., S. 249. 15 | Ebd., S. 251. 16 | Blümle/Schäfer 2007, S. 11; vgl. Friedrich Weltzien, »Zeuge der Zeugung. Biochemische Körperkonzeptionen und das abstrakte Bild als Lebewesen«, in Olga Moskatova/Sandra Beate Reimann/Kathrin Schönegg (Hg.), Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, München 2013, S. 301-319. 17 | Zimmermann 2005, S. 259. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 13 gischen Konnex zwischen Organizität, Lebendigkeit, Kraft und Abstraktion«.18 So sei das Kunstwerk als »Aktualisierung von Kraft, Energie und Spannung und deren Wirkung nach außen, in die Atmosphäre hinein und zum Betrachter hin« zu verstehen.19 In seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen (1917) hatte Heinrich Wölfflin ebenfalls Kunst verschiedener Epochen in Analogie zu Organismen be- schrieben und stellte dies in Zusammenhang mit der »inneren Notwendigkeit« der Komposition.20 Den Bild- und Organismusbegriff Kandinskys setzt Zimmer- mann demjenigen Wölfflins jedoch entgegen, bei dem Lebendigkeit lediglich eine »optische Lebendigkeit, ein Oberflächenereignis von bewegter Farbe, Licht und Schatten« sei und keine besondere Wirksamkeit entfalte.21 Bei Zimmermann bleibt allerdings offen, wie die Vorstellung des Bildes als Lebewesen, dessen Wirkmacht in die Atmosphäre dringt, zu verstehen ist – wie sich also die spezifische Öffnung des Bildes nach außen mit dem Organismus- modell vereinbaren lässt. Damit ist die Übertragbarkeit von Energie vom Kunst- werk auf die Rezipierenden angesprochen. Der Kunsthistoriker verweist darauf, dass die von Kandinsky angenommene Wirkmächtigkeit ihre Tradition in den Kraft ausstrahlenden, christlichen Heiligenbildern und Ikonen habe.22 Dement- sprechend wäre das Modell des bloß lebendigen Bildorganismus vom heilsamen, belebenden Bild zu unterscheiden. Für das im weitesten Sinne lebenspendende Kunstwerk werden in der vorliegenden Untersuchung das Modell des lebensräum- lichen Bildes und das Konzept der ökologischen Bildwirkung vorgeschlagen. Eine energetische Überschreitung der Bildgrenze beschreiben auch Claudia Blümle und Armin Schäfer anhand des tradierten Organismusmodells. Sie argu- mentieren, dass sich ein Organismus »nicht alleine auf seine Grenze« beziehe, sondern »insgesamt eine Austauschbeziehung mit seinem Außen« unterhalte,23 womit ein genuin ökologischer Gedanke angesprochen ist. Ihre Diskussion be- zieht sich auf den Abstraktionsbegriff von Gilles Deleuze, der diesen in Ausei- nandersetzung mit dem Maler Francis Bacon entwickelte. Die rhythmische Be- wegung von Ausdehnung und Zusammenziehung führe zu einer Öffnung des Bildorganismus in den Umraum.24 Nicht nur die »Formwerdung im Bild«, auch die »Beziehung des Bilds zu seinem Außen« wird somit von Deleuze als Wir- kungsweise des Rhythmus gefasst.25 Dabei bezieht er sich auf den Philosophen

18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 260. 20 | Wölfflin 1917, S. 133; vgl. auch Zimmermann 2005, S. 253. 21 | Zimmermann 2005, S. 259. 22 | Ebd., S. 260. Zu Kandinskys Rezeption der Ikonenmalerei vgl. Krieger 1998, S. 107- 120; siehe weiterführend Kap. 1.3, 4.3, 4.6. 23 | Blümle/Schäfer 2007, S. 21. 24 | Ebd., S. 23; vgl. Gilles Deleuze, Francis Bacon – Logique de la sensation, Paris 1981. 25 | Ebd. 14 Das Bild als Lebensraum

und Kunsthistoriker Henri Maldiney (1912-2013), welcher Rhythmizität in Bildern mit den Begriffen der »Systole« und »Diastole« beschrieben hatte.26 Nicht nur das rhythmische Vor- und Zurückstreben nach Maldiney und De- leuze, auch die von Zimmermann genannten Phänomene der Kraft, Spannung, Energie und Strahlung sprechen für räumliche, rhythmische, ausströmende und ausstrahlende Bildwirkungen. Solche wurden von Künstlern im Rahmen von klimatischen Farb-, Licht- und Luftkonzepten immer wieder behauptet. Doch wie lassen sich Organismus- und Lebensraumbegriff miteinander vereinbaren? Schließlich beschrieben die Künstler ihre Bilder nicht nur als Licht- und Lufträu- me, sondern vielfach im selben Atemzug als Organismen. Das Verständnis des Organismus als Lebewesen stellt nur eine Dimension des Begriffs dar. Der Kunsthistoriker Wolfgang Kersten weist in einem Artikel über Paul Klee etwa darauf hin, dass dieser seit 1800 »in vielen Wissenschaftsberei- chen dazu [diente], den grundsätzlichen Charakter funktioneller Einheiten sinn- bildlich zu benennen«.27 Der Organismus in diesem Sinne ist als eine Form der Organisation, als natürliches oder naturanaloges, gar belebtes System in einem weiteren Sinne, zu verstehen. In der Antike dachte man den Kosmos als einen solchen lebendigen Organis- mus. In Platons Timaios wird die Erde als ein »beseeltes und […] vernunftbegabtes Wesen« beschrieben.28 Diese Auffassungen werden ideengeschichtlich unter dem Begriff des »Organizismus« gefasst.29 Für das Denken des 19. Jahrhunderts war dieses Naturkonzept ebenfalls konstitutiv. Davon zeugt etwa Goethes Vorstellung von der Erde »mit ihrem Dunstkreise […] als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist«.30 Die Schriftstellerin Ricarda Huch (1864-1947), eine zentrale Figur im Zirkel Stefan Georges um 1900,31 stellte dar, dass die Spätromantiker das »beseelte Weltall« als »einzigen Organismus« begrif- fen, »in dem alle Glieder miteinander verbunden seien, ›wie der Finger des Men-

26 | Ebd.; weiterführend zu Maldiney siehe Blümle 2011 und Kap. 1.3. 27 | Kersten 2005, S. 250. 28 | Platon 1992 (4. Jhd. v. Chr.), S. 33. 29 | Botar 1998, S. 195f.; siehe auch Botar 1998, S. 196: »Organicism: 1. any theory that explains the universe on the basis of an analogy to a living organism. 2. any theory that explains the universe as the function of a whole causing and coordinating the activities of the parts. Compare with Animism, Holism, Vitalism. Opposed to Mechanism« (von Botar entnommen aus Peter A. Angeles, The Harper Collins Dictionary of Philosophy, 2New York 1992, S. 216). 30 | Eckermann 1955, S. 308. 31 | Mit dem Kreis um Stefan George waren Wassily Kandinsky, Franz Marc und andere Künstler um den Blauen Reiter eng verbunden (vgl. Schall 1989, S. 7). In diesen Kreis gehörte auch Ludwig Klages und man setzte sich hier gründlich mit Friedrich Nietzsche auseinander (ebd., S. 21). Beide, Klages und Nietzsche, werden in dieser Studie als wichtige Bezugspunkte wiederholt auftreten. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 15 schen mit seinem Leibe und wiederum wie der Mensch selbst mit der Erde‹«.32 Auch der Psychophysiker Gustav Theodor Fechner, auf den sich etwa Kandinsky bezog, dachte die Erde als beseeltes Lebewesen.33 Zwischen Organismus- und Lebensraumkonzepten eröffnen sich so grundlegende, ideengeschichtliche Ver- bindungen, die in ökologischen Diskursen des 20. Jahrhunderts relevant blieben (Kap. 2.1).

1.2 Kunst und Biologie nach 1900: Biozentrik, Bioromantik, Biomorphismus

Für die abstrakte und ungegenständliche Kunst galt lange Zeit, dass sie keine oder gar eine negative Beziehung zur Natur pflege und sich dezidiert nicht an ihr orientiere.34 So attestiert Gernot Böhme in seiner Ökologischen Naturästhetik (1989) den Avantgarden seit dem 19. Jahrhundert, von den verschiedenen Mani- festen bis zur Concept Art, »eine Abkehr von oder ein Verdrängen von Natur«.35 Er orientiert sich an Hans Robert Jauß’ Rede von der »Naturfeindschaft in der Ästhetik der Moderne«, die jener anhand von Literaten wie Charles Baudelaire entwickelte.36 Dieses Attest ist allerdings weder für alle avantgardistischen Strö- mungen gültig, noch pauschal auf die bildenden Künste übertragbar. Das Verhältnis der Kunst des 20. Jahrhunderts zur Natur, zur Biologie und zur Lebensphilosophie wurde etwa im umfangreichen Münchener Ausstellungs- katalog Élan Vital oder das Auge des Eros (1994) beleuchtet. Dieser ist von der Fest- stellung getragen, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das »Verhältnis des Menschen zur Natur« erneute Aktualität erlangt hatte und sich dies in der abstrakten Malerei und Skulptur niederschlug.37 Nachweise werden anhand von Künstlern wie Wassily Kandinsky, Paul Klee, Hans Arp und Jean Miró erbracht. In Oliver Botars und Isabel Wünsches Band Biocentrism and Modernism (2011) zeigt sich ebenfalls, dass abstrakte Maler in einem zugewandten Verhältnis zur natürlichen Umwelt standen und Formen sowie Funktionsweisen natürlicher Gegebenheiten und Prozesse in ihre Kunstpraxis einfließen ließen. Begriffe wie ›Biozentrik‹, ›Bioromantik‹ und ›Biomorphismus‹ dienen zur Beschreibung der Positionen.

32 | Huch zit.n. Fick 1993, S. 24. Monika Fick zitiert aus Huchs Schrift Die Romantik (1899/1902), nach den Gesammelten Werken, Bd. VI, hg. v. Wilhelm Emrich (Köln 1969, S. 390 und S. 394). 33 | Innerhofer 2015, S. 90; zu Kandinsky und Fechner vgl. Kap. 2.5. 34 | Botar/Wünsche 2011, S. 1. 35 | G. Böhme 1989, S. 20. 36 | Jauß 1989. 37 | Vitali 1994, S. 11. 16 Das Bild als Lebensraum

Der Begriff ›Biozentrik‹ ist vom Lebensphilosophen Ludwig Klages und dem Botaniker Raoul H. Francé übernommen, die beide von einer Reihe abstrakter Künstler, insbesondere am , rezipiert wurden.38 Auf die Kunst übertrug der Philosoph Herbert Read den Terminus schon 1942 mit Blick auf Surrealismus und Abstraktion.39 Biozentrik ist gemäß Botar und Wünsche definiert durch die Vorrangstellung von Leben und Lebensprozessen, durch die Voraussetzung der Biologie als paradigmatische Wissenschaft der Zeit, durch eine gegen-anthropo- zentrische Weltsicht sowie ein besonderes Bewusstsein für die Umwelt.40 Biozent- risches Denken zeichne sich durch eine Privilegierung biologischer Diskurse und die Grundannahme der Untrennbarkeit und der Abhängigkeit des Menschen von der Natur aus.41 Eine besondere Linie der modernen Hinwendung zum Leben bildet die ›Bio- romantik‹. Vorgeschlagen wurde der Begriff vom ungarischen Kunstkritiker Ernő Kállai. 1932 fasste er sein Konzept in einem gleichnamigen Artikel zusammen. Angetrieben seien die Bioromantiker vom Drang, »den Geist ›zu den Müttern‹, zu den Urquellen und -Trieben des Lebens zu führen«.42 Ihr Denken zeichne sich durch Irrationalität und eine Hinwendung zum Rätselhaften aus.43 Eben dies gilt für andere Formen biozentrischen Denkens nicht, die den positivistisch-biolo- gischen Wissenschaften näher standen, und sich, anders als die Bioromantiker, nicht dem kosmologischen Denken, der Intuition und dem Traum verschrieben.44 Die Bioromantiker strebten danach, die »naturverbundene Leib-Seele-Einheit des Menschen, vom mechanistisch-quantitativen Produktions- und Ordnungsapparat der Zivilisation, grausam in Stücke zerschlagen, […] wiederzufinden«.45 Man er- sehnte eine geistige Einfühlung in die »Grundspannungen und Rhytmen [sic!]« der Natur,46 die als beseelt und belebt galt. Der Wunsch nach einer Vereinigung mit der Natur und der Teilhabe an ihren Kräften charakterisierte die Zeit um und nach 1900. Friedrich Nietzsches »Wille zur Macht« als Grundlage des Lebens ist als Vorform des Konzepts des »élan vital« und der »durée« von Henri Bergson zu fassen.47 Mit dem »élan vital« ist eine Lebenskraft gemeint, die sich nicht positivistisch erklären lässt.48 Das vitalis-

38 | Botar 1998, S. 328. 39 | Botar/Wünsche 2011, S. 8f. 40 | Ebd., S. 2. 41 | Der Bioromantik setzte Kállai die Technoromantik entgegen (vgl. Botar 1998, S. 7). 42 | Kállai 1932, S. 271. 43 | Ebd., vgl. Vitali 1994, S. 11. 44 | Botar 1998, S. 65. 45 | Kállai 1932, S. 274. 46 | Ebd., S. 273. 47 | Botar 1998, S. 13. Bergsons Einführung in die Metaphysik (1909) wurde etwa von Klee und Kandinsky rezipiert (Gaßner 1994, S. 33). 48 | Albert 1995, S. 95. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 17 tische Denken der Zeit, wie es Nietzsche, Bergson und Klages vertraten, ging so- mit von Kräften aus, die weder physikalisch noch chemisch nachweisbar waren.49 Botar benennt dieses vitalistische Denken als wichtigen Pfeiler im Denken von Bauhäuslern wie Kandinsky und Klee, die von der romantischen Grundannahme einer die Welt durchwirkenden Lebenskraft ausgingen.50 Nicht die kühle Analyse von außen, sondern die erlebende Einfühlung in die Natur rückte ins Zentrum. Botar behauptet ferner, dass sich das Denken der Künstler nach dem Ersten Weltkrieg versachlicht habe und esoterisches Denken einem positivistischen Na- turverständnis gewichen sei.51 So unterstellt er eine gleichsam teleologische Ent- wicklung hin zu einem »sachlich[en]« Naturverständnis, die sich allerdings in dieser Form außerhalb des Bauhauses bei Künstlern wie Otto Nebel und Yves Klein keineswegs bestätigen lässt. Die Behauptung, dass das esoterische Denken durch eine naturwissenschaftliche Perspektive abgelöst wurde, ist zurückzuwei- sen, auch wenn sich diese Tendenz in einzelnen Künstlerpositionen feststellen lässt, bei Kandinsky und László Moholy-Nagy etwa. Eine klare Trennung zwi- schen naturwissenschaftlichen und esoterischen Ansätzen wurde von den Künst- lern in vielen Fällen hingegen gar nicht vorgenommen. Wie oben dargestellt wurden Verbindungen von Ökologie und abstrakter Kunst bisher nur punktuell hergestellt.52 Der Bereich der Morphologie, der eng mit der Auffassung des Bildes als Organismus verknüpft ist, dominiert diese Diskurse.53 Die Morphologie ist ein Zweig der Ökologie, der mit den inneren Bildungsgeset- zen und äußeren Einflüssen, unter denen organische Formen entstehen, befasst ist.54 Der Begriff ›Biomorphismus‹ als Bezeichnung für einen künstlerischen Stil geht auf den Kunstphilosophen Alfred H. Barr zurück.55 Die Abstraktion von For- men wie Zellen oder Zellteilchen, oft ausgehend von mikroskopischen Bildern, sowie eine Ästhetik der Schwingungen, Kurven und Arabesken charakterisiert

49 | Botar/Wünsche 2011, S. 17. 50 | Botar 1998, S. 328. Bergson war auch für Robert Delaunay und František Kupka interessant, weil er kreatives Handeln als »Leben-bildende[n] Akt« auffasste (Ferus 2002, S. 198). 51 | Botar 1998, S. 329. 52 | Vgl. Kap. 1, 1.1. Nicht nur mit Bezug zur Kunst des Fin de Siècle, auch hinsichtlich der abstrakten Avantgarden werden Haeckels Kunstformen dabei immer wieder angeführt, etwa mit Blick auf den späten Kandinsky (Barnett 1994) und Klee (Schall 1989, S. 88). Eine Auseinandersetzung mit Haeckel ist außerdem für Kupka überliefert (Ferus 2002). 53 | Goethe, auf den sich zahlreiche Künstler im 20. Jahrhundert bezogen, gilt als »Begründer der Morphologie als naturwissenschaftlicher Methode« (Harlan 2002, S. 28, siehe vertiefend ebd., S. 28-49). 54 | Vgl. ebd., S. 28. 55 | Diese Überlegungen stellte der damalige Direktor des Bereichs Moderne Kunst am New Yorker Museum of Modern Art zur Ausstellung Cubism and Abstract Art im Jahr 1936 an, dazu siehe Alfred H. Barr, Cubism and Abstract Art, New York 1974. 18 Das Bild als Lebensraum

den biomorphen Stil.56 Dies zeigt Vivian Endicott Barnett am Beispiel von Kan- dinskys Kompositionen der Pariser Zeit: Sie identifiziert etwa Insekten-, Fisch- und Salamanderembryos sowie Fadenwürmer als Grundlagen der Bildfindung in Blaue Welt (1934).57 In der Erforschung der Bezüge der Kunst zur Biologie steht die Rezeption wissenschaftlicher Bilder durch Künstler im Sinne einer Suche nach bestimmten Grundformen bislang im Vordergrund. Offen bleibt, ob über die formalästheti- sche Auseinandersetzung mit biologischen Formen und Gestalten hinaus eine Beschäftigung mit ökologischen Prozessen konstitutiv für Bildmodelle war. Die- ses Desiderat führt zurück zur Grundfrage dieser Studie: Inwiefern wurden Bilder selbst als ökologisch wirksame Kräfte konzipiert, nicht als Repräsentationen von Lebe- wesen, sondern als belebende Organisationen – als Lebensräume? Die Tatsache, dass das Kunstwerk von einer Vielzahl abstrakter Künstler als Gleichnis zu einem Lebensraum konzipiert wurde, wirft ein neues Licht auf den viel beschworenen Impetus der Avantgarden, Kunst und Leben zu verbinden.58 Die Frage nach der Ausgestaltung dieser Verbindung wird in der Forschung zu- nehmend im Rekurs auf Körper- und Wahrnehmungskonzepte beleuchtet, wel- che die Rezipierenden von Kunst selbst als biologische Organismen in den Fokus rücken. Inge Baxmann bestimmt in diesem Sinne den ›labilen Menschen‹ als »Kulturideal« der zwanziger Jahre.59 Unter der Annahme der generellen »Durch- lässigkeit und Rezeptivität« des menschlichen Körpers komme der Kunst in dieser Zeit die Aufgabe zu, sich diese Rezeptivität zunutze zu machen:60 Die »biologisch vorgegebene Sensitivität des menschlichen Organismus« sollte »durch die Kunst mit entsprechenden Mitteln evoziert« werden.61 In Form eines »Wahrnehmungs- trainings« wollte etwa Moholy-Nagy mittels Kunst auf den Menschen einwirken und »für die Erfahrung der modernen Lebenswelt sensibilisieren«.62 Dass nicht notwendiger Weise die moderne Lebenswelt im Sinne des urba- nen, durch den Menschen hervorgebrachten Lebensraumes vorbildhaft für Wahr- nehmungserlebnisse in der Kunstrezeption sein mussten, wird in einem Aufsatz von Karin Leonhard deutlich, der die Idee zu dieser Studie erwachsen ließ. Da- rin weist sie Kandinskys Bezüge zur Biometeorologie nach. Die Biometeorolo- gie untersuche schließlich gleichermaßen den »Austausch zweier Systeme: des

56 | Botar/Wünsche 2011, S. 3. 57 | Nicht abgedruckt: Wassily Kandinsky, Blaue Welt, 1934, verschiedene Medien auf Leinwand, 110 × 120 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York; siehe Barnett 1994. 58 | Vgl. Bürger 1974, S. 67-73. 59 | Baxmann 2006, S. 88. 60 | Ebd. 61 | Ebd., S. 86. 62 | Ebd. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 19 menschlichen Körpers und des ihn umgebenden Luftraums«.63 Die zahlreichen »atmosphärische[n] Zustandsbeschreibungen«64 in Kandinskys Schriften hielten gemäß Leonhard auch in die »Diskussion um den Einsatz der bildnerischen Mit- tel« Einzug.65 Analog zu Einwirkungen des atmosphärischen Luft- und Lichtrau- mes auf den Menschen wäre das Bild so als atmosphärisches Gebilde zu begrei- fen, welches Einfluss auf Lebensfunktionen nimmt. Verschiedene Modi der Wirkungspotentiale von Kunst wurden in den vergan- genen Jahren in der Kunstgeschichte sowie den Bildwissenschaften diskutiert. Die vorliegende Studie gliedert sich in die generelle Frage nach den Wirkungen, Aufgaben und Funktionen von Kunst ein und fokussiert Aspekte, die jedoch so- wohl in kunstwissenschaftlichen Publikationen als auch den bildtheoretischen Diskussionen der 2010er Jahre vernachlässigt wurden.

1.3 historische und neue Konzepte der Bildmacht

Die Annahme der besonderen Wirkmacht von Bildern ist alt und varianten- reich. Ihre Geschichte zeichnet sich auch durch eine disziplinäre Vielfalt aus: Programmatiken von Kunstschaffenden bieten ebenso Material wie die Kunst- philosophie, die kunstwissenschaftliche Rezeptionsästhetik, die kulturwissen- schaftliche Gebrauchs- und Institutionengeschichte sowie neuere Strömungen der Bildwissenschaften. Neben der Vermittlung von Erkenntnis sowie der Gefahr, Ursache von Täuschungen zu sein, wurden Bildern seit jeher seelische, geistige und körperliche Wirkungen zugesprochen.66 Traditionell werden affektive und erkenntnisbezogene Dimensionen differenziert, aber auch in ihrem Zusammen- wirken betrachtet.67 Dies berührt die Unterscheidung einer Repräsentationsauf- gabe gegenüber dem Ziel, Präsenz und eine direkte Wirkung zu erzeugen. Auch

63 | Leonhard 2006, S. 67; in Kap. 1.3 wird dies vertieft. 64 | Ebd., S. 68. 65 | Ebd., S. 67. 66 | In The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response beschrieb Da- vid Freedberg exemplarisch die Spannbreite an Wirkungsweisen: Bilder erregen, beruhigen, Rezipierende können sich selbst oder andere mit ihnen identifizieren, ihnen Heilswirkun- gen zusprechen und solche an ihnen erfahren (Freedberg 1989). Die Kunst der Abstraktion wird von Freedberg systematisch vernachlässigt. Werner Busch versammelte 1987 Beiträ- ge zum Funktionswandel von Kunst. Dort sind Dimensionen der religiösen, ästhetischen, politischen und ›abbildenden‹ Funktionen in Einzelstudien beschrieben, die mit Modellen der Bildwirksamkeit in Zusammenhang stehen (Busch 1987). 67 | Im Rahmen der Bildwissenschaften wird etwa von Gottfried Boehm die »bildliche Evidenz« und »enárgeia« als Überzeugungskraft der Bilder diskutiert: »Evidenzen versetzen Sachverhalte in die Zeitform der Gegenwart. Sie behaupten Geltung, indem sie Präsenz schaffen. Das Evidente vergegenwärtigt, stellt vor Augen, rückt ins Licht, schaffe Klarheit 20 Das Bild als Lebensraum

zwischen einer Distanz wahrenden Rezeption und Bildwirkungen, die einer un- kontrollierbaren Ansteckung gleichen, ist so zu unterscheiden.68 Das Modell des Bildes als Lebensraum impliziert eben keine intellektuelle, kritisch distanzierte Auseinandersetzung mit Bildern, sondern Effekte der Belebung, der Heilung, der Stärkung und der Reinigung. Diesbezüglich konnten Künstler/-innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts an verschiedene Traditionen anknüpfen. Überlieferungen zu heilsamen Bildwirkungen haben ihren Ursprung in der Frühgeschichte von Bildern, etwa im Glauben, dass göttliche Kräfte in Artefakten und Bildwerken Wirksamkeit entfalten können. In bildmagischen Akten sollte sich eine derartige Verbindung von Bild und Person vollziehen, dass »von der Be- rührung eines Heiligenbildes reale Wirkungen ausgehen oder die Durchbohrung des Bildes eines Feindes diesem wirklichen Schaden« zufüge.69 Eine »göttliche Wirkungsmacht« sprach man der christlichen Ikone zu:70 Ein »Abglanz göttlich- immateriellen Lichtes« sollte sich durch das Bild im Diesseits offenbaren.71 Das von den Ikonen ausgehende »Eigen- oder Innenlicht« hatte die Funktion, »den Menschen des Göttlichen teilhaftig werden« zu lassen.72 Entgegen einer zentral- perspektivischen Bildordnung öffne sich die Ikone, wie Heinrich Theissing dar- legt, »auf den konkreten Raum, in dem der Gläubige lebt und sich bewegt« hin, durch Aussendung von Licht und die lebendigen, »atmenden, pulsenden« Bewe- gungen von »Figur und Grund«.73 Dass die Heilkraft des künstlerischen Bildes außerhalb der Ikonentradition eine Geschichte hat, stellt Karin Leonhard für das ausgehende 17. Jahrhundert an- hand von Roger de Piles dar, der Gemälden eine »erholende[…] und stärkende[…] Wirkung« zusprach.74 Ähnliches galt in der Tradition der Naturmagie, die mit natürlich-kosmologischen Kräften zu agieren suchte:75

und Durchblick« (Boehm 2008, S. 15). Hier betont Boehm auch, dass sich Evidenz und Affekt nicht ausschließen (ebd., S. 17-20). 68 | Vgl. Fischer-Lichte/Schaub/Suthor 2005. Die Autorinnen beschreiben die potentiell pathogene und kurative, negative und positive Ansteckung als »unfreiwillige Körperlichkeit ästhetischer Aneignungsprozesse«, die sich im Gegensatz zur bloßen Rezeption dadurch auszeichnen, dass die Affizierten keine »Wahl« hätten, sie könnten sich »nicht bewußt für oder gegen das ›Angesteckt‹- ›Fasziniert‹-›Berührt-Werden‹ entscheiden« (S. 9). 69 | Waldenfels 2008, S. 48; siehe weiterhin Kris/Kurz 1995 (1934), S. 100-113; Wolf 2011, S. 66. 70 | Krieger 1998, S. 19. 71 | Ebd., S. 52. 72 | Ebd. 73 | Theissing 1989, S. 196. 74 | Leonhard 2013, S. 229f. 75 | Baader 2005; zum Pneumabegriff siehe Kap. 3.9, 5.3.1. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 21

»Aus Sicht der magia naturalis […] handelt es sich bei der künstlerischen Fähigkeit des Bil- derschaffens um Partizipation an den den Kosmos animierenden pneumatischen Kräften, für die auf der Seite des Betrachters die Korrespondenz einer Physiologie und Psychologie von Perzeption bzw. Imagination vorgestellt wird, welche mit ebensolchen feinstofflichen spiritus operieren.«76

Dementsprechend lasse der Heilkünstler Energien in die Bilder einfließen, die von den Rezipierenden aufgenommen werden. Auf diesem Feld ist bislang wenig zu etwaigen Übertragungen in künstlerische Konzepte erarbeitet. In der Natur- magie wurden keine Bilder im Sinne der bildenden Kunst verwendet, sondern Schriftzeichen und Objekte wie Amulette und Talismane. Die damit zusammen- hängenden religiösen und magischen Ideen wurden im Rahmen des sogenann- ten ›Primitivismus‹ in der Kunst der Moderne allerdings rezipiert.77 Auch Künstler der Moderne glaubten an die Heilkraft von Bildern. Im aus- gehenden 18. Jahrhundert reiften im Kontext einer nunmehr autonomen Kunst Vorstellungen von Kunst als Äquivalent zur Religion.78 Diese wurden von Fried- rich Schleiermacher in Über die Religion (1799) nachhaltig geprägt. Demnach biete die Kunst, ähnlich der Religion, einen Zugang zum »Numinosen«79 und diene als »autonome Form der Erfahrung von Transzendenz«.80 Kunst sollte also nicht im Sinne eines magischen Bildwerkes oder einer natürlichen Medi- zin heilen, sondern den Offenbarungscharakter einer heiligen Schrift annehmen und Erlösung in Aussicht stellen.81 Ein heilender Charakter wurde der romanti- schen Kunst zugesprochen, insofern sie im Kontext einer Krisis des »wurzellos gewordenen Menschen« die Sehnsucht »nach innerer Sicherheit, Sinnstiftung und Geborgenheit« befriedige.82 Als Zeichen einer Verbindung mit dem großen Ganzen sollte das Bild zum Trostspender werden, Orientierung bieten oder das sinnstiftende Gefühl von Verbundenheit mit dem großen Ganzen ermöglichen. Als ideale Rezeptionshaltung beschrieb Schleiermacher das »Sich-Hingeben und

76 | Wolf 2011, S. 68; vgl. Karl Möseneder, Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter, Tübingen 2009. 77 | Vgl. Wederer 2000: Rolf Wederer weist darauf hin, dass primitive Bilder und Objekte nicht unter rein formalen Gesichtspunkten, sondern mit Blick auf die mit ihnen verbundenen Mythen rezipiert wurden. Der »Bildzauber« wurde sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in der Literatur des ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt zum Thema, um 1930 setzte sich dann der Begriff der »Bildmagie« durch (Wolf 2011, S. 65). Es fehlen detaillierte Studien zum Zusammenhang von Primitivismus und dem Glauben an die Wirkmacht der Bilder in der modernen Kunst. 78 | Siehe Stephenson 2004. 79 | Detering 2011, S. 12. 80 | Ebd., S. 14f. 81 | Vgl. Auerochs 2011, S. 44f. 82 | Stephenson 2004, S. 26. 22 Das Bild als Lebensraum

Affiziert-sein-Wollen«.83 In gewisser Weise ging es auch hier um die Verbindung mit einem kosmisch gedachten Lebensraum. Religiöse Bildvorstellungen lebten in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts in verwandelten Formen fort. So beschreibt Katharina Ferus, wie »nach Verlust der christlich-religiösen Bindungen«84 der »quasireligiöse Machtanspruch« der Künstler

»gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Seiten der rapide expandierenden ok- kulten Vereinigungen noch erheblich bestärkt [wurde]. Insbesondere die Wortführer von Theosophie und Rosenkreuzertum erklärten das intuitiv agierende Künstlersubjekt zum metaphysisch legitimierten Rettungsanker in einer instabilen, von politischen, sozialen, technischen und wirtschaftlichen Umbrüchen heimgesuchten Welt.«85

Demnach ermögliche Kunst vor allem Stabilität und das Gefühl vom Geborgen- sein in einer Ganzheit. Potentielle Verbindungen dieser Heilskonzepte mit natür- lichen Phänomenen oder gar ökologischen Wirkkräften werden von Ferus und anderen allerdings nicht identifiziert.86 Dieses Desiderat betrifft auch den Bereich der Bildwissenschaften. Auseinandersetzungen mit der Macht der Bilder erlebten durch die Bildwis- senschaften eine große Blüte. Hervorzuheben ist Horst Bredekamps Bildakttheo- rie, mit welcher er die »Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln […] aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, be-

83 | Schleiermacher zit.n. Kliche 2000, S. 370. 84 | Ferus 2002, S. 7f. 85 | Ebd., S. 8. Zu Konzepten religiöser Kunsterfahrung bei Kandinsky siehe weiterführend Moira Paleari, »Ästhetischer Gehalt und religiöse Erfahrung bei Ernst Barlach und Wassily Kandinsky«, in Alessandro Costazza/Gérard Laudin/Albert Meier (Hg.), Kunstreligion. Der Ursprung des Konzepts um 1800, Bd. 1, Berlin 2011, S. 138-154. 86 | Während ökologisch-lebensräumliche Dimensionen unter dem Aspekt der Bildwirk- samkeit noch nicht untersucht wurden, sind spirituelle Hintergründe abstrakter Kunst durchaus erforscht, wenngleich auch hier die Wirkungskonzepte noch detaillierterer Ausarbeitung bedürften. Paradigmatisch für die Untersuchung esoterischer und religiöser Dimensionen avantgardistischer Kunst sind: Sixten Ringbom, »Art in ›The Epoch of the Great Spiritual‹: Occult Elements in Early Theory of Abstract Painting«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes (29/1966), S. 386-418; Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde: religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Schloss Charlottenburg Berlin, Stuttgart u.a. 1980; Judi Freeman/Maurice Tuchman (Hg.), Das Geistige in der Kunst: abstrakte Malerei 1890-1985, Stuttgart 1988; Das Bauhaus und die Esoterik, Ausst.-Kat. Gustav-Lübcke-Museum Hamm 2005-2006/Museum im Kulturspeicher Würzburg 2006, Bielefeld/Leipzig 2005; Christoph Wagner (Hg.), Esoterik am Bauhaus: eine Revision der Moderne?, Regensburg 2008. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 23 rührenden und auch hörenden Gegenüber« zu erklären sucht.87 Durch die Dif- ferenzierung von drei Modi des Bildaktes beschreibt er Bilder als Agenten, die verschiedene Effekte entfalten können. Ausgerechnet die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, die maßgeblich das Ideal der Verbindung von Kunst und Leben formulierten, spielen bei Bredekamp jedoch höchstens eine marginale Rolle.88 Bildwirkungen ergeben sich gemäß der Bildakttheorie unter anderem aus dem Eindruck der Lebendigkeit von Bildern. Die Kraft von Form und Farbe findet darin mit Blick auf die Moderne dennoch wenig Beachtung. Ein für diese Studie interessanter Modernebezug wird durch Bredekamp über Theodor W. Adorno hergestellt. Dieser beschrieb das Kunstwerk in seinen Vorlesungen zur Ästhetik 1958/59 als »ein Kraftfeld«, welches »unter den Augen gewissermaßen lebendig wird«.89 Er erörterte, »daß man das Kunstwerk mitvollzieht, indem man in dem Kunstwerk darin ist, daß man – wie man es ganz schlicht nennen mag – darin lebt«.90 Bredekamp bringt diese Beschreibung mit dem schematischen Bildakt in Verbindung, in dem den Rezipierenden das Äquivalent zu einem anderen Lebe- wesen gegenüber tritt.91 Ihnen begegnet, folgt man Adorno, jedoch nicht ein von ihnen unterschiedener, lebendiger Körper. Es eröffnet sich ihnen vielmehr ein Körperinneres, das gleich einem Lebensraum einen Einschluss, ein Eintreten er- möglicht, und von Lebensprozessen durchwirkt ist, die zum Mitvollzug animie- ren (vgl. Kap. 1.1-1.2). So sprach Adorno davon, dass man »in dem Puls, in dem Rhythmus des eigenen Lebens ganz und gar eins wird mit dem Leben des Kunst- werks«.92 Das Kunstwerk erscheint zugleich lebendig und lebenspendend. Solche Formen der Verbindung von Bild und Rezipient/-in wird in den Bildwissenschaf- ten als ›Verkörperung‹ bezeichnet.93

87 | Bredekamp 2010, S. 52. 88 | Konzepte von Künstlerinnen und Künstlern finden bei Bredekamp allgemein wenig Beachtung. Bilder im weitesten Sinne werden hier in ihren Gebrauchs- und institutionellen Kontexten betrachtet oder im Fall künstlerischer Werke im Rahmen kunstphilosophischer Diskurse diskutiert. Es stellt sich die Frage, warum Theodor W. Adorno für eine Geschichte der Bildwirkungen für Bildwissenschaftler/-innen heute interessanter ist als solche von Künstlern derselben Zeit. 89 | Adorno zit.n. Bredekamp 2010, S.323; vgl. Adorno 2009 (1959), S. 168f.: Adorno be- zieht sich auf Stefan Georges Gedichtzyklus »Der Teppich« (1900). Der harmonisierenden, mit der Umwelt versöhnenden Bildwirkung, die in den hier untersuchten Künstlerpositionen in den Fokus rückt, würde Adorno widersprechen. Dennoch fänden sich sicherlich Anknüp- fungspunkte; siehe weiterführend Espen Hammer, Adorno’s Modernism, Cambridge 2015. 90 | Adorno zit.n. Bredekamp 2010, S. 323; Adorno 2009 (1959), S. 169. 91 | Bredekamp 2010, S. 104. 92 | Adorno zit.n. ebd., S. 324; Adorno 2009 (1959), S. 196. 93 | Dazu siehe weiterführend etwa Ulrike Feist/Markus Rath, Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung, Berlin 2012. 24 Das Bild als Lebensraum

Bevor weitere Referenzen Bredekamps in den Fokus gerückt werden, helfen verwandte Positionen dabei, dieser Studie weiteres kunstphilosophisches Aus- gangsmaterial hinzuzufügen, das über das Prinzip der Verkörperung hinaus- weist. Den Modus des im-Bild-Seins beschrieb in den 1970er Jahren auch der Philosoph und Phänomenologe Henri Maldiney, auf den sich Gilles Deleuze in seinem Konzept des Bildes als Organismus stützte (Kap. 1.1). Maldiney fasste das Bild jedoch nicht im engeren Sinne als Organismus auf, sondern als Ort des Auf- enthaltes:

»Die Kunst verschafft dem Menschen einen Aufenthalt, das heißt einen Raum, in dem wir einen Ort haben, eine Zeit, in der wir anwesend sind, und ausgehend von denen wir, indem wir ganz zur Gegenwart gelangen, mit den Dingen, den Lebewesen und uns selbst, in der Welt kommunizieren, und das heißt wohnen.«94

Maldiney bezog sich auf Paul Cézanne, der die Erfahrung des Selbstverlustes in der Umwelt zum ersten »Augenblick der Kunst« erklärte: »Ich komme vor mein Motiv, ich verliere mich darin. […] Wir keimen«,95 äußerte Cézanne im Gespräch mit Joachim Gasquet. Es gebe »keine Distanz zwischen der Welt und dem Men- schen« mehr.96 Die Ganzheitserfahrung ist, wie schon in der Romantik, Teil die- ser Bildauffassung. Für den von den Betrachtenden eingenommenen Zustand prägte Maldiney den Begriff der Trans-Passibilität» «,97 der eine Aufhebung der »Distanz zum wahrgenommenen Bild […] ins Zentrum« rückt.98 Das In-der-Welt-Sein beschreibt weiterhin Gottfried Boehm als grundlegende Bilderfahrung der Abstraktion. So stellt er fest, dass die Werke Wassily Kandins- kys und Kasimir Malewitschs »keinen Blick auf« etwas geben und statt einem »visuellen ›Feststellen‹« ein »anschauliche[s] ›Innesein‹« als Erfahrungsmodus böten.99 Es handle sich um die Erfahrung, »nicht nur gegenüber oder vor der Welt, sondern in ihr zu leben«.100 Das Bild werde zu einem »Feld, das den Betrachter impliziert«.101 Neben Boehm gehört zu den Vorbereitern der kunsthistorischen Beschrei- bung eines lebensräumlichen Bildmodells Gernot Böhme mit seinen Überle- gungen zur Erzeugung von Atmosphären als Aufgabe gestalterisch-ästhetischer Praktiken in seinen Essays zur Atmosphäre (1995). Die Erfüllung des Verspre-

94 | Maldiney 2007, S. 48. 95 | Cézanne zit.n. ebd., S. 50. 96 | Cézanne zit.n. ebd. 97 | Blümle 2011, S. 259. 98 | Ebd. 99 | Boehm 1990, S. 234. 100 | Ebd., S. 232. 101 | Ebd., S. 229. Mit diesem Modell der »Teilhabe« bezieht sich Boehm auf Adorno (ebd., S. 229f.). 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 25 chens der Aisthesis impliziere, so G. Böhme, den Verlust einer kritischen, beurtei- lenden Distanz im Sinne der Ästhetik Immanuel Kants.102 An deren Stelle treten eine direkte Affizierung, »Befindlichkeiten«,103 eine Wirkung auf und das heißt auch Macht über »Stimmung« und »Gemüt«:104 »Der Betrachter […] muß seine Selbstmächtigkeit aufgeben, indem er in die Atmosphäre des Kunstwerkes ein- tritt. Nicht er macht jetzt etwas, sondern es geschieht etwas mit ihm«, so G. Böh- me.105 Die Rezeption von im weitesten Sinne gestalteten Artefakten im Sinne der Neuen Ästhetik begreift er demgemäß als eine »Teilnahme an Atmosphären«, die nicht dargestellt werden, sondern gegenwärtig – präsent – sind.106 G. Böhme bezieht sich in seinen Ausführungen unter anderem auf Walter Benjamins Begriff der »Aura«.107 Benjamin hatte sich seinerseits eingehend mit Ludwig Klages und dessen Vorstellung einer »Wirklichkeit des Bildes« auseinan- dergesetzt.108 Im Kontext seiner Urbildtheorie handelte Klages von einer direkten Wirkmacht des Bildes, wobei er dieses nicht als stillgestelltes Artefakt, sondern als »Strom des Erlebens«109 und als auf die Seele einwirkende Lebensquelle be- griff.110 Auch Aby Warburg orientierte sich an Klages. Warburg wiederum dient Bredekamp als wesentliche Referenz.111 Während Klages die Bildwirkung nicht nur negativ als Erleiden, sondern auch positiv als belebende Apperzeption fasste,112 ging es Warburg um eine be- sorgte Distanznahme zu Bildern: »Du lebst und thust mir nichts« lautete sein Credo – Bredekamp versteht diesen Ausspruch eher als »Beschwörung denn […]

102 | G. Böhme 1995, S. 15. 103 | Ebd., S. 15f. 104 | Ebd., S. 35; vgl. ebd., S. 76. Hier hebt G. Böhme historische Konzepte wie die sinn- lich-sittliche Wirkung der Farben gemäß Johann Wolfgang von Goethe (vgl. Kap. 3.1.1, 3.2.3) sowie die sich an Goethe orientierende Esoterik Rudolf Steiners hervor. 105 | Ebd., S. 152. Böhme lässt hier allerdings zentrale Aspekte der Wirkungsästhetik Kants außer Acht, welche die Wirkung von Bildern auf die »Lebensstimmung« der Betrach- tenden betreffen. Dazu: Winfried Menninghaus, »›Ein Gefühl der Beförderung des Lebens‹. Kants Reformulierung des Topos lebhafter Vorstellung«, in: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zü- rich/Berlin 2009, S. 77-94. 106 | G. Böhme 1995, S. 152; vgl. auch ebd., S. 159. 107 | Ebd., S. 26f. 108 | Ebd., S. 29. Der Ausdruck »Wirklichkeit der Bilder« stammt aus Klages’ Vom Kosmo- gonischen Eros (1922). 109 | Falter 2015, S. 44. 110 | Ebd., S. 52. 111 | Zur »Pathosformel als Distanzmacht« siehe Bredekamp 2010, S. 193-206. Klages’ Ansatz einer vom Bild in Form von »Lebenswellen« ausgehenden Kraft wird mit Bezug zum Künstler Max Burchartz in Kap. 3.2.2 noch dargestellt. 112 | Vgl. Falter 2015, S. 40. 26 Das Bild als Lebensraum

Gewißheit«: »Warburg war sich bewußt, daß dem immer neu zu formenden und schützenden Ich durch Bilder Unterstützungen, aber auch Verletzungen wider- fahren können.«113 Die Bildwirksamkeit ergab sich Warburg zufolge aus psychi- schen Energien, die den Bildern inne sind.114 In seiner Einleitung zum unvoll- endeten Mnemosyne-Bildatlas schrieb er von den »Grenzpolen des psychischen Verhaltens« als »Tendenz zur ruhigen Schau oder orgiastischen Hingabe«, wobei er die ruhige Schau klar bevorzugte.115 Damit fand eine Abgrenzung von der zeit- gleich relevanten Einfühlungstheorie Robert Vischers und Theodor Lipps’ statt, die eine Ästhetik der Nähe und gar Vereinigung mit dem Bild darstellte, welche die Lebendigkeit des Bildes positiv bewertete.116 Eine Abgrenzung muss auch zur modernen psychophysischen Forschung vorgenommen werden, die weder in der Bildakttheorie noch bei G. Böhme Beachtung findet, für Künstler der Zeit aber von großer Relevanz war (Kap. 2.5, 3.2.3, 6.3.1).117 So wie es hier für die Auseinandersetzung mit dem Organismusmodell auf- gezeigt wurde, verdecken theoretische Setzungen und ein einseitiger historischer Blick auf die Gegenstände wesentliche Aspekte von Bildkonzepten. Karl Claus- berg attestiert ausgehend von Georg Simmel, Klages und Warburg der Ästhetik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Angst vor Nähe und Berührung durch die Objekte, die in einem »auratische[n] Ferngefühl« kulminiere.118 Dies gilt es zu revidieren. Christoph Asendorf zeigt am Beispiel der Architektur auf, dass der Zeitraum von 1910 und 1930 zugleich durch eine »emphatische Bejahung von Distanzüberwindung, Sphärendurchdringung und die Einrichtung entspre-

113 | Bredekamp 2010, S. 22. 114 | H. Böhme 2006, S. 244. 115 | Aus Warburgs Manuskript »Einleitung zum Bilderatlas«, zit.n. Gombrich 2012, S. 546. Warburg spricht im Kontext von seinem Konzept des Denkraumes vom »bewußte[n] Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt […] als Grundakt menschlicher Zivilisa- tion« (Warburg zit.n. ebd., S. 545); vgl. auch ebd., S. 548. 116 | Bredekamp 2010, S. 302. Das Problem von Nähe und Ferne wird auch in Asendorf 2005 diskutiert; vgl. Papapetros 2012, S. 23, der Warburgs »idea of Distancing« beschreibt: »By turning the ›living‹ object into a lively image, our once empathetic identification with it transitions into a seemingly safe abstraction. […] Warburg’s motto is a defensive response against the animistic properties of the object – a reassuring assertion that seeks to pacify the terror of agency in a category of being that is radically different from our own. Instead of being confronted with real life (das Leben), the subject rejoices in the graceful liveliness (Lebendigkeit) of animated images«. 117 | Die Zentralität einer psychophysiologischen Ästhetik zeigt hingegen der Band Gefühl und Genauigkeit. Empirische Ästhetik um 1900, hg. v. Jutta Müller-Tamm/Henning Schmidgen/Tobias Wilke, München 2014, auf. Allerdings gehen die Untersuchungen nicht über die frühen 1920er Jahre hinaus und nehmen ebenfalls keine ausführlichere Analyse der Konzepte von Künstlerinnen und Künstlern vor. 118 | Clausberg 2012, S. 74; zu Simmel vgl. Asendorf 2005, S. 31f. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 27 chend permeabler Räume« geprägt war.119 Dezidiert ökologische Ansätze in der Architektur werden in der Forschung in diesem Zusammenhang thematisiert, während die Untersuchung ähnlicher Ideen in der bildenden Kunst noch aus- steht.120 Erstmals konturiert wurden ökologische Bildwirkungen im 20. Jahrhundert in Leonhards Ausführungen zur Abstraktion im Kontext von Heilskonzepten und Biometeorologie. In »Die Heilkraft der Bilder – Tuberkulose, Krieg und Lichtthe- rapie um 1910« stellt sie Kandinskys und Ernst Ludwig Kirchners Interesse für das »zerstörerische[…] beziehungsweise heilpädagogische[…] Potential ihrer Bilder« dar.121 Dabei seien bei Kandinsky »Zusammenhänge zwischen klimatologischen, lichtdiätetischen und farbtheoretischen Konzepten« unverkennbar, aber »wenig untersucht«.122 Äquivalente »warme[r] oder eisige[r]« Luft sollten sich in Strömun- gen verwandeln und »in den Betrachterraum dringen […], ja, den Betrachter kör- perlich affizieren«:123 »Fast scheint es, als wären die geöffneten Bildräume Klima- Räume beziehungsweise Luftkurorte, oder als wirkten sie auf den Betrachter wie eine stimulierende Heliotherapie«.124 Wie Christina Storch aufzeigt, existierten schon in der Frührenaissance – etwa bei Leon Battista Alberti – äquivalente Über- legungen zu einer therapeutischen Wirksamkeit von Farbqualitäten der Feuchtig- keit und Kühle sowie Trockenheit und Wärme in Landschaftsgemälden.125 Zuletzt arbeitete Frances Gage Bezüge zwischen Landschaftsmalerei und Medizin in der

119 | Asendorf 2005, S. 44. 120 | Vgl. ebd., S. 35-53, S. 59-61, S. 108f., S. 133-148 und Kap. 2.5. Die Malerei wird in der Forschung nur als Visualisierung von Prinzipien wie Durchdringung und Simultaneität thematisiert. Erst seit den 1950er Jahren mit der Farbfeldmalerei von Mark Rothko und Barnett Newman sowie Ganzfeld-Experimenten und groß angelegten Rauminstallationen wird der Malerei der konsequente Ausbruch aus der Repräsentation attestiert (ebd., S. 159-167). 121 | Leonhard 2010, S. 226. 122 | Ebd. 123 | Ebd. 124 | Ebd. 125 | Storch 2015, S. 199-204. In der Erforschung der Landschaftsmalerei stellen solche Bezüge noch ein Desiderat dar. Das Bild als Lebensraumäquivalent beschreibt Leonhard anhand des Modells des fruchtbaren Feldes oder Ackers im 16. und 17. Jahrhundert, wobei das »Kultivieren und Fruchtbarmachen« von Picturas Acker als »Erde, Höhle und Uterus« zum Modell für die künstlerische Produktion wurden (Leonhard 2013, S. 3f.). Dieses Modell sei als biotisches Verfahren fassbar (ebd., S. 2) und das Bild als Äquivalent zum »bio- topos« (ebd., S. 5). Fruchtbare Ansätze zur Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts finden sich in: Annik Pietsch, Material, Technik, Ästhetik und Wissenschaft der Farbe 1750-1850: Eine produktionsästhetische Studie zur ›Blüte‹ und zum ›Verfall‹ der Malerei in Deutschland am Beispiel Berlin, Berlin u.a. 2014. 28 Das Bild als Lebensraum

Frühen Neuzeit am Beispiel des italienischen Arztes und Kunstkritikers Giulio Mancini her, die in eine ähnliche Richtung weisen.126 Zuletzt sprach auch Charissa N. Terranova in Art as Organism. Biology and the Evolution of the Digital Image (2016) von ökologischen Wirkzusammenhängen in der Kunst László Moholy-Nagys: »[T]he living corpus is set in relief by flows of light energy that ensconce her. The mind and body are made felt and physi- cally present through luminosity and movement, positioned within an ecological network of relations«.127 Von einer ökologischen Ästhetik ist ferner im Eintrag Karlheinz Barcks in den Ästhetischen Grundbegriffen die Rede: Er stellt die The- se auf, Friedrich Nietzsche habe in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (entst. 1873, posthum veröffentlicht) einen Begriff von Ästhetik definiert, »den man einen ökologischen nennen könnte«.128 Dies begründet er damit, dass Nietzsche, »keinen Begriff für Determinationszusammenhänge darstellt, ›son- dern eine Art Suche nach Abhängigkeiten […], auf die man sich verlassen können muß, um sich in einer Situation halten zu können‹«.129 Barck führt dies nicht wei- ter aus. Jedoch wird diese Studie zeigen, dass Nietzsche seine literarischen Texte nicht nur auf einer inhaltlich-diskursiven, sondern durchaus auf einer Wirkungs- ebene als Luft- und Lebensräume begriff, aus denen die Lesenden Kraft und Ge- sundheit ziehen sollten. Eben dieser Ansatz wurde von Künstlern nicht nur auf die Musik, sondern auch auf die bildende Kunst übertragen (Kap. 5.2, 5.6). Die Behauptung einer potentiell heilsamen und – als notwendiges Gegen- modell – schädlichen Wirkmacht der Kunst vereinnahmten im 20. Jahrhundert bekanntermaßen die Nationalsozialisten in Deutschland für ihre Zwecke. Tat- sächlich stammen diese Ideen aber bereits aus dem 19. Jahrhundert.130 Kampf- begriffe waren die biologischen Termini der ›Entartung‹ und der ›Degeneration‹, mit denen künstlerische Artefakte in gesunde und kranke geschieden wurden.131 Wenn der Literaturwissenschaftler Carl Weitbrecht um 1912 mit Blick auf die deut- sche Literatur davon sprach, dass »das junge Geschlecht [der Literaten] […] in der schlimmsten Krankenluft erwachsen war«,132 wird deutlich, wie schon früh unter

126 | F. Gage 2016; siehe insbesondere das dritte Kapitel »From Exercise to Repose«. 127 | Terranova 2016, S. 3. Moholy-Nagys ökologische Wirkungsmodelle werden in dieser Studie in mehreren Einzelkapiteln (Kap. 3.8.2, 4.5.2, 6.8) einbezogen, insbesondere allerdings, um sie von den Konzepten der anderen Künstler abzugrenzen. 128 | Barck 2000, S. 388. 129 | Ebd. Zum ›Zitat im Zitat‹ ist Dirk Baecker (»Der Mensch als Barbar«) angegeben. Als »Ethik ökologischen Zuschnitts« wird auch die Ästhetik Michel Maffesolis (Aux creux des apparences. Pour une ethique de l’esthetique, Paris 1990) bezeichnet (ebd., S. 386). Allerdings bleiben diese Ansatzpunkte unvollständig dargelegt. 130 | Kashapova 2006, S. 62. 131 | Siehe ebd. 132 | Carl Weitbrecht, Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Leipzig 21912, zit.n. ebd., S. 82. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 29

Rückgriff auf ökologische Wirkungsmodelle gesunde und kranke Kunst verhan- delt wurden. So fuhr Weitbrecht fort, dass dem Literatengeschlecht »die eigenen Gesundungskräfte« fehlten, »und im Gefühl davon riß es Türen und Fenster weit auf, um die vermeintlich gesunde Luft des Auslandes hereinzulassen, und merkte nicht, daß diese nur neue Krankheitskeime mitbrachte«.133 Bereits in den Jahrzehnten vor dem Naziregime wurde der Kunst vermehrt eine »symptomatische Bedeutung für die Diagnose der jeweiligen geistigen und ethischen Gesundheitsverhältnisse«134 zugesprochen, die sogenannte ›Ju- denkunst‹ oder auch die expressionistische Malerei galten als giftige, geradezu schwarzmagische, »gefährliche Zauberei«,135 die drohte »epidemisch zu wer- den«.136 Der Kunst erkannte man die Potenz zu, den ›Volksgeist‹ entweder zu »kurieren« oder zu »zersetzen«, zu »vergiften« und »funktionsuntüchtig« zu machen.137 Dass solche Wirkungsmodelle von Künstlern bekräftigt wurden, die dem Faschismus nicht zugewandt waren, hat man bislang ausgeblendet (vgl. Kap. 5.3.3). Die skizzierten und herauszuarbeitenden Konzepte gehen nicht in einer Re- zeptionsästhetik auf. Diese beschränkt sich schließlich auf »Rezeptionsvorgaben«, welche »dem Betrachter durch die Blicklenkung zur Enthüllung des Bildsinnes« helfen sollen.138 In der Rezeptionsästhetik fänden, so die Kunsthistorikerin Doro- thee Lehmann, »das Werk als Wirken« und die Tatsache, dass »das Werk seine Wirklichkeit nur durch sein Wirken entfaltet« keine oder kaum Beachtung.139 His- torische Wirkungskonzepte und in besonderem Maße jene der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts changierten zwischen den Polen der Heilkraft und Schädigung, Nähe und Ferne, Infektion und kühlen Distanz sowie Erregung und Beruhigung. In der Annahme einer ökologischen Bildwirkung ist von einer immersiven Kunst- erfahrung auszugehen, die seit der Farbfeldmalerei sowie der Installationskunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wesentliches Modell ästhetischer Erfahrung darstellt. Entsprechend der Definition von Laura Bieger zeichnet sich diese durch eine »Ästhetik des Eintauchens«, ein »Auflösen von Distanz« sowie

133 | Weitbrecht zit.n. ebd. 134 | Ebd., S. 83. 135 | Ebd., S. 121. 136 | Hans Kahle, »Einiges über Expressionismus, Bolschewismus und Geisteskrankheit« (erschienen in der Weimarischen Landeszeitung Deutschland am 20. Mai 1919), zit.n. Kashapova 2006, S. 142. Kahle (1899-1947) war ein antifaschistischer Journalist, der aber in diesem Punkt mit der Ideologie der Nationalsozialisten offenbar übereinstimmte. 137 | Ebd., S. 172. 138 | Lehmann 1991, S. 13; vgl. Burchert b (in Vorbereitung) zur »Kunst als Übertragung von Energie« am Beispiel Ernst Kurths und Paul Klees; siehe dazu weiterführend Kap. 5.2.2, 6.4. 139 | Lehmann 1991, S. 14. 30 Das Bild als Lebensraum

eine »Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum« aus.140 Eben dieses Modell antizipierten Künstler spätestens seit den 1910er Jahren.

1.4 methodik, Künstlerauswahl, Begriffe

Ziel der folgenden Untersuchungen ist es, ökologische Konzepte in der abstrak- ten Kunst aufzuzeigen und die Auffassung des Bildes als Äquivalent zu einem Lebensraum als wesentliches Bildmodell im Zeitraum von 1910 bis 1960 heraus- zuarbeiten. Es geht nicht um die Veranschaulichung ökologischer Prinzipien in Bildern, sondern um die Behauptung der Künstler, dass von den Bildern tatsäch- lich ökologische Wirkungen ausgehen. Ernst Haeckel definierte die Ökologie folgendermaßen:

»Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Or- ganismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ›Existenz-Bedin- gungen‹ rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind […] von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen. Zu den anorganischen Existenz-Bedingungen, welchen sich jeder Organismus anpassen muss, gehören zunächst die physikalischen und chemischen Eigenschaften seines Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtigkeits- und Electricitäts-Verhältnisse der Atmosphäre), die anorganischen Nahrungsmittel, Beschaf- fenheit des Wassers und des Bodens etc. Als organische Existenz-Bedingungen betrachten wir die sämmtlichen Verhältnisse des Or- ganismus zu allen übrigen Organismen, mit denen er in Berührung kommt, und von denen die meisten entweder zu seinem Nutzen oder zu seinem Schaden beitragen.«141

Die von Haeckel genannten Beziehungen der Organismen sind für die hier be- trachteten Wirkungskonzepte kaum von Interesse.142 Stattdessen bezogen sich die Künstler dezidiert auf anorganische Qualitäten der Umwelt. Die Rezipierenden wurden selbst als Organismen gefasst, auf welche Äquivalente dieser Umwelt- qualitäten einwirken. Darauf basierte die Behauptung einer lebenspendenden, heilsamen Wirkung von Kunstwerken. In vier großen Einzelkapiteln werden Bilder in dieser Studie als klimatische Farbatmosphären, als Gleichnisse des Sonnenlichtes und leuchtende Lebensquellen, als klimatische Luft- und Atemräume sowie als Bio- und Naturrhythmen beschrieben.

140 | Bieger 2011, S. 75; siehe weiterführend Alain Alberganti, De l’art de l’installation. La spatialité immersive, Paris 2013. 141 | Haeckel 1866, S. 286. 142 | Dabei ist zu beachten, dass Haeckel gerade die abiotischen Lebensbedingungen zunächst nicht in den Bereich der Ökologie zählte, sondern in den der Chorologie, der Lehre vom Raum, dazu siehe Trommer 2007, S. 315. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 31

Grundlage der Untersuchung bilden Künstlerschriften und -äußerungen. Ohne davon auszugehen, dass sich die Dimensionen von Kunstwerken in den Selbst- aussagen erschöpfen, werden die Publikationen, Briefe, Tage- und Notizbücher als Quellentexte für Bildkonzepte verwendet. Den Einstieg bildet eine Überblicksdarstellung zu lebensräumlichen Bildmo- dellen, die zugleich die Protagonisten der Studie einführt (Kap. 2.1). Ausgehend davon werden ökologische Diskurse identifiziert, welche die Künstler rezipierten und für ihre Theorien fruchtbar machten (Kap. 2.2, 2.4-2.5). Diese Bezüge reichen von der antiken Naturphilosophie über die Klimatologie seit dem 19. Jahrhundert bis zur psychophysiologischen Forschung, der Bioromantik und der Naturheil- kunde im 20. Jahrhundert. Weiterhin wird der ideologisch stark aufgeladene Be- griff des Lebensraumes verortet und zu alternativen Termini wie ›Kosmos‹, ›Um- welt‹, ›Ökosystem‹, ›Biotop‹ und ›Biosphäre‹ in Beziehung gesetzt (2.3). Die vier großen Kapitel untergliedern sich nach einzelnen Künstlern oder betrachten ähnliche Positionen unter einem gemeinsamen Aspekt. Dabei tre- ten die meisten Künstler in allen vier Kapiteln auf. Die in der Natur untrenn- baren anorganischen Umweltqualitäten des Klimas, des Lichtes, der Luft und der Rhythmik verbanden sich auch in den Bild- und Wirkungskonzepten vielfach. Die Studie ist daher geprägt von Vor- und Rückbezügen, durch welche ein Netz an Verbindungen zwischen den Künstlern und Konzepten ersichtlich wird. Wie- derholungen sind nicht immer vermeidbar und unterstützen bei einer selektiven Textlektüre von einzelnen Kapiteln. Exemplarische Werkanalysen stehen in dieser Arbeit unter der Fragestellung, inwiefern sich die Theorien in den Bildern niederschlagen. In erster Linie han- delt es sich um eine diskursanalytische Untersuchung die nicht bildimmanent argumentiert, sondern das Verhältnis von Theorie und Bild berührt. Mitunter blieben die Ideen der Künstler derart im Utopischen, dass die fehlende Umsetz- barkeit ins Bild nur noch als Problem formulierbar ist. Einige Künstler äußerten eine dezidierte Bildkritik und wendeten sich einer Erweiterung ihrer Medien zu, so etwa der Sturm-Künstler Nikolaus Braun, Yves Klein und László Moholy-Nagy. Der Schwerpunkt der Studie liegt zwar auf der abstrakten Malerei, punktuell werden aber Objektkunst und architektonische Entwürfe einbezogen, etwa bei Klein, dessen Architekturvisionen aus malerischen Konzepten hervorgingen. Der Untersuchungszeitraum ist breit angelegt, von den Anfängen der un- gegenständlichen Malerei bei František Kupka bis zur Entstehungszeit einer ökologisch engagierten Kunst seit den sechziger Jahren, die im Ausblick zu den Ergebnissen dieser Untersuchung ins Verhältnis gesetzt wird (Kap. 7.2). Die Ent- wicklung künstlerischer Environments ist als Parallelerscheinung seit den zwan- ziger Jahren mit einem ersten Höhepunkt Ende der fünfziger Jahre als Kontext mitzudenken.143

143 | Als Vorstufen der Installationskunst werden zumeist El Lissitzkys Proun-Raum (1923), Kurt Schwitters Merzbau (1932) und die surrealistische Ausstellung in der Pariser 32 Das Bild als Lebensraum

Der Untersuchungszeitraum trägt außerdem der Tatsache Rechnung, dass sich die Entwicklung ökologischer Wirkungskonzepte bei Künstlern wie Max Burchartz und Johannes Itten über bis zu fünf Jahrzehnte und die beiden Welt- kriege hinaus erstreckte. So sollen als Gegenmodell zu einer Geschichtsschrei- bung der Brüche ideengeschichtliche Kontinuitäten aufgezeigt werden.144 In der breiten historischen Anlage kommen Schnittpunkte in einem breiten Feld künst- lerischer Praktiken und Diskurse zur Darstellung. Waren viele der Künstler zeit- weise über Schulen wie das Bauhaus und Gruppierungen wie Sturm oder Zero verbunden, standen andere nur sehr vermittelt oder kaum in Verbindung zuein- ander. Eine große Spannbreite zeigt sich insbesondere formal, selbst dort, wo sich Künstler einem ähnlichen Problem in der Erzeugung einer klimatischen Farb-, Licht- und Lufthaltigkeit des Bildes widmeten. Anknüpfungen an den Neoimpres- sionismus bei Robert Delaunay, Paul Klee und Otto Nebel sind ebenso vertreten wie Ansätze gestischer Zeichnung bei Itten, und – dem entgegengesetzt – Prak- tiken Kleins, Otto Pienes und Mark Rothkos, welche die individuelle Handschrift gänzlich ausschalteten. Die monochromen Werke Pienes und Kleins stehen fer- ner den kontrastiv-farbenreichen Kompositionen Wassily Kandinskys gegenüber. Weitere naheliegende Positionen, die den Fokus der Arbeit nicht ganz treffen oder ihre Dimensionen sprengen würden, finden punktuell Erwähnung.145 Ziel ist es, das Feld zu öffnen und eine Grundlage für weitere Forschungen zu schaf-

Galerie de Beaux-Arts (1938) gezählt: Siehe dazu Claire Bishop, Installation Art. A Critical History, London 32010, S. 80f., S. 41f. und S. 20-22, S. 54-65. Den Begriff ›Environment‹ prägte der Künstler Allan Kaprow: Siehe Nisbet 2014, S. 13-66 und Frank Popper, Die Kinetische Kunst. Licht und Bewegung, Umweltkunst und Aktion, Köln 1975, S. 90f. 144 | Gerade die Kriegserfahrungen im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg bilden einen wesentlichen Kontext der hier dargestellten Heilskonzepte. Diese Zusammenhänge werden in der Studie an einigen Stellen aufscheinen, aber nicht weiter vertieft. Die Bezüge zwischen Heilskonzepten und Kriegserfahrungen wären eine eigene Untersuchung wert. 145 | Vor allem Künstlerpositionen im Kontext der russischen Avantgarde mussten unberücksichtigt bleiben. Dazu siehe Organica. Organic. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avantgarde of the 20th Century, Ausst.-Kat. Galerie Gmurzynska Köln 1999- 2000, Köln 1999. Die Rezeption von Naturphilosophie und Evolutionstheorien, die in einem biomonistischen Kunstmodell kulminierte, stellt Verena Krieger in ihrer Habilitationsschrift am Beispiel Pavel Filonovs heraus, dazu vgl. Krieger 2006, S. 151-184. Das Bild wurde von Filonov nicht als Repräsentation von Kräften, sondern als Lebewesen verstanden. Offenbar entwickelte auch er eine Vorstellung vom Bild als Lebensraum, so heißt es in »Kanon und Gesetz« (1912): »Von nun an werden die Menschen in den Gemälden leben, sprechen und denken […]« (zit.n. ebd., S. 183). Da, wie Krieger schreibt, »[z]u keiner Zeit und in keinem anderen Land der Welt […] der Kunst größere Wirkmacht zugeschrieben worden [ist] als in Russland im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts« (ebd., S. 17), bietet sie sich als Untersuchungsgegenstand unbedingt an. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 33 fen. Der Nachweis lebensräumlich-ökologischer Bildkonzepte in der abstrakten Moderne führt neue Aspekte betreffend Farbe, Licht, Atmosphäre und Rhythmus sowie ein neues Bildmodell in die kunsthistorische Forschung zur Abstraktion ein. Dabei stellt sich gerade das verbindende Merkmal der Abstraktion als prob- lematisch heraus, insofern eine Abgrenzung von Begriffen wie ›abstrahierend‹, ›ungegenständlich‹ und ›konkret‹ im Untersuchungskorpus oft nicht sauber zu bewerkstelligen ist und hier nicht in den Vordergrund gerückt werden soll. Viel- mehr wird sich zeigen, wie sich das Modell des lebensräumlichen, ökologisch wirksamen Kunstwerkes bei allen Unterschieden als kleinster gemeinsamer Nen- ner in der nicht-figurativen Kunst konstituierte. Gängige Implikationen des Abs- traktionsbegriffs müssen dabei hinterfragt werden. Sabine Flach identifiziert den Impetus der »Dematerialisation« als entschei- dendes Merkmal der Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »Abstraktion ist Entzug von Sichtbarkeit und sinnlicher Erfahrung und stellt sich durch den makroskopischen und mikroskopischen Blick ein.«146 In der philosophischen Tradition meint Abstraktion zunächst die »Ablösung von Merkmalen sinnlicher Wahrnehmbarkeit oder anschaulicher Vorstellbarkeit«.147 In der Abstraktion als Denkoperation gehe es darum, »vom sinnlich gegebenen Einzelnen zum Allge- meinen [zu] gelangen«.148 Es war jedoch gerade der Anspruch der hier betrachteten Künstler, etwas sinnlich wahrnehmbar zu machen, das als Äquivalent zu klimatischen Umwelt- reizen und anorganischen Existenzbedingungen wirksam wird und gar nicht zum Repertoire visuell zugänglicher Wirklichkeit gehört – man denke nur an die Wärme und die Feuchtigkeit der Luft. So abstrahierten die Künstler von einer schon immateriellen Wirklichkeit und machten diese sinnlich zugänglich, indem sie ihr eine Materialität verliehen. Da der Naturbezug dabei erhalten bleibt, wird in dieser Studie am Abstraktionsbegriff festgehalten, anstatt den der Ungegen- ständlichkeit oder Konkretion zu verwenden. Die ausgewählten Künstlerpositionen hält zusammen, dass sie Kraft und Energie nicht zu repräsentieren, sondern als Wirksamkeit präsent zu machen suchten. Daraus ergibt sich das Verständnis von Bildern als ›Kraft ausstrahlenden Wirk-Organismen‹ (Reinhard Zimmermann)149 beziehungsweise Kraft emanieren- den oder bewahrenden Lebensräumen. Eine Abgrenzung ist so zum Biomorphis- mus vorzunehmen, den die Repräsentation unsichtbarer biologischer Prinzipien beziehungsweise mikro- oder makrokosmischer Strukturen kennzeichnet. Die Untersuchung leistet so einen Beitrag zur Ideengeschichte der Wirk- macht von Bildern, bei der Vorstellungen rund um die vitalisierenden Potentiale

146 | Flach 2005, S. 5. 147 | Ebd., S. 2. 148 | Ebd. 149 | Zimmermann 2005, S. 259; vgl. Kap. 1.1. 34 Das Bild als Lebensraum

von Kunst in den Fokus rücken. Aus dieser ideengeschichtlichen Anlage der Stu- die erklärt sich zumindest teilweise, warum keine einzige Künstlerin zu Wort kommt: So übernahmen Künstlerinnen der Zeit kaum den Impetus ihrer männli- chen Kollegen, Programmatiken zu veröffentlichen. Zudem ist die Utopie der Er- schaffung von Leben durch die schöpferische Arbeit ein traditionell männlicher Diskurs.150 Zu klären ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt der Status dieser die göttliche Schöpfermacht des Künstlers herausbeschwörenden Bildkonzepte, die in dieser Studie zu einem übergeordneten Modell zusammengefasst werden sol- len. Die Beschreibungen der Bilder als Klimata, Sonnenäquivalente oder Luft- räume können mit einander verwandten Begriffen wie ›Metapher‹ und ›Analo- gie‹ gefasst werden.151 Wie der Soziologe Tobias Schlechtriemen problematisiert, werden Metaphern jedoch zumeist reduziert auf ihr Verhältnis zu einem rea- len Gegenstand, der durch ein übertragenes Bild anschaulicher werden solle.152 Schlechtriemen macht entgegen der bloßen Anschaulichkeit qua Vergleich oder Übertragung die Produktivität und epistemische Funktion von Metaphern stark: »Die Bilder (Metaphern) generieren und fokussieren Wissen. Es liegt daher nahe, nach ihrem Modellcharakter zu fragen«.153 Am Beispiel der Metapher der Gesell- schaft als Organismus in der Soziologie arbeitet er heraus, wie diese Metapher einen abstrakten Gegenstand, der als ganzer sonst ungreifbar erscheint, zu erklä- ren verspricht.154 Schließlich besteht das Wesen des Modells darin, mittels Abs- traktion »relevante Charakteristika« eines Gegenstandes zu definieren.155 Diese implizieren Annahmen über die Funktionsweisen des jeweiligen Gegenstandes, die gerade für die zu untersuchenden Bildkonzepte von größter Relevanz sind.156

150 | Im Kontext ihrer Habilitationsschrift zur Anti-Ästhetik der russischen Moderne trifft Krieger eine ähnliche Diagnose (Krieger 2006, S. 38). Zum Topos des göttlichen Künstlers vgl. Kap. 2.2, 5.4. 151 | Die Analogie ist ein konstitutiver Teil einer jeden Metapher, dazu siehe Coenen 2002, siehe weiterhin: Burdorf u.a. 2007, S. 494f. sowie Nünning 2013, S. 22, S. 517f. und fortführend S. 518-520. 152 | Schlechtriemen 2008, S. 73. 153 | Ebd., S. 80. 154 | Ebd., S. 81. 155 | Ebd. 156 | Vgl. Burchert b (in Vorbereitung): Hier erfolgt exemplarisch eine Betrachtung des Verhältnisses von Metapher und Modell in Anlehnung an Schlechtriemen sowie am Beispiel von Klee und dem Musiktheoretiker Ernst Kurth. Eine Diskussion um die Relevanz der Verwendung von Metaphern in Texten von Künstlerinnen und Künstlern wurde in Anja Zimmermann (Hg.), Biologische Metaphern. Zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Wissenschaft in Neuzeit und Moderne, Berlin 2014 angestoßen und verlangt nach einer systematischen Aufarbeitung. 1. Einleitung: Abstrakte Malerei und Ökologie 35

Ob das Metaphorische zur Charakterisierung des Konzepts von der Gesell- schaft als Organismus oder auch vom Bild als Lebensraum produktiv ist, scheint fraglich, da es in einem Modus des ›Uneigentlichen‹ verharrt. In dieser Studie wird nicht die Bildhaftigkeit der Vergleiche bildnerischer und ökologischer Wirk- potentiale fokussiert, sondern der Ansatz der Analogiebildung in den Blick ge- rückt. Dabei wird der Begriff des ›Gleichnisses‹ als Synonym oft zur Anwendung kommen, da dieser in den Schriften etwa von Burchartz, der Bauhauslehrerin Gertrud Grunow und Nebel in diesem Sinne gebraucht wird und keine bloß me- taphorische, sondern eine substantielle Beziehung zwischen der Wirkung von an- organischen Umweltphänomenen und Bild zum Ausdruck bringen soll. Aus den Übertragungen der einzelnen Qualitäten und Wirkungen anorganischer Um- weltphänomene auf die Medien des Bildes setzt sich in der Zusammenschau das Modell des Bildes als Lebensraum zusammen. Als Lebensraumäquivalente sollten die Bilder eine der anorganischen Um- welt entsprechende Wirksamkeit entfalten. Bei allen Unterschieden zwischen den Künstlerpositionen und den Œuvres konstituiert sich so ein kleinster ge- meinsamer Nenner, der ein ökologisches Paradigma in den Wirkungskonzepten der abstrakten Kunst zwischen 1910 und 1960 sichtbar werden lässt. Das öko- logische Paradigma speist sich dabei keineswegs nur aus Bezügen der Künstler zu den Wissenschaften der Zeit. In den Bildkonzepten wird der Eklektizismus im Zusammendenken zeitgenössischer und jahrhundertealter Diskurse immer wieder deutlich: Gedankengut der Lebensreform und einer stark esoterisch ge- prägten Naturphilosophie verbanden sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit sowie historischen Ideen der Philosophie, der Medizin und der Künste. Gesellschaftliche Diskurse, Allgemeinwissen und gründlich Studiertes trafen in den Künstlerschriften häufig zusammen. Die Wissenschaften sollten in diesem Sinne nie als Ausgangspunkt, sondern als Symptom für bestimmte Probleme und Interessen im Rahmen der Kontexte und alltäglichen Diskurse in einem be- stimmten Zeitraum betrachtet werden. Insbesondere die Kontinuität klimatheo- retischer Konstrukte ist dabei kritisch in den Blick zu nehmen. So zeigen sich in der Definition und Abwertung alles Pathologischen und im Heilsanspruch an die Kunst Parallelen zu biopolitischen Ideologien, die im deutschen Nationalsozialis- mus folgenreich erstarkten (vgl. Kap. 1.3). Bei den Befunden dieser Arbeit handelt es sich zudem aber auch um Diskur- se, die im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts nicht nur bekannt, sondern hoch aktuell sind. Denn die Ökologie ist nicht nur aufgrund von Klimawandel und Umweltkatastrophen in aller Munde. Vorstellungen rund um den Zusammen- hang von Natürlichkeit und Gesundheit sind seit der Lebensreformbewegung um 1900 nicht verloren gegangen. Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen wird auffallen, welche Elemente ökologischen Denkens die Künstler gerade nicht ein- bezogen, die heute nicht nur aus Umweltdebatten, sondern auch aus einer mit der Ökologie befassten Kunst kaum wegzudenken sind. Dazu gehört die Einsicht in die Rückwirkungen des Menschen auf die natürliche Umwelt, die mit dem vielbe- 36 Das Bild als Lebensraum

sprochenen Anthropozän in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskus- sionen allgegenwärtig ist. Die Lebensräume der hier betrachteten Künstler sind auf sehr problematische Weise hingegen noch ganz unveränderliche Sanatorien und heterotope Energiespender.