Der Umgang der nationalsozialistischen Justiz mit Homosexuellen

Dissertation

Vorgelegt von Carola v. Bülow

Betreuender Gutachter: Prof. Dr. Helge Peters

Zweitgutachter: Prof. Dr. Werner Boldt

Carl von Ossietzky Universität

Tag der Disputation: 10. Juli 2000 I

Inhalt 1. Einleitung...... 1 1.1. Fragestellung und Gliederung der Arbeit ...... 1 1.2. Forschungsstand ...... 6 1.3. Untersuchungsmaterial...... 18 2. Die Politik der Nationalsozialisten gegenüber Homosexuellen...... 24 2.1. Zur Vorgeschichte: Homosexuelle im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik24 2.1.1. Die Anfänge der Homosexuellenbewegung im Kaiserreich...... 25 2.1.2. Homosexuellenbewegung und homosexuelle Subkultur in der Weimarer Republik ...... 29 2.1.3. Homosexualität und Nationalsozialismus vor dem 30. Januar 1933 ...... 32 2.2. Homosexualität in der nationalsozialistischen Programmatik...... 36 2.3. Nationalsozialistische Homosexuellenforschung ...... 47 2.4. Die Instrumentalisierung antihomosexueller Einstellungen der deutschen Bevölkerung ...... 54 2.4.1. Die nationalsozialistische Interpretation der Röhm-Affäre...... 55 2.4.2. Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Geistliche...... 61 2.4.3. Der Fall Fritsch...... 67 2.5. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik auf den Alltag Homosexueller...... 71 2.5.1. Die Zerstörung der Einrichtungen homosexueller Subkultur und die Zerschlagung der Institutionen der Homosexuellenverbände ...... 72 2.5.2. Die „Angst vor dem Erwischtwerden“ – Homosexuell-Sein im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland...... 74 2.6. Die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber lesbischen Frauen...... 78 3. Die Inhaftierung von Homosexuellen durch die Polizei...... 84 3.1. Organisatorischer Aufbau und Machtzuwachs der Polizei...... 84 3.2. Rechtliche Grundlagen des Freiheitsentzugs als Maßnahme der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung...... 88 3.2.1. Die polizeiliche Vorbeugungshaft ...... 88 3.2.1.1. Die Entwicklung der polizeilichen Kriminalprävention bis 1937 ...... 88 3.2.1.2. „Grundlegender Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom 14. Dezember 1937 ...... 91 3.2.1.3. Die Praxis polizeilicher Vorbeugungshaft im Zweiten Weltkrieg ...... 96 3.2.2. Die Schutzhaft...... 97 3.2.2.1. Der Schutzhafterlaß vom 12./26. April 1934 ...... 98 II

3.2.2.2. Der Schutzhafterlaß vom 25. Januar 1938 ...... 100 3.3. Die Zuständigkeit von Politischer Polizei und Kriminalpolizei bei der Verfolgung von Homosexuellen ...... 101 3.4. Die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung ...... 105 3.5. Homosexuelle Schutz- und Vorbeugungshäftlinge in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ...... 108 3.5.1. Quantitative Angaben ...... 109 3.5.2. Die Haftsituation der homosexuellen Konzentrationslagergefangenen ...... 110 3.5.2.1. Häftlingsgesellschaft und „Selbstverwaltung“ ...... 110 3.5.2.2. Der soziale Status homosexueller Gefangener in der Häftlingsgemeinschaft ...... 114

3.5.2.2.1. Reproduktion des Lagerlebens...... 114

3.5.2.2.2. Ausnutzung der physischen Ressourcen der Gefangenen...... 118

3.5.2.2.3. Die soziale Einschätzung durch das Bewachungspersonal sowie durch Mithäftlinge...... 120

3.5.2.2.4. Zusammenfassung ...... 122 4. Die justitielle Bearbeitung von Homosexualitätsdelikten im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland...... 126 4.1. Homosexualitätsdelikte vor Gericht...... 126 4.1.1. Nationalsozialistisches Strafrechtsverständnis ...... 126 4.1.1.1. „Volksgemeinschaftsprinzip“...... 127 4.1.1.2. Völkische Ungleichheit...... 129 4.1.1.3. Führerprinzip ...... 131 4.1.2. Strafrecht und Kriminologie im nationalsozialistischen Rechtssystem ...... 139 4.1.3. Rechtliche Grundlagen der Strafverfolgung von Homosexuellen ...... 141 4.1.3.1. Zur Strafbarkeit der Homosexualität: Die Diskussion um den § 175 vor 1933.... 141 4.1.3.2. Der § 175 und seine Neuformulierung in der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935147 4.1.3.3. § 129 I des Österreichischen Strafgesetzbuches...... 150 4.1.3.4. Das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933 ...... 152

4.1.3.4.1. Die Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (§ 20a) ...... 152

4.1.3.4.2. Die Maßregeln der Sicherung und Besserung (§§ 42a ff.)...... 154 4.1.3.5. Das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4. September 1941 159 III

4.1.4. Das Verhältnis von polizeilicher und strafrechtlicher Zuständigkeit für die Freiheitsentziehung ...... 160 4.1.5. Verurteilungen nach §§ 175, 175a im Gebiet des Deutschen Reiches...... 163 4.1.6. Rechtsprechungspraxis bei Homosexualitätsdelikten ...... 165 4.1.6.1. Strafmaß und Art der verhängten Strafen ...... 166 4.1.6.2. Nebenstrafen...... 171 4.1.6.3. Die Anwendung der durch das Gesetz vom 24. November 1933 geregelten Bestimmungen zur Strafschärfung gegen „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ sowie der Homosexuelle betreffenden „Maßregeln der Sicherung und Besserung“173

4.1.6.3.1. Die Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (§ 20a) ...... 173

4.1.6.3.2. Die Sicherungsverwahrung (§ 42e) ...... 178

4.1.6.3.3. Die „Entmannung“ homosexueller Straftäter (§ 42k)...... 181

4.1.6.3.4. Unterbringung in einem Arbeitshaus (§ 42d) und Untersagung der Berufsausübung (§ 42l) ...... 185 4.1.6.4. Strafrechtspraxis bei Verurteilungen nach § 175 ...... 187 4.1.6.5. Strafrechtspraxis bei Verurteilungen nach § 175a ...... 193 4.1.6.6. Strafbemessungskriterien...... 203

4.1.6.6.1. Die Tat betreffende Strafbemessungskriterien ...... 204

4.1.6.6.2. Die Tatumstände betreffende Strafbemessungsfaktoren...... 204

4.1.6.6.3. Den Täter betreffende Strafbemessungsfaktoren ...... 206 4.1.6.7. Verurteilungen von Mitgliedern nationalsozialistischer Organisationen und Wehrmachtangehörigen...... 212 4.1.7. „...im Interesse der Bildung und des Bestands eines qualitativ und quantitativ starken sowie sittlich gesunden Volkes...“ – Zusammenfassung: Rechtsprechungspraxis bei Homosexualitätsdelikten ...... 216 4.2. Der Strafvollzug an homosexuellen Männern...... 220 4.2.1. Strafvollzug im „Dritten Reich“ ...... 220 4.2.1.1. Die Zeit vor 1933...... 220 4.2.1.2. Strafzweck und Vollzugsziele im Nationalsozialismus ...... 222 4.2.1.3. Normative Grundlagen des Strafvollzugs...... 227 4.2.1.4. Personalpolitische Maßnahmen nach dem 30. Januar 1933...... 229 4.2.1.5. Formen des Strafvollzugs...... 230 IV

4.2.1.6. Haftbedingungen...... 232 4.2.1.7. Die Bedeutung der Emslandlager im nationalsozialistischen Strafvollzug ...... 234 4.2.1.8. Regelung der Zuführung von Gefangenen in die Strafgefangenenlager...... 242 4.2.2. Homosexuelle Gefangene in den Justizvollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern des „Dritten Reiches“ am Beispiel der Strafgefangenenlager im Emsland, der Zuchthäuser Celle und Hameln sowie des Gefängnisses Lingen ...... 245 4.2.2.1. Quantitative Angaben...... 245 4.2.2.2. Kategorien und Kennzeichnungen ...... 248 4.2.2.3. Reproduktion des Lager- bzw. Anstaltslebens ...... 250

4.2.2.3.1. Unterbringung ...... 250

4.2.2.3.2. „Häftlingsselbstverwaltung“ und interne Lagerhierarchie...... 258

4.2.2.3.3. Gefangenenarbeit innerhalb der Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlager262 4.2.2.4. Produktion durch Häftlingsarbeit...... 269

4.2.2.4.1. Gefangenenarbeit außerhalb der Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlager269

4.2.2.4.2. Homosexuelle Gefangene in den Sonderkommandos „Nord“ und „West“... 272 4.2.2.5. Die soziale Einschätzung der homosexuellen Inhaftierten durch die Mitinsassen. 275

4.2.2.5.1. Solidarität und Widerstand...... 275

4.2.2.5.2. Das Anzeigeverhalten von Mitgefangenen bei Vergehen gegen die Lagerordnung durch homosexuelle Gefangene...... 280 4.2.2.6. Die soziale Einschätzung der homosexuellen Inhaftierten durch das Aufsichtspersonal...... 287 4.2.2.7. Behandlung von Gnadensachen ...... 294 4.2.2.8. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen während des Krieges begangener Taten ...... 304 4.2.2.9. Todesfälle homosexueller Gefangener ...... 305 4.2.2.10. „Im Anstaltsleben führt er sich gut, wie Homosexuelle meist...“ – Zusammenfassung: Homosexuelle Gefangene in den Justizvollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern des „Dritten Reiches“...... 306 5. Das Verhältnis von Strafvollzug und polizeilicher Verbrechensbekämpfung am Beispiel der homosexuellen Gefangenen...... 311 5.1. Polizei und Strafvollzug – Zusammenarbeit und Abgrenzung...... 311 5.2. Polizeiliche planmäßige Überwachung...... 313 V

5.2.1. Auflagen und materielle Voraussetzungen...... 313 5.2.2. Polizeiliche planmäßige Überwachung von Homosexuellen – Ausmaß und zeitlicher Verlauf ...... 315 5.2.3. Auswahlkriterien und Entscheidungsprozesse ...... 315 5.3. Polizeiliche Vorbeugungshaft ...... 317 5.3.1. Die Verhängung polizeilicher Vorbeugungshaft gegen zur Entlassung kommende homosexuelle Justizgefangene...... 317 5.3.1.1. Ausmaß und zeitlicher Verlauf ...... 317 5.3.1.2. Auswahlkriterien und Entscheidungsprozesse...... 319 5.3.2. Die Abgabe von Justizgefangenen an die Polizei zur „Vernichtung durch Arbeit“...... 324 5.4. „Ob er sich in Zukunft straffrei zu halten vermag, läßt sich mit einiger Sicherheit nicht erkennen“ – Zusammenfassung: Kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft und polizeiliche planmäßige Überwachung gegen homosexuelle Strafentlassene ...... 326 6. Zusammenfassung und Deutung ...... 328 1

1. Einleitung

1.1. Fragestellung und Gliederung der Arbeit

„Vor allem aber war [bei der Bemessung der Strafe] die ungeheure Gefahr zu berücksichtigen, die das homosexuelle Treiben für das Volksleben bedeutet. Zur Bekämpfung derartiger Verfallserscheinungen menschlichen Lebens, die nur durch Anwendung schärfster Mittel beseitigt werden können, erschien deshalb eine strengere Strafe am Platze.“ (Landgericht Hirschberg, 25.3.1936)1

„Besonders erschwerend kam auch noch in Betracht, daß der Angeklagte seine zweifellos bestehende homosexuelle Veranlagung in seinem Kameradenkreis befriedigte. Er hat sich damit als regelrechter Volksschädling bewiesen, dessen Beseitigung aus der Volksgemeinschaft höchste Zeit war.“ (Feldurteil, 30.3.1942)2

Homosexuelle waren nach der Auffassung der nationalsozialistischen Machthaber, wie die hier wiedergegebenen Auszüge aus Gerichtsurteilen gegen die nach § 175 RStGB3 angeklagten Personen verdeutlichen, mehr als „nur“ Kriminelle, als die sie vor 1933 angesehen wurden: Als „Volksschädlinge“ und „Gemeinschaftsfremde“ bedrohten sie das Wohl der sog. Volksgemeinschaft und bildeten eine Gefahr für die gesamte Bevölkerung. Dieses Schicksal teilten Homosexuelle während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland mit anderen Personengruppen: Mit dem Kriterium der „Gemeinschaftsfremdheit“ schufen die Nationalsozialisten eine neue Kategorie von Devianz, unter die jeder fallen konnte, dessen Sozialverhalten den herkömmlichen Vorstellungen einer geregelten Lebensführung nicht entsprach. Der Erlaß eines „Gemeinschaftsfremdengesetzes“, das eine weitgehend rechtlose Stellung dieser Personengruppen gesetzlich festgeschrieben hätte, scheiterte zwar an Kompetenzstreitigkeiten zwischen Justiz und Polizei sowie schließlich an der mangelnden „Kriegswichtigkeit“ – auch ohne diese rechtliche Grundlage waren jedoch unter dem Leitsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ die zu „Gemeinschaftsfremden“ erklärten Personen, die sich nicht in die sozialen Normen der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ einpassen wollten oder konnten, weitgehend schutzlos den repressiven Maßnahmen der Verfolgungsorgane ausgesetzt.

Zur Sanktionierung „gemeinschaftsfremden“ Verhaltens standen im „Dritten Reich“ zwei Kontrollinstanzen zur Verfügung, die einander zuarbeiteten, aber auch miteinander konkurrierten:

1 Personalakte des Gefangenen F.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4720. 2 Personalakte des Gefangenen J.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8142. 3 Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die Angaben von Paragraphen im folgenden auf das Reichsstrafgesetzbuch. 2

Zunächst beanspruchte weiterhin die Justiz die strafrechtliche Ahndung der als kriminell definierten Handlungen durch die Anwendung der Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches. Allmählich erwuchs ihr bei dieser Aufgabe aber in der Polizei eine Konkurrenz. Diese löste sich zunehmend aus ihrer Rolle als Hilfsorgan der Justiz und griff mit den Mitteln der Schutzhaft (Geheime Staatspolizei) und der polizeilichen Vorbeugungshaft (Kriminalpolizei) eigenmächtig in die Verfolgung von zu „Straftätern“ oder „Gemeinschaftsfremden“ erklärten Personen ein. So waren auch homosexuell empfindende Männer den repressiven Maßnahmen sowohl der Justiz als auch der Polizei ausgesetzt: Zum einen wurden homosexuelle Handlungen durch den § 175 sowie ab dem 1.9.1935 zusätzlich durch den § 175a kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt. Insbesondere die Neuformulierung dieses Strafrechtsparagraphen in der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 ermöglichte eine weite Auslegung des Begriffs „Unzucht“ und bewirkte eine Intensivierung der justitiellen Verfolgung homosexueller Männer: Während nach der Übersicht des Statistischen Reichsamtes zwischen 1919 und 1932 insgesamt knapp über 9.200 Verurteilungen nach § 175 (Homosexualität und Sodomie) erfolgten, waren es zwischen 1933 und 1945 ca. 50.000 Männer, die nach § 175 bzw. nach dem 1. September 1935 nach §§ 175, 175a und 175b verurteilt wurden4. Die zu Freiheitsstrafen Verurteilten verbüßten diese in den der Justiz unterstehenden Gefängnissen, Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern.

Zum anderen gingen die Geheime Staatspolizei und besonders – soweit die vermeintlichen Vergehen als „unpolitisch“ eingestuft wurden – die Kriminalpolizei eigenmächtig gegen Homosexuelle vor. Sowohl die Anordnung von Schutzhaft als auch die Verhängung polizeilicher Vorbeugungshaft hatten in der Regel die Einweisung in ein Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit zur Folge. Die Zahl der als Homosexuelle in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern Inhaftierten läßt sich aufgrund der Unvollständigkeit des noch erhaltenen Quellenmaterials nicht mehr exakt bestimmen, sie wird auf eine Größenordnung von 5.000 bis 15.000 Personen geschätzt5. Der Vergleich schon dieser groben Zahlenangaben zeigt, daß die Inhaftierung homosexueller Männer in den Justizvollzugsanstalten den Großteil der gegen sie angewendeten Maßnahmen darstellte.

4 Übersicht des Statistischen Reichsamtes über Verurteilungen wegen widernatürlicher Unzucht. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, hg. von Günter Grau. Frankfurt/M. 1993, S. 197. Eine Aufschlüsselung der Verurteiltenzahlen nach Homosexualitäts- und Sodomiefällen ist nicht möglich. 5 Rüdiger Lautmann; Winfried Grikschat; Egbert Schmidt: Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977, S. 325-365, hier S. 333. 3

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal der homosexuellen Gefangenen im nationalsozialistischen Strafvollzug blieb jedoch bislang aus6. Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu verkleinern. Sie beschäftigt sich mit dem Verfolgungsschicksal homosexueller Männer, die im „Dritten Reich“ gerichtlich zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Hierbei wird exemplarisch und vergleichend vorgegangen:

Nach einer knappen Einführung in die nationalsozialistische Politik gegenüber Homosexuellen (Kapitel 2) werden zunächst die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse zur Verfolgungspraxis der Polizei sowie zum Schicksal der homosexuellen Inhaftierten der nationalsozialistischen Konzentrationslager zusammengefaßt (Kapitel 3).

Im Hauptteil der Arbeit (Kapitel 4 und 5) werden die Ergebnisse der Auswertung des Quellenmaterials7 diskutiert. Es wird zunächst die justitielle Verfolgungspraxis gegenüber Homosexuellen erörtert – auch für diesen Aspekt der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung bestehen noch erhebliche Forschungsdefizite. In einem kurzen Überblick werden die rechtlichen Grundlagen der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer sowie die Ergebnisse der Aktenauswertung zur Rechtsprechungspraxis der Gerichte bei Homosexualitätsfällen dargestellt. Soweit es zum Verständnis der Arbeit beiträgt, werden in diesem Rahmen auch die Ausrichtung der herrschenden Rechtsauffassung auf die nationalsozialistische Weltanschauung und die erbbiologisch orientierte Auffassung von den Ursachen der Kriminalität dargestellt. Weitgehend aus der Untersuchung ausgeklammert bleibt die Ermittlungspolitik der Verfolgungsinstanzen. Hierüber liefert das verbliebene Quellenmaterial aus den Justizvollzugsanstalten nur am Rande Aufschluß, so daß eine systematische Auswertung kaum möglich ist. Zudem liegen zu diesem Aspekt der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung bereits Forschungsergebnisse vor8.

Im Anschluß daran werden die Maßnahmen der offiziellen Instanzen sozialer Kontrolle – insbesondere der Justiz, aber auch der Polizei – gegenüber homosexuellen Insassen der Justizvollzugsanstalten und deren Auswirkungen auf die Haftsituation dieser Gefangenengruppe dokumentiert. Den Schwerpunkt der Aktenanalyse bilden dabei die Strafgefangenenlager des Emslandes. Ergänzend werden die Zuchthäuser Celle und Hameln sowie das Gefängnis Lingen in die Untersuchung einbezogen. Soweit zusätzlich Angaben aus der Erinnerungsliteratur verwendet werden, beziehen sich diese zum Teil auch auf andere Vollzugsanstalten.

6 Vgl. dazu das folgende Kapitel „Forschungsstand“. 7 Zur Quellengrundlage der Untersuchung vgl. Kapitel 1.3. 8 Vgl. hierzu Kapitel 1.2. 4

Es werden zunächst die Grundzüge des Programms und der Praxis des nationalsozialistischen Strafvollzugs in knapper Form vorgestellt. Anhand von offiziellen Dokumenten sowie von statistischen Erhebungen soll versucht werden, die Einweisungspraxis in die Strafgefangenenlager zu rekonstruieren. In der anschließenden Darstellung der Strafvollzugspraxis in den in die Untersuchung einbezogenen Vollzugsanstalten werden die Homosexuelle betreffenden Regelungen des Strafvollzugs nachgezeichnet. Im Hinblick auf die Politik der Leitungen der jeweiligen Haftanstalten und das Verhalten der Vollzugsbeamten ist hierbei zwischen der programmatischen Ebene der Anweisungen und Verfügungen und dem in der Praxis gezeigten Verhalten von Vertretern der jeweiligen Institutionen zu unterscheiden. Letzteres läßt sich zum Teil nur schwer rekonstruieren, da das Aktenmaterial häufig nur indirekte Schlüsse – z.B. in Form von quantitativen Angaben der Häftlingsstatistik – zuläßt. Häufig hilft hier die Erinnerungsliteratur weiter. Es soll auf diese Weise versucht werden, die Umsetzung der sozialen Kontrollanweisungen und deren Auswirkungen auf die Situation der homosexuellen Gefangenen zu rekonstruieren, wohingegen das subjektive Erleben der Haftzeit durch die Betroffenen nicht Thema der vorliegenden Arbeit ist. Neben den Besonderheiten des Umgangs mit homosexuellen Inhaftierten in den Vollzugsanstalten werden auch diejenigen das Haftschicksal beeinflussenden Regelungen des Strafvollzugs dargestellt, die sich nicht speziell gegen Homosexuelle richteten, so z.B. die Regelung der Gnadenpraxis sowie die Durchführung der sog. Kriegstäterverordnung. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt des Kapitels bildet die Rekonstruktion der sozialen Einschätzung der homosexuellen Inhaftierten durch Mithäftlinge. Es soll auf diese Weise ein umfassendes Bild der Situation homosexueller Inhaftierter in den Justizvollzugsanstalten des „Dritten Reiches“ erarbeitet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit homosexuellen Gefangenen im Strafvollzug läßt auch Vermutungen darüber zu, ob sich deren Schicksal von dem anderer Häftlingsgruppen unterschied, wie es für die nationalsozialistischen Konzentrationslager angenommen werden kann.

Auf die Situation der in den Justizvollzugsanstalten Inhaftierten hatte auch das Wirken der Polizei, die im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland zunehmend an Bedeutung gewann, entscheidenden Einfluß. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich deshalb im fünften Kapitel mit dem Ausmaß der gegen Homosexuelle angewendeten Maßnahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch die Polizei sowie mit den Auswahlkriterien, die bei deren Verhängung gegen (ehemalige) Justizgefangene von Bedeutung waren. Hierbei wird auch die Frage nach dem Verhältnis von Justiz und Polizei zu diskutieren sein. Insbesondere der Einfluß der zuständigen Haftanstalten auf die Entscheidungen der Polizei soll am Beispiel des Umgangs mit homosexuellen Gefangenen untersucht werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann dabei nur der Einfluß der Polizei auf das Schicksal der sich in Justizhaft befindlichen Homosexuellen erörtert 5 werden, also das Durchsetzen von Maßnahmen während der oder im Anschluß an die Strafhaft. Der Zugriff der Polizei auf Personen, die nicht gerichtlich zu Freiheitsstrafen verurteilt waren oder direkt im Anschluß an ein Gerichtsurteil in Polizeihaft genommen wurden, ist nicht Thema dieser Untersuchung.

Der empirisch ausgerichtete Hauptteil der Arbeit (Kapitel 4 und 5) bezieht sich auf die Vollzugspraxis in den Justizvollzugsanstalten sowie auf Vorgänge, die sich auf Reichsebene abspielten und aus den Akten der übergeordneten Institutionen, insbesondere des Reichsjustizministeriums, erschlossen werden können. Um einer einseitigen Betrachtungsweise vorzubeugen, werden verschiedene Haftformen – Strafgefangenenlager, Zuchthaus, Gefängnis – berücksichtigt. Es werden somit diejenigen Justizgefangenen in die Untersuchung einbezogen, die im Anschluß an eine gerichtliche Verurteilung aufgrund eines Straftatbestandes der Homosexualität Freiheitsstrafen in Gefängnissen, Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern verbüßten. Darunter fallen auch wehrmachtgerichtlich verurteilte Häftlinge, die in den emsländischen Strafgefangenenlagern inhaftiert waren. Untersuchungsgefangene sowie Angeklagte, die nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sondern gegen die eine Geldstrafe oder die Todesstrafe ausgesprochen wurde bzw. bei denen das Verfahren eingestellt wurde, werden in die vorliegende Untersuchung nicht einbezogen. Von den justitiell verfolgten Homosexuellen bleiben des weiteren die gesondert untergebrachten jugendlichen Straftäter, Sicherungsverwahrte sowie Arbeitshausinsassen ausgeklammert.

Zu ergänzen ist, daß sich die vorliegende Arbeit ausschließlich mit der Verfolgung männlicher Homosexueller im „Dritten Reich“ auseinandersetzt. Weibliche Homosexualität blieb während der gesamten nationalsozialistischen Herrschaft zumindest offiziell straffrei. Zwar waren auch lesbische Frauen in dieser Zeit repressiven Maßnahmen ausgesetzt9, da jedoch der § 175 eine strafrechtliche Verfolgung ausschließlich von Männern zuließ, war eine gerichtliche Verurteilung von Frauen nach § 175 nicht möglich. Dies bedeutet nicht, daß lesbische Frauen nicht auch Insassen der Justizvollzugsanstalten waren, jedoch stand ihre Inhaftierung in der Regel in keinem direkten Zusammenhang mit ihrer sexuellen Orientierung. Auch für die hier betrachtete Personengruppe der männlichen homosexuellen Justizgefangenen gilt, daß darunter nur diejenigen Häftlinge erfaßt werden, die aufgrund eines Straftatbestandes der Homosexualität verurteilt worden waren – Inhaftierte der Justizvollzugsanstalten, die zwar homosexuell empfanden, aber Freiheitsstrafen wegen anderer Straftaten verbüßten, können aufgrund des Zugangs zum Quellenmaterial über den Straftatbestand nicht in die Untersuchung einbezogen werden. Es ist im übrigen davon auszugehen, 6 daß zahlreiche Verfolgungsmaßnahmen unter dem Vorwand der Homosexualität erfolgten, da dieser Straftatbestand aufgrund der geringen Nachweisbarkeit dieses „Vergehens“ – vor allem nach der Neuformulierung des § 175 in der Strafgesetznovelle vom 28.6.1935 – eine einfache Handhabe zur Verfolgung bot. Es werden also in der betrachteten Personengruppe der „homosexuellen Gefangenen“ alle diejenigen Häftlinge zusammengefaßt, die aufgrund des Vorwurfs der Homosexualität den Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes ausgesetzt waren, auch wenn sich unter diesen mit großer Wahrscheinlichkeit Personen befanden, die keineswegs homosexuell empfanden. Ein ähnliches Begriffsproblem ergibt sich bei der Bezeichnung der als „kriminell“ bzw. „politisch“ klassifizierten Verfolgtengruppen, da beispielsweise kriminelle Delikte häufig politisch motiviert waren, so z.B. bei Diebstahl von Staatseigentum, Brandstiftung an nationalsozialistischen Einrichtungen oder etwa Schlägereien mit nationalsozialistischen Hoheitsträgern. Die Schwierigkeit des Sprachgebrauchs betrifft jedoch nicht nur die Klassifizierung der Verfolgtengruppen. Generell gerät man bei der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit leicht in die Verlegenheit, sich bei der Beschreibung von Sachverhalten an der von den Nationalsozialisten geschaffenen Terminologie zu orientieren. In der vorliegenden Arbeit werden – soweit deren Verwendung notwendig ist – dem NS-Sprachgebrauch entnommene, moralisch wertende Bezeichnungen, wie die Bezeichnung von vermeintlichen Eigenschaften bzw. Tätigkeiten von Personen als „asozial“, „arbeitsscheu“, „minderwertig“, „gemeinschaftsfremd“ usw., in Anführungszeichen gesetzt. Hingegen sind Fachbegriffe des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates der besseren Lesbarkeit halber nur dann als NS-Sprachgebrauch gekennzeichnet, wenn sie in direktem Zusammenhang mit einem Zitat stehen. Wertungen sind mit der Verwendung dieser Begrifflichkeiten nicht verbunden.

1.2. Forschungsstand

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verfolgungsschicksal der Homosexuellen im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland setzte erst spät ein und kann noch längst nicht als abgeschlossen gelten. Im Vordergrund der zeithistorischen Forschung zum Nationalsozialismus standen in der Nachkriegszeit zunächst andere Themen: in erster Linie die Rekonstruktion und Dokumentation der politischen Ereignisgeschichte, die Beschäftigung mit der NS-Ideologie sowie ihrer Vorgeschichte und die Auseinandersetzung mit dem rassistisch-antisemitischen und

9 Vgl. Kapitel 2.6. 7 antidemokratischen Gedankengut der Nationalsozialisten10. Was die Beschäftigung mit den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft betrifft, brachte die Forschung den einzelnen Verfolgtengruppen eine verschieden starke Aufmerksamkeit entgegen und war zunächst überschattet vom Entsetzen über den Juden-Genozid. Das Schicksal derjenigen, die im „Dritten Reich“ nicht aus rassischen oder aus politischen Gründen, sondern aufgrund ihres unangepaßten Sozial- und Sexualverhaltens verfolgt worden waren, blieb dagegen lange Zeit weitgehend unerforscht. Dies gilt in besonderem Maße auch für das Schicksal homosexueller Männer und Frauen im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland. Zum einen führte die fortbestehende Strafbarkeit der Homosexualität dazu, daß viele ehemals Verfolgte ihr Schicksal verschwiegen, um der fortdauernden Diskriminierung zu entgehen11. Zum anderen trug die andauernde Kriminalisierung vor dem Hintergrund eines moralischen Konservatismus in der Nachkriegszeit dazu bei, daß für viele Historiker Berührungsängste hinsichtlich der Aufarbeitung dieses Themas bestanden. Die ersten Arbeiten zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung veröffentlichten schließlich auch nicht Historiker, sondern Soziologen12 oder homosexuelle Männer, die der Verfolgung durch rechtzeitige Emigration entgangen waren13 bzw. die die Lagerhaft überlebt hatten14.

Ein verbreiteter Mangel vor allem der frühen Arbeiten zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung ist die Beschränkung auf die Interpretation publizierten Quellenmaterials. Diese Herangehensweise hatte vielfach zur Folge, daß von der öffentlichen „Anti-Homosexuellen- Propaganda“ auf die von den zuständigen NS-Organisationen praktizierte Verfolgung dieser

10 Vgl. hierzu Bernd Faulenbach: NS-Interpretation und Zeitklima. Zum Wandel in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 22 (1987), S. 19-30. 11 Vergleichbares gilt beispielsweise auch für Frauen, die während der NS-Zeit als Prostituierte arbeiteten und heute in den wenigsten Fällen über den Mut und das Selbstvertrauen verfügen, über ihre Erfahrungen zu berichten. Vgl. hierzu Gaby Zürn: „A. ist Prostituiertentyp“. Zur Ausgrenzung und Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten Frauen im nationalsozialistischen . In: Verachtet, Verfolgt, Vernichtet, hg. von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes. Hamburg 1988, S. 129-151, hier S. 129. Die Vermutung von Harthauser, der das Schweigen der homosexuellen Opfer nach 1945 darauf zurückführt, „daß hier der Massenmord perfekt war und keiner der Betroffenen überlebt hat, der hätte Zeugnis ablegen können“, trifft trotz der hohen Todesrate unter den homosexuellen KZ-Opfern nicht zu. Vgl. Wolfgang Harthauser: Der Massenmord an Homosexuellen im Dritten Reich. In: Das große Tabu, hg. von Willhart S. Schlegel. München 1967, S. 7. 12 So z.B. die erste breiter angelegte empirische Untersuchung zum Schicksal homosexueller KZ-Inhaftierter. Vgl. hierzu: Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel. Zum Alltagsleben homosexueller Männer im Dritten Reich vgl. Rüdiger Lautmann: „Hauptdevise: bloß nicht anecken“. Das Leben homosexueller Männer unter dem Nationalsozialismus. In: Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus, hg. von Johannes Beck [u.a.]. Reinbek 1980, S. 366-390. 13 Richard Plant: Rosa Winkel. Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen. Frankfurt/M. [u.a.] 1991. 14 : Die Männer mit dem rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939- 1945. Hamburg 21979. 8

Minderheit rückgeschlossen wurde. Als Folge davon liegt vielen dieser Arbeiten eine falsche Einschätzung des Ausmaßes und der Ziele der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung zugrunde. Diese Fehleinschätzung führt zum Teil dazu, daß in ihnen in Anlehnung an den Juden- Genozid das Schicksal der Homosexuellen vielfach in der Terminologie der Judenverfolgung beschrieben wird. So ist beispielsweise davon die Rede, daß die sog. Homosexuellenfrage einer „Endlösung“ zuzuführen sei15, und an anderer Stelle liest man vom „Homocaust“16 oder von der beabsichtigten „Ausmerzung“ 17 oder „Ausrottung“18 Homosexueller im Nationalsozialismus. Davon ausgehend, daß spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkrieges der „Versuch zur Ausrottung der Homosexuellen“19 unternommen wurde, wird die Größenordnung der zwischen 1933 und 1945 in den Konzentrationslagern inhaftierten Homosexuellen mit „Zehntausende[n], wahrscheinlich aber Hunderttausende[n]“20 beziffert, an anderer Stelle liest man von „mindestens 100.000“ „Rosa- Winkel-Häftlingen“21 oder sogar von ca. 500.000 aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik verstorbenen Homosexuellen22. Zwar wird gelegentlich davor gewarnt, „die mitunter zu lesenden Angaben von mehreren Hunderttausend ums Leben gekommenen Homosexuellen [...] [seien] mit Vorsicht zu bewerten“23, aber noch 1988 schätzte Boisson, ausgehend von einer Rede Heinrich Himmlers, die Zahl homosexueller KZ-Toter auf eine Million24; auch dieser Angabe geht eine deutliche Fehleinschätzung der Ziele der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik voraus: „L’ordre était clair et impératif: il fallait liquider tous les homosexuels.“25 Daß jedoch die rigorose Ablehnung von Homosexualität zur physischen

15 Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte. München 1989, S. 102; ebenso Harry Wilde: Das Schicksal der Verfemten. Die Verfolgung der Homosexuellen im 3. Reich und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft. Tübingen 1969, S. 7. 16 Massimo Consoli: Homocaust: Il nazismo e la persecuzione degli omosessuali. Ragusa 1984. 17 Günter Grau: Die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“. Administratives Instrument zur praktischen Durchsetzung rassenpolitischer Zielsetzungen. In: Der Arzt als „Gesundheitsführer“. Ärztliches Wirken zwischen Ressourcenerschließung und humanitärer Hilfe im Zweiten Weltkrieg, hg. von Sabine Fahrenbach und Achim Thom. Frankfurt/M. 1991, S. 117-128, hier S. 126. 18 Für Zucht und Sitte. Die Verfolgung der Homosexuellen im Dritten Reich. Broschüre, hg. von der Aktionsgruppe Homosexualität Osnabrück. 1983, S. 2. 19 Günter Grau: Die Verfolgung und „Ausmerzung“ Homosexueller zwischen 1933 und 1945 – Folgen des rassenhygienischen Konzepts der Reproduktionssicherung. In: Medizin unterm Hakenkreuz, hg. von Achim Thom und Genadij I. Caregorodcev. Berlin (Ost) 1989, S. 91-110, hier S. 101. 20 Heger, Männer mit dem rosa Winkel, S. 5. 21 Für Zucht und Sitte, S. 31. 22 Frank Rector: The Nazi Extermination of Homosexuals. New York 1981, S. 116. 23 Grau, Verfolgung und „Ausmerzung“ Homosexueller, S. 100. 24 Jean Boisson: Le triangle rose. La déportation des homosexuels (1933-1945). Paris 1988, S. 204. 25 Ebd., S. 203. 9

Vernichtung „nur“ eines Bruchteils der Homosexuellen führte, und die Maßnahmen der Nationalsozialisten vielmehr eine „Abschreckung durch Strafe“ sowie möglicherweise eine „Umerziehung“ von Homosexuellen bewirken sollten, ist in neuerer Literatur gängige Forschungsmeinung26.

Eine erste empirisch angelegte Untersuchung zum Verfolgungsschicksal der Homosexuellen im „Dritten Reich“ wurde von der Forschergruppe Lautmann in den 1970er Jahren vorgenommen. Im Archiv des Internationalen Suchdienstes in Aarolsen (Hessen) sammelte das Team Informationen zu homosexuellen Gefangenen verschiedener nationalsozialistischer Konzentrationslager und bestimmte erstmals auch den Verfolgungsumfang auf empirischer Grundlage. Die Schätzung, nach der ca. 5.000 bis 15.000 Homosexuelle während der NS-Zeit in Konzentrationslagern inhaftiert waren27, gilt auch in der heutigen Forschungsliteratur als genaueste Information zum Verfolgungsausmaß. Weitere empirisch ausgerichtete Forschungsarbeiten ließen jedoch zunächst auf sich warten. Erst in jüngster Vergangenheit sind im Rahmen einer stärker sozialhistorisch orientierten Aufarbeitung der NS- Vergangenheit vielfach Bestrebungen erkennbar, die offensichtlich bestehenden Forschungsdefizite zum Verfolgungsschicksal der zu „Gemeinschaftsfremden“ erklärten sozial Unangepaßten in der NS- Zeit zu verringern. In diesem Rahmen ist auch hinsichtlich der Homosexuellenforschung in den letzten Jahren eine beachtliche Zunahme an einschlägigen Forschungsarbeiten erkennbar. Viele dieser Arbeiten sind auf die Eigeninitiative lokaler Geschichtswerkstätten zurückzuführen28 oder im Zuge von Examens-, Magister- und Doktorarbeiten entstanden. 1999 erstmals herausgegeben, widmet sich seit neuestem die jährlich erscheinende Zeitschrift „Invertito“ der historischen Erforschung weiblicher und männlicher gleichgeschlechtlicher Liebe, Erotik und Sexualität und will damit „eine empfindliche Lücke in der deutschsprachigen Wissenschaftspublizistik schließen“29. In den etablierten historischen Fachzeitschriften dagegen findet eine Auseinandersetzung mit dem Verfolgungsschicksal der Homosexuellen im „Dritten Reich“ bis heute nicht statt.

26 Vgl. hierzu Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler 1991, S. 6 sowie Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990, S. 31ff. 27 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 333. Vgl. auch Rüdiger Lautmann: Categorization in Concentration Camps as a Collective Fate: A Comparison of Homosexuals, Jehovah’s Witnesses and Political Prisoners. In: Journal of Homosexuality 19 (1990), S. 67-88. 28 Vgl. z.B. Niko Ewers: „Mit der nötigen Durchschlagskraft zu Leibe rücken“. Die Verfolgung Homosexueller im Dritten Reich: Schwierige Spurensuche nach den „gern vergessenen Opfern des Faschismus“, die es auch in Bielefeld gegeben hat. In: StadtBlatt, 18.6.1998, S. 7. 29 Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Eine neue Zeitschrift stellt sich vor. In: Invertito 1 (1999), S. 7-11, hier S. 7. 10

Unter den bisher veröffentlichten Arbeiten zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung stellen die Untersuchungen zum Schicksal homosexueller Konzentrationslagerhäftlinge einen Schwerpunkt dar. Neben der grundlegenden Studie der Forschergruppe Lautmann aus dem Jahr 1977 liegen neuere Arbeiten zu den Konzentrationslagern Buchenwald30, Auschwitz31 und Dachau32 vor. Einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung liefert die jüngst erschienene Aufsatzsammlung in der Reihe „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“, die Untersuchungen zu den Konzentrationslagern Ravensbrück33, Neuengamme34 und Bergen-Belsen35 enthält. Daß es hinsichtlich der Aufarbeitung der Konzentrationslagerhaft von Homosexuellen dennoch einen „erheblichen Forschungsbedarf“36 gibt, ist nur allzu offensichtlich. Schwerpunktmäßig thematisieren die vorliegenden Arbeiten den sozialen Status der homosexuellen Gefangenen und in diesem Zusammenhang die soziale „Karriere“ der Homosexuellen in den jeweiligen Lagern. Des weiteren setzen sich Forschungsarbeiten mit Einzelaspekten der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik im „Dritten Reich“ auseinander. Untersuchungen liegen vor zur Ermittlungspolitik der Gestapo37, zur

30 Wolfgang Röll: Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald. Weimar 1992; Günter Grau: Die Situation der Homosexuellen im Konzentrationslager Buchenwald. In: Zeitschrift für Sexualforschung 2 (1988), H. 3, S. 243-253; Günter Grau: Verstümmelt und ermordet – Homosexuelle im KZ Buchenwald. In: Das Schicksal der Medizin im Faschismus, hg. von Samuel Mitja Rapoport und Achim Thom. Neckarsulm 1989, S. 76-79. 31 Schwule in Auschwitz, hg. von Christoph Kranich [u.a.]. Bremen 1990. 32 Albert Knoll: Totgeschlagen – totgeschwiegen. Die homosexuellen Häftlinge im KZ Dachau. In: Dachauer Hefte 14 (1998), S. 77-101. 33 Bernhard Strebel: Die „Rosa-Winkel-Häftlinge“ im Männerlager des KZ Ravensbrück. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 34-41. 34 Jens Michelsen: Homosexuelle im Konzentrationslager Neuengamme – Eine Annäherung. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 42-47. 35 Rainer Hoffschildt; Thomas Rahe: Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager – Das Beispiel Bergen- Belsen. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 48-61. 36 Wolfgang Benz: Homosexuelle und „Gemeinschaftsfremde“. Zur Diskriminierung von Opfergruppen nach der nationalsozialistischen Verfolgung. In: Dachauer Hefte 14 (1988): Verfolgung als Gruppenschicksal, S. 3-16, hier S. 11. 37 Burkhard Jellonnek: Staatspolizeiliche Fahndungs- und Ermittlungsmethoden gegen Homosexuelle. Regionale Differenzen und Gemeinsamkeiten. In: Die – Mythos und Realität, hg. von Klaus-Michael Mallmann [u.a.]. Darmstadt 1995, S. 343-356., Frank Sparing: „Merken Sie nicht, dass wir beobachtet werden?“ Die Vorgehensweise der Gestapo gegen die Düsseldorfer Homosexuellen. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 121-140. 11

Tätigkeit der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung38, zur Kastration homosexueller Männer39, zum Umgang der Nationalsozialisten mit weiblicher Homosexualität40 sowie zu den Auswirkungen der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik auf das Alltagsleben homosexueller Männer und Frauen41. Daneben liegen Publikationen mit regionalen oder lokalen Schwerpunkten zur nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik und deren Auswirkungen in Hamburg42, Hannover43, Köln44 und Düsseldorf45 vor. Im Rahmen dieser lokalgeschichtlich orientierten Arbeiten erfolgt in ersten Ansätzen auch eine Auseinandersetzung mit der Tätigkeit von sog. kriminalbiologischen Sammelstellen46 sowie von Fürsorgeeinrichtungen47 im Hinblick auf den Umgang mit Homosexuellen. Ein weiterer bisher vernachlässigter Aspekt der Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus, die Praxis der kriminalpolizeilichen Vorbeugungshaft

38 Grau, „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“. 39 Geoffrey J. Giles: „The Most Unkindest Cut of All“: Castration, Homosexuality, and Nazi Justice. In: JCH 27 (1992), S. 41-61. 40 Ilse Kokula: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit. In: Nirgendwo und überall. Zur feministischen Theorie und Praxis, Heft 25/26. Köln 1989, S. 29-36; Schoppmann, Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität sowie neuerdings dies.: „Liebe wurde mit Prügelstrafe geahndet“ – Zur Situation lesbischer Frauen in den Konzentrationslagern. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 14-21. 41 Burkhard Jellonnek: In ständiger Furcht. Zur Lebenssituation homosexueller Männer in Düsseldorf während der NS-Zeit. In: Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933-1945, hg. von Anselm Faust. Köln [u.a.] 1992, S. 215-223; Lautmann, Hauptdevise; Claudia Schoppmann: Zeit der Maskierung: Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich“. Berlin 1993; vgl. auch Rüdiger Lautmann: Der Zwang zur Tugend. Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualitäten. Frankfurt/M. 1984, Kapitel 8: Damals – Alltag im Nationalsozialismus, S. 156-180. 42 Hans-Georg Stümke: Die Verfolgung der Homosexuellen in Hamburg. In: Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, hg. von Angelika Ebbinghaus [u.a.]. Hamburg 1984, S. 80-84. 43 Rainer Hoffschildt: Olivia. Die bisher geheime Geschichte des Tabus Homosexualität und die Verfolgung der Homosexuellen in Hannover. Hannover 1992. 44 Siehe hierzu die folgenden Aufsatzbände: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991; „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998. 45 Helen Quandt: „...wegen Vergehen nach § 175...“. Zur Verfolgung von Homosexuellen während der NS-Zeit in Düsseldorf. In: Augenblick. Berichte, Informationen und Dokumente der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf; Nr. 10/11, 1997, S. 24f.; Frank Sparing: „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“: Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Düsseldorf 1997. 46 Frank Sparing: „...daß er es der Kastration zu verdanken hat, daß er überhaupt in die Volksgemeinschaft entlassen wird“. Die Entmannung von Homosexuellen im Bereich der Kriminalbiologischen Sammelstelle Köln. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 160-181. 47 Rudolf Kahlfeld: „Der Abstand der Betten muß groß genug sein“. Homoerotische Vorfälle in der Fürsorgeerziehung in der Rheinprovinz. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 182-199. 12 gegenüber homosexuellen Männern, wurde am Beispiel der Stadt Köln erarbeitet48. Was die justitielle Verfolgung homosexueller Männer betrifft, so beschäftigt sich Hans-Christian Lassen in seiner Untersuchung der Rechtsprechung Hamburger Gerichte in der Vorkriegszeit auch mit der Urteilsfindung bei Homosexualitätsdelikten49. Eine andere Studie liefert Ergebnisse zur Strafrechtspraxis gegenüber Homosexuellen in der Stadt Köln50. Die gerichtliche Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in Österreich von den 1930er bis in die 1950er Jahre wird in einem Aufsatz von Christian Fleck und Albert Müller thematisiert51. Diese regionalen und lokalen Untersuchungen stellen wichtige Grundlagen für eine weitere Beschäftigung mit der NS- Homosexuellenpolitik im „Dritten Reich“ dar. In ihrem knapp gesetzten Rahmen gelingt es allerdings nicht immer, die gegen Homosexuelle durchgeführten Maßnahmen in den Kontext der allgemeinen Politik der Nationalsozialisten gegen Deviante einzubinden, um so das spezifische Vorgehen gegen Homosexuelle herauszustellen. Mit dem Thema justitieller Verfolgung beschäftigt sich schließlich auch Claudia Schoppmann. In ihrer neuesten Arbeit „Verbotene Verhältnisse“ rekonstruiert sie anhand von Strafakten das Schicksal weiblicher Homosexueller in Österreich, konzentriert sich dabei jedoch schwerpunktmäßig auf den Alltag der Betroffenen in der Zeit von 1938 bis 194552.

Obwohl bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung in den letzten Jahren beträchtliche Fortschritte erzielt worden sind, wird die justitielle Verfolgung homosexueller Männer im „Dritten Reich“ und insbesondere deren Inhaftierung in den der Justiz unterstehenden Haftanstalten in den einschlägigen Forschungsarbeiten bisher allenfalls am Rande berücksichtigt, so z.B. bei Sparing, der immerhin einen kurzen Überblick über die Haftsituation homosexueller Gefangener im Gefängnis Düsseldorf-Derendorf liefert53. Da entsprechende Untersuchungen zu diesem Forschungsgegenstand fehlen, werden hinsichtlich der sozialen Stellung der Homosexuellen in den Vollzugsanstalten in der Regel die Aussagen, die zu den Konzentrationslagern vorliegen,

48 Jürgen Müller: Bei „Angriffen“ auf die Sittlichkeit... Die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ der Kölner Kriminalpolizei gegen Homosexuelle. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 141-159. 49 Hans-Christian Lassen: Der Kampf gegen Homosexualität, Abtreibung und „Rassenschande“. Sexualdelikte vor Gericht in Hamburg 1933 bis 1939. In: Für Führer, Volk und Vaterland... Hamburger Justiz im Nationalsozialismus. Bd. 1, red. Klaus Bästlein. Hamburg 1992, S. 216-289. 50 Prosper Schücking; Martin Sölle: § 175 StGB – Strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer in Köln. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 104-119. 51 Christian Fleck; Albert Müller: „Unzucht wider die Natur“. Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er Jahren. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1998), S. 400-422. 52 Claudia Schoppmann: Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938-1945. Berlin 1999. 53 Sparing, „...... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“, S. 160-168. 13

übernommen. So geht beispielsweise Tunsch davon aus, „daß auch im 'normalen' Strafvollzug des faschistischen Deutschland gerade für die Schwulen besondere Schikanen an der Tagesordnung gewesen sein dürften“54. Die einzige empirisch ausgerichtete Arbeit veröffentlichte im Jahr 1999 Rainer Hoffschildt55. Der Verfasser liefert eine statistische Auswertung der den Akten zu entnehmenden personenbezogenen sowie strafrechtlich relevanten Angaben zu homosexuellen Verfolgten, ohne allerdings daraus weiterführende Aussagen abzuleiten. Ergänzt wird die Arbeit durch eine Ansammlung von Fallbeispielen, in denen die Verfolgungsgeschichte einzelner Homosexueller im Zeitraum zwischen 1933 und 1945 rekonstruiert wird. Darüber hinaus liegen empirisch ausgerichtete Untersuchungen zur Situation homosexueller Gefangener im nationalsozialistischen Strafvollzug bisher nicht vor. Dies verwundert vor allem, wenn man berücksichtigt, daß die Inhaftierung von Homosexuellen in den Gefängnissen, Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern den Großteil der gegen sie angewendeten Maßnahmen darstellte56.

Die Außerachtlassung des Schicksals homosexueller Justizgefangener in der Forschung zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung ist möglicherweise auf die Fehleinschätzung der von den jeweiligen Instanzen – Polizei bzw. Justiz – praktizierten Verfolgungsintensität zurückzuführen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Zahl der als Homosexuelle in den Konzentrationslagern Inhaftierten vielfach zu hoch eingeschätzt wurde; dementsprechend wurde auch die justitielle Verfolgung und Inhaftierung Homosexueller während der NS-Zeit häufig unterschätzt, so z.B. durch Wuttke, der in seiner Arbeit zur NS-Homosexuellenverfolgung erklärt: „Die meisten Homosexuellen wurden aber nicht von der Justiz direkt, sondern, ohne mit ihr in Berührung gekommen zu sein oder nach Übergabe an die SS, in den Konzentrationslagern ermordet.“57 Darüber hinaus entspricht die bisher ausgebliebene Auseinandersetzung mit diesem Thema einer allgemeinen Tendenz, wonach in der Forschung zum Nationalsozialismus die Praxis und Ausgestaltung des Strafvollzugs lange Zeit weitgehend ausgeklammert wurden. Zwar setzte die

54 Thomas Tunsch: „Ausmerzung der Entarteten“. Einige Aspekte der Schwulenverfolgung in Deutschland. In: Wissenschaft unter dem NS-Regime, hg. von Burchard Brentjes. Berlin [u.a.] 1992, S. 122-131, hier S. 125. 55 Rainer Hoffschildt: Die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit. Zahlen und Schicksale aus Norddeutschland. Berlin 1999. 56 Vgl. Kapitel 4.1.5. und 4.2.2. 57 Walter Wuttke: Die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus und ihr Schicksal nach 1945. In: Es geschah in Braunschweig. Gegen das Vergessen der nationalozialistischen Vergangenheit Braunschweigs, hg. vom JUSO-Unterbezirk Braunschweig. Braunschweig o.J., S. 112-131, hier S. 121. 14

Aufarbeitung der NS-Justiz bereits früh ein58 und brachte inzwischen eine umfangreiche Forschungsliteratur hervor 59. Neben regional- und lokalgeschichtlichen Arbeiten erschienen in den letzten Jahren verschiedene Einzeluntersuchungen, die spezielle Forschungsfragen thematisieren, wie z.B. die Praxis von Sondergerichten und des Volksgerichtshofes sowie das Jugendstrafrecht und die Wehrmachtgerichtsbarkeit60. Bis auf wenige Ausnahmen61 bleibt der Strafvollzug in diesen Arbeiten jedoch weitgehend unerwähnt. In gleicher Weise verwundert es, daß in den umfangreichen als Standardliteratur geltenden Werken zur NS-Justiz der Bereich des Strafvollzugs beharrlich ausgeklammert bleibt, so z.B. in der fast 1300 Seiten langen Arbeit Lothar Gruchmanns zur Geschichte der NS-Justiz in den Jahren 1933 bis 194062. Über die Ausblendung des Strafvollzugs aus der Rekonstruktion historischer Wirklichkeit stellt Christiane Hottes zutreffend fest:

„Bei einer Beurteilung der Justiz, der Justiztätigkeit während des Dritten Reiches und darüber hinaus hat man bisher sträflich das vernachlässigt, was sich an Unmenschlichkeit hinter den Zumessungen von Freiheitsstrafen verbarg, daß Menschen und wie Menschen von diesem Freiheits-Entzug und seinen Folgen getroffen und betroffen wurden.“63

Aber nicht nur Forschungsarbeiten zur Geschichte der Justiz im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland ignorieren den Strafvollzug weitgehend. Auch in den zahlreichen Untersuchungen zum nationalsozialistischen Verfolgungsapparat werden die der Justizverwaltung unterstehenden Strafanstalten in der Regel nicht thematisiert64.

58 Vgl. z.B. Werner Johe: Die gleichgeschaltete Justiz. Organisation des Rechtsweges und Politisierung der Rechtsprechung 1933-1945, dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Hamburg. Frankfurt/M. 1967; Hubert Schorn: Der Richter im Dritten Reich. Geschichte und Dokumente. Frankfurt/M. 1959; ders.: Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik. Frankfurt/M. 1963; Hermann Weinkauff: Die Justiz und der Nationalsozialismus. Ein Überblick. München 1968. 59 Vgl. zum Forschungsstand Ralph Angermund: Opfer oder Täter – Die Rolle der Juristen im „Dritten Reich“. Literatur über die NS-Justiz und ihre Aufarbeitung. In: Das Parlament 27, 28.6.1991, S. 22f. sowie die ausführliche Zusammenstellung der Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus bei Michael Ruck: Bibliographie zum Nationalsozialismus. Köln 1985. 60 Vgl. hierzu ausführlich Rainer Möhler: Strafjustiz im „Dritten Reich“ – Neuerscheinungen. In: NPL 39 (1994), S. 423-441. 61 So z.B. Franz W. Seidler: Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939-1945. Rechtsprechung und Strafvollzug. München [u.a.] 1991 sowie Lothar Walmrath: „Iustitia et disciplina“: Strafgerichtsbarkeit in der deutschen Kriegsmarine 1939-1945. Frankfurt/M. [u.a.] 1998. 62 Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. München 21990. 63 Christiane Hottes: Grauen und Normalität. Zum Strafvollzug im Dritten Reich. In: Ortstermin Hamm. Zur Justiz im Dritten Reich, hg. vom Oberstadtdirektor der Stadt Hamm. Hamm 1991, S. 63-70, hier S. 63. 64 Vgl. hierzu z.B. Martin Broszat: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. In: Anatomie des SS- Staates. Bd. 2. Olten 1965; Detlef Garbe: Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus. In: Norddeutschland im Nationalsozialismus, hg. von Frank Bajohr. Hamburg 1993, S. 186-217; Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München 81977; Falk Pingel: Häftlinge unter SS- Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager. Hamburg 1978; Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt/M. 1993. 15

Zwar erweiterte die zeitgeschichtliche Forschung, ähnlich wie die Geschichtswissenschaft insgesamt, ihren ursprünglich stark politikgeschichtlichen Ansatz um sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Themen und Fragestellungen. Durch diesen Paradigmenwechsel von einer älteren Politikgeschichte zu einer modernen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte wurden neben der Entstehung und Funktion gesellschaftlicher Außenseiter auch die Rolle und Funktion des Strafvollzugs zu Themen historischer Forschung. Eine Beschäftigung mit Fragen des Strafvollzugs im „Dritten Reich“ blieb jedoch auch in der sozialgeschichtlichen Forschung zunächst weitgehend aus: Deviantes Verhalten sowie die gesellschaftliche Reaktion darauf wurden, was die Neuzeit betrifft, vor allem für das 18. und 19. Jahrhundert beschrieben65; in wenigen Arbeiten wird versucht, eine Art Gesamtüberblick über die Geschichte des Strafvollzugs zu liefern66. Die zeitgeschichtliche Forschung griff diese Themen erst in den letzten Jahren auf. Soweit bisher eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Strafvollzugs im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland stattgefunden hat, wird in den vorliegenden Arbeiten der „sehr unergiebige[] Stand der Forschung“67 zu diesem Gegenstand kritisiert und die Aufarbeitung der Strafvollzugsgeschichte im 20. Jahrhundert als „eine noch nicht bewältigte, ja noch nicht einmal in Angriff genommene Aufgabe“ 68 charakterisiert. Die Ursachen für die mangelnde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem NS-Strafvollzug sind vielfältig: Möhler sieht einen Grund für das Bestehen dieser Forschungslücke in der „Nicht- Öffentlichkeit“ des Strafvollzugs69. Drobisch führt folgende „Gründe für die erstaunliche Differenz in der Erhellung des KZ- und Strafvollzugssystems“ an: den Umfang des Massenmordes in den

65 Vgl. etwa Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1986; H. Stekl: „Labor et fame“ – Sozialdisziplinierung in Zucht- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, hg. von C. Sachße und F. Tennstedt. Frankfurt/M. 1986, S. 119-147; Wolfgang Kröner: Freiheitsstrafe und Strafvollzug in den Herzogtümern Schleswig, Holstein und Lauenburg von 1700 bis 1864. Frankfurt/M. [u.a.] 1988; Karsten Kühne: Das Kriminalverfahren und der Strafvollzug in der Stadt Konstanz im 18. Jahrhundert. Sigmaringen 1979. 66 Vgl. hierzu das populärwissenschaftlich orientierte Werk von Gerd Hensel: Geschichte des Grauens – deutscher Strafvollzug in sieben Jahrhunderten. Altendorf 1979 sowie die wegen der fehlenden Quellenbelege problematische und zudem veraltete Arbeit von Rudolf Quanter: Deutsches Zuchthaus- und Gefängniswesen: von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig 1905 / Neudruck: Aalen 1970. Den neuesten Gesamtüberblick über die Geschichte des Strafvollzugs liefert Thomas Krause. Auf knapp 100 Seiten versucht er, einen Überblick über die Geschichte des Strafvollzugs von der Antike bis in die Gegenwart mit Schwerpunkt auf der Entwicklung in Deutschland zu geben. Der Verfasser versteht seine Darstellung selbst als „Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der Materie sowie als Versuch eines Leitfadens für Interessierte, die sich erstmals über die Strafvollzugsgeschichte orientieren möchten“. Thomas Krause: Geschichte des Strafvollzugs. Von den Kerkern des Altertums bis zur Gegenwart. Darmstadt 1999, hier S. 9. 67 Rainer Möhler: Volksgenossen und „Gemeinschaftsfremde“ hinter Gittern – zum Strafvollzug im Dritten Reich. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 17-21, hier S. 17. 68 Heinz Müller-Dietz: Der Strafvollzug in der Weimarer Zeit und im Dritten Reich. Ein Forschungsbericht. In: Strafvollzug und Schuldproblematik, hg. von Max Busch und Erwin Krämer. Pfaffenweiler 1988, S. 15-38, hier S. 15. 69 Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 12. 16

Konzentrationslagern und die damit verbundene Unerklärbarkeit, die in der Bevölkerung häufig anzutreffende Meinung, Konzentrationslager seien eine spezifische nationalsozialistische Erfindung, sowie die Aktivitäten nationaler und internationaler Vereinigungen ehemaliger KZ-Häftlinge und deren Hinterbliebenen70. Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit dem nationalsozialistischen Strafvollzug, so der Einwand von Müller-Dietz, resultierten zudem aus „einer mehr oder minder starken Verklammerung des Strafvollzugs mit dem übrigen System der damaligen Machtausübung“71. Zu vermuten ist des weiteren, daß sich die Ausklammerung des Strafvollzugs aus den Forschungen zum nationalsozialistischen Verfolgungssystem darauf zurückführen läßt, daß hier ein weitgehend rechtsstaatlich geregelter Bereich der Verfolgung angenommen wurde.

Bestrebungen, die offenkundigen Forschungsdefizite zu diesem Thema abzubauen, sind erkennbar. Während die wenigen frühen Untersuchungen zum Strafvollzug in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland sich zunächst auf die Erörterung von dessen normativen Grundlagen beschränkten 72, liegen seit neuem einige Forschungsarbeiten vor, die entweder die Ausgestaltung und Praxis des Strafvollzugs in einzelnen Regionen73 oder Haftanstalten74 thematisieren oder sich – zum Teil im Rahmen von epochenübergreifenden Darstellungen – mit Einzelaspekten des

70 Klaus Drobisch: Konzentrationslager und Justizhaft. Versuch einer Zusammenschau. In: Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, hg. von Helge Grabitz, Klaus Bästlein und Johannes Tuchel. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag. Berlin 1984, S. 280-295, hier S. 281f. 71 Müller-Dietz, Strafvollzug, S. 19. 72 Hans Dietrich Quedenfeld: Der Strafvollzug in der Gesetzgebung des Reiches, des Bundes und der Länder. Tübingen 1971; Heinz Müller-Dietz: Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform. Köln 1970. 73 Vgl. etwa Hottes, Grauen und Normalität; Franz Maier: Strafvollzug im Gebiet des nördlichen Teiles von Rheinland-Pfalz im Dritten Reich. In: Justiz im Dritten Reich: Justizverwaltung, Rechtsprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, hg. vom Ministerium der Justiz Rheinland- Pfalz. Frankfurt/M. [u.a.] 1995, S. 853-1006; Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“; ders.: Volksgenossen und „Gemeinschaftsfremde“; Wolfgang Sarodnick: „Dieses Haus muß ein Haus des Schreckens werden ...“. Strafvollzug in Hamburg 1933 bis 1945. In: Für Führer, Volk und Vaterland... Hamburger Justiz im Nationalsozialismus. Bd. 1, red. Klaus Bästlein [u.a.]. Hamburg 1992, S. 332-381; Eginhard Scharf: Strafvollzug in der Pfalz unter besonderer Berücksichtigung der JVA Zweibrücken. In: Justiz im Dritten Reich: Justizverwaltung, Rechtsprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, hg. vom Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz. Frankfurt/M. [u.a.] 1995, S. 759-849. 74 Vgl. etwa Wolfgang Ayaß: Das Arbeitshaus in Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874-1949). Kassel 1992; Klaus Drobisch: Alltag im Zuchthaus Luckau 1933 bis 1939. In: Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Dokumente, hg. von Dietrich Eichholtz. Berlin 1993, S. 247-272; Kurt Fricke: Die Justizvollzugsanstalt „Roter Ochse“ Halle/Saale 1933-1945. Eine Dokumentation. Magdeburg 1997. Dagegen wird in anderen Gefängnisbeschreibungen auf die NS-Zeit allenfalls am Rande eingegegangen. Vgl. etwa Paul Freßle: Die Geschichte des Männerzuchthauses Bruchsal. Freiburg 1970; Hubert Kolling: Das Gerichtsgefängnis Marburg 1891-1971. Baugeschichte und Vollzugsalltag. Marburg 1988. 17

Strafvollzugs beschäftigen: Gefangenenseelsorge75, Jugendstrafvollzug76 und das System des Stufenstrafvollzugs77 sind bereits Gegenstand von Forschungsarbeiten geworden, die erste Einblicke ermöglichen. Recht speziell sind auch die bisher vorliegenden Untersuchungen, in denen Konzentrationslagerhaft und Strafvollzug einander gegenübergestellt werden78 bzw. die auf die Frage der Kontinuität im Strafvollzug nach 194579 eingehen. Daneben finden sich Forschungsarbeiten zu speziellen Vollzugsformen. Insbesondere der Wehrmachtstrafvollzug80 – häufig im Rahmen von Analysen der Wehrmachtjustiz – sowie der Strafvollzug in den Emslandlagern81 sind verstärkt in das Blickfeld der wissenschaftlichen Forschung gerückt.

Eine quellenorientierte Analyse speziell der Ausgestaltung und Praxis des Strafvollzugs an Gefangenen, die Freiheitsstrafen aufgrund ihrer Homosexualität verbüßten, wurde im Rahmen der bisher vorliegenden Forschungsarbeiten zum nationalsozialistischen Strafvollzug nicht vorgenommen. Homosexuelle Gefangene werden in den bisher veröffentlichten Arbeiten allenfalls am Rande erwähnt, so z.B. bei Möhler, der in seiner umfangreichen Darstellung des nationalsozialistischen Strafvollzugs am Beispiel des Saarlandes in knapper Form auch auf die unterschiedlichen Gefangenengruppen eingeht und hierbei – in einem knapp einseitigen Unterkapitel – auch auf die homosexuellen Gefangenen zu sprechen kommt82. Häufig werden die homosexuellen

75 Peter Brandt: Die evangelische Strafgefangenenseelsorge. Geschichte, Theorie, Praxis. Göttingen 1985; Brigitte Oleschinski: Der Gefängnisgeistliche Peter Buchholz im Dritten Reich. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 22-41; dies.: Mut zur Menschlichkeit? Die Gefängnisseelsorge im Dritten Reich. In: ZfStrVo 44 (1995), S. 13-20. 76 Christine Dörner: Erziehung durch Strafe. Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs von 1871-1945. Weinheim [u.a.] 1991; Jörg Wolff: Jugendliche vor Gericht im Dritten Reich. Nationalsozialistische Jugendstrafrechtspolitik und Justizalltag. München 1992. 77 Bernd Koch: Das System des Stufenvollzugs in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung seiner Entwicklungsgeschichte. Freiburg 1972; Herbert Schattke: Die Geschichte der Progression im Strafvollzug und der damit zusammenhängenden Vollzugsziele in Deutschland. Frankfurt/M. [u.a.] 1979. 78 Drobisch, Konzentrationslager und Justizhaft. 79 Brigitte Oleschinski: Strafvollzug in Deutschland vor und nach 1945. In: NJ 46 (1992), S. 65-68. 80 Norbert Haase: „Gefahr für die Manneszucht“: Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven (1939-1945). Hannover 1995; Seidler, Militärgerichtsbarkeit; Fritz Wüllner, Fietje Ausländer: Aussonderung und Ausmerzung im Dienste der „Manneszucht“. Militärjustiz unter dem Hakenkreuz. In: Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, hg. von Fietje Ausländer. Bremen 1990; Fritz Wüllner: Der Wehrmacht“strafvollzug“ im Dritten Reich. In: Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug, hg. von Norbert Haase, Brigitte Oleschinski. Leipzig 1993, S. 29ff. 81 Erich Kosthorst: Die Lager im Emsland unter dem NS-Regime 1933-45. In: GWU 35, 1984; ders.; Bernd Walter: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933-1945. Zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz. Darstellung und Dokumentation. Düsseldorf 1985; Willy Perk: Hölle im Moor. Zur Geschichte der Emslandlager 1933-1945. Frankfurt/M. 21979; Heinz Spiekermann: Arbeitsdienstlager, Strafgefangenenlager und Konzentrationslager im Emsland und damit verbundene Erschließungsmaßnahmen. Unveröffentl. Staatsexamensarbeit Univ. Münster 1980; Elke Suhr: Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlager 1933-1945. Bremen 1985. 82 Rainer Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 139f. 18

Gefangenen jedoch noch in heutigen Untersuchungen – dem damaligen Rechtsverständnis entsprechend – der Kategorie der „Sittlichkeitsverbrecher“ zugeordnet, ohne auf ihr spezifisches Schicksal weiter einzugehen83.

Es wird somit deutlich, daß auf der einen Seite in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Strafvollzug im „Dritten Reich“ das Schicksal der homosexuellen Gefangenen bisher nicht Thema gewesen ist und auf der anderen Seite die Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Verfolgung Homosexueller deren Situation in den Justizvollzugsanstalten weitgehend ausgeklammert hat. Die Beschäftigung mit diesem Thema erscheint jedoch erforderlich, um das Spektrum der nationalsozialistischen Repressionsmaßnahmen gegen Homosexuelle möglichst umfassend abzudecken. Auch für die Verfolgung von Homosexuellen in der Zeit von 1933 bis 1945 gilt der Hinweis von Buchheim, wonach das Urteil gegen den Nationalsozialismus sich nicht allein auf Auschwitz gründen dürfe84. Insbesondere dürfen in der Homosexuellenforschung nicht neue Tabus geschaffen werden, indem das Verfolgungsschicksal homosexueller Männer im „Dritten Reich“ einseitig auf deren „Sonderschicksal“ in den Konzentrationslagern reduziert wird.

1.3. Untersuchungsmaterial

Neben veröffentlichtem zeitgenössischen Schrifttum werden in dieser Arbeit unveröffentlichte Justizakten aus Archivbeständen ausgewertet. Generell lassen sich dabei drei Arten unterscheiden: Prozeß-, General- und Personalakten85. Die vorliegende Untersuchung stützt sich hauptsächlich auf die Auswertung von General- sowie Personalakten.

Was die Generalakten betrifft, liefern die Akten des ehemaligen Reichsjustizministeriums, die im Bundesarchiv Berlin unter der Signatur R 22 für wissenschaftliche Forschungszwecke zur Verfügung stehen, wesentliche Hinweise auf den Umgang mit homosexuellen Gefangenen im Strafvollzug. Zwar sind auch diese Akten keineswegs lückenlos erhalten, sie bilden jedoch aus dem Bereich der ehemaligen Reichsministerien mit rund 8.000 laufenden Nummern einen umfangreichen Bestand86,

83 So z.B. bei Maier, Strafvollzug, S. 888ff. 84 Vgl. Buchheim in der Mainzer Allgemeinen Zeitung, 5./6.11.1988. Zit. bei Klaus Scherer: „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster 1990, S. 9. 85 Klaus Bästlein: Zum Erkenntniswert von Justizakten aus der NS-Zeit. Erfahrungen in der konkreten Forschung. In: Datenschutz und Forschungsfreiheit. Die Archivgesetzgebung des Bundes auf dem Prüfstand, hg. von Johannes Weber, Klaus Bästlein. München 1986, S. 85-102, hier S. 87. 86 Vgl. hierzu Gerhard Granier; Josef Henke; Klaus Oldenhage: Das Bundesarchiv und seine Bestände. Boppard am Rhein 31977 sowie Bästlein, Erkenntniswert, S. 91. 19 der die Erwartung begründet, repräsentative Aussagen formulieren zu können. Außerdem wurden die noch erhaltenen Generalakten der Strafgefangenenlager im Emsland sowie des Zuchthauses Hameln eingesehen, die Aufschluß über interne Verwaltungsvorgänge geben und den Schriftverkehr mit übergeordneten Instanzen – insbesondere mit den zuständigen Generalstaatsanwaltschaften sowie mit dem Reichsjustizministerium – enthalten.

Des weiteren basieren Aussagen über die Maßnahmen offizieller Instanzen sozialer Kontrolle gegenüber homosexuellen Justizgefangenen im „Dritten Reich“ auf der Auswertung personenbezogenen Quellenmaterials, vor allem von Personalakten homosexueller Gefangener aus den Strafgefangenenlagern des Emslandes, den Zuchthäusern in Celle und in Hameln sowie dem Gefängnis in Lingen87. Die Gefangenenpersonalakten wurden in den jeweiligen Staatsarchiven computerunterstützt verzeichnet, so daß ein Zugang über die Straftatbestände möglich ist. Nicht immer jedoch läßt die Bezeichnung des Straftatbestandes in den Findbüchern, die in der Regel aus dem Aufnahmeformular der Personalakte übernommen wurde, jedoch klar erkennen, ob jemand aufgrund des Vorwurfs der Homosexualität inhaftiert war. Mit Sicherheit kann nur bei den unter der Rubrik „§ 175“ bzw. „§ 175a“ geführten Personen davon ausgegangen werden, daß ihrer Verurteilung der Vorwurf einer homosexuellen Handlung zugrunde lag. In der Regel handelt es sich auch bei den unter „widernatürliche Unzucht“ bzw. „Unzucht wider die Natur“ geführten Akten um Personalakten der in die Gruppe der homosexuellen Gefangenen fallenden Personen. Nur in wenigen dieser Fälle ergab die Durchsicht der Personalakte, daß der Inhaftierung eine Verurteilung nach § 175b („Unzucht mit Tieren“) vorausgegangen war. Die entsprechenden Akten wurden dann aus dem Untersuchungssample herausgenommen. Des weiteren wurden unter den Rubriken „(gewerbsmäßige) Unzucht“, „Vornahme unzüchtiger Handlungen“ sowie „Sittlichkeitsverbrechen“ geführte Personalakten dann in die Untersuchung einbezogen, wenn ihnen der Zusatz „mit einem Mann / Männern“ folgte. Kriminalisiert wurden Homosexuelle darüber hinaus auch durch die §§ 174 („Unzucht mit Abhängigen“), 176;3 („Schwere Unzucht mit Personen unter vierzehn Jahren“), 183 („Erregung öffentlichen Ärgernisses“), 253 („Erpressung“) sowie 361/6a-c („erwerbsmäßige Unzucht“). Jedoch handelte es sich bei den nach diesen Straftatbeständen verurteilten Personen in der Mehrzahl um heterosexuelle Straftäter. Angaben aus diesen Personalakten wurden nur dann

87 Zu den Emslandlagern sowie zur Vollzugsanstalt Lingen wird unter den Reponierungsnummern Rep 947 Lin I (Generalakten) sowie Rep 947 Lin II (Personalakten) ein umfangreicher Bestand an Quellenmaterial im Niedersächsischen Staatsarchiv Osnabrück (NdS StA OS) aufbewahrt; das erhalten gebliebene Aktenmaterial zu den Zuchthäusern Celle und Hameln steht der wissenschaftlichen Forschung im Hauptstaatsarchiv Hannover (NdS HStA H), Außenstelle Pattensen, unter den Signaturen Hann. 86 Celle, Acc. 142/90 sowie Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90 zur Verfügung. Vgl. hierzu auch das Quellenverzeichnis im Anhang dieser Arbeit. 20 erfaßt und in die Analyse einbezogen, wenn aus der Eintragung im Findbuch ersichtlich war, daß der Verurteilung die Anschuldigung einer homosexuellen Handlung zugrunde lag.

Insgesamt ließen sich in den Beständen der Strafgefangenenlager des Emslandes 417, der Zuchthäuser Celle und Hameln 206 sowie des Gefängnisses Lingen 133 Personalakten homosexueller Gefangener ermitteln. Die Angaben aus diesen Personalakten wurden computerunterstützt erfaßt und ausgewertet. Für die Emslandlager, die im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, wurden – soweit dies sinnvoll erschien – die Angaben zu den homosexuellen Häftlingen zusätzlich denen zweier Vergleichsgruppen gegenübergestellt: den aus politischen Gründen verfolgten Häftlingen, die wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt waren, sowie einer Auswahl von Gefangenen, die wegen „Betrug“ und „Diebstahl“ inhaftiert waren, die sog. Kriminellen88. Zu diesem Zweck wurden durch ein Zufallsverfahren, bei dem die gleichmäßige Repräsentativität der Einlieferungsjahrgänge berücksichtigt wurde, 167 Personalakten krimineller (nicht-homosexueller) und 155 Personalakten politischer Gefangener ausgewählt.

Die Anfertigung einer Personalakte zu jedem Gefangenen war für die selbständigen Vollzugsanstalten in der Strafvollzugsordnung vorgeschrieben. Die Gefangenenakte sollte „mit den Einweisungsunterlagen beginnen und alle Niederschriften, Vermerke, Anzeigen, Verfügungen und sonstigen Schriftstücke enthalten, die sich auf den Gefangenen beziehen“89. Die Unterlagen, die die Personalakten – mehr oder weniger vollständig – enthalten, lassen sich grob drei Bereichen zuordnen: (1) Persönliche Unterlagen bzw. Dokumente, die mit dem Leben des Gefangenen außerhalb des Strafvollzugs in Verbindung stehen, beispielsweise Bilder, Briefe des Gefangenen (deren Weiterleitung aus verschiedenen Gründen untersagt werden konnte), ein Lebenslauf, Versicherungsformulare sowie gelegentlich Anfragen unterschiedlicher Institutionen oder Privatpersonen den Gefangenen betreffend. (2) Strafrechtlich relevante Dokumente, insbesondere eine Abschrift des Gerichtsurteils sowie das Vorstrafenverzeichnis. (3) Den Strafvollzug betreffende Unterlagen, die den Großteil der in den Personalakten aufbewahrten Schriftstücke ausmachen. Hierzu gehören das Aufnahmeersuchen an die jeweilige Vollzugsanstalt, Aufnahmeformulare sämtlicher Haftanstalten, in denen der Häftling seine Freiheitsstrafe verbüßte, mit Angaben zur

88 Obwohl für die Gruppe der wegen eines kriminellen Delikts bzw. der aus politischen Gründen Verfolgten hinsichtlich des Sprachgebrauchs ähnliche Einschränkungen gelten wie für die Gruppe der homosexuellen Inhaftierten, wird im folgenden zugunsten der besseren Lesbarkeit auch von „den kriminellen“ bzw. „den politischen Gefangenen“ statt von „den aufgrund eines kriminellen / politischen Straftatbestandes verfolgten Inhaftierten“ die Rede sein. 89 Vereinheitlichung der Dienst- und Vollzugsvorschriften für den Strafvollzug im Bereich der Reichsjustizverwaltung (Strafvollzugsordnung). Berlin 1940 (Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 21), Absatz 45. 21

Person sowie zum Straftatbestand und zur strafrechtlichen Verfügung, ein Entlassungsschein mit Angabe des Entlassungsortes und -grundes, Aufzeichnungen über den körperlichen Zustand des Gefangenen sowie seine Unterbringung und Beschäftigung im Strafvollzug und über besondere Vergünstigungen, Vermerke über Besuche, Ausstellung von Besuchserlaubnissen, Protokolle über ärztliche Untersuchungen, „psychologisch-soziologische Befundbögen“ sowie Angaben über während der Haftzeit durchgeführte sog. Hausstrafverfahren. Da zudem vorgeschrieben war, daß die Vollzugsbeamten in den Personalakten „auch die Wahrnehmungen, die zur Beurteilung des Gefangenen wertvoll erscheinen, und diese Beurteilung selbst“ vermerkten90, geht aus den Entlassungsgutachten, aus den zum Teil von der Kriminalpolizei zur Prüfung der Anordnung vorbeugender Maßnahmen angeforderten Führungszeugnissen sowie in den Zuchthäusern Celle und Hameln aus den sog. Tagesbeobachtungen, aber auch aus der Beurteilung von Gnadenangelegenheiten hervor, wie die Vollzugsangestellten den Gefangenen und sein Verhalten während des Strafvollzugs beurteilten.

Die Gefangenenpersonalakte wurde bei einer Verlegung des Inhaftierten in eine andere Haftanstalt, aber auch bei einer Verlegung innerhalb der Emslandlager an die aufnehmende Vollzugsanstalt weitergegeben und verblieb schließlich in der Registratur derjenigen Haftanstalt, in der der Gefangene seine letzte Freiheitsstrafe verbüßt hatte. Auf diese Weise wurden die Personalakten immer weiter ergänzt und liefern so ein umfassendes Bild über die „Häftlingskarrieren“. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Quellenmaterial bedeutet die Tatsache, daß die Gefangenenpersonalakten „wanderten“, also an die jeweils zuständigen Vollzugsanstalten weitergereicht wurden, jedoch auch, daß in den Vollzugsanstalten jeweils nur die Personalakten derjenigen Gefangenen archiviert wurden, die nicht in andere Justizvollzugsanstalten verlegt wurden. In den in diese Untersuchung einbezogenen Beständen befinden sich demnach nur die Akten derjenigen Häftlinge, die entweder während oder nach der NS-Herrschaft entlassen worden waren, während der Haftzeit gestorben oder geflohen waren oder die von der Polizei in Schutzhaft bzw. polizeiliche Vorbeugungshaft genommen worden waren, da eine Weitergabe der Personalakten an die entsprechenden Hafteinrichtungen der Polizei nicht erfolgte.

Bei der Auswertung des angeführten Quellenmaterials gilt es, folgendes zu beachten: Was die programmatische Ebene betrifft, können die Homosexuelle betreffenden Anordnungen der offiziellen Instanzen sozialer Kontrolle relativ problemlos aus den einschlägigen Verfügungen, Erlassen und Verordnungen rekonstruiert werden. Diese sind vorwiegend in den Generalakten und zum Teil auch als Durchschrift in den Personalakten enthalten. Schwieriger fällt die Rekonstruktion der Umsetzung

90 Ebd., Absatz 45, 2. 22 dieser Regelungen. Zum Teil kann die Durchführung von Maßnahmen aus den Ausführungen in den Personalakten erschlossen werden. Zu beachten ist dabei jedoch, daß diese Darstellungen die Sichtweise des Justizpersonals wiedergeben. Daneben können den Personalakten quantitative Angaben der Häftlingsstatistik, beispielsweise über Unterbringung, Beschäftigung, Todesfälle usw. entnommen werden, die indirekte Schlüsse auf das Handeln der Justizangestellten zulassen. Kenntnisse über die Strafvollzugspraxis an einzelnen Gefangenengruppen können gelegentlich der Erinnerungsliteratur entnommen werden. Selbstzeugnisse homosexueller Verfolgter sind zwar nur in geringer Zahl überliefert, da aufgrund der fortgesetzten strafrechtlichen Verfolgung und der anhaltenden Diskriminierung von Homosexuellen nach 1945 nur wenige Betroffene mit ihrer Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit traten. Es kann auf einzelne Angaben zurückgegriffen werden, die der Erinnerungsliteratur nicht-homosexueller Verfolgter zum Schicksal der homosexuellen Gefangenen zu entnehmen sind91. Diese werden allerdings – entsprechend ihres zahlenmäßig geringen Aufkommens – in den Berichten ehemaliger Verfolgter zumeist nur am Rande erwähnt. Zudem fällt es häufig schwer, aus den exemplarischen Erinnerungszeugnissen Betroffener verallgemeinerbare Aussagen abzuleiten. Was die Berichte ehemaliger Konzentrationslagerhäftlinge betrifft, so ist es offensichtlich, daß das „kollektive Gedächtnis“ der Verfolgten häufig in einem Gegensatz zu der Erinnerung Einzelner steht, da es zum Großteil von solchen ehemaligen Häftlingen getragen wird, die im Lager zu dessen sog. Prominenz gehört hatten – hierzu zählen insbesondere politische Gefangene und darunter wiederum besonders die deutschen Kommunisten92. Probleme ergeben sich deshalb bei der Beschreibung der Lage der kleineren Häftlingsgruppen im Lager sowie der unteren Schichten in der Häftlingshierarchie – und somit auch bei der Rekonstruktion des Schicksal der homosexuellen Gefangenen, auf die beide Kriterien zutreffen. Auch wenn in den Haftanstalten der Justiz auch nicht-privilegierte Häftlinge eine deutlich größere Überlebenschance hatten als in den Konzentrationslagern, haben diese ihre Hafterfahrungen nach Kriegsende nur selten schriftlich verarbeitet. Auch für die Berichte ehemaliger Insassen der Justizvollzugsanstalten gilt, daß darin die Sichtweise der politischen Gefangenen vorherrscht, da Überlebende aus dieser Gruppe sich am häufigsten schriftlich geäußert haben. Zudem differieren die Berichte ehemaliger Gefangener je nach den gegebenen Verhältnissen in den jeweiligen Vollzugsanstalten, aber auch nach der subjektiven Befindlichkeit ihrer Verfasser – soziale Herkunft, Bildung sowie die Persönlichkeit der

91 Speziell zu den Emslandlagern liegt ein umfangreicher Bestand – zum Teil unveröffentlichter – Berichte ehemaliger Gefangener vor, der im Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager (DIZ) in Papenburg eingesehen werden kann. 92 Lutz Niethammer: Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. Kommentierende Bemerkungen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2. Göttingen 1998, S. 1046-1060, hier S. 1048f. 23

Häftlinge lassen unter ähnlichen äußeren Bedingungen unterschiedliche subjektive Erlebnisberichte entstehen93. Auch mit den der Erinnerungsliteratur zu entnehmenden Angaben muß deshalb mit quellenkritischer Sorgfalt umgegangen werden.

93 Brigitte Faralisch: „Begreifen Sie erst jetzt, daß wir rechtlos sind?“ Zeitzeugenberichte über den Strafvollzug im „Dritten Reich“. In: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Am Beispiel des Saarlandes, hg. von Heike Jung; Heinz Müller-Dietz. Baden-Baden 1996, S. 303-377, hier S. 305. 24

2. Die Politik der Nationalsozialisten gegenüber Homosexuellen

2.1. Zur Vorgeschichte: Homosexuelle im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Die Diskriminierung von Homosexuellen war keine spezifisch nationalsozialistische Erscheinung – gegen sie gerichtete Sanktionen lassen sich bereits für das frühe Mittelalter nachweisen: Waren Homo- und Bisexualität in der Antike relativ weit verbreitet und wurde hier der Gegensatz nicht in gleich- oder verschiedengeschlechtlicher, sondern in aktiver und passiver Sexualität gesehen1, galt dagegen im Mittelalter prinzipiell jede sexuelle Handlung, die nicht der Fortpflanzung diente, als verwerflich und sündhaft. Gleichgeschlechtliche Beziehungen waren somit Sanktionen ausgesetzt – nicht, weil sie sich zwischen Personen desselben Geschlechts abspielten, sondern weil sie Teil des geschlechterübergreifenden Bereichs der widernatürlichen, d.h. zeugungsfeindlichen Sexualität waren2. Die Constitutio Criminalis Carolina (CCC) von 1532 sah dementsprechend in Artikel 116 für das „unkeusch Treiben wider die Natur“ die Todesstrafe vor. Zwar blieb die CCC formal bis 1871 unverändert bestehen; die Territorialstaaten gaben sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts jedoch jeweils ein eigenständiges Strafrecht. Einige deutsche Staaten hoben die Strafbarkeit der Homosexualität weitgehend auf (z.B. Württemberg 1839, Braunschweig und Hannover 1840) oder schränkten das Strafmaß deutlich ein (z.B. Oldenburg, Sachsen, Thüringen; auch in Preußen wurde ab 1794 bei Homosexualitätsdelikten die Todesstrafe nicht mehr angewendet und die Strafbarkeit der

1 Vgl. insbesondere Paul Veyne: Homosexualität im antiken Rom. In: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, hg. von Philippe Ariès; André Béjin [u.a.]. Frankfurt/M. 1984, S. 40-50. Einen knappen Gesamtüberblick über den Umgang mit Homosexuellen von der Antike bis in die Neuzeit liefert Gert Hekma: Die Verfolgung der Männer. Gleichgeschlechtliche männliche Begierden und Praktiken in der europäischen Geschichte. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1998), S. 311-341. 2 Vgl. zum Umgang mit Homosexualität im Mittelalter Bernd-Ulrich Hergemöller: Grundfragen zum Verständnis gleichgeschlechtlichen Verhaltens im späten Mittelalter. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 9-38, sowie ders.: Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter. Hamburg 1998. 25

Homosexualität kontrovers diskutiert3); in Bayern ging man 1813 von der Todesstrafe bei Homosexualitätsdelikten unmittelbar zu völliger Straffreiheit über4.

Es soll im folgenden ein kurzer Überblick über die Ausgangssituation der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik geliefert werden. In knapper Form werden die Diskussion über die Ursachen und über die Strafbarkeit der Homosexualität dargestellt. Des weiteren soll die Entwicklung der Homosexuellenemanzipationsbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik und deren Auswirkungen auf das Alltagsleben und das Selbstbewußtsein homosexueller Frauen und Männer erörtert werden.

2.1.1. Die Anfänge der Homosexuellenbewegung im Kaiserreich

Obwohl es im 19. Jahrhundert Tendenzen zur Entkriminalisierung von Homosexualität gegeben hat, ging § 143 des preußischen Strafrechts, der die „Unzucht zwischen Männern“ unter Freiheitsstrafe stellte, mit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1869 unverändert als § 173 in den Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund und mit der Reichsgründung schließlich als § 175 in das Reichsstrafgesetzbuch ein. Damit waren homosexuelle Handlungen auch in den Gebieten des Deutschen Reiches strafbar, in denen Homosexualität bis dahin nicht kriminalisiert wurde5.

Die Strafbarkeit der Homosexualität setzte sich vor dem Hintergrund eines neuartigen Rigorismus im Umgang mit moralischen Normen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert durch. Zusammen mit dem modernen Nationalismus entwickelten sich die Ideale der bürgerlichen Moral und ihre Definition von Sexualität. Ihnen zu folgen wurde gewissermaßen zu einer nationalen Tugend6. Durch die Aufstellung und Einhaltung von Tugenden wie Selbstbeherrschung, Besonnenheit, Anstand, Mäßigung, Nüchternheit, Arbeitsamkeit, Ordnung und Normalität, die auf eine Überwindung der triebhaften Natur durch den Willen des Menschen und damit auf die Beherrschung der

3 Vgl. hierzu Rüdiger Lautmann: Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht. Seine Grundlegung in der preußischen Gesetzesrevision des 19. Jahrhunderts. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 141-186. 4 Jürgen Baumann: . Über die Möglichkeit, die einfache, nichtjugendgefährdende und nichtöffentliche Homosexualität unter Erwachsenen straffrei zu lassen. Berlin [u.a.] 1968, S. 18ff.; Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte. München 1989, S. 11f. 5 Vgl. hierzu ausführlich Angela Taeger; Rüdiger Lautmann: Sittlichkeit und Politik. § 175 im Deutschen Kaiserreich. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 239-268. 6 George L. Mosse: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. München [u.a.] 1985. 26

Leidenschaften ausgerichtet waren, versuchte das aufstrebende Bürgertum, seinen Status zu festigen und sich gegenüber dem Adel sowie den unteren Bevölkerungsschichten abzugrenzen. Sexualität war nach den Idealen dieser bürgerlichen Moral auf die Ehe beschränkt und legitimierte sich ausschließlich durch den Bezug zur Fortpflanzung7. Homosexuelle galten, da ihre Sexualität nicht der Reproduktion diente und ihnen zudem sexuelle Ausschweifung unterstellt wurde, in dieser Zeit als abnorm und als Gefahr für die Gesundheit und den Erhalt der Nation. In einer Gesellschaft, in deren Selbstverständnis das Ideal der Männlichkeit eine wichtige Rolle spielte, stellten Homosexuelle, die als „weiblich“ galten, zudem das polarisierende Verständnis von Sexualität, wonach Männer männlich und Frauen weiblich sein sollten, in Frage8.

Zum Thema wissenschaftlicher Untersuchungen (und auch der Literatur) wurde (Homo-)Sexualität gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Beschäftigung mit Fragen der Bevölkerungsentwicklung und der Volksgesundheit sowie mit dem Aufkommen der Sexualwissenschaften. Die Auseinandersetzung mit den Abweichungen von „normaler“ Sexualität wird dokumentiert in bekannt gewordenen Werken wie der „Psychopathia sexualis“ von Richard von Krafft-Ebing (1886) oder der Arbeit Albert Molls über „Die konträre Sexualempfindung“ (1891). In der kontrovers geführten Diskussion über die Normierung sittlichen Verhaltens ging es insbesondere um die Ursache und in diesem Zusammenhang um die Frage der Strafbarkeit von Homosexualität. Von Bedeutung war dabei vor allem die Frage, ob der Geschlechtstrieb des Menschen angeboren oder erworben sei9.

Gewissermaßen als Vorkämpfer der Homosexuellenbewegung vertrat Karl Heinrich Ulrichs10 in seinen zwischen 1863 und 1870 erschienenen Schriften zu „Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe“ die Ansicht, daß Homosexualität angeboren sei. Homosexuelle seien, so Ulrichs, weder vollständige Männer noch vollständige Frauen, sondern stellten ein „drittes Geschlecht“ dar. Seine mit diesen Vorstellungen verbundenen Forderungen nach genereller Straffreiheit der Homosexualität versuchte Ulrichs 1867 auf dem Deutschen Juristentag vorzustellen, er wurde jedoch durch den starken Protest der Teilnehmer daran gehindert. Bekanntester Verfechter

7 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Sexualität“ bei Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 95-112. 8 Vgl. Andreas Heimann: „Krank, pervers und gefährlich“ – Homosexuellenfeindliche Stereotypen im Deutschen Kaiserreich. In: Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, hg. von Henning Hahn. Oldenburg 1995, S. 150-172, hier S. 153 sowie Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 27ff. 9 Vgl. hierzu sowie zum folgenden Hermann Sievert: Das anomale Bestrafen. Homosexualität, Strafrecht und Schwulenbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Hamburg 1984. 10 Vgl. Hubert Kennedy: Karl Heinrich Ulrichs. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 32-38. 27 der These von der physischen Doppelgeschlechtlichkeit und zugleich exponiertester Vertreter der Straffreiheitsforderung wurde der Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld11. Auf der Basis von Ulrichs’ Idee der sexuellen Zwischenstufen entwickelte er die „Zwischenstufentheorie“, die jedoch weniger eine Theorie als vielmehr eine Art Einteilungsprinzip darstellen sollte: Ausgehend von drei Geschlechtern – heterosexuell empfindende Menschen sowie Bisexuelle und Homosexuelle – vermutete Hirschfeld daneben eine unendliche Zahl „intersexueller Varianten“, d.h. sexueller Zwischenstufen zwischen Frau und Mann, und erklärte schließlich die geschlechtliche Eindeutigkeit überhaupt zur Fiktion, da es sich nach seiner Auffassung auch bei „Normalsexuellen“ um mehr oder weniger ausgeprägte Zwischenstufen handelte. Hirschfeld stritt jede Verführungsmöglichkeit zur Homosexualität ab. Er forderte deshalb die Abschaffung jeglicher Sondergesetzgebung gegen Homosexualität sowie deren Anerkennung als gesellschaftlich gleichberechtigte Form der Sexualität. Die meisten Vertreter der Sexualreformbewegung schlossen sich Hirschfelds Zwischenstufentheorie nur bedingt an, waren jedoch mit Hirschfeld einig in der Annahme des angeborenen Charakters der Homosexualität und lehnten – auch wenn sie sich nicht ausnahmslos für deren vollständige gesellschaftliche Anerkennung aussprachen – eine juristische Verfolgung der Homosexuellen ab. Gelegentlich wurde in diesen Arbeiten zwischen „echter“, also angeborener Homosexualität und der erworbenen „Pseudohomosexualität“ unterschieden, so z.B. durch Iwan Bloch12 und Richard von Krafft-Ebing13, dessen „Psychopathia Sexualis“ zum sexualwissenschaftlichen Standardwerk des Deutschen Kaiserreiches wurde und 1914 bereits in 15. Auflage erschien. Obwohl auch Krafft-Ebing Homosexualität als Lebensform grundsätzlich ablehnte, forderte er in seinen letzten Veröffentlichungen die Abschaffung der Strafbarkeit zumindest der nicht-qualifizierten Fälle (also einvernehmlich vorgenommener homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen), da Homosexuelle an ihrem Handeln schuldlos seien. Der Auffassung, wonach Homosexualität eine angeborene Variante menschlicher Sexualität sei, widersprachen auf der Gegenseite Vertreter eines Erklärungsmusters, nach dem Homosexualität Ergebnis mißlungener Erziehungsprozesse sei und

11 Vgl. Magnus Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin 1914 sowie Gesa Lindemann: Magnus Hirschfeld. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 91-104. 12 Vgl. Bernhard Egger: Iwan Bloch. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 86-90. 13 Vgl. Jörg Hutter: Richard von Krafft-Ebing. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 48-54. 28 durch schlechte Umwelteinflüsse erworben würde14. Sie suchten die Ursachen der Homosexualität im gesellschaftlichen Bereich und erörterten mögliche Perspektiven einer Heilung. Die gesellschaftliche Anerkennung der Homosexualität befürworteten sie nur im Ansatz, kritisierten aber in der Regel die Strafbarkeit der einfachen Homosexualität.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Homosexualität trug dazu bei, daß sich eine Emanzipationsbewegung der Homosexuellen entwickelte und in der Folge der § 175 zum Thema auch gesellschaftspolitischer Debatten wurde. Als erste Selbstorganisation homosexueller Männer gründete M. Hirschfeld 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK). Im Namen dieser Organisation führte Hirschfeld in den Jahren 1903 und 1904 zwei empirische Studien zur Frage der sexuellen Orientierung durch. Hirschfeld ermittelte, daß ca. 1,2 Millionen Männer in Deutschland homosexuell waren, was einem Anteil von drei Prozent der männlichen Bevölkerung entsprach. Dieses Ergebnis überraschte in einer Zeit, in der man den Anteil der Homosexuellen bis dahin nicht nach Prozenten, sondern nach Promillen geschätzt hatte15. Für den einzelnen Homosexuellen bedeutete dieses Ergebnis, daß er sich nicht weiterhin als fast einzig in seiner Art fühlen mußte. Als politische Forderung leitete Hirschfeld aus der relativ weiten Verbreitung der Homosexualität und seiner These von deren angeborenem Charakter die Aufhebung der Kriminalisierung homosexueller Handlungen ab. Noch im Jahr seiner Gründung legte das WhK dem Reichstag eine von 200 Personen unterzeichnete Petition vor, in der die Straffreiheit der einfachen Homosexualität gefordert wurde; 1898, ein Jahr später, waren bereits 1.000 Unterschriften gesammelt16. Im Reichstagsausschuß wurden diese wie auch spätere Petitionen allerdings mit negativem Resultat beraten. Neben der angestrebten Reform des Sexualstrafrechts versuchte das Whk auch, der sozialen Stigmatisierung Homosexueller durch Aufklärung der Bevölkerung entgegenzuwirken17. In dieser Hinsicht erfuhr die Position des WhK eine deutliche Schwächung, als sich im Zusammenhang mit der Krupp-Affäre (1902) und den Moltke-Eulenburg-Harden-Prozessen (1907-1909) die öffentliche Meinung gegen die homosexuelle Minderheit richtete. Insbesondere der Versuch von Maximilian Harden, den Einfluß Philipp Eulenburgs und seines „Liebenberger Kreises“ auf Kaiser Wilhelm II. durch den Vorwurf der Homosexualität zurückzudrängen und Eulenburg zum Rückzug aus der Politik zu

14 So z.B. G. Aschaffenburg, A. Hoche, A. Cramer und A. Schrenck-Notzing. Vgl. hierzu Jörg Hutter: Die Entstehung des § 175 im Strafgesetzbuch und die Geburt der deutschen Sexualwissenschaft. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 187-238, hier S. 209-212. 15 So ging beispielsweise I. Bloch noch 1902 von einem Anteil von 0,01 % Homosexuellen an der männlichen Bevölkerung aus. 16 Zu den Forderungen des WhK hinsichtlich der Abschaffung des § 175 vgl. Kapitel 4.1.3.1. 29 bewegen, zeigt, wie vor dem Hintergrund tief verwurzelter antihomosexueller Einstellungen in der Bevölkerung der § 175 dazu instrumentalisiert wurde, das Ansehen einzelner Personen zu diskreditieren und sie politisch auszuschalten18.

Das Aufkommen der Selbstorganisationen Homosexueller hatte neben der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung unmittelbare Auswirkungen auch auf den Umgang homosexueller Männer untereinander. In Großstädten, insbesondere in Berlin, entstanden erste Einrichtungen homosexueller Subkultur. Es bestanden sowohl unorganisierte Treffpunkte – Badeanstalten, öffentliche Bedürfnisanstalten, aber auch einzelne Straßenecken oder Wege, wie z.B. der „schwule Weg“ im Tiergarten Berlin – als auch eine „organisierte“ Subkultur in Form von Bars, Lokalen und Hotels, die vorzugsweise von Homosexuellen besucht wurden19. Diese Einrichtungen, die allerdings von Polizeirazzien und behördlichen Schließungen ständig bedroht waren, entstanden zunächst vorzugsweise in den Großstädten, deren Anonymität den Homosexuellen Schutz bot20. Neu war zu dieser Zeit auch das Angebot an Zeitschriften, die sich vorwiegend an eine homosexuelle Leserschaft richteten, wie z.B. die 1896 erstmals erschienene Zeitschrift „Der Eigene“, aus deren Leserkreis sich 1902 die Organisation „Gemeinschaft der Eigenen“ (GdE) entwickelte.

2.1.2. Homosexuellenbewegung und homosexuelle Subkultur in der Weimarer Republik

Einen starken Aufschwung erlebten die Homosexuellenbewegung und die Einrichtungen homosexueller Subkultur während der Weimarer Republik. Zentrum der homosexuellen Kultur und Emanzipation war zweifellos Berlin. Dort wurden schon bald nach Kriegsende zahlreiche Lokale mit homosexuellem Zielpublikum eröffnet, es wurden „Urningsbälle“21 abgehalten, und zahlreiche homophile Zeitschriften erschienen, wie z.B. „Das Freundschaftsblatt“, „Die Insel“, „Blätter für

17 Zu einer der Hauptaktivitäten des WhK gehörte in diesem Zusammenhang die Herausgabe des „Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen“. 18 Vgl. hierzu ausführlich Wolfgang J. Mommsen: Homosexualität, aristokratische Kultur und Weltpolitik. Die Herausforderung des wilhelminischen Establishments durch Maximilian Harden 1906-1908. In: Der Prozeß – Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, hg. von Uwe Schultz. München 1996, S. 279-288 sowie Isabel v. Hull: Kaiser Wilhelm II. und der „Liebenberg-Kreis“. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 81-117. 19 Vgl. Wolfgang Theis; Andreas Sternweiler: Alltag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Museum. Berlin 1984, S. 48-73; vgl. hierzu auch das Kapitel 31: „Gruppenleben und Sammelstätten homosexueller Männer und Frauen“ bei Hirschfeld, Homosexualität des Mannes und des Weibes, S. 675-699. 20 Vgl. hierzu insbesondere Magnus Hirschfeld: Berlins Drittes Geschlecht. Schwules und lesbisches Leben im Berlin der Jahrhundertwende. Berlin 1991 (Nachdruck von 1904). 30

Menschenrechte“ oder „Die neue Freundschaft“. Es bestanden Einrichtungen homosexueller Subkultur nicht nur für homosexuelle Männer, sondern auch für Frauen. Insbesondere von Berlin ist bekannt, daß dort zahlreiche Damenbars und Clubs Treffpunkte für lesbische Frauen bildeten22. Aber auch in kleineren Städten bestand trotz der stärkeren sozialen Kontrolle vielfach eine subkulturelle Infrastruktur23. Zeitschriften wie „Die Freundin“, „Garçonne“ oder die „Blätter für ideale Frauenfreundschaft“ richteten sich speziell an eine lesbische Leserschaft und leisteten ebenso wie die sich entwickelnde lesbische Belletristik einen wichtigen Beitrag zur Identitätsfindung lesbischer Frauen24.

Neben dem WhK entstanden neue Selbstorganisationen Homosexueller, wie z.B. der „Deutsche Freundschaftsbund“, der sich im Februar 1923 in „Bund für Menschenrecht“ umbenannte und die „Blätter für Menschenrechte“ herausgab. Die Arbeit dieser Verbände diente zwei Zielen: Zum einen sollte den Auswirkungen der Strafbarkeit homosexueller Handlungen entgegengewirkt werden, indem man das Selbstbewußtsein und die Selbstakzeptanz Homosexueller, aber auch deren gesellschaftliche Anerkennung durch Aufklärungsarbeit stärkte. Zum anderen führte insbesondere das WhK sein Engagement für eine Aufhebung der juristischen Verfolgung Homosexueller weiter, ohne allerdings die gewünschte Abschaffung des § 175 bewirken zu können25. In dieser Frage ergänzte das 1919 von M. Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft (IfS) die Tätigkeit des WhK, indem es dessen Forderungen mit Erkenntnissen der Sexualwissenschaften untermauerte. Das IfS war darüber hinaus Dokumentations- und Beratungsstelle für Fragen der Sexualität. In den vielbesuchten Führungen, Vorträgen, Kursen und Frageabenden bemühte man sich um eine generelle Sexualaufklärung und Beratung der Teilnehmer auch in Fragen der Familienplanung und der Geburtenkontrolle. Hirschfeld, der dem WhK und dem IfS in Personalunion vorstand, trat neben seinem Engagement für die Straflosigkeit der Homosexualität auch für eine Liberalisierung des

21 „Urning“, eine von Karl-Heinz Ullrichs gebildete Bezeichnung für Homosexuelle, abgleitet von dem Gott Uranos, dem Vater der ohne Mutter geborenen Aphrodite. 22 Vgl. hierzu beispielsweise die Lebensgeschichte von Anneliese W., in: Claudia Schoppmann: Zeit der Maskierung: Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich“. Berlin 1993, S. 42-58 sowie Gertrude Sandmann: Anfang des lesbischen Zusammenschlusses: die Clubs der zwanziger Jahre. In: UKZ 2 (1976), S. 4- 8. 23 Vgl. hierzu Kirsten Plötz: Einsame Freundinnen? Lesbisches Leben während der 20er Jahre in der Provinz. Bremen 1999. 24 Katharina Vogel: Zum Selbstverständnis lesbischer Frauen in der Weimarer Republik. Eine Analyse der Zeitschrift „Die Freundin“ 1924-1933. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Museum. Berlin 1984, S. 162-168. 25 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4.1.3.1. 31

Eherechts, für die Gleichstellung der Frau, für die Freigabe von Verhütungsmitteln und der Abtreibung sowie für eine umfassende Sexualaufklärung der Bevölkerung ein26.

Fast ausnahmslos erinnern sich damals lebende homosexuelle Männer und Frauen an die Zwanziger Jahre trotz der wirtschaftlichen Not als eine Zeit der Freizügigkeit, in der sie ihre Sexualität zum ersten Mal weitgehend ungestört ausleben konnten27. Aus der durch die repressive Sexualmoral des Kaiserreiches geprägten Selbstwahrnehmung Betroffener darf jedoch nicht voreilig auf eine allzu große Freizügigkeit gegenüber Homosexuellen während der Weimarer Republik geschlossen werden. Zu berücksichtigen ist, daß die homosexuelle Subkultur auf die Großstädte beschränkt blieb und das Alltagsleben homosexueller Frauen und Männer außerhalb dieser Zentren weitgehend unberührt ließ. Da der Zugang zur homosexuellen Subkultur in der Regel wesentlich zum Bewußtsein über das sexuelle Anderssein beitrug, kam im Prozeß der Identitätsfindung Homosexueller dem Wohnort eine entscheidende Rolle zu28. Bei der Beschreibung der „Goldenen Zwanziger“ bleibt zudem häufig unbeachtet, daß – auch wenn die strafrechtliche Verfolgung mit nur 89 Verurteilungen nach § 175 im Jahr 1919 den tiefsten Stand seit 1871 erreichte29 – die Strafbarkeit homosexueller Handlungen in dieser Zeit grundsätzlich fortbestand. Die entstehende Subkultur war eine direkte Folge der Strafbarkeit homosexueller Handlungen und der gesellschaftlichen Ächtung der Homosexuellen, die diese zu einer Art Doppelleben zwangen: Bereits Hirschfeld beschrieb als Folge der Strafverfolgung Homosexueller, „daß der Urning im Gegensatz zu dem Heterosexuellen seine Privatwohnung möglichst von sexuellem Verkehr freihält, einerseits um das Geheimnis seines Namens zu wahren, andererseits um sich nicht in seinem Haus hinsichtlich seiner Neigung verdächtig zu machen.“ Er sei daher „in viel höherem Maße als der Normale darauf angewiesen, zur sexuellen Entspannung außerhalb seines Hauses gelegene Stätten aufzusuchen“30. Die Beschreibung der Weimarer Zeit als ein „Toleranzhoch“ 31 gegenüber sexuellem Anderssein darf somit nicht darüber hinwegtäuschen, daß antihomosexuelle Einstellungen fortdauerten und Homosexuelle dazu gezwungen waren, in Familie und Beruf eine Art Doppelleben zu führen.

26 Manfred Baumgardt: Das Institut für Sexualwissenschaft (1919-1933). In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 117-123 sowie Lindemann, Magnus Hirschfeld. 27 Vgl. z.B. die Lebensgeschichte von Friedrich-Paul von Groszheim, in: Lutz van Dijk: Ein erfülltes Leben – trotzdem... Erinnerungen Homosexueller 1933-1945. Reinbek 1992, S. 25-34 sowie von Margarete Knittel, in: Schoppmann, Zeit der Maskierung, S. 87-97. 28 Vgl. hierzu die Lebensgeschichte von Hilde Radusch, in: Zeit der Maskierung, S. 32-41. 29 Baumann, Paragraph 175, S. 59. 30 Hirschfeld, Homosexualität des Mannes und des Weibes, S. 691f. 31 Rüdiger Lautmann: Der Zwang zur Tugend. Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualitäten. Frankfurt/M. 1984, S. 157. 32

Auch die Aktivitäten der Homosexuellenemanzipationsbewegung waren zur Weimarer Zeit nur begrenzt zugelassen; so kam es beispielsweise immer wieder zu Schließungen von Lokalen mit homosexuellem Zielpublikum, und von dem 1926 erlassenen „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ waren zeitweilig auch homophile Zeitschriften betroffen.

2.1.3. Homosexualität und Nationalsozialismus vor dem 30. Januar 1933

In den durch die Aktivitäten des WhK initiierten Debatten um eine mögliche Abschaffung des § 175 nahm die NSDAP eine eindeutige Haltung ein. Anläßlich einer Umfrage zur Einstellung der Parteien zum § 175 gab die NSDAP im Mai 1928 folgende Erklärung ab:

„Suprema lex salus populi! Gemeinnutz vor Eigennutz! Nicht nötig ist es, daß Du und ich leben, aber nötig ist es, daß das deutsche Volk lebt. Und leben kann es nur, wenn es kämpfen will, denn leben heißt kämpfen. Und kämpfen kann es nur, wenn es sich mannbar hält. Mannbar bleiben kann es aber nur, wenn es Zucht übt, vor allem in der Liebe. Unzüchtig ist: Freie Liebe und zügellos. Darum lehnen wir sie ab, wie wir alles ablehnen, was zum Schaden für unser Volk ist. Wer gar an mannmännliche oder weibweibliche Liebe denkt, ist unser Feind. Alles was unser Volk entmannt, zum Spielball seiner Feinde macht, lehnen wir ab, denn wir wissen, daß Leben Kampf ist und Wahnsinn, zu denken, die Menschen lägen sich einst brüderlich in den Armen. Die Naturgeschichte lehrt uns anderes. Der Stärkere hat recht. Und der Stärkere wird immer sich gegen den Schwächeren durchsetzen. Heute sind wir die Schwächeren. Sehen wir zu, daß wir wieder die Stärkeren werden! Das können wir nur, wenn wir Zucht üben. Wir verwerfen darum jede Unzucht, vor allem die mannmännliche Liebe, weil die uns der letzten Möglichkeit beraubt, jemals unser Volk von den Sklavenketten zu befreien, unter denen es jetzt frohnt.“32

Homosexualität wurde – wie jegliche nicht primär auf Fortpflanzung ausgerichtete Sexualität – aus nationalsozialistischer Sicht abgelehnt, weil sie den Anstieg der Geburtenzahlen gefährde. Diese Ansicht mag in einer Zeit, in der die rückläufige Geburtenziffer in Deutschland und der vermeintlich drohende Bevölkerungsrückgang intensiv diskutiert wurden33, in weiten Kreisen auf Zustimmung gestoßen sein.

Die negative Einstellung der Nationalsozialisten gegenüber der Homosexualität wurde – obwohl an keiner Stelle programmatisch niedergeschrieben – in zahlreichen Reden und Artikeln immer wieder vorgebracht und die Maßnahmen einer möglichen nationalsozialistischen Regierung antizipiert. Als

32 Nach Rudolf Klare: Homosexualität und Strafrecht. Hamburg 1937, S. 149. 33 am 16.10.1929 der Strafrechtsausschuß im Reichstag einen Entwurf angenommen hatte, der die Straflosigkeit einvernehmlich vorgenommener homosexueller Handlungen unter volljährigen Männern vorsah, und die Abschaffung des § 175 empfahl, hieß es dazu im „Völkischen Beobachter“ vom 2.8.1930:

„Wir gratulieren zu diesem Erfolg, Herr Kahl und Herr Hirschfeld! Aber glauben Sie ja nicht, daß wir Deutschen solche Gesetze auch nur einen Tag gelten lassen, wenn wir zur Macht gelangt sein werden [...]. Alle boshaften Triebe der Judenseele, den göttlichen Schöpfungsgedanken durch körperliche Beziehungen zu Tieren, Geschwistern und Gleichgeschlechtlichen zu durchkreuzen, werden wir in Kürze als das gesetzlich kennzeichnen, was sie sind, als ganz gemeine Abirrungen von Syriern34, als allerschwerste, mit Strang oder Ausweisung zu ahndende Verbrechen.“35

Die Gleichsetzung von Homosexualität und Judentum sowie der Versuch, die für eine Abschaffung des § 175 eintretenden Politiker der Weimarer Republik mit dem Stigma der Homosexualität in Verbindung zu bringen, kommt in den nationalsozialistischen Stellungnahmen zur Homosexualität sowohl vor als auch nach 1933 immer wieder zum Ausdruck. So heißt es in einer Ausarbeitung des Reichsjustizminsteriums über die „widernatürliche Unzucht“ (vermutlich von 1934):

„Von Interesse ist es, einmal nachzuprüfen, aus welcher Richtung die heftigsten Angriffe gegen den § 175 gekommen sind. Wenn diejenigen, die selbst von dem Laster befallen sind, die Strafbestimmung bekämpfen, so ist das nicht verwunderlich. Auffallen muß aber die Feststellung, daß es gerade jüdische und marxistische Kreise gewesen sind, die von jeher mit besonderer Vehemenz für die Abschaffung des § 175 gearbeitet haben.“36

Die ablehnende Haltung der Nationalsozialisten gegenüber der Homosexualität und ihre Forderungen einer Verschärfung der diesbezüglichen Strafbestimmungen bildeten einen krassen Gegensatz zu der Homosexualität Ernst Röhms, einer der wenigen Duz-Freunde Hitlers, der von diesem aus Bolivien zurückgeholt wurde und im Januar 1931 die Führung der SA übernahm. Insbesondere die Haltung Hitlers in dieser Frage erscheint von Interesse. Von seinem damaligen Vertrauten Otto Wagener auf die sexuelle Orientierung des zukünftigen SA-Stabschefs angesprochen, erklärte er, derartige Verfehlungen Röhms lägen lange zurück und spielten, so habe Röhm ihm versichert, in dessen Leben keine Rolle mehr. Im Zusammenhang mit der Rückkehr Röhms ist durch Wagener eine der wenigen

33 Vgl. hierzu z.B. Verena Steinecke: Menschenökonomie. Der medizinische Diskurs über den Geburtenrückgang von 1911 bis 1931. Pfaffenweiler 1996 sowie Peter Marschalck: Krise der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1880-1930. In: Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungstheorie in Geschichte und Gegenwart, hg. von Rainer Mackensen [u.a.]. New York 1989, S. 172-191. 34 Durch diese Bezeichnung wurden Juden als Nichtdeutsche ausgegrenzt. 35 VB, 2.8.1930. Abgedruckt in: Hans-Georg Stümke; Rudi Finkler: Rosa Winkel, Rosa Listen. Homosexuelle und „Gesundes Volksempfinden“ von Auschwitz bis heute. Reinbek 1981, S. 96. 36 Merkblatt betr. die widernatürliche Unzucht, von Assessor Oyen; BA R 22/973, fol. 69-108. 34 direkten Stellungnahmen Hitlers zur Homosexualität aus der Zeit vor 1933 überliefert. Dieser habe seinem Vertrauten gegenüber erklärt:

„Wir haben übrigens in der Geschichte mehrfach Anhaltspunkte, die zeigen, daß gerade besonders hervorragende Persönlichkeiten solchen Neigungen unterworfen sind, ein Moment, daß die Theorie des Würdigseins unterstützen könnte, aber die Gefahr aufzeigt, die in dieser Angelegenheit liegt. Wir müssen deshalb den Standpunkt vertreten, daß jede sexuelle Annäherung gleichen Geschlechtes unnatürlich ist, sie widerspricht dem Sinn der Paarung und dem göttlichen Gebot: mehret Euch. Deshalb ist eine solche Betätigung, gleichgültig welcher Art, sobald ein Mensch ins mannbare Alter gekommen ist, zu verbieten und zu bestrafen.“37

Demnach stand auch für Hitler das Argument einer möglichen Bevölkerungsreduzierung durch die Ausbreitung der Homosexualität im Vordergrund. Bei der Neubesetzung der SA-Führung war die homosexuelle Neigung Röhms für Hitler dennoch kein Ausschlußkriterium, hingegen griff er wenige Jahre später darauf zurück, als es ihm politischen und propagandistischen Nutzen brachte38.

Von Wagener wurde Hitler bereits bei Röhms Nominierung zum SA-Stabschef davor gewarnt, daß in bezug auf Röhms Homosexualität „böse Zungen zu reden anfangen“ und „besonders die uns feindliche Presse [...] vielleicht daraus Kapital schlagen [könnte]“39. Diese Befürchtungen Wageners erfüllten sich recht bald: Im April 1931 begann die sozialdemokratische Zeitung „Münchner Post“ eine breitangelegte Kampagne gegen die NSDAP, in deren Mittelpunkt die Homosexualität prominenter SA- und NSDAP-Mitglieder, darunter insbesondere Röhms, stand. Mit Schlagzeilen wie „Warme Bruderschaft im braunen Haus“40 oder „Schwulitäten“41 versuchte man, antihomosexuelle Einstellungen in der Bevölkerung gegen die aufstrebende Hitler-Partei zu nutzen. Die Hauptstoßrichtung dieser Artikel zielte auf die offensichtliche Diskrepanz zwischen der antihomosexuellen Haltung der Nationalsozialisten und der Homosexualität Röhms („nach außen sittliche Entrüstung, in den eigenen Reihen schamlosester Betrieb der widernatürlichen Unzucht“); des weiteren wurde insbesondere die Gefahr, die die Nationalsozialisten für „die moralische und körperliche Gesundheit der deutschen Jugend“ 42 bildeten, herausgestellt. Die Herausgeber der „Münchner Post“ verfolgten mit diesen Veröffentlichungen das Ziel, Homosexualität und

37 Otto Wagener: Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten, 1929-1932, hg. von Henry A. Turner. Kiel 21987, S. 198. 38 Vgl. Kapitel 2.4.1. 39 Ebd., S. 200. 40 Münchner Post, 22.6.1931. In Auszügen abgedruckt in: Stümke, Rosa Winkel, S. 122ff. 41 Münchner Post, 26.6.1931. In Auszügen abgedruckt in: Ebd., S. 129. 42 Aus dem Artikel „Warme Bruderschaft im braunen Haus“, Münchner Post, 22.6.1931. In Auszügen abgedruckt in: Ebd., S. 122ff. 35

Nationalsozialismus in den Augen der Leser eng miteinander zu verbinden und auf diese Weise nicht nur Röhm, sondern die gesamte NSDAP zu diskreditieren43. Nur wenige Zeitgenossen verurteilten diese Vorgehensweise gegen die nationalsozialistische Partei wie Kurt Tucholsky, der in der „Weltbühne“ darauf hinwies, daß man „seinen Gegner nicht im Bett aufsuchen“ solle und insbesondere die Sozialdemokraten „nicht in den Chor jener miteinstimmen [dürften], die einen Mann deshalb ächten wollen, weil er homosexuell ist“44. In der Tat stand die Pressekampagne gegen Röhm in krassem Widerspruch zu der vorgegebenen liberalen Haltung der Sozialdemokraten in der Frage der Strafbarkeit der Homosexualität45. Insofern erscheint die in einem Brief des WhK an den Parteivorstand der SPD formulierte Frage, ob man sich „nach wie vor der Unterstützung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bei Propagierung unserer Forderungen auf Streichung des § 175 versichert halten dürfe[]“46, nur allzu berechtigt.

Die Nationalsozialisten nahmen erst im Juni 1931 öffentlich zu den Anschuldigungen in der „Münchner Post“ Stellung. Im „Völkischen Beobachter“ charakterisierten sie die Methoden der sozialdemokratischen Presse als „Revolvermethoden“47 und zweifelten die Herkunft der wiedergegebenen Informationen an, machten jedoch, wie auch Röhm selber in einer Stellungnahme zu den gegen ihn gerichteten Vorwürfen, in der Sache selbst keine Aussagen. In der Folgezeit versuchte man von nationalsozialistischer Seite aus, dem Widerspruch zwischen der homosexuellen Neigung des SA-Stabschefs und der eigenen antihomosexuellen Propaganda dadurch zu begegnen, daß man das Thema Homosexualität weitgehend tabuisierte, was von Zeitgenossen vielfach als ein Umschwenken der NSDAP in der Homosexuellenfrage mißgedeutet wurde48.

43 Die von der „Münchner Post“ ausgegangene Aktion gegen Ernst Röhm spielte auch eine wichtige Rolle für die Entstehung des Stereotyps des „homosexuellen Nationalsozialisten“, das sich insbesondere in der zwischen 1933 und 1937 erschienenen deutschsprachigen Exilpresse festsetzte. Vgl. hierzu Jörn Meve: „Homosexuelle Nazis“. Ein Stereotyp in Politik und Literatur des Exils. Hamburg 1990 sowie Alexander Zinn: Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zur Genese und Etablierung eines Stereotyps. Frankfurt/M. [u.a.] 1997. 44 Ignaz Wrobel (Pseud. für Kurt Tucholsky): Röhm. In: Die Weltbühne 28 (1932), Nr. 17, S. 641. 45 Vgl. Kapitel 4.1.3.1. 46 Abgedruckt in: W.U. Eissler: Arbeiterparteien und Homosexuellenfrage. Zur Sexualpolitik von SPD und KPD in der Weimarer Republik. Berlin 1980, S. 111. 47 „Bestellte Arbeit der sozialdemokratischen Spitzelzentrale“. In: VB, 24.6.1931. In Auszügen abgedruckt in: Stümke, Rosa Winkel, S. 125f. 48 Vgl. hierzu Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990, S. 72ff. 36

2.2. Homosexualität in der nationalsozialistischen Programmatik

Daß ein solcher Gesinnungswandel keineswegs stattfand, zeigte sich spätestens, als die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme die Ausgrenzung und Verfolgung Homosexueller stufenweise radikalisierten. Von den Gegnern der Liberalisierungstendenzen in der Weimarer Republik wurde die „nationalsozialistische Revolution“ als „Wiedergeburt des deutschen Volkes“ begrüßt, die „der gesunden sittlichen Haltung zum Durchbruch, zu Kraft und Verbreitung“ verholfen und „in kürzester Zeit mit der ständigen Vergiftung der sittlichen Atmosphäre, mit Pornographie und Verwandtem in Presse, Schrifttum, Kunst und öffentlichen Darbietungen“ aufgeräumt habe49. Dem „humanitären Geschrei“50 und der „sittlichen Verwilderung“ sollte nun ein Ende bereitet und – anknüpfend an die Ordnungsdoktrin der Wilhelminischen Gesellschaft – ein „sauberes Reich“51 geschaffen werden. Diese Bestrebungen einer „sittlichen Erneuerung“ und die damit verbundenen Maßnahmen auch gegen Homosexuelle waren eingebettet in eine repressive Politik gegen alle diejenigen, die sich nicht in die strikt normierte soziale Ordnung einfügen konnten oder wollten und zum Teil verfolgt wurden, weil sie gewöhnlichen Vorstellungen einer „normalen“ Lebensführung nicht entsprachen. Sie wurden als „Gemeinschaftsfremde“ und „Asoziale“ aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt und zu Tausenden in „Arbeitserziehungslager“ und Konzentrationslager eingewiesen oder polizeilichen Überwachungsmaßnahmen unterstellt. Diesen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes waren sie weitgehend rechtlos ausgeliefert. Wie weit der Ermessensspielraum der Polizei bei der Verfolgung Devianter ausgedehnt werden sollte, zeigt der Entwurf des nicht mehr verabschiedeten „Gemeinschaftsfremdengesetzes“, in dem elementare Grundsätze des Rechtsstaates außer Kraft gesetzt wurden und die Kriterien der „Gemeinschaftsfremdheit“ beinahe jeden treffen konnten, der Normen alltäglichen Sozialverhaltens verletzte: „Nichtseßhafte Personen, die einen geordneten Erwerb ihres Lebensunterhalts nicht nachweisen können“, „seßhafte Personen, die ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise nicht auf rechtmäßige Weise erwerben“, „Arbeitsscheue“, „Personen, die durch ihre Lebensführung andere Volksgenossen in sittlicher Hinsicht gefährden [...]“, aber auch alle einmal inhaftierten Personen, „die

49 Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission von Prof. Dr. W. Grafen von Gleispach. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, hg. von Günter Grau. Frankfurt/M. 1993, Dok. 20, S. 97ff. 50 „Das sind Staatsfeinde!“. In: Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der Reichsführung SS, 4.3.1937, S. 1-2, hier S. 1. 51 Vgl. hierzu Hans Peter Bleuel: Das saubere Reich. Theorie und Praxis des sittlichen Lebens im Dritten Reich – ein bisher ungeschriebenes Kapitel deutscher Vergangenheit. Bern [u.a.] 1972. 37 nicht nachweisen können, daß sie mit dem Tage der Entlassung in geordnete Verhältnisse zurückkehren“52.

Von der deutschen Bevölkerung wurde die jegliche Form von Devianz unterdrückende nationalsozialistische Politik mehrheitlich positiv aufgenommen. Die Schaffung einer konfliktfreien, homogenen „Volksgemeinschaft“ schien vielen Deutschen das geeignete Mittel zur Lösung der Probleme zu sein, die sich aus der Erfahrung der Widersprüche und Unübersichtlichkeit einer modernen Industriegesellschaft ergaben. Hieraus erklärt sich, weshalb zur Errichtung dieser „Volksgemeinschaft“ auch die Anwendung von Gewalt als Maßnahme des Ausnahmezustandes mehrheitlich akzeptiert wurde. Gerechtfertigt wurden die Reaktionen der Bevölkerungsmehrheit auf abweichendes Verhalten durch Hinweise auf nationalsozialistische Vorstellungen, denen zufolge das Individuum dem Wohl der „Volksgemeinschaft“ unterstellt sei, sowie durch erbbiologische und rassenhygienische Vorstellungen: Soziale Außenseiter sollten durch ihre Verwahrung auf unbestimmte Zeit, bei der die physische Vernichtung bewußt in Kauf genommen wurde, entweder wieder zu „wertvollen“ Mitgliedern der „Volksgemeinschaft“ erzogen bzw. zumindest der Gesellschaft mit ihren Verhaltensweisen nicht weiter lästig werden oder aber daran gehindert werden, ihre Erbanlagen an die nächste Generation weiterzugeben53. In die Verfolgung von „Gemeinschaftsfremden“ wurden Personen, die durch eine „Abartigkeit des Trieblebens“ gekennzeichnet seien, von Anfang an einbezogen. Unter diesen Personenkreis fielen auch Homosexuelle, Prostituierte sowie Zuhälter. Homosexuelle wurden somit über die fortbestehende Kriminalisierung der Ausübung ihrer Sexualität hinaus mit dem Stigma der „Gemeinschaftsfremdheit“ belastet, da sie sich als Minderheit mit eigenem Lebensstil dem absoluten Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten entzogen.

Die nationalsozialistische Begründung einer repressiven Antihomosexuellenpolitik orientierte sich im wesentlichen an vier Gesichtspunkten:

1. Homosexualität als Bedrohung des Bevölkerungswachstums,

2. Homosexuelle „Cliquenwirtschaft“,

3. „Verführung“ Jugendlicher,

52 Patrick Wagner: Das Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder. Die Kriminalpolizei und die „Vernichtung des Verbrechertums“. In: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik, hg. von Wolfgang Ayaß [u.a.], Berlin 1988, S. 75-100, hier S. 81. 53 Vgl. hierzu Detlev J. K. Peukert: Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, hg. von Dan Diner. Frankfurt/M. 1987, S. 51-61, hier S. 58ff. 38

4. Gefährdung der „öffentlichen Sittlichkeit“.

Zu 1.: Homosexualität als Bedrohung des Bevölkerungswachstums

Homosexualität galt ebenso wie Abtreibung als eine Verweigerung gegenüber nationalsozialistischer Familienplanung und Bevölkerungspolitik und als Bedrohung für das Bevölkerungswachstum54. Die pronatalistische Bevölkerungspolitik gegenüber den als „rassisch wertvoll“ geltenden Deutschen war eine Grundlage der aggressiven nationalsozialistischen Expansionspolitik – nur eine hohe Geburtenrate, so Heinrich Himmler, könne den Deutschen „die Anwartschaft auf die Weltmacht und Weltbeherrschung“ sichern55. Insbesondere während der Kriegszeit wurde von führenden Nationalsozialisten immer wieder auf die Bedeutung einer hohen Geburtenrate hingewiesen. Die tatsächlichen Gefallenenzahlen deutlich falsch wiedergebend, erklärte Hitler im Januar 1942: „Unsere Rettung wird das Kind sein! Wenn uns dieser Krieg eine Viertelmillion Tote und 100.000 Verkrüppelte kostet, sind sie uns in dem Geburtenüberschuß wiedergeschenkt, den das deutsche Volk von der Machtübernahme an aufweisen kann“56. Ihre Unfähigkeit zur Zeugung von Nachkommen wurde im Nationalsozialismus zu einem Hauptargument in der Rechtfertigung der gegen Homosexuelle gerichteten Sanktionen. So erklärte Himmler am 18. Februar 1937 in einer Rede vor SS-Gruppenführern:

„Ich bitte Sie, sich das einmal zu vergegenwärtigen. Wir haben in Deutschland nach den neuesten Volkszählungen wohl 67 bis 68 Millionen Menschen, das bedeutet an Männern, wenn ich ganz rohe Zahlen nehme, rund 34 Millionen. Dann sind an geschlechtsfähigen Männern (also an Männern über 16 Jahren) ungefähr 20 Millionen vorhanden. Es kann hier eine Million fehlgegriffen sein, das spielt aber keine Rolle. Wenn ich ein bis zwei Millionen Homosexuelle annehme, so ergibt das, daß ungefähr 7-8-10 % der Männer in Deutschland homosexuell sind. Das bedeutet, wenn das so bleibt, daß unser Volk an dieser Seuche kaputtgeht. Ein Volk wird es auf die Dauer nicht aushalten, daß sein Geschlechtshaushalt und Gleichgewicht derartig gestört ist. Wenn Sie weiter die Tatsache noch mit in Rechnung stellen, die ich nicht in Rechnung gezogen habe, daß wir bei einer gleichbleibenden Zahl von Frauen rund zwei Millionen Männer zu wenig haben, die im Krieg gefallen sind, dann können Sie sich vorstellen, wie dieses Übergewicht von zwei Millionen Homosexuellen und zwei Millionen Gefallenen, also rund vier Millionen fehlender geschlechtsfähiger Männer

54 Vgl. hierzu allgemein Nina Oxenius: Zucht und Unzucht. Homosexuelle und die NS-Bevölkerungsideologie. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 48-55 sowie Hans-Georg Stümke: Vom „unausgeglichenen Geschlechtshaushalt“. Zur Verfolgung Homosexueller. In: Verachtet, Verfolgt, Vernichtet, hg. von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS- Regimes. Hamburg 1988, S. 47-63. 55 Heinrich Himmler. Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen, hg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson. Frankfurt/M. 1974, hier S. 94. Vgl. zur Person Heinrich Himmlers ausführlich das Kapitel „Heinrich Himmler. Kleinbürger und Großinquisitor“ bei Joachim C. Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft. München 1963, S. 156-174. 56 Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-42, eingeleitet und veröffentlicht von Gerhard Ritter. Bonn 1951, S. 323. 39

den Geschlechtshaushalt Deutschlands in Unordnung bringt und zu einer Katastrophe wird.“57

Schon die stark vereinfachten Zahlenangaben, die Himmler nannte, zeugen von einer mangelnden Bereitschaft zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Homosexualität“. Eine ähnlich abwegige Berechnung des Anteils Homosexueller an der männlichen Bevölkerung konnte man einem Artikel des SS-Organs „Das Schwarze Korps“ entnehmen. Von zwei Millionen in Deutschland lebenden Männern ausgehend, heißt es dort: „Zieht man von der Gesamtzahl männlicher Reichsangehöriger die Kinder und Greise ab, so stellen zwei Millionen zehn Prozent der erwerbsfähigen, im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte stehenden Männer dar.“ Im Interesse der „Erhaltung und Stärkung der deutschen Volkskraft“ müsse deshalb eine Ausbreitung der Homosexualität verhindert werden:

„Ein Volk, das vor der Aufgabe steht, seine jährliche Geburtenziffer um 1,5 Millionen zu erhöhen, kann es sich nicht leisten, auf einen großen Teil seiner Väter zu verzichten, nur weil diese Opfer einer durch Jahrzehnte ungehemmten, gegen den deutschen Volkskörper gerichteten Zermürbungstaktik geworden sind. Damit ist die volkspolitische Aufgabe umrissen, die zu bewältigen ist. Die Aufgabe wurde angepackt zunächst ohne Rücksicht auf das Für und Wider der Gelehrten, die sich die Köpfe über das 'Wesen' der Seuche zerbrachen.“58

Ehe, Sexualität und Fortpflanzung waren im nationalsozialistischen Staat keine Privatsache mehr, sondern wurden zu einer Angelegenheit des Staates, dienten sie doch „dem einen größeren Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse“, so Hitler in „Mein Kampf“59. Himmler ging sogar so weit, daß er seinen Gruppenführern gegenüber erklärte:

„Es gibt unter den Homosexuellen Leute, die stehen auf dem Standpunkt: was ich mache, geht niemanden etwas an, das ist meine Privatangelegenheit. Alle Dinge, die sich auf dem geschlechtlichen Sektor bewegen, sind jedoch keine Privatangelegenheit eines einzelnen, sondern sie bedeuten das Leben und das Sterben des Volkes [...].“60

Die Bedeutung, die führende Nationalsozialisten der Homosexualität im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung zumaßen, kommt in der Untersuchung Rudolf Klares über die Einstellung verschiedener Staaten zur Homosexualität zum Ausdruck. Staaten, in denen Freizügigkeit gegenüber Homosexuellen herrsche, so Klare, würden Symptome absterbender Völker zeigen. Ein Staat sei

57 Himmler, Geheimreden, S. 93f. 58 „Das sind Staatsfeinde!“, S. 1. 59 Adolf Hitler: Mein Kampf. München 151/1521935, S. 275f. 60 Himmler, Geheimreden, S. 94. 40 deshalb „dem Niedergang geweiht [...], wenn er nicht dem Umsichgreifen homosexuellen Verkehrs die entschiedensten Gegenmaßregeln entgegensetzt.“61

Neben der Homosexualität wurde auch die Abtreibung als Hemmnis des angestrebten Geburtenanstiegs gesehen. Homosexualität und Abtreibung wurden während des Nationalsozialismus aufgrund ihrer vermeintlichen bevölkerungspolitischen Dimension in einen engen Zusammenhang gebracht – Ausdruck hiervon war die Bearbeitung durch eine Reichszentrale, der 1936 errichteten Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung62. Für beide „Delikte“ galten zudem in den von Deutschland besetzten Gebieten je nach deren bevölkerungspolitischem Stellenwert unterschiedliche Bestimmungen: In Polen sollte bei Verstößen gegen §§ 175 und 218 keine Anklage erhoben werden, wenn alle Beteiligten Polen waren, da die Strafrechtsbestimmungen in erster Linie „dem Schutz des deutschen Volkes“ dienten63. Vielmehr sollten die deutschen Gerichte „in ihren Entscheidungen darauf bedacht sein, das fremde – besonders das polnische Volkstum – in seiner biologischen Kraft nicht noch zu fördern, zumal es nach wie vor seine Vitalität in stärkerem Maße unter Beweis stellt als das Deutschtum in den Ostgebieten.“64 Da jedoch bei „Straftaten gegen §§ 175, 175a StGB und bei Lohnabtreibungen [...] die Gefahr einer Breitenwirkung fast regelmäßig vorhanden“ sei, wurde im Juni 1942 ergänzend verfügt, daß der Täter anstelle einer strafrechtlichen Verfolgung „so schnell wie möglich aus dem Inland in eine Gegend abgeschoben wird, in der die Gefahr einer Ansteckung der deutschen Bevölkerung in keiner Weise vorhanden ist.“65 Anders wurde in den Niederlanden und in den besetzten Gebieten Frankreichs vorgegangen. Hier wurde die bisherige Straflosigkeit einvernehmlich vorgenommener homosexueller Handlungen unter Erwachsenen durch die Strafbestimmungen des deutschen Reichsstrafgesetzbuches ersetzt66.

61 Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 12. 62 Vgl. hierzu Kapitel 3.4. 63 Vertrauliches Rundschreiben des Reichsjustizministers an die Generalstaatsanwälte, 22.1.1941. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 69, S. 263. (Hervorhebung im Original). 64 Schreiben Martin Bormanns an den Reichsminister der Justiz, 3.6.1942. Auszugsweise abgedruckt in: Ebd., Dok. 71, S. 265f. 65 Schreiben des Reichsministers der Justiz an den Leiter der Partei-Kanzlei, 30.6.1942. Auszugsweise abgedruckt in: Ebd., Dok. 72, S. 267. Im Zusammenhang mit den Zielen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik soll Hitler sogar einen „schwungvollen Handel mit Verhütungsmitteln in den Ostgebieten“ als „Vorkehrungsmaßnahme[] gegen eine Vermehrung der nichtdeutschen Bevölkerung“ vorgeschlagen haben. In: Hitlers Tischgespräche, S. 115f. 66 Siehe hierzu Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 74-80, S. 268-275. 41

2. Homosexuelle „Cliquenwirtschaft“

Homosexuelle würden darüber hinaus das in der Gesellschaft geltende Leistungsprinzip unterhöhlen. Grundsätzlich, so die Ansicht führender Nationalsozialisten, richte sich die Vergabe von Stellen im Staat und in der Wirtschaft ausschließlich nach der erbrachten Leistung der Bewerber. Probleme ergäben sich bei der Einstellung von Frauen, da dann ein „erotisches Prinzip“67 die Auswahl beeinflusse. So habe Hitler gegenüber Rudolf Diels erklärt: „Sehen Sie, wenn ich die Wahl habe zwischen einer schönen, aber unfähigen Sekretärin und einer, die tüchtig, aber häßlich ist, so entscheide ich mich doch allzu leicht für die schöne Unfähige“68. Die Durchsetzung des Leistungsprinzips funktioniere nur deshalb, weil die Frau eine angeblich naturgegebene, inferiore Rolle in der Gesellschaft einnehme bzw., wie Hitler es ausdrückte, weil darin „die große Weisheit der Natur [läge], daß sie normalerweise diesen Sinn [die Leidenschaft] auf das andere Geschlecht gerichtet habe, das im Staatsleben nichts zu sagen habe“69. Bei Homosexuellen würde dagegen – einmal in die entsprechenden Positionen gelangt – auch in der Auswahl männlicher Mitarbeiter eine sexuelle Selektion stattfinden. Die Folge sei, so Himmler gegenüber seinem Masseur Kersten, daß „der normal Veranlagte zurückgesetzt und die schiefe Welt des Homosexuellen [...] maßgebend“ werde. Gegenüber den SS-Gruppenführern formulierte Himmler seine Befürchtungen noch eindringlicher:

„Wenn Sie an irgendeiner Stelle einen so veranlagten Mann im Männerstaat haben, der etwas zu sagen hat, können Sie mit Sicherheit drei, vier, acht, zehn und noch mehr gleichveranlagte Menschen finden; denn einer zieht den anderen nach, und wehe, wenn da ein oder zwei Normale unter diesen Leuten sind, sie werden in Grund und Boden verdammt, sie können machen[,] was sie wollen, sie werden kaputtgemacht. [...] Homosexualität bringt also jede Leistung, jeden Aufbau nach Leistung im Staat zu Fall und zerstört den Staat in seinen Grundfesten.“70

Vor allem für die ausschließlich aus männlichen Mitgliedern bestehenden NS-Organisationen und die Wehrmacht wurde diese vermeintlich drohende Gefahr einer homosexuellen „Günstlings- Wirtschaft“71 gesehen. Immer wieder wurde in diesem Fall auf die Röhm-Affäre verwiesen, bei der sich angeblich gezeigt habe, „daß ein Homosexueller alle maßgebenden Stellen mit anderen

67 Himmler, Geheimreden, S. 95. 68 Rudolf Diels: Lucifer ante Portas. ...es spricht der erste Chef der Gestapo ... . Stuttgart 1950, S. 382. 69 Ebd., S. 381f. 70 Himmler, Geheimreden, S. 96. 71 Aktenvermerk aus dem Führerhauptquartier, 19.8.1941. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 53, S. 213f. 42

Homosexuellen besetzt“72. Insbesondere in der HJ, wo die Gefahr der „Verführung“ Jugendlicher besonders groß sei, müsse darauf geachtet werden, daß „nicht homosexuelle Führer zu ihren nächsten vertrauten Unterführern solche machen, mit denen sie durch für andere undurchsichtige Bande der Männerliebe verbunden sind“73.

Besonders schwerwiegend sei die vermeintliche Neigung Homosexueller zur Bildung von Cliquen in Wirtschaft und Staat, da Homosexuelle die Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung unterstützen würden und ihnen dabei „der Verrat, der Meineid, der Wortbruch und dergleichen hemmungslos geläufig werden“74. Homosexuelle bildeten somit „einen Staat im Staate, eine geheime, den Interessen des Volkes zuwiderlaufende, also staatsfeindliche Organisation“75 – eine derartige Verschwörung der Homosexuellen zur Unterwanderung der Gesellschaft verlief nach nationalsozialistischer Vorstellung parallel zur allgemeinen Weltverschwörung der Juden76.

3. „Verführung“ Jugendlicher

Homosexuelle „verführten“ nach nationalsozialistischer Auffassung Jugendliche zur Homosexualität. Soweit in der im „Dritten Reich“ betriebenen Homosexuellenforschung Homosexualität als „erworben“ angesehen wurde77, ging man davon aus, daß der Geschlechtstrieb des Menschen durch eine hetero- und eine homosexuelle Richtung geprägt sei. Insbesondere bei Jugendlichen bestehe die Gefahr, daß ein erstes „gleichgeschlechtliche[s] Erlebnis die homosexuelle Triebkomponente erweckt und anfacht und den Jugendlichen womöglich sein ganzes Leben lang an diese homosexuelle Triebrichtung bindet und damit die andere heterosexuelle zurückdrängt.“78 Auf diese Weise wirke Homosexualität gleichsam ansteckend, und da den Homosexuellen ein Mangel an Triebbeherrschung unterstellt wurde79, bestehe die Gefahr einer massiven Ausbreitung. In diesem Sinn soll Hitler gegenüber Diels erklärt haben, die Homosexualität „habe das alte Griechenland zugrunde gerichtet. Ihre ansteckende Wirkung erstrecke sich mit der Sicherheit eines Naturgesetzes auf die besten und

72 Ebd. 73 Wilhelm Erdle: Angriffe auf die Sittlichkeit Jugendlicher und Angriffe Jugendlicher auf die Sexualität. Köln 1939, S. 45. 74 Rudolf Klare: Die Homosexuellen als politisches Problem. 2. Teil: Die weibliche Homosexualität. In: Der Hoheitsträger 2 (1938), H. 3, S. 14-17, hier S. 17. 75 „Das sind Staatsfeinde!“, S. 2. 76 Mosse, Nationalsozialismus und Sexualität, S. 176. 77 Vgl. Kapitel 2.3. 78 Erdle, Angriffe auf die Sittlichkeit, S. 44. 79 In ähnlicher Weise bediente sich auch der Rassismus des Stereotyps der sog. minderwertigen Rasse, die von Wollust beherrscht werde. Vgl. hierzu Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 170. 43 männlichsten Charaktere, wenn sie einmal grassiere; sie schalte schließlich gerade diejenigen von der Fortpflanzung aus, auf deren Nachkommen ein Volk angewiesen sei.“80

4. Gefährdung der „öffentlichen Sittlichkeit“

Sexuelle Beziehungen zwischen Menschen gleichen Geschlechts würden „das gesunde Sittlichkeitsgefühl der ganz überwiegenden Mehrheit des Volkes“81 verletzen, das der Staat durch die Strafverfolgung homosexueller Handlungen zu schützen versuche. Durch die Homosexualität entstehe folglich die Gefahr der „sittlichen und haltungsmäßigen Zersetzung der völkischen Gemeinschaften und ihrer Zentralen“82.

Homosexuelle waren nach der nationalsozialistischen Propaganda somit als gefährlich, abnorm und krank anzusehen83. Hinzu kam, daß insbesondere Himmler, dessen ausgeprägte Homophobie in seinen Reden zum Ausdruck kam, in den Homosexuellen feige und krankhafte Lügner sah, die keine Loyalität kannten und sich gegenseitig denunzierten84 – mit letzterem widersprach er freilich seiner eigenen Konspirationstheorie. Homosexuelle wurden darüber hinaus als „weichliche, unzuverlässige [...], einerseits kriecherische, andererseits herrschsüchtige Naturen“ dargestellt, die „auf die Dauer außerstande waren, in einer Gemeinschaft positive Funktionen auszuüben“85. Immer wieder wurde Homosexualität auch mit dem Judentum assoziiert; insbesondere wurde die Tatsache, daß auch der Sexualforscher Hirschfeld Jude war, als Indiz für das Bestehen einer Verbindung beider Außenseitergruppen herangezogen86. Für eine Minderheit, die ihr in dieser Weise präsentiert wurde, konnte die Gesellschaft kaum ein akzeptierendes Verständnis aufbringen. Die Rechtfertigung der Sanktionen fiel mit Hilfe der so konstruierten unmittelbaren und ernstzunehmenden Gefahr, die Homosexuelle angeblich für die Gesellschaft darstellten, nicht schwer. Die Argumente, die dazu verwendet wurden, waren keineswegs neu, sondern knüpften an eine tiefverwurzelte Homophobie der Bevölkerungsmehrheit an. Neu war im Nationalsozialismus allerdings die immense Steigerung antihomosexueller Typisierungen, die dazu führte, daß Homosexuelle von „gewöhnlichen Kriminellen“ und sozialen Außenseitern zu „Staatsfeinden“ umbewertet wurden. In diesem Sinne

80 Diels, Lucifer ante portas, S. 381. 81 Merkblatt betr. die widernatürliche Unzucht, von Assessor Oyen; BA R 22/973, fol. 69-108. 82 Klare, Die Homosexuellen als politisches Problem, S. 17. 83 Zur Kontinuität dieser Bilder von Homosexuellen in der Gesellschaft vgl. Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977, S. 9ff. 84 Himmler, Geheimreden, S. 96f. 85 „Das sind Staatsfeinde!“, S. 1. 86 Vgl. Mosse, Nationalismus und Sexualität, S. 178ff. 44 hatte Josef Meisinger, Leiter der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, die rigorose Verfolgungspraxis gegenüber Homosexuellen mit den Worten begründet:

„Will man die Gefahr, die die Homosexualität in sich birgt, richtig erkennen, so kann man sie heute nicht mehr allein unter dem engen kriminellen Gesichtswinkel betrachten, wie das früher geschehen ist. Infolge ihrer heutigen ungeheuren Verbreitung hat sie sich vielmehr zu einer Erscheinung herausgebildet, die für den Bestand von Volk und Staat von weittragendster Bedeutung ist. Damit hat aber die Homosexualität die Grenzen einer rein kriminalistischen Betrachtungsweise überschritten und ist zu einem Problem von politischer Bedeutung geworden.“87

Bereits zwei Monate vorher hatte Himmler in ähnlicher Weise vor den Leitern von Kriminal- und Staatspolizeidienststellen erklärt: „Die homosexuellen Männer sind Staatsfeinde und als solche zu behandeln. Es geht um die Gesundung des deutschen Volkskörpers, um die Erhaltung und Stärkung der deutschen Volkskraft.“88 Diese Umbewertung der Homosexualität in der nationalsozialistischen Programmatik wirkte sich schließlich auch auf die Intensität der Verfolgung von Homosexuellen oder als Homosexuelle verdächtigen Personen aus89.

Die erstrebte Eindämmung der Homosexualität, so nahm man an, werde erschwert durch die Formen modernen menschlichen Zusammenlebens. So sei Homosexualität unter anderem auf die zunehmende Verstädterung und eine „Übersättigung an Lebensgenüssen“90 zurückzuführen. „Das Dorf“, so Himmler, „kennt diese Probleme nicht“ und habe „seine natürliche und gesunde Regelung all dieser Fragen“91. In derartige Erklärungen mischte sich vereinzelt sogar eine Kritik an der Ausgestaltung des Alltagslebens insbesondere Jugendlicher im Nationalsozialismus: Homosexualität werde, so Himmler, in ihrer Ausbreitung begünstigt durch eine Vermännlichung der Gesellschaft. In seiner Rede vor SS-Gruppenführern erklärte er:

„Wir dürfen die Qualitäten des Männerstaates und die Vorzüge des Männerbundes nicht zu Fehlern ausarten lassen. Wir haben insgesamt m.E. eine viel zu starke Vermännlichung unseres ganzen Lebens, die so weit geht, daß wir unmögliche Dinge militarisieren [...]. Ich empfinde es als Katastrophe, wenn ich Mädel und Frauen sehe, die mit einem wunderbar gepackten Tornister durch die Gegend ziehen. Da kann einem schlecht werden. Ich sehe es als Katastrophe an, wenn Frauenorganisationen, Frauengemeinschaften, Frauenbünde sich auf einem Gebiet betätigen, das jeden weiblichen Reiz, jede weibliche Würde und Anmut

87 Vortrag Kriminalrat Meisinger am 5./6. April 1937 in Berlin. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 38, S. 147ff., hier S. 152. 88 Zit. nach Stümke, Homosexuelle in Deutschland, S. 113. 89 Vgl. auch Günter Grau: Verfolgung und Vernichtung 1933-1945. Der § 175 als Instrument faschistischer Bevölkerungspolitik. In: Die Geschichte des § 175. Strafrecht gegen Homosexuelle. Katalog zur Ausstellung. Berlin 1990, S. 105-117, hier S. 109. 90 Vortrag Kriminalrat Meisinger am 5./6. April 1937 in Berlin. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 38, S. 147ff., hier S. 153. 91 Himmler, Geheimreden, S. 98. 45

zerstört. Ich sehe es als Katastrophe an, wenn [...] wir Narren von Männern die Frauen zu einem logischen Denkinstrument machen wollen, sie in allem schulen, was überhaupt nur möglich ist, wenn wir die Frauen so vermännlichen, daß mit der Zeit der Geschlechtsunterschied, die Polarität verschwindet. Dann ist der Weg zur Homosexualität nicht weit.“92

Himmler wies in seinen Reden immer wieder auf die Bestimmung der Frau zu Mutterschaft und Ehe hin und vertrat damit die frauenpolitischen Ideal- und Propagandavorstellungen der Nationalsozialisten. Die vermeintliche Vermännlichung der Frauen führte nach seiner Ansicht zu einer Verwischung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und damit der Geschlechterpolarität. Es werde dadurch die Ausbreitung der Homosexualität unter Frauen wie unter Männern gefördert. Hierin lag auch ein Vorwurf an die Homosexuellen selbst: Auch ihnen wurde vorgehalten, daß sie die Differenz in den Verhaltensvorschriften für Männer und Frauen überschritten. Die gegen Homosexuelle verhängten Sanktionen sowie das Zurückdrängen der Bestrebungen, der Frau in der modernen Gesellschaft eine gleichberechtigte Rolle zu verschaffen, verliefen somit parallel und bedingten einander gegenseitig93. Als negativ bewertete es Himmler darüber hinaus, daß die in den NS-Formationen organisierten Jugendlichen aufgrund der dort praktizierten Geschlechtertrennung kaum Gelegenheit zum Kontakt mit dem anderen Geschlecht hätten94.

Wenn auch im „Dritten Reich“ keine genuin nationalsozialistische Homosexualitätsideologie entwickelt wurde, so bestand jedoch ein entscheidender Kontinuitätsbruch zu der Zeit vor 1933 hinsichtlich der geforderten Sanktionen gegenüber Homosexuellen. Während in der Weimarer Zeit die Vertreter einer Entkriminalisierung homosexueller Handlungen zwischen Männern auf ein akzeptierendes Verständnis gegenüber dieser Minderheit hingewirkt hatten, nahmen während des Nationalsozialismus die Rufe nach einer wirkungsvollen Eindämmung der Homosexualität kein Ende. Abgesehen von vereinzelten Vorschlägen einer „positiven“ Steuerung der sog. Homosexuellenfrage – so forderte z.B. Himmler, den männlichen Jugendlichen „zum ritterlichen Mann“ und „zum jungen Kavalier“ zu erziehen und die Schließung von Frühehen zu ermöglichen95 –, wurde immer stärker eine Verschärfung der strafrechtlichen Bestimmungen gegenüber homosexuellen Straftätern verlangt,

92 Ebd., S. 99. 93 Aus der Beobachtung dieser Parallelität zwischen der Zurückdrängung der Emanzipationsbestrebungen der Frauen wie auch der Homosexuellen leitet Lautmann seine These ab, wonach die Verwischung der Geschlechterpolarität die Diskriminierung von Homosexuellen begründe; vgl. Lautmann, Zwang zur Tugend, insbesondere Kapitel 11: „Mann/Frau und Hetero/Homo – gleiche Fronten?“, S. 223-236; vgl. auch Kapitel 6 dieser Arbeit. 94 Himmler, Geheimreden, S. 101. 95 Ebd. 46 insbesondere die Heraufsetzung der sog. Schutzaltersgrenze möglichst auf das 25. Lebensjahr96 sowie die Anwendung des § 175 auch bei weiblicher Homosexualität97. Diese Forderungen zielten auf eine generelle Ausweitung der Verfolgung Homosexueller und gipfelten, zumindest was die als „unverbesserlich“ angesehenen Homosexuellen betraf, in der Forderung nach deren „Ausrottung“. Da war die Rede vom „rücksichtslose[n] Kampf [...] auch auf dieser Front [gegen die Homosexuellen]“, vom „Kampf gegen diese Volksseuche“, von „Staatsverbrecher[n]“, die „als solche zu behandeln“ und „auszumerzen“ seien98, sowie vom „Ausschluß der Invertierten aus der Gemeinschaft“99. Gerne wurde in diesem Zusammenhang auf die vermeintlich natürliche Ablehnung gleichgeschlechtlicher Handlungen bei den „nordisch-germanischen“ Völkern hingewiesen, die die „germanischen Staaten“ in der Beurteilung der Homosexualität als „geschlossene[n] Block dem westlichen Kulturkreis gegenüber“ stellten. Nur die „Überfremdung nordischen Empfindens“ habe die Todesstrafe bei Homosexualitätsdelikten verdrängt und die Homosexualität unter die Sittlichkeitsdelikte eingereiht, wodurch sich der Bewertungsmaßstab vollständig verschoben habe100. Die Todesstrafe gegen den homosexuellen Täter sei in den Augen der „germanisch empfindenden Menschen die notwendig gewordene Ausmerzung rassisch entarteter Menschen“ gewesen101. Dieser Rückgriff auf angeblich überlieferte germanische Rechtsvorstellungen findet sich in der nationalsozialistischen Propaganda gegen Homosexuelle immer wieder. Auf einen keineswegs eindeutigen Hinweis in Tacitus’ „Germania“, nach der bei den Germanen Homosexuelle angeblich durch Versenken im Sumpf getötet worden seien, bezog sich Himmler, als er ausführte:

„Das war nicht eine Strafe, sondern das war einfach das Auslöschen dieses anormalen Lebens. Das mußte entfernt werden, wie wir Brennesseln ausziehen, auf einen Haufen werfen und verbrennen. Das war kein Gefühl der Rache, sondern der Betreffende mußte weg. So war es bei unseren Vorfahren. Bei uns ist das leider, muß ich sagen, nicht mehr möglich.“102

Da also, wie Himmler bedauerte, der angeblich von den Germanen praktizierte Umgang mit Homosexuellen im 20. Jahrhundert nicht mehr anzuwenden war, sollte mit Hilfe der im

96 H. Thiele: Die nordisch-germanische Auffassung über die Invertierten. In: Volk und Rasse 14 (1939), S. 103- 106, hier S. 105. 97 Vgl. Kapitel 2.6. 98 „Das sind Staatsfeinde!“. In: Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der Reichsführung SS, 4.3.1937, S. 1-2, hier S. 2. 99 Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 127. 100 „Widernatürliche Unzucht ist todeswürdig.“ In: Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der Reichsführung SS, 22.5.1935, S. 13. 101 Thiele, Nordisch-germanische Auffassung, S. 103. 102 Himmler, Geheimreden, S. 97. 47

Nationalsozialismus geschaffenen Methoden gegen Homosexuelle vorgegangen werden. Hinsichtlich der Handhabung von Homosexualitätsdelikten bei Angehörigen der SS erklärte Himmler gegenüber SS-Führern:

„Diese Leute werden selbstverständlich in jedem Fall öffentlich degradiert und ausgestoßen und werden dem Gericht übergeben. Nach Abbüßung der vom Gericht festgesetzten Strafe werden sie auf meine Anordnung in ein Konzentrationslager gebracht und werden im Konzentrationslager auf der Flucht erschossen.“103

Diese Äußerung spiegelt Himmlers unverkennbare Aversion gegenüber Homosexuellen wider, tatsächlich praktiziert wurde ein solches Vorgehen zu diesem Zeitpunkt jedoch vermutlich kaum, zumal der Inhalt der Rede, so Himmler, nicht für Führerbesprechungen bestimmt sei, sondern „in einzelnen Unterhaltungen gesprächsweise dem einen oder anderen“ weitergegeben werden sollte104.

Von den programmatischen Äußerungen der Nationalsozialisten zum Umgang mit Homosexuellen kann nicht ohne weiteres auf die konkrete Politik gegenüber dieser Minderheit geschlossen werden, worauf bereits in Kapitel 1.2. hingewiesen wurde. Inwiefern diese Verlautbarungen in der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik handlungsleitend wurden, wird noch zu zeigen sein.

2.3. Nationalsozialistische Homosexuellenforschung

Die konkrete Verfolgungspraxis der Nationalsozialisten gegenüber Homosexuellen oder zu Homosexuellen erklärten Personen ist vor dem Hintergrund der auch im Nationalsozialismus fortgeführten Homosexuellenforschung zu sehen. Diese revidierte in weiten Teilen die Erkenntnisse der Sexualwissenschaft aus der Weimarer Zeit, die wesentlich zu einer freizügigeren Einstellung gegenüber Homosexuellen und zu einer weniger rigorosen Anwendung der diesbezüglichen Strafrechtsbestimmungen beigetragen hatten. In der Strafrechtswissenschaft sollte den Erkenntnissen aus vornationalsozialistischer Zeit deshalb nur wenig Bedeutung zugemessen werden – schließlich könne „vom heutigen Gesetzgeber nicht verlangt werden, daß er Erkenntnisse, die einer analysierenden Wissenschaft des Liberalismus entsprungen sind[] und die keineswegs das Merkmal

103 Ebd. 104 Ebd. Offiziell wurde die Androhung der Todesstrafe für homosexuelle SS-Mitglieder schließlich in dem „Erlaß des Führers zur Reinhaltung von SS und Polizei“ vom 15.11.1942 eingeführt (Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 62, S. 244); über die Durchführung des Erlasses liegen jedoch kaum Informationen vor. 48 eindeutiger, unumstößlicher, wissenschaftlicher Wahrheit tragen, seinen Entscheidungen zugrunde legt“105.

Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Sexualforschung stand die Auseinandersetzung mit dem reproduktiven Verhalten der Bevölkerung, und vorwiegend unter diesem Gesichtspunkt wurde auch die Homosexuellenfrage diskutiert. Wie schon vor 1933 kam der Frage nach den Ursachen der Homosexualität auch in der nationalsozialistischen Homosexualitätsforschung große Bedeutung zu106. Ein einheitliches Meinungsbild über die Entstehung und Verbreitung der Homosexualität wurde aber auch während des Nationalsozialismus nicht entwickelt, sondern es gab verschiedene konkurrierende Ansätze, wobei die Ablehnung der Homosexualität in jedem Fall außer Frage stand.

Eine Minderheit unter den nationalsozialistischen Wissenschaftlern bildeten diejenigen, die im Sinne der sog. Rassenbiologie Homosexualität als eine Erscheinung der „Rassenentartung“ infolge von „Rassenvermischung“ beschrieben. Ausgehend von der Vorstellung, jede Rasse werde durch eine spezifische „Geschlechts-“ bzw. „Sexualspannung“ charakterisiert, folgerte z.B. Lothar Gottlieb Tirala, Direktor des Instituts für Rassenhygiene an der Universität München, daß bei der Vermischung von Rassen mit unterschiedlicher Geschlechtsspannung „Entartung“ eintrete. Eine dieser „Entartungen“ nach der ersten Kreuzung zweier Rassen sei die männliche Homosexualität. Bei einer neuen Kreuzung mit einer weiteren Rasse mit anderer Geschlechtsspannung äußere sich die „Entartung“ in weiblicher Homosexualität107. Einen ähnlich engen Zusammenhang zwischen Rasse und der Entstehung von Homosexualität sah Klare, der den Nachweis zu führen versuchte, daß „der Widerstand [gegen die Homosexualität] in demselben Maße schwindet, als das Rassebewußtsein der Völker nachläßt“108.

Größere Bedeutung kam in der Diskussion über die Ursachen der Homosexualität der Frage nach der Erblichkeit der Homosexualität bei. Beharrlicher Vertreter der Annahme einer erblich bedingten Homosexualität war der Münchner Psychiater Theo Lang. Er ging davon aus, daß es sich bei dem Großteil der Homosexuellen um genetisch bedingte „Intersexformen“ handele. Als „Umwandlungsmännchen“ wiesen Homosexuelle zwar die äußeren Geschlechtsmerkmale eines Mannes auf, ihr Chromosomensatz sei jedoch der einer Frau. Diese These glaubte er durch

105 Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 117. 106 Vgl. zum folgenden auch Burkhard Jellonnek: Homosexuellenforschung im Dritten Reich. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 221-225 sowie im gleichen Band Claudia Schoppmann: Nationalsozialismus und Forschung zur weiblichen Homosexualität. S. 215-220. 107 Lothar Gottlieb Tirala: Rasse, Geist und Seele. München 1935, S. 65ff. 108 Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 12. 49 statistische Untersuchungen des Geschlechterverhältnisses in den Familien Homosexueller belegen zu können: Demnach seien die Geschwisterreihen von Homosexuellen zugunsten des männlichen Geschlechts verschoben, da „unter den äußerlich männlichen Probanden eine Reihe von Frauen versteckt ist, deren Fehlen sich bei der Auszählung durch die Verringerung der Mädchengeburten im Verhältnis zu den Knabengeburten geltend machen muß“109. Eine Bestätigung erfuhr diese Annahme Langs durch Klaus Jensch, der ähnliche Untersuchungen durchführte und zu denselben Ergebnissen kam110. Eine genetisch bedingte Homosexualität nahm auch Rudolf Lemke, Oberarzt der Jenaer Psychiatrischen und Nervenklinik, an. Er führte Homosexualität – ganz im Sinne der im Nationalsozialismus an Bedeutung gewinnenden Erbbiologie – auf eine sich rezessiv vererbende Anlage zurück111. Das von Sexualreformern in der Weimarer Zeit vorgebrachte Argument, Homosexualität sei aufgrund ihres angeborenen Charakters nicht strafbar, wurde im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland zurückgewiesen. Zwar gab Lang zu bedenken, daß in Anbetracht der seiner Meinung nach erwiesenen Erblichkeit von Homosexualität „eine scharfe Strafverfolgung und moralische Verfemung, die den Homosexuellen dazu treibt, wenigstens den Versuch zur Ehe und Fortpflanzung zu machen, genau das Gegenteil dessen erreicht, was ein derart scharfes Vorgehen bezweckt, nämlich möglicherweise eine Vermehrung der Homosexuellen [...] in den nächsten Generationen“112. Grundsätzlich wurde jedoch auch von den Vertretern der Annahme einer erblichen Bedingtheit der Homosexualität deutlich zum Ausdruck gebracht, daß „die entscheidende Bedeutung der Vererbung vor allem für die Kerngruppe der Homosexuellen“ keineswegs als „Freibrief für Sittlichkeitsverbrecher“ in Anspruch genommen werden dürfe, wie es Julius Deussen, ebenfalls Vertreter der Erblichkeitsthese, formulierte113. Ganz im Gegenteil – während zur Zeit der Weimarer Republik die Annahme einer genetisch bedingten Homosexualität als Argument für die Schuldlosigkeit Homosexueller an ihrem Handeln diente, wurde diese Behauptung im NS-Staat, in dem Menschen aufgrund angeblich vererbter Eigenschaften aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt, zwangssterilisiert oder getötet wurden, zu einem Argument für

109 Theo Lang: Ergebnisse neuer Untersuchungen zum Problem der Homosexualität. In: MSchrKrim 30 (1939), S. 401-413, hier S. 402; vgl. hierzu auch ders.: Beitrag zur Frage nach der genetischen Bedingtheit der Homosexualität. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 155 (1936), S. 702-713. 110 Klaus Jensch: Zur Genealogie der Homosexualität. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 112 (1941), S. 527-540. 111 Rudolf Lemke: Zum Problem der Homosexualität. In: MschrKrim 32 (1941), S. 241-248. 112 Theo Lang: Anmerkungen zu dem Aufsatz „Homosexualität“ von Prof. Paul Schröder. In: MschrKrim 32 (1941), S. 162-168, hier S. 168. 113 Julius Deussen: Sexualpathologie. In: Fortschritte der Erbpathologie, Rassenhygiene und ihrer Grenzgebiete 3 (1939), S. 67-102, hier S. 100. 50 deren Unheilbarkeit. Im Sinne rassenhygienischer Vorstellungen mußte also gerade gegen diese unheilbar „Kranken“ energisch vorgegangen werden.

Obwohl die Annahme einer erblichen Neigung zur Homosexualität dem erbbiologischen Argumentationsschema der Nationalsozialisten zur Erklärung sozialer Andersartigkeit entsprach, wurden diesbezügliche Arbeiten von mehreren nationalsozialistischen Wissenschaftlern kritisiert. Sie vertraten die Auffassung, daß Homosexualität nur zu einem geringen Teil auf angeborener Veranlagung beruhe und zum Großteil erworben sei. Scharfe Kritik erfuhr insbesondere die These Langs. Ihm wurde vorgeworfen, den von Ulrichs und Hirschfeld vertretenen „Aberglauben[] an ein angeborenes drittes Geschlecht von Urningen“114 fortzuführen, so der Psychiater Paul Schröder, der in dieser Frage „von einschneidender bevölkerungspolitischer Wichtigkeit“115 davor warnte, daß dieser „Aberglaube“ eine Grundlage für den stärksten Widerstand „gegen alle Eindämmungsmaßnahmen und -versuche, sowohl des Staates mit seinen allgemeinen Regelungen, wie des Arztes und Pädagogen“ bilde116. Im Gegensatz zu Lang ging Schröder davon aus, daß sich Homosexualität durch Onanie bei geschlechtlicher Frühreife und Verführung entwickle. Die Vorstellung, wonach der Geschlechtstrieb des Menschen „eine heterosexuelle und eine homosexuelle Richtung“ aufweise und die „homosexuelle Triebkomponente“ im Jugendalter durch ein „gleichgeschlechtliche[s] Erlebnis“ erweckt werde und „den Jugendlichen womöglich sein ganzes Leben lang an diese homosexuelle Triebkomponente bindet und damit die andere heterosexuelle zurückdrängt“117, meinten in der NS-Zeit mehrere Wissenschaftler aus der Beschäftigung mit den Lebensgeschichten homosexueller Verurteilter ableiten zu können. In diesem Sinne wurde zumeist von einer „Entwicklung“ bzw. einer „Abdrängung zu homosexueller Betätigung“118 gesprochen, so von dem Hamburger Psychiater Hans Bürger-Prinz, der die Annahme einer vererbbaren Anlage zur Homosexualität ebenfalls ablehnte. Andere erachteten das „Erlebnis“ als entscheidende Ursache für die Entstehung der Homosexualität, meinten damit jedoch nicht zwangsläufig die „Verführung“ eines Jugendlichen zur gleichgeschlechtlichen Betätigung, sondern unterschieden vielmehr zwischen solchen Erlebnissen, „die Antipathie wecken in der Richtung gegen das heterosexuelle Empfinden und [...] solche[n], die Sympathie wecken in der Richtung auf das homosexuelle Empfinden“. Trotzdem räumten auch Vertreter der Milieutheorie ein, daß Homosexualität bei einem geringen

114 Paul Schröder: Homosexualität. In: MschrKrim 31, 1940, S. 221-234, hier S. 234. 115 Ebd., S. 221. 116 Ebd., S. 234. 117 Erdle, Angriffe auf die Sittlichkeit Jugendlicher, S. 44. 118 Hans Bürger-Prinz: Über das Problem der Homosexualität. In: MschrKrim 32 (1941), S. 32-39, hier S. 35; vgl. auch ders.: Gedanken zum Problem der Homosexualität. In: MschrKrim 30 (1939), S. 430-438. 51

Prozentsatz der Homosexuellen auf einer angeborenen Veranlagung beruhe und daß außerdem eine gewisse Disposition zur Homosexualität vererbbar sei. So glaubte J. Rauscher, daß „körperlich Entartete, ferner Hysteriker, leicht Schwachsinnige, schizoide Psychopathen [und] labile Typen“ für die Entwicklung der Homosexualität besonders anfällig und deshalb überdurchschnittlich häufig unter den Homosexuellen vertreten seien119. Auch Fritz Mohr meinte aus der Beobachtung, daß angeblich in den Familien Homosexueller viele „abnorme Charaktere, z.B. zu Depressionen geneigte oder sonst erheblich neurotische Züge aufweisende Väter oder Mütter bzw. Geschwister“ anzutreffen seien, ableiten zu können, daß die Homosexualität „auf dem Boden einer mehr oder minder starken erblichen Belastung“ erwachse. Eine „Behandlung der Homosexualität“, so die Schlußfolgerung Mohrs, müsse deshalb an „ihre[r] Grundlage, [...] [der] asoziale[n] Gesamthaltung“ ansetzen120. Die „Heilbarkeit“ zumindest eines Großteils der Homosexuellen wurde von den Vertretern der Milieutheorie grundsätzlich für möglich gehalten, da nach ihrer Auffassung die „heterosexuelle Triebkomponente“, die auch bei Homosexuellen noch vorhanden, aber verdeckt sei, lediglich freigelegt werden müsse. So glaubte Mohr, daß es mit Hilfe psychotherapeutischer Maßnahmen in relativ kurzer Zeit möglich sei, bei Homosexuellen „eine Umstellung in sexueller Hinsicht und normale Arbeits- und Lebensfähigkeit“ zu bewirken. Da es sich auf den Erfolg der „Behandlung“ positiv auswirke, wenn der zu Behandelnde sich dieser aus „eigenem Antrieb“ unterziehe, sei die repressive Antihomosexuellenpolitik des nationalsozialistischen Staates zu begrüßen, da „durch die äußerst ungemütliche Lage, in die die Homosexuellen heutzutage gebracht sind, der eigene Wunsch, aus dieser Situation herauszukommen, bei einer größeren Zahl solcher Menschen und in stärkerem Maße als früher hervorgetrieben und damit die Behandlungsbereitschaft ihnen nähergelegt wird“. Wie man sich eine solche psychotherapeutische „Behandlung“ vorzustellen hatte, beschreibt Mohr im Anschluß an die Darstellung und Analyse seiner Fallstudien: Zunächst müsse der Mensch „aus seiner bisherigen homosexuellen bzw. überhaupt seiner bisherigen Umgebung herausgerissen“ und in eine „zunächst ganz platonische Beziehung zu Frauen“ gebracht werden, wobei der „Auswahl des weiblichen Verkehrs“ eine große Bedeutung zukomme; unter keinen Umständen sollten „Versuche mit Dirnen“ unternommen werden. Zugleich solle die Ausübung intensiver Arbeit von der den Homosexuellen unterstellten „beständigen Beschäftigung mit sexuellen Dingen“ ablenken und jegliche „Art der Sublimierung sexueller Regungen in künstlerische, soziale, politische, religiöse Funktionen [...] gefördert und gepflegt werden“. Erst wenn der Homosexuelle auf diese Weise „in seinem ganzen Denken und Handeln umgestellt“ worden

119 J. Rauscher: Zum Kriminal-Problem der Homosexualität. In: BlfGefK 70 (1939/40), S. 243-257, hier S. 249. 52 sei, könne man ihn „zu Versuchen des Sexualverkehrs mit Frauen ermuntern“, was, wie Mohr zugesteht, „die schwierigste Aufgabe der Behandlung“ sei. Das Ziel eines derartigen Versuchs einer „Umerziehung“ Homosexueller wurde im Sinn einer NS-typischen Kosten-Nutzen-Rechnung formuliert: „Da diese Elemente sehr häufig, abgesehen von ihren krankhaften Neigungen, an sich wertvolle Menschen sind, die bei richtiger Führung Gutes für die Volksgemeinschaft“ zu leisten imstande seien, könne man nach einer erfolgreichen „Behandlung“ „das befriedigende Bewußtsein haben, nicht nur einem Menschen zur vollen Lebensentfaltung verholfen, sondern auch der Volksgemeinschaft ein nützliches Glied erhalten zu haben“121.

Im konkreten Umgang mit Homosexuellen dienten die Ergebnisse der im „Dritten Reich“ betriebenen Homosexuellenforschung zur Legitimation der differenzierten Sanktionsmaßnahmen. Die Annahme einer erblichen Veranlagung zur Homosexualität – die im Sinne der sog. Rassenhygiene die Verfolgung aller Homosexuellen zur Folge hätte haben müssen – wurde nur für einen Bruchteil der Homosexuellen zugrunde gelegt. In der Regel wurde der Anteil dieser häufig als „echte“ Homosexuelle bezeichneten Männer122 auf zwei Prozent der Homosexuellen geschätzt. Bei ihnen sei eine „Triebumkehr“ und damit eine mögliche Wiedereingliederung in die „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen. Zudem wurde ihnen ein besonders hohes Maß an Gefährlichkeit unterstellt, denn: „Echte Homosexuelle stoßen sich ab, weil ja keine Affinität der Geschlechter auf Grund einer sich ergänzenden Geschlechtsspannung besteht. Zur geschlechtlichen Entspannung suchen sie immer den bisexuellen oder normalen Partner.“123 Dementsprechend wurden sie als „Seuchenherde“ betrachtet und seien deshalb „ebensowenig wie der geborene Verbrecher“ zu bemitleiden124. So heißt es dann auch weiter in einem Artikel aus der Zeitschrift „Das Schwarze Korps“: „Ihre Gefährlichkeit übersteigt jede Vorstellungskraft. Vierzigtausend125 Anomale, die man sehr wohl aus der Volksgemeinschaft ausscheiden könnte, sind, wenn man ihnen Freiheit läßt, imstande, zwei Millionen zu vergiften.“126 Nach nationalsozialistischer Auffassung sollte diese Minderheit unter den Homosexuellen durch dauerhafte Abschließung oder physische Vernichtung aus der

120 Fritz Mohr: Einige Betrachtungen über Wesen, Entstehung und Behandlung der Homosexualität. In: Zentralblatt für Psychotherapie 15 (1943), S. 1-20, hier S. 13. 121 Ebd., S. 14ff. 122 So z.B. bei Rauscher, Zum Kriminal-Problem der Homosexualität. 123 Ebd., S. 249. 124 „Das sind Staatsfeinde!“. In: Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der Reichsführung SS, 4.3.1937, S. 1-2, hier S. 1. 125 Dies entspricht zwei Prozent der angenommenen Zahl von zwei Millionen in Deutschland lebenden homosexuellen Männern. 53

„Volksgemeinschaft“ entfernt werden. Dagegen sei es bei den übrigen 98 % der „unechten“ oder „Pseudo“-Homosexuellen denkbar, daß sie durch entsprechende Maßnahmen „umerzogen“ oder wenigstens zur Sublimierung ihrer Sexualität gebracht und dadurch in die „Volksgemeinschaft“ wiedereingegliedert werden könnten. In der Praxis setzte man dabei weniger auf die Mittel der Psychotherapie, wie sie von Mohr und anderen vorgeschlagen wurden, sondern auf die Wirkung von Strafe. Diese sollte zum einen bewirken, daß diese Homosexuellen in den Strafanstalten durch „straffe Zucht und Ordnung und geregelte Arbeitsweise [...] zu nützlichen Gliedern der Volksgemeinschaft erzogen werden“127, zum anderen lag der Sinn der Strafandrohung in ihrer Abschreckungsfunktion gegenüber noch nicht straffällig gewordenen Homosexuellen.

Daß eine klare Abgrenzung von „echten“ und „unechten“ Homosexuellen nicht möglich und vermutlich in der in hohem Maß willkürlichen nationalsozialistischen Verfolgungspraxis auch kaum erwünscht war, liegt auf der Hand. Die Unterteilung bewirkte allerdings, daß homosexuelle Handlungen mit einem gestaffelten System von Sanktionen geahndet wurden. Die nach 1945 insbesondere in den ersten Forschungsarbeiten zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung stets wiederholte Annahme, im Nationalsozialismus wäre eine „systematische Ausrottung aller im Verdacht homosexueller Neigungen stehenden Personen“128 betrieben worden, steht somit in einem deutlichen Widerspruch zu dem differenzierten System von Sanktionen im Umgang mit dieser Minderheit, das Ergebnis der nationalsozialistischen Homosexuellenforschung war. Zweifellos betrieben die Nationalsozialisten die Unterdrückung und Verfolgung Homosexueller mit einer neuen, bis dahin nicht gekannten Intensität, die Vernichtung aller Homosexuellen war jedoch zu keiner Zeit das erklärte Ziel der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik129.

Obwohl sich die Milieutheorie zur Erklärung der Ursache von Homosexualität im Nationalsozialismus weitgehend durchsetzte und damit eine grundsätzliche Heilbarkeit eines Großteils der Homosexuellen zumindest theoretisch angenommen wurde, hielt dies einzelne Personen nicht davon ab, auch in andere Richtungen weiterzudenken bzw. zu -agieren. Insbesondere medizinische Erklärungsansätze, die Homosexualität auf Hormonstörungen zurückführten, ließen im Nationalsozialismus immer wieder die Hoffnung aufkommen, in kurzer Zeit eine „Lösung“ des

126 „Das sind Staatsfeinde!“. In: Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der Reichsführung SS, 4.3.1937, S. 1-2, hier S. 1. 127 Vortrag Kriminalrat Meisinger am 5./6. April 1937 in Berlin. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 38, S. 147ff., hier S. 153. 128 Harry Wilde: Das Schicksal der Verfemten. Die Verfolgung der Homosexuellen im 3. Reich und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft. Tübingen 1969, S. 9. 129 Vgl. hierzu auch Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 31ff. sowie Kapitel 6. 54

Homosexuellenproblems herbeiführen zu können. Grausame Folge dieser Überlegungen waren die medizinischen Versuche an homosexuellen Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald, bei denen die Einpflanzung einer künstlichen Hormondrüse eine Änderung der Triebrichtung bewirken sollte130. Weitaus größere Konsequenz erreichten in der Praxis allerdings die Versuche, die Ausübung von Homosexualität durch die Kastration Homosexueller zu unterbinden, obwohl die gesundheitlichen Risiken eines solchen Eingriffs zu der Zeit kaum abgesehen werden konnten und über den Erfolg darüber hinaus wenig bekannt war131.

Die zwischen 1933 und 1945 geführte wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Ursachen der Homosexualität stand unter dem Vorzeichen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Aufgabe der Wissenschaft war es, die Grundlage für eine im nationalsozialistischen Sinn erfolgreiche Bekämpfung der Homosexualität zu liefern und die gegen Homosexuelle gerichteten Sanktionen zu legitimieren. Diese hätten die Nationalsozialisten im Zweifelsfall jedoch auch ohne entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse durchgeführt – „im Interesse einer gesunden Sexualethik, der kämpferischen Mannbarhaltung des deutschen Volkes und der Bevölkerungspolitik müßte [...] die Frage der Bestrafung notfalls gegen die ärztliche Wissenschaft entschieden werden“132.

2.4. Die Instrumentalisierung antihomosexueller Einstellungen der deutschen Bevölkerung

Vermutlich wurden die Ergebnisse der nationalsozialistischen Homosexuellenforschung von der Bevölkerung mehrheitlich kaum differenziert rezipiert. Geprägt wurde die Haltung der Deutschen im Umgang mit dieser Minderheit eher durch die antihomosexuelle nationalsozialistische Propaganda. Diese baute auf vorhandenen Werturteilen auf: Die mehrheitlich antihomosexuelle Einstellung der deutschen Gesellschaft hatte eine jahrhundertealte Tradition, so daß auch die Aufklärungsbemühungen der Homosexuellenorganisationen in der Weimarer Republik einen nachhaltigen Einstellungswandel im Umgang mit dieser Minderheit nicht bewirken konnten. Zwar

130 Günter Grau: Die Verfolgung und „Ausmerzung“ Homosexueller zwischen 1933 und 1945 – Folgen des rassenhygienischen Konzepts der Reproduktionssicherung. In: Medizin unterm Hakenkreuz, hg. von Achim Thom und Genadij I. Caregorodcev. Berlin (Ost) 1989, S. 91-110, hier S. 103ff. sowie ders.: Verstümmelt und ermordet – Homosexuelle im KZ Buchenwald. In: Das Schicksal der Medizin im Faschismus, hg. von Samuel Mitja Rapoport und Achim Thom. Neckarsulm 1989, S. 76-79, hier S. 78f. 131 Vgl. Kapitel 4.1.6.3.3. 132 Ursachen der Homosexualität und Entmannung Homosexueller. Überblick über das Schrifttum; BA R 22/950, fol. 46. 55 konnte, wie Lautmann annimmt, die Aufklärungs- und Sympathiewerbung der ersten deutschen Homosexuellenbewegung zumindest im kognitiven Bereich Teilerfolge erzielen – man wurde sich wenigstens gedanklich über den Unsinn der Homosexuellenrepression klar. Die affektive Einstellung gegenüber Homosexuellen blieb davon jedoch weitgehend unberührt – sympathischer waren die Homosexuellen den meisten Deutschen auch dadurch nicht geworden, daß man sie als „Drittes Geschlecht“ definiert hatte133. Die tief verwurzelte antihomosexuelle Einstellung eines Großteils der deutschen Bevölkerung war eine Grundlage dafür, daß der Vorwurf der Homosexualität auch zur Durchsetzung politischer Interessen geeignet war134. Mit Hilfe einer behaupteten oder nachgewiesenen Homosexualität wurden politische Gegner wie überhaupt dem Regime mißliebige Personen im „Dritten Reich“ ausgeschaltet, ohne daß die Bevölkerung daran Anstoß genommen hätte. Der Vorwurf der Homosexualität als Mittel der Denunziation in der politischen Auseinandersetzung war allerdings kein spezifisches Merkmal der NS-Zeit, wie die Vorgänge in der Eulenburg-Harden-Affäre sowie in den 1920er Jahren die Pressekampagne gegen Ernst Röhm gezeigt haben135.

Nach 1945 sind insbesondere die spektakulären Fälle sexueller Denunziation zum Thema von Forschungsarbeiten gemacht worden. Von diesen sollen hier die Röhm-Affäre, die sog. Klosterprozesse sowie die Blomberg-Fritsch-Krise behandelt werden. Der Vorwurf der Homosexualität stellte aber auch für Privatleute ein probates Mittel dar, unliebsame Nachbarn, Arbeitskollegen usw. aus dem Weg zu räumen136. Wie viele Personen auf diese Weise Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden, dürfte sich kaum noch rekonstruieren lassen.

2.4.1. Die nationalsozialistische Interpretation der Röhm-Affäre

Am Sonntag, den 1. Juli 1934 wurde der oberste SA-Führer Ernst Röhm auf Anordnung Hitlers von dem Dachauer KZ-Kommandanten Theodor Eicke erschossen, nachdem er sich geweigert hatte,

133 Rüdiger Lautmann: „Hauptdevise: bloß nicht anecken“. Das Leben homosexueller Männer unter dem Nationalsozialismus. In: Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus, hg. von Johannes Beck [u.a.]. Reinbek 1980, S. 366-390, hier S. 374. 134 Vgl. hierzu allgemein Friedrich Koch: Sexuelle Denunziation. In: Handbuch Sexualität, hg. von Siegfried Rudolf Dunde. Weinheim 1992, S. 33-36. 135 Vgl. Kapitel 2.1.1. und 2.1.3. 136 Vgl. hierzu auch Jürgen Müller: Die alltägliche Angst. Denunziation als Instrument zur Ausschaltung Mißliebiger. In: „Verführte Männer.“ Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 96-103. 56

Selbstmord zu begehen137. Bereits einen Tag vorher hatte die Ermordung von SA-Führern und anderen mißliebigen Personen, insbesondere konservativen Regimegegnern, denen eine Verbindung zur SA nachgesagt wurde, begonnen. In den Morgenstunden des 2. Juli befahl Hitler die Einstellung der Aktion, bei der nach offiziellen Angaben 77 Menschen getötet worden waren; die tatsächliche Zahl der Opfer wird auf das Zwei- bis Dreifache geschätzt. In der offiziellen Darstellung der Vorgänge bediente man sich der Formel „Niederschlagung der Röhm-Revolte“ und beschuldigte die Ermordeten des Hoch- und Landesverrats138. Bereits der reibungslose Verlauf der Aktion, bei der von niemandem, auch nicht von den bewaffneten Eliteformationen der SA, Widerstand geleistet wurde, sowie die Tatsache, daß sich große Teile der SA im Urlaub befanden, weisen jedoch darauf hin, daß von einem bevorstehenden Putschversuch Röhms keineswegs die Rede sein konnte. Zwar befanden sich in München Teile der SA in Alarmbereitschaft, die jedoch durch die Mobilisierung von SS, preußischer Polizei und Reichswehr provoziert worden war.

Den tatsächlichen Hintergrund der Ereignisse um den 30. Juni bildeten vielmehr Interessenkonflikte zwischen SA und Parteiführung bzw. SS und SD sowie zwischen der SA und der Reichswehr, die sich im Frühjahr 1934 zuspitzten und von verschiedenen Seiten bewußt dramatisiert wurden139. Die SA, inzwischen zur Millionenorganisation entwickelt, war in der innenpolitischen Konzeption Hitlers zu einem Problem geworden. Nach der weitgehenden Ausschaltung der politischen Opposition wirkten die fortdauernden Gewalttätigkeiten von SA-Angehörigen – oftmals Folge der Erbitterung über die Zurücksetzung der SA und ihrer Mitglieder im nationalsozialistischen Staat – Hitlers Interesse an einer Konsolidierung des Regimes entgegen. Hitler versuchte, den Terror der SA einzudämmen und reagierte auf die aggressive „revolutionäre“ Rhetorik der SA-Führung, die mit dem Hinweis auf die noch unerreichten Ziele der nationalsozialistischen Revolution die fortdauernde Existenzberechtigung der SA legitimieren sollte, mit dem Hinweis, daß „man nunmehr den

137 Vgl. hierzu und im folgenden Heinz Höhne: Mordsache Röhm. Hitlers Durchbruch zur Alleinherrschaft 1933- 1934. Reinbek 1984; Helmut Krausnick: Der 30. Juni 1934. Bedeutung – Hintergründe – Verlauf. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30. Juni 1954, S. 317-324 sowie Hermann Mau: Die „Zweite Revolution“ – Der 30. Juni 1934. In VfZg 1 (1953), S. 119-137. 138 Vgl. hierzu Hitlers Rede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, hg. von Max Domarus. Bd. 1 (1), München 1965, S. 422. 139 Die Zusammenhänge und Hintergründe der Röhm-Affäre können hier nur in einem knappen Überblick dargestellt werden; vgl. hierzu ausführlich Charles Bloch: Die SA und die Krise des NS-Regimes 1934. Frankfurt/M. 1970; Immo v. Fallois: Kalkül und Illusion. Der Machtkampf zwischen Reichswehr und SA während der Röhm-Krise 1934. Berlin 1994 sowie Mathilde Jamin: Zur Rolle der SA im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. In: Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, hg. von Gerhard Hirschfeld u. Lothar Kettenacker. Stuttgart 1981, S. 329-360. 57 freigewordenen Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution hinüberleiten müsse“140. Hinzu kam, daß Röhm die alleinige Zuständigkeit der Reichswehr für die Landesverteidigung in Frage stellte, indem er den Anspruch erhob, die SA als eine Art Volksheer neben die Reichswehr zu stellen bzw. sogar die SA an die Stelle der Reichswehr treten zu lassen – „Der graue Fels muß in der braunen Flut untergehen“, so lautete angeblich seine Parole141. Die Zuständigkeitskonkurrenz zwischen der SA und der Reichswehr entschied Hitler jedoch zugunsten letzterer. Bereits am 28. Februar 1934 versammelte er die Befehlshaber der Reichswehr und die höheren SA-Führer und ließ sie ein Abkommen unterzeichnen, das der Reichswehr im militärischen Bereich die alleinige Zuständigkeit zusprach. Hitler strebte auf diese Weise den Ausgleich mit den alten Eliten an, zumal er wußte, daß er die Nachfolge im Reichspräsidentenamt – der Gesundheitszustand Hindenburgs verschlechterte sich im Frühjahr 1934 zunehmend – nur mit deren Unterstützung in seinem Sinne lösen konnte.

Als sich der Konflikt zuspitzte, war Hitler mehr der Getriebene als der Treibende. Auf Seiten der Parteiführung waren es insbesondere Himmler, der die formell dem Stabschef der SA unterstehende SS nach eigenen Vorstellungen zu einer nationalsozialistischen Eliteorganisaton ausbauen wollte, und Göring sowie als deren wichtigster Helfer Heydrich, die Gerüchte verbreiteten, wonach Röhm einen Aufstand gegen die Reichswehr und die Durchführung einer „Zweiten Revolution“ plane. Parallel dazu sammelte der Chef des Wehrmachtamtes, Reichenau, Belastungsmaterial, das den Bruch der Vereinbarung vom 28. Februar 1934 durch die SA belegen sollte, und unterstützte so die Putsch- Gerüchte. Als Katalysator wirkte sich in der zunächst noch unbestimmten Situation Papens Marburger Rede vom 17. Juni 1934 aus, in der dieser das Regime und insbesondere die Vorstellung, „ein Volk gar mit Terror einen zu können“142, in scharfer Form kritisierte und damit drohte zurückzutreten, was für Hitler folgenschwere Konsequenzen im Hinblick auf sein Verhältnis zu Hindenburg hätte haben können.

In den folgenden Tagen führten die genannten Personen schließlich eine Situation herbei, in der der bis dahin zögernde Hitler sich entscheiden mußte. Indem sie die kursierenden Gerüchte über einen angeblich vorbereiteten SA-Putsch verstärkten, provozierten sie die Mobilisierung von SS,

140 Hitler in einer Rede vor den Reichsstatthaltern am 6. Juli 1933. Abgedruckt in: Das Dritte Reich. Bd. 1: „Volksgemeinschaft“ und Großmachtpolitik 1933-1939, hg. von Wolfgang Michalka. München 1985, Dok. 27, S. 42f. 141 Krausnick, 30. Juni 1934, S. 319. 142 Aus der Rede Franz von Papens vor dem Universitätsbund in Marburg am 17. Juni 1934. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen: vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hg. und bearb. von Herbert Michaelis [u.a.]. Bd. 10, Dok. 2375a, S. 157-163, hier S. 161. 58 preußischer Polizei und Reichswehr. Da diese Maßnahmen wiederum auf Seiten der SA als Bedrohung wahrgenommen wurden, setzte man ebenfalls Teile der SA in Alarmbereitschaft; in München kam es aufgrund von fingierten Befehlen zu einzelnen Zwischenfällen. Nachdem Hitler sämtliche Obergruppenführer, Gruppenführer und Inspekteure der SA zu einer für den 30. Juni 1934 festgesetzten Besprechung in Bad Wiessee zusammengerufen hatte, gab er schließlich den Befehl zu der Aktion gegen Röhm und die SA-Führung. Ob Hitler die intriganten Putschhypothesen zur Grundlage seiner Entscheidungen machte, weil er tatsächlich an sie glaubte und in diesem Sinne tatsächlich nur „Intrigenvollstrecker“ war143, oder ob er die herbeigeführten Umstände aus Berechnung aufgriff, um die Absetzung Röhms vor Hindenburg, der Wehrmachtführung sowie der Bevölkerung legitimieren zu können, bleibt letztendlich offen.

Bei den zwischen dem 30. Juni und 2. Juli stattfindenden Mordaktionen verzichtete man von vornherein auf jeden Anschein eines rechtmäßigen Vorgehens und erschoß ohne Verfahren, wen man für schuldig oder verdächtig hielt. Die Regierung„legalisierte“ die Verbrechen nachträglich als „Staatsnotwehr“. Das hierzu am 3. Juli 1934 erlassene Gesetz enthielt den einzigen Artikel: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.“144

Wie wurden nun diese Ereignisse der Öffentlichkeit präsentiert und von der Bevölkerung wahrgenommen? Noch am 30. Juni nahm die NSDAP in einer Presseerklärung zu den Ereignissen Stellung. Darin wurde eine bestimmte „Clique“ in der SA-Führung beschuldigt, zwischen SA und Staat „Keile zu treiben und Gegensätze zu erzeugen“, so daß schließlich „vom Standpunkt der Partei wie auch vom Standpunkt des Staates ein Einschreiten nicht mehr zu umgehen“ gewesen sei. Besonderes Gewicht wurde in der Erklärung auf die Homosexualität Röhms und anderer SA-Führer gelegt: Röhms „bekannte unglückliche Veranlagung“ habe „allmählich zu so unerträglichen Belastungen“ geführt, daß Hitler „in schwerste Gewissenskonflikte getrieben“ worden sei. Die Verhaftung der SA-Führer in Bad Wiessee habe „moralisch so traurige Bilder“ gezeigt, „daß jede Spur von Mitleid schwinden mußte“. Einige von ihnen hätten „sich Lustknaben mitgenommen“, und einer sei „in der ekelhaftesten Situation aufgeschreckt und verhaftet“ worden. Hitler habe deshalb „den Befehl zur rücksichtslosen Ausrottung dieser Pestbeule“ gegeben. Er wolle in Zukunft nicht mehr dulden, „daß Millionen anständiger Menschen durch einzelne krankhaft veranlagte Wesen

143 So die These von Richard Utz: Soziologie der Intrige. Der geheime Streit in der Triade, empirisch untersucht an drei historischen Fällen. Berlin 1997; zur Röhm-Affäre siehe S. 153-211. 144 Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr, 3.7.1934. Abgedruckt in: Reichsgesetzblatt, hg. im Reichsministerium des Innern. Teil I. Berlin 1934, S. 529. Die Bedeutung dieses Gesetzes für das nationalsozialistische Rechtssystem ist in der Forschungsliteratur viel diskutiert worden; vgl. Kapitel 4.1.1.3. 59 belastet und kompromittiert werden“. „Asoziale und krankhafte Elemente“ seien in Zukunft „unbarmherzig auszurotten und zu vernichten“145. Die moralischen Vorwürfe gegen die SA-Führung nahmen in der Presseerklärung der NSDAP einen breiteren Raum ein als die politischen. Diese Gewichtsverteilung gilt auch für den ebenfalls noch am 30. Juni erschienenen Tagesbefehl Hitlers an den neuen SA-Stabschef Lutze, bekannt als die „12 Punkte Hitlers für die SA“. In nur sechs der zwölf Punkte wurden politische Anforderungen an die SA formuliert, im übrigen ging es um „Benehmen“ und „Aufführung“ der SA-Führer und erneut auch um den Vorwurf der Homosexualität. Dazu heißt es in Punkt 7:

„Ich erwarte von allen SA-Führern, daß sie helfen, die SA als reinliche und saubere Institution zu erhalten und zu festigen. Ich möchte insbesondere, daß jede Mutter ihren Sohn in SA, Partei und HJ geben kann, ohne Furcht, er könnte dort sittlich oder moralisch verdorben werden. Ich wünsche daher, daß alle SA-Führer peinlichst darüber wachen, daß Verfehlungen nach § 175 mit dem sofortigen Ausschluß des Schuldigen aus SA und Partei beantwortet werden. Ich will Männer als SA-Führer sehen und keine lächerlichen Affen.“146

Schließlich wurde die „widerliche Szene“, die sich angeblich bei der Verhaftung des SA-Führers Heines, der „sich bei einem Jüngling [befand]“, abspielte, und das „scheußliche[] Bild“, das sich den Eintretenden bot, auch in einem am selben Tag veröffentlichten „Augenzeugenbericht“ über die Vorgänge in Bad Wiessee herausgestellt147. Ebenso hielt Göring noch am selben Tag eine Rede, in der er die Mißstände in der SA auf die „unglückliche Veranlagung“ Röhms zurückführte148.

In der Berichterstattung der Presse standen die offiziellen Berichte über das Vorgehen gegen die SA- Führung im Mittelpunkt und waren in der Regel in vollem Wortlaut abgedruckt. Gegenüber der Öffentlichkeit wurde also weniger politisch argumentiert, sondern vorwiegend das angeblich entschlossene Handeln des Führers als „Säuberungsaktion“149 im Hinblick auf die vermeintliche sexuelle Unmoral und „Cliquenwirtschaft“ innerhalb der SA-Führung dargestellt. Die hierfür gelegentlich als Erklärung gelieferte Annahme, daß es zu einem Zeitpunkt, als die Aktion noch nicht abgeschlossen war und viele der Beschuldigten noch lebten, möglicherweise zu riskant war, die politischen Vorwürfe des Putschversuches allzu präzise zu formulieren bzw. daß diese

145 Erklärung der Reichspressestelle der NSDAP, 30. Juni 1934. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1 (1), S. 398f. 146 Tagesbefehl an den Stabschef Lutze, 30.6.1934. Abgedruckt in: Ebd., S. 400f., hier S. 401. 147 Augenzeugenbericht über die Vorgänge in Bad Wiessee, 30.6.1934. Abgedruckt in: Ebd., S. 399f., hier S. 400. 148 Amtliche Mitteilung über die Rede des preußischen Ministerpräsidenten Göring anläßlich der Säuberungsaktion in Berlin. Auszugsweise abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Bd. 10, Dok. 2379c, S. 183-185, hier S. 183. 149 Ebd. 60

Rechtfertigung noch nicht genügend ausgearbeitet war150, mag dabei eine Rolle gespielt haben. In der Tat nahmen in der zwei Wochen später gehaltenen Reichstagsrede Hitlers die politischen Vorwürfe einen breiteren Raum ein151. Entscheidend dürfte jedoch gewesen sein, daß sich die NS- Führungsspitze, indem sie den moralischen Aspekt – die vermeintliche Homosexualität der ermordeten SA-Führer – in den Mittelpunkt der Berichterstattung über die Ereignisse des 30. Juni stellte, der Zustimmung eines Großteils der Bevölkerung gewiß sein konnte. Diese Rechnung ging auf: Die überlieferten Berichte über die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das brutale Vorgehen gegen die SA-Führung vermitteln übereinstimmend den Eindruck, daß die Bevölkerung die als „Reinigungsaktion“152 getarnte Mordaktion mehrheitlich positiv aufnahm153. Nur eine kleine Minderheit kritisch denkender Menschen, so heißt es in den „Deutschlandberichten“ der Sopade, sei über die Erschießungen empört gewesen; die große Mehrheit der Bevölkerung habe dagegen „den politischen Sinn der Ereignisse nicht begriffen“ und Hitler habe bei ihr „stark an Vertrauen und Sympathie“ gewonnen. Gerade die unpolitischen, moralisierenden Aspekte der nationalsozialistischen Darstellung der Vorgänge erwiesen sich als besonders populär: Verbreitet, so ist den „Deutschlandberichten“ der Sopade zu entnehmen, sei die Auffassung, Hitler habe jetzt „Ordnung gemacht“ und „eine sittliche Erneuerung angebahnt“; sein Vorgehen gelte als „Beweis, daß er eine saubere Umgebung haben wolle“154. Wenn auch die gespielte Ahnungslosigkeit Hitlers über die Homosexualität Röhms bei Teilen der Bevölkerung keinen Glauben fand – weshalb es in einem Flüsterwitz hieß: „Wie wird der Führer erst betroffen sein, wenn er von dem Klumpfuß des Josef Goebbels erfährt“155 –, so förderten die Ereignisse im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre dennoch Hitlers Ansehen als Garant für „Ordnung und Sauberkeit“156 und verstärkten zugleich den Mythos, er würde auch gegen Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen vorgehen157. Hitler gelang es nicht nur,

150 Karl Martin Graß: Edgar Jung, Papenkreis und Röhmkrise 1933/34. Heidelberg 1966, S. 297. 151 Reichstagsrede, 13.7.1934. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1 (1), S. 410-424. 152 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade). Frankfurt/M. 1980. Bd. 1 (1934), S. 201. 153 Vgl. hierzu auch Mathilde Jamin: Das Ende der „Machtergreifung“: Der 30. Juni 1934 und seine Wahrnehmung in der Bevölkerung. In: Die nationalsozialistische Machtergreifung, hg. von Wolfgang Michalka. Paderborn [u.a.] 1984, S. 207-218. 154 Deutschland-Berichte der Sopade 1 (1934), S. 197-201. 155 Hans-Jochen Gamm: Der Flüsterwitz im Dritten Reich. München 1963, S. 74. 156 Deutschland-Berichte der Sopade 1 (1934), S. 198. 157 Die populäre Beurteilung der Röhm-Affäre in der Bevölkerung bezog sich allerdings im wesentlichen auf die Person Hitlers und entsprach keineswegs einem ähnlichen Zuwachs des Ansehens der NSDAP. Kershaw spricht deshalb in der Bewertung der Röhm-Affäre von einem „Meilenstein in der Spaltung von Führer- und Partei- Image“. Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos: Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart 1980, S. 80. 61 sein Ansehen in der Bevölkerung zu steigern, sondern er konnte zugleich die Hintergründe des Konflikts vor der Bevölkerung im Dunkeln halten und die vorgefallenen Ereignisse der Öffentlichkeit präsentieren, ohne eine Welle des Entsetzens über die zahlreichen Morde zu auszulösen.

In der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik stellte die Röhm-Affäre eine Zäsur dar. In den darauffolgenden Monaten setzte die Verfolgung homosexueller Männer auf breiter Ebene ein, zudem diente die Röhm-Affäre als Rechtfertigung einer Verschärfung der strafrechtlichen Bestimmungen des § 175158. Darüber hinaus wurde die vermeintliche Homosexualität zahlreicher SA-Führer in der Folgezeit immer wieder als Beleg für die von den Nationalsozialisten herausgestellte sog. Cliquenwirtschaft Homosexueller herangezogen – hatte doch Hitler bereits in der Kabinettssitzung vom 3. Juli, wie schon Göring wenige Tage zuvor, ganz offiziell die „minderwertige Besetzung der SA-Führerstellen“ auf die „unglückliche[] Veranlagung“ des ehemaligen Stabschefs zurückgeführt159.

2.4.2. Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Geistliche

Der Vorwurf der Homosexualität stand auch im Mittelpunkt der rund 250 Sittlichkeitsprozesse, die in den Jahren 1936 und 1937 gegen katholische Geistliche durchgeführt wurden160. Auch hier sollten bestehende antihomosexuelle Einstellungen in der Bevölkerung für ein politisches Ziel instrumentalisiert werden. Dieses bestand darin, das Ansehen der katholischen Kirche und ihre Autorität, die sie im weltlichen Leben vieler Katholiken ausübte, zu mindern. Insbesondere die durch das am 20. Juli 1933 zwischen der nationalsozialistischen Regierung und dem Vatikan abgeschlossene „Reichskonkordat“ der Kirche zugebilligten Rechte des öffentlichen Auftretens und der freien Stellungnahme zu religiösen und sittlichen Fragen sowie ihr Anspruch auf einen unabhängigen Organisationsaufbau liefen dem totalen Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten zuwider.

Unter hohem Erfolgsdruck war die Polizei bemüht, den Nachweis einer massenhaften Verbreitung der Homosexualität unter katholischen Geistlichen und Ordensleuten zu erbringen. Anzeichen hierfür

158 Vgl. Kapitel 4.1.3.2. 159 Die Kabinettssitzung vom 3. Juli. Protokoll der Darstellung Adolf Hitlers über die Vorgeschichte und die Unterdrückung der „Röhm-Revolte“. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Bd. 10, Dok. 2385a, S. 196-198, hier S. 196. 160 Vgl. hierzu und im folgenden Hans Günter Hockerts: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936-1937. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf. Mainz 1971 sowie Detlev Müller; Jürgen Müller: „Dienstags gesündigt, mittwochs gebeichtet“. Die Sittlichkeitsprozesse gegen die katholische Kirche in den Jahren 1936/1937. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 76-81. 62 sind die rigiden Ermittlungsmethoden der Gestapo161, die zwar innerhalb kurzer Zeit zu einem drastischen Anstieg der Zahl der Anzeigen führten, aber dennoch die meisten der daraus resultierenden Verfahren bereits im Vorverfahren eingestellt wurden. Insgesamt waren bis Ende 1937 2.500 Ermittlungsvorgänge angelegt worden; wie Hans Günter Hockerts ermittelt hat, wurden jedoch nur knapp über 200 Personen gerichtlich verurteilt 162. Die abgehaltenen Prozesse waren gleichsam politische Schauprozesse, die von der nationalsozialistischen Führung zu Propagandazwecken genutzt wurden. Hierfür wurden Hauptverhandlungen bewußt verschoben, um sie zu gewünschten Zeitpunkten in größerer Menge durchzuführen. Es kam infolgedessen zu einer Häufung von Prozeßterminen, und zwar in den Zeiträumen von Mai bis Juli 1936 und von April bis Juli 1937163.

Zeitgenössische Publizität erlangten die Prozesse durch den immensen propagandistischen Aufwand, der um sie getrieben wurde. In einer sogar nach nationalsozialistischen Maßstäben kaum zu überbietenden Weise wurden die Möglichkeiten der systematischen Pressesteuerung hinsichtlich der Berichterstattung über die Prozesse gegen katholische Geistliche und Ordensangehörige ausgenutzt164. Die Zeitungen wurden zur publizistischen Auswertung der Sittlichkeitsprozesse verpflichtet – möglichst im politischen Teil, auf den ersten Seiten –, so daß während der Prozeßwellen kaum ein Tag verging, an dem keine Prozeßberichte abgedruckt wurden. Da an einigen Tagen mehrere solcher Zwangsberichte veröffentlicht werden mußten, richteten einige Zeitungen sogar eine gesonderte Rubrik unter der Überschrift „Die Sittlichkeitsprozesse“ ein. Um eine breite Wirksamkeit der Berichterstattung auf die Öffentlichkeit zu erreichen, wurden „die wichtigsten und schwerwiegendsten Fälle [...] zur Berichterstattung freigegeben.“ Über die „Strafverfahren von geringer Bedeutung, die nur örtliches Interesse haben“, durfte allein die örtliche Presse berichten. „Um zu verhindern, daß dabei nicht richtig Maß gehalten wird, mußte vorher die Genehmigung durch die Presseabteilung des Reichspropagandaministeriums eingeholt werden165. Vom Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) wurde darüber hinaus im April 1937 angeregt, „daß bei der Durchführung der Prozesse an den Anfang ein möglichst schwerwiegender Fall gestellt“ werden sollte; in der Folgezeit seien dann „über jeden einzelnen Prozeß möglichst konkrete Angaben“ zu

161 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Vorgehensweise der Gestapo bei Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 243f. 162 Hockerts, Sittlichkeitsprozesse, S. 48ff. Über das Ausmaß der ohne Gerichtsurteil den polizeilichen Vorbeugungsmaßnahmen ausgesetzten Personen liegen leider keine Informationen vor. 163 Ebd., S. 53. 164 Vgl. hierzu und im folgenden ebd., S. 78ff. 165 Anweisung des Reichsjustizministers an die Leiter der Justizpressestellen, 9.4.1937. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Bd. 11, Dok. 2525a, S. 239-241, hier S. 240. 63 liefern, „weil diese auf das Volk den größten Eindruck machen“. Dazwischen „müßten immer wieder propagandistisch aufgezogene und wissenschaftlich fundierte, zusammenfassende Artikel gebracht werden“166.

Der Inhalt der in den Zeitungen abgedruckten Darstellungen zu den Sittlichkeitsprozessen wurde durch die Vorgaben des Propagandaministeriums detailliert festgelegt. Herausgestellt wurde, daß durch die Berichterstattung nicht der Eindruck von „Einzelfällen“, sondern von einer für die „katholische Kirche symptomatischen Erscheinung“ entstehen sollte. In diesem Sinne sollte bereits vor den Verhandlungsergebnissen die Zahl der abzuurteilenden Geistlichen und Ordensleute mit über 1.000 angegeben werden, wohingegen keine Berichte über Prozesse zu erscheinen hätten, die mit Freispruch oder mit der Einstellung des Verfahrens endeten, obwohl dies bei einem Großteil der Verhandlungen gegen Geistliche und Ordensangehörige der Fall war. Insbesondere in der nationalsozialistischen Presse wurde, den Anteil der Beschuldigten innerhalb der einzelnen Ordensgemeinschaften zum Teil bewußt verfälscht wiedergebend, beispielsweise von einem „furchtbare[n] Sittenverderbnis“, das in der katholischen Kirche herrsche, von einer „moralische[n] Zersetzung innerhalb der römisch-katholischen Priesterschaft und unter den Klosterbrüdern“ oder einfacher von dem „moralischen Sumpf innerhalb der römischen Kirche“ berichtet. Schließlich ging man so weit, die den Beschuldigten zur Last gelegten Vergehen als „die naturnotwendigen Folgen eines widernatürlichen Systems“ hinzustellen, d.h. daß behauptet wurde, die katholische Kirche bringe jene Vergehen zwangsläufig hervor. Immer wieder wurde die Presse auch angewiesen, den Erziehungsanspruch der Kirche mit dem Hinweis auf die Sittlichkeitsprozesse zurückzuweisen – der „Völkische Beobachter“ brachte daraufhin die vermeintliche Haltung einer Schulklasse mit der Schlagzeile „Wir wollen uns vom Kaplan nicht mehr unterrichten lassen!“ zum Ausdruck und richtete an seine Leser die Frage: „Welche verantwortungsbewußten Eltern könnten es jetzt noch verantworten, ihre Jungen und Mädchen einer Organisation zu treuen Händen zu geben, von der über tausend Männer Sexualverbrecher sind?“167

Im Gegensatz zur nationalsozialistischen Presse beschränkte sich die gleichgeschaltete katholische und bürgerliche Tagespresse vielfach darauf, die Auflageberichte des Deutschen Nachrichtenbüros abzudrucken, und verzichtete auf weiterführende Kommentare. Nur wenige nutzten die Möglichkeiten, sich von der vorgegebenen Berichterstattung zu distanzieren, wie die „Frankfurter Zeitung“, indem sie beispielsweise Zwangsberichte abdruckte, die Wirkung dieser Berichte jedoch

166 Vermerk des Gestapa, 8.4.1937. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 46, S. 177. 167 Alle Zitate aus dem VB. Zit. nach Hockerts, Sittlichkeitsprozesse, S. 97ff. 64 teilweise dadurch zunichte machte, daß sie ihnen ebenso ausführliche Meldungen über Freisprüche von Geistlichen anfügte168.

Nicht nur durch eine regelmäßige Berichterstattung in der Presse, sondern auch über Rundfunk sowie in Broschüren und Flugblättern versuchte die nationalsozialistische Führung, die katholische Kirche und ihre Einrichtungen durch den Vorwurf zu diskreditieren, „wahre Brutstätten der Homosexualität“169 zu sein. Breite Wirkung erlangte auch die von Joseph Goebbels am 28. Mai 1937 auf einer Massenkundgebung in der Berliner Deutschlandhalle gehaltene Rede, die vom Rundfunk übertragen und am folgenden Tag von der gesamten deutschen Presse im Wortlaut veröffentlicht wurde. Analog zur Taktik des Pressefeldzuges verwies Goebbels auf das vermeintlich überhöhte Ausmaß, das die Homosexualität katholischer Geistlicher und Ordensangehöriger angenommen habe, und sprach im folgenden von „himmelschreienden Skandale[n]“, von einer „haarsträubende[n] Sittenverwilderung“ oder sogar einer kirchlichen „Sexualpest“ sowie von den „verbrecherischen sexuellen Verirrungen des katholischen Klerus“, die „das leibliche und seelische Wohl der deutschen Jugend auf das ernsteste zu bedrohen geeignet sind.“ Die so beschriebene kirchliche Verkommenheit kontrastierte Goebbels mit nationalsozialistischer Integrität – als “klares und deutliches Beispiel“ für die Moral der nationalsozialistischen Bewegung führte er ausgerechnet die Ereignisse um den 30. Juni 1934 an, als die Partei „über 60 Personen, die in der Partei [...] diese Laster zu züchten versuchten, kurzerhand erschossen“ habe170.

Auch Himmler ging in seiner umfassenden Stellungnahme zum Thema „Homosexualität“ vor SS- Gruppenführern auf die Verbreitung der Homosexualität in der katholischen Kirche ein: Er schätzte, daß „die Landpfarrer [...] über 50 % nicht homosexuell sind“, während in den Klöstern das Ausmaß der Homosexualität 90-100 % betrage. Hiervon seien nicht nur die unteren Ordensangehörigen betroffen, sondern es könne davon ausgegangen werden, so Himmler, „daß die Kirchenorganisation in ihrer Führerschaft, ihrem Priestertum, zum überwiegenden Teil ein homosexueller erotischer Männerbund ist“171. Neben dem Verweis auf das vermeintlich große Ausmaß der Homosexualität unter katholischen Priestern und Ordensangehörigen wurde immer wieder versucht, die kirchliche Jugendarbeit mit dem Hinweis auf die Sittlichkeitsprozesse zu diskreditieren. So erklärte Kriminalrat Meisinger im April 1937, zu den Aufgaben der gerade errichteten Reichszentrale zur Bekämpfung

168 Ebd., S. 95. 169 So die „Sprachregelung“ durch den Leiter der Presseabteilung im Propagandaministerium; ebd., S. 85. 170 Rede des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Goebbels auf einer öffentlichen Kundgebung in Berlin über die Ordensprozesse in Deutschland, 28.5.1937. Auszugsweise abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Bd. 11, Dok. 2525d, S. 245-248. 171 Himmler, Geheimreden, S. 102f. 65 der Homosexualität und Abtreibung gehöre insbesondere die Eindämmung der „Jugendverführung“. Man könne jedoch „über Homosexualität und Jugendverführung nicht sprechen, ohne jene Institutionen zu erwähnen, die diese Volksseuche seit Jahrhunderten hinter ihren Mauern großgezogen [...] haben“. Klosterleben und Homosexualität seien „seit Jahrhunderten unzertrennbare Erscheinungen“ und, so Meisinger weiter, „es ist unmöglich, mit Worten jene Scheußlichkeiten zu beschreiben, die im Laufe der Ermittlungen in den letzten Monaten anläßlich der verschiedenen Klosteruntersuchungen ans Tageslicht kamen“. An das Mitgefühl seiner Zuhörer appellierend, sprach er weiter: „Wer die weinenden Eltern, die hilflosen, gebrechlichen und geistesschwachen Zöglinge sah, wer die gemeinen Verbrechertypen im Gerichtssaal im Verkehr mit ihren Verteidigern verfolgen konnte, dem wird dieser Eindruck in seinem Leben niemals mehr verwischt werden können“172.

Trotz aller Anstrengungen wurde der propagandistische Zweck, den man sich von den Sittlichkeitsprozessen versprach, nicht erreicht. Zwar finden sich in den Sopade-Berichten Schilderungen, die darauf schließen lassen, daß eine Minderheit in der Bevölkerung der Berichterstattung über die Prozesse Glauben schenkte – so soll beispielsweise ein Lehrer vor seinen Schülern die Einrichtungen der katholischen Kirche als „Lasterhöhlen“173 dargestellt haben. Insbesondere Mitglieder von NS-Organisationen nahmen die Vorwürfe gegen katholische Geistliche zum Anlaß für Übergriffe174. Mehrheitlich weckte die Radikalität der Propaganda jedoch Mißtrauen in der Bevölkerung, und man sah „die vielen Klosterprozesse und Beschuldigungen“ gegen katholische Geistliche „als mindestens übertrieben an“175. Insbesondere bei den eigentlichen Adressaten der Propagandaaktion, den katholischen Gläubigen, bewirkte die Prozeßberichterstattung nicht den gewünschten Erfolg – zeitgenössischen und späteren Urteilen ist zu entnehmen, daß die katholische Kirche in der katholischen Bevölkerung keineswegs an Ansehen verlor, und auch die von den Nationalsozialisten erhofften Massenaustritte blieben, wie Hockerts nachweisen konnte, aus176. Vielmehr stießen die Prozeßberichte bei den katholischen Gläubigen mehrheitlich auf Mißtrauen, und besonders in ländlich geprägten Gebieten war man überzeugt, wie es in den staatlichen Lageberichten für die bayerischen Regierungsbezirke festgehalten wurde, „daß die Berichte der Tageszeitungen über die Vergehen und Verbrechen von Geistlichen und Ordensleuten entweder überhaupt unwahr oder doch stark übertrieben seien“. Zunehmend wurde auch die politische Intention der

172 Vortrag Kriminalrat Meisinger am 5./6. April 1937 in Berlin. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 38, S. 147ff., hier S. 149f. 173 Deutschland-Berichte der Sopade 4 (1937), S. 1181. 174 Ebd., S. 1168ff. 175 Ebd., S. 1166. 176 Hockerts, Sittlichkeitsprozesse, S. 185ff. 66

Propagandaaktion durchschaut. So heißt es in einem anderen Lagebericht, es werde befürchtet, „daß der Kampf des Staates nicht mehr allein den Auswüchsen in den Klöstern und bei den Geistlichen gilt, sondern der Kirche selbst“177. Nicht nur die intendierte Wirkung der Propaganda blieb aus, sondern darüber hinaus waren auch gegenläufige Tendenzen bemerkbar: Zum einen stärkte die als übertrieben empfundene Prozeßberichterstattung das latente Mißtrauen in der Bevölkerung gegenüber der staatlich gelenkten Presse (aus Protest wurden sogar Zeitungsabonnements gekündigt178), zum anderen nahmen als Folge der Prozesse viele Katholiken noch intensiver am kirchlichen Leben teil und engagierten sich spürbar für die verleumdete Kirche179. Als Hitler den Mißerfolg der Kampagne bemerkte, ließ er sie nicht nur unvermittelt abbrechen, sondern bemühte sich in der Folgezeit sogar, die katholische Bevölkerung zu beschwichtigen. So führte er beispielsweise in einer Reichstagsrede vom Januar 1939 aus, daß es „bestimmte Moralgrundsätze, deren Einhaltung im Interesse der biologischen Gesundheit eines Volkes liegt“, gäbe, an denen der nationalsozialistische Staat „auch nicht rütteln lasse[] [...], ganz gleich, wer diese Vergehen begeht“. Als sich „vor fünf Jahren führende Köpfe der nationalsozialistischen Partei dieser Verbrechen schuldig“ gemacht hätten, wären sie erschossen worden. Würden Priester die gleichen Delikte begehen, müßten sie mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft werden. Die übrigen Vergehen von Priestern gegen das Gelübde der Keuschheit, so Hitler weiter, „interessieren uns gar nicht“, es sei auch „noch nie ein Wort in unserer Presse darüber erschienen“180.

Der Versuch der Nationalsozialisten, in der deutschen Gesellschaft bestehende antihomosexuelle Einstellungen zu instrumentalisieren, um die Institution der katholischen Kirche als moralische Autorität zu erschüttern, scheiterte somit. Dies lag gewiß nicht an einer möglicherweise toleranteren Einstellung der katholischen Bevölkerung gegenüber Homosexuellen. Ganz im Gegenteil wurden Geistliche und Ordensangehörige, die eines Vergehens im Sinne des § 175 für schuldig befunden wurden, aus der Kirche ausgeschlossen, womit einer noch stärkeren Diskriminierung Homosexueller Vorschub geleistet wurde. Die Gründe für das Scheitern der Propagandaaktion gegen die katholische Kirche sieht Hockerts in der traditionsgebundenen Gläubigkeit der Katholiken sowie in dem Wissen um die Spannungen zwischen der Kirche und dem Regime und in der propagandistischen Gegenarbeit, die in Predigten, privaten Gesprächen, Hirtenbriefen und auch Flugschriften geleistet wurde. Hinzu kam, daß die Gläubigen mit dem beschuldigten Personenkreis oft in engem Kontakt

177 Zit. nach ebd., S. 196f. und S. 198. 178 Ebd., S. 199. 179 Ebd., S. 208. 180 Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 2 (1), S. 1060. 67 standen und daher die Inhalte der nationalsozialistischen Propaganda durch ihre unmittelbaren persönlichen Eindrücke relativieren konnten181. Diese Faktoren ermöglichten es, daß die katholische Bevölkerung gegenüber der Propagandaaktion im Rahmen der Sittlichkeitsprozesse mehrheitlich resistent blieb – die Wirksamkeit der Instrumentalisierung antihomosexueller Einstellungen in der Bevölkerung wurde in diesem Fall von den Nationalsozialisten überschätzt.

2.4.3. Der Fall Fritsch

Der Vorwurf der Homosexualität spielte bei einem weiteren innenpolitischen Ereignis eine bedeutsame Rolle – der Absetzung des Generalobersten Werner Freiherr von Fritsch182. Ausgelöst wurde dieses Ereignis im Januar 1938 durch einen „Heiratsskandal“ des Reichskriegsministers Generalfeldmarschall von Blomberg183. Dessen zweite Ehe galt als mit den Normen der militärständischen Heiratsordnung unvereinbar, nachdem das „sittenwidrige“ Vorleben seiner Frau, das Blomberg auch gegenüber den beiden Trauzeugen Hitler und Göring verschwiegen hatte, bekannt geworden war. Bereits wenige Tage nach der Eheschließung trat Blomberg von seinem Amt zurück. Unter den Anwärtern auf den freigewordenen Posten des Reichskriegsministers stand Fritsch als bisheriger Oberbefehlshaber des Heeres an erster Stelle184. Ob Hitler sich zu diesem Zeitpunkt an eine ihm im Sommer 1936 von Göring vorgelegte Polizeiakte „erinnerte“185, nach der Fritsch beschuldigt wurde, sich um die Jahreswende 1933/34 homosexuell betätigt zu haben und deswegen erpreßt worden zu sein, oder ob, wie gelegentlich zu lesen ist, diese Akte „von Göring und Himmler gemeinsam besorgt“186 und Hitler vorgelegt wurde, ist bis heute nicht geklärt. Damals hatte Hitler die Anschuldigungen gegen Fritsch ignoriert, da dieser – wie er später erklärte – in der Zeit des militärischen Aufbaus in seiner Funktion unentbehrlich gewesen sei. Nach dem erzwungenen Rücktritt Blombergs ließ Hitler die Ermittlungen gegen Fritsch durch die Gestapo wieder aufnehmen. Es kam zu einer Gegenüberstellung mit dem Hauptbelastungszeugen Otto Schmidt, zu der sich

181 Hockerts, Sittlichkeitsprozesse, S. 212f. 182 Vgl. hierzu und im folgenden Harold C. Deutsch: Das Komplott oder Die Entmachtung der Generale. Blomberg- und Fritsch-Krise – Hitlers Weg zum Krieg. Zürich 1974 sowie Karl-Heinz Janßen; Fritz Tobias: Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blomberg-Fritsch-Krise 1938. München 1994. 183 Vgl. zur Person Blombergs ausführlich Samuel W. Mitcham: Generalfeldmarschall Werner von Blomberg. In: Hitlers militärische Elite. Bd. 1: Von den Anfängen des Regimes bis Kriegsbeginn, hg. von Gerd R. Ueberschär. Darmstadt 1998, S. 28-36. 184 Vgl. zur Person Fritschs ausführlich Horst Mühleisen: Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch. In: Ebd., S. 61-70. 185 Janßen; Tobias, Sturz der Generäle, S. 86. 186 Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt/M. [u.a.] 1973, S. 746. 68

Fritsch bereit erklärte bzw. die er zur Aufklärung des Falles sogar ausdrücklich wünschte, obwohl er formalrechtlich dazu nicht verpflichtet war, da er als Offizier der Wehrmacht ausschließlich der Gerichtsbarkeit der Armee unterstand. Schmidt, ein mehrfach vorbestrafter Berliner Strichjunge, hielt nach der Gegenüberstellung an seiner Behauptung fest, daß Fritsch mit dem von ihm erpreßten Offizier identisch sei. Ebenso blieb Fritsch bei seiner Aussage, mit dem Vorgang nichts zu tun zu haben. In dieser Situation schaltete Hitler den Reichsjustizminister Franz Gürtner ein, dessen kurze Zeit später erstelltes Gutachten die Anklageerhebung gegen Fritsch nahelegte. Hitler beurlaubte daraufhin den Generalobersten und leitete ein kriegsgerichtliches Verfahren wegen Vergehen nach § 175 gegen ihn ein – als Nachfolger Blombergs war Fritsch damit nicht mehr tragbar. Als Anwärter für das Amt des Kriegsministers kamen nun insbesondere Reichenau, Göring sowie Himmler in Frage, die jeweils versuchten, sich bei Hitler zu profilieren, indem sie die Ermittlungen gegen Fritsch vorantrieben. Hitler jedoch fand eine ganz andere Lösung für das Nachfolgeproblem: Er löste das Kriegsministerium auf, übertrug die Geschäfte dieses Ministeriums einem neugeschaffenen Oberkommando der Wehrmacht (OKW) mit General Wilhelm Keitel an der Spitze und übernahm selbst den direkten Oberbefehl über die Wehrmacht187. Nachdem Fritsch am 3. Februar 1938 auf Aufforderung Hitlers sein Abschiedsgesuch eingereicht hatte, wurde noch am selben Tag Generaloberst Walther v. Brauchitsch zu seinem Nachfolger bestimmt188.

Hitler nahm die Neubesetzung bzw. Umstrukturierung der Ämter Blombergs und Fritschs zum Anlaß für ein umfangreiches Revirement in der Wehrmachtführung: Zwölf der ranghöchsten Generäle wurden entlassen und 51 weitere Positionen durch Neu- und Umbesetzungen, Versetzungen und Beförderungen verändert. Parallel dazu erfolgte ein umfangreicher Personalwechsel auch im Auswärtigen Amt. Durch dieses Revirement gelang es Hitler, der um jeden Preis vor dem Ausland und der deutschen Bevölkerung den Anschein einer inneren Krise vermeiden wollte, von den beiden problematischen Personalabsetzungen an der Wehrmachtspitze abzulenken bzw. diese unter dem Vorwand einer Verjüngung des Führungsapparates als normalen Vorgang hinzustellen. Das am Abend des 4. Februar im Radio verlesene Kommuniqué der Reichsregierung, in dem die Personalveränderungen bekanntgegeben wurden, erregte auf diese Weise wenig Aufsehen in der Öffentlichkeit.

Einen Tag später erklärte Hitler seine Handlungsweise gegenüber den obersten Führern der Wehrmacht. In seiner Darstellung der Ereignisse, die zum Ausscheiden Blombergs und Fritschs aus

187 Den nominellen Oberbefehl hatte Hitler bereits mit der Übernahme des Reichspräsidentenamtes nach dem Tod Hindenburgs 1934 und mit der Vereidigung der Streitkräfte auf seine Person erhalten. 69 der Wehrmachtspitze geführt hatten, nahmen die moralischen Aspekte breiten Raum ein. Er beschrieb die Einzelheiten beider Affären, las aus den Polizeiakten sowie aus dem Gutachten Gürtners vor und stellte – ohne daß ein Nachweis erbracht worden war – die vermeintliche Homosexualität Fritschs als praktisch erwiesen hin. Mit seiner Darstellung erreichte Hitler das gewünschte Ziel: Die anwesenden Wehrmachtführer – viele von ihnen hatten bisher wenig oder gar nichts von den Vorwürfen erfahren – reagierten bestürzt und waren in ihrem Standesbewußtsein tief gekränkt. Möglicherweise war diese „moralische Lähmung“189, so Janßen und Tobias, der Grund dafür, daß die Absetzung Fritschs noch während des schwebenden Verfahrens von der Wehrmachtführung weitgehend widerspruchslos hingenommen wurde.

Im März 1938 trat schließlich das Kriegsgericht im Fall Fritsch zusammen. Bereits die umfangreichen Voruntersuchungen hatten ergeben, daß eine Verwechslung stattgefunden hatte: Bei dem durch die Zeugenaussage Schmidts Belasteten handelte es sich um einen Rittmeister a.D. Achim von Fritsch, der sich auch zu den Vorgängen im fraglichen Zeitraum bekannte. Nachdem weitere Zeugenaussagen zugunsten des Generalobersten Fritsch ausfielen, gestand schließlich auch der Hauptbelastungszeuge Schmidt seine Falschaussage. Am 18. März schloß die Hauptverhandlung mit der Feststellung der „Unschuld des Generalobersten a.D. Freiherr von Fritsch in allen Punkten“190. Fast drei Monate später, am 13. Juni 1938, erfolgte die lange hinausgezögerte Rehabilitation Fritschs durch Hitler vor der anläßlich einer Luftwaffenvorführung versammelten Wehrmachtführung.

Die Frage nach den Motiven und Urhebern der Blomberg-Fritsch-Affäre wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Sie ist hier im wesentlichen hinsichtlich der Bewertung des Homosexualitätsvorwurfs gegen Fritsch von Interesse. Eine Deutungsvariante beschreibt die Vorfälle, die zur Absetzung des Generalobersten führten, als „eine schmutzige Intrige [...], hinter der die Rivalen Göring und Himmler standen“191. Dazu erklärt Utz, der sich eingehend mit dem Intrigencharakter der Blomberg-Fritsch-Affäre auseinandersetzt, daß die beiden potentiellen Intriganten zwar versuchten, Hitler zu ihrem eigenen Vorteil gegen Fritsch zu mobilisieren, ohne daraus jedoch entscheidenden persönlichen Nutzen ziehen zu können192. Unklar bleibt hierbei, welche

188 Erlaß über die Führung der Wehrmacht, 4.2.1938 sowie Amtliche Mitteilung über den Wechsel in der Führung der Wehrmacht, 4.2.1938. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Bd. 11, Dok. 2601a und b, S. 564f. 189 Janßen; Tobias, Sturz der Generäle, S. 153. 190 Kriegsgerichtsurteil gegen Generaloberst Freiherr von Fritsch, 18..3.1938. Auszugsweise abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Bd. 11, Dok. 2602a, S. 566. 191 So z.B. Karl Dietrich Bracher in seinem zu einem Standardwerk über die Geschichte des Nationalsozialismus gewordenen Buch: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus. Köln 61969, S. 427. 192 Vgl. hierzu Utz, Soziologie der Intrige, S. 245ff. 70

Rolle Hitler bei der Auslösung der Affäre einnahm. Nach einer anderen Deutung wurden der Heiratsskandal Blombergs und der Homosexualitätsvorwurf gegen Fritsch durch Hitler unter Mithilfe von Himmler inszeniert, um sich auf diese Weise von einer Gruppe konservativer Wehrmachtführer zu trennen, über deren mangelnde Risikobereitschaft Hitler sich während der Novemberkonferenz von 1937 bewußt geworden sein soll193. Nach dieser Interpretation waren die Ereignisse vom Januar und Februar 1938 gleichsam ein „trockener 30. Juni“194.

Setzt man die Situation, die durch die Blomberg-Affäre entstanden war, als gegeben voraus, so bleibt die Tatsache, daß Hitler den eigentlich dazu prädestinierten Oberbefehlshaber des Heeres, Freiherr von Fritsch, nicht zum Nachfolger im Reichskriegsministeramt machen wollte. Dies hatte sicherlich wenig zu tun mit einer sittlichen Entrüstung Hitlers über den Homosexualitätsvorwurf oder, wie Janßen und Tobias nahelegen, mit der Befürchtung Hitlers, Fritsch könnte Opfer von Erpressungen, z.B. durch den ausländischen Geheimdienst, werden195 – in diesem Fall hätte Hitler zumindest den Ausgang der Gerichtsverhandlung abwarten können. Ausschlaggebend dürfte wohl eher gewesen sein, daß Hitler die sich ihm bietende Gelegenheit für eine Neustrukturierung der Wehrmacht nutzen wollte, bei der er selbst den direkten Oberbefehl erhielt, und Fritsch, der viel dafür getan hatte, die Sonderstellung des Heeres gegen Übergriffe der Partei abzuschirmen und sich zu einer „Symbolfigur einer alternativen politischen Kultur im Dritten Reich“196 entwickelt hatte, durch den ihm persönlich und politisch stärker verbundenen Generaloberst v. Brauchitsch ersetzte197. Ob Hitler bereits von Beginn der Affäre an darauf hinarbeitete, ein Revirement in der Wehrmachtführung durchzuführen, mag dahingestellt bleiben. Was die Person Fritschs betraf, so bot der Jahre zurückliegende Vorwurf der Homosexualität zumindest die Möglichkeit, Fritsch zu beurlauben und sein hohes Ansehen in den Offizierskreisen so weit zu schwächen, daß er als Nachfolger Blombergs ausschied. Bereits die Einleitung eines Verfahrens nach § 175 sowie die Art der von Fritsch geduldeten Ermittlungen hatten den Generalobersten in den Augen der standesbewußten Offiziere und Generäle ebenso diskreditiert

193 Vgl. hierzu die Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei am 5. November 1937. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen. Bd. 11, Dok. 2598a, S. 545ff. 194 Fest, Hitler, S. 747. 195 Janßen; Tobias, Sturz der Generäle, S. 91. 196 Klaus-Jürgen Müller: Armee und Drittes Reich 1933-1939. Darstellung und Dokumentation. Paderborn 1987, S. 90. 197 Auch wenn die Bedeutung der Konferenz vom 5. November 1937 für die Blomberg-Fritsch-Affäre nach neueren Interpretationen nicht überschätzt werden soll, stellte die Übernahme des direkten Oberbefehls durch Hitler persönlich und die Umstrukturierung der Wehrmachtspitze auf jeden Fall einen „entscheidenden Meilenstein auf dem Weg zur Durchsetzung der absoluten Führergewalt im Augenblick des Übergangs zu einer expansiven Außenpolitik“ dar. Vgl. Müller, Armee und Drittes Reich, S. 91f. 71 wie den Reichskriegsminister Blomberg seine Ehe mit Margarethe Grun. Der Vorwurf der Homosexualität war in diesen Kreisen ein geeignetes Instrument zur Durchsetzung politischer Ziele.

Nicht vollständig geklärt ist, weshalb Hitler Fritsch nicht auch vor der inländischen Öffentlichkeit und dem Ausland durch den Vorwurf der Homosexualität diskreditierte und damit die Absetzung als Oberbefehlshaber des Heeres rechtfertigte. Denkbar ist, daß man, nachdem 1934 bereits die Erschießung Röhms und anderer SA-Führer auf die homosexuelle „Cliquenwirtschaft“ in der SA zurückgeführt wurde, vor der deutschen Bevölkerung und vor dem Ausland nicht den Eindruck erwecken wollte, daß in sämtlichen NS-Formationen die Homosexualität unter den Führungskräften verbreitet sei. Möglicherweise wollte man den Homosexualitätsvorwurf zur Ausschaltung politisch mißliebiger Personen auch nach der nur wenige Monate zurückliegenden ausführlichen Berichterstattung über die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Geistliche nicht überstrapazieren. Hinzu kam, daß der zu erwartende Freispruch Fritschs in dem kriegsgerichtlichen Verfahren aus der Sicht der Bevölkerung eine Absetzung des Oberbefehlshabers hätte ungerechtfertigt erscheinen lassen – dies galt aus den oben angeführten Gründen für die Wehrmachtführung nur eingeschränkt. Vor der deutschen Bevölkerung und dem Ausland legitimierte Hitler den Führungswechsel in der Wehrmacht deshalb auf andere Weise und spielte die politische Bedeutung der Vorfälle bewußt herunter.

2.5. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik auf den Alltag Homosexueller

Von den Maßnahmen der offiziellen Instanzen sozialer Kontrolle, die von einer gerichtlichen Verurteilung zu Geld- oder Haftstrafen sowie zu „Maßnahmen der Sicherung und Besserung“ bis hin zur KZ-Einweisung und Todesstrafe reichten, war nur eine Minderheit der in Deutschland lebenden Homosexuellen direkt betroffen. Die meisten Homosexuellen konnten gegen sie gerichtete Sanktionen vermeiden und überstanden die NS-Zeit, ohne direkt mit dem nationalsozialistischen Verfolgungsapparat konfrontiert zu werden. Leidtragende des NS-Systems waren jedoch auch sie, da die antihomosexuelle Propaganda und Politik ihr Alltagsleben nachhaltig beeinflußte. 72

2.5.1. Die Zerstörung der Einrichtungen homosexueller Subkultur und die Zerschlagung der Institutionen der Homosexuellenverbände

Bereits im Frühjahr 1933 richteten sich erste Maßnahmen der nationalsozialistischen Machthaber gegen die Manifestationen der Homosexuellenbewegung und ihrer Subkultur. Vorrangiges Ziel war die Verdrängung der Homosexualität – wie überhaupt jeglicher Form öffentlicher „Unsittlichkeit“ – aus dem Erscheinungsbild der Großstädte. Nach einem Runderlaß des Preußischen Ministers des Inneren vom 23. Februar sollten „Gaststätten [...], die zur Förderung der Unsittlichkeit mißbraucht werden“, darunter solche, „in denen ausschließlich oder überwiegend Personen verkehren, die der widernatürlichen Unzucht huldigen“, im Zuge der „sittliche[n] Erneuerung des deutschen Volkes“198 geschlossen werden. In der Folgezeit mußten zahlreiche Lokale und Bars, die als Treffpunkte Homosexueller bekannt waren, den Betrieb einstellen199. Zwar gab es nach den Aussagen von Zeitzeugen in den Großstädten, besonders in Berlin, während der gesamten nationalsozialistischen Herrschaft Ansätze einer homosexuellen Subkultur200; die wenigen Versammlungsorte für homosexuelle Frauen und Männer bestanden jedoch in der Regel nur für kurze Zeit, und die Gäste waren der ständigen Gefahr einer Festnahme im Zuge von immer wieder stattfindenden Razzien ausgesetzt. In einigen Fällen sollen Lokale mit homosexuellem Zielpublikum in Großstädten sogar bewußt nicht geschlossen worden sein, um eine einfache Kontrolle der Homosexuellenszene durch die Polizei zu ermöglichen201.

Betraf die Schließung von Lokalen hauptsächlich die in den Großstädten lebenden homosexuellen Frauen und Männer, so wirkte sich das ebenfalls noch im Februar 1933 erlassene Verbot von „Druckschriften [...], die, sei es durch Beifügung von Nacktabbildungen, sei es durch die Art der Betitelung oder der Inhaltsangabe bei dem Beschauer erotische Wirkungen auslösen sollen“202, auf

198 Zweiter Runderlaß des Preußischen Ministers des Inneren, 23.2.1933. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS- Zeit, Dok. 2, S. 56f. 199 Vgl. Wolfgang D. Berude: Das Ende der „Blütenfeste“. Zum Vorgehen der nationalsozialistischen Polizei gegen Homosexuellenlokale – dargestellt an Beispielen aus dem Ruhrgebiet. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 47-61. 200 Vgl. insbesondere Manfred Herzer: Hinweise auf das schwule Berlin in der Nazizeit. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Museum. Berlin 1984, S. 44-47. 201 Frank Sparing: „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“: Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Düsseldorf 1997, S. 104. 202 Dritter Runderlaß des Preußischen Ministers des Inneren, 24.2.1933. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS- Zeit, Dok. 3, S. 58ff. Vgl. hierzu auch allgemein das Kapitel „Moral Purity and the Battle against 'Vice'“ bei: John C. Fout: Sexual Politics in Wilhelmine Germany: The Male Gender Crisis, Moral Purity, and Homophobia. In: Forbidden History. The State, Society, and the Regulation of Sexuality in Modern Europe, hg. von John C. Fout. Chicago [u.a.] 1992, S. 259-292, hier S. 274ff. 73 den Alltag auch derjenigen Homosexuellen aus, die die vorwiegend in den Großstädten bestehenden Einrichtungen homosexueller Subkultur nicht nutzen konnten. Von dem Publikationsverbot der zum Teil schon unter das 1926 erlassene Gesetz gegen sog. Schund- und Schmutzliteratur fallenden Schriften waren auch sämtliche Homosexuellen-Magazine betroffen. Zeitschriften der homosexuellen Emanzipationsbewegung, wie z.B. die „Blätter für Menschenrechte“ oder „Die Insel“, mußten in der Folgezeit ihr Erscheinen einstellen; die Schriften Hirschfelds sowie anderer Sexualreformer wurden am 10.5.1933 zusammen mit denen anderer deutscher Schriftsteller verbrannt. Auch aus der Literatur sollte das Thema Homosexualität verdrängt werden, was allerdings nicht konsequent gelang, so daß Werke mit homoerotischem Inhalt zum Teil auch nach 1933 in Deutschland erhältlich waren203.

Die öffentliche Ordnung schien mit diesen und anderen Maßnahmen, wie z.B. der Wiedereinführung der 1927 aufgehobenen Kasernierung von Prostituierten204, wiederhergestellt zu sein. Soweit Homosexuelle in dieser Zeit nicht in irgendeiner Weise sozial auffällig wurden (z.B. auf dem Sektor der Prostitution), blieben sie von den unmittelbar nach 1933 einsetzenden Verfolgungsmaßnahmen in der Regel noch ausgeschlossen. Dies galt nicht für die führenden Mitglieder der Selbstorganisationen Homosexueller, wie z.B. Kurt Hiller, den stellvertretenden Vorsitzenden des WhK, der bereits kurze Zeit nach dem Reichstagsbrand verhaftet wurde und nach seiner Entlassung 1934 schließlich nach Prag emigrierte, um weiteren Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen205. Hirschfeld kehrte von einer Weltreise, die er bereits 1930 angetreten hatte, nicht mehr nach Deutschland zurück und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1935 in Südfrankreich206. Für die Homosexuellenbewegung bedeutete die nationalsozialistische Machtergreifung das Ende ihrer Tätigkeit. Im Mai 1933 wurde von den Nationalsozialisten das IfS zerstört und die gesamte Bibliothek verbrannt207.

203 Vgl. hierzu Christian Klein: Alles verboten und verbrannt? Anmerkungen zur Lage der schwulen deutschsprachigen Literatur zwischen 1933 und 1945. In: Verqueere Wissenschaft? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart, hg. von Ursula Ferdinand [u.a.]. Münster 1998, S. 83-90 sowie ders.: „Wanderer zwischen den Welten“. Der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers zwischen Homosexuellenbewegung und Nationalsozialismus. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 75-86. 204 Vgl. hierzu beispielsweise Gaby Zürn: „A. ist Prostituiertentyp“. Zur Ausgrenzung und Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten Frauen im nationalsozialistischen Hamburg. In: Verachtet, Verfolgt, Vernichtet, hg. von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes. Hamburg 1988, S. 129-151, hier S. 138. 205 Vgl. Hans-Günter Klein: Kurt Hiller. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 147-149. 206 Lindemann, Magnus Hirschfeld, S. 92. 207 Vgl. hierzu den Bericht eines Augenzeugen. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 4, S. 60ff. 74

Mit der Zerschlagung der Selbstorganisation Homosexueller wurden die Ansätze homosexueller Vergesellschaftung zerstört, die in den zurückliegenden Jahrzehnten die Grundlage für die allmähliche Herausbildung einer kollektiven homosexuellen Identität gebildet hatten. Sämtliche gesellschaftlichen Aktivitäten – ihre Artikulation in der politischen Szene und ihr soziales Sichtbarwerden – fanden im Frühjahr 1933 ein abruptes Ende208.

2.5.2. Die „Angst vor dem Erwischtwerden“ – Homosexuell-Sein im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland

Die Ausschaltung der öffentlichen und organisierten Form homosexuellen Lebens bereits in der Anfangsphase der NS-Herrschaft stellte für homosexuelle Frauen und Männer, insbesondere in den Großstädten, eine Zäsur in ihrem Alltagsleben sowie in dem Erleben ihrer sozialen Außenseiterrolle dar. Nachdem die meisten Einrichtungen der Subkultur verschwunden waren, prägte Unsicherheit die Begegnungssituationen Homosexueller. Was dies für den einzelnen bedeutete, ist aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar. Hierzu erläutert Lautmann: „Wer es nie selber erlebt hat, was es bedeutet, mit elementaren Bedürfnissen ins Abseits, ins Kriminelle gedrängt zu werden, dem ist schwer zu erklären, was den Homosexuellen hier genommen wurde: das bißchen Sicherheit, das sie sich in einer ohnehin feindlichen Umwelt hatten schaffen können.“209

Folgt man Berichten Überlebender, so fühlten sich die meisten homosexuellen Männer trotz der im Frühjahr 1933 durchgeführten Maßnahmen gegen bestehende Formen homosexueller Vergesellschaftung und der bekannten antihomosexuellen Einstellung der NSDAP zu dieser Zeit noch relativ sicher. Hierbei dürfte die seit langem bekannte und von den Nationalsozialisten offenbar geduldete Homosexualität des SA-Stabschefs Röhm von Bedeutung gewesen sein. So erklärt Albrecht Becker aus Hamburg zu seiner damaligen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus: „Mir war [...] zu Ohren gekommen, daß der SA-Chef Röhm ein ziemlich offen schwul lebender Mensch war – der propagierte die Homosexualität ja förmlich. Und deshalb glaubte ich, von den Nazis nichts weiter befürchten zu müssen.“210 Erst die Ermordung Röhms und die darauffolgende Welle antihomosexueller Propaganda machten vielen Homosexuellen ihre gefährliche Situation im nationalsozialistischen Deutschland bewußt: „Das Vorgehen gegen Röhm im Juni 1934 und seine

208 Lautmann, Zwang zur Tugend, S. 167f. 209 Ebd., S. 166. 210 Albrecht Becker, in: Dijk, Ein erfülltes Leben – trotzdem, S. 38. 75

Erschießung war das Fanal für uns. Da waren wir schon gewarnt, das war der Anfang.“211 Dies galt auch für lesbische Frauen; eine Zeitgenossin erzählt: „Ich habe natürlich gewußt, daß die Nazis Homosexualität verurteilten – siehe die Röhm-Affaire – und hab’ mich entsprechend zurückgehalten.“212

Nach der Röhm-Affäre und besonders im Zuge der darauffolgenden Verschärfung des § 175 setzte die Verfolgung von homosexuellen Männern auf breiter Ebene ein. Unter den in Deutschland lebenden Homosexuellen herrschte aufgrund der zahlreichen Festnahmen ein Klima der Angst. Dies hatte Auswirkungen auf das Verhalten homosexueller Männer und Frauen. Um das Risiko einer Festnahme zu mindern, befolgten sie im Umgang miteinander Tarnregeln: So wurden beispielsweise Decknamen verwendet und falsche Wohnorte angegeben, um die eigene Anonymität zu wahren, oder homosexuelle Treffen – zum Teil sogar in Anwesenheit von „Alibifrauen“ – als Kartenclubs getarnt213. Auf den ersten Blick scheint es sich hierbei um belanglose Verhaltensregeln zu handeln, die Homosexuelle übrigens zum Teil nicht nur aus Angst vor Verfolgung einhielten, sondern auch, um gesellschaftlichen und familiären Erwartungen zu entsprechen. Die Tarnung, die Homosexuelle aufgrund des äußeren Zwanges betrieben, hatte jedoch, so stellt Lautmann fest, eine negative Selbstdeutung der Homosexuellen zur Folge: Je mehr das Tarnen habitualisiert werde, „desto mehr durchdringt es die gesamte Persönlichkeit und wird zur zweiten Natur“214. Eine weitere Folge der Anonymisierung der Kontakte zwischen homosexuellen Männern war die Unbeständigkeit von Beziehungen homosexueller Paare. Die Promiskuität Homosexueller wurde auch von zeitgenössischen Wissenschaftlern erkannt und als Kennzeichen „für die sexuelle Vereinsamung, die im wesentlichen der Ausdruck völliger Autoerotik“ sei, gewertet. Der Partner spiele „nur als Mitbetätiger, als Vollzugs- bzw. Erleidensobjekt“ eine Rolle, zentral bleibe „der eigene Lustgewinn, also eine erweiterte Onanie“215. Daß jedoch die nationalsozialistischen Repressionsmaßnahmen gegenüber Homosexuellen diese dazu brachten, Sexualität immer stärker im Verborgenen und vom Alltagsleben weitgehend getrennt auszuleben, wurde hierbei übersehen. Trotz der Strafandrohung durch den § 175a führte die Anonymisierung von Sexualkontakten auch zu einem Anstieg der männlichen Prostitution; gleichzeitig blieben Formen des Zusammenlebens homosexueller Männer in

211 „Und alles wegen der Jungs.“ Pfadfinderführer und KZ-Häftling: Heinz Dörmer, hg. von Andreas Sternweiler. Berlin 1994, S. 52. 212 Elisabeth Zimmermann, in: Schoppmann, Zeit der Maskierung, S. 114. 213 Vgl. Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 281f. 214 Lautmann, Zwang zur Tugend, S. 169. 215 Bürger-Prinz, Gedanken zum Problem der Homosexualität, S. 432. 76 dieser Zeit weitgehend unentwickelt 216. Eine andere Möglichkeit der Sanktionsvermeidung bestand darin, Verzicht zu üben. Ein überlebender Homosexueller berichtet, er hätte damals viele Beziehungen eingehen können, „aber die Angst vor dem Erwischtwerden war so groß, daß ich mir nichts, was auch nur den Anschein 'so zu sein' erweckt hätte, erlaubte“217.

Die Sublimierung von Sexualität stellte für Homosexuelle die einzige weitgehend sichere Möglichkeit dar, gegen sie gerichtete Sanktionen zu vermeiden. Dagegen konnten homosexuelle Männer, die ihre Sexualität auslebten, das Risiko der Verfolgung auch durch die Einhaltung der beschriebenen Verhaltensmaßregeln im Umgang miteinander keineswegs ausschließen. Die Ermittlung von Homosexualitätsdelikten bereitete den mit der Verfolgung beauftragten Institutionen allerdings einige Schwierigkeiten, weil es sich bei der einfachen Homosexualität um ein „konsensuales Delikt“ handelt218 – bei dem die Beteiligten einvernehmlich handeln, so daß es in der Regel kein anzeigendes Opfer gibt –, das zudem ausschließlich die Privat- und Intimsphäre der Handelnden betrifft. Polizeibeamte wurden deshalb ausführlich über ein bei der Ermittlung von Homosexualitätsdelikten geeignetes Vorgehen instruiert. So heißt es beispielsweise in den Richtlinien der Kriminalpolizeistelle Kassel vom 11. Mai 1937, daß homosexuelle Männer unter anderem dadurch auffielen,

„daß sie weibliche Gesellschaft meiden, sich fast ausschließlich in Begleitung von Männern zeigen und oft Arm in Arm mit ihnen gehen. Die Hotelpförtner, die Gepäckträger auf den Bahnhöfen, die Kraftdroschkenkutscher, die Aufwartemänner in den Bedürfnisanstalten, die Friseure, insbesondere auf Bahnhöfen und in Hotels, die Badewärter sind geeignete Auskunftspersonen zur Erfassung dieser Homosexuellen.“

Daraus folge, „daß der Polizeibeamte, der die Homosexualität mit Erfolg bekämpfen will, Fühlung mit allen Bevölkerungsschichten haben muß. Er muß hellhörig werden und verdächtige Äußerungen der Volksgenossen über vermutlich anormale Männer in geeigneter Weise auf ihre Richtigkeit nachprüfen.“219.

Tatsächlich kam den „Äußerungen der Volksgenossen“ bei der polizeilichen Ermittlungstätigkeit gegenüber Homosexuellen eine erhebliche Bedeutung zu. Zu vermuten ist, daß die Polizei bei der Einleitung von Verfahren gegen Homosexuelle sehr viel stärker auf Hinweise von außen reagierte, als daß sie aktiv gegen diese Minderheit vorging. Zwar war der Anteil der durch ein aktives Vorgehen der Polizei ermittelten Homosexuellen in den Großstädten relativ hoch – so weist z.B.

216 Vgl. Lautmann, Hauptdevise, S. 377ff. sowie Lautmann, Zwang zur Tugend, S. 167. 217 Gespräch mit B.R., in: Lautmann, Hauptdevise, S. 373. 218 Vgl. hierzu Lautmann, Zwang zur Tugend, S. 98f. 219 Richtlinien der Kriminalpolizeistelle Kassel, 11.5.1937. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS- Zeit, Dok. 29, S. 129-135, hier S. 131 und S. 133. 77

Sparing nach, daß in Düsseldorf mehr als 20 % der festgenommenen Homosexuellen Opfer einer Razzia waren220. Nur hier waren in Form eines Fortbestands wenigstens eines Minimums an homosexueller Subkultur auch die Voraussetzungen für eine halbwegs effiziente aktive Ermittlungspolitik gegeben. In den übrigen Gebieten dürfte sich die Polizei in ihrer Ermittlungstätigkeit bei Homosexualitätsdelikten jedoch sehr viel stärker auf Anzeigen aus der Bevölkerung konzentriert haben, zumal die geringe personelle Ausstattung zumindest der Gestapo221 eine umfassende Kontrolle nonkonformen Verhaltens sonst gar nicht erlaubt hätte222. Die Effektivität der Überwachungs- und Kontrollorgane des „Dritten Reiches“ hing somit wesentlich von den Anzeigen aus der Bevölkerung ab, die eine wichtige Zugangsmöglichkeit zu privaten Sphären des sozialen, familiären und sexuellen Lebens der „Volksgenossen“ darstellten. Denunziert wurde die politische Gegnerschaft ebenso wie beispielsweise der Umgang mit Juden, die Verweigerung des Hitlergrußes, das Abhören ausländischer Sender oder die Äußerung regimekritischer Einstellungen223. Die Denunziationsbereitschaft der deutschen Bevölkerung war während der gesamten Dauer der NS-Herrschaft sehr hoch und dürfte besonders ausgeprägt gewesen sein, wenn vorhandene Wertvorstellungen berührt wurden, wie es bei den zu „Gemeinschaftsfremden“ erklärten Homosexuellen der Fall war. Probleme bereitete den Nationalsozialisten in dieser Hinsicht allenfalls die Tatsache, daß die „Anzeigebereitschaft der Bevölkerung wie bei keinem anderen Delikt schwankend [sei], da die Auffassung über das, was unzüchtig und deshalb strafwürdig ist, keineswegs feststeht, sondern sich ständig ändert“224. Trotz vermeintlicher Unsicherheiten, die in der Bevölkerung über die Strafbestimmungen des § 175 herrschten, konnte Generalstaatsanwalt Wagner 1938 feststellen, daß „auch die Bevölkerung dank der politischen Erziehungsarbeit der letzten Jahre durch vermehrte Anzeigen die Bekämpfung dieser Delikte [unterstützt]“225. Daß die Zahl der bei der Polizei eingegangenen einschlägigen Denunziationen recht hoch gewesen sein muß, zeigt auch folgender Vergleich: Während Reinhard Mann in seiner Untersuchung zur Ermittlungstätigkeit der Gestapo im „Dritten Reich“ am Beispiel Düsseldorf zu dem Ergebnis kommt, daß insgesamt 26 %

220 Sparing, „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“, S. 115. 221 Zur Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei liegen bisher keine Forschungsergebnisse vor. 222 Neuere Forschungsarbeiten weisen deshalb die These von der „Allmacht“ der Gestapo als Mythos zurück, so z.B. Gisela Diewald-Kerkmann: Politische Denunziation im NS-Regime oder: Die kleine Macht der „Volksgenossen“. Bonn 1995, S. 24ff.; Robert Gellately: Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945. Paderborn [u.a.] 1993, S. 61ff. 223 Vgl. hierzu allgemein Diewald-Kerkmann, Politische Denunziation, S. 91ff. 224 Kurt Meyer: Die unbestraften Verbrechen. Eine Untersuchung über die sogenannte Dunkelziffer in der deutschen Kriminalistik. München 1941, S. 24. 225 Die strafrechtliche Fortbildungswoche für Staatsanwälte und Strafrichter in Jena. In: DJ 100 (1938), S. 1624- 1644, hier S. 1639. 78 aller bearbeiteten Fälle auf Anzeigen von Privatpersonen zurückzuführen seien226, kann Sparing für den gleichen Gestapoleitstellenbezirk hinsichtlich des Vorgehens gegen als Homosexuelle verdächtigte Personen feststellen, daß fast 30 % der bearbeiteten Fälle durch Denunziationen ausgelöst wurden227. In ländlichen Gebieten, in denen eine aktive Ermittlungspolitik kaum möglich war, dürfte die Kontrolle durch die Bevölkerung noch größere Bedeutung gehabt haben.

Zu berücksichtigen ist bei der hohen Zahl der durch Denunziationen ausgelösten Ermittlungen allerdings, daß Anzeigen vielfach zur Bereinigung privater Konflikte erstattet wurden – nach den Angaben Manns sollen 37 % aller Anzeigen aus der Bevölkerung ausschließlich privat motiviert gewesen sein228. Die geringe Nachweisbarkeit homosexueller Handlungen ließ diese nicht nur auf politischer, sondern auch auf privater Ebene zu einem geeigneten Denunziationsinhalt werden. Zudem werden zu den Denunziationen in der Regel auch die Fälle gezählt, in denen als Homosexuelle festgenommene Personen unter psychischem und auch physischem Druck vermeintliche homosexuelle Partner angaben229. Fraglich ist jedoch, inwiefern hierbei überhaupt von Denunziation gesprochen werden kann. Für den im „Dritten Reich“ lebenden Homosexuellen war es letztendlich egal, von wem und mit welcher Motivation er angezeigt wurde – die Festnahme durch die Organe der Kriminalpolizei oder der Geheimen Staatspolizei zog für ihn gravierende negative Folgen nach sich.

2.6. Die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber lesbischen Frauen

Gleichgeschlechtlich empfindende Frauen waren von den Homosexuelle betreffenden Sanktionen in der Mehrheit „nur“ indirekt betroffen, da der § 175 ausschließlich homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe stellte. Offiziell blieb die weibliche Homosexualität während der gesamten nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland straffrei; auch die Neuformulierung des § 175 durch die Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 änderte daran nichts. Zwar wurde mit der gleichen Strafgesetznovelle der Grundsatz „nulla poena sine lege“ aufgehoben und der § 2 dahingehend geändert, daß eine Tat, auf die „kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung findet, [...]

226 Reinhard Mann: Politische Penetration und gesellschaftliche Reaktion – Anzeigen zur Gestapo im nationalsozialistischen Deutschland. In: Soziologische Analysen beim 19. Deutschen Soziologentag, hg. von Rainer Mackensen und Felizitas Sagebiel. Berlin 1979, S. 965-985, hier S. 971. 227 Sparing, „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“, S. 128. 228 Mann, Politische Penetration, S. 974. 229 Vgl. hierzu auch Müller, Alltägliche Angst, S. 102. 79 nach dem Gesetz bestraft [wird], dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft“230; eine analoge Anwendung des § 175 auf homosexuelle Handlungen von Frauen wurde jedoch ausgeschlossen, da die Beschränkung der §§ 175, 175a auf „Unzucht zwischen Männern“ eine gewollte Begrenzung darstelle und nicht darauf zurückzuführen sei, daß der Gesetzgeber die Homosexualität von Frauen nicht bedacht hätte231.

Eine Ausweitung der §§ 175, 175a auf homosexuelle Handlungen von Frauen wurde im „Dritten Reich“ kontrovers diskutiert. Generell wurde angenommen, daß das Ausmaß der Homosexualität unter Frauen wesentlich geringer sei als unter Männern. Vertreter der Forderung nach Straflosigkeit weiblicher Homosexualität führten zudem an, daß die „innigeren Umgangsformen des gesellschaftlichen Verkehrs zwischen Frauen“232 sowie die „natürliche[] Neigung der Frau zu Überschwenglichkeiten und Liebkosungen“233 eine eindeutige Abgrenzung von erlaubtem und verbotenem Verhalten schwierig machen und unbegründete Anschuldigungen herbeiführen würden. Viele Juristen und Bevölkerungswissenschaftler vertraten außerdem die Ansicht, daß Frauen sich gewissermaßen aus einem „sexuellen Notstand“ heraus homosexuell betätigten und somit, wie es ein Vertreter des Ausschusses für Bevölkerungspolitik in der Akademie für Deutsches Recht darstellte, „bevölkerungspolitisch nach wie vor nutzbar“234 blieben.

In seiner Rede vor Medizinaldezernenten unterstrich Kriminalrat Meisinger diese vielfach vertretene Auffassung zur Frage der weiblichen Homosexualität, indem er erklärte:

„Erstens darf man nicht vergessen, daß wir in Deutschland von jeher mehr weibliche als männliche Personen hatten, zweitens, daß wir im Kriege 2 Millionen Männer verloren haben, und drittens, daß von den vorhandenen männlichen Personen wieder einige Millionen als Homosexuelle an und für sich ausscheiden. Die Tatsache, daß sich ein erheblicher Teil des weiblichen Geschlechts in einem gewissen sexuellen Notstand befindet, ist nicht zu leugnen. Der größte Teil der sich lesbisch betätigenden Mädchen ist aber – wenigstens nach unseren Erfahrungen, soweit überhaupt Ermittlungen in vertraulicher und taktvoller Weise angestellt werden konnten – alles andere als anormal veranlagt. Erhalten diese Mädchen Gelegenheit, der ihnen von der Natur bestimmten Aufgabe nachzukommen, so werden sie bestimmt nicht versagen.“235

230 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, 28.6.1935. Abgedruckt in: RGBl. I 1935, S. 839-843, hier S. 839. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4.1.1.3. 231 Begründung zum Artikel 1. Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze; BA R 22/862, fol. 234. 232 Schreiben des RJM, 18.6.1942. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 26, S. 114f. 233 Akademie für Deutsches Recht. Unterausschuß zur Vorbereitung der weiteren Arbeiten des Ausschusses für Bevölkerungspolitik, 2.3.1936; BA R 61/127 fol. 193ff. 234 Ebd. 235 Vortrag Kriminalrat Meisinger am 5./6. April 1937 in Berlin. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 38, S. 147-153, hier S. 153. 80

Zu einer unterschiedlichen Bewertung von männlicher und weiblicher Homosexualität während der NS-Zeit trug zudem die Vorstellung bei, daß eine „Verfälschung des öffentlichen Lebens“, wie sie homosexuellen Männern unterstellt wurde, „bei der verhältnismäßig sehr bescheidenen Rolle der Frau im öffentlichen Leben“236 kaum von Bedeutung sei. Darüber hinaus würden lesbische Frauen nach Ansicht vieler Nationalsozialisten „sich in der Regel auf den Verkehr mit gleichaltrigen, vollständig geschlechtsreifen Partnerinnen beschränken, und nicht wie ihre männlichen 'Kollegen' danach trachten, Halbwüchsige zu verführen“237.

Befürworter einer Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen von Frauen238 wandten dagegen ein, daß Schwierigkeiten bei der Feststellung des Tatbestandes sowie die Gefahr unbegründeter Anzeigen nicht ins Gewicht fallen dürften, da beides auch bei der strafrechtlichen Verfolgung von homosexuellen Männern gegeben sei239. Hervorgehoben wurde, daß das Strafrecht nicht nur „Maßnahmen für das körperliche Wohl der Volksgemeinschaft“ enthalten sollte, sondern vielmehr „auch der Reinhaltung der religiösen und sittlichen Anschauungen der Volksgemeinschaft“ dienen müßte240. Die politische Gefahr der Homosexualität von Frauen bestehe schließlich darin, „daß sie das gesunde, natürliche Empfinden umkehrt, daß sie die Frau ihrer natürlichen Bestimmung, Gattin und Mutter zu sein, entzieht und somit eine der wichtigsten Grundlagen eines lebendigen und kraftvollen Volkes ernstlich zu erschüttern imstande ist“241. Da der Frau als „Trägerin und Bewahrerin des völkischen Lebens“ eine wichtige Rolle zukomme, müsse auch von ihr „Gesundheit in der geschlechtlichen Triebrichtung“ verlangt werden und jegliches Abweichen davon für strafbar erklärt werden. Auch hier habe als oberstes Gesetz das Gemeinwohl zu gelten, „dem Einzelschicksale nachstehen, mögen sie auch rein menschlich Mitleid verdienen“242. Da man allerdings davon ausging, daß es sich bei der weiblichen Homosexualität zum Großteil um eine „Scheinhomosexualität“ handele, die zwar nicht wie bei homosexuellen Männern durch „Verführung“, sondern aufgrund eines

236 Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission von Prof. Dr. W. Grafen von Gleispach. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 20, S. 97ff. 237 Erdle, Angriffe auf die Sittlichkeit Jugendlicher, S. 48. 238 Vgl. z.B. Ernst Jenne: Soll § 175 auf Frauen ausgedehnt werden? In: DR 6 (1936), S. 469f.; Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 120ff.; Rudolf Klare: Zum Problem der weiblichen Homosexualität. In: DR 8 (1938), S. 503-507; Walter Tetzlaff: Homosexualität und Jugend. In: Der HJ-Richter. Schulungsblatt der HJ- Gerichtsbarkeit, S. 1-8; Abgedruckt in: BA R 22/1176, fol. 130-133. 239 Jenne, § 175, S. 469. 240 Klare, Problem der weiblichen Homosexualität, S. 507. 241 Klare, Homosexuelle als politisches Problem, 2. Teil, S. 15. 242 Jenne, § 175, S. 469. 81 sexuellen Notstandes entstehe243, wurde in der Regel auch von Befürwortern einer Ausweitung der §§ 175, 175a die Meinung vertreten, die Einführung einer Strafbestimmung auf die Zeit nach Kriegsende zu verschieben, da dann die „weibliche Homosexualität in ihrem größten Umfang nicht mehr reine Ersatzhandlung, sondern innere Haltungslosigkeit“ sei244.

Obwohl juristische Sanktionen der weiblichen Homosexualität im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland offiziell ausblieben, erfuhr auch das Leben lesbischer Frauen nach der „Machtergreifung“ einschneidende Veränderungen, denn indirekt waren sie sowohl von der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik als auch von der NS-Frauenpolitik betroffen. In einer Zeit, in der die gesellschaftliche Anerkennung von Frauen an die Mutterschaft gekoppelt war, wurden lesbische Frauen, da sie häufiger unverheiratet und kinderlos waren, einem starken gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. Auch ihr äußeres Erscheinungsbild entsprach häufig nicht dem propagierten „weiblichen Frauenbild“245. Viele lesbische Frauen paßten sich deshalb äußerlich dem nationalsozialistischen Frauenbild an oder heirateten sogar und führten ein bedrückendes Doppelleben; von einigen ist bekannt, daß sie eine Art „Scheinehe“ mit einem homosexuellen Mann eingingen246, was für beide das Risiko der Verfolgung minderte. Was die materielle Situation betrifft, waren lesbische Frauen, die als unverheiratete Frauen zumeist einer Erwerbstätigkeit nachgehen mußten, vor allem in der Anfangsphase des „Dritten Reiches“ von der allgemeinen Verdrängung von Frauen vor allem aus höherqualifizierten Berufen, aber auch von finanziellen Benachteiligungen in weniger qualifizierten Tätigkeiten betroffen247. Hinzu kam, daß die verschiedenen Gruppierungen der Frauenbewegung, die sich u.a. für bessere Bildungs- und Berufschancen für Frauen eingesetzt hatten, verboten bzw. „gleichgeschaltet“ worden waren.

Lesbische Frauen waren darüber hinaus ebenso wie homosexuelle Männer von der Zerstörung der Einrichtungen homosexueller Subkultur – der Schließung und Überwachung ihrer Lokale und dem Verbot von Zeitschriften – betroffen. Gertrude Sandmann, die die sich herausbildende lesbische Lebensform während der Weimarer Republik noch kennengelernt hatte, faßt die Veränderung, die die nationalsozialistische Machtergreifung für ihr Leben bedeutete, so zusammen: „Hitler kam an die

243 Klare, Problem der weiblichen Homosexualität, S. 504. 244 Klare, Homosexuelle als politisches Problem, 2. Teil, S. 17. 245 Vgl. Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler 1991, S. 21ff. 246 Vgl. hierzu die Lebensgeschichten von lesbischen Frauen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 in Deutschland lebten oder ins Ausland emigrierten, in: Schoppmann, Zeit der Maskierung. 247 Dörte Winkler: Frauenarbeit versus Frauenideologie. Probleme der weiblichen Erwerbstätigkeit in Deutschland 1930-1945. In: AfS 17 (1977), S. 99-126, hier S. 108ff. 82

Macht. Mit einem Schlag war alles aus.“248 Viele lesbische Frauen zogen sich nach dem 30. Januar 1933 ins Privatleben zurück; man traf sich in Privatwohnungen oder gründete kleine Vereine mit Tarnnamen. Die zahlreichen Verhaftungen homosexueller Männer lösten auch bei lesbischen Frauen Angst aus. So gibt eine von Claudia Schoppmann befragte Zeitzeugin an, sie und ihre Freundinnen hätten angesichts der Verhaftungen homosexueller Freunde Angst gehabt, „daß es uns auch bald trifft“249.

Im Vergleich zu homosexuellen Männern waren lesbische Frauen zwar von der repressiven nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik weit weniger betroffen; vor einer Verfolgung sicher sein konnten jedoch auch sie nicht. Zwar sind nur wenige Fälle nachweisbar, in denen Frauen wegen ihrer Homosexualität inhaftiert waren; unter anderen Vorwänden, wie z.B. des weit gefaßten Straftatbestandes der „Wehrkraftzersetzung“ und insbesondere der „Asozialität“, wurden jedoch auch lesbische Frauen verfolgt250. Spätestens seitdem die Kriminalpolizei durch den „Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom Dezember 1937 weitreichende Mittel zur Verfolgung von als „asozial“ definierten Personen besaß, wurden Verhaftungen von sozial unangepaßten, nicht straffällig gewordenen Personen in großem Umfang durchgeführt. Opfer der „Asozialen“-Verfolgung waren auch lesbische Frauen, da sexuell unangepaßtes Verhalten, insbesondere die „Abartigkeit des Trieblebens“, als Kennzeichen von „Asozialität“ betrachtet und häufig mit Prostitution assoziiert wurde251. Darüber hinaus wurden gegen lesbische Frauen auch Strafverfahren nach § 176/3 („Unzucht mit Personen unter 14 Jahren“) oder § 174 („Unzucht mit Abhängigen) durchgeführt.

Wie viele lesbische Frauen im „Dritten Reich“ inhaftiert waren, läßt sich nicht mehr rekonstruieren, da ihre Homosexualität als Verfolgungsgrund in der Regel unsichtbar blieb. Eine gesonderte Häftlingskategorie für lesbische Frauen gab es in den Konzentrationslagern vermutlich nicht; zwar erwähnen einzelne Zeugen, daß auch Frauen in den Konzentrationslagern mit dem rosa Winkel gekennzeichnet gewesen sein sollen, höchstwahrscheinlich dürfte es sich hierbei jedoch um Erinnerungsfehler oder Verwechslungen, z.B. mit dem lila Winkel (Zeuginnen Jehovas), handeln252. Von einer Einweisung in ein Konzentrationslager waren lesbische Frauen natürlich vor allem dann

248 Sandmann, Anfang des lesbischen Zusammenschlusses, S. 8. 249 Schoppmann, Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, S. 169. 250 Ilse Kokula: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit. In: Nirgendwo und überall. Zur feministischen Theorie und Praxis. Heft 25/26. Köln 1989, S. 29-36, hier S. 29. 251 Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 120f.; Schoppmann, Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, S. 208ff. 83 bedroht, wenn sie aufgrund anderer Stigmata gefährdet waren, also z.B. jüdischer Abstammung waren253 oder sich politisch betätigten254.

Über das Schicksal lesbischer Frauen in den Konzentrationslagern ist kaum etwas bekannt. Es finden sich einzelne Hinweise darauf, daß diese zum Teil als Prostituierte in den Lagerbordellen eingesetzt wurden255 und zusätzlichen Diskriminierungen durch die Lageraufseher ausgesetzt waren. Ilse Kokula vermutet, daß die Situation lesbischer Frauen in den Konzentrationslagern deren gesellschaftliche Diskriminierung in zum Teil verstärkter Form widerspiegelte256.

252 Claudia Schoppmann: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit. In: Homosexualität in der NS-Zeit, S. 35- 42, hier S. 42. 253 Vgl. hierzu die Lebensgeschichten von Gertrude Sandmann und Annette Eick, in: Schoppmann, Zeit der Maskierung, S. 75ff. bzw. 98ff. 254 Vgl. hierzu die Lebensgeschichte von Elisabeth Leithäuser, in: Ebd., S. 122ff. 255 Vgl. hierzu die Darstellung über Erich X., in: Jürgen Lemke: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer aus der DDR. Frankfurt/M. 1989, S. 13-30. 256 Ilse Kokula: Lesbisch leben von Weimar bis zur Nachkriegszeit. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Museum. Berlin 1984, S. 149-161, hier S. 159. 84

3. Die Inhaftierung von Homosexuellen durch die Polizei

Die Polizei entwickelte sich im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland zu einem wichtigen, der Justiz zumindest gleichgestellten Organ der Verbrechensbekämpfung. Ihr kam auch bei der Verfolgung und Inhaftierung von Homosexuellen eine große Bedeutung zu. Zum einen betrieb sie die Aufklärung von Verbrechen bzw. zu „Verbrechen“ erklärten Handlungen und führte die verdächtigen Personen der Justiz zu. Zum anderen löste sich die Polizei während des „Dritten Reiches“ zunehmend aus ihrer Rolle als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft und nahm zahlreiche politische Gegner sowie dem Regime mißliebige Personen eigenmächtig in Schutzhaft (Gestapo) bzw. Vorbeugungshaft (Kriminalpolizei), die in Konzentrationslagern durchgeführt wurde.

Im folgenden sollen in knapper Form die rechtlichen Grundlagen der Schutzhaft und der polizeilichen Vorbeugungshaft sowie anschließend das Ausmaß der Inhaftierung von Homosexuellen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und deren spezifisches Haftschicksal dargestellt werden.

3.1. Organisatorischer Aufbau und Machtzuwachs der Polizei

Wesentliche Grundlage für die Entwicklung der Polizei zu einem bedeutsamen Machtinstrument des NS-Regimes war die Zusammenfassung und einheitliche Lenkung aller Polizeikräfte des Deutschen Reiches. Bis 1933 hatte es keine zentral organisierte Reichskriminalpolizei gegeben, da die Angelegenheiten der Polizei in die Zuständigkeit der Länder fielen. Nach der „Machtergreifung“ bewirkte die Ämterhäufung Himmlers als „Politischer Polizeikommandeur“ in nahezu allen Ländern eine Zentralisierung der politischen Polizei, die 1934 im wesentlichen abgeschlossen war. Durch diese Personalunion des Reichsführers SS und des Chefs der politischen Polizeien konnten bei der politischen Gegnerverfolgung bereits frühzeitig einheitliche Richtlinien eingeführt werden.

Entscheidend für die Zentralisierung der gesamten Polizei war der Führererlaß vom 17. Juni 1936 „über die Einsetzung eines Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern“, der die „einheitliche[] Zusammenfassung der polizeilichen Aufgaben im Reich“ regeln sollte. Zum „Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern“ wurde Heinrich Himmler ernannt. Dieser war zugleich Reichsführer der SS und führte von diesem Zeitpunkt an die Dienstbezeichnung 85

„Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern“1. Aufgrund dieser Personalunion von Reichsführer SS und Polizeichef fand in der Folgezeit eine personelle Verschmelzung von SS und Polizei statt: Leitende Stellen im Polizeiapparat wurden mit SS- Angehörigen besetzt sowie umgekehrt Angehörige der Sicherheitspolizei in die SS aufgenommen2. Parallel zu der organisatorischen und personellen Verbindung von SS und Polizei sollte auch die innere Ausrichtung der gesamten Sicherheitspolizei vereinheitlicht und auf diese Weise das „zusammengefaßte Können der Deutschen Polizei mit dem unbeugsamen Kampfwillen und der weltanschaulichen Folgerichtigkeit der Schutzstaffel“3 verbunden werden. Eine Vorreiterrolle hatte hierbei die politische Polizei eingenommen, bei der nach Best bereits zwei Jahre nach der Ernennung Himmlers zum „Politischen Polizeikommandeur“ aller Länder festgestellt werden konnte, „daß aus der Vielzahl verschiedenartiger Politischer Polizeien praktisch [...] eine einheitlich arbeitende und schlagkräftige Politische Polizei des Deutschen Reiches – durchdrungen von dem Geiste der Schutzstaffel der NSDAP – geschaffen worden war“4. 1937 forderte Hitler in bezug auf die gesamte Polizei: „Die Deutsche Polizei soll immer mehr in lebendige Verbindung gebracht werden mit der Bewegung, die politisch das heutige Deutschland nicht nur repräsentiert, sondern darstellt und führt.“5 Dieses Ziel wurde schließlich auch erreicht – 1941 konnte Best feststellen, daß der „Grundsatz der 'ordnungsmäßigen' Durchdringung einer Einrichtung der Volksordnung durch die Träger der nationalsozialistischen Bewegung [...] in dem äußeren Zusammenschluß der Einheiten und in der inneren Einheit der Mannschaft“ verwirklicht worden sei6.

Innerhalb der Polizei wurden im Zuge der Neuorganisation die Hauptämter Ordnungs- und Sicherheitspolizei gebildet. Die Politische Polizei erhielt die Bezeichnung „Geheime Staatspolizei“ (Gestapo) und wurde zusammen mit der Kriminalpolizei dem Hauptamt Sicherheitspolizei zugeordnet. Zum Chef der Sicherheitspolizei wurde SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich ernannt. Die reichseinheitliche Führung der Politischen Polizei übernahm das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) in Berlin; Zentralbehörde der Kriminalpolizei wurde im Juli 1937 das

1 Erlaß über die Einsetzung eines Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern, 17.6.1936. Abgedruckt in: Reichsgesetzblatt, hg. im Reichsministerium des Innern. Berlin 1936. Teil I, S. 487f. Vgl. hierzu auch Werner Best: Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei. In: DR 6 (1936), S. 257f. 2 Vgl. hierzu auch Hans Buchheim: Die Aufnahme von Polizeiangehörigen in die SS und die Angleichung ihrer SS-Dienstgrade an ihre Beamtenränge (Dienstgradangleichung) in der Zeit des Dritten Reiches. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte 2, Stuttgart 1966, S. 172-181 sowie ders.: SS und Polizei im NS-Staat. Duisdorf/Bonn 1964, S. 101ff. 3 Werner Best: Die Schutzstaffel der NSDAP und die Deutsche Polizei. In: DR 9 (1939), S. 44-48, hier S. 47. 4 Ebd., S. 46. 5 Zit. a.a.O, S. 47. 6 Werner Best: Die deutsche Polizei. Darmstadt 1941, hier S. 107. 86

Reichskriminalpolizeiamt (RKPA), das aus dem Preußischen Landeskriminalamt (PLKA) hervorging. Dem RKPA waren 14 Kriminalpolizeileitstellen (KPLSt) angeschlossen, denen zwischen zwei und sechs Kriminalpolizeistellen (KPSt) unterstanden. Für den Bereich der Politischen Polizei wurden entsprechend Staatspolizeileitstellen und Staatspolizeistellen eingerichtet. Im Jahr 1939 wurden das Hauptamt Sicherheitspolizei und das SS-Sicherheitshauptamt zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammengelegt; hier nahm das Gestapa das Amt IV und das RKPA das Amt V ein7.

Nicht nur die Organisation der Polizei, sondern auch deren Aufgaben wurden im NS-Staat grundlegend verändert. Gemäß der „nationalsozialistische[n] Idee, die [...] im Volk, nicht im Einzelmenschen, die wirkliche Erscheinungsform des Menschentums“ sah, sollte die Polizei nicht mehr die „Aufgabe eines Nachtwächters für die privaten Interessen der Einzelmenschen“ übernehmen, sondern „das deutsche Volk als organisches Gesamtwesen, seine Lebenskraft und seine Einrichtungen gegen Zerstörung und Zersetzung“ sichern8 und „das freie Handeln des Einzelnen durch Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwanges an den Belangen der Nation aus[]richten“9. Diese Aufgabe sollte die Polizei nach den Vorstellungen Paul Werners, Chef des badischen LKPA, sowie Arthur Nebes, Leiter des preußischen LKPA, zum einen durch die möglichst perfekte Aufklärung von Straftaten, zum anderen aber durch die „Verhütung des Verbrechens überhaupt“10 bzw. die völlige „Vernichtung des Verbrechertums“11 bewältigen. Hierzu müßte die Polizei zunehmend „offensiv“ agieren und „vorausschauend alles Gegnerische [...] erforschen und so [...] bekämpfen, daß es gar nicht erst zerstörend und zersetzend wirken kann“12. Die Vorverlegung der Grenzen des polizeilichen Tätigwerdens bot der Polizei die Möglichkeit, sich aus ihrer traditionellen Rolle als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft zu befreien und ihre neue Aufgabe „als selbständige Einrichtung der inneren Verwaltung“ 13 wahrzunehmen und nicht mehr, wie Böhme es formuliert, als „ein Anhängsel der Staatsanwaltschaft und der Justiz“14 tätig zu sein.

7 Vgl. hierzu: Die Organisation der Deutschen Polizei (Stand vom 1.2.1940); BA R 58/473, fol. 195 sowie Reinhard Heydrich: Aufgaben und Aufbau der Sicherheitspolizei im Dritten Reich. In: Dr. Wilhelm Frick und sein Ministerium. Aus Anlaß des 60. Geburtstages des Reichs- und Preußischen Ministers des Inneren Dr. Wilhelm Frick am 12. März 1937, hg. von Hans Pfundtner. München 1937, S. 149-153 sowie Paul Werner: Aufbau und Aufgaben der Reichskriminalpolizei. In: ZStW 61 (1942), S. 465-470. 8 Heydrich, Aufgaben und Aufbau der Sicherheitspolizei, S. 149. 9 Walter Hamel: Die Polizei im nationalsozialistischen Staat. In: DJZ 40 (1935), Sp. 326-332, hier Sp. 330. 10 Paul Werner: Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. In: KM 12 (1938), S. 58-61, hier S. 59. 11 Arthur Nebe: Aufbau der deutschen Kriminalpolizei. In: Kriminalistik 12 (1938), S. 4-8, hier S. 4. 12 Heydrich, Aufgaben und Aufbau der Sicherheitspolizei, S. 149. 13 Werner Best: Erneuerung des Polizeirechts. In: Kriminalistische Monatshefte 12 (1938), S. 26-29, hier S. 28. 14 Albrecht Böhme: Die Vorbeugungsaufgaben der Polizei. In: DR 6 (1936), S. 142-145, hier S. 143. 87

Hinter diesem Anspruch verbirgt sich ein weiteres charakteristisches Merkmal des nationalsozialistischen Polizeiverständnisses – die Aufhebung jeglicher Gesetzesbindung und die ausschließliche Anerkennung des Führerwillens als Rechtsgrundlage polizeilichen Einschreitens. Bereits 1936 hatte Himmler hinsichtlich seiner Tätigkeit beim Aufbau der Politischen Polizei erklärt:

„Ich habe mich [...] von vornherein auf den Standpunkt gestellt, ob ein Paragraph unserem Handeln entgegensteht, ist mir völlig gleichgültig; ich tue zur Erfüllung meiner Aufgaben grundsätzlich das, was ich nach meinem Gewissen in meiner Arbeit für Führer und Volk verantworten kann und dem gesunden Menschenverstand entspricht.“15

Die Polizei beanspruchte eine eigenständige, vom Führerauftrag abgeleitete Kompetenz. Als „Kernstück des geltenden Rechtssystems“16 konnte der Führerwille nicht nur in Gesetzen, sondern auch in Erlassen, Richtlinien und Anordnungen Ausdruck finden. So erklärte Werner Best, Regierungsdirektor im Geheimen Staatspolizeiamt17:

„Alle Anordnungen, durch die von der Führung her das Zusammenwirken der Einzelnen im Ganzen und für das Ganze geregelt werden, sind Recht. Auf die Form, in der diese Anordnungen erlassen werden, kommt es nicht mehr an. Da das Gesetz ebenso wie eine Dienstanweisung, ein Organisationserlaß oder eine Einzelanordnung letzten Endes 'Führerbefehl' ist, kann ihm kein Vorzug mehr zuerkannt werden [...].“18

Die zum geringen Teil wörtlich, teilweise inhaltlich und in einigen Fällen gar nicht öffentlich bekanntgegebenen Erlasse ließen den ausführenden polizeilichen Organen einen weiten Handlungsspielraum – nach der Vorstellung Bests sollten für den Fall, daß polizeiliche Aufgaben „nicht nach festen Normen bewältigt werden können“, die „zur Sicherung des Volkes und Staates erforderlichen Maßnahmen nach eigener Erkenntnis und in eigener Verantwortung“ getroffen werden19.

15 Hans Frank; Heinrich Himmler; Werner Best; Reinhard Höhn: Grundfragen der deutschen Polizei. Bericht über die konstituierende Sitzung des Ausschusses für Polizeirecht der Akademie für Deutsches Recht am 11.10.1936. Hamburg 1937, S. 11f. 16 Theodor Maunz: Gestalt und Recht der Polizei. Hamburg 1943, S. 27. 17 Vgl. zu Werner Best ausführlich Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1909-1989. Bonn 1996. 18 Werner Best: Werdendes Polizeirecht. In: DR 8 (1938), S. 224-226, hier S. 225. 19 Best, Erneuerung des Polizeirechts, S. 28. 88

3.2. Rechtliche Grundlagen des Freiheitsentzugs als Maßnahme der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung

Unter „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ werden alle diejenigen Maßnahmen der Polizei verstanden, die zur Verhinderung zukünftiger Verbrechen dienen sollten, also nicht zur Ahndung von Straftaten eingesetzt wurden. Es sollen im folgenden zunächst nur Maßnahmen vorgestellt werden, die mit Freiheitsentzug verbunden waren – dies waren die polizeiliche Vorbeugungshaft20 sowie die Schutzhaft. Daneben wurden im Rahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung auch Überwachungsmaßnahmen durchgeführt. Diese bestanden in polizeilichen Auflagen, die die Betroffenen zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen verpflichteten21. Sämtliche polizeilichen Vorbeugungsmaßnahmen standen in Konkurrenz zu justitiellen Maßnahmen, insbesondere zu den im Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 festgelegten „Maßregeln der Sicherung und Besserung“. Auf das Verhältnis von polizeilichen Präventivmaßnahmen zur Strafgerichtsbarkeit wird im fünften Kapitel dieser Arbeit eingegangen.

3.2.1. Die polizeiliche Vorbeugungshaft

3.2.1.1. Die Entwicklung der polizeilichen Kriminalprävention bis 1937

Die polizeiliche Vorbeugungshaft22 diente der Bekämpfung unpolitischer Kriminalität und lag deshalb im Zuständigkeitsbereich der Kriminalpolizei. Ein erster Erlaß über die „Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ wurde am 13. November 1933 – elf Tage vor Inkrafttreten des Gewohnheitsverbrechergesetzes, das die Einführung der Sicherungsverwahrung als Mittel der Strafjustiz einführte – vom preußischen Ministerpräsidenten Göring unterzeichnet. Als Rechtsgrundlage bezeichnete der Erlaß den § 1 der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933“ – der Reichstagsbrandverordnung –, obwohl sich diese ausdrücklich auf die „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“23 bezog. Die

20 An Stelle des Begriffs „Vorbeugungshaft“ ist häufig auch der Ausdruck „Vorbeugehaft“ zu lesen; es soll hier einheitlich von „Vorbeugungshaft“ die Rede sein. 21 Vgl. Kapitel 5.2.1. 22 Vgl. hierzu und im folgenden ausführlich Karl-Leo Terhorst: Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich. Heidelberg 1985 sowie Patrick Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Hamburg 1996. 23 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat, 28.2.1933. In: RGBl. I 1933, S. 83. 89 preußischen Landeskriminalpolizeistellen wurden durch den richtungsweisenden Erlaß vom 13. November ermächtigt, Menschen in Vorbeugungshaft zu nehmen,

„welche der Kriminalpolizei als Berufsverbrecher bekannt sind, die ausschließlich oder zum größten Teil vom Erlöse aus Straftaten leben. Als äußere Voraussetzung für die Anwendung der Vorbeugungshaft gilt dabei, daß der Betroffene dreimal wegen eines aus Gewinnsucht begangenen vorsätzlichen Verbrechens oder Vergehens zu Zuchthaus oder Gefängnis von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist und zwischen den einzelnen Straftaten ein Zeitraum von weniger als fünf Jahren liegt.“

Die Bestimmungen sollten über den Kreis dieser „Berufsverbrecher“ hinaus auch auf Sexualdelinquenten angewendet werden, und zwar auf Personen, die nach §§ 173, 174 und 176 bestraft waren – somit konnten auch Vorstrafen aufgrund homosexueller Handlungen bei Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder der Annahme einer „Verführung“ Jugendlicher die Vorbeugungshaft auslösen. Des weiteren konnten „ausnahmsweise und nach eingehender gewissenhafter Prüfung“ auch Personen in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen werden,

„die, ohne vorbestrafte Berufsverbrecher zu sein, künftig einen auf Mord, Raub, Einbruchsdiebstahl oder Brandstiftung abzielenden verbrecherischen Willen durch Handlungen offenbaren, welche die Voraussetzungen eines bestimmten strafbaren Tatbestandes noch nicht erfüllen, den Begeher aber als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit kennzeichnen.“24

Die Kriminalpolizei konnte somit auch nicht vorbestrafte „Gemeingefährliche“ in Haft nehmen, meinte man doch, mit Hilfe der Erkenntnisse der Kriminalistik zuverlässige Prognosen über das zukünftige Verhalten von Verdächtigen erstellen zu können. Auf diese Weise war der Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge weit gesteckt.

Die Anzahl der in Vorbeugungshaft zu nehmenden Personen wurde zunächst auf 165 für ganz Preußen beschränkt; ein zweiter Erlaß vom 10. Februar 1934 sah eine Erhöhung dieser Zahl auf 525 Vorbeugungshäftlinge vor. Als weiteres Mittel der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung führte dieser zweite Erlaß neben der Vorbeugungshaft die „planmäßige Überwachung der auf freiem Fuß befindlichen Berufsverbrecher“ ein, wonach den „Berufsverbrechern“, aber auch einer bestimmten Gruppe von Sexualdelinquenten bestimmte Verhaltensgebote bzw. -verbote auferlegt werden konnten, bei deren Nichtbeachtung Vorbeugungshaft verhängt werden sollte. Auch nach diesem Erlaß konnten Vorstrafen aufgrund homosexueller Handlungen nur dann Vorbeugungshaft auslösen,

24 Erlaß des Preußischen Ministers des Innern (PrMdI), 13.11.1933, betr. Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher. Auszugsweise abgedruckt in: Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft, S. 79. 90 wenn diese mit Jugendlichen vorgenommen wurden oder ein Abhängigkeitsverhältnis vorlag25. Als „Berufsverbrecher“ wurden darüber hinaus bereits zu diesem Zeitpunkt die sog. Stricher festgenommen, da sie „ausschließlich oder zum größten Teil vom Erlös aus Straftaten leben“26. Ein dritter Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Inneren vom 16. Oktober 1935 erweiterte den Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge schließlich um Personen, die gegen das Verbot der Sodomie (§ 175b) sowie der Pornographie (§ 184, Ziffer 1, 2 oder 4) verstießen, sowie generell um „Personen, die durch unzüchtige oder Sitte und Anstand verletzende Erzeugnisse die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden“27. Die in Preußen geltenden Regelungen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch die Polizei wurden von den meisten deutschen Ländern übernommen.

Hauptzielgruppe der kriminalpräventiven Maßnahmen waren zu Beginn des NS-Regimes die „Berufsverbrecher“. Das Ziel dieser Maßnahmen beschreibt Daluege folgendermaßen: „Wir wollen einen kleinen Teil der Berufsverbrecher mit der Vorbeugungshaft, die übrigen mit der Furcht vor der Vorbeugungshaft niederhalten“28. Es sollten zu diesem Zeitpunkt somit keineswegs alle namhaften „Berufsverbrecher“ inhaftiert werden, sondern man wollte durch die Verhängung polizeilicher Vorbeugungshaft gegen einzelne andere abschrecken und auf diese Weise die „Liquidierung des sozialen Phänomens Berufskriminalität“ erreichen29. Tatsächlich machte sich nach 1933 in Preußen ein Rückgang der Eigentumskriminalität bemerkbar30, wenn dieser auch nicht so erheblich war, wie es in der nationalsozialistischen Propaganda, in der die publizierten Zahlen stets mit den sehr hohen Kriminalitätsziffern des Jahres 1932 verglichen wurden, vorgegeben wurde31. Das Absinken der staatlich registrierten Eigentumskriminalität läßt sich zudem keineswegs – wie in der Presse immer wieder behauptet – ausschließlich als Ergebnis der kriminalpolizeilichen Maßnahmen gegen

25 Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern (PrMdI), 10.2.1934, betr. Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher. Auszugsweise abgedruckt in: Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft, S. 86f. 26 Ebd. Vgl. auch Jürgen Müller: Bei „Angriffen“ auf die Sittlichkeit... Die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ der Kölner Kriminalpolizei gegen Homosexuelle. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 141-159, hier S. 147. 27 Erlaß des RuPrMdI, 16.10.1935, betr. die Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Personen, die durch unzüchtige oder Sitte und Anstand verletzende Erzeugnisse die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden. Vgl. hierzu Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft, S. 94f. 28 Kurt Daluege: Staatsanwaltschaft und Polizei in der Verbrechensbekämpfung. In: DJ 97 (1935), S. 1846-1850, hier S. 1847. 29 Patrick Wagner: „Vernichtung der Berufsverbrecher“. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei bis 1937. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 1, Göttingen 1998, S. 87-110, hier S. 93. 30 Vgl. hierzu das Kapitel 12: „Erfolgsbilanz mit Schönheitsfehlern“ bei Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 214-232. 91

Berufsdelinquenten interpretieren. Statt dessen dürfte hierbei die Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Die erhoffte Marginalisierung von Kriminalität trat jedoch nicht in dem erwarteten Ausmaß ein, was man darauf zurückführte, daß „die Vorbeugungsmaßnahmen noch nicht einschneidend genug waren und daß es an der zentralen Leitung fehlte“32.

Zu einer erheblichen Ausweitung der Anwendung kriminalpolizeilicher Vorbeugungsmaßnahmen kam es erstmalig im März 1937. Am 23. Februar hatte Himmler, inzwischen Chef der Sicherheitspolizei, angeordnet, in einer einmaligen Aktion am 9. März 1937 reichsweit ca. 2.000 „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ sowie „gemeingefährliche Sittlichkeitsverbrecher“, die zu dem Zeitpunkt keine Arbeit ausübten, in Haft zu nehmen. Die bis dahin gültige Höchstgrenze der in Vorbeugungshaft zu nehmenden Personen wurde bei dieser Sonderaktion erheblich überschritten. Ob die Beschaffung von Arbeitskräften zum Ausbau der Konzentrationslager ein Nebeneffekt33 oder das eigentliche Ziel der Aktion darstellte34, konnte bisher nicht geklärt werden. Bei dem Großteil der Festgenommenen (76,9 %) handelte es sich um „Berufsverbrecher“; auffällig groß war jedoch auch der Anteil der zu der Kategorie „Sittlichkeitsverbrecher“ gezählten Personen (18 %). Möglicherweise lag der Grund dafür in der vermehrten Festnahme homosexueller Männer, gegenüber denen die Polizei zu diesem Zeitpunkt ihren Ermittlungsdruck verstärkte35.

3.2.1.2. „Grundlegender Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom 14. Dezember 1937

Der Sonderaktion vom 9. März 1937 folgte die Institutionalisierung einer radikalisierten Kriminalprävention, die nun nicht mehr vornehmlich auf das Mittel der Generalprävention setzte, sondern die generelle Anwendung vorbeugender Maßnahmen gegenüber einem zugleich erweiterten Personenkreis vorsah. Nachdem mit der Zentralisierung der Kriminalpolizei die Voraussetzungen für eine reichseinheitliche Regelung der Vorbeugungshaft und der planmäßigen Überwachung geschaffen worden waren, wurde am 14. Dezember 1937 der „Grundlegende[] Erlaß über die vorbeugende

31 So z.B. bei Daluege, Staatsanwaltschaft und Polizei, S. 1848. 32 Werner, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, S. 59. 33 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 255. 34 Vgl. Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft, S. 111ff. 35 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 257f. 92

Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“36 behördenintern bekanntgegeben. Mit dem Erlaß, der sich ebenso wie die preußischen Vorläufer auf den § 1 der Schutzverordnung vom 28. Februar berief, wurden die bis dahin gültigen Länderbestimmungen außer Kraft gesetzt. Ergänzt durch die Ausführungsrichtlinien des RKPA vom 4. April 193837, blieben die Bestimmungen, abgesehen von einigen Änderungen des Verwaltungsverfahrens, bis 1945 gültig.

Der Grunderlaß zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch die Kriminalpolizei hielt an dem zweigleisigen Modell von planmäßiger Überwachung38 und Vorbeugungshaft fest. Als Ziel der Kriminalprävention wurde in den Richtlinien zum Erlaß der Schutz der Gemeinschaft vor „Rechtsbrecher[n] und alle[n] asozialen Personen, welche die Gemeinschaft durch ihr Verhalten ständig gefährden“, durch „die vorbeugende Abwehr aller das Volk und den Staat gefährdenden Bestrebungen“39 genannt. Neu war die Einbeziehung der „durch die kriminalbiologischen Forschungen gewonnenen Erkenntnisse“40 in die vorbeugende Verbrechensbekämpfung, die zu einer Ausweitung der Maßnahmen auf die Gruppe der „Asozialen“ führte.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der polizeilichen Vorbeugungshaft, die nach den Richtlinien „das schärfste Mittel der Polizei sein [sollte], die Gemeinschaft vor dem Verbrecher und dem Asozialen zu schützen“41, wurden in Abschnitt A II des Erlasses beschrieben. Potentielle Vorbeugungshäftlinge waren die „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“. Als „Berufsverbrecher“ wurde angesehen, wer „das Verbrechen zu seinem Gewerbe gemacht hat und aus dem Erlös seiner Straftaten ganz oder teilweise lebt oder gelebt hat“. Unter die „Gewohnheitsverbrecher“ fielen nach den Bestimmungen des Grunderlasses Personen, die „aus verbrecherischen Trieben oder Neigungen wiederholt in gleicher oder ähnlicher Weise straffällig geworden“ waren. „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ unterlagen der planmäßigen Überwachung, wenn sie „mindestens 3 mal entweder zu Zuchthaus oder zu Gefängnis von mindestens 3 Monaten rechtskräftig verurteilt

36 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49. Vgl. hierzu auch Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft, S. 115ff. sowie Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, S. 489ff. 37 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72. 38 Vgl. zur polizeilichen planmäßigen Überwachung Kapitel 5.2. 39 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 63. 40 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 46. 41 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 69. 93 worden“ waren42. Verstießen sie während der Dauer der Überwachung „schuldhaft“ gegen die erteilten Auflagen oder wurden straffällig, sollten sie in Vorbeugungshaft genommen werden (A II, 1a). Kleinere und erstmalige Verstöße gegen die Auflagen sollten jedoch zunächst mit einer schriftlichen Verwarnung oder mit einer Verschärfung der Auflagen beantwortet werden. Wurde die überwachte Person straffällig, so mußte vor der Anordnung der Vorbeugungshaft geprüft werden, „ob es sich um eine einschlägige, mit dem Grund der Vorbeugungsmaßnahmen zusammenhängende Straftat“ handelte43. „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ sollten zudem in Vorbeugungshaft genommen werden, wenn sie wegen „aus Gewinnsucht begangener Straftaten“ bzw. „aus verbrecherischem Trieb oder verbrecherischer Neigung“ wenigstens dreimal zu Gefängnis- oder Zuchthausstrafen von mindestens sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden waren (A II, 1b und c).

Darüber hinaus konnten nach den Bestimmungen des Grunderlasses die „Gemeingefährlichen“ in Vorbeugungshaft genommen werden (A II, 1d). Betroffen war, „wer auf Grund einer von ihm begangenen schweren Straftat und wegen der Möglichkeit der Wiederholung eine so große Gefahr für die Allgemeinheit bildet, daß seine Belassung auf freiem Fuß nicht zu verantworten ist“44. In den Richtlinien wurde ergänzt, daß als „schwere Straftaten [...] insbesondere auch Angriffe auf die Sittlichkeit zu beachten [sind], welche die Jugend gefährden“45. Dieser ohnehin schon weite Handlungsspielraum, den die zuständigen Instanzen hinsichtlich der Verhängung der Vorbeugungshaft gegenüber „Gemeingefährlichen“ besaßen, wurde in dem zweiten Teil der Bestimmung noch erweitert, indem auf das Vorliegen einer strafbaren Handlung als Voraussetzung der Vorbeugungshaft verzichtet wurde. Erfaßt werden sollte danach auch, „wer einen auf eine schwere Straftat abzielenden Willen durch Handlungen offenbart, welche die Voraussetzungen eines bestimmten strafbaren Tatbestandes noch nicht erfüllen“46. Weit im Vorfeld von Straftaten reichte also bereits der offenbarte Wille eines strafbaren Tatbestandes für die Verhängung der Vorbeugungshaft gegenüber „Gemeingefährlichen“ aus – nicht wegen einer begangenen Straftat, sondern als Persönlichkeitstyp wurde der Betroffene in Haft genommen. Gänzlich ohne Bezug zu

42 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 46f. 43 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 69. 44 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 47. 45 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 69. 94 strafbaren Handlungen konnten schließlich die „Asozialen“ in Vorbeugungshaft genommen werden, die „ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch [...] asoziales Verhalten die Allgemeinheit“ gefährdeten (A II, 1e)47. In den Richtlinien wurde diese Generalklausel näher erläutert: Demnach galt als „asozial [...], wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches, Verhalten zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will“. „Asozial“ seien demnach einmal „Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wieder wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen“. Des weiteren seien „Personen, ohne Rücksicht auf etwaige Vorstrafen, die sich der Pflicht zur Arbeit entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit überlassen“, als „asozial“ anzusehen und in Vorbeugungshaft zu nehmen48.

Der ohnehin schon weit gesteckte Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge wurde durch den Grunderlaß vom 14. Dezember 1937 weiter ausgedehnt, so daß nahezu jedes als deviant definierbares Verhalten eine polizeiliche Haftmaßnahme auslösen konnte, zumal nach den Einschätzungen in der neueren Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Kriminalprävention davon ausgegangen werden kann, daß die in den Richtlinien genannten Formen polizeilichen Zugriffs „keine abschließende und die Polizeiführung nach außen bindende Festlegung“, sondern vielmehr einen „typisierenden Katalog polizeilicher Maßnahmen“ darstellten, die der einheitlichen internen Ausrichtung polizeilicher Arbeit dienten49.

Nach dem Grunderlaß konnten auch homosexuelle Männer als „Gemeingefährliche“ bzw. bei einer entsprechenden Anzahl von Vorstrafen als „Gewohnheitsverbrecher“ jederzeit in Vorbeugungshaft genommen werden. Zu vermuten ist, daß die Bestimmungen zur Verhängung polizeilicher Vorbeugungshaft auf sie häufig angewendet wurden – schließlich sollte nach den Richtlinien „bei allen Sittlichkeitsverbrechern und Zuhältern“ geprüft werden, „ob nicht sofort polizeiliche Vorbeugungshaft ohne vorangegangene polizeiliche planmäßige Überwachung erforderlich ist“, wogegen bei Berufsdelinquenten der Vorrang der Überwachungsmaßnahmen herausgestellt wurde und Vorbeugungshaft nur dann erfolgen sollte, wenn die Überwachung keinen Erfolg versprach.

Für die Anordnung der Vorbeugungshaft waren die Kriminalpolizeistellen zuständig. Das Reichskriminalpolizeiamt bestätigte die Anordnung und verfügte die Einweisung des Häftlings in ein

46 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 47. 47 Ebd. 48 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 69f. 95

Lager. Der Grunderlaß sah vor, daß die Vorbeugungshaft „in geschlossenen Besserungs- und Arbeitslagern“ vollstreckt50 werde. Für männliche Vorbeugungshäftlinge waren nach den Richtlinien zum Erlaß – aufgeteilt nach Bezirken – die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau vorgesehen; Frauen aus dem gesamten Reichsgebiet sollten im Lager Lichtenburg in Vorbeugungshaft festgehalten werden51. Bis auf wenige Einschränkungen sollte die polizeiliche Vorbeugungshaft solange dauern, „wie ihr Zweck es erfordert“52. Die „Einführung eines besonderen Haftprüfungsverfahrens“ sollte verhindern, daß die polizeiliche Vorbeugungshaft „unnötig ausgedehnt“ werde53. Nach spätestens 12 Monaten sollte geprüft werden, ob die Fortdauer der Haft erforderlich sei. Bei Aufrechterhaltung der Haft war „jeweils nach weiteren 12 [...] Monaten über die Fortdauer der Haft zu entscheiden“54.

Der weite Handlungsspielraum, den die Polizei nach dem Grunderlaß bei der Verhängung der Vorbeugungshaft besaß, führte zu einer Intensivierung der polizeilichen Kriminalprävention, die sich in einem deutlichen Anstieg der Zahl der Vorbeugungshäftlinge bemerkbar machte. War diese in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ in Preußen auf 165 bzw. 525 begrenzt, so befanden sich zum Ende des Jahres 1938 reichsweit bereits über 12.900 Personen in Vorbeugungshaft, von denen fast 8.900 als „Asoziale“ klassifiziert waren55; viele von diesen dürften im Rahmen der im Jahr 1938 durchgeführten Sonderaktionen gegen „Arbeitsscheue“ und „Asoziale“ inhaftiert worden sein56.

49 Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, S. 529. 50 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 48. 51 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 70. 52 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 48. 53 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 70. 54 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 48. Für „Asoziale“ galten besondere Richtlinien hinsichtlich des Haftprüfungsverfahrens. 55 Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 294. 56 Wolfgang Ayaß: „Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin“. Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938. In: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik, hg. von Wolfgang Ayaß [u.a.]. Berlin 1988, S. 43-74 sowie Hans Buchheim: Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte 2, Stuttgart 1966, S. 189-195. 96

3.2.1.3. Die Praxis polizeilicher Vorbeugungshaft im Zweiten Weltkrieg

Zu einer weiteren Intensivierung kriminalpolizeilicher Verbrechensprävention kam es nach Kriegsbeginn57. Zum einen wurde der Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge dadurch erweitert, daß die kriminalpräventiven Vorschriften schrittweise auch auf die annektierten Gebiete ausgedehnt wurden. Zum anderen wurden die bestehenden Bestimmungen schärfer angewendet und neue, unter Kriegsbedingungen für gefährlich erachtete Gruppen in das System der Kriminalprävention einbezogen, so z.B. unmittelbar nach Kriegsbeginn die in der Regel erheblich vorbestraften „Wehrunwürdigen“ sowie Frauen, die bei den Gesundheitsämtern als Prostituierte geführt waren, da angeblich die Gefahr der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten während der Kriegszeit besonders groß sei. Die Erweiterung des Umfangs präventiver Maßnahmen machte sich besonders stark in dem vermehrten Gebrauch der Vorbeugungshaft bemerkbar, da diese angesichts des sich verschärfenden Personalmangels häufig die arbeitsaufwendige planmäßige Überwachung ersetzte.

Die Verschärfung der kriminalpräventiven Praxis nach Kriegsbeginn spiegelt sich in der Häftlingsstatistik des Jahres 1940 wider. Zwar sank die Zahl der als „Asoziale“ Inhaftierten auf knapp über 6.80058, gleichzeitig stieg jedoch die Zahl der übrigen Vorbeugungshäftlinge auf über 6.500, so daß sich am Ende des Jahres 1940 insgesamt 13.354 Personen in Vorbeugungshaft befanden59. Zu einer drastischen Ausweitung des Ausmaßes polizeilicher Vorbeugungshaft führte schließlich ein Abkommen zwischen Reichsjustizminister Otto Thierack, Himmler und dem Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann, vom 18. September 1942, das eine Auslieferung „asozialer Elemente“ aus dem Strafvollzug an die Konzentrationslager vorsah. Betroffen waren hiervon insbesondere Sicherungsverwahrte, aber auch Häftlinge mit mehr als acht Jahren Zuchthausstrafe bzw. Polen, Russen, Juden, Roma und Sinti schon bei Strafen von über drei Jahren. Bis Mitte 1943 wurden daraufhin über 17.300 Justizgefangene deportiert, weitere Selektionen fanden in den Zuchthäusern bis zum Oktober 1944 statt. Für den Zeitraum ab 1941 existieren keine reichsweit erhobenen Zahlen zur Entwicklung der Vorbeugungshaft. Anhand von vorliegenden Zahlenangaben regionaler Kripostellen schätzt Wagner die Anzahl der Vorbeugungshäftlinge für das zweite Halbjahr 1943 auf eine Größenordnung zwischen 22.500 und 29.000. Die Zahl der bis 1945 von

57 Vgl. hierzu Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 330-343. 58 Der Rückgang der Zahl „asozialer“ Vorbeugungshäftlinge war vermutlich die Folge von Entlassungen aus den Reihen der während der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ Festgenommenen; vgl. hierzu ebd., S. 333. 59 Ebd. 97

Vorbeugungshaft betroffenen Personen dürfte jedoch deutlich größer gewesen sein, da eine hohe Fluktuation durch Tod und Neueinlieferung herrschte60.

Von der Eskalation der kriminalpolizeilichen Präventionspraxis während der Kriegszeit waren auch Personen betroffen, denen homosexuelle Handlungen vorgeworfen oder nachgewiesen wurden. Spätestens seitdem im Juli 1940 die Kriminalpolizei durch einen Runderlaß angewiesen wurde, „in Zukunft alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen“61, dürfte die Zahl homosexueller Vorbeugungshäftlinge deutlich gestiegen sein.

3.2.2. Die Schutzhaft

Als Pendant zur kriminalpolizeilichen Vorbeugungshaft stellte die Schutzhaft62 das Mittel zur präventiven Bekämpfung aller als „politisch“ einzuordnenden Verbrechen dar63, deren Bekämpfung in die Zuständigkeit der Politischen Polizei fiel64. Als solche galten alle „gegen den Bestand und die Sicherheit des Staates gerichteten Bestrebungen“. Zum einen wurde darunter jede „politische Willensbildung [...], die sich nicht der Gesamtwillensbildung einfügt“, gefaßt. Jeder Versuch, „eine andere politische Auffassung durchzusetzen oder auch nur aufrechtzuerhalten“, sollte als „Krankheitserscheinung, die die gesunde Einheit des unteilbaren Volksorganismus bedroht, ohne Rücksicht auf das subjektive Wollen seiner Träger ausgemerzt“ werden. Mit dem „besonders scharfen polizeilichen Mittel“ der Schutzhaft sollte die Politische Polizei ein „ordentliches Zwangsmittel [...] zur Bekämpfung unsozialer oder antideutscher Haltung der Staatsbürger“ erhalten65. Da der Staat nach nationalsozialistischer Weltanschauung als „Mittel zum Zweck“ zur Erhaltung und Förderung einer „Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen“ dienen

60 Ebd., S. 342f. 61 Runderlaß RSHA, 12.7.1940. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, hg. von Günter Grau. Frankfurt/M. 1993, Dok. 89, S. 311. Vgl. hierzu auch Kapitel 5.3.1. 62 In der Anfangsphase des NS-Regimes war alternativ von „politischer Schutzhaft“, von „Polizeihaft aus politischen Gründen“ oder auch von „politischer Haft“ die Rede. Der Begriff „Schutzhaft“ war in Deutschland schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts geläufig; allerdings bezeichnete er damals die kurzfristige polizeiliche Verwahrung, um eine Person vor einer Gefährdung zu schützen. Vgl. hierzu Robert Gellately: Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945. Paderborn [u.a.] 1993, S. 45. 63 Ab Februar 1938 besaß auch die Gestapo die Möglichkeit, Überwachungsmaßnahmen anzuordnen, auf die hier nicht näher eingegangen wird. 64 Runderlaß des PrMdI, 26.4.1933. Abgedruckt in: Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus. Ausgewählte Schriften, Gesetze und Gerichtsentscheidungen von 1933 bis 1945, hg. und erl. von Martin Hirsch [u.a.]. Köln 1984, S. 326f. 65 Hamel, Polizei im nationalsozialistischen Staat, Sp. 330. 98 sollte, war nach diesem Verständnis jeder „Staatsfeind“ zugleich auch „Volksfeind“66. Durch diese Identität von „Staats“- und „Volksfeind“ erfuhr der Begriff des „Politischen“ im „Dritten Reich“ eine erhebliche Ausweitung, da auch unpolitische Handlungen gleichsam „politisiert“ wurden. So heißt es bei Best:

„Jede an sich unpolitische Straftat – z.B. ein Mord oder ein Diebstahl – kann als 'politisch' angesehen werden und zur Zuständigkeit der Geheimen Staatspolizei gehören, wenn entweder das Motiv oder der Zweck der Straftat politisch war, z.B. ein Mord aus politischem Rachebedürfnis oder ein Diebstahl zum Zwecke der Beschaffung politischer Dokumente o.ä.“67

Das Mittel der Schutzhaft, das ebenso wie die Vorbeugungshaft keine Strafe, sondern eine „polizeiliche Präventivmaßnahme“68 darstellte, konnte somit gegen einen weitgefaßten Personenkreis angewendet werden. So lösten beispielsweise nach den Meldungen der bayerischen politischen Polizei vom März bis November 1936 neben im engeren Sinn politischen Vergehen auch die verbotene Betätigung für die Zeugen Jehovas, der Verstoß gegen den § 175 sowie allgemein die „Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ oder die Ausübung „volksschädigenden Verhaltens“ eine Schutzhaftmaßnahme aus69.

3.2.2.1. Der Schutzhafterlaß vom 12./26. April 1934

Die Möglichkeit einer bis zu drei Monate dauernden polizeilichen Haft beim Verdacht einer strafbaren Handlung (Landes- und Hochverrat, bewaffnete Störung der öffentlichen Sicherheit) war bereits in der am 4. Februar 1933 vom Reichspräsidenten erlassenen Notverordnung „zum Schutze des deutschen Volkes“70 vorgesehen. Die nach dem Reichstagsbrand erlassene Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 193371 setzte schließlich die in der Weimarer Verfassung festgelegten Garantien der persönlichen Freiheit „bis auf weiteres außer Kraft“ und gab der Polizei das Recht, „Beschränkungen der persönlichen Freiheit [...] auch außerhalb der sonst

66 Reinhard Heydrich: Die Bekämpfung der Staatsfeinde. In: DR 6 (1936), S. 121-123, hier S. 121. 67 Best, Deutsche Polizei, S. 34. 68 Hans Tesmer: Die Schutzhaft und ihre rechtlichen Grundlagen. In: DR 6 (1936), S. 135-137, hier S. 136. 69 Vgl. hierzu Martin Broszat: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. In: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2. Olten 1965, S. 9-160, hier S. 47f. 70 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes, 4.2.1933. In: RGBl. I 1933, S. 35-41, vgl. insbesondere § 22. 71 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat, 28.2.1933. In: RGBl. I 1933, S. 83. 99 hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen“ anzuordnen72. Im Laufe des Jahres 1933 ergingen mehrere Weisungen und Erlasse zur Regelung der Schutzhaft durch das Reichsinnenministerium sowie die jeweiligen polizeilichen Landesbehörden73. Eine erste reichseinheitliche Gesamtregelung erfuhr die Schutzhaft durch den Runderlaß des Reichsinnenministers vom 12. April 1934, der am 26. April durch einige Zusätze ergänzt wurde74. Als Rechtsgrundlage war in dem Erlaß, der zumindest in seinem wesentlichen Inhalt der Bevölkerung bekanntgegeben wurde, die Schutzverordnung vom 4. Februar 1933 angegeben. Die materiellen Schutzhaftvoraussetzungen wurden durch die Ziffern III bis V des Erlasses geregelt. Nach Ziffer III/1 wurde die Schutzhaft sowohl „zum eigenen Schutze des Häftlings“ als auch für den Fall, daß „der Häftling durch sein Verhalten, insbesondere durch staatsfeindliche Betätigung, die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar gefährdet“, für zulässig erklärt. Die „staatsfeindliche Betätigung“ stellte somit den Hauptanwendungsfall bei der Verhängung der Schutzhaft dar; darüber hinaus konnten jedoch jegliche Angriffe auf nationalsozialistische Grundwerte unter diese Generalklausel gefaßt werden, so daß die Schutzhaftbestimmungen keineswegs auf politisch motivierte Gegner beschränkt waren. Die Schutzhaft stellte nach den Bestimmungen des Erlasses ausdrücklich eine vorbeugende Maßnahme dar; sie sei „nicht zulässig zur Ahndung strafbarer [...] Handlungen“, denn diese seien durch die Gerichte abzuurteilen. Die Vollstreckung der Schutzhaft sollte „ausschließlich in staatlichen Gefangenenlagern oder Konzentrationslagern“ erfolgen (Ziffer IV)75. Ihre Dauer war – wie auch im Fall der kriminalpolizeilichen Vorbeugungshaft – zeitlich unbegrenzt: Auch die Schutzhaft sollte andauern, „solange [...] ihr Zweck [...] es erfordert“. Haftprüfungen waren alle drei Monate vorzunehmen (Ziffer V).

72 Vgl. hierzu auch Gellately, Gestapo und die deutsche Gesellschaft, S. 43f. sowie Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 11ff. 73 Klaus Drobisch; Günther Wieland: System der NS-Konzentrationslager: 1933-1945. Berlin 1993, S. 31ff. 74 Schutzhafterlaß, 12.4.1934 sowie Änderungserlaß, 26.4.1934; BA R 43 II/398, fol. 128-130 sowie fol. 147. (Hervorhebung im Original). Ziffer II bis V sind auch bei Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 36ff. abgedruckt. Vgl. hierzu auch Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, S. 537ff. 75 Es wurde hiermit die Unzulässigkeit der in der Anfangsphase des NS-Regimes entstandenen zahlreichen „wilden“ Konzentrationslager betont. 100

3.2.2.2. Der Schutzhafterlaß vom 25. Januar 1938

Nach der Neustrukturierung der Polizei erging ein zweiter reichseinheitlicher Schutzhafterlaß erst am 25. Januar 193876. Dieser löste die bis dahin geltenden Regelungen ab und blieb im wesentlichen bis Kriegsende in Kraft. Anders als im Schutzhafterlaß von 1934 verzichtete man darauf, die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ als Rechtsgrundlage anzuführen, vermutlich weil der Auftrag der Gestapo, „alle staatsgefährlichen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet zu erforschen und zu bekämpfen“77, unmittelbar die Basis der Schutzhaft bilden sollte. Als wesentliche Neuerung enthielt der Erlaß eine erweiterte Zweckbestimmung der Schutzhaft. § 1/I lautete nämlich: „Die Schutzhaft kann als Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei zur Abwehr aller volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen gegen Personen angeordnet werden, die durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden.“ Hatte der Erlaß vom April 1934 noch einen Schwerpunkt auf die „staatsfeindliche Betätigung“ gelegt, so wurde die Zulässigkeit der Schutzhaft nun generell auf „volks- und staatsfeindliche[s]“ Verhalten und damit auf jegliches Handeln, das den weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus entgegenwirkte, ausgedehnt. Zudem sollte der Begriff der Schutzhaft nur noch für die langfristige Haft angewendet werden, die grundsätzlich in Konzentrationslagern zu vollstrecken war (§ 6); davon unterschieden wurde die „vorläufige Festnahme“, die aber nicht mehr unter den Begriff der „Schutzhaft“ fiel. Auch der Schutzhafterlaß von 1938 betonte den präventiven Charakter der Schutzhaft; in dem entsprechenden § 1/II hieß es: „Die Schutzhaft darf nicht zu Strafzwecken oder als Ersatz für Strafhaft angeordnet werden. Strafbare Handlungen sind durch die Gerichte abzuurteilen.“ Ebenfalls aus dem Erlaß von 1934 übernommen wurde die obligatorische Haftprüfung nach jeweils drei Monaten, die dem Gestapa übertragen wurde.

Nach Kriegsbeginn ergingen mehrere Erlasse zu Sonderfragen der Schutzhaft bzw. zur Verfahrensvereinfachung78. Folgenschwer war insbesondere ein Erlaß Heydrichs vom 24. Oktober 1939, der – ohne den Schutzhafterlaß von 1938 formell zu ändern – die Entlassung von Schutzhäftlingen einschränkte und gleichzeitig das Haftprüfungsverfahren vereinfachte79.

76 Erlaß des RMdI, 25.1.1938; BA R 22/1469, fol. 68-70. Auszugsweise ist der Erlaß auch bei Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 88f. abgedruckt. 77 Vgl. hierzu das Gesetz über die Geheime Staatspolizei, 10.2.1936. Auszugsweise abgedruckt in: Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus. Ausgewählte Schriften, Gesetze und Gerichtsentscheidungen von 1933 bis 1945, hg. und erl. von Martin Hirsch [u.a.]. Köln 1984, S. 329f. 78 Vgl. hierzu Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Anm. 117, S. 554. 79 Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, S. 553. 101

Die Schutzhaft avancierte „zum Inbegriff der politischen Gegnerbekämpfung im Dritten Reich“80. Gegenüber der kriminalpolizeilichen Vorbeugungshaft bot sie ein wirksames Mittel der präventiven Verbrechensbekämpfung gegenüber einem noch weiter gefaßten Kreis potentieller Häftlinge. Zudem ging die Schutzhaft der kriminalpolizeilichen Vorbeugungshaft zeitlich voraus und nahm von Beginn an ein deutlich größeres Ausmaß an: Erste Verhaftungswellen setzten bereits in den Monaten März und April 1933 ein und führten dazu, daß sich Mitte des Jahres bereits über 26.500 Personen in Schutzhaft befanden81. Nach einem deutlichen Rückgang stieg die Zahl der Schutzhäftlinge nach Kriegsbeginn erheblich an – die Gestapo nahm jeden Monat viele tausend Personen in Schutzhaft, so daß beispielsweise allein im Oktober 1941 insgesamt 15.160 Schutzhaftbefehle ergingen82.

3.3. Die Zuständigkeit von Politischer Polizei und Kriminalpolizei bei der Verfolgung von Homosexuellen

Die Zuständigkeiten von Politischer Polizei und Kriminalpolizei waren im „Dritten Reich“ nicht immer eindeutig voneinander abgegrenzt – es wurde bereits darauf hingewiesen, daß auch vermeintlich unpolitische Handlungen häufig in einen politischen Zusammenhang gebracht wurden. Dies galt auch für den Straftatbestand der Homosexualität: Da zum einen die Auffassung herrschte, daß durch homosexuelle Beziehungen Abhängigkeitsverhältnisse entstünden, die politisch gefährlich werden könnten, und zum anderen einschlägige Beschuldigungen einen beliebten Vorwand zur Verfolgung politischer Gegner lieferten, dürfte die Gestapo verhältnismäßig oft mit der Bearbeitung tatsächlicher oder vermeintlicher Vergehen gegen den § 175 befaßt gewesen sein83. Zudem besaß sie mit dem Instrument der Schutzhaft frühzeitig ein wirksames Präventionsmittel, das sie auch gegen Homosexuelle verwenden konnte, wogegen die später einsetzende kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft stärker reglementiert war und zunächst nur gegenüber bestimmten Gruppen von Homosexuellen angewendet werden konnte. Hinzu kommt, daß die Zentralisierung der Politischen Polizei in der Praxis schon 1934 – zwei Jahre vor der Neustrukturierung der gesamten Polizei – abgeschlossen war; bereits zu diesem Zeitpunkt wurde auch das Sonderdezernat II S im Gestapa eingerichtet, das die Personalangaben verdächtigter oder überführter Homosexueller sammelte. Zu

80 Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 11. 81 Ebd., S. 14ff.; Zahlenangabe S. 25. 82 Ebd., S. 112f. 83 Hans Buchheim: Bearbeitung des Sachgebietes „Homosexualität“ durch die Gestapo. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte. München 1958, Bd. 1, S. 308-310, hier S. 309. 102 vermuten ist, daß die Politische Polizei insbesondere im Jahr 1935 vor der Neuformulierung des § 175 durch die Anwendung der Schutzhaft die Strafrechtsverschärfung vorwegnahm. Für diese Vermutung spricht der hohe Anteil von Homosexuellen an den Schutzhäftlingen dieses Jahres: Nach einer Aufstellung über die Schutzhaftfälle in der Zeit vom 11. Mai bis zum 10. Juni 1935 waren von 1.770 Schutzhäftlingen 413 als Homosexuelle ausgewiesen84. Für die Stadt Würzburg kann Jellonnek anhand der Untersuchung von Personenermittlungsakten der Gestapo sogar feststellen, daß im Jahr 1935 von 20 vermeintlich homosexuellen Schutzhäftlingen 16 ohne vorheriges gerichtliches Urteil inhaftiert worden waren85. Auch nach der Änderung des § 175 und der Einführung des § 175a nahm die Gestapo freigesprochene oder entlassene Homosexuelle in Schutzhaft: Broszats Analyse der bayerischen Schutzhaftfälle von März bis November 1936 ergibt, daß immerhin noch bei 4,2 % aller Häftlinge die Schutzhaft angeordnet war, weil sie einer homosexuellen Handlung beschuldigt oder überführt worden waren86. Noch im Januar 1939 wurde auf einer Konferenz der Generalstaatsanwälte in Berlin die Praxis der Urteilskorrektur durch Anwendung der Schutzhaft unter anderem gegenüber „Hochverräter[n], Bibelforscher[n], Homosexuelle[n] und Abtreiber[n]“ erörtert87.

Parallel zu der Anwendung politisch-polizeilicher Präventionsmaßnahmen gegenüber Homosexuellen intensivierte auch die Kriminalpolizei ihre präventive Tätigkeit gegenüber dieser Verfolgtengruppe. Ihr wurde schließlich durch einen Geheimerlaß Himmlers vom 10. Oktober 1936, der die Einrichtung der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung vorsah, die grundsätzliche Zuständigkeit bei Homosexualitätsdelikten zugesprochen. Sobald allerdings „staatspolizeiliche Maßnahmen“ – gemeint war damit in der Regel die Anordnung von Schutzhaft88 – erforderlich würden, seien „das Geheime Staatspolizeiamt zu unterrichten und bei diesem die erforderlichen Maßnahmen anzuregen“89. In einer zweiten Anordnung zur Durchführung des Geheimerlasses wird das Erfordernis „staatspolizeiliche[r] Maßnahmen“ spezifiziert: Diese seien dann anzuwenden, „wenn das Verhalten (nach Art oder Umfang) des Täters eine Gefährdung der Bevölkerungspolitik oder

84 Schreiben Reinhard Heydrichs, 2.7.1935. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 16, S. 87ff. 85 Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990, S. 260. 86 Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 48. 87 Besprechung der GStA am 23.1.1939; BA R 22/1467, fol. 314-317, hier fol. 315. 88 Vgl. hierzu die Anordnung zur Durchführung des Geheimerlasses vom 9.2.1937, in der es heißt: „Unter staatspolizeilichen Maßnahmen ist auch Schutzhaft zu verstehen.“ Zweite Anordnung zur Durchführung des Erlasses des RFSS u. Chd Dt. Pol. RMdI vom 10.10.1936; 9.2.1937. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 30, S. 135f., hier S. 136. 89 Geheimerlaß zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, 10.10.1936. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 27, S. 122-125, hier S. 122. 103

Volksgesundheit, einen schweren Verstoß gegen die weltanschaulichen Grundsätze des Nationalsozialismus, oder eine Gefahr für die Jugend darstellt.“90 Nach diesen bewußt vage formulierten Voraussetzungen konnte die Hinzuziehung des Gestapa bei nahezu jedem verdächtigen Homosexuellen erfolgen. Möglicherweise hat die Kriminalpolizei vor allem die Fälle, bei denen die formalen Voraussetzungen der Vorbeugungshaft – insbesondere vor der Einführung der erweiterten Bestimmungen des Grunderlasses – nicht gegeben waren, an die Politische Polizei abgegeben, die dann die weniger Beschränkungen unterliegende Schutzhaft anordnen konnte.

Darüber hinaus wurde das Erfordernis „staatspolizeiliche[r] Maßnahmen“ besonders dann gesehen, wenn es sich bei den Verdächtigten um Personen handelte, an denen ein politisches Interesse bestand, wie z.B. bei Angehörigen der Partei und ihrer Gliederungen91, aber auch schon bei bloßen Mitgliedern in einer Massenorganisation wie der DAF92. Im August 1939 wurde die Bearbeitung von Homosexualitätsfällen schließlich allein der Kriminalpolizei übertragen, da die Gestapo für Aufgaben des Staatsschutzes entlastet werden sollte93.

Zum Ausmaß der Schutzhaft- bzw. Vorbeugungshaftmaßnahmen gegen Homosexuelle durch Gestapo bzw. Kriminalpolizei liegen nur wenig verläßliche Informationen vor94. Einen Anhaltspunkt liefert die Arbeit Rüdiger Lautmanns über homosexuelle Konzentrationslagerhäftlinge, in der auch die Einlieferung in die Konzentrationslager berücksichtigt ist. Nach dieser Untersuchung wurden 55 % der „Rosa-Winkel-Gefangenen“ direkt durch die Kripo und nur 12 % durch die Gestapo eingewiesen. Die übrigen 33 % gelangten nach der Auswertung Lautmanns unmittelbar aus einer Strafanstalt in ein Konzentrationslager95 – auch bei dieser Gruppe dürfte jedoch die Zahl der Vorbeugungshäftlinge überwogen haben. Deutlich wird in jedem Fall, daß die Kriminalpolizei

90 Zweite Anordnung zur Durchführung des Erlasses des RFSS u. Chd Dt. Pol. RMdI vom 10.10.1936; 9.2.1937. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 30, S. 135f., hier S. 136. 91 Vgl. hierzu die Aussage des nach Kriegsende im Internierungslager Eselheide inhaftierten Liphardt über die Tätigkeit der Gestapo bei Buchheim, Bearbeitung des Sachgebiets „Homosexualität“, S. 309f. 92 Frank Sparing: „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“: Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Düsseldorf 1997, S. 91. 93 Müller, Bei „Angriffen“ auf die Sittlichkeit, S. 145. 94 Die bei Stümke aufgeführte Auswertung der Statistiken des RKPA, nach denen die Gestapo zwischen 1937 und 1939 insgesamt 94.738 Homosexuelle ermittelte, wogegen von der Kriminalpolizei im gleichen Zeitraum 33.854 Homosexualitätsfälle bearbeitet wurden, bietet wenig Aufschluß, da „Erfassung“ und „Bearbeitung“ nicht gleichgesetzt werden können und zudem nicht auf die Zahl der tatsächlich ergangenen Schutzhaft- bzw. Vorbeugungshaftanordnungen rückgeschlossen werden kann. Vgl. Hans-Georg Stümke; Rudi Finkler: Rosa Winkel, Rosa Listen. Homosexuelle und „Gesundes Volksempfinden“ von Auschwitz bis heute. Reinbek 1981, S. 263. 95 Rüdiger Lautmann; Winfried Grikschat; Egbert Schmidt: Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977, S. 325-365, hier S. 364. 104 insgesamt einen erheblich größeren Anteil an den Präventionsmaßnahmen gegenüber Homosexuellen hatte als die Politische Polizei, deren Tätigkeit sich hauptsächlich auf die Zeit von 1935 bis 1938 konzentrierte96. In der Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung werden Kriminalpolizei und Gestapo leider häufig nicht klar voneinander abgegrenzt – die Verfolgungsmaßnahmen gegen Homosexuelle werden nicht selten einseitig der Gestapo zugeschrieben97, wogegen die Rolle der Kriminalpolizei bisher noch kaum Beachtung findet98.

96 Vgl. hierzu auch die Untersuchung der Ermittlungstätigkeit der Gestapo bei Homosexualitätsdelikten durch Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. 97 So z.B. in der Darstellung von Wolfgang Harthauser, in der es heißt: „Die Gestapo [...] nahm die Endlösung des Homosexuellenproblems gemäß den Weisungen Himmlers in die Hand“; Wolfgang Harthauser: Der Massenmord an Homosexuellen im Dritten Reich. In: Das große Tabu, hg. von Willhart S. Schlegel. München 1967, S. 22. Letztendlich begeht auch Jellonnek in seiner umfangreichen Untersuchung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung den Fehler, sich einseitig auf die Tätigkeit der Gestapo zu konzentrieren; vgl. hierzu auch die Kritik von Jörg Hutter: Rezension zu Burkhard Jellonnek – Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. In: MschrKrim 74 (1991), S. 387-389. 98 Vgl. hierzu neuerdings Müller, Bei „Angriffen“ auf die Sittlichkeit. 105

3.4. Die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung

„Die erhebliche Gefährdung der Bevölkerungspolitik und Volksgesundheit durch die auch heute noch verhältnismäßig hohe Zahl von Abtreibungen, die einen schweren Verstoß gegen die weltanschaulichen Grundsätze des Nationalsozialismus darstellen[,] sowie die homosexuelle Betätigung, in der eine der größten Gefahren für die Jugend liegt, erfordert mehr als bisher eine wirksame Bekämpfung dieser Volksseuchen. [...] Um eine zentrale Erfassung und eine wirksame Bekämpfung dieser Vergehen nach einheitlichen Richtlinien sicherzustellen, errichte ich beim Preußischen Landeskriminalpolizeiamt eine Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung.“99

Mit diesen Worten wurde in einem Geheimerlaß Himmlers vom 10. Oktober 1936 die Einrichtung der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung begründet100. Leiter dieser Reichszentrale wurde Kriminalrat Josef Meisinger, den 1940 Erich Jakob, bis dahin Leiter des Abtreibungsdezernats der Berliner Kriminalpolizei, ablöste.

Insgesamt gab es ab Mitte 1936 15 Reichszentralen, die entweder aus bereits bestehenden Referaten oder Dezernaten beim Preußischen Landeskriminalpolizeiamt hervorgegangen oder 1936 im Zuge der Umstrukturierung der Kriminalpolizei neu gebildet worden waren101. Die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung konnte, was die Bearbeitung von Homosexualitätsdelikten betraf, an die Tätigkeit des „Sonderdezernats II S“ im Gestapa anknüpfen; dort waren auf Anordnung Himmlers vom Oktober 1934 bereits Listen von Personen, die sich homosexuell betätigt haben sollen, angelegt worden. Auch nach dem Geheimerlaß vom 10. Oktober 1936 blieb das Sonderdezernat im Gestapa zunächst bestehen, um für den Fall, daß „staatspolizeiliche Maßnahmen“ erforderlich seien, eingreifen zu können. Um „eine schnelle Zusammenarbeit zu gewährleisten“, wurden beide Einrichtungen von demselben Beamten geleitet102.

Alle Reichszentralen waren dem RKPA unterstellt. Als dieses 1939 im RSHA aufging, wurden die Reichszentralen dem Amt V Verbrechensbekämpfung zugeordnet und in den Referaten

99 Geheimerlaß zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, 10.10.1936. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 27, S. 122-125, hier S. 122. 100 Vgl. hierzu ausführlich Günter Grau: Die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“. Administratives Instrument zur praktischen Durchsetzung rassenpolitischer Zielsetzungen. In: Der Arzt als „Gesundheitsführer“. Ärztliches Wirken zwischen Ressourcenerschließung und humanitärer Hilfe im Zweiten Weltkrieg, hg. von Sabine Fahrenbach und Achim Thom. Frankfurt/M. 1991, S. 117-128. 101 Es wurde bereits in Kapitel 2.2. darauf eingegangen, daß die Zuständigkeit einer Reichszentrale für die Bearbeitung von Homosexualitäts- und Abtreibungsdelikten keineswegs Zufall war, sondern in der bevölkerungspolitischen Dimension, die ihnen zugemessen wurde, begründet war. 106

„Kapitalverbrechen“, „Betrug“ und „Sittlichkeitsverbrechen“ zusammengeschlossen. Neben der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung gehörten zum Referat „Sittlichkeitsverbrechen“ noch vier weitere Erfassungsstellen: Die „Reichszentrale zur Bekämpfung unzüchtiger Bilder, Schriften und Inserate“, die „Reichszentrale zur Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels“, die „Reichszentrale zur Bekämpfung von Rauschgiftvergehen“ sowie die „Reichszentrale zur Bekämpfung von Sittlichkeitsverbrechen und Triebverbrechen“103.

Über die Aufgaben der Reichszentralen heißt es in den Arbeitsmaterialien zu „Organisation und Meldedienst der Reichskriminalpolizei“: „Die Reichszentralen [...] üben ihre Tätigkeit für das gesamte Reichsgebiet aus. Sie sammeln die ihnen von den Kriminalpolizeileitstellen oder anderweitig zugehenden Meldungen und werten sie in geeigneter Weise aus. Sie führen Karteien über Straftaten und Rechtsverbrecher [...]“104. Mit der Erfassung und Registrierung von Menschen sowie ihrer systematischen Klassifizierung erfüllten die Reichszentralen eine wesentliche Funktion des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates. Der „Verkartungsboom“, so Götz Aly, war ein Wesenszug des NS-Staates und bildete eine Vorstufe zu der gewalttätigen Unterdrückung von Menschen105. Was die Bearbeitung von Homosexualitätsdelikten betraf, bestand in der zentralen Erfassung von Homosexuellen bzw. der Homosexualität beschuldigten Männern und Jugendlichen eine wesentliche Aufgabe der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung. Bei dieser Tätigkeit war man auf die Zusammenarbeit mit den Ortspolizeibehörden angewiesen, die dazu verpflichtet waren, „Verbrechen nach §§ 174, 176 und 253, soweit sie auf homosexueller Grundlage beruhen, und in den Fällen der §§ 175, 175a sofort nach Eingang einer Anzeige“ der Reichszentrale mitzuteilen, allerdings nur dann,

„a) wenn der Täter der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört oder eine führende Stellung einnimmt, b) wenn der Täter der Wehrmacht angehört, c) wenn der Täter Mitglied einer Ordensgemeinschaft ist, d) wenn der Täter im Beamtenverhältnis steht, e) wenn der Täter Jude ist,

102 Geheimerlaß zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, 10.10.1936. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 27, S. 122ff., hier S. 122, 124. 103 Übersicht über die Struktur der Reichszentralen nach Gründung des RSHA 1939. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 34, S. 144. 104 Die Aufgaben der Reichszentralen. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 32, S. 143. 105 Götz Aly; Karl Heinz Roth: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Berlin 1984, S. 10. 107

f) wenn es sich um Personen handelt, die in der Zeit vor der Machtergreifung eine führende Stellung innehatten.“106

Daneben führte die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung eine gesonderte „Reichskartei für Abtreiber und Strichjungen“. Die „in dieser Richtung bereits bekanntgewordenen Personen“ waren „unter Angabe der genauen Personalien und nach Möglichkeit unter Beifügung eines Lichtbildes der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung zu melden“, des weiteren war „jeder Wohnungswechsel dieser Personen“ anzuzeigen107.

Obwohl nicht jede bekannt gewordene homosexuelle Betätigung erfaßt wurde, waren 1938 bereits die Personalangaben von über 28.800 als homosexuell bestraften oder verdächtigten Männern bei der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung in Karteien verzeichnet; 1940, vier Jahre nach der Gründung der Reichszentrale, waren es bereits ca. 41.000 Personen108. Neben der möglichst lückenlosen Erfassung des inkriminierten Personenkreises bestand eine weitere Aufgabe der Reichszentrale in der Einleitung bzw. Koordination von Verfolgungsmaßnahmen, ohne dabei jedoch die örtlichen Polizeibehörden „von ihrer Pflicht, sofort alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur Bekämpfung des Vergehens erforderlich sind“109, zu entbinden. Des weiteren arbeitete die Reichszentrale eng mit den Kriminalbiologischen Untersuchungs- und Sammelstellen zusammen, insbesondere um die Frage nach den Ursachen der Homosexualität sowie nach den Auswirkungen der Kastration von Homosexuellen zu beantworten. Zu diesem Zweck stellte man die Daten der registrierten Personen Institutionen sowie Einzelpersonen zur Verfügung, die sich mit diesen Fragestellungen beschäftigten110.

106 Geheimerlaß zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, 10.10.1936. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 27, S. 122ff., hier S. 124. 107 Ebd. 108 Aus den Berichten der Reichszentrale für das Jahr 1938 sowie für die Jahre 1939 und 1940. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 39 und 40, S. 154ff. Über den Verbleib dieser Kartei sowie generell der Akten der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung bestand nach 1945 lange Zeit Unklarheit. Recherchen Günter Graus ergaben, daß das Aktenmaterial nicht mehr erhalten ist und vermutlich bei Bombenangriffen vernichtet wurde. 109 Geheimerlaß zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, 10.10.1936. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 27, S. 122ff., hier S. 124. 110 Vgl. Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 41-43, S. 156-170. 108

3.5. Homosexuelle Schutz- und Vorbeugungshäftlinge in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern

Vorbeugungshaft und Schutzhaft wurden größtenteils in Konzentrationslagern vollstreckt; in Polizeigefängnissen oder ausnahmsweise in den Haftanstalten der Justiz waren polizeilich Inhaftierte in der Regel nur übergangsweise inhaftiert.

Zum System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, zu den Lagertypen sowie zur Geschichte einzelner Lager und Außenlager wurde bereits eine beträchtliche Anzahl von Forschungsarbeiten publiziert111, auf die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur teilweise eingegangen werden kann. Was die Aufarbeitung der Situation homosexueller Konzentrationslagerhäftlinge112 betrifft, spiegelt sich hier das generelle Forschungsdefizit zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung wider: Obwohl unter den bis heute veröffentlichten einschlägigen Arbeiten die Untersuchungen zum Schicksal der Homosexuellen in den Konzentrationslagern einen Schwerpunkt darstellen, kann von einer erschöpfenden Aufarbeitung dieses Themas keineswegs die Rede sein. Im folgenden soll in einem knappen Überblick die Durchführung polizeilicher Haftmaßnahmen in Form der KZ-Haft an homosexuellen Gefangenen dargestellt werden. Es werden sowohl die Ergebnisse der bisher vorliegenden Einzelstudien zum Schicksal homosexueller Konzentrationslagerhäftlinge als auch Angaben, die den Berichten ehemaliger Gefangener entnommen werden können, in die Untersuchung einbezogen113.

111 Zum Forschungsstand über die nationalsozialistischen Konzentrationslager vgl. Gudrun Schwarz: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt/M. 1990, S. 8-13 sowie zu einzelnen Lagern S. 137ff.; Johannes Tuchel: Konzentrationslager: Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934- 1938. Boppard am Rhein 1991, S. 15-27. Einen Überblick über die neuere einschlägige Forschungsliteratur enthält z.B. Ulrich Herbert; Karin Orth; Christoph Dieckmann: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 1, Göttingen 1998, S. 17-40. 112 Die in der Forschungsliteratur gebräuchliche und auch im folgenden verwendete Abkürzung „KZ“ wurde auch schon vor 1945 anstelle der offiziellen Kurzform „KL“ für die der Inspektion der Konzentrationslager (bzw. ab 1942 dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt) unterstehenden Lager verwendet. Vgl. hierzu Herbert; Orth; Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Anm. 2, S. 35. 113 Auf die Schwierigkeiten, die sich aus der Auswertung der Erinnerungsliteratur ergeben, wurde bereits in Kapitel 1.3. hingewiesen. Auch für die Berichte ehemaliger Konzentrationslagerhäftlinge gilt, daß darin immer wieder auf die die innere Gestaltung der Lager am stärksten beeinflussenden politischen und kriminellen Gefangenen hingewiesen wird. Das Schicksal der kleineren und der unterprivilegierten Gruppen bleibt dagegen in den Darstellungen ehemaliger KZ-Insassen weitgehend unerwähnt. Dies mag darauf zurückzuführen sein, daß die Autoren – zum Großteil ehemalige „politische“ Häftlinge, die sich schriftlich äußerten – die KZ-Haft meist selber in privilegierten Positionen überstanden und daher die Schattenseiten der sozialen Schichtung im Lager kaum in ihre Darstellungen einbezogen. 109

3.5.1. Quantitative Angaben

Das Ausmaß der Inhaftierung von Homosexuellen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurde in den ersten Forschungsarbeiten zur Homosexuellenverfolgung im „Dritten Reich“ vielfach überschätzt114. Die immer wieder zu lesenden Angaben von mehreren hunderttausend Häftlingen, die aufgrund angeblicher oder tatsächlich nachgewiesener homosexueller Handlungen in den Konzentrationslagern inhaftiert waren, sind vielfach Folge einer ungenügenden empirischen Basis dieser Arbeiten sowie einer Fehleinschätzung der Ziele der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik. Eine erste quellenorientierte Untersuchung des Verfolgungsschicksals Homosexueller im „Dritten Reich“ ergab, daß zwischen 5.000 und 15.000 Männer während der NS- Zeit als Homosexuelle in Konzentrationslagern inhaftiert waren115. Diese Schätzung gilt auch in der heutigen Forschungsliteratur als genaueste Angabe über die Anzahl der homosexuellen Konzentrationslagerhäftlinge.

Die Homosexuellen bildeten in allen Konzentrationslagern eine Minderheit unter den Gefangenen. Neben der Gesamtzahl der „Rosa-Winkel-Gefangenen“ war hierfür auch deren geringe Aufenthaltsdauer in den Lagern von entscheidender Bedeutung: Bedingt durch die vergleichsweise hohe Todesrate unter den homosexuellen Gefangenen116, lebten diese häufig nur für kurze Zeit in den Konzentrationslagern117. An der Gesamtbelegung der Lager betrug ihr Anteil in der Zeit von 1933- 1939 allenfalls ein bis zwei Prozent118; nur in einigen Außenlagern waren sie stärker vertreten. Obwohl die absolute Zahl homosexueller Konzentrationslagerhäftlinge nach dem Runderlaß vom Juli

114 Vgl. Kapitel 1.2. 115 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 333. Vgl. auch Rüdiger Lautmann: Categorization in Concentration Camps as a Collective Fate: A Comparison of Homosexuals, Jehovah’s Witnesses and Political Prisoners. In: Journal of Homosexuality 19 (1990), S. 67-88. 116 Vgl. Kapitel 3.5.2.2.4. 117 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 352. 118 Ebd., S. 332. Für das Konzentrationslager Buchenwald gibt Röll den Anteil der Homosexuellen an der Gesamtbelegung des Lagers mit 0,2 % an; vgl. Wolfgang Röll: Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald. Weimar 1992, S. 18. Albert Knoll ermittelt für das Konzentrationslager Dachau einen Höchststand als homosexuell Inhaftierter von 2,35 % im Jahr 1938; in der Folgezeit nahm der Anteil der „Rosa-Winkel- Häftlinge“ an der Gesamtzahl der Häftlinge auch dort kontinuierlich ab; vgl. Albert Knoll: Totgeschlagen – totgeschwiegen. Die homosexuellen Häftlinge im KZ Dachau. In: Dachauer Hefte 14 (1998), S. 77-101, hier S. 84f. Für das KZ Ravensbrück gibt Bernhard Strebel einen Anteil von 0,8 % homosexueller Gefangener an; vgl. Bernhard Strebel: Die „Rosa-Winkel-Häftlinge“ im Männerlager des KZ Ravensbrück. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 34-41. 110

1940119 zunahm120, traten die Homosexuellen im Erscheinungsbild der Konzentrationslager zurück, bedingt durch den starken Anstieg der Häftlingszahlen in der Kriegszeit, vor allem durch die zahlreichen Einweisungen von jüdischen Häftlingen und sogenannten Fremdvölkischen – zum Teil waren es nur einzelne unter vielen tausend Gefangenen121.

3.5.2. Die Haftsituation der homosexuellen Konzentrationslagergefangenen

3.5.2.1. Häftlingsgesellschaft und „Selbstverwaltung“122

Die in den nationalsozialistischen KZ inhaftierten Gefangenen standen den SS-Wachmannschaften nicht als homogene Gruppe gegenüber, sondern stellten eine Ansammlung von unterschiedlichen Gruppierungen dar123. Grundlage für die Ungleichheit von Gefangenen war der unterschiedliche Zugang zu überlebenswichtigen Gütern sowie Machtpositionen. Dieser wurde durch die Politik der Lagerleitung sowie durch die soziale Einschätzung der Insassen ihren Mitinsassen gegenüber beeinflußt.

Die Lagerleitung verfolgte in den jeweiligen Konzentrationslagern zum einen das Ziel, die physische und psychische Widerstandskraft der Inhaftierten zu brechen – Ausdruck hierfür sind die unzähligen Berichte über die Verrichtung sinnloser und körperlich extrem belastender Arbeiten sowie über körperliche Mißhandlungen von Gefangenen bis hin zu deren physischer Vernichtung. Zum anderen zielte die Politik der Lagerleitung darauf ab, die Reproduktion des Lagerlebens (Organisation der minimalen Versorgung der Gefangenen mit Lebensmitteln und Kleidung, der Unterbringung, der Krankenpflege etc.) zu gewährleisten sowie – insbesondere nach der Ausrichtung der Zwangsarbeit

119 Runderlaß RSHA an die Staatliche Kriminalpolizei, 12.7.1940. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 89, S. 311. Darin heißt es: „Ich ersuche, in Zukunft alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen.“ Vgl. auch Kapitel 5.3.1. 120 Vgl. hierzu beispielsweise die Zahl der homosexuellen Gefangenen im Konzentrationslager Buchenwald in: Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945: Begleitband zur ständigen Ausstellung, hg. von der Gedenkstätte Buchenwald. Göttingen 1999, S. 73. 121 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 332. 122 Die Ausdrücke „Häftlingsgesellschaft“ und „Häftlingsgemeinschaft“ haben sich in der neueren einschlägigen Forschungsliteratur eingebürgert und werden auch hier verwendet, obwohl sie Grundzüge von Selbst- oder doch Mitgestaltung assoziieren, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern nicht gegeben waren. Vgl. hierzu auch Lutz Niethammer: Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. Kommentierende Bemerkungen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 1046- 1060, hier S. 1049. 123 Vgl. zur sozialen Struktur in den Konzentrationslagern insbesondere Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt/M. 1993. 111 auf die Erfordernisse der Rüstungsproduktion – die physischen Ressourcen der Häftlinge auszunutzen. Um den eigenen Machtaufwand zu reduzieren, etablierte die Lagerleitung ein Prinzip der „indirekten Herrschaft“124, indem sie übergeordnete Funktionen in den Arbeitskommandos sowie Aufgaben der Lagerverwaltung an einzelne Gefangene delegierte, die hierfür bestimmte Vergünstigungen und ihrerseits Einfluß auf die Vergabe von Gütern und Machtpositionen erhielten. An der Spitze dieser „Häftlingsselbstverwaltung“ standen ein oder mehrere Lagerälteste125, die von der Lagerführung eingesetzt wurden und unter den Häftlingen deren höchste Befehlsempfänger waren. Mit der Zustimmung der SS setzten der (die) Lagerälteste(n) in jeder Baracke einen Blockältesten ein, der wiederum Stubenälteste und Stubendienste berief, die ihm bei seinen Aufgaben (Beaufsichtigung der unterstellten Gefangenen sowie deren Versorgung mit materiellen Gütern) behilflich waren. Parallel dazu wurden die einzelnen Arbeitskommandos von Kapos angeführt, die den jeweiligen SS-Kommandoführern unterstanden und in größeren Kommandos Unterkapos einsetzen konnten. Eine bedeutende Rolle in der Selbstverwaltung nahmen darüber hinaus die Häftlinge in den Verwaltungsfunktionen ein. Hierzu gehörten die Schreibstube, die die gesamte innere Verwaltung des Lagers regelte, sowie die Arbeitsstatistik, in der die Arbeitskommandos zusammengestellt und die Transportlisten für die Außenlager festgelegt wurden. Weitere Funktionsposten126 gab es in den Versorgungseinrichtungen, wie z.B. der Küche, der Wäscherei, den Werkstätten sowie den Krankenbauten. Die hier beschäftigten Gefangenen besaßen zwar keine unmittelbare Disziplinar- oder Entscheidungsgewalt, aber dafür Zugang zu lebenswichtigen Gütern, die für den Aufbau von Protektionsbeziehungen genutzt werden konnten.

Die Lagerleitung etablierte auf diese Weise eine zweite „Lagerregierung“, die den Lageralltag organisierte und das Bewachungspersonal entlastete. Dies wurde auch von den Häftlingen so wahrgenommen; beispielsweise heißt es bei Edgar Kupfer-Koberwitz, der im Lager Dachau inhaftiert war: „Man war also doppelt eingesperrt: einmal als Gefangener des Nationalsozialismus und der ihn

124 Niethammer, Häftlinge und Häftlingsgruppen, S. 1050. 125 Ausführlich haben Eugen Kogon und Benedikt Kautsky, die beide eigenes Erleben mit dem Versuch wissenschaftlicher Analyse verbunden haben, den Aufbau der internen Lagerhierarchie dargestellt. Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Berlin 1947 sowie Benedikt Kautsky: Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern. Zürich 1946. Einen knappen Überblick liefern auch Herbert Obenaus: Der Kampf um das tägliche Brot. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 841-873 sowie Falk Pingel: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager. Hamburg 1978. 126 Anstelle des NS-Begriffs „Selbstverwaltung der Häftlinge“ bzw. „Häftlingsselbstverwaltung“ haben sich in der Literatur vielfach die Begriffe „Funktionssystem“, „Funktionsposten“ und „Funktionshäftlinge / -gefangene“ durchgesetzt und werden auch hier verwendet. 112 verkörpernden SS, und einmal als Gefangener der Mitgefangenen, ihnen ebenso ausgeliefert wie der Gestapo, vielleicht noch schlimmer, denn sie umgaben einen stündlich.“127

Bei der Durchsetzung der von der Lagerleitung vorgegebenen Verhaltensregeln wurde den „Bindenträgern“ – alle mit Funktionen ausgestatteten Häftlinge trugen Armbinden – weitgehend freie Hand gelassen. Um die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen, mußte das Häftlingspersonal jede Regelübertretung der unterstellten Gefangenen ahnden – häufig geschah dies mit den gleichen Mitteln, die auch die Wachmannschaften verwendeten. Indem auf diese Weise einige Opfer zu Komplizen gemacht wurden, verwischte die Trennlinie zwischen Wachpersonal und Insassen128. Es entstand ein gewisses Maß an gegenseitiger Abhängigkeit zwischen den Mitgliedern der „Selbstverwaltung“ und der Lagerführung. Diese Abhängigkeit war jedoch in höchstem Maß ungleich: Der Häftling genoß allenfalls „befristeten Verfolgungsschutz“129, da er durch die SS jederzeit in seiner Funktion abgesetzt bzw. getötet werden konnte.

Das Prinzip der „indirekten Herrschaft“ bewirkte, daß in der abgeschlossenen Gesellschaft des Konzentrationslagers eine Hierarchie unter den Inhaftierten entstand, die in unterschiedlichem Ausmaß an Macht und überlebenswichtigen Gütern teilhatten. So geringfügig die einzelnen Häftlingen übertragenen Funktionen auch sein mochten – die damit Beauftragten waren aus der anonymen Menge der Inhaftierten herausgehoben und verbesserten ihre Chancen zu überleben. Unter den katastrophalen Lebensbedingungen der Haftzeit entwickelte sich in den NS- Konzentrationslagern ein erbitterter Kampf um diese mit Vergünstigungen verknüpften Funktionsposten im Lager. An der Spitze dieser Häftlingshierarchie130 stand die „Prominenz“ oder „Aristokratie“, die in den meisten Lagern lediglich ein Prozent der Inhaftierten darstellte. Ihr waren die einflußreichen und privilegierten Häftlinge zuzuordnen: Lagerälteste, maßgebende Barackenälteste sowie Kapos bestimmter Verwaltungsbereiche und Arbeitskommandos. Die „Mittelschicht“, die der ehemalige Konzentrationslagerhäftling Kautsky für das Lager Buchenwald auf 20 bis 30 % schätzt131, umfaßte weitere Kapos, Vorarbeiter, Pfleger im Revier und Arbeiter in den Werkstätten. Den großen Rest – die „Unterschicht“ – bildete die anonyme Menge, die unter den „Normalbedingungen des Lagers“132 lebte.

127 Edgar Kupfer-Koberwitz: Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau. Stuttgart 1957, S. 104. 128 Vgl. hierzu auch Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Bd. 3: Totale Herrschaft. Frankfurt/M. [u.a.] 1975, S. 228. 129 Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 152. 130 Vgl. Kogon, SS-Staat, S. 61ff. sowie Kautsky, Teufel und Verdammte S. 159ff. 131 Kautsky, Teufel und Verdammte, S. 163f. 132 Ebd., S. 165. 113

Bei der Besetzung von Funktionsposten wurden fachliche Qualifikationen in der Regel nur wenig berücksichtigt. Vor allem das Ansehen eines Gefangenen bei der Lagerleitung, aber auch bei einflußreichen Funktionsgefangenen trug dazu bei, eine privilegierte Aufgabe im Lager übernehmen zu können. Dieses Ansehen bei der Lagerleitung und bei den Mitinhaftierten wurde weniger durch individuelle Persönlichkeitsmerkmale als vielmehr durch die Zugehörigkeit zu einer Häftlingskategorie bestimmt.

Ab 1936 wurde im Zuge der von Himmler angeordneten Zentralisierung des Konzentrationslagersystems in den meisten Lagern eine einheitliche Einteilung und Kennzeichnung der Gefangenen nach ihrem Einlieferungsgrund vorgenommen133. Die größten Gruppen stellten in den meisten Lagern die aus politischen Gründen Inhaftierten und die als kriminell angesehenen Gefangenen – nach dem farbigen Stoffdreieck, das sie an der linken Brustseite und am rechten Hosenbein tragen mußten, kurz „Rote“ und „Grüne“ genannt. Die farbigen Dreieckswinkel stellten nur eine Art Oberkategorie des Kennzeichnungssystems dar; daneben waren die KZ-Insassen nach ihrer Nationalität gekennzeichnet, und es gab zahlreiche weitere Markierungen, zum Beispiel für fluchtverdächtige Gefangene oder Angehörige der Strafkompanie134.

Die Kategorisierung der Häftlinge verschärfte die Gegensätze unter den Häftlingen und trug wesentlich zu einer Differenzierung der Häftlingsgemeinschaft bei. Bei der Besetzung von privilegierten Posten wurden von den Funktionshäftlingen insbesondere Angehörige der eigenen Kategorie berücksichtigt. In der Regel ohne Funktionsmacht blieben die aus rassischen Gründen Verfolgten sowie nicht-deutsche Häftlinge. Von den übrigen Inhaftierten partizipierten vorwiegend die „Politischen“ und die „Kriminellen“ an den Positionen der „Häftlingsselbstverwaltung“ – in vielen Lagern herrschte ein regelrechter Klassenkampf zwischen „Rot“ und „Grün“ um die Funktionsstellen der Selbstverwaltung135.

Die Aufrechterhaltung der Rivalitäten und Gegensätze zwischen den Häftlingen verhalf der Lagerleitung dazu, den Zusammenhalt der Häftlinge zu zerstören. In seinen Memoiren schreibt Rudolf Höß, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz:

„Im KL wurden diese Gegensätze [zwischen den Häftlingsgruppen] von der Führung eifrigst aufrechterhalten und geschürt, um so ein festes Zusammenschließen aller Häftlinge zu verhindern. [...] Die farbigen Gegensätze spielten dabei eine große Rolle. Keiner noch so starken Lagerführung wäre es sonst möglich, Tausende von Häftlingen im Zügel zu halten,

133 Auch vor der Einführung eines einheitlichen Systems gab es in den einzelnen Lagern bereits unterschiedliche Kennzeichnungen; vgl. hierzu Drobisch; Wieland, System der NS-Konzentrationslager, S. 206f. 134 Vgl. hierzu z.B. Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 78ff. 135 Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 137ff. 114

zu lenken, wenn diese Gegensätze nicht dazu helfen würden. Je zahlreicher die Gegnerschaften und je heftiger die Machtkämpfe unter ihnen, umso leichter läßt sich das Lager führen.“136

Die Praxis, Häftlinge durch Häftlinge kommandieren und beaufsichtigen zu lassen, war somit nicht nur Ausdruck des in den Lagern praktizierten „Prinzip[s] möglichst geringer Unkosten“137, sondern stellte eine wesentliche Voraussetzung für die Dauer und Festigkeit der Machtkonfiguration dar, ohne die Disziplin und soziale Kontrolle binnen kurzem in sich zusammengebrochen wären138.

3.5.2.2. Der soziale Status homosexueller Gefangener in der Häftlingsgemeinschaft

Die Überlebenschancen des einzelnen Häftlings hingen außer von dessen „vorkonzentrationärer Prägung“139 von der Stellung in der Hierarchie der Häftlingsgemeinschaft ab, die bestimmt wurde durch die Politik der Lagerleitung sowie durch soziale und ökonomische Kontakte zu den Mitgefangenen – insbesondere zu der Häftlings“prominenz“. Es werden im folgenden die Befunde dargestellt, die der Forschungsliteratur sowie den Berichten überlebender Gefangener über die Stellung der mit dem rosa Winkel gekennzeichneten homosexuellen Häftlinge zu entnehmen sind. Hierbei wird unterschieden zwischen den Bereichen, die einerseits der Produktion durch Häftlingsarbeit und andererseits der Reproduktion des Lagerlebens zuzuordnen sind.

3.5.2.2.1. Reproduktion des Lagerlebens

Von entscheidender Bedeutung für den Status einer Gefangenengruppe war deren Partizipation an der „Häftlingsselbstverwaltung“. Die wenigen bisher vorliegenden empirisch orientierten Untersuchungen zum Schicksal homosexueller Konzentrationslagerhäftlinge weisen darauf hin, daß diese einen verminderten Zugang zu den Häftlingsfunktionen hatten: Für das Lager Buchenwald kann Wolfgang Röll keinen Häftling mit dem rosa Winkel ausmachen, der in eine Lagerfunktion gelangen konnte140. Lautmann wertet die Zugehörigkeit homosexueller Gefangener zu den „Service-

136 Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß, eingel. u. komm. von Martin Broszat. Stuttgart 1958, S. 101f. 137 Hans-Günther Adler: Selbstverwaltung und Widerstand in den Konzentrationslagern der SS. In: VfZ 3 (1955), S. 221-236, hier S. 223. 138 Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 152. 139 Gemeint sind Verhaltensweisen, die ein Häftling vor seiner Haftzeit entwickelt hat; vgl. hierzu Pingel, Häftlinge unter SS-Herrschaft, S. 10. 140 Röll, Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald, S. 27. 115

Kommandos“ aus, worunter er die Arbeit in den Verwaltungsfunktionen und in den Versorgungseinrichtungen faßt, und kommt zu dem Ergebnis, daß diese darin mit einem Anteil von nur 0,6 % – gegenüber 4,6 % bei den aus politischen Gründen Inhaftierten und 5,9 % bei den Zeugen Jehovas – deutlich unterrepräsentiert waren141. Homosexuelle Gefangene hatten somit vermutlich nur eine sehr geringe Chance, in der „Häftlingsselbstverwaltung“ mitzuwirken – sie waren jedoch nicht grundsätzlich davon ausgeschlossen: Aus den Berichten überlebender homosexueller Konzentrationslagerhäftlinge geht hervor, daß es einzelnen mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Inhaftierten gelang, einen Funktionsposten zu erhalten. So berichtet beispielsweise der 1940 eingelieferte Heinz Dörmer über das Konzentrationslager Neuengamme, daß dort ein homosexueller Rechtsanwalt einen Funktionsposten ausübte und „als langjähriger Lagerinsasse mit relativ niedriger Häftlingsnummer“ zu den „von allen Seiten geachteten Respektspersonen“ gehörte. Zwei weitere mit dem rosa Winkel gekennzeichnete Gefangene sollen in Neuengamme in Verwaltungsfunktionen – der eine in der Arbeitsstatistik, der andere als Fotograf zur Anfertigung der Häftlingsaufnahmen – beschäftigt gewesen sein142. Nachdem er durch kulturelle Auftritte im Lager in engen Kontakt mit Angehörigen der Häftlings“prominenz“ kam und von diesen geschützt wurde, übernahm Dörmer 1943 schließlich selbst einen Funktionsposten als Tischältester143. In einem anderen Fall gelang es dem österreichischen Homosexuellen Heinz Heger (Pseudonym) im Konzentrationslager Flossenbürg, Kapo zu werden, nachdem er jahrelang sexuelle Beziehungen zu führenden Lager“prominenten“ unterhielt144. Mit dem starken Anstieg der Zahl nicht-deutschsprachiger KZ- Häftlinge während der Kriegszeit und infolge der Ökonomisierung der Häftlingsarbeit wurde die Vergabe von Funktionsposten immer unabhängiger von normativen und rassistischen Intentionen. Da nunmehr stärker berufliche Qualifikationen und Sprachkenntnisse über die Verwendung der Häftlinge entschieden, veränderte sich in einigen Konzentrationslagern die Zusammensetzung der

141 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 341. 142 „Und alles wegen der Jungs.“ Pfadfinderführer und KZ-Häftling: Heinz Dörmer, hg. von Andreas Sternweiler. Berlin 1994, S. 98. Jens Michelsen bestätigt in seiner Untersuchung über das KZ Neuengamme diese Angaben; vgl. Jens Michelsen: Homosexuelle im Konzentrationslager Neuengamme – Eine Annäherung. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 42-47, hier S. 44; ebenso Hermann Kaienburg: „Freundschaft? Kameradschaft? ...Wie kann das möglich sein?“ Solidarität, Widerstand und die Rolle der „roten Kapos“ in Neuengamme: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1998, S. 18-50, hier S. 35f. 143 „Und alles wegen der Jungs“, S. 131. 144 Heinz Heger: Die Männer mit dem rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939- 1945. Hamburg 21979, S. 121ff. 116

Funktionshäftlinge, und auch für die „Rosa-Winkel-Gefangenen“ stiegen die Chancen, einen Funktionsposten zu erhalten145.

Zur Reproduktion des Lagerlebens ist auch die Regelung der Unterbringung der Inhaftierten zu zählen. Die Unterbringung der homosexuellen Gefangenen wurde in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern unterschiedlich gehandhabt. Kogon beschreibt in seiner Studie „Der SS-Staat“ die im Lager Buchenwald vorgenommene Isolierung der Homosexuellen in einer getrennten Baracke, die einer verstärkten Diskriminierung durch das Bewachungspersonal Anlaß bot146. Auch in den Lagern Dachau147, Flossenbürg148, Lichtenburg149 und Sachsenhausen150 sollen die als Homosexuelle gekennzeichneten Gefangenen zumindest zeitweilig in nur für sie vorgesehen Baracken bzw. Barackenteilen untergebracht worden sein. Für Neuengamme berichtet Dörmer, daß es dort keine gesonderte Baracke für homosexuelle Gefangene gab. Deren Betten seien jedoch besonders gekennzeichnet gewesen und hätten sich immer am Eingang der Baracke „jederzeit im Blickfeld der SS“151 befunden. In den letzten Kriegsmonaten seien schließlich aufgrund der starken Überbelegung des Lagers alle Regeln der Unterbringung und damit auch die Sonderbehandlung der „Rosa-Winkel- Träger“ aufgehoben worden152. Nicht in allen Lagern und nicht zu jeder Zeit bestand somit eine Segregation der Homosexuellen im Wohnbereich – das Fehlen entsprechender Berichte aus anderen Lagern kann zumindest als Indiz dafür gewertet werden, daß entsprechende Maßnahmen dort nicht durchgeführt wurden153.

145 Vgl. z.B. zum KZ Bergen-Belsen Rainer Hoffschildt; Thomas Rahe: Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager – Das Beispiel Bergen-Belsen. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ- Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 48-61. Für das KZ Mittelbau-Dora zeichnet Olaf Mußmann diesen Prozeß exemplarisch nach; vgl. Olaf Mußmann: „Bunte Lagerprominenz“? Die Funktionshäftlinge im Rüstungs- KZ Mittelbau-Dora. In: Abgeleitete Macht – Funktionshäftlinge zwischen Widerstand und Kollaboration: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ- Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1998, S. 82-96. 146 Kogon, SS-Staat, S. 241. 147 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade). Frankfurt/M 1980. Bd. 3 (1937), S. 685. Vgl. auch Höß, Kommandant, S. 77. 148 Heger, Männer mit dem rosa Winkel, S. 56f. 149 Deutschlandberichte der Sopade 3 (1936), S. 1624. 150 Heger, Männer mit dem rosa Winkel, S. 36; „Und alles wegen der Jungs“, S. 87; Höß, Kommandant in Auschwitz, S. 78. 151 „Und alles wegen der Jungs“, S. 98. 152 Ebd., S. 136f. 153 Vgl. hierzu Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 334f. 117

Mit der Anordnung einer getrennten Unterbringung von Homosexuellen dürfte die Lagerleitung vorrangig das Ziel verfolgt haben, sexuelle Kontakte zwischen Männern in den Lagern zu unterbinden. So erklärt Höß über seine Tätigkeit in Dachau:

„Es dauerte auch nicht lange, so kamen auch schon laufend Meldungen aus allen Blocks über homosexuellen Verkehr. Die Bestrafungen änderten daran nichts. Die Seuche griff um sich. – Auf meinen Vorschlag wurden nun alle Homosexuellen zusammengelegt. Sie bekamen einen Stubenältesten, der mit ihnen umzugehen verstand. [...] Mit einem Schlag war die Seuche erloschen. Wenn auch ab und zu noch dieser widernatürliche Verkehr stattfand, so waren es doch vereinzelte Fälle.“154

Mit dieser Einschätzung dürfte sich Höß getäuscht haben. Die chronische Unterernährung bei hoher Arbeitsbelastung sowie die psychische Belastung der Häftlinge angesichts der massenweise praktizierten Tötung im Lager ließen bei einem Großteil der Häftlinge jede sexuelle Erregung ausfallen155 – nach der Darstellung von Kautsky existierte ein sexuelles Problem für 90 % aller Häftlinge nicht. Sexuelle – und damit zumindest in den reinen Männerlagern in der Regel homosexuelle – Handlungen kamen folglich nicht zwischen Häftlingen der von Kautsky beschriebenen „Mittel- bzw. Unterschicht“ vor, sondern hauptsächlich zwischen höhergestellten Häftlingsfunktionären und den von ihnen protegierten, im Lagerjargon als „Pipel“ oder „Bubis“ bezeichneten jungen Gefangenen156. Bei diesen handelte es sich mehrheitlich nicht um Gefangene, die als Homosexuelle inhaftiert waren – als „offen Gezeichnete“ kamen sie „nicht in Frage für Verhältnisse, die noch viel mehr als außerhalb des Lagers der Tarnung bedurften, da eine Entdeckung zeitweise den sicheren Tod bedeutete.“157 Da die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Gefangenen nur einen geringen Anteil an der Funktionsmacht im Lager hatten und im Fall einer Denunziation besonders gefährdet waren, dürfte der Fall des homosexuellen Rechtsanwalts, der nach der Darstellung Dörmers als Funktionshäftling auch im Lager Neuengamme seine Sexualität

154 Höß, Kommandant in Auschwitz, S. 77. 155 Vgl. hierzu das Kapitel „Sexualität“ bei Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz. Neuausgabe Wien [u.a.] 1995, S. 589-606 sowie in: Konzentrationslager in Hannover: Konzentrationslager – Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des 2. Weltkrieges, hg. von Rainer Fröbe. Bd. 1, Hildesheim 1985, S. 242- 246. Eine ausführliche Darstellung der homosexuellen Praxis in den Lagern liefert auch Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen und die Hilflosen, S. 388f. 156 Vgl. hierzu Langbein, Menschen in Auschwitz, S. 593f.; Konzentrationslager in Hannover, S. 244f. sowie zum Lager Flossenbürg die Beschreibung bei Toni Siegert: Das Konzentrationslager Flossenbürg. Ein Lager für sogenannte Asoziale und Kriminelle. In: Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Konflikt. Bd. 2, hg. von Martin Broszat [u.a.]. München [u.a.] 1979, S. 429-492, hier S. 457. 157 Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, hg. von David A. Hackett. München 1996, S. 207. In der Forschungsliteratur ist gelegentlich zu lesen, daß mit dem rosa Winkel gekennzeichnete Häftlinge als erotische Partner der Häftlings“prominenz“ Vergünstigungen erhielten, so z.B. bei Pingel, Häftlinge unter SS-Herrschaft, Anm. 151, S. 268. Das einzige bekannte Beispiel liefert jedoch die Autobiographie Heinz Hegers, der als Günstling eines Kapos die Lagerhaft überlebte (Heger, Männer mit dem rosa Winkel). 118 auslebte, eine Ausnahme dargestellt haben158. Von überlebenden Häftlingen wird mehrheitlich berichtet, daß „die Schwulen [...] ganz besonders darauf bedacht [waren], nicht wegen sexueller Kontakte aufzufallen“159. Ausführlich geht der Buchenwald-Report auf die homosexuelle Praxis im Lager ein. Darin heißt es:

„Bemerkt muß werden, daß bei den im Lager bekannt gewordenen Fällen von Homosexualität die als homosexuell Erklärten aus begreiflichen Gründen eine verhältnismäßig geringe Rolle spielten. Die Tatsache, daß sie bei dem kleinsten derartigen Vergehen mit einer gefährlichen Verschärfung zu rechnen hatten, zwang sie zur Zurückhaltung [...].“160

Die von Himmler veranlaßte Errichtung von Häftlingsbordells in einigen Konzentrationslagern kann als weiterer Versuch gewertet werden, die Homosexualität in den Lagern zu unterbinden; daneben dürfte auch die Schaffung eines Leistungsanreizes für die Gefangenen eine Rolle gespielt haben, da der Besuch des Bordells mit „Prämienscheinen“ erkauft werden mußte161.

3.5.2.2.2. Ausnutzung der physischen Ressourcen der Gefangenen

„Die Wirkung der schweren Arbeit, durch die sie [die Homosexuellen] wieder 'normal' werden sollten, war, den verschiedenen Arten der Homosexuellen entsprechend, unterschiedlich. Am zweckdienlichsten und wirklich sichtbar wirkte sich die Arbeit bei den 'Strichjungen' aus. [...] Auch ein Teil der durch Neigung homosexuell Gewordenen [...] konnte[] so erzogen und von ihrem Laster abgebracht werden. Nicht aber die aus Neigung schon zu tief dem Laster Verfallenen. Sie waren gleichzusetzen den wirklich Homosexuellen aus Veranlagung, die es aber nur in wenigen Exemplaren gab. Bei diesen half keine noch so schwere Arbeit, keine noch so strenge Aufsicht. [...] Während die zur Abkehr Willigen, die den festen Willen dazu hatten, auch die härteste Arbeit durchstanden, gingen die anderen langsam, je nach Konstitution, physisch zu Grunde.“162

158 Hierzu Dörmer: „Dies wird trotz der strengen Lagerordnung geduldet. Schließlich ist er nicht der einzige, der sich so verhält.“ („Und alles wegen der Jungs“, S. 98). 159 Bericht von Hans G. über das KZ Neuengamme. Abgedruckt in: Stümke; Finkler, Rosa Winkel, Rosa Listen, S. 301-306, hier S. 305; vgl. hierzu auch Kautsky, Teufel und Verdammte, S. 146. 160 Buchenwald-Report, S. 207. 161 Langbein, Menschen in Auschwitz, S. 595. Die „Häftlingsbordelle“ wurden in der Regel nur von privilegierten Gefangenen besucht; in einigen Fällen sollen Homosexuelle zur Aufsuchung des Bordells gezwungen worden sein. Vgl. hierzu z.B. Heger, Männer mit dem rosa Winkel, S. 137. Höß berichtet von „Abkehr“-Prüfungen an Homosexuellen. Dabei wurden Homosexuelle, „bei denen man nicht völlig von der Gesundung überzeugt war, unauffällig mit Dirnen bei der Arbeit zusammengebracht und beobachtet.“ Vgl. hierzu Höß, Kommandant in Auschwitz, S. 79. Daß Homosexuelle tatsächlich nach dem Besuch des „Häftlingsbordells“ aus dem Konzentrationslager entlassen wurden, wie Feig annimmt, erscheint höchst fragwürdig; vgl. hierzu Konnilyn Feig: Non-Jewish Victims in the Concentration Camps. In: A Mosaic of Victims. Non-Jews Persecuted and Murdered by the Nazis, hg. von Michael Berenbaum. New York [u.a.] 1990, S. 161-178, hier S. 168. 162 Höß, Kommandant in Auschwitz, S. 78f. 119

Die als verweichlicht geltenden Homosexuellen sollten in den Konzentrationslagern durch harte körperliche Arbeit zu „normalen“ Menschen, wie Höß es ausdrückt, umerzogen werden. Deshalb und weil sie nur wenig Zugang zur Funktionsmacht hatten, wurden die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Häftlinge verstärkt in körperlich besonders belastenden Arbeitskommandos eingesetzt. So wurden homosexuelle Gefangene im Lager Buchenwald ab Oktober 1938 geschlossen in der Strafkompanie zu Steinbrucharbeiten herangezogen163. In Sachsenhausen soll es ein Arbeitskommando gegeben haben, das ausschließlich aus „Amtsanmaßern“164 und Homosexuellen bestand, die ab Juli 1942 in dem von den Häftlingen gefürchteten Außenlager „Klinkerwerk“ beschäftigt waren165. Auch zu den besonders schweren Arbeiten in der Kiesgrube166 oder an der Straßenwalze167 im Lager Dachau wurden vermutlich überdurchschnittlich viele Homosexuelle eingeteilt. Während der Kriegszeit verstärkten sich die Bemühungen, die Arbeitskraft der Häftlinge ökonomisch stärker zu nutzen168. Mit der Aufwertung der Produktivität gewann die Berufsqualifikation bei der Einteilung der Arbeitskommandos stärker an Gewicht. Für die Homosexuellen bedeutete der bestehende Mangel an deutschsprachigen Facharbeitern vielfach eine Verbesserung ihrer Haftsituation, da sie bei entsprechender Qualifikation zur Führung von Häftlingskommandos in den Rüstungsbetrieben eingesetzt wurden169.

Die Ausnutzung der physischen Ressourcen der Häftlinge in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern erfolgte nicht nur durch die Ausschöpfung aller Arbeitskraftreserven, sondern auch durch die zahlreichen grausamen und oft tödlich endenden medizinischen Versuche170. Berichte von Überlebenden weisen darauf hin, daß die als homosexuell gekennzeichneten Gefangenen, gemessen an ihrer Anzahl, überproportional häufig Opfer dieser Versuche waren. So seien in Sachsenhausen Versuche mit Phosphor an Häftlingen gemacht worden, für die vorwiegend Juden

163 Kogon, SS-Staat, S. 241. 164 Als „Amtsanmaßer“ galt, wer sich ein Amt, einen Titel oder einen Dienstgrad unerlaubt zugelegt hatte. 165 Harry Naujoks: Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936-1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten. Köln 1987, S. 309ff. Die Angabe Hegers, wonach in diesem Außenkommando „Tausende und aber Tausende Homosexuelle“ starben (Heger, Männer mit dem rosa Winkel, S. 41), dürfte allerdings viel zu hoch gegriffen sein. 166 Deutschlandberichte der Sopade 4 (1937), S. 685. 167 Höß, Kommandant in Auschwitz, S. 77. 168 Vgl. hierzu Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, S. 149ff. 169 Buchenwald-Report, S. 208. Vgl. zur Bedeutung der Arbeitsqualifikation der Häftlinge auch Florian Freund: Häftlingskategorien und Sterblichkeit in einem Außenlager des KZ Mauthausen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 874-886. 120 und Homosexuelle eingeteilt wurden171. Aus dem Buchenwald-Bericht geht hervor, daß Homosexuelle dort angeblich mit Vorliebe Opfer von Fleckfieberversuchen wurden172 – für diese Angabe finden sich in späteren Untersuchungen jedoch keine Anhaltspunkte173. Opfer medizinischer Versuche wurden Homosexuelle in Buchenwald durch die an ihnen vorgenommenen Hormonversuche des dänischen Arztes Carl Vaernet (eigentlich Carl Peter Jensen)174. Dieser versprach, mit Hilfe einer künstlichen männlichen Sexualdrüse, die er homosexuellen Männern implantierte, diese von ihrer Homosexualität zu „heilen“. Unterstützt von Himmler, führte Vaernet Versuche an 15 homosexuellen Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald durch, von denen zwei infolge der Operation starben. Vaernet wertete die Ergebnisse seiner Experimente als Erfolg – gaben doch die operierten Häftlinge in der Hoffnung, auf diese Weise ihre Entlassung bewirken zu können, an, von ihrer homosexuellen Neigung „geheilt“ zu sein.

3.5.2.2.3. Die soziale Einschätzung durch das Bewachungspersonal sowie durch Mithäftlinge

Die Auswertung der beschriebenen Faktoren der Reproduktion des Lagerlebens sowie der Produktion durch Häftlingsarbeit läßt indirekte Schlüsse auf die soziale Einschätzung der als homosexuell gekennzeichneten Gefangenen durch die Angehörigen der SS sowie durch Mitgefangene zu. Demnach bestand gegenüber homosexuellen Gefangenen eine negative Einschätzung, die zu einer Schlechterstellung in den genannten Bereichen führte. Darüber hinaus läßt sich die soziale Einschätzung der hier betrachteten Gefangenengruppe in den Konzentrationslagern nur schwer rekonstruieren. In der Erinnerungsliteratur finden sich Angaben, wonach die „Rosa- Winkel-Gefangenen“ verstärkt Adressaten von Mißhandlungen durch das Bewachungspersonal waren. So seien Homosexuelle im KZ Natzweiler gleich bei der Einlieferung von anderen Häftlingen separiert und durch die Blockältesten sowie durch die Wachmannschaften brutal mißhandelt worden.

170 Vgl. hierzu allgemein Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer. Frankfurt/M. 31997 sowie aus der Sicht der Gefangenen Eugène Aroneanu: Konzentrationslager. Tatsachenbericht über die an der Menschheit begangenen Verbrechen. Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Baden-Baden 1947, S. 69ff. 171 Stümke; Finkler, Rosa Winkel, Rosa Listen, S. 286f. 172 Buchenwald-Report, S. 210. 173 Günter Grau: Die Situation der Homosexuellen im Konzentrationslager Buchenwald. In: Zeitschrift für Sexualforschung 2 (1988), H. 3, S. 243-253, hier S. 247. 174 Vgl. hierzu Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, S. 163ff. sowie die Dokumentation in dem Band Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 100-104, S. 347-357. 121

In Sachsenhausen und in Dachau habe man Homosexuelle und Juden vermehrt schikaniert175; am stärksten hätten doppelt Stigmatisierte, also Gefangene, die den rosa und den gelben Winkel trugen, unter den Mißhandlungen zu leiden gehabt176. Ein anderer Überlebender berichtet, daß im KZ Fuhlsbüttel der Lagerkommandant Rode eine „unsagbare Wut“ auf Homosexuelle gehabt habe, weshalb diese alle Arbeiten im Laufschritt leisten mußten177; weitere Angaben über die Brutalitäten der SS-Angehörigen speziell an homosexuellen Gefangenen finden sich zu den KZ Neuengamme und Dachau178.

Wichtig für das Überleben im Konzentrationslager waren die nationalen, verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Verbindungen der Häftlinge untereinander179 – denn, so Heinrich Christian Meier, „wer im Lager alleine bleiben muß, steht dem Krematorium bedenklich nahe“180. Nach den Angaben aus der Erinnerungsliteratur waren die homosexuellen Häftlinge in die Gemeinschaft der Gefangenen häufig nicht voll integriert. Obwohl die homosexuelle Praxis in den Lagern verbreitet war, taten die Häftlinge nach den Angaben Kogons „aber nur jene in Acht und Bann, die von der SS mit dem rosa Winkel markiert waren“181. In einigen Lagern soll es zeitweilig sogar förmliche Kontaktverbote gegeben haben; so im Lager Sachsenhausen, wo nach der Aussage Hegers mit dem rosa Winkel Gekennzeichnete nicht mit den Trägern anderer Winkelfarben sprechen und nicht näher als fünf Meter an deren Blocks herangehen durften182. Untersuchungen zum Schicksal homosexueller Konzentrationslagerhäftlinge weisen zudem darauf hin, daß die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Gefangenen auch untereinander kein ausreichendes Maß an Gruppenzusammenhalt entwickeln konnten, um sich gegenseitig Hilfe zu leisten183. Eine Außenseiterrolle nahmen in den Lagern jedoch nicht alle Homosexuellen ein – in Einzelfällen gelang homosexuellen Gefangenen die

175 So die Zeugenaussagen im Sachsenhausen-Prozeß 1964; vgl. hierzu Harthauser, Massenmord, S. 12. Zum Konzentrationslager Dachau vgl. Knoll, Totgeschlagen – totgeschwiegen, S. 86. 176 Heger, Männer mit dem rosa Winkel, S. 44. Knoll, Totgeschlagen – totgeschwiegen, S. 95ff. 177 Zeugenaussage zit. nach Stümke; Finkler, Rosa Winkel, Rosa Listen, S. 277. 178 Vgl. hierzu Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 333f. 179 Vgl. hierzu auch Obenaus, Kampf um das tägliche Brot, S. 856f. 180 Heinrich Christian Meier: So war es. Das Leben im KZ Neuengamme. Hamburg 1946, S. 50. 181 Kogon, SS-Staat, S. 241. 182 Heger, Männer mit dem rosa Winkel, S. 37. Die Angabe Hegers ist jedoch an keiner weiteren Stelle belegt. 183 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 336f.; Richard Plant: Rosa Winkel. Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen. Frankfurt/M. [u.a.] 1991, S. 134ff.; Günter Grau: Verstümmelt und ermordet – Homosexuelle im KZ Buchenwald. In: Das Schicksal der Medizin im Faschismus, hg. von Samuel Mitja Rapoport und Achim Thom. Neckarsulm 1989, S. 76-79. 122 soziale Integration in die Häftlingsgemeinschaft184: So erlangte der homosexuelle Häftling Hans Dörmer durch seine Auftritte im Lager Neuengamme ein hohes Maß an Beliebtheit unter den Gefangenen, was ihm zunehmend Vergünstigungen verschaffte. Dörmer beschreibt auch ein solidarisches Verhalten der homosexuellen Gefangenen untereinander, das allerdings im Umfang begrenzt blieb, da diesen für großangelegte Hilfsaktionen die Macht gefehlt habe185. Von Neuengamme berichtet ein anderer Überlebender, daß in der Frühphase des Lagers eine gesonderte Kennzeichnung der homosexuellen Häftlinge erfolgte, auf die die nichtbetroffenen Gefangenen in der Weise reagierten, daß „sie den gebrandmarkten Kameraden in unveränderter Freundschaft treu blieben“186. Auch für das Lager Dachau finden sich in den Häftlingsberichten Hinweise auf einzelne Akte der Solidarität der Mitgefangenen mit den homosexuellen Inhaftierten187. Ein ehemaliger homosexueller Häftling des Lagers Sachsenhausen gibt an, daß er nach dem Besuch des Häftlingsbordells bei seinen Mitgefangenen als „normaler Mensch“ galt und von diesen nicht länger angefeindet wurde188 – dieses Beispiel zeigt zugleich die Billigung, die die von nationalsozialistischer Seite vertretene These einer möglichen „Umerziehung“ der Homosexuellen in der Gesellschaft erfuhr.

3.5.2.2.4. Zusammenfassung: Homosexuelle in Konzentrationslagern

Untersuchungen zum Schicksal der homosexuellen Gefangenen in den nationalsozialistischen KZ sowie diesbezügliche Angaben, die der Erinnerungsliteratur zu entnehmen sind, weisen auf einen niedrigen Status dieser Häftlingsgruppe in der Gefangenenhierarchie hin189 – „ihr Schicksal“, so heißt

184 Es handelt sich hierbei um Einzelfälle, die sich nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen – zu berücksichtigen ist, daß insbesondere diejenigen mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Gefangenen, denen die soziale Integration in die Häftlingsgemeinschaft gelang, sich nach 1945 über ihr Schicksal äußerten. 185 „Und alles wegen der Jungs“, S. 99f. 186 Hans Christian Meier: Im Frühwind der Freiheit. Hamburg 1947. Zit. nach Stümke; Finkler, Rosa Winkel, Rosa Listen, S. 278. 187 Knoll, Totgeschlagen – totgeschwiegen, S. 88. 188 Bericht von Karl T. über das KZ Sachsenhausen. Abgedruckt in: Stümke; Finkler: Rosa Winkel, Rosa Listen, S. 306-311, hier S. 309. 189 Die Annahme eines Sonderschicksals der homosexuellen KZ-Häftlinge wird in der nationalen und internationalen Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung einhellig vertreten; vgl. beispielsweise auch Jean Boisson: Le triangle rose. La déportation des homosexuels (1933-1945). Paris 1988, S. 136ff. sowie Warren Johansson and William A. Percy: Homosexuals in Nazi Germany (Literaturbericht). In: Simon Wiesenthal Center Annual 7, 1990, S. 225-263, hier S. 238. Im allgemeinen übernehmen auch Forschungsarbeiten, die sich mit dem Problem der internen Hierarchie und der sozialen Ungleichheit in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern befassen, diese Ergebnisse und ordnen den rosa Winkel am unteren Ende der Winkelhierarchie an. Vgl. dazu vor allem Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 137ff. 123 es bei Kogon, „kann man nur als entsetzlich bezeichnen“190. Äußeres Anzeichen hierfür war die Schlechterstellung, die sie bei der Reproduktion des Lagerlebens sowie bei der Produktion durch Häftlingsarbeit erfuhren. Der niedrige Status, den die homosexuellen Gefangenen in der Häftlingshierarchie einnahmen, wirkte sich auch auf ihre Überlebenschancen aus: Nach der Untersuchung Lautmanns lasse sich für die Homosexuellen eine gesteigerte Todeswahrscheinlichkeit (60 % gegenüber 41 % bei den „Politischen“ und 35 % bei den Zeugen Jehovas) und eine geringere Entlassungswahrscheinlichkeit (13 % gegenüber 18 % bei den „Politischen“, aber auch „nur“ 8 % bei den Zeugen Jehovas) feststellen191.

Es wurde jedoch auch deutlich, daß nicht alle homosexuellen Gefangenen zu jedem Zeitpunkt und in jedem Lager verstärkten Repressionen unterlagen. Von einzelnen mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Gefangenen ist bekannt, daß ihnen die soziale Integration in die Häftlingsgemeinschaft bzw. sogar die Teilnahme an der „Häftlingsselbstverwaltung“ gelang, wobei individuelle Persönlichkeitsmerkmale eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Hier zeigt sich, daß die Klassifikation der Häftlinge nach ihrem Einlieferungsgrund zwar ein herausragendes, aber nicht das alleinige Kriterium der Stellung im Lager ausmachte. Hinzu kam, daß nach den Angaben Überlebender gelegentlich Möglichkeiten bestanden, die Winkelfarben auszutauschen. Von einigen Lagern wird berichtet, daß dort bereits bei der Winkelvergabe ein gewisses Durcheinander herrschte. So beschreibt Kupfer-Koberwitz seine Ankunft in Neuengamme folgendermaßen: „Es mochte gegen zwölf Uhr sein, als der letzte Mann Winkel und Nummer angenäht bekommen hatte. Da nicht genügend rote Winkel da waren, wurden einfach rosa Winkel verwendet, man nahm das hier nicht so genau.“192 Ein anderer Überlebender gibt zum Lager Buchenwald an: „[...] Als ich Anfang 1944 nach Buchenwald kam, herrschte größte Unordnung in bezug auf diese Dreiecke, und viele Häftlinge trugen überhaupt keine Dreiecke mehr.“193 Einigen homosexuellen Gefangenen gelang es während der Haftzeit, den mit einem Negativ-Image behafteten rosa Winkel gegen einen andersfarbigen auszutauschen. So berichtet der zunächst nach Neuengamme eingelieferte Karl B., daß er während des Transports nach Auschwitz den rosa Winkel von seiner Häftlingskleidung abtrennte und in der Folge als Verhaftungsgrund ein politisches Delikt angab194. Als Träger des roten Winkels gelang es

190 Kogon, SS-Staat, S. 52. 191 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 351. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Strebel in seiner Untersuchung über das Männerlager des KZ Ravensbrück: Strebel, „Rosa-Winkel-Häftlinge“, S. 39. 192 Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen und die Hilflosen, S. 267. 193 Aussage des ehemaligen französischen Häftlings Alfred Balachowsky im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, S. 331. 194 Lebensgeschichte von Karl B., in: Lutz van Dijk: Ein erfülltes Leben – trotzdem... Erinnerungen Homosexueller 1933-1945. Reinbek 1992, S. 58-67. 124 ihm in Auschwitz, die Stellung eines „Blockältesten“ zu erhalten, obwohl einige Angehörige des Bewachungspersonals vermutlich ahnten, daß er homosexuell war195.

Der soziale Status der mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Gefangenen differierte zudem in den einzelnen Lagern. Als das „Auschwitz der Homosexuellen“196 konnte nach den Angaben Überlebender das KZ Sachsenhausen gelten. Für Dörmer, der 1940 dort eingeliefert, allerdings bereits ein halbes Jahr später nach Neuengamme verlegt wurde, stellte diese Verlegung ein „Entkommen aus der Hölle“197 dar. Für alle Lager galt, daß die Situation der homosexuellen Gefangenen sich mit dem Funktionswandel der Konzentrationslager198 änderte: Durch die seit Kriegsbeginn ständig zunehmende Vermietung von Häftlingen an die Rüstungsindustrie gewann die fachliche Qualifikation der Häftlinge zunehmend an Bedeutung und ließ den Einlieferungsgrund der Gefangenen verblassen. Mit Beginn der 1940er Jahre veränderte sich der relative Status der homosexuellen Gefangenen zudem, als in großem Umfang die Einlieferung von jüdischen und osteuropäischen Häftlingen einsetzte199.

Es bleibt zu fragen, weshalb die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Gefangenen in der Häftlingshierarchie einen niedrigen Status einnahmen. Rationelle Argumente reichen für eine Erklärung kaum aus – allenfalls in beruflicher Hinsicht dürfte sich die „vorkonzentrationäre Prägung“ der Homosexuellen negativ auf ihre Fähigkeiten, im Lager zurechtzukommen, ausgewirkt haben: Nach den Ergebnissen der Untersuchung Lautmanns kamen homosexuelle Gefangene vergleichsweise selten aus einem Arbeiterberuf200. Stärker als individuelle Merkmale dürften sich auf den sozialen Status dieser Gefangenengruppe die Einstellungen, die den Homosexuellen auch außerhalb der Konzentrationslager entgegengebracht wurden, ausgewirkt haben. Trotz der intensiven Aufklärungsbemühungen des WhK und anderer Organisationen bestand in der deutschen Bevölkerung eine unverkennbar negative Haltung gegenüber Homosexuellen. Diese tiefverwurzelte Homophobie übertrug sich auf die Gesellschaft der Konzentrationslager: Homosexualität galt als „widerwärtig“ und „unnatürlich“, weshalb – trotz einer bei einem Teil der Intellektuellen bestehenden rationalen Beurteilung – niemand im Lager etwas mit den Homosexuellen zu tun haben wollte. Diese

195 Schwule in Auschwitz. Dokumentation einer Reise, hg. von Christoph Kranich [u.a.]. Bremen 1990, S. 29. 196 Grau, Verstümmelt und ermordet, S. 76. 197 „Und alles wegen der Jungs“, S. 90. 198 Vgl. zum Funktionswandel der KZ allgemein Bernd Weisbrod: Entwicklung und Funktionswandel der Konzentrationslager 1937/38 bis 1945. Kommentierende Bemerkungen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 349-362 sowie die vorangestellten Einzelstudien. 199 Vgl. hierzu Sofsky, Ordnung des Terrors, S. 137ff. 125 galten in der Gesellschaft zudem als verweichlicht, so daß ihnen innerhalb des Lagers keine Aufgaben der „Häftlingsselbstverwaltung“ übertragen wurden – besonders schwer hatten es deshalb vermutlich effeminierte Homosexuelle. Bei diesen glaubte Höß eine „Veranlagung“ zur Homosexualität ablesen zu können:

“Von einer weichen mädchenhaften Zimperlichkeit und Geziertheit, einer süßlichen Ausdrucksweise und allgemein zu liebenswürdigem Verhalten Gleichgesinnten oder Gleichveranlagten gegenüber, unterschieden sie sich von denen, die dem Laster den Rücken gekehrt hatten, die sich davon freimachen wollten, deren Gesundung man bei genauer Beobachtung von Stufe zu Stufe verfolgen konnte.“201

Indem in den Konzentrationslagern eine Gesellschaft entstand, die die „gesellschaftlichen Formen der freien Umwelt in geradezu verblüffender Weise spiegelt“202, erfuhren die in den Lagern inhaftierten Homosexuellen eine Zuspitzung ihrer allgemeinen sozialen Situation. Dies wurde auch von den Häftlingen so wahrgenommen. Ein ehemaliger Gefangener der Konzentrationslager Sachsenhausen und Flossenbürg berichtet:

„Die Hierarchie der Winkel war ein Spiegelbild der Außenwelt. Unter den Letzten gehörten wir zu den Hinterletzten. Rot, grün, violett, eine Weile nichts, am Ende rosa. Die Kriminellen konnten die schärfsten Dinger gedreht haben, über den Homosexuellen standen sie allemal. Tiefer als wir waren nur noch die russischen Kriegsgefangenen, die ab 1942 ins Lager eingeliefert waren.“203

Die Verlagerung der spezifischen sozialen Situation der Homosexuellen von der Außengesellschaft in die Lagergesellschaft brachte ihnen eine Stellung, die sie ohnehin schon gewöhnt waren – mit dem wesentlichen Unterschied, daß diese im Lager lebensbedrohliche Konsequenzen hatte.

200 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 342. 201 Höß, Kommandant in Auschwitz, S. 78. 202 Hans-Günther Adler: Gedanken zu einer Soziologie des Konzentrationslagers. In: Ders.: Erfahrung der Ohnmacht. Frankfurt/M. 1964, S. 210-226, hier S. 211. 203 Jürgen Lemke: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer aus der DDR. Frankfurt/M. 1989, S. 23f. 126

4. Die justitielle Bearbeitung von Homosexualitätsdelikten im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland

4.1. Homosexualitätsdelikte vor Gericht

4.1.1. Nationalsozialistisches Strafrechtsverständnis

„Justiz ist kein Selbstzweck. Sie dient der Erhaltung der menschlichen Gesellschaftsordnung, eines Organismus, dem wir Kultur und Fortschritt verdanken. Richtig ist jedes Mittel, das diesem Zweck nützt. Falsch alles, was ihm nicht mehr gerecht wird. Es ist nicht Aufgabe der Justiz, milde oder hart zu sein. Es ist einfach ihre Aufgabe, diesem Zweck zu genügen.“1

Die Abkehr von liberalen und rechtsstaatlichen Auffassungen, wie sie in dieser Äußerung Hitlers zum Ausdruck kommt, zog im Bereich des Rechtswesens vielfältige Konsequenzen nach sich: Wurden auf der einen Seite Straftatbestände ausgeweitet bzw. neu geschaffen und das Strafmaß erhöht, so blieben auf der anderen Seite zahlreiche Straftaten von Angehörigen der NS-Organisationen – insbesondere an politischen Gegnern, Juden und anderen als mißliebig angesehenen Personen – strafrechtlich großenteils ungeahndet2. Im übrigen variierte die Rechtsprechungspraxis mit der politischen Orientierung der Richter: Es gab den „normalen“ Justizalltag ebenso wie einzelne Richter, die an den herkömmlichen Rechtsprinzipien festhielten, sowie Gerichte, die rigoros die Vorgaben des nationalsozialistischen Gesetzgebers (über)erfüllten3. Abgesehen von der mit der Verfolgung beauftragten Instanz variierte die Justiztätigkeit mit der Zeit – im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft machte sich eine zunehmende Radikalisierung der Strafrechtsjustiz bemerkbar, die ihren Höhepunkt in der Kriegszeit erreichte. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann die vielschichtige Ausprägung der NS-Justiz nur am Rande thematisiert werden, und es müssen ganze Bereiche der

1 Hitlers Tischgespräch vom 20.8.1942. Abgedruckt in: Lothar Gruchmann: Hitler über die Justiz. Das Tischgespräch vom 20.8.1942. In: VfZ 12 (1964), S. 86-101, hier S. 98. 2 Vgl. hierzu beispielsweise das Kapitel IV „Justiz und brauner Terror: das Problem der Verfolgung von Straftaten Angehöriger der Bewegung“ bei Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. München 21990, S. 320-336 sowie speziell zu den im Rahmen der Pogromnacht des 9.11.1938 begangenen Straftaten ders.: „Reichskristallnacht“ und Justiz im „Dritten Reich“. In: NJW 41 (1988), S. 2856-2861. 3 Günter Bertram: Der Jurist und die „Rutenbündel des Faschismus“. In: ZRP 16 (1983), S. 81-86, hier S. 82. 127

NS-Justiz, wie z.B. die Tätigkeit der Sondergerichte und des Volksgerichtshofs4 sowie die Einführung von Sonderrechten für einzelne Bevölkerungsgruppen5, außer acht gelassen werden.

Ein geschlossenes, einheitliches gedankliches System nationalsozialistischen Rechtsdenkens gab es im „Dritten Reich“ nicht. Im gesamten Bereich des Strafrechts – und damit auch hinsichtlich der justitiellen Bearbeitung von Homosexualitätsdelikten – machte sich jedoch die Vorrangstellung der politischen Führung und der nationalsozialistischen Weltanschauung6 bemerkbar. Es sollen im folgenden diejenigen Leitprinzipien dargestellt werden, die in der Summe ein Gesamtbild dessen ergeben, was „nationalsozialistisches Rechtsverständnis“ genannt werden kann7.

4.1.1.1. „Volksgemeinschaftsprinzip“

Die Auffassung, daß das deutsche Volk eine „Volksgemeinschaft“ bilde, in der soziale, konfessionelle sowie politische Gegensätze ausgeschaltet seien, gehörte zu den wichtigsten Elementen der nationalsozialistischen Weltanschauung8. „Der Nationalsozialismus“, so Hitler im Jahr 1933, „hat weder im Individuum noch in der Menschheit den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen, seiner Stellungnahmen und Entschlüsse. Er rückt bewußt in den Mittelpunkt seines ganzen Denkens das Volk.“9 Im Alltagsgebrauch sollten Leitsätze wie „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ oder „Alles, was dem Volke nützt, ist Recht“ 10 den hohen Wert der „Volksgemeinschaft“ gegenüber dem Individuum im Bewußtsein der Bevölkerung verankern.

4 Vgl. hierzu ausführlich beispielsweise Hinrich Rüping: „Streng aber gerecht. Schutz der Staatssicherheit durch den Volksgerichtshof“. In: JZ 39 (1984), S. 815-821. 5 Vgl. hierzu ausführlich beispielsweise Diemut Majer: Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems: Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei. Stuttgart [u.a.] 1987, S. 132ff. 6 Zu der Frage, ob oder inwieweit man überhaupt die Ideen und Programmatik des Nationalsozialismus als Ideologie bezeichnen kann, vgl. ausführlich das Kapitel „Die Frage nach der Weltanschauung“ bei Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft. Tübingen 1969, S. 9-28. 7 Heinz Müller-Dietz: Zur moralischen Rechtfertigung totalitärer Anschauungen am Beispiel des nationalsozialistischen Rechtsdenkens. In: Recht und Moral: Beiträge zu einer Standortbestimmung, hg. von Heike Jung, Heinz Müller-Dietz, Ulfrid Neumann. Baden-Baden 1991, S. 177-204, hier S. 183. 8 Vgl. hierzu Hans-Ulrich Thamer: Nation als Volksgemeinschaft. Völkische Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftsideologie. In: Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, hg. von Jörg-Dieter Gauger und Klaus Weigelt. Bonn 1990, S. 112-128. 9 Abgedruckt in: Roland Freisler: Der Wandel der politischen Grundanschauungen in Deutschland und sein Einfluß auf die Erneuerung von Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug. In: DJ 97 (1935), S. 1247-1254, hier S. 1249. 10 Klaus Anderbrügge: Völkisches Rechtsdenken: zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus. Berlin 1978, S. 192ff. 128

Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ wurde zu einer entscheidenden Größe auch in der nationalsozialistischen Rechts- und Kriminalpolitik. Unter der Überschrift „Verhinderung erspart Bestrafung“ hieß es im Pressedienst der NSDAP: „Der nationalsozialistische Grundsatz, daß der Gemeinnutz dem Eigennutz vorgehe, bestimmt auch die Richtung der modernen Verbrechensbekämpfung. Das Schicksal des einzelnen gilt nichts, wenn der Gemeinschaft auch nur Schaden droht.“11 „Nicht das Individuum [...], sondern das Volk“, so Hitler in seiner Reichstagsrede zum Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, sollte im „Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge“ stehen12. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“13 heißt es dann auch im Vorspruch des geplanten Strafrechts, und die Ausrichtung der Strafe am Volksschutz liefert auch die Begründung für den Entwurf eines Gemeinschaftsfremdengesetzes: „Dem Nationalsozialismus gilt der einzelne nichts, wenn es um die Gemeinschaft geht.“14

Bewußt distanzierte man sich im NS-Staat von dem die Rechtsgarantien des einzelnen betonenden liberalistischen Rechtsdenken. So heißt es bei Erik Wolf über das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates:

„In diesem Sinne unterscheidet sich unser Rechtsideal vor allem von jenem Gedanken des 18. Jahrhunderts, wonach als Rechtsideal das größtmögliche Glück des einzelnen zu gelten habe. Solches Glück des einzelnen sollte dann die Wohlfahrt einer Gesamtheit fördern, die als bloße Summe aller einzelnen gedacht war. Dieser Idee gegenüber fordert der Nationalsozialismus das schlechthin Entgegengesetzte: nämlich die restlose Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Volksgemeinschaft.“15

Das Recht wurde im „Dritten Reich“ auf die Funktion beschränkt, zur Erhaltung der „Volksgemeinschaft“ beizutragen. Die „Rechtssicherheit des einzelnen“ war nach nationalsozialistischer Auffassung am besten durch die „Lebenssicherheit des Volkes“ gewährleistet16:

„Uns geht es nicht mehr um die Sicherung einer möglichst ungebundenen Rechtsausübung des einzelnen, der den Zweck des Rechts darin sieht, ihn dabei weitestgehend vor Beschränkungen durch den Staat zu schützen. Diese Sicherheit eines einseitigen Rechts ist

11 Paul Werner: Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. Verhinderung erspart Bestrafung. Abgedruckt in: Nationalsozialistische Parteikorrespondenz vom 31.12.1938; S. 1f., hier S. 1; BA R 22/1469, fol. 55-56, hier fol. 55. 12 Hitlers Rede vor dem Reichstag am 23. März 1933. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932- 1945, hg. von Max Domarus. Bd. 1 (1). München 1965, S. 233. 13 Vorspruch eines deutschen Strafrechts, Strafrechtskommission, 26.6. 1936; BA R 22/885, fol. 8. 14 Begründung zum Entwurf eines Gemeinschaftsfremdengesetzes, vermutlich 1941; BA R 22/950, fol. 10-11, hier fol. 11. 15 Erik Wolf: Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates. In: ARSP 28 (1934/35), S. 348-363, hier S. 349. 16 Freisler, Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 1251. 129

freilich vorbei. Der einzelne findet sein Recht nach nationalsozialistischer Auffassung nicht mehr in einer isolierten Stellung gegen den Staat, gegen die Gemeinschaft, sondern nur mit der Gemeinschaft und als Glied der Gemeinschaft seines Volkes.“ 17

Da jeder einzelne Bürger „sich selbst, sein Leben, seine Persönlichkeit und sein Daseinsziel aufzufassen [habe] als Dienst am gesamten Volk“, hatte auch das Recht des einzelnen dem Gemeinschaftsrecht zu weichen bzw., wie es der spätere Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler formulierte, es sollte zurücktreten hinter dem „Postulat der Pflichterfüllung gegenüber der Allgemeinheit und der Einordnung in die Lebensordnung der Allgemeinheit“18. Die Freiheitsrechte des einzelnen traten somit hinter dem sog. Gemeinschaftsrecht zurück: „Es gibt“, so Ernst Rudolf Huber, „keine persönliche, vorstaatliche und außerstaatliche Freiheit des Einzelnen, die vom Staat zu respektieren wäre“19.

Der Gemeinschaftsgedanke prägte auch die juristische Terminologie im Nationalsozialismus. Neben dem Begriff der „Volksgemeinschaft“ signalisierten Ausdrücke wie „Gemeinwohl“ und „gemeiner Nutzen“ den hohen Wert der sog. völkischen Gemeinschaft. In den einzelnen Rechtsbereichen wurden diese Begriffe gleichsam als ethisches Prinzip der Rechtsordnung vorangestellt20.

4.1.1.2. Völkische Ungleichheit

Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ war zugleich eng mit dem Rassebegriff verknüpft, da diese nach der nationalsozialistischen Weltanschauung ausschließlich als Gemeinschaft „Artgleicher“21 verstanden wurde. Volle Rechtsfähigkeit kam nur demjenigen zu, der als Mitglied der „Volksgemeinschaft“ angesehen wurde – ausgeschlossen und damit Träger eines minderen Rechts war, wer nicht zu der „durch die Geschichte geformten Blutsgemeinschaft der Deutschen zählt, wer

17 Rundschreiben des RSHA, Amt III, an alle Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD, betr. Beiträge zur Aussprache über Lebensgebietsfragen. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen: vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hg. und bearb. von Herbert Michaelis [u.a.]. Bd. 19, Dok. 3344c, S. 352-361, hier S. 355 und 357. 18 Roland Freisler: Richter, Recht und Gesetz. In: DJ 2 (1934), S. 1333-1335, hier S. 1334. 19 Ernst Rudolf Huber: Die Rechtstellung des Volksgenossen. Erläutert am Beispiel der Eigentumsordnung. In: ZgS 96 (1936), S. 438-474, hier S. 440. 20 Michael Stolleis: Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht. Berlin 1974, S. 27f. sowie ders.: Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus. In: VfZ 20 (1972), S. 16-38. 21 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Führertum und Artgleichheit als Grundbegriffe des nationalsozialistischen Rechts“ bei Carl Schmitt: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit. Hamburg 1935, S. 32-46. 130

[nicht][...] deutschen oder artverwandten Blutes“22 war23. Der in Artikel 109 der Weimarer Reichsverfassung formulierte Grundsatz „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich“24 war in den Augen Hitlers als „jüdische Erfindung“ streng abzulehnen. Ziel des Nationalsozialismus sei es nicht, die „Ungleichheit der Menschen zu beseitigen, sondern im Gegenteil sie zu vertiefen [...] und durch unübersteigbare Schranken zum Gesetz zu machen“25. Neben der Abstammung bildete die Einstellung zum Nationalsozialismus die Grundlage für den Rechtsstatus des einzelnen. Personen, die „auch wenn sie deutsch geboren werden, [...] sich aber bewußt zerstörend gegen das deutsche Volk, gegen den Staat, wenden“ 26, „verwirkten“ ihre Rechtsstellung in der „Volksgemeinschaft“27. So heißt es in einem Aufsatz über den „Gleichheitsgedanke[n] in der völkischen Verfassungsordnung“ von 1939:

„Zur Substanz der Artgleichheit gehört [...] nicht nur die Gemeinsamkeit des Blutes, sondern auch der inneren Haltung und Gesinnung. Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk ist blutsmäßig bedingt in der Anlage des Volksgenossen; aber sie fordert auch weiter ein bewußtes und willentliches Bekenntnis zur deutschen Volksgemeinschaft. Voraussetzung der Gleichstellung des deutschen Volksgenossen im Recht ist seine Treue, sein Einsatz für Volk und Reich.“28

Die bis dahin praktizierten Rechtsgrundsätze eines allgemein gültigen, die Gleichheit aller Menschen voraussetzenden Naturrechts wurden somit im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland aufgegeben. Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus umfaßte dualistisch das Recht der sog. Volksgenossen sowie das Sonderrecht für „Fremdvölkische“ und zu „Staatsfeinden“ erklärte Personen29.

22 Ulrich Scheuner: Der Gleichheitsgedanke in der völkischen Verfassungsordnung. In: ZgS 99 (1939), S. 245-278, hier S. 272. 23 Vgl. hierzu die Bestimmungen des Sonderstrafrechts für Polen sowie für Juden, z.B. bei Gerhard Werle: Justiz- Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin [u.a.] 1989, S. 351-412 und S. 449- 456. 24 Weimarer Reichsverfassung vom 14.8.1919 Zweiter Hauptteil: „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“, 1. Abschnitt: „Die Einzelperson“. Abgedruckt in: Reichsgesetzblatt, hg. im Reichsministerium des Innern. Berlin 1919. Teil I, S. 1383-1418, hier S. 1404. 25 Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler. Zürich [u.a.] 1940, S. 44. 26 Gottfried Feder: Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken. München 231930, S. 32. 27 Huber, Rechtstellung des Volksgenossen, S. 447. 28 Scheuner, Gleichheitsgedanke, S. 275f. 29 Vgl. hierzu auch Hinrich Rüping: Strafrechtspflege und politische Justiz im Umbruch vom liberalen Rechtsstaat zum NS-Regime. In: 1933 – Fünfzig Jahre danach. Die nationalsozialistische Machtergreifung in historischer Perspektive. München 1983, S. 153-168, hier S. 161. 131

4.1.1.3. Führerprinzip

Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung und herrschendes Prinzip in Staat und Partei war das „absolute Führertum“30. Auch die Justiz war – obwohl traditionell weisungsunabhängiger Teil der Staatsgewalt – hiervon nicht ausgenommen. Ersten gesetzlichen Ausdruck fand das Führerprinzip im „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, das Hitler durch den Reichstag, aus dem zuvor alle Abgeordneten der KPD und 15 Mitglieder der SPD-Fraktion entfernt worden waren, die uneingeschränkte – auch verfassungsändernde – Gesetzgebungsgewalt zusicherte31. Die damit verbundene Absage an das System der Gewaltenteilung wurde im NS-juristischen Schrifttum als Ausdruck der „Einheitlichkeit der Volksführung“32 begrüßt.

Die Verfügbarkeit des Gesetzes als Mittel der politischen Führung zeigt sich exemplarisch an dem Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr, das unmittelbar im Anschluß an die Röhm-Affäre33 erlassen wurde. In diesem wurden die von Hitler veranlaßten Erschießungen zahlreicher SA-Führer sowie weiterer angeblicher Verschwörer nachträglich als „Staatsnotwehr“ für „rechtens“ erklärt34. In einer Rede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934 leitete Hitler seine Vorgehensweise dann auch aus dem Führerprinzip ab:

„Wenn mir jemand den Vorwurf entgegenhält, weshalb wir nicht die ordentlichen Gerichte zur Aburteilung herangezogen hätten, dann kann ich ihm nur sagen: In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der Nation und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr.“35

An die Hitler-Rede anknüpfend, rechtfertigte später Carl Schmitt die Tötungsbefehle Hitlers vom Juli 1934 als Ausdruck echter Gerichtsbarkeit:

„Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. [...] Der wahre Führer ist immer auch Richter. [...] In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz.“36

30 Vgl. hierzu die Äußerungen Hitlers in „Mein Kampf“. Adolf Hitler: Mein Kampf. München 151/1521935, insbesondere S. 493, 502. 31 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, 24.3.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 141. 32 Freisler, Richter, Recht und Gesetz, S. 1333. 33 Vgl. hierzu Kapitel 2.4.1. 34 Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr, 3.7.1934. Abgedruckt in: RGBl. I 1934, S. 529. 35 Hitlers Rede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1 (1), S. 421. 36 Carl Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939. Berlin 1988 (Nachdr. von 1940). Kapitel 23: „Der Führer schützt das Recht“, S. 199-203, hier S. 200. Erstmalig wurden die Ausführungen Schmitts abgedruckt in der DJZ 39 (1934). 132

Im strafrechtlichen Schrifttum wurde in der Folge immer wieder auf die Gerichtsherrlichkeit Hitlers verwiesen. So heißt es in einem Aufsatz von Freisler aus dem Jahr 1942: „Der Führer ist als oberster Gerichtsherr zugleich der höchste deutsche Richter, der deutsche Richter schlechthin. Richtertum, das nicht auf diesem Satz aufbaut, kann es im nationalsozialistischen Reich nicht geben.“37 Ausgeschlossen war damit zugleich jegliche Form der Kontrolle der nationalsozialistischen Führung, denn, so Freisler: „Nicht aber kann in einem Staate, in dem die Einheit der Volksführung Selbstverständlichkeit ist, irgendeinem Organe das Recht der Kontrolle der Führung gegeben sein.“38

Die Annahme einer ungeteilten Führergewalt schlug sich nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in der Gesetzesauslegung nieder. Das Prinzip strenger rechtspositivistischer Gesetzesbefolgung sollte zugunsten einer größeren Freiheit der Rechtsauslegung im Sinne nationalsozialistischer Anschauungen bzw., wie Hitler es bereits in seiner Reichstagsrede vom 23. März 1933 gefordert hatte, einer stärkeren „Elastizität der Urteilsfindung“39 weichen. Die Bindung des Richters an das Gesetz sei somit durch die Bindung an das „gesunde Volksempfinden“, die „nationalsozialistische Weltanschauung“ und den „Führerwillen“ als oberste „Rechtsquelle“ zu ersetzen40. In einem Rundschreiben des RSHA heißt es:

„Wir haben uns von der im Namen der Rechtssicherheit aufgestellten Gleichung, Recht sei gleich geschriebenes Gesetz, wir haben uns von der strengen Bindung des Richters an das geschriebene Gesetz abgewandt. Das Recht kann und wird sich zwar in aller Regel in geschriebenen Gesetzen jedem einzelnen sichtbar äußern; es muß sich aber nicht darin erschöpfen. Unser Recht entspringt unmittelbar aus dem Nationalsozialismus.“41

In einem Aufruf des damaligen Reichsjustizministers Thierack aus dem Jahr 1942 forderte dieser die Richter deshalb auf, „sich nicht sklavisch der Krücken des Gesetzes [zu] bedienen“ und nicht „ängstlich nach Deckung durch das Gesetz [zu] suchen, sondern verantwortungsfreudig im Rahmen des Gesetzes die Entscheidung [zu] finden, die für die Volksgemeinschaft die beste Ordnung des Lebensvorgangs ist“42. Das Gesetz stellte nach nationalsozialistischer Rechtsauffassung für den

37 Roland Freisler: Reich, Richter und Recht. In: DR 12 (1942), S. 145-150, hier S. 149. 38 Freisler, Richter, Recht und Gesetz, S. 1334. 39 Hitlers Rede vor dem Reichstag am 23. März 1933. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932- 1945. Bd. 1 (1), S. 233. 40 Freisler, Wandel der politischen Grundanschauungen, S. 1251. Vgl. hierzu auch Kapitel D V 3 „Die Konstruktion einer neuen Rechtsquellenlehre“ bei Bernd Rüthers: Ideologie und Recht im Systemwechsel. Ein Beitrag zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe. München 1992, S. 106-112. 41 Rundschreiben des RSHA, Amt III, an alle Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD, betr. Beiträge zur Aussprache über Lebensgebietsfragen. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 19, Dok. 3344 c, S. 352-361, hier S. 355. 42 Aufruf des Reichsministers der Justiz Dr. Thierack an die Richter, 1.10.1942. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 19, Dok. 3344b, S. 350-352, hier S. 351. 133

Richter nur noch Informationsmittel bzw. Transportmittel des Führerwillens dar: Es war „Mittel, nicht Schranke der politischen Führung“43. Alle unbestimmten Begriffe und sog. Generalklauseln sollten „unbedingt und vorbehaltlos im nationalsozialistischen Sinne“ angewendet werden44. Als Auslegungshilfe für den Richter dienten Präambeln, die den erlassenen Normen und Gesetzen vorangestellt wurden. Diese seien „keine abstrakten, ausgeklammerten Begriffe, sondern konkrete Richtlinien, die in einer authentischen Weise den Plan und die Zielrichtung des Gesetzgebers mitteilen“45.

Stand der Wortlaut des Gesetzes einer Auslegung nach nationalsozialistischer Rechtsauffassung entgegen, sollte die Ideologie grundsätzlich Vorrang haben. Hierzu Freisler:

„Kann das Gesetz im Einzelfall wegen seiner Unvollkommenheit und Unvollständigkeit die notwendige Ausrichtung eines im Leben vorgekommenen Falles nach den Grundsätzen der völkischen Sittenordnung nicht vornehmen, so muß eben das Recht unmittelbar aus dem gesunden Volksempfinden erkannt werden.“46

Diese „Unvollkommenheit und Unvollständigkeit“ des formulierten Rechts war Thema zahlreicher juristischer Schriften: Immer wieder wurde darauf hingewiesen, daß das Gesetz „sachlich und zeitlich dem Leben nachhinkt und bestenfalls im Augenblick seiner Schöpfung ganz 'richtig' und der Wirklichkeit kongruent“47 sei. Zudem könne der Gesetzgeber „nicht alle Wege übersehen und voraussehen, auf denen verbrecherische Elemente sich an der Volksgemeinschaft vergehen“. Das Gesetz könne deshalb „immer nur eine unvollkommene Aufzählung der gegen die völkische Lebens- und Friedensordnung verstoßenden Handlungen bleiben“ und weise immer „Lücken“ auf, „durch die der geschickte Verbrecher hindurchzuschlüpfen weiß“. Es genüge deshalb nicht, „wie bisher nur dann zu strafen, wenn das Gesetz die begangene Tat mit Strafe bedroht“, sondern es müsse neben das einzelne Strafgesetz „als weitere Rechtsquelle der Rechtsgedanke, der ihm [...] zugrunde liegt, in Verbindung mit dem gesunden Volksempfinden“ treten. Erfordere dieser Rechtsgedanke sowie das „gesunde Volksempfinden“ Strafe, auch wenn der Wortlaut des Gesetzes diese nicht zulasse, sollte der Richter befugt sein, diese anzuordnen48. Zu diesem Zweck wurde der eine analoge Anwendung der Gesetze ausschließende Artikel 1 des Strafgesetzbuches mit dem Gesetz zur Änderung des

43 Gerhard Werle: Zur Reform des Strafrechts in der NS-Zeit: Der Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches 1936. In: NJW 41 (1988), S. 2865-2867, hier S. 2866. 44 Carl Schmitt: Nationalsozialismus und Rechtsstaat. In: JW 63 (1934), S. 713-718, hier S. 717. 45 Carl Schmitt: Kodifikation oder Novelle? Über die Aufgabe und Methode der heutigen Gesetzgebung. In: DJZ 40 (1935), Sp. 919-925, hier Sp. 922. 46 Roland Freisler: Volk, Richter und Recht. In: DJ 97 (1935), S. 1160-1163, hier S. 1162. 47 Werner Best: Werdendes Polizeirecht. In: DR 8 (1938), S. 224-226, hier S. 226. 134

Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935 durch den sog. Analogieparagraphen ersetzt. In § 2 hieß es künftig:

„Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“49

Die Befreiung vom Verbot analoger Anwendung der Strafrechtsnormen sollte dem Richter die Möglichkeit geben, bei der Urteilsfindung über die Grenzen der gesetzlichen Tatbestände hinauszugehen und so zum „verständnisvolle[n] Verbündete[n] des Gesetzgebers“ zu werden50. Die Grundlage, von der aus der Richter „die Leitgedanken der Gesetzgebung“ erkennen und verstehen sollte, und damit „Richtschnur“ des richterlichen Handelns bildete die nationalsozialistische Weltanschauung51. „Mit Fingerspitzengefühl und Instinkt“ sollte der Richter „den Gesetzgeber begreifen und ergänzen“ und diesen nötigenfalls ersetzen52. Kein Richter könne sich „auf den Wortlaut des Gesetzes berufen, um damit im Blick auf die gesunde Volksanschauung unvernünftige Ergebnisse zu rechtfertigen“53. Der auf diese Weise vollzogene Bruch mit dem Rechtsgrundsatz „nulla poena sine lege“ war offensichtlich54. In der juristischen Literatur wurde dem entgegengestellt, daß in der nationalsozialistischen Rechtsprechung der „Gerechtigkeitssatz“: „nullum crimen sine poena“ oberste Priorität genieße55.

Die Anwendung der Rechtsanalogie wurde unter zwei Aspekten eingeschränkt. Zum einen sollten durch die analoge Anwendung von Strafrechtsnormen ausschließlich „Lücken des Gesetzes, die der

48 Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 und die amtlichen Begründungen zu diesen Gesetzen. Amtliche Sonderveröffentlichungen der deutschen Justiz, Nr. 10. Berlin 1935, S. 27f. 49 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, 28.6.1935. Abgedruckt in: RGBl. I 1935, S. 839-843, hier S. 839. 50 Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, S. 28. 51 Der Gedanke der Gerechtigkeit in der deutschen Strafrechtserneuerung. Vortrag von Reichsminister Dr. Gürtner vor dem 11. Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongreß in Berlin, 19.8.1935; BA R 22/1284, fol. 303- 331, hier fol. 314. Der 11. Internationale Strafrechts- und Gefängniskongreß fand vom 18. bis zum 24. August 1935 in Berlin statt und bot eine willkommene Gelegenheit, nationalsozialistische Anschauungen zum Strafrecht der internationalen Fachwelt vorzustellen. 52 Hitlers Tischgespräch vom 20.8.1942. Abgedruckt in: Gruchmann, Hitler über die Justiz, S. 98. 53 Edmund Mezger: Die materielle Rechtswidrigkeit im kommenden Strafrecht. In: ZStW 55 (1935), S. 1-17, hier S. 4. 54 In der Forschungsliteratur wird die Aufhebung des Analogieverbots häufig als herausragendes Merkmal der Abkehr des nationalsozialistischen Strafrechts von einem liberal-rechtsstaatlichen Strafrecht angesehen. Naucke warnt davor, die Bedeutung des Analogiegebots in der Strafrechtsentwicklung des „Dritten Reiches“ zu überschätzen. Dieses stelle keinen „Bruch“ in der Rechtsentwicklung dar, sondern sei Ausdruck des veränderten Grundverhältnisses von Gesetz und Richter. Vgl. hierzu Wolfgang Naucke: Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935. In: NS-Recht in historischer Perspektive. Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte. München [u.a.] 1981, S. 71-108, hier S. 82f. 135

Gesetzgeber nicht vorhergesehen hat“ bzw. nicht vorhersehen habe können, ausgefüllt und nicht „Grenzen, die der Gesetzgeber bewußt gesteckt hat, niedergelegt“ werden56. Als Beispiel für eine „gewollte Begrenzung“ einer Strafrechtsbestimmung durch den Gesetzgeber wurde in der Begründung der Gesetzesnovelle die Beschränkung des § 175 auf gleichgeschlechtliche Handlungen von Männern genannt, die eine Ausweitung der Strafbarkeit auf die Homosexualität von Frauen durch das Mittel der Rechtsanalogie nicht zulasse57. Zum anderen sollte als zweites Erfordernis für die Anwendung der Rechtsanalogie die jeweilige Tat eine Bestrafung „nach gesundem Volksempfinden“ verdienen. Dieses decke sich jedoch nicht zwangsläufig mit „der Anschauung der großen Mehrheit der Volksgenossen“. Vielmehr könnten „gewisse laxe Anschauungen“ auch dann nicht als „gesundes Volksempfinden“ gewertet werden, wenn sie mit den Anschauungen der Bevölkerungsmehrheit übereinstimmten58.

Die Bindung des Richters an die nationalsozialistische Ideologie stellte einen massiven Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit dar und erforderte ein verändertes Selbstverständnis der Richter. Bereits zwei Jahre vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ hatte Goebbels gefordert:

„Der Objektivitätsfimmel, der heute dem Paragraphen, aber nicht mehr dem Volke gefällig ist, muß beseitigt werden. Es sollen dem deutschen Volke wieder Richter erstehen, die ihre erste Aufgabe darin sehen, dem lebendigen Volkstum zu dienen und Recht zu sprechen danach, ob es dem Vaterlande dient oder dem Vaterlande abträglich ist.“59

Zwar blieben die materiell-rechtlichen Grundlagen der richterlichen Tätigkeit äußerlich unverändert, da der § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes, in dem festgelegt war, daß die „richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt“ werde60, fortbestand61. Dieser Freiheit der Richter wurde jedoch mit der geforderten, „von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragenen Rechtsauslegung“ ein neuer „Sinngehalt“ unterlegt. So äußerte sich Curt

55 Schmitt, Nationalsozialismus und Rechtsstaat, S. 714. 56 Leopold Schäfer: Die Einzelheiten der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935. In: DJ 97 (1935), S. 994-999, hier S. 994. 57 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, 1935; BA R 22/862, fol. 231-234, hier fol. 234. Vgl. auch Kapitel 2.6. 58 Schäfer, Einzelheiten der Strafgesetznovelle, S. 994f. 59 Zit. nach Manfred Krohn: Die deutsche Justiz im Urteil der Nationalsozialisten 1920-1933. Frankfurt/M. 1991, S. 274. 60 Lothar Gruchmann: Die „rechtsprechende Gewalt“ im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Eine rechtspolitisch-historische Betrachtung. In: Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, hg. von Wolfgang Benz, Hans Buchheim, Hans Mommsen. Frankfurt/M. 1983, S. 78-103, hier S. 91. 61 Eine förmliche Beseitigung der richterlichen Weisungsfreiheit vermied die nationalsozialistische Führung schon allein deshalb, weil sie das Vertrauen der in- und ausländischen Öffentlichkeit in die Rechtsprechung nicht erschüttern wollte. 136

Rothenberger, Oberlandesgerichtspräsident von Hamburg, zur Frage der richterlichen Unabhängigkeit folgendermaßen:

„Das Gesetz ist Führerbefehl. Der Richter, der dieses Gesetz anzuwenden hat, ist nicht nur an das Gesetz, sondern auch an die einheitliche geschlossene Weltanschauung des Führers gebunden. Aus dem neutralen, unpolitischen, staatsabgewandten Richter der liberalen Epoche ist daher geworden ein durch und durch politisch denkender, fest an die Weltanschauung des Gesetzgebers gebundener und an ihrer Verwirklichung mitarbeitender Nationalsozialist. Unabhängig kann somit niemals bedeuten Freiheit von weltanschaulicher Bindung.“62

Die auf diese Weise erreichte Freiheit des Richters in der Gesetzesauslegung bestand jedoch nur im Rahmen der als verbindlich vorausgesetzten Weltanschauung63: Nicht durch „Willkür und nicht durch ein formalistisch-abstraktes Rechtssicherheitsprinzip“ sollte die Freiheit des Richters im nationalsozialistischen Richterideal beengt sein, sondern vielmehr „durch die im Gesetz zutagetretende, vom Führer verkörperte Rechtsanschauung des Volkes“ eine „feste Linie“ bekommen64. In diesem Sinne erklärte Himmler im Mai 1944 vor Vertretern der deutschen Justiz zur Rolle der Richter: „Der Richter soll unabhängig sein in seinem Richtspruch, zutiefst aber dann kann er unabhängig sein und wird es sein, wenn er eng verbunden mit der Weltanschauung seines Volkes ist, verpflichtet den Gesetzen des Blutes seines Volkes, verpflichtet der Zukunft der Rasse seines Volkes.“65

In der Praxis bestimmte die Befreiung vom Verbot analoger Anwendung der Strafrechtsnormen die Rechtsprechung der positivistischen Rechtsbegriffen verhafteten deutschen Juristen weniger, als die Propagandisten es wünschten66. Im Februar 1942 erklärte Hitler im Kreis von Vertrauten:

„Unsere Justiz ist noch zu wenig elastisch. Sie begreift nicht die jetzige Gefahr, die darin liegt, daß das Verbrechertum sich eine Art Einbruchstelle öffnet, um in die Gesellschaft in dem Augenblick hineinzuströmen, wenn ihr der Zeitpunkt gekommen erscheint. [...] Nach zehn Jahren Zuchthaus ist der Mensch sowieso für die Volksgemeinschaft verloren. Wer will ihm denn noch Arbeit geben? Solchen Kerl steckt man entweder in ein KZ oder tötet ihn. [...] Statt dessen wühlt die Justiz mit ihrer ganzen Liebe und Sorgfalt in den Akten, um

62 Curt Rothenberger: Die Stellung des Richters im Führerstaat. In: DR 9 (1939), S. 831-833, hier S. 831. 63 Hinrich Rüping: Strafjustiz im Führerstaat. In: Justiz und Nationalsozialismus, hg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Hannover 1985, S. 97-118, hier S. 100f. 64 Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, S. 352. 65 Heinrich Himmler. Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen, hg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson. Frankfurt/M. 1974, S. 195. 66 Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 861. 137

zu einem in der Linie ihrer Friedensübung gerechten Urteil zu kommen. Solche Urteile müssen unter allen Umständen aufgehoben werden.“67

Da sich die Mehrheit der Richter an den Gesetzestext hielt, versuchte die nationalsozialistische Führung, über die Gesetzgebung hinaus mit Hilfe von Lenkungsmaßnahmen die Rechtsprechung zu beeinflussen. Erste Maßnahmen zur Justizlenkung setzten bereits unmittelbar nach der „Machtergreifung“ ein: In der Rubrik „Rechtspflege und Rechtspolitik, Wochenschau“ in der Zeitschrift „Deutsche Justiz“ erhielten Gerichte Zensuren, es wurden Entscheidungen von Gerichten durch die Tätigkeit der Polizei korrigiert oder in schwebende Verfahren eingegriffen. Darüber hinaus benutzte das Reichsjustizministerium die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften, um diese mit Hilfe von Richtlinien über die Bestimmung einzelner Tatbestandsmerkmale sowie die Ausnutzung des Strafrahmens zu instruieren68. Eine über Einzelfälle hinausgehende Strategie zur Lenkung und Steuerung der Rechtspflege bildete sich erst mit Kriegsbeginn heraus. Die vermeintlich „maßvolle Lenkung“, so heißt es in einer Rundverfügung des Reichsjustizministers aus dem Jahr 1942, sollte „nichts mit Gängelung oder Aufhebung der Weisungsfreiheit des Richters zu tun“ haben, sondern dem Richter „kameradschaftlich helfen“. Aufgabe des Lenkenden sei es, die „Lenkung so taktvoll durchzuführen, daß die Richter sich ihrer selbständigen, eigenen Verantwortung bewußt bleiben und die geleistete Hilfe dankbar anerkennen, anstatt sich gegängelt oder unfrei zu fühlen“69. Als Mittel zur Beeinflussung der Rechtsprechung dienten zusätzlich zu den erwähnten Maßnahmen der außerordentliche Einspruch sowie die Nichtigkeitsbeschwerde des Oberreichsanwalts70, die gesteigerte Berichtspflicht an das Reichsjustizministerium sowie die im Mai 1942 eingeführte sog. Vorschau, bei der die jeweils anstehenden wichtigen Fälle aufgrund der Aktenlage von den Landgerichtspräsidenten mit dem zuständigen Richter vor der Verhandlung erörtert wurden. Ein eventuell von der Absprache abweichendes Urteil mußte der Richter in einer nochmaligen Besprechung – der sog. Nachschau – rechtfertigen71. Nur kurze Zeit nach der Ernennung Georg Thieracks zum Reichsminister der Justiz am 20. August 1942 wurde in Form von sog. Richterbriefen ein neues Lenkungsinstrument eingeführt. In einem Aufruf an die Richter erklärte Thierack, daß die

67 Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-42, eingeleitet und veröffentlicht von Gerhard Ritter. Bonn 1951, S. 202f. 68 Richterbriefe. Dokumente zur Beeinflussung der deutschen Rechtsprechung 1942-1944, hg. von Heinz Boberach. Boppard a. Rhein 1975, S. XIIff. 69 Rundverfügung des Reichsjustizministers an die Präsidenten des Reichsgerichts und des Volksgerichtshofs, an die Oberreichsanwälte sowie an die Oberlandespräsidenten und Generalstaatsanwälte zur Lenkung der Rechtsprechung im Kriege, 13.10.1942. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 19, Dok. 3344d, S. 362-364, hier S. 362. 70 Vgl. hierzu ausführlich Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 1076ff. 71 Hermann Weinkauff: Die Justiz und der Nationalsozialismus. Ein Überblick. München 1968, S. 153ff. 138

„Richterbriefe“ Entscheidungen enthalten sollten, die ihm „nach Ergebnis oder Begründung besonders hervorhebenswert“ erschienen. An diesen Entscheidungen wollte er aufzeigen, „wie eine bessere Entscheidung hätte gefunden werden können und müssen“, darüber hinaus sollten „gute, für die Volksgemeinschaft wesentliche Entscheidungen als beispielhaft hervorgehoben werden“. Die Richterbriefe, so Thierack weiter, sollten keineswegs eine „Bevormundung“ der Richter bewirken, sondern „vielmehr nur eine Anschauung davon geben, wie sich die Justizführung nationalsozialistische Rechtsanwendung denkt“, und auf diese Weise „dem Richter die innere Sicherheit und Freiheit geben, die richtige Entscheidung zu finden“72. Der erste Richterbrief erschien im Oktober 1942 in einer Auflage von 11.000 Exemplaren; als Material für die „Richterbriefe“ dienten zunächst Entscheidungen, die dem Reichsjustizministerium aufgrund der umfassenden Berichtspflicht der Gerichte und Staatsanwaltschaften zugingen. Ergänzend zu den Richterbriefen sollte die Herausgabe von sog. Rechtsanwaltsbriefen dazu dienen, die Plädoyers der Anwälte im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu beeinflussen. Die erste und einzige Ausgabe lag im Oktober 1944 vor73.

Die beschriebenen Lenkungsmaßnahmen standen nach nationalsozialistischem Rechtsverständnis nicht im Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit, sondern stellten, ebenso wie das Gesetz, ein Informationsmittel des Willens der politischen Führung dar. Eine Unabhängigkeit des Richters vom Führer konnte es nach diesem Verständnis nicht geben, da der Führer das nationalsozialistische „Recht“ verkörperte und der Richter „Mitarbeiter des Führerwillens und -planes“74 wurde75. Beurteilt man das NS-Strafrecht an einem liberal-rechtsstaatlichen Maßstab, so stellten die Maßnahmen zur Lenkung der Rechtsprechung massive Eingriffe in die sachliche Unabhängigkeit der Richter dar, ohne daß diese dabei formell aufgehoben wurde76. Hitler, dessen Rechtsfeindschaft in offiziellen Äußerungen in der Regel nur verhüllt oder nur angedeutet zum Ausdruck kam77, drohte in seiner Reichstagsrede vom 26. April 1942 schließlich mit der Aufhebung der letzten Reste der Garantien

72 Aufruf des Reichsministers der Justiz Dr. Thierack an die Richter, 1.10.1942. Abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 19, Dok. 3344b, S. 350-352, hier S. 352. 73 Vgl. hierzu Richterbriefe; speziell zu den Rechtsanwaltsbriefen: S. 397ff. 74 Schmitt, Kodifikation oder Novelle, Sp. 924. 75 Vgl. hierzu auch das Kapitel I 4 in Teil V C „Richterliche Unabhängigkeit – politischer Richter – Justizlenkung“ bei Werle, Justiz-Strafrecht, S. 692-694. 76 Durchbrochen wurde das Prinzip der Unabsetzbarkeit allerdings bereits mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 (abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 175-177) und dem Ausschluß jüdischer Juristen. 77 Weinkauff, Die Justiz und der Nationalsozialismus, S. 40ff. 139 richterlicher Unabhängigkeit und erklärte: „Ich werde von jetzt ab in diesen Fällen78 eingreifen und Richter, die ersichtlich das Gebot der Stunde nicht erkennen, ihres Amtes entheben.“79 Die tatsächlich gegen Richter ergriffenen Maßnahmen beschränkten sich auf wenige Fälle, die jedoch als psychologisches Druckmittel dienten, um auf die Rechtsprechung einzuwirken.

4.1.2. Strafrecht und Kriminologie im nationalsozialistischen Rechtssystem

Die im „Dritten Reich“ betriebene kriminologische Forschung wies eine ausgesprochen biologische Ausrichtung auf. Die seit der Jahrhundertwende intensiv geführte Auseinandersetzung um die Ursachen der Kriminalität hatte kein einheitliches Ergebnis erbracht: Den Vertretern der „kriminalsoziologischen“ Schule, die in den Umweltbedingungen die zentrale Ursache für die Kriminalitätsentwicklung sahen, standen die Anhänger der „Kriminalanthropologie“ mit ihrer auf anthropologischen Studien des Psychiaters Cesare Lombroso beruhenden Theorie vom „geborenen Verbrecher“ gegenüber. Die Lehre Lombrosos, der im „geborenen Verbrecher“ einen atavistischen Menschentyp sah, stieß schon zu dessen Lebzeiten auf Ablehnung. Gleichwohl war ihre Wirkung nachhaltig, und zwar in der Hinsicht, daß Lombroso den Verbrecher in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellte und das Interesse auf seine ererbten Anlagen lenkte80. Die Verhaltensrelevanz von Erbfaktoren wurde zentraler Bestandteil auch der in den 20er Jahren zum Durchbruch kommenden kriminalbiologischen Denkrichtung, die sich äußerst empfänglich zeigte für das nationalsozialistische Gedankengut und die darin enthaltenen rassenhygienischen Zielsetzungen. Die Einrichtung erster sog. Kriminalbiologischer Sammelstellen, die Daten von inhaftierten Kriminellen zusammenstellten, sowie die Gründung der „Kriminalbiologischen Gesellschaft“ im Jahr 1927 verdeutlichen den Stellenwert, den das kriminalbiologische Gedankengut in der Kriminologie bereits in vornationalsozialistischer Zeit einnahm81.

Mit der „Machtergreifung“ gewann die kriminalbiologische Persönlichkeitsforschung verstärkt an Bedeutung und stand in einem engen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Rassendoktrin,

78 Gemeint waren gerichtliche Urteile, denen Hitler nicht zustimmte. 79 Hitlers Rede vor dem Reichstag am 26. April 1942. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932- 1945. Bd. 2 (2), S. 1875. 80 Vgl. hierzu das Kapitel 1 C II bei Karl-Leo Terhorst: Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich. Heidelberg 1985, S. 29-32. Einen guten Überblick über die Entwicklung der Kriminologie im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland liefert Dieter Dölling: Kriminologie im „Dritten Reich“. In: Recht und Justiz im „Dritten Reich“, hg. von Ralf Dreier. Frankfurt 1989, S. 194-225. 81 Franz Streng: Der Beitrag der Kriminologie zu Entstehung und Rechtfertigung staatlichen Unrechts im Dritten Reich. In: MSchrKrim 76 (1993), S. 141-168. 140 denn „Entartung“ als Folge „einer Vermischung des anständigen Rasserepräsentanten mit einem Individuum von minderwertigem Rassekern“ stellte vermeintlich eine „Quelle verbrecherischen Handelns“ dar: Der „völlig Entartete“, so der Leiter des Rechtsamtes der NSDAP und Reichsführer des NS-Juristenbundes, Hans Frank, „entbehrt jeden rassischen Hochempfindens und sieht in der Schädigung der Gemeinschaft oder eines Gemeinschaftsangehörigen geradezu seine Aufgabe“. Die Kriminalbiologie als „Lehre von der Lebensgesetzlichkeit des Verbrechertums“ sei deshalb im Nationalsozialismus die „Lehre vom Zusammenhang rassischer Dekadenz mit den Verbrechensäußerungen“82. In diesem Sinne konnte man auch in dem Lehrbuch „Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage“ von Edmund Mezger nachlesen, daß die künftige Strafrechtspflege ihr oberstes Ziel darin sehe, sich in den Dienst der „Volksaufartung“ zu stellen. Aufgabe der Kriminologie sei es, die Voraussetzungen zu schaffen, „durch Ausmerzung ungeeigneter Elemente die rassenmäßige Zusammensetzung des Volkes zu heben“83.

Zum Nachweis einer vererbbaren Anlage zum Verbrechen wurden „Vererbungs- und Sippenforschungen“ sowie Untersuchungen an Zwillingen intensiviert84. Weniger körperliche, sondern vor allem psychische Merkmale wurden erforscht, da diese den Anlageverbrecher vermeintlich kennzeichneten. Über die Analyse der „Wesensart“ des Verbrechers hinaus sah die Kriminalbiologie ihre Aufgabe insbesondere in der Prognose darüber, „wie sich das künftige Verhalten einer verbrecherischen Persönlichkeit unter bestimmten künftigen Bedingungen gestalten werde“85. Indem zukünftiges Verhalten von Personen prognostiziert wurde, erlangte die kriminalbiologische Forschung auch rechtspolitische Bedeutung. Im Vordergrund des kriminologischen Interesses stand dabei nicht das Verbrechen, sondern die durch das Verbrechen zutage getretenen Absichts- und Gesinnungsmerkmale des Täters. Bereits im Juli 1934 hatte Hitler anläßlich der Röhm-Affäre vor dem Reichstag erklärt: „Wer Landesverrat übt, soll nicht bestraft werden nach dem Umfang und Ausmaß seiner Tat, sondern nach seiner zutage getretenen Gesinnung.“86 Die Täterwertung gewann aufgrund der deterministischen Kriminalitätsauffassung bei der Strafzumessung zunehmend an Bedeutung, so daß eine Entwicklung stattfand vom Tatstrafrecht, bei dem die Tat Grund für die Strafe war und die Schwere der Tat den Ausschlag gab für das Strafmaß, zum Täterstrafrecht, das Täter und Strafe – im Extremfall ohne das Zwischenstück der Tat

82 Hans Frank: Nationalsozialistische Strafrechtspolitik. München 1938, S. 32. 83 Edmund Mezger: Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage. Stuttgart 1934, S. 203f. 84 Vgl. zu den Forschungsfeldern der Kriminalbiologie ebd., S. 145ff. 85 Franz Exner: Aufgaben der Kriminologie im Dritten Reich. In: MschrKrim 27 (1936), S. 3-16, hier S. 6. 86 Hitlers Rede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1 (1), S. 422. 141

– verbindet87. Die Strafbarkeitsvoraussetzungen verlagerten sich auf diese Weise weit in den subjektiven Bereich der Persönlichkeitsforschung; zudem machte sich eine zunehmende Gleichstellung von versuchtem und vollendetem Verbrechen deutlich: „Nicht erforderlich“, so heißt es in einer Denkschrift zum nationalsozialistischen Strafrecht, sei „der Eintritt des Erfolges, der oft vom Zufall abhängt und vom Willen des Täters erheblich abweicht“88. Für die Rechtsprechung wurde die Typisierung der Täterpersönlichkeit – so z.B. die Einstufung als „Gewohnheitsverbrecher“ oder „Gelegenheitsverbrecher“ – entscheidend. Die Sanktionierung erfolgte in einem „zweispurigen“ System von „Strafe“ und „Maßregeln der Sicherung und Besserung“89.

4.1.3. Rechtliche Grundlagen der Strafverfolgung von Homosexuellen

Die strafrechtliche Kriminalisierung homosexueller Männer erfolgte durch § 175 bzw. ab dem 1. September 1935 durch §§ 175, 175a; relevant war auch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ vom 24. November 1933, das die Möglichkeit der Strafschärfung sowie die Anordnung von Maßregeln der Sicherung und Besserung vorsah.

4.1.3.1. Zur Strafbarkeit der Homosexualität: Die Diskussion um den § 175 vor 1933

Die Rechtsgrundlage zur Bestrafung homosexueller Handlungen bildete der § 175 des Reichsstrafgesetzbuches vom 15.5.1871. Dieser ging auf den § 173 des Strafgesetzbuches des Norddeutschen Bundes zurück, der wiederum unverändert dem § 143 des Preußischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 entnommen war90. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen wurde im § 175 wie folgt festgelegt:

87 Vgl. hierzu auch Werle, Justiz-Strafrecht, S. 2f. 88 W. Sauer: Nationalsozialistisches Strafrecht nach der Denkschrift des preußischen Justizministers. In: DJZ 38 (1933), Sp. 1462-1467, hier Sp. 1464. 89 Vgl. hierzu Kapitel 4.1.3.4. 90 Die Strafbarkeit der Homosexualität wurde im Zuge der Revision des preußischen Strafrechts durchaus kontrovers diskutiert. Ausdruck hiervon sind die insgesamt 10 Entwürfe eines neuen Strafrechts bis 1848, in denen der Homosexuellenparagraph fast jedesmal einen anderen Wortlaut erhielt. In einigen deutschen Ländern war die Strafbarkeit der Homosexualität im 19. Jahrhundert sogar ganz aufgehoben worden. Vgl. hierzu Kapitel 2.1. sowie speziell zu Preußen Rüdiger Lautmann: Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht. Seine Grundlegung in der preußischen Gesetzesrevision des 19. Jahrhunderts. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 141-186. 142

„Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“91

Bei der Auslegung des § 175 orientierte man sich zumindest in Preußen zunächst an der Rechtsprechungspraxis der preußischen Gerichte zu § 143. Diese beschränkten den Begriff „widernatürliche Unzucht“ nach einer Entscheidung des Preußischen Obertribunals vom 1. Juli 1853 auf die sog. sodomia propria in der aktiven sowie in der passiven Begehungsform. Ausgeschlossen wurde damit eine Bestrafung der gegenseitigen Onanie, die auch nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 straflos gewesen war. Nicht erforderlich war zur Erfüllung des Tatbestandes eine vollendete Befriedigung des Geschlechtstriebes. Mit der Einführung des § 175 wurde zunehmend der Begriff der „beischlafähnlichen Handlung“ gebraucht, der nach einer Entscheidung des Preußischen Obertribunals vom 24. Oktober 1877 definiert war als ein Handeln, „welches auf Befriedigung der Geschlechtslust in analoger Weise gerichtet ist, wie sie in naturgemäßer Weise zwischen Personen verschiedenen Geschlechts erfolgt“92. „Widernatürlich“ war der homosexuelle Verkehr danach nur dann, wenn er dem heterosexuellen Geschlechtsverkehr ähnlich war, d.h. wenn eine der Sexualpraktiken Anal-, Oral- oder Schenkelverkehr vorlag. Das 1879 geschaffene Reichsgericht, das eine Vereinheitlichung der in den Ländern unterschiedlichen Rechtsauslegung des Begriffs „widernatürliche Unzucht“ schuf, übernahm die Figur der „Beischlafähnlichkeit“ als Grundvoraussetzung einer strafbaren homosexuellen Handlung93. Begründet wurde diese einengende Auslegung mit dem Wortlaut des § 175: Mit dem Begriff „widernatürlich“, also wider die Natur, könne nur eine dem natürlichen Zeugungsakt analoge Handlung gemeint sein. Durch das Merkmal „zwischen“ (Personen männlichen Geschlechts) seien zudem homosexuelle Handlungen, die „an“, „mit“ oder „vor“ Personen begangen werden, ausgeschlossen. Auslegungsschwierigkeiten bereitete trotz dieser Einengung in der Folgezeit der Terminus „ähnlich“, der weniger bestimmt war als beispielsweise der Ausdruck „beischlafgleich“. Als erforderlich wurde in jedem Fall das Eindringen des Gliedes in eine Körperöffnung des anderen Mannes angesehen; eine Berührung durch die Kleider hindurch, das bloße Anfassen des Geschlechtsteils des anderen sowie insbesondere die

91 Der Paragraph 175. Die ursprüngliche Fassung gem. RStGB von 1871. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, hg. von Günter Grau. Frankfurt/M. 1993, Dok. 18a, S. 95. 92 Preußisches Obertribunal, 24.10.1877. Zit. nach Jürgen Baumann: Paragraph 175. Über die Möglichkeit, die einfache, nichtjugendgefährdende und nichtöffentliche Homosexualität unter Erwachsenen straffrei zu lassen. Berlin [u.a.] 1968, S. 42. 93 Vgl. hierzu und zum folgenden ebd., S. 41ff. sowie Günther Gollner: Homosexualität. Ideologiekritik und Entmythologisierung einer Gesetzgebung. Berlin 1974, S. 182ff. und Kai Sommer: Die Strafbarkeit der Homosexualität von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus. Eine Analyse der Straftatbestände im Strafgesetzbuch und in den Reformentwürfen (1871-1945). Frankfurt/M. [u.a.] 1998, S. 43ff. 143 gemeinschaftlich gleichzeitige oder wechselseitige Onanie reichten dagegen nicht zur Erfüllung des Tatbestandes „widernatürliche Unzucht“ aus94.

Als schwierig erwies sich in der Folge die Nachweisbarkeit homosexueller Handlungen im Sinne der herrschenden Rechtsauslegung des § 175: Da „beischlafähnliche“ Handlungen zwischen Männern in der Regel in gegenseitigem Einverständnis vorgenommen wurden und die Beteiligten mit den gesetzlichen Bestimmungen vertraut waren, entstanden für die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden häufig Beweisschwierigkeiten. Dies schlägt sich auch in der Verurteilungspraxis nieder: So betrug die Zahl der rechtskräftigen Aburteilungen nach § 17595 in dem Zeitraum zwischen 1882 und 1918 insgesamt 22.53496; davon erfolgten 18.365 Verurteilungen. In den übrigen Fällen wurden die Angeklagten freigesprochen bzw. wurde von Strafe abgesehen, oder das Verfahren wurde eingestellt. Während der Weimarer Republik machte sich ein langsamer Anstieg der Verurteilungszahlen bemerkbar: Von 1919 bis 1932 erfolgten insgesamt 11.216 rechtskräftige Aburteilungen nach § 17597; 9.257 Personen wurden verurteilt. Im Jahresdurchschnitt wurden somit im Zeitraum von 1882 bis 1918 knapp 500 Verurteilungen nach § 175 (inklusive der Fälle von „widernatürlicher Unzucht“ zwischen Mensch und Tier) ausgesprochen; zwischen 1919 und 1933 waren es – trotz sinkender Zahl der Sodomiefälle – durchschnittlich etwas über 660 Verurteilungen nach § 175 im Jahr. Es wurde folglich nur ein verschwindend geringer Teil der tatsächlich vorkommenden Fälle von Homosexualität Gegenstand eines Strafverfahrens bzw. führte zu einer gerichtlichen Verurteilung.

Die Selektivität der Verfolgung war nur ein Argument in der seit der Jahrhundertwende verstärkt öffentlich geführten Diskussion über eine Entkriminalisierung der Homosexualität. Vom medizinischen wie vom juristischen Standpunkt aus wurde die Strafbarkeit homosexueller Handlungen bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Frage nach den

94 Vgl. hierzu: „Fällt die von Personen männlichen Geschlechts verübte wechselseitige Onanie unter den § 175 StGB?“; Urteil vom 25.4.1882. In: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, hg. von den Mitgliedern des Gerichtshofes und der Reichsanwaltschaft (RGSt). Berlin [u.a.]. Bd. 6 (1882), S. 211-212. 95 Hierunter fielen sowohl die „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern als auch die „widernatürliche Unzucht“ zwischen Mensch und Tier. Eine Aufschlüsselung der beiden Straftatbestände liegt erst für den Zeitraum ab 1902 vor. Hieraus geht hervor, daß zwischen 1902 und 1919 4.945 der insgesamt 11.520 rechtskräftigen Aburteilungen nach § 175 sich auf Fälle der „widernatürlichen Unzucht“ zwischen Mensch und Tier beziehen. 96 Die folgenden Zahlen sind der Kriminalstatistik der Jahre 1882 bis 1933 entnommen; abgedruckt in: Baumann, Paragraph 175, S. 58ff. Es handelt sich hierbei um eine Verurteilungsstatistik und um eine Personenstatistik. Es werden also nicht die angezeigten Straftaten angegeben, sondern ausschließlich die Zahl der rechtskräftigen Aburteilungen im Berichtsjahr. Nicht berücksichtigt ist das Jahr der Tatbegehung. 97 Hiervon bezogen sich 1.592 auf die „widernatürliche Unzucht“ zwischen Mensch und Tier. Die erhebliche Abnahme der Anzahl dieser Delikte führt Baumann auf die zunehmende Verstädterung in Deutschland zurück. Ebd., S. 61. 144

Ursachen der Homosexualität kontrovers diskutiert98. Mit der Gründung des WhK im Jahr 1897 war erstmals ein organisierter Widerstand gegen den § 175 möglich. Bereits im Dezember des Gründungsjahres richtete das Whk eine von Hirschfeld verfaßte Petition an den Deutschen Reichstag. Die Unterzeichner forderten die Straffreiheit der sog. einfachen Homosexualität und die Beschränkung der Strafbarkeit auf die sog. qualifizierten Fälle homosexueller Handlungen: bei Gewaltanwendung, bei gleichgeschlechtlichem Verkehr Erwachsener mit Personen unter 16 Jahren sowie bei einer Erregung öffentlichen Ärgernisses. Zwar wurden die bis 1914 von 6.000 Personen unterzeichneten Eingaben des WhK in den Jahren 1898 und 1905 Gegenstand von Reichstagsdebatten; die Veränderungsvorschläge wurden jedoch jeweils abgelehnt 99. Mit dem Erstarken der Homosexuellenbewegung während der Weimarer Republik wurden die Forderungen sowohl nach einer Entkriminalisierung der Homosexualität als auch nach sozialer Anerkennung der Homosexuellen stärker und erfuhren die Fürsprache namhafter Persönlichkeiten. Durch eine intensive Aufklärungsarbeit versuchte man zudem, die Öffentlichkeit für die angestrebte Änderung der strafrechtlichen Bestimmungen zu sensibilisieren.

Die Protagonisten einer Beseitigung oder Änderung des § 175 beriefen sich auf den rechtsstaatlichen Grundsatz, wonach Strafe nur unter der Bedingung gerechtfertigt sei, daß durch eine Handlung das Recht eines Dritten verletzt werde – wo aber niemand geschädigt werde, könne auch keinerlei Strafbedürfnis entstehen100. Die meisten Reformer gingen von der Annahme aus, daß Homosexualität eine angeborene Veranlagung darstelle, weshalb die Betroffenen an ihrem Tun schuldlos und somit nicht zu bestrafen seien. Dem von den Gegnern der Reformbestrebungen immer wieder vorgebrachten Hinweis auf das „Volksempfinden“ wurde entgegengehalten, daß dieses, wo es hervortrete, teilweise eine Folge der Strafdrohung sei. Vielmehr ergebe sich ein öffentliches Ärgernis in der Regel nicht durch die homosexuelle Betätigung, sondern erst durch die Nachforschungen und die strafrechtliche Ahndung. Angemerkt wurde des weiteren, daß die Handhabung der Strafbestimmung des § 175 schwierig sei, da nur ein Bruchteil der sich homosexuell betätigenden Personen identifiziert und strafrechtlich verfolgt werde. Aus diesem Grund sei zum einen die Abschreckungsfunktion des Strafrechtsparagraphen gering, und zum anderen bewirke die Selektivität

98 Vgl. Kapitel 2.1.1. 99 Vgl. hierzu Hermann Sievert: Das anomale Bestrafen. Homosexualität, Strafrecht und Schwulenbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Hamburg 1984, S. 16ff. sowie Angela Taeger; Rüdiger Lautmann: Sittlichkeit und Politik. § 175 im Deutschen Kaiserreich. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 239-268. 100 Vgl. hierzu sowie zum folgenden die Zusammenstellung der gutachterlichen Äußerungen über den Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, hg. vom Reichsjustizamt 1911, sowie die in den (Vor-)Entwürfen und den jeweiligen Begründungen zu einem neuen StGB genannten Argumente; abgedruckt in: Baumann, Paragraph 175, S. 90ff., 99ff. sowie 123ff. 145 der Strafverfolgung eine besonders große Rechtsungleichheit im Bereich der Homosexualitätsdelikte101. Schließlich findet sich unter den Argumenten immer wieder der Hinweis auf die Gefahr der Erpressung, der die Homosexuellen aus Angst vor Strafverfolgung weitgehend schutzlos ausgeliefert seien. Den Forderungen einer Entkriminalisierung der Homosexualität schlossen sich im politischen Spektrum der Weimarer Republik die sog. liberalen Parteien, insbesondere die DVP und die DDP, sowie zu weiten Teilen auch die SPD an, obwohl auch hier vielfach die Auffassung herrschte, daß Homosexualität unsittlich sei und ihrer Verbreitung entgegengewirkt werden müßte. Am entschiedensten traten die Abgeordneten der KPD für die Aufhebung der Strafrechtsbestimmung ein102.

Auf der Gegenseite sprachen sich außer der NSDAP, die an ihrer Position keinen Zweifel aufkommen ließ, die bürgerlichen Mitte-Rechts-Parteien, vor allem das katholische Zentrum und die DNVP, entschieden für die Beibehaltung des § 175 aus. Von den Verteidigern der bestehenden Strafrechtsbestimmung wurde immer wieder auf die „Verwerflichkeit“ und „Strafwürdigkeit“ der Homosexualität nach „gesundem Volksempfinden“ und auf den „Schutz der allgemeinen Sittlichkeit“ verwiesen. Auch demographische Überlegungen spielten gelegentlich in die Argumentation hinein, wenn z.B. von der „Entartung des Volkes“ und dem „Verfall seiner Kräfte“ oder von dem „Schaden für Gesundheit und Reinheit unseres Volkslebens“ durch die Homosexualität die Rede war. Zudem wurde darauf verwiesen, daß die Abschaffung des § 175 die Gefahr berge, daß eine gewisse Propaganda entstehe, die zu einer Zunahme der Homosexualität führe103.

In den Entwürfen zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch wirkten sich die Reformbestrebungen in der Frage der Strafbarkeit der Homosexualität unterschiedlich aus. Bereits im Mai 1906 hatte das Reichsjustizamt eine Kommission zur Erstellung eines Vorentwurfs für ein neues Strafgesetzbuch

101 Dieses relativ schwache Argument der Befürworter einer Entkriminalisierung der Homosexualität wurde von den Nationalsozialisten später immer wieder angeführt, um die Reformbestrebungen hinsichtlich des § 175 generell zu diskreditieren. Eine hohe Dunkelziffer, so die Argumentation der Gegner, dürfe nicht dazu führen, daß man generell die Strafbarkeit beseitige, sondern vielmehr müsse die Strafgleichheit durch eine Intensivierung der Verfolgung herbeigeführt werden – schließlich sei, so der Wortlaut einer Ausarbeitung des Reichsjustizministeriums, „auch noch niemals die Forderung erhoben worden, den § 242 StGB abzuschaffen, weil nicht alle Diebe gefaßt werden und deshalb die alleinige Bestrafung der gefaßten ungerecht sei“. Siehe hierzu: Merkblatt betr. die widernatürliche Unzucht, von Assessor Oyen; BA R 22/973, fol. 69-108, hier fol. 97. 102 Zu den Differenzierungen in den Programmen der jeweiligen Parteien vgl. W.U. Eissler: Arbeiterparteien und Homosexuellenfrage. Zur Sexualpolitik von SPD und KPD in der Weimarer Republik. Berlin 1980. 103 Vgl. die Protokolle der Kommission für die Reform des Strafgesetzbuches (1911-1913), hg. von Werner Schubert. Frankfurt/M. 1990 (Nachdruck). Bd. 3: Besonderer Teil des Vorentwurfs in 1. Lesung, §§ 212-310 des Vorentwurfs, Protokolle 141-207, hier S. 230-238 sowie Bd. 4: Zweite Lesung und Schlußredaktion des Entwurfs. Protokolle 208-282, hier S. 500-509. Eine Zusammenstellung der Positionen findet sich bei Baumann, Paragraph 175, S. 99ff. 146 gebildet. Ergebnis der Kommissionstätigkeit war der Vorentwurf (VE) von 1909104, der im § 250 an der Strafbarkeit der Homosexualität festhielt und diese sogar erweiterte: zum einen durch die Ausdehnung auf gleichgeschlechtliche Handlungen von Frauen, zum anderen durch eine Erhöhung des Strafmaßes105. Die Reformhoffnungen des WhK wurden offenkundig enttäuscht. In der Begründung dieses Vorentwurfs heißt es:

„Die widernatürliche Unzucht, insbesondere zwischen Männern, ist eine Gefahr für den Staat, da sie geeignet ist, die Männer in ihrem Charakter und in ihrer bürgerlichen Existenz auf das schwerste zu schädigen, das gesunde Familienleben zu zerrütten und die männliche Jugend zu verderben. Mit ihr verbunden sind meist ein lichtscheues Treiben und die Anknüpfung von Verbindungen mit Individuen bedenklichster Art, beides wird selten ohne Rückwirkung auf die sittliche Gesamtpersönlichkeit des so Verirrten bleiben können. [...] Die in der neuesten Zeit mehrfach betonte Auffassung, als handle es sich bei der gleichgeschlechtlichen Unzucht um einen unwiderstehlichen krankhaften Naturtrieb, der die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit aufhebe oder doch bedeutend vermindere, lehnt der Entwurf als unbewiesen und mit den Erfahrungen des praktischen Lebens im Widerspruch stehend ab.“106

Ein Gegenentwurf, der 1911 von vier Strafrechtslehrern erarbeitet wurde, ließ die einfache Homosexualität unter Erwachsenen den Reformforderungen entsprechend straflos und stellte nur qualifizierte Fälle der Homosexualität unter Strafe107. Ein weiterer Kommissionsentwurf von 1913 enthielt in § 322 wieder die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges wurden die unterbrochenen Abeiten an der Gesamtreform des Strafrechts wieder aufgenommen. In dem erst 1921 veröffentlichten Entwurf aus dem Jahr 1919 entsprach der § 325 dem § 322 des Kommissionsentwurfs von 1913. Gegen den § 325 führte das Whk im Februar 1921 eine breit angelegte Protestaktion durch. Nach dem Gegenentwurf von 1911 war schließlich der Entwurf Radbruch aus dem Jahr 1922 der zweite deutsche Strafgesetzentwurf, der die Straflosigkeit der einfachen Homosexualität vorsah. Bestraft werden sollten ausschließlich homosexuelle Handlungen, die gewerbsmäßig, an Jugendlichen oder unter Mißbrauch eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses vorgenommen wurden. Die Reichsregierung befaßte sich erst 1924 mit dem Entwurf von 1922. Überschattet wurde die Diskussion um die Neufassung des § 175 durch den Fall

104 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Bearbeitet von der hierzu bestellten Sachverständigen- Kommission. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichs-Justizamts. Berlin 1909 (Nachdruck Frankfurt/M. 1990). 105 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, S. 50. 106 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Begründung. Bearbeitet von der hierzu bestellten Sachverständigen-Kommission. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichs-Justizamts. Berlin 1909 (Nachdruck Frankfurt/M. 1990), S. 690. 147 des homosexuellen Massenmörders Haarmann108. Die beiden folgenden Entwürfe aus den Jahren 1925 und 1927 enthielten in § 267 bzw. §§ 296, 297 erneut die Strafbarkeit der einfachen Homosexualität. Erst der 1930 entstandene Entwurf Kahl ließ die einfache Homosexualität straflos und sah eine Bestrafung nur der qualifizierten Fälle vor. In der Sitzung des Strafrechtsausschusses des Reichstags wurde schließlich die Streichung des § 296 (einfache Homosexualität) der Reichstagsvorlage von 1927 und die Beibehaltung nur des § 297 (qualifizierte Fälle) mit 15 : 13 Stimmen beschlossen. Der Antrag wurde im Plenum nicht mehr behandelt.

4.1.3.2. Der § 175 und seine Neuformulierung in der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der unmittelbar darauf folgenden Auflösung der Selbstorganisationen Homosexueller in Deutschland fand die Diskussion über eine mögliche Entdiskriminierung der einfachen Homosexualität ein abruptes Ende. Eine Neuformulierung des § 175 wurde nicht mehr unter dem Blickwinkel einer freizügigeren Haltung, sondern vielmehr im Hinblick auf eine Verschärfung der bestehenden strafrechtlichen Bestimmungen erörtert. Diese erfolgte schließlich durch die Verabschiedung der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935, die zum 1. September 1935 in Kraft trat. Die in der Novelle festgelegten Strafrechtsbestimmungen galten als „dringliche[] Gesetzesänderungen“, deren Regelung nicht bis zu der geplanten Verabschiedung eines neuen Strafgesetzbuches109 hinausgeschoben werden sollte110. Im juristischen Schrifttum wurde hinsichtlich der einzelnen Regelungen der Novelle unterschieden zwischen „grundlegenden Neuerungen“, worunter unter anderem die Zulassung der Rechtsanalogie (Artikel 1) fiel, und „Neuerungen zur Befriedigung in letzter Zeit hervorgetretener Bedürfnisse“111. Hierzu zählte auch die in Artikel 6 der Strafrechtsnovelle festgelegte Verschärfung der Strafrechtsbestimmungen des

107 Zu den zwischen 1911 und 1914 entstandenen Entwürfen vgl. auch Entwürfe der Strafrechtskommission zu einem Deutschen Strafgesetzbuch und zu einem Einführungsgesetz (1911-1914), hg. und eingeleitet von Werner Schubert. Frankfurt/M. 1990 (Nachdruck). Sämtliche im folgenden genannten Entwürfe zu einem neuen deutschen StGB sind abgedruckt bei: Baumann, Paragraph 175, S. 123ff. Vgl. auch Sievert, Das anomale Bestrafen, S. 49ff. sowie Sommer, Strafbarkeit der Homosexualität, S. 175ff. 108 Im Juli 1924 wurde in Hannover der homosexuelle Gelegenheitsarbeiter Haarmann, der über 30 Morde an zumeist jungen erwerbslosen Männern begangen hatte, festgenommen. Vgl. hierzu Eissler, Arbeiterparteien, S. 101. 109 Ein neues Strafgesetzbuch auf nationalsozialistischer Rechtsgrundlage wurde bis zum Ende des „Dritten Reiches“ nicht verabschiedet; entsprechende Bemühungen scheiterten letztendlich am Veto Hitlers, dem ein bis in alle Einzelheiten kodifiziertes Strafgesetzbuch vermutlich nicht flexibel genug war. Vgl. hierzu beispielsweise Teil VII, Kapitel 1 und 2 bei Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 746-822. 110 Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, S. 27. 148

§ 175, deren Erfordernis auf „üble[n] Erfahrungen der letzten Zeit“112 – gemeint waren die Vorgänge im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre – zurückgeführt wurde. In der amtlichen Begründung der Strafrechtsnovelle finden sich die Argumente wieder, die im nationalsozialistischen Schrifttum die Forderungen nach einer repressiven Antihomosexuellenpolitik begleitet hatten. Zum einen wurde auf die vermeintliche bevölkerungspolitische Gefahr der Homosexualität verwiesen: Der „neue Staat“ müsse „allem widernatürlichen geschlechtlichen Treiben mit Nachdruck begegnen“, da er „ein an Zahl und Kraft starkes“ Volk erstrebe. Die „gleichgeschlechtliche Unzucht zwischen Männern“ müsse er besonders scharf bekämpfen, da sie „erfahrungsgemäß die Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung“ habe und einen „verderblichen Einfluß auf das ganze Denken und Fühlen der betroffenen Kreise“ ausübe113. In diesem Sinne hatte Graf von Gleispach im Hinblick auf die „Neugestaltung der Sittlichkeitsdelikte im kommenden Strafgesetzbuch“ darauf hingewiesen, daß „der hohe Wert von Zeugungskraft und gesundem Zeugungswillen, Familie und Mutterschaft“ auch im Strafgesetzbuch zum Ausdruck kommen sollte114. Zum anderen wurde auf moralische Aspekte, insbesondere auf das „Interesse der sittlichen Gesunderhaltung des Volkes“115, verwiesen. Im „Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission“ hieß es dann auch: „Starker Schutz der geschlechtlichen Sittlichkeit und der Gesundung des geschlechtlichen Verkehrs durch die Gestaltung der Tatbestände und die der Strafdrohungen muß das Ziel sein. Denn die Sittlichkeit [...] gehört zu den Grundlagen gedeihlichen Volkslebens.“116 Die Neuformulierung des § 175 in der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 sollte eine „energische Bekämpfung der gleichgeschlechtlichen Unzucht unter Männern“ besonders dadurch ermöglichen, daß die „bedenkliche Lücke der geltenden Vorschrift gegen die Unzucht mit Männern“ – gemeint war die Beschränkung der „widernatürlichen Unzucht“ auf „beischlafähnliche“ Handlungen – geschlossen werde. Zu diesem Zweck wurde in der Neufassung des § 175 anstelle des Ausdrucks „widernatürliche Unzucht“ der Begriff „Unzucht“ verwendet, worunter „jede Art gleichgeschlechtlicher Unzucht zwischen Männern“ fiel117. In der neuen Fassung des § 175 hieß es:

111 Schäfer, Die Einzelheiten der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935, S. 994ff. 112 Ebd., S. 997. 113 Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, S. 38f. 114 Wenzeslaus von Gleispach: Zur Neugestaltung der Sittlichkeitsdelikte im kommenden Strafgesetzbuch. In: KM 9 (1935), S. 1-2, hier S. 1. 115 Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, S. 39. 116 Wenzeslaus von Gleispach: Unzucht. In: Das kommende deutsche Strafrecht. Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission, hg. von Franz Gürtner. Berlin 1936, S. 116-129, hier S. 116. 117 Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, S. 39. 149

„Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft. Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.“118

Mit dem Wegfall des Ausdrucks „widernatürliche Unzucht“ und damit des Abgrenzungskriteriums der „beischlafähnlichen“ Handlung erfuhr der Straftatbestand der Homosexualität eine erhebliche Ausweitung. Bestraft werden konnten von nun an praktisch alle Manifestationen homosexuellen Verkehrs, darunter auch die gegenseitige Onanie119. Lediglich für Jugendliche wurde eine Ausnahme gemacht: Diese konnten bei Vorliegen nicht-„beischlafähnlicher“ Handlungen straffrei bleiben, da die Gefahr gesehen wurde, daß eine Bestrafung als geringfügig erachteter Delikte erhebliche negative Konsequenzen haben würde.

Mit der Neueinführung des § 175a wurden die sog. qualifizierten Straftatbestände der Homosexualität – die sexuelle Nötigung, der Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses, die Verführung Minderjähriger sowie die männliche Prostitution – als „schwere Unzucht“ bewertet und mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus oder Gefängnishaft nicht unter drei Monaten bestraft. § 175a, der im wesentlichen auf § 297 des Strafrechtsentwurfs von 1930 zurückging, lautete:

„Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft:

1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gewalt für Leib und Seele oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, 3. ein Mann über 21 Jahren, der eine männliche Person unter 21 Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, 4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.“120

Mit der Änderung des § 175 war die Kontroverse um dessen Inhalte keinesfalls abgeschlossen. Im Rahmen der Diskussion über ein neues Strafgesetzbuch auf nationalsozialistischer Rechtsgrundlage wurden weitere gesetzesändernde – und zwar in der Regel gesetzesverschärfende – Vorschläge auch zum Straftatbestand der Homosexualität gemacht. So forderte Frank, daß Übertretungen des § 175 künftig auch mit Zuchthausstrafen geahndet werden sollten, und befürwortete darüber hinaus bei

118 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, 28.6.1935. Abgedruckt in: RGBl. I 1935, S. 839-843, hier S. 841. Die „widernatürliche Unzucht [...] von Menschen mit Tieren“ wurde aus dem § 175 herausgelöst und durch den neueingeführten § 175b unter Strafe gestellt. 119 Zur Auslegung des § 175 neue Fassung vgl. Kapitel 4.1.6.4. 150

Verstößen gegen § 175a die Kastration zumindest derjenigen Homosexuellen, deren Homosexualität man für genetisch bedingt hielt121. In seiner Doktorarbeit zum Thema „Homosexualität und Strafrecht“ kritisierte auch Rudolf Klare die Neufassung des § 175 in der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 als noch nicht „endgültige und ideale Lösung“. Klares Anschauungen bezüglich der Strafrechtsbestimmungen zur Homosexualität waren geprägt durch die nationalsozialistische Rechtsauffassung: Oberste Priorität auch beim strafrechtlichen Vorgehen gegen Homosexuelle habe der Leitsatz: „Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, was ihm schadet, Unrecht“, auch wenn hierdurch für „gewisse Einzelfälle [...] manche Härte“ entstehen würde122. Klare forderte neben der Ausdehnung des § 175 auf homosexuelle Handlungen von Frauen auch die Aufhebung des „besonders leichten Falles“ im Sinne des § 175/2 sowie die Erhöhung des Strafmaßes bei einer Verurteilung nach § 175, insbesondere die Einführung der Zuchthausstrafe sowie die Möglichkeit der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte123. Schließlich sah Klare auch „die Heraufsetzung der Schutzaltersgrenze für diese Verbrechen auf mindestens das 25. Lebensjahr für unumgänglich“ an124.

Die Forderungen nach einer nochmaligen Verschärfung der Strafrechtsbestimmungen zur Homosexualität blieben im Reichsjustizministerium nicht unbeachtet. Der Entwurf zum Strafgesetzbuch vom Oktober 1937 sah im § 215 erstmals Zuchthausstrafen für homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen vor. Nach § 216 sollte außerdem für die bislang unter § 175a gefaßten Straftatbestände die Mindeststrafe von drei auf sechs Monate Gefängnis erhöht werden125. Die Verabschiedung eines neuen Strafgesetzbuches wurde jedoch immer wieder aufgeschoben und scheiterte schließlich am Veto Hitlers. Der § 175 blieb in der Fassung von 1935 bis zum Ende des „Dritten Reiches“ – und darüber hinaus – bestehen.

4.1.3.3. § 129 I des Österreichischen Strafgesetzbuches

In Österreich wurde nach 1938 das deutsche Strafrecht bei politischen sowie bei sog. Rassendelikten eingeführt; im übrigen galt das österreichische Recht weiter. Der seit 1852 gültige § 129 I des Österreichischen Strafgesetzbuches sah vor, daß „Unzucht wider die Natur, das ist a) mit Tieren, b)

120 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, 28.6.1935. Abgedruckt in: RGBl. I 1935, S. 839-843, hier S. 841. 121 Stellungnahme des Reichsministers Dr. Frank zum Amtlichen Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches §§ 133 bis 273 (1937). BA R 22/854, fol. 455-546, hier fol. 510. 122 Rudolf Klare: Homosexualität und Strafrecht. Hamburg 1937, S. 121f. 123 Ebd., S. 127. 124 Ebd., S. 132. 125 Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches. BA R 22/855, fol. 224-254, hier fol. 238f. 151 mit Personen gleichen Geschlechts“ mit „schwerem Kerker“ von einem bis fünf Jahren bestraft werde126. Als „Unzucht wider die Natur“ galten auch nach dem sog. Anschluß zunächst „nur beischlafähnliche und onanistische Akte, also solche, die nach ihrer Art regelmäßig geeignet sind, eine geschlechtliche Befriedigung entsprechend der mit dem natürlichen Beischlaf verbundenen herbeizuführen“, so die Entscheidung des 6. Strafsenats des Reichsgerichts vom 17. Oktober 1939. Danach war „nicht jede unzüchtige Berührung des Körpers einer Person desselben Geschlechts [...] Unzucht im Sinne des § 129 I StGB“, dies auch dann nicht, „wenn die Geschlechtsteile der anderen Person betastet werden und das Betasten auf erregten Geschlechtstrieb zurückzuführen oder zu dessen Erregung oder Befriedigung bestimmt ist“127. Diese Rechtsauslegung rief die Kritik des Reichsjustizministeriums hervor. Anlaß war ein Urteil gegen einen Theologieprofessor, der mehrere Jugendliche „Brust an Brust fest an sich gedrückt, [...] geküßt [und] oberhalb der Kleider an den Oberschenkeln in der Gegend des Geschlechtsteiles betastet“ habe und von einem Vergehen nach § 129 I ÖStG freigesprochen worden war128. Gefordert wurde, daß „nach der Wiedervereinigung der Ostmark mit dem Deutschen Reich“ jede Handlung, die „auf erregten Geschlechtstrieb zurückzuführen oder zu dessen Erregung oder Befriedigung bestimmt ist und den sittlichen Anstand in geschlechtlicher Beziehung gröblich verletzt“, als „Unzucht“ definiert werde. Auf diese Weise sollte „eine dem § 175 (neue Fassung) entsprechende Auslegung des § 129 I b ÖStG“ erfolgen – „auch soweit es sich um die gleichgeschlechtliche Unzucht zwischen Frauen handelt“, die nach österreichischem Recht strafbar war, wogegen der § 175 ausschließlich die männliche Homosexualität unter Strafe stellte129. Immer wieder wurde betont, daß der Wortlaut des § 129 I ÖStG eine Auslegung entsprechend der seit 1935 geltenden Fassung des § 175 durchaus zulasse, weshalb die ebenfalls angeregte „Einführung des § 175 in der Ostmark“ nicht nötig sei130. Über die erfolgte Angleichung der Spruchpraxis „bezüglich des Begriffs Unzucht zwischen Personen desselben Geschlechts“ konnte Oberreichsanwalt Brettle Staatssekretär Freisler schließlich im November 1940 in Kenntnis setzen131.

126 Vgl. zur Geschichte der Homosexualität in Österreich Gudrun Hauer: Lesben- und Schwulengeschichte – Diskriminierung und Widerstand. In: Homosexualität in Österreich, hg. von Michael Handl [u.a.]. Wien 1989, S. 50-65. 127 Aktennotiz aus dem Reichsjustizministerium, o.D.; BA R 22/970, fol. 21. 128 Vgl. auch die Kritik in dem Artikel „Das fehlte gerade noch“; in: Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP. Organ der Reichsführung SS, 15.2.1940. 129 Mitteilung an Herrn Kammergerichtsrat Jaekel, 19.3.1940; BA R 22/970, fol. 36f. 130 Schreiben des Staatssekretärs Dr. Freisler an Reichsgerichtspräsident Dr. Bumke, vermutlich vom 21.3.1940; BA R 22/970, fol. 24. 131 Schreiben des Oberreichsanwalts Brettle an das Reichsjustizministerium, Staatssekretär Dr. Freisler, 27.11.1940; BA R 22/970, fol. 47. 152

4.1.3.4. Das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933

Nur knappe zehn Monate nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten bewirkte der Erlaß des sog. Gewohnheitsverbrechergesetzes, das zum Jahresanfang 1934 in Kraft trat, eine grundlegende Neuerung des strafrechtlichen Sanktionssystems. Wegen seiner Dringlichkeit der beabsichtigten allgemeinen Strafrechtsreform vorgezogen, ermöglichte das Gesetz den Organen der Justiz den Zugriff auf einen ähnlichen Kreis als „kriminell“ definierter Personen, der auch durch den fast gleichzeitig verabschiedeten Erlaß zur „Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“132 erfaßt war. Das Gesetz richtete sich, wie im Titel betont wurde, gegen „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und enthielt neben Strafvorschriften sog. Maßregeln der Sicherung und Besserung, darunter die Sicherungsverwahrung. Diese war bereits vor dem Erlaß des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ Gegenstand zahlreicher Gesetzesentwürfe gewesen133 und blieb auch im Strafgesetzbuch von 1953 bestehen.

4.1.3.4.1. Die Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (§ 20a)

Der in das deutsche Strafgesetzbuch eingefügte § 20a sah eine Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ vor. Diese war zwingend vorzunehmen, wenn jemand, der bereits zweimal rechtskräftig zu einer mindestens sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, „durch eine neue vorsätzliche Tat eine Freiheitsstrafe verwirkt[e]“ und „die Gesamtwürdigung der Taten“ ergab, daß er als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ anzusehen sei (Absatz 1). Die fakultative Strafschärfung des Absatzes 2 sah vom Erfordernis bestimmter Vorverurteilungen ab. Eine Verurteilung nach § 20a konnte erfolgen, wenn eine Person mindestens drei vorsätzliche Taten begangen hatte. Unter der Voraussetzung, daß das Gericht erkannte, daß es sich bei dem Täter um einen „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ handelte, konnte es jede Einzeltat verschärfen. Absatz 3 schränkte die Berücksichtigung von Vorverurteilungen und Vortaten ein: Eine Strafschärfung war danach nicht zulässig, wenn zwischen einer früheren Verurteilung – bzw. im Fall der Strafschärfung nach Absatz 2 zwischen der früheren begangenen, aber noch nicht rechtskräftig abgeurteilten Tat –

132 Vgl. Kapitel 3.2.1.1. 133 So in dem auf den sog. Vorentwurf des Jahres 1909 folgenden Gegenentwurf von 1911 sowie in den anschließenden Entwürfen der Jahre 1913 bis 1930. Vgl. hierzu Otto Rietzsch: Die Abwehr des Gewohnheitsverbrechertums. In: DJ 100 (1938), S. 134-142, hier S. 136ff. 153 und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen waren, in denen der Täter sich in Freiheit befunden haben mußte134.

Das Gesetz vom 24. November 1933 unterschied somit zwischen dem mehrfach vorbestraften Gewohnheitsverbrecher (Absatz 1) und dem mehrfach straffällig gewordenen Gewohnheitsverbrecher (Absatz 2), dem es gelungen war, über einen langen Zeitraum unentdeckt zu bleiben. Für die Anwendung des § 20a mußten jeweils objektive Kriterien – Vorverurteilungen bzw. Vortaten – sowie subjektive Kriterien – die Einschätzung der betroffenen Person als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ – erfüllt sein. Nach der amtlichen Begründung des Gesetzes war der „Gewohnheitsverbrecher“ positiv durch einen „Hang zum Verbrechen“ gekennzeichnet und negativ durch den Gegensatz zu den sog. Zufalls- und Gelegenheitsverbrechern bestimmt135; die Art des Delikts war dabei nicht von Bedeutung. Das Reichsgericht definierte bald nach Inkrafttreten des Gesetzes den „Gewohnheitsverbrecher“ als „eine Persönlichkeit, die infolge eines auf Grund charakterlicher Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen inneren Hanges wiederholt Rechtsbrüche begeht oder zur Wiederholung von Rechtsbrüchen neigt“136. Entscheidend war also das Vorhandensein eines Hanges und nicht die Art und Weise seines Zustandekommens. Die Umorientierung des nationalsozialistischen Strafrechts auf die Täterpersönlichkeit findet hier deutlichen Ausdruck – die Strafschärfung galt nicht der Tat, sondern dem Täter. So entschied auch das Reichsgericht: „Die Täterpersönlichkeit und ihre Gefährlichkeit sind es, die den Grund der Strafschärfung abgeben“137. Eine gewisse Einschränkung erfuhr der weit gesteckte Rahmen des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ durch das Merkmal der „Gefährlichkeit“, das den nach § 20a zu verurteilenden sog. Gewohnheitsverbrecher kennzeichnen mußte. Als „gefährlich“ galt dieser, wenn „mit Rücksicht auf die bisherige Häufung seiner Straftaten und die bisher gezeigte Hartnäckigkeit und Stärke des verbrecherischen Willens“ eine „bestimmte Wahrscheinlichkeit“ bestehe, daß auch „in der Zukunft von dem Rechtsbrecher eine erhebliche Störung des Rechtsfriedens“ zu erwarten sei138. Ausschlaggebend für die Einschätzung der Gefährlichkeit des Täters war also nach Ansicht des Reichsgerichts die Rückfallprognose. Hierbei wurde auf kriminalbiologische Vorstellungen

134 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 24.11.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 995-999, hier S. 995. 135 Vgl. hierzu Werle, Justiz-Strafrecht, S. 90. 136 „Zur Anwendung des Art. 5 Nr. 2 des Ges. gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßnahmen der Sicherung und Besserung v. 24. November 1933.“ In: RGSt 68 (1934), S. 149-158, hier S. 155. 137 „Kann die Revision auf den Ausspruch über die Sicherungsverwahrung beschränkt werden, wenn die Strafe nach § 20a StGB geschärft und nach § 42e daselbst die Sicherungsverwahrung angeordnet ist? Ergreift die so beschränkte Revision den Schuldspruch?“ In: RGSt 68 (1935), S. 385-392, hier S. 390. 154 zurückgegriffen: Gemäß der nationalsozialistischen Tätertypenlehre wurde für die Prognose des zukünftigen Verhaltens der „Einzelfall“ als „Vertreter eines Typs, über dessen Würdigung sich praktische Erfahrungen bereits gebildet haben“, angesehen und die Aussage über die Rückfallwahrscheinlichkeit aus den zu „bestimmte[n] Persönlichkeitstypen“ gesammelten Erfahrungen abgeleitet139. Durch das Erfordernis der Erheblichkeit sollten „unbeträchtliche Taten und Strafen“ als Vorstrafen bzw. Vortaten ausgeschlossen werden, darunter „fahrlässige Delikte, Übertretungen“ sowie „solche vorsätzliche[n] Straftaten, für die nur Geldstrafe oder minder erhebliche Freiheitsstrafen verwirkt waren“. Keineswegs sollte jedoch „der Kreis der Vortaten zu eng gezogen“ und ausschließlich Taten, die zur Verhängung einer Zuchthausstrafe geführt hatten, einbezogen werden140. Nach dem Gesetzeswortlaut sollte sich die Einschätzung eines Straftäters als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ zudem aus einer „Gesamtwürdigung der Taten“ ergeben. Die Gesamtwürdigung blieb nicht auf die begangenen Taten beschränkt, sondern diese wurden vielmehr als Folge des dem Täter eigenen verbrecherischen Hanges angesehen – die Tat sollte „symptomatische Bedeutung für die Gefährlichkeit des Täters haben“141. Außer den Taten ging auch die Einschätzung von Herkunft, Erziehungsverhältnissen und Ursachen der Kriminalität in die Gesamtwürdigung des Täters ein142.

4.1.3.4.2. Die Maßregeln der Sicherung und Besserung (§§ 42a ff.)

Das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ sah neben der Strafschärfung die Erweiterung strafrechtlicher Sanktionen um die Maßregeln der Sicherung und Besserung vor. Diese dienten als Ergänzung zur Strafe und keineswegs als deren Ersatz. Nach § 42n des Gesetzes war es möglich, daß mehrere Maßregeln der Sicherung und Besserung nebeneinander angeordnet wurden. Folgende Maßregeln werden genannt (§ 42a):

1. die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, 2. die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt, 3. die Unterbringung in einem Arbeitshaus,

138 „Zur Anwendung des Art. 5 Nr. 2 des Ges. gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßnahmen der Sicherung und Besserung v. 24. November 1933.“ In: RGSt 68 (1934), S. 149-158, hier S. 155f. 139 Exner, Aufgaben der Kriminologie, S. 7. 140 Rietzsch, Abwehr des Gewohnheitsverbrechertums, S. 141. 141 Franz Exner: Das System der sichernden und bessernden Maßregeln nach dem Gesetz v. 24. November 1933. In: ZStW 53 (1934), S. 629-655, hier S. 638. 155

4. die Sicherungsverwahrung, 5. die Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher, 6. die Untersagung der Berufsausübung, 7. die Reichsverweisung.

Es sollen im folgenden ausschließlich Maßregeln, die als Homosexuelle Verurteilte betrafen, erörtert werden. Dies waren die Sicherungsverwahrung sowie – im Fall einer Verurteilung nach § 176,3 – die sog. Entmannung.

Die Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung, deren Anordnung auch frühere Gesetzesentwürfe bereits vorsahen143, waren in § 42e des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ geregelt. Danach war die Sicherungsverwahrung vom Gericht zwingend neben der Strafe anzuordnen, wenn jemand nach § 20a als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ verurteilt war und die „öffentliche Sicherheit“ diese Maßregel erforderte144. Die Prognose der Gefährlichkeit des Täters für die „öffentliche Sicherheit“ lag im Ermessen des Richters und bezog sich auf den Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft. Zweck der Maßregel war es, „einen ausreichenden Schutz der Allgemeinheit [zu] verbürgen“; diesem waren jegliche Individualinteressen unterzuordnen145. Die Sicherungsverwahrung war im Anschluß an die Freiheitsstrafe in Anstalten der Justizverwaltung zu vollziehen und unterlag keiner zeitlichen Begrenzung (§ 42f/1). § 42f/3 sah nach Ablauf von drei Jahren eine richterliche Prüfung über die Fortdauer der Maßregel vor; eine Entlassung war jedoch auch innerhalb dieser Frist möglich (§ 42f/4). Die Entlassung galt als bedingte Aussetzung der Sicherungsverwahrung und konnte unter Auflagen erfolgen (§ 42h/1).

In der Praxis erlangte die Sicherungsverwahrung erhebliche Bedeutung: Allein im ersten Jahr nach Inkrafttreten des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ wurde gegen 3.723 Personen die Sicherungsverwahrung angeordnet; vermutlich handelte es sich dabei vielfach um rückwirkende

142 Vgl. hierzu Franz Exner: Wie erkennt man den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher? In: DJ o.B. (1943), S. 377- 379, hier S. 378f. 143 Vgl. hierzu Anm. 67 bei Werle, Justiz-Strafrecht, S. 95. 144 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 24.11.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 995-999, hier S. 996. 145 Vgl. hierzu: „Wann erfordert die öffentliche Sicherheit die Sicherungsverwahrung?“ In: RGSt 68 (1934), S. 271f. sowie: „Die Sicherungsverwahrung ist anzuordnen, wenn die größere Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß die Strafverbüßung den Täter nicht davon abhalten wird, weitere erhebliche Straftaten zu begehen.“ In: RGSt 72 (1938), S. 295f. 156

Anwendungen des § 42e146. Insgesamt wird die Zahl der zwischen 1934 und 1945 zu Sicherungsverwahrung verurteilten Personen auf ca. 16.000 geschätzt147.

Als weitere Maßregel konnte im Rahmen des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ die sog. Entmannung (Kastration) gegenüber Straftätern gerichtlich angeordnet werden148. Wie die Sicherungsverwahrung, bei der „die gefährliche Person [...] durch Entziehung der Bewegungsfreiheit [...] unschädlich gemacht wird“, zählte Franz Exner auch die „Entmannung“ zu den sichernden Maßregeln, da sie „dem Individuum [...] bestimmte Angriffsmöglichkeiten“ raube149. Für das deutsche Strafrecht wurde mit der Einführung der zwangsweisen sog. Entmannung „gesetzgeberisches Neuland“ betreten150. Zweck der Maßnahme sollte laut amtlicher Begründung sein, „die Allgemeinheit vor weiteren Sittlichkeitstaten des Täters durch Vernichtung oder Schwächung seines entarteten Triebes zu sichern“151. Neben dieser kriminologisch begründeten Zielsetzung wurde der „rassenhygienische“ Nebeneffekt – die Unfruchtbarmachung der als „minderwertig“ angesehenen Straftäter – begrüßt152. Die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen der Kastration wurden durchaus gesehen153 und um der „höherwertigen Interessen der Allgemeinheit willen“154 bewußt in Kauf genommen: die „Entmannung“ konnte auch dann angeordnet werden, „wenn mit ihr voraussichtlich eine – nicht gerade lebensgefährliche – Verschlechterung des Gesundheitszustandes verbunden“ war155. Die Durchführung der Kastration und ihre Folgen wurden von den Kriminalbiologischen Sammelstellen ausgewertet und waren Gegenstand zahlreicher

146 Werle, Justiz-Strafrecht, S. 97. 147 Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft, S. 71. 148 Vgl. hierzu allgemein Geoffrey J. Giles: „The Most Unkindest Cut of All“: Castration, Homosexuality, and Nazi Justice. In: JCH 27 (1992), S. 41-61. 149 Exner, System der sichernden und bessernden Maßregeln, S. 632. 150 Werle, Justiz-Strafrecht, S. 100. 151 Zit. nach ebd. 152 Die Kastration wurde von der Sterilisation erst ab ca. 1910 unterschieden, und beide Maßnahmen wurden getrennt voneinander auf ihre unterschiedlichen Zwecke hin diskutiert. Damit begann sich der kriminologisch- psychiatrische Diskurs, dem es um den „Geschlechtstrieb“ ging, von dem „rassenhygienischen“ Diskurs, in dessen Zentrum die Unfruchtbarmachung „Minderwertiger“ stand, zu trennen. Vgl. hierzu ausführlich Georg Breidenstein: Geschlechtsunterschied und Sexualtrieb im Diskurs der Kastration Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, hg. von Christiane Erfurt [u.a.]. Frankfurt/M. 1996, S. 216-239, hier S. 231. 153 Vgl. beispielsweise Otto Rietzsch: Das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933. In: DJ 95 (1933), S. 741-749. 154 Amtliche Begründung, zit. nach Werle, Justiz-Strafrecht, S. 101. 155 „§ 42b, e, k, n StGB. Verhältnis der Sicherungsmaßregeln zueinander. Bedeutung des Wunsches des Täters, entmannt zu werden.“ In: DJ 97 (1935), S. 599-601, hier S. 600. 157 wissenschaftlicher Untersuchungen156. Die Forderung des Anstaltsleiters von Zwickau, Hans Finke, eine „Reichszentrale für Kastrationsuntersuchungen“ einzurichten, wurde jedoch nicht erfüllt157.

Die „Entmannung“ konnte grundsätzlich nur zusätzlich zu einer Strafe veranlaßt werden; ihre Anordnung war im „Gewohnheitsverbrechergesetz“ fakultativ. Voraussetzung hierfür war in objektiver Hinsicht ein Mindestalter des Straftäters von 21 Jahren sowie nach Absatz 1 eine Verurteilung zu einer mindestens sechsmonatigen Freiheitsstrafe wegen eines begangenen Sittlichkeitsdelikts, das nach §§ 176-178 (Unzucht mit Kindern, Notzucht), § 183 (Erregung öffentlichen Ärgernisses) oder §§ 223-226 (gleichzeitige Körperverletzung) abgeurteilt wurde. Zusätzlich mußte die betreffende Person mindestens einmal wegen eines solchen Delikts zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sein. Ähnlich wie § 20a/2 sah auch § 42k/2 vom Erfordernis einer Vorverurteilung ab, wenn der Täter für mindestens zwei der oben beschriebenen Taten zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt war. Sowohl nach Absatz 1 als auch nach Absatz 2 mußte zusätzlich zu diesen objektiven Voraussetzungen in subjektiver Hinsicht die „Gesamtwürdigung der Taten“ ergeben, daß es sich bei dem Täter um einen „gefährliche[n] Sittlichkeitsverbrecher“ handelte. Die „Entmannung“ konnte ferner auch ohne Vorliegen einer Vortat angeordnet werden, wenn ein zur Befriedigung des Geschlechtstriebes begangener Mord oder Totschlag abgeurteilt wurde (Absatz 3). Die Regelung der Rückfallverjährung wurde aus § 20a übernommen158. Nach den Angaben der Kriminalstatistik wurden im Zeitraum von 1934 bis 1939 knapp 2.000 „Entmannungen“ gerichtlich angeordnet; für die gesamte Dauer der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland schätzt Rainer Möhler die Zahl auf über 3.000 Fälle159.

156 Hans Finke: Die ersten 50 Entmannungen gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher im Oberlandesgerichtsbezirk Dresden. In: DStR (N.F.) 8 (1941), S. 186-197. Vgl. hierzu auch den Vorschlag von Carl-Heinz Rodenberg: Schaffung gesetzlicher Maßnahmen für die Möglichkeit zwangsweiser Fachuntersuchung in Freiheit befindlicher, gemäß § 42k StGB und § 14, 2 G.z.V.e.N. Entmannter. In: DJ 103 (1941), S. 596f. Vgl. auch Günter Grau: „Unschuldige“ Täter. Mediziner als Vollstrecker der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 28 (Dezember 1998), S. 5-28. 157 Hans Finke: Eine Reichszentralstelle für Kastrationsuntersuchungen. In: DJ 96 (1934), S. 1472f. Die Antwort erfolgte durch den zuständigen Ministerialrat Weddige: Nochmals: Reichszentrale für Kastrationsuntersuchungen. In DJ 96 (1934), S. 1503. Rodenberg erinnerte 1942 erneut an die Forderung Finkes: Carl-Heinz Rodenberg: Über die Notwendigkeit einer Zentralisierung der Kastrationsuntersuchungen. In: DJ 104 (1942), S. 792f. 158 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 24.11.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 995-999, hier S. 997. 159 Rainer Möhler: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel des Saarlandes. In: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Am Beispiel des Saarlandes, hg. von Heike Jung; Heinz Müller- Dietz. Baden-Baden 1996, S. 9-301, hier S. 79ff. 158

Nach §§ 175, 175a straffällig gewordene Homosexuelle waren von der Anordnung der zwangsweisen „Entmannung“ nach § 42k ausgenommen. Diese Lücke war vom Gesetzgeber bewußt gelassen, da keine gesicherten Kenntnisse über die Auswirkungen der Kastration bei Homosexuellen vorlagen160. Immer wieder wurde jedoch versucht, eine mögliche Änderung der „Triebrichtung“ 161 bzw. zumindest eine „Kalmierung“162 des Sexualtriebes durch die „Entmannung“ nachzuweisen, um so die Einbeziehung von Straftaten nach §§ 175, 175a in den § 42k zu erreichen. Noch im November 1941 kritisierte der Generalstaatsanwalt des Oberlandesgerichts Hamburg, es werde „bei der Bekämpfung der Homosexualität als ausgesprochener Mangel empfunden, daß die Entmannung Homosexueller durch Urteil der Strafgerichte nicht angeordnet“ werden könne. Die „umfangreiche[] Erfahrung [...] in Hamburg“ habe gezeigt, daß „die Entmannung auch bei Homosexuellen das wirksamste und praktisch nie versagende Mittel zur Beseitigung jeglicher Rückfallgefahr“ darstelle. Von den Betroffenen werde die „Entmannung“, so die Meinung des Oberstaatsanwalts, „keineswegs als so schwerer Eingriff empfunden [...], wie man anzunehmen geneigt sein möchte“, vielmehr sei „die Befreiung von einem unseligen Geschlechtstriebe, dessen Betätigung nur die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung und ständige Angst vor ihr mit sich bringt“, von vielen „als geradezu erlösend“ aufgenommen worden163. In einem Antwortschreiben wurde der hamburgische Oberstaatsanwalt damit vertröstet, „bei einer gelegentlichen Rücksprache in Berlin“ auf „die Erweiterung der Zulässigkeit der Entmannung auf die Fälle homosexueller Verfehlungen“ zurückzukommen. Staatssekretär Freisler gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß „Homosexuelle vielfach von ihren Verfehlungen abgebracht würden, sobald sich ein geeigneter weiblicher Geschlechtspartner für sie finde“, weshalb es bedenklich sei, wenn im Fall der Erweiterung des § 42k „von der Entmannung bei Homosexuellen vorzeitig unnötiger Gebrauch gemacht“ werde164. Die gerichtliche Anordnung der zwangsweisen „Entmannung“ wurde im „Dritten

160 „Unter welchen Umständen ist die Anordnung der Entmannung bei einer aus gleichgeschlechtlicher Veranlagung begangenen, aber aus den rechtlichen Gesichtspunkten des § 176/1 Nr.3 StGB abgeurteilten Straftaten zulässig?“ In: RGSt 68 (1935), S. 292-294. Vgl. auch: „§ 42k StGB. Die Anordnung der Entmannung ist auch dann zulässig, wenn sich der Angeklagte nur einer Unzucht mit Kindern (§ 176/1 Nr. 3 StGB) schuldig gemacht hat, die auf einer ausgesprochen gleichgeschlechtlichen Veranlagung beruht; nur ist in derartigen Fällen die Frage besonders sorgfältig zu prüfen, ob die Allgemeinheit infolge einer Entmannung vor weiteren Untaten des Angeklagten voraussichtlich verschont bleiben wird.“ In: DJ 99 (1937), S. 862. 161 Carl-Heinz Rodenberg: Zur Frage des kriminaltherapeutischen Erfolges der Entmannung homosexueller Sittlichkeitsverbrecher. In: DJ 104 (1942), S. 581-587; Otto Weissenrieder: Wirkung der Entmannung bei einem Homosexuellen. In: BlfGefK 67 (1936), S. 87-90. 162 Georg Xingas: Die Kastration als Sicherungsmaßnahme gegen Sittlichkeitsverbrecher. Berlin 1936, S. 42. 163 Schreiben des Generalstaatsanwalts beim Oberlandesgericht Hamburg an Staatssekretär Dr. Freisler, 11.11.1941; BA R 22/845, fol. 600. 164 Vermerk StS. Dr. Freisler; ebd., fol. 603. 159

Reich“ nicht eingeführt; mit dem Änderungsgesetz zum Erbgesundheitsgesetz vom 26. Juni 1936 wurde jedoch die Möglichkeit der „freiwilligen“ Kastration von Homosexuellen geschaffen165.

4.1.3.5. Das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4. September 1941

Mit dem Änderungsgesetz zum Reichsstrafgesetzbuch vom 4. September 1941 wurden die Strafbestimmungen für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (§ 20a) sowie für Sittlichkeitsverbrecher, die nach §§ 176 bis 178 verurteilt wurden, nochmals verschärft. Gegen diese sollte nach § 1 der Gesetzesänderung die Todesstrafe verhängt werden, wenn es „der Schutz der Volksgemeinschaft“ oder das „Bedürfnis nach gerechter Sühne“ erforderten166.

Die für das nationalsozialistische Rechtsdenken typische Unterordnung der Interessen des Individuums unter den „Schutz der Volksgemeinschaft“167 fand in dieser Gesetzesänderung erkennbaren Ausdruck. Nach dem „Wille[n] des Gesetzgebers“ sollten „ der gefährliche Gewohnheitsverbrecher und der Sittlichkeitsverbrecher aus der Volksgemeinschaft ausscheiden [...], deren gemeinschaftsschädliche Gesinnung so gefährlich ist oder deren Taten sie so schwer mit Schuld beladen, daß ihr Fortleben für die Volksgemeinschaft unerträglich ist“168. Grundlage der Einschätzung eines Straftäters als einen der Todesstrafe verfallenden „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ bzw. Sittlichkeitsverbrecher war die Persönlichkeitswertung durch das erkennende Gericht: Entscheidend bei der Urteilsfindung nach § 1 sollte „der Wert oder Unwert der Persönlichkeit des Täters [...], vor dem die Allgemeinheit geschützt werden soll“, sein169.

Als Tätertypen wurden im Gesetzestext der „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ sowie der „Sittlichkeitsverbrecher“ genannt. Der „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ war durch § 20a des Gesetzes vom 24. November 1933 definiert; ein zusätzliches besonderes Tätertypenerfordernis zur Anwendung des § 1 lehnte das Reichsgericht ab, da dies eine nicht gewollte „Milderung der

165 Vgl. Kapitel 4.1.6.3.3. 166 Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches, 4.9.1941. Abgedruckt in: RGBl. I 1941, S. 549f., hier S. 549. 167 Zur Interpretation des § 1 der Strafgesetzbuchänderung hinsichtlich der Inhalte „Schutz“ und „Sühne“ vgl. Werle, Justiz-Strafrecht, S. 316ff. 168 „Für die Frage, ob in Anwendung des § 1 G. v. 4. September 1941 RGBl. I S. 549 der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne die Todesstrafe erfordert, ist der Wert oder Unwert der Persönlichkeit des Täters entscheidend.“ In: RGSt 76 (1943), S. 91-94, hier S. 92. (Hervorhebungen im Original). 169 Ebd., S. 93. 160

Gesetzesstrenge“ darstelle170. „Sittlichkeitsverbrecher“ war nach dem Wortlaut des Gesetzes und nach der Reichsgerichtssprechung jeder, der nach §§ 176-178 strafbare Handlungen begangen hatte. Als weitere Voraussetzung der Zulässigkeit der Todesstrafe wurde allein das Schutz- und Sühnebedürfnis geprüft. Auf Homosexuelle, sofern sie ausschließlich nach §§ 175, 175a verurteilt waren, konnte § 1 der Gesetzesänderung vom 4. September 1941 dementsprechend nur angewendet werden, wenn sie nach § 20a als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ galten. Als „Sittlichkeitsverbrecher“ konnten gleichgeschlechtlich empfindende Männer allerdings dann nach § 1 mit dem Tod bestraft werden, wenn sie aufgrund von homosexuellen Handlungen mit Minderjährigen nach § 176 verurteilt wurden. Über die Anwendung des § 1 gegen homosexuelle Männer im „Dritten Reich“ liegen bisher keine Informationen vor. Burkhard Jellonnek verweist auf vier durch das Sondergericht Wien verhängte Todesurteile gegen nach § 176 verurteilte Homosexuelle171. Offen bleibt, nach welchen Kriterien und in welchem Ausmaß von der Verhängung der Todesstrafe nach § 1 der Strafrechtsänderung gegenüber homosexuellen Männern Gebrauch gemacht wurde172.

4.1.4. Das Verhältnis von polizeilicher und strafrechtlicher Zuständigkeit für die Freiheitsentziehung

Die Entwicklung des nationalsozialistischen Strafrechts muß vor dem Hintergrund der Verbrechensbekämpfung durch die Polizei im „Dritten Reich“ gesehen werden. Es wurde in Kapitel 3.2. dieser Arbeit dargestellt, daß die Polizei tatbestandsunabhängig und eigenmächtig gegen vermeintliche Verbrecher vorging. Als Mittel der Freiheitsentziehung dienten ihr die Instrumente der Vorbeugungshaft und der Schutzhaft, die eine Konkurrenz zu der gerichtlichen Sicherungsverwahrung darstellten Im folgenden soll insbesondere auf das Verhältnis der Sicherungsverwahrung zur kriminalpolizeilichen Vorbeugungshaft, die bei den größtenteils als „unpolitisch“ eingestuften Homosexualitätsdelikten mehrheitlich angewendet wurde, eingegangen werden173.

170 Georg Dahm: Todesstrafe und Tätertyp nach der Strafgesetznovelle vom 4. September 1941. In: DR 12 (1942), S. 401-406, hier S. 403. 171 Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990, S. 118f. 172 Auch die vorliegende Untersuchung kann hierüber keinen Aufschluß geben, da sie sich mit dem Schicksal inhaftierter Homosexueller im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland auseinandersetzt. 173 Für das Verhältnis der staatspolizeilichen Vorbeugungsmaßnahmen zur Strafgerichtsbarkeit gilt ähnliches; vgl. hierzu ausführlich Kapitel V in Teil III C bei Werle, Justiz-Strafrecht, S. 565-576. 161

Das Grundverhältnis von Vorbeugungshaft und Sicherungsverwahrung174 war dadurch charakterisiert, daß beide Maßnahmen der Verhinderung von Straftaten dienen sollten, die Sicherungsverwahrung jedoch nur dann verhängt werden konnte, wenn eine Straftat Anlaß zur Verhängung von Strafe gegeben hatte, wogegen die Vorbeugungshaft eine rein präventive Maßnahme darstellte. Ihren Voraussetzungen nach war die Vorbeugungshaft schon aus diesem Grund weit umfassender als die strafrechtliche Sicherungsverwahrung. Waren zur Verhängung der Sicherungsverwahrung entweder eine vorsätzliche Straftat und zwei rechtskräftige Vorverurteilungen zu Freiheitsstrafen oder drei vorsätzliche Straftaten sowie die Einschätzung des Täters als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ Voraussetzung, so war die polizeiliche Vorbeugungshaft an weniger Voraussetzungen gebunden: Die Begehung von Straftaten sowie das Vorliegen von Vorverurteilungen waren lediglich zur Anordnung der Vorbeugungshaft gegenüber den sog. Berufsverbrechern und gewohnheitsmäßigen Sittlichkeitsverbrechern erforderlich. Darüber hinaus konnten jedoch auch noch nicht vorbestrafte sowie noch nicht einmal straffällig gewordene „Gemeingefährliche“ und „Asoziale“ von der Polizei in Vorbeugungshaft genommen werden. Gegenüber der gerichtlichen Sicherungsverwahrung bezog der grundlegende Erlaß zur polizeilichen Vorbeugungshaft somit auch alle diejenigen Fälle ein, in denen sich „der Anlaß zur Prüfung der Sicherungsfrage aus Indizien“ ergab, die „nicht in einer derzeit begangenen Straftat“ lagen175. Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung bildeten demgegenüber nur einen Ausschnitt aus den rechtlichen Voraussetzungen der Vorbeugungshaft: Lagen die Voraussetzungen der gerichtlichen Sicherungsverwahrung vor, waren zugleich auch immer die materiellen Vorbeugungshaftvoraussetzungen erfüllt. Nachdem sich Bemühungen des Reichsjustizministeriums, die polizeiliche Vorbeugungshaft einschränkend zu regeln, als vergeblich erwiesen hatten176, versuchte die Justiz, ihre Kompetenz zumindest in dem Bereich, zu dem sie Zugang hatte – die präventive Verbrechensbekämpfung beim Vorliegen einer „Straftat“ –, auszuweiten. Die Gerichte wurden angehalten, den normativ jeweils vorgeschriebenen Strafrahmen soweit wie möglich auszuschöpfen und schärfere Strafen zu verhängen, um nicht weitere Kompetenzen an die Polizei zu verlieren. Insbesondere sollte die verstärkte Anwendung der Sicherungsverwahrung die Anordnung der Vorbeugungshaft gegen Straffällige verhindern. So forderte Freisler 1938 angesichts der rückläufigen Anordnungszahlen, daß „die Praxis von der gesetzlich gegebenen Möglichkeit einen

174 Vgl. hierzu ausführlich auch Kapitel 8, Teil VI bei Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 719-745 sowie Kapitel IV 3, Teil III B bei Werle, Justiz-Strafrecht, S. 508-521. 175 Heinrich Henkel: Das Sicherungsverfahren gegen Gemeingefährliche. Teil B: Kritik der Verfahrensregelung des geltenden Rechts. In: ZStW 58 (1938), S. 167-237, hier S. 221. 176 Vgl. hierzu ausführlich Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 733ff. 162 festen, zielsicheren, nicht von falscher Sentimentalität geschwächten Gebrauch macht“177. Durch eine Verfügung des Reichsjustizministeriums wurden im März 1938 alle Justizbehörden ermahnt, „die durch das [Gewohnheitsverbrecher-]Gesetz in ihre Hand gegebenen Abwehrmittel rücksichtslos einzusetzen und ihre Befugnisse voll auszuschöpfen“178. In einer Entscheidung des Reichsgerichts wurde schließlich herausgestellt, daß man sich in neuerer Zeit genötigt sehe, „die Schutzbedürftigkeit der öffentlichen Sicherheit stärker zu betonen, als das im Anfang der Rechtsprechung zum Gewohnheitsverbrechergesetz zu geschehen hatte“. Bereits das Merkmal der „Gefährlichkeit“ erfordere die Feststellung einer ernstlichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit auch nach der Strafverbüßung179. In der Praxis lief diese Rechtsauslegung darauf hinaus, daß die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei einer Verurteilung nach § 20a zur Regel wurde, was sich in einem Anstieg der Anordnungszahlen niederschlug: Nachdem die Zahl der Verurteilungen zu einer an die Haftstrafe anschließenden Sicherungsverwahrung im Jahr 1937 auf unter 800 gesunken war (im Jahr 1934 wurde in annähernd 4.000 Fällen die Sicherungsverwahrung angeordnet, vermutlich unter anderem aufgrund des aus Sicht der Justiz bestehenden „Nachholbedarfs“), wurde 1939 über 1.800mal und 1940 über 1.900mal von der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 42e Gebrauch gemacht180.

177 Roland Freisler: Fragen zur Sicherungsverwahrung. In: DJ 100 (1938), S. 626-629, hier S. 626. 178 Allgemeinverfügung des RJM, 3.3.1938, betr. Strafsachen gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher. In: DJ 100 (1938), S. 323-325, hier S. 323. 179 „Der Satz, daß nach dem § 42e StGB. die öffentliche Sicherheit die Sicherungsverwahrung des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers erfordert, falls nicht seine Besserung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, gilt nicht ohne weiteres entsprechend für den § 42b und überhaupt nicht für die Fälle des § 51/1 i. Verb. m. dem § 42b StGB.“ In: RGSt 73 (1940), S. 303-306, hier S. 305. 180 Werle, Justiz-Strafrecht, S. 510f. 163

4.1.5. Verurteilungen nach §§ 175, 175a im Gebiet des Deutschen Reiches

Das Ausmaß der justitiellen Homosexuellenverfolgung im „Dritten Reich“ läßt sich an den vom Statistischen Reichsamt zusammengestellten Angaben ablesen. Demnach wurden im Zeitraum von 1933 bis 1943 über 46.000 Personen181 nach §§ 175, 175a, 175b182 verurteilt. Die zeitliche Verteilung ist in der nachstehenden Tabelle wiedergegeben.

Tabelle 1: Übersicht des Statistischen Reichsamtes über Verurteilungen wegen widernatürlicherUnzucht (§§ 175, 175a, 175b), ausgenommen Unzucht mit Kindern unter 14 Jahren (§ 176,3)183

Jahr Rechtskräftig Davon Jugendliche (14 bis unter verurteilte Personen 18 Jahre)

1931 665 89

1932 801 114

1933 853 104

1934 948 121

1935 2106 257

1936 5320 481

1937 8271 973

1938 8562 974

1939 7614 689

1940 3773 427

1941 3739 687

1942 2678 665

1943184 2218 500

Die Entwicklung der Verurteilungszahlen im „Dritten Reich“ läßt zwei Zäsuren in der Verfolgungspraxis gegenüber Homosexuellen erkennen: Zunächst bewirkte nach einem nur

181 Militärgerichtliche Verurteilungen sind in diese Angabe nicht einbezogen. 182 Die Anzahl der nach § 175b Verurteilten war bereits während der Weimarer Republik erheblich gesunken und dürfte an den hier aufgeführten Zahlen nur einen sehr geringen Anteil gehabt haben, zumal die Strafrechtsbedingungen zur Sodomie durch die Strafgesetznovelle vom 28.6.1935 nicht verändert wurden. 183 Nach: Homosexualität in der NS-Zeit, S. 197. 184 Für das Jahr 1943 liegen Zahlen nur für das 1. Halbjahr vor. Sie wurden zu Vergleichszwecken verdoppelt. Alle Zahlen für die Jahre 1940 bis 1943 beziehen sich auf das Gebiet des Deutschen Reiches (ohne Österreich und die annektierten Ostgebiete). 164 geringfügigen Anstieg der Verurteilungszahlen in den ersten zwei Jahren nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ die Verschärfung der strafrechtlichen Regelungen zum Tatbestand „Homosexualität“ durch die Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 eine erhebliche Zunahme der gerichtlichen Verurteilungen in den Jahren 1935 bis 1937185. Des weiteren dokumentiert die Verurteilungsstatistik einen merklichen Rückgang der im Zivilbereich verhandelten Homosexualitätsdelikte ab 1940. Von Bedeutung mag hierbei gewesen sein, daß die Arbeit der Erfassungs- und Verfolgungsinstanzen während der Kriegszeit aus personaltechnischen Gründen weniger effizient als in der Vorkriegszeit war, wie Hans-Georg Stümke annimmt186. Claudia Schoppmann vermutet, daß sich der Rückgang der Verurteilungszahlen darüber hinaus zumindest teilweise damit erklären lasse, daß Homosexuelle zunehmend durch die Polizei und ohne Gerichtsverfahren in die Konzentrationslager eingewiesen und deshalb in den Kriminalstatistiken nicht mehr aufgeführt wurden187. Gegen diese Annahme spricht, daß auch die Zahl der von der Polizei bearbeiteten Vorgänge wegen Vergehen nach §§ 175, 175a rückläufig war188.

Zum größten Teil dürfte sich die Abnahme einschlägiger strafrechtlicher Verurteilungen im Zivilbereich von 8.562 im Jahr 1938 auf 3.773 im Jahr 1940 auf die Einberufungen zur Wehrmacht zurückführen lassen. Für die militärische Rechtsprechung liefert die Kriegskriminalstatistik der Wehrmacht folgende Angaben über einschlägige Verurteilungen von Wehrmachtangehörigen189:

185 Die Bestimmungen der Strafgesetznovelle traten erst zum 1. September 1935 in Kraft, woraus sich eine gewisse „Verzögerung“ in der Urteilspraxis ergab. 186 Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte. München 1989, S. 120. 187 Claudia Schoppmann: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler 1991, S. 196. 188 Vgl. hierzu die in der von Grau herausgegebenen Dokumentensammlung Homosexualität in der NS-Zeit, S. 220f. angeführten Zahlen. Über den Umfang der gegen Homosexuelle tatsächlich angeordneten vorbeugenden Haftmaßnahmen in diesem Zeitraum liegen keine Angaben vor. 189 Das Militärstrafgesetz, dem Wehrmachtangehörige unterlagen, sah keine Sonderbestimmungen gegen Homosexualität vor. Wie im Zivilbereich erfolgten Verurteilungen aufgrund von homosexuellen Handlungen vorwiegend nach §§ 175, 175a. Vgl. zur Rechtsprechungspraxis gegen Homosexuelle in der Wehrmacht Kapitel 4.1.6.7. 165

Tabelle 2: Kriegskriminalstatistik für die Wehrmacht über Verurteilungen wegen widernatürlicher Unzucht (§§ 175, 175a, 175b)190

Jahr Rechtskräftig verurteilte Personen

1939 (ab 1.9.) 242

1940 1134

1941 1700

1942 1578

1943 1473

1944 (bis 30.7.) 830

Insgesamt wurden im Zeitraum von 1939 bis Mitte 1944191 demnach knapp 7.000 Wehrmachtangehörige aufgrund des Straftatbestandes der Homosexualität rechtskräftig verurteilt.

Gemessen an der Personalstärke des Heeres war dies eine relativ niedrige Zahl. Über die Ursachen dieses Befundes kann allenfalls spekuliert werden. Denkbar wäre es, daß Vergehen nach §§ 175, 175a im Militär verhältnismäßig milde gehandhabt wurden oder daß aufgrund der Anstrengungen im Fronteinsatz homosexuelle Handlungen zurückgedrängt wurden. Dieser Befund spricht im übrigen gegen die in der NS-Zeit immer wieder geäußerte Erwartung, mit der Konzentration und Isolierung von Männern werde sich die Homosexualität massiv ausbreiten, auch wenn davon auszugehen ist, daß die Dunkelziffer bei Homosexualitätsdelikten – wie auch im zivilen Bereich – sehr hoch war.

4.1.6. Rechtsprechungspraxis bei Homosexualitätsdelikten

Es soll im folgenden die Verurteilungspraxis bei Homosexualitätsdelikten und damit die praktische Reichweite der Homosexuelle betreffenden gesetzlichen Regelungen untersucht werden; als empirische Grundlage dienen die in den Personalakten homosexueller Inhaftierter enthaltenen Gerichtsurteile. Es werden zunächst Art und Höhe der verhängten Strafen sowie deren Entwicklung im zeitlichen Verlauf erörtert. Im Anschluß daran wird das Quellenmaterial im Hinblick auf die Anwendung der Strafvorschriften des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ untersucht. Hierbei werden auch Akten nicht-homosexueller Gefangener einbezogen, da sich auf diese Weise Rückschlüsse auf die relative Häufigkeit der Inanspruchnahme der Sicherungsverwahrung bzw. der Möglichkeit der Strafschärfung bei Homosexualitätsdelikten ziehen lassen. Schließlich sollen die Auswirkungen der

190 Nach: Homosexualität in der NS-Zeit, S. 210. 191 Für die Zeit ab dem 1.8.1944 liegen keine Angaben vor. 166

Neuformulierung des § 175 durch die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 untersucht werden. Es soll gezeigt werden, welche Delikte nach der Gesetzesänderung als strafwürdig galten und welche Einflußgrößen sich strafmildernd bzw. -verschärfend auswirkten.

Die Gerichtsbarkeit wurde bei Homosexualitätsdelikten in der Regel durch Landes- oder Amtsgerichte ausgeübt192; in Ausnahmefällen – insbesondere dann, wenn der Angeklagte gleichzeitig eines politischen Vergehens beschuldigt wurde193 – konnte die Verurteilung durch ein Sondergericht erfolgen. Soweit zwischen Anschuldigungen gegen mehrere Angeklagte ein Zusammenhang bestand, wurden jene in einem gemeinsamen Gerichtsverfahren abgehandelt. In Einzelfällen standen – häufig als Folge von Geständnissen einzelner bzw. von Festnahmen, die im Rahmen von Razzien erfolgten – ganze Gruppen von Beschuldigten vor Gericht194. Die Gründe, die zu einer Urteilsfindung geführt hatten, wurden in der jeweiligen Urteilsbegründung angegeben. Deren Aufbau folgte einem einheitlichen Schema: Einer Schilderung der persönlichen Lebensverhältnisse des Angeklagten folgte die Beschreibung des Tathergangs, der Verweis auf die angemessene gesetzliche Strafvorschrift, die Festlegung des Strafmaßes mit der Nennung von strafschärfenden bzw. -mildernden Umständen und schließlich die Frage der Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft. Indirekt geben die Urteilsbegründungen vereinzelt Aufschluß über die Ermittlungspraxis der Verfolgungsinstanzen sowie über das Alltagsleben Homosexueller im „Dritten Reich“. Auf diese Aspekte wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit allenfalls am Rande eingegangen werden können.

4.1.6.1. Strafmaß und Art der verhängten Strafen

Die Art der verhängten Strafe richtete sich im wesentlichen nach dem Verurteilungsgrund: § 175 sah sowohl in der alten als auch in der neuen, seit September 1935 gültigen Fassung die Ahndung der „(widernatürlichen) Unzucht“ mit Gefängnisstrafe vor. Allerdings konnten nach § 175 straffällig

192 Vgl. zu den Regelungen der Strafprozeßordnung ausführlich: Strafprozeßordnung. Gerichtsverfassungsgesetz und Nebengesetze. Textausgabe mit einer Einleitung, Verweisungen und Sachregister, unter besonderer Berücksichtigung der amtlichen „Richtlinien für das Strafverfahren“, hg. von Rudolf Lehmann. Berlin 31935. 193 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15418. In einem anderen Fall wurde ein wegen homosexueller Handlungen mit einem Hitlerjungen Angeklagter durch ein Sondergericht verurteilt, weil er, indem er dem Hitlerjungen während einer Nachtwache die Benutzung seines Bettes angeboten haben soll, zugleich gegen § 4 der sog. Volksschädlingsverordnung verstoßen habe. Vgl. hierzu Personalakte des Gefangenen M.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 43/700. 167 gewordene Personen dann zu einer Zuchthausstrafe verurteilt werden, wenn auf sie die strafschärfenden Bestimmungen des § 20a des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ angewendet wurden. Nach dem Inkrafttreten der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 wurden Verstöße gegen den neueingefügten § 175a mit Zuchthausstrafe und nur bei der Gewährung mildernder Umstände mit Gefängnisstrafe geahndet. Ebenso sah § 176,3 die Verhängung von Zuchthausstrafe gegen denjenigen vor, der „mit [in diesem Fall männlichen] Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet“. Auch hier konnte bei der Feststellung mildernder Umstände von Zuchthausstrafe abgesehen und eine Gefängnisstrafe verhängt werden195.

Von den in die vorliegende Auswertung einbezogenen, als Homosexuelle verurteilten Personen erhielten 31 % eine Gefängnisstrafe und etwas über 68 % eine Zuchthausstrafe196; die Zahl der von einem österreichischen Gericht zu einer Kerkerstrafe verurteilten Personen betrug im Untersuchungssample weniger als ein Prozent. Nicht berücksichtigt wurden bei dieser Auszählung diejenigen Personen, die außer nach §§ 175, 175a wegen eines Verstoßes gegen einen weiteren Strafrechtsparagraphen verurteilt worden waren.

Die Höhe der gerichtlich verhängten Strafen variierte zwischen wenigen Monaten Gefängnis und langjährigen Zuchthausstrafen197. In der folgenden graphischen Darstellung der Höhe des Strafmaßes wird differenziert zwischen Gefängnis- und Zuchthausstrafen:

194 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1668; Personalakte des Gefangenen A.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5371. Im Mai 1937 wurden vom Landgericht Bonn insgesamt 14 Mitglieder der Genossenschaft der Alexianerbrüder verurteilt; vgl. Personalakte des Gefangenen L.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2952. Vielfach war die gleichzeitige Verurteilung einer größeren Gruppe von Angeklagten Folge der Aussagen festgenommener sog. Strichjungen, so z.B. Personalakte des Gefangenen W.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 62; Personalakte des Gefangenen A.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12624. 195 Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 368f. 196 Der relativ hohe Anteil der zu Zuchthausstrafe Verurteilten im Untersuchungssample läßt sich darauf zurückführen, daß in die Emslandlager, die den Untersuchungsschwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden, überwiegend Zuchthausgefangene eingeliefert wurden. 197 Da in die Emslandlager ausschließlich Gefangene mit einem Strafrest von mindestens 6 Monaten eingeliefert wurden, sind Freiheitsstrafen unter 6 Monaten im Untersuchungssample deutlich unterrepräsentiert. 168

Diagramm 1: Höhe der Gefängnisstrafen

40,0%

35,0%

30,0%

25,0%

20,0%

Anteil in % in Anteil 15,0%

10,0%

5,0%

0,0% 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 über Höhe des Strafmaßes in Jahren 4,0

Diagramm 2: Höhe der Zuchthausstrafen

25,0%

20,0%

15,0%

10,0% Anteil in % in Anteil

5,0%

0,0% 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 5,0 5,5 über Höhe des Strafmaßes in Jahren 6,0

Es zeigt sich, daß ein Großteil der nach § 175 – bzw. im Fall der Gewährung mildernder Umstände auch der nach § 175a bzw. § 176 oder § 174 – zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Personen Freiheitsstrafen zwischen einem halben und eineinhalb bis zwei Jahren zu verbüßen hatte. Bei Verurteilungen zu Zuchthaus (§§ 175a, 176, 174 oder nach § 175 in Tateinheit mit § 20a) war das Strafmaß durchschnittlich etwas höher, und auch der Anteil der zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilten Männer war größer als bei den zu Gefängnis verurteilten. Da die vorliegende Untersuchung auf der Auswertung von Gefangenenpersonalakten basiert, bleiben sowohl die nach 169

§ 1 der Gesetzesänderung vom 4. September 1941 verhängten Todesstrafen gegen Homosexuelle198 als auch Verfahren, die mit Freispruch oder einer ersatzweisen Geldstrafe endeten, sowie Verfahrenseinstellungen ausgeklammert, so daß lediglich auf die wenigen bisher vorliegenden Angaben aus der Sekundärliteratur verwiesen werden kann: Den Anteil der erfolgten Freisprüche bei Verfahren nach §§ 175, 175a gibt Hans-Christian Lassen in seiner Untersuchung über den Umgang mit Sexualdelikten im Gerichtsbezirk Hamburg in der Zeit von 1933 bis 1939 mit drei % an. Insgesamt hätten in Hamburg 11,5 % aller Verfahren mit Freispruch, einer Verurteilung zu Geldstrafe (0,7 %) oder der Einstellung des Verfahrens (6,8 %) geendet199. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Sparing bei seiner Untersuchung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung am Beispiel Düsseldorf. Demnach wurde jeder zehnte vor einem Düsseldorfer Gericht wegen eines Verstoßes gegen den § 175 Angeklagte freigesprochen, amnestiert oder aufgrund einer Verfahrenseinstellung freigelassen200. Angaben über die Zahl der Todesurteile gegen Homosexuelle liegen nicht vor.

Zwischen 1933 und 1945 variierte die Höhe des Strafmaßes bei Homosexualitätsdelikten geringfügig, mit einer zunehmenden Tendenz während der ersten Kriegsjahre, wie die folgenden Darstellungen veranschaulichen:

198 Vgl. hierzu Kapitel 4.1.3.5. 199 Hans-Christian Lassen: Der Kampf gegen Homosexualität, Abtreibung und „Rassenschande“. Sexualdelikte vor Gericht in Hamburg 1933 bis 1939. In: Für Führer, Volk und Vaterland... Hamburger Justiz im Nationalsozialismus. Bd. 1, red. Klaus Bästlein. Hamburg 1992, S. 216-289, hier S. 229. 200 Frank Sparing: „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“: Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Düsseldorf 1997, S. 148. 170

Diagramm 3: Höhe der Gefängnisstrafen – zeitlicher Verlauf

3,5

3,0

2,5

2,0

1,5

1,0

0,5

Durchschnittliches Strafmaß in Jahren 0,0 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahr des Urteils

Diagramm 4: Höhe der Zuchthausstrafen – zeitlicher Verlauf

7,0

6,0

5,0

4,0

3,0

2,0

1,0

Durchschnittliches Strafmaß in Jahren 0,0 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahr des Urteils

Es wird deutlich, daß bereits vor dem Inkrafttreten der Strafrechtsänderung, insbesondere im Jahr 1934, relativ hohe Freiheitsstrafen bei Homosexualitätsdelikten verhängt wurden – zu vermuten ist, daß die Röhm-Affäre zum Anlaß genommen wurde, bereits in dieser frühen Phase der NS-Zeit rigoros gegen Homosexuelle vorzugehen. Die Strafrechtsnovelle vom Juni 1935 und die damit verbundene Ausweitung der rechtlichen Bestimmungen zum Tatbestand „Homosexualität“ hatte zwar einen Anstieg der Verurteilungszahlen zur Folge201, die Dauer der ausgesprochenen Freiheitsstrafen nahm jedoch – vermutlich als Folge der durch die Neuformulierung des § 175

201 Vgl. Kapitel 4.1.5., Tabelle 1. 171 möglich gewordenen Verfolgung von Homosexuellen wegen bis dahin straflos gebliebener geringfügiger „Delikte“ – durchschnittlich ab. Erst nach Kriegsbeginn wurden im Zuge der generellen Verschärfung der Strafrechtspraxis höhere Strafen auch bei Verstößen gegen §§ 175, 175a, 176/3 ausgesprochen.

4.1.6.2. Nebenstrafen

Im Rahmen der rechtlichen Regelungen konnte das Gericht bei einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe zusätzlich eine Nebenstrafe verhängen. Am häufigsten (in 52,6 % der Fälle) wurde gegen die wegen eines Homosexualitätsdelikts Verurteilten die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte ausgesprochen. Voraussetzung hierfür war nach § 32 eine Verurteilung zu Todes- oder Zuchthausstrafe bzw. eine Gefängnisstrafe dann, „wenn die Dauer der erkannten Strafe drei Monate erreicht und entweder das Gesetz den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte ausdrücklich zuläßt oder die Gefängnisstrafe wegen Annahme mildernder Umstände an Stelle von Zuchthausstrafe ausgesprochen wird“. Der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte hatte dauernde sowie vorübergehende Auswirkungen (§ 33) und wurde mit der Rechtskraft des Urteils wirksam, galt jedoch erst ab dem Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft bzw. dem Ende einer mit Freiheitsentzug verbundenen Maßregel (§§ 33, 34, 36)202.

Was die rechtliche Regelung der Strafbarkeit der Homosexualität betrifft, war die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bei einer Verurteilung zu Gefängnisstrafe nur nach § 175 alter Fassung zulässig. Nach der Neuformulierung des Strafrechtsparagraphen im Juni 1935 wurde der Verlust bürgerlicher Ehrenrechte auf Verurteilungen nach § 175a bzw. § 176,3 beschränkt203. In diesen Fällen machten die Richter von der Möglichkeit der zusätzlichen Verhängung dieser Nebenstrafe ausgiebig Gebrauch: Annähernd 75 % der nach § 175a bzw. § 176,3 verurteilten Personen des Untersuchungssamples wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Die nach §§ 175a, 176,3 erfolgten Verurteilungen wurden damit häufiger zum Anlaß genommen, von der in § 33 geregelten Nebenstrafe Gebrauch zu machen, als Verurteilung wegen eines kriminellen (59 %) oder politischen (49,4 %) Delikts, bei denen ebenfalls die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte zulässig war.

202 Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 91ff. 203 Vgl. den Wortlaut des § 175 in der Fassung von 1871 bzw. von 1935 in Kapitel 4.1.3.1. und 4.1.3.2. 172

In den Urteilsbegründungen rechtfertigten Floskeln wie das „ehrlose Handeln“204, der „verbrecherische[] Hang[]“205 oder die „niedrige Gesinnung“206 des Straftäters, der sich „durch die Taten [...] außerhalb des Kreises aller anständigen Volksgenossen gestellt hat“207, die Maßnahme. Eine einheitliche Argumentation, mit der die Aberkennung der Ehrenrechte ausnahmsweise abgelehnt wurde, läßt sich nicht erkennen: In einem Fall wurde berücksichtigt, daß „die Angeklagten ihre Stellungen [gemeint war ihr Arbeitsplatz] verwirkt haben und dadurch für ihr späteres Leben schon schwer getroffen sind“. Es erscheine deshalb „nicht erforderlich und geboten, den Angeklagten die Möglichkeit zu erschweren, nach Verbüßung der Strafen ihr Leben neu zu gestalten“208. In anderen Fällen sah das jeweilige Gericht „mit Rücksicht auf die Jugend und das spätere Fortkommen des Angeklagten“209 oder „wegen des sonstigen einwandfreien Lebenswandels [des Angeklagten] und der Möglichkeit seiner Besserung“210 von der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte ab. Bei einem weiteren Angeklagten gab die Homosexuellen immer wieder unterstellte „Weichheit“ den Ausschlag, von der Verhängung dieser Nebenstrafe abzusehen: Der Angeklagte habe „nicht kaltblütig aus ehrloser Gesinnung gehandelt“, sondern vielmehr bestehe „seine Schuld [...] in seiner Schwäche, [...] den Versuchungen nicht entgegen[zu]treten“211. Am ehesten sahen die Gerichte von der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bei Angeklagten ab, die noch nicht vorbestraft waren und denen generell strafmildernde Gründe zugebilligt wurden: So wurde in einem Fall einem bisher unbestraften Angeklagten zugute gehalten, daß er seit Jahren seine kranke Mutter pflegte; er sollte deshalb die Chance erhalten, „sich [...] der ihm zuteil gewordenen Milde durch ein einwandfreies Leben nach seiner Strafverbüßung würdig“ zu erweisen212. Allerdings war die bisherige Straffreiheit keine zwingende Voraussetzung für die Ablehnung der Nebenstrafe: Mit dem Argument, daß der Angeklagte „offensichtlich bemüht ist, gegen seinen verhängnisvollen Trieb anzugehen“, wurde in einem anderen Fall von der Aberkennung der Ehrenrechte abgesehen, obwohl der Betroffene bereits mehrfach einschlägig vorbestraft war213.

204 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/183. 205 Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6852. 206 Personalakte des Gefangenen M.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4796. 207 Personalakte des Gefangenen W.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/295. 208 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 10166. 209 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6633; ähnlich auch Personalakte des Gefangenen W.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15471. 210 Personalakte des Gefangenen K.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2335. 211 Personalakte des Gefangenen H.E.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/168. 212 Personalakte des Gefangenen H.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/69. 213 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12983. 173

Gegen wegen eines Homosexualitätsdelikts zu Zuchthausstrafe verurteilte Wehrmachtangehörige wurde grundsätzlich die „Wehrunwürdigkeit“ ausgesprochen. Nach § 31 MStGB mußte bei einer Verurteilung zu Zuchthausstrafe bei Angehörigen der Wehrmacht auf „Verlust der Wehrwürdigkeit“ erkannt werden; dies hatte nach § 32 MStGB das „Ausscheiden aus jedem Wehrdienstverhältnis und aus dem Wehrmachtbeamtenverhältnis“ zur Folge214. Auch für Personen, die nicht der Wehrmacht angehörten, galt, daß eine Verurteilung zu Zuchthausstrafe die dauernde Unfähigkeit zum Dienst in der deutschen Wehrmacht bewirkte, die jedoch nicht explizit ausgesprochen wurde215.

Nicht zulässig war sowohl nach § 175 alter Fassung als auch nach § 175 neuer Fassung die zusätzlich zur Freiheitsstrafe anzuordnende Verhängung der Polizeiaufsicht, die dem Verurteilten den Aufenthalt an bestimmten Orten untersagte und die jederzeitige Durchführung von Hausdurchsuchungen zuließ (§§ 38, 39). Aufgrund ihrer Konkurrenz zu der weiter gefaßten Maßnahme der polizeilichen planmäßigen Überwachung216 kam der Polizeiaufsicht im „Dritten Reich“ generell nur noch eine untergeordnete Bedeutung zu217.

4.1.6.3. Die Anwendung der durch das Gesetz vom 24. November 1933 geregelten Bestimmungen zur Strafschärfung gegen „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ sowie der Homosexuelle betreffenden „Maßregeln der Sicherung und Besserung“

4.1.6.3.1. Die Strafschärfung für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (§ 20a)

Es wurde in Kapitel 4.1.3.4.1. auf die Möglichkeit der durch das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ geregelten Strafschärfung hingewiesen. Bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen erhielten die Gerichte dadurch die Befugnis, eine über den im Gesetzestext vorgegebenen Strafrahmen hinausgehende Strafe zu verhängen. Für den Betroffenen bedeutete eine Verurteilung als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ über die Strafschärfung hinaus vielfach die zusätzliche Anordnung der zeitlich unbefristeten Sicherungsverwahrung.

214 Verordnung über die Neufassung des Militärstrafgesetzbuches, 10.10.1940. In: RGBl. I 1940, S. 1347-1362, hier S. 1350. 215 § 31 StGB. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 90f. 216 Vgl. Kapitel 5.2.1. 217 Vgl. hierzu Werle, Justiz-Strafrecht, S. 496f. 174

Der Anteil der als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ verurteilten Personen betrug bei den in den Emslandlagern sowie den Zuchthäusern Hameln und Celle inhaftierten Homosexuellen 19,8 %218. Von diesen waren die meisten als mehrfach vorbestrafte „Gewohnheitsverbrecher“ nach § 20a/1 verurteilt worden (70,5 %); bei einem geringeren Teil der Betroffenen wurde die fakultative Strafschärfung gegen mehrfach straffällig gewordene „Gewohnheitsverbrecher“ nach § 20a/2 vorgenommen (29,5 %). Des weiteren läßt sich feststellen, daß die Bestimmungen des § 20a zumeist angewendet wurden, um eine nach § 175 ausgesprochene Strafe zu schärfen: Von den wegen des Straftatbestandes der „einfachen“ Homosexualität Verurteilten wurden 26 % als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ verurteilt und erhielten statt einer Gefängnis- eine Zuchthausstrafe. Bei den sog. qualifizierten Fällen der Homosexualität wurde dagegen – vermutlich aufgrund des ohnehin schon weit gefaßten Strafrahmens – seltener die Notwendigkeit gesehen, eine zusätzliche Strafschärfung vorzunehmen – hier wurden die Bestimmungen des § 20a „nur“ in 13,6 % der Fälle angewendet.

Insgesamt lag der Anteil der als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ verurteilten Homosexuellen mit 19,8 % höher als in der Gruppe der wegen eines kriminellen Delikts bestraften Personen219. Bei diesen wurde im beschriebenen Untersuchungssample in 11,7 % aller Fälle eine Strafschärfung nach § 20a angeordnet. Dies muß nicht unbedingt Ausdruck einer rigorosen Anwendung der Strafschärfung bei Personen, die aufgrund eines Homosexualitätsdelikts verurteilt wurden, gewesen sein – denkbar ist immerhin, daß bei den in höherem Maße als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ verurteilten Homosexuellen auch die objektiven Voraussetzungen der Anwendung des § 20a in Form von Vorverurteilungen und Vortaten häufiger gegeben waren. Daß dies nicht der Fall war, zeigt die Auswertung der Fälle, bei denen die objektiven Voraussetzungen der strafschärfenden Bestimmungen des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ gegeben waren, diese jedoch nicht angewendet wurden mit der Begründung, daß die subjektiven Voraussetzungen für den Gebrauch des § 20a nicht vorlägen, daß also die „Gesamtwürdigung der Taten“ den Angeklagten nicht als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ erkennen lasse. Während die Richter bei 16,8 % der wegen eines kriminellen Delikts Verurteilten trotz Vorliegens der objektiven Voraussetzungen von der

218 Da die als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ verurteilten Personen in der Regel in Zuchthäuser oder Strafgefangenenlager eingewiesen wurden, dürfte deren Anteil an den homosexuellen Verurteilten insgesamt niedriger gewesen sein. Die Akten der im Gefängnis Lingen inhaftierten Häftlinge wurden aus diesem Untersuchungsteil bewußt ausgeklammert, da nicht der absolute, sondern der relative Anteil der „Gewohnheitsverbrecher“ unter den wegen eines Homosexualitätsdelikts Verurteilten ermittelt werden soll. Durch einen unterschiedlich hohen Anteil von Akten Gefängnisinhaftierter könnten sich ansonsten leicht Verschiebungen in der Auswertung ergeben. 175

Anwendung der durch den § 20a geregelten Bestimmungen absahen, erfolgte dies nach der hier vorgenommenen Auswertung nur bei 5,1 % der nach §§ 175, 175a, 176,3 verurteilten Personen.

Von der Möglichkeit der Strafschärfung nach § 20a des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ wurde insbesondere seit Kriegsbeginn Gebrauch gemacht. Die zeitliche Verteilung der Anwendung des § 20a bei Verurteilungen nach §§ 175, 175a bzw. § 176,3, gemessen an der Gesamtzahl der aufgrund dieser Straftatbestände Verurteilten, ist im folgenden Diagramm dargestellt:

Diagramm 5: Anwendung des § 20a StGB bei Verurteilungen wegen eines Homosexualitätsdelikts – zeitlicher Verlauf

40,0%

35,0%

30,0%

25,0%

20,0%

Anteil in % in Anteil 15,0%

10,0%

5,0%

0,0% 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahr des Urteils

Zwischen 1933 und 1945 stieg die Anzahl der als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ eingestuften Personen unter den nach §§ 175, 175a, 176,3 Verurteilten zum einen an, weil die objektiven Voraussetzungen dafür in Form von Vorverurteilungen aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis gegenüber Homosexuellen zwangsläufig mit zunehmender Dauer der NS- Herrschaft häufiger gegeben waren. Zum anderen verschärfte sich die Rechtsprechungspraxis der Gerichte im „Dritten Reich“ generell aufgrund der Konkurrenz zur polizeilichen Verbrechensbekämpfung und der von den Machthabern immer wieder geforderten Anwendung und Auslegung der Strafrechtsnormen nach nationalsozialistischem Rechtsverständnis, was sich auch bei der Anwendung der durch das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ geregelten Bestimmungen zur Strafschärfung bemerkbar machte.

219 Da bei den wegen eines politischen Delikts Verurteilten in der Regel die objektiven Voraussetzungen der Anwendung des § 20a in Form von Vorverurteilungen bzw. Vortaten nicht gegeben waren, erscheint ein Vergleich mit dieser Personengruppe wenig sinnvoll. 176

Begründet wurde die Anwendung des § 20a mit dem „tief verwurzelt[en] gleichgeschlechtliche[n] Trieb“ des Angeklagten220, dem „inneren Hang zur wiederholten Begehung von Rechtsbrüchen“, der „moralischen Verkommenheit“ und der „Hemmungslosigkeit“ des „verbrecherischen Willens“221. Vielfach verwiesen die Richter bei der Persönlichkeitsbewertung des Angeklagten lediglich darauf, daß „die große Zahl der Straftaten und der Umstand, daß wiederholte Zuchthausstrafen ihn nicht bessern konnten“ 222, bzw. bei einer Verurteilung nach § 20a/2 die „große Zahl der Verfehlungen“ erkennen lasse, daß „der Angeklagte durch die fortdauernde Übung einen inneren Hang zur Begehung von Rechtsbrüchen in der hier fraglichen Richtung“ erworben habe und „zur Wiederholung derartiger Rechtsbrüche“ neige223. In einem Fall war der Angeklagte „nach Auffassung des Gerichts bei den Vorstrafen zu milde weggekommen“, weshalb man sich veranlaßt sah, von der Strafschärfungsmöglichkeit des § 20a Gebrauch zu machen224. Bei der Einschätzung eines Straftäters als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ orientierte man sich nicht nur an der „Gesamtwürdigung der Taten“, sondern bezog auch Hinweise auf dessen allgemeinen Lebenswandel ein. Häufig wurde die vermeintliche „asoziale“ Lebensführung eines Angeklagten zu einem Kriterium für die Anwendung der Bestimmungen des § 20a, so z.B. bei einem Betroffenen, der sich auf Wanderschaft befand und sich dabei häufig in „Arbeitslosenherbergen aufgehalten [hat], in denen er auch seine Opfer zur Befriedigung seiner anormalen Geschlechtslust sucht und findet“225. Einem Angeklagten wurde vorgeworfen, daß er während längerer Perioden keiner Arbeit nachgegangen sei und sich von seiner Schwester, die als Prostituierte arbeitete, Geld „zur Bestreitung seiner Lebsucht“ geben ließ. Der Betroffene entging nur knapp einer Verurteilung nach § 181 (Zuhälterei), erhielt jedoch trotz einer geringfügigen Straftat (gegenseitige Onanie mit einem anderen Mann) eine Strafschärfung nach § 20a226.

Abgelehnt wurde die Anwendung der Bestimmungen des § 20a in der Regel dann, wenn die objektiven Voraussetzungen einer Verurteilung als nicht gegeben erachtet wurden, so z.B. bei Erfüllung der Bedingungen der Rückfallverjährung zwischen einzelnen Straftaten bzw. Vorverurteilungen227, oder auch dann, wenn die Vorstrafen des Angeklagten nicht einschlägig waren

220 Personalakte des Gefangenen E.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/93. 221 Personalakte des Gefangenen H.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4839. 222 Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1578. 223 Personalakte des Gefangenen K.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/405. 224 Personalakte des Gefangenen E.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1910. 225 Personalakte des Gefangenen B.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2466. 226 Personalakte des Gefangenen G.E.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1505. 227 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen A.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15212. 177 und deshalb als nicht „symptomatisch [...] für die Gefährlichkeit eines Täters“228 anzusehen waren. So heißt es in der Urteilsbegründung eines nach § 175a/3 zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe Verurteilten:

„Das Gericht hat den Angeklagten trotz seiner zahlreichen Vorstrafen nicht als gefährlichen Gewohnheitsverbrecher im Sinne von § 20a StGB angesehen. Er ist nämlich bisher fast ausschließlich auf dem Gebiet der Eigentumsvergehen, insbesondere durch Betrügereien straffällig geworden. [...] Daraus, daß der Angeklagte schon einmal wegen Sittlichkeitsverbrechens bestraft ist, läßt sich ein Hang zur Begehung solcher Straftaten mit Sicherheit nicht ableiten. Der Angeklagte läuft zwar, wenn er in Zukunft erneut in irgendeiner Weise straffällig wird, Gefahr, wegen allgemein verbrecherischer Veranlagung als Gewohnheitsverbrecher angesehen und in Sicherungsverwahrung gebracht zu werden. Im Augenblick ist diese Folgerung jedoch aus den genannten Gründen noch nicht möglich.“229

Darüber hinaus wurde in Einzelfällen die Strafschärfung auch dann abgelehnt, wenn die abzuurteilenden Straftaten geringfügige Taten oder Versuchshandlungen betrafen, so daß es als verfehlt erachtet wurde, aus der „Gesamtwürdigung der sittlichen Verfehlung eine erhebliche Störung des Rechtsfriedens [...] abzuleiten“230. In einem Fall wurde bei der Prüfung der Frage, ob es sich bei dem Angeklagten um einen „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ handele, festgestellt, daß die Voraussetzungen des § 20a/2 insoweit gegeben seien, als der Angeklagte mehr als zwei vorsätzliche Taten begangen habe. Die „Gesamtwürdigung der Taten“, so heißt es weiter in dem Urteil des Landgerichts Kempten, „ergibt auch, daß der Angeklagte ein Gewohnheitsverbrecher ist“. Die „Gefahr des Rückfalles“ sei zwar beim Angeklagten gegeben, könne jedoch nicht als wahrscheinlich angesehen werden, vielmehr sei zu erwarten, daß „die jetzt gegen den Angeklagten ausgesprochene Zuchthausstrafe ihm die Schwere seiner Taten und den Ernst der Situation, in die er sich durch einen weiteren Rückfall versetzen würde, vor Augen hält“ und ihn so „auf den Weg der Besserung bringt, ihn mindestens vor weiteren gleichartigen Dingen abhält“. In jedem Fall fehle es dem Angeklagten „an der Gefährlichkeit im Sinn des § 20a StGB“, da die „Art der Ausführung, die sich bei den Minderjährigen auf Griffe an das bekleidete Geschlechtsteil beschränkte“, als verhältnismäßig harmlos anzusehen sei231.

228 Exner, System der sichernden und bessernden Maßregeln, S. 638; vgl. auch Kapitel 4.1.3.4.1. 229 Personalakte des Gefangenen O.U.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/32. 230 Personalakte des Gefangenen M.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5255. Vgl. auch Personalakte des Gefangenen R.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5848. 231 Personalakte des Gefangenen J.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15214. 178

4.1.6.3.2. Die Sicherungsverwahrung (§ 42e)

Nach § 42e des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ war vom Gericht zusätzlich zur Strafe zwingend die an die Haftzeit anschließende Sicherungsverwahrung eines nach § 20a Verurteilten anzuordnen, wenn, so der Gesetzestext, die „öffentliche Sicherheit“ diese Maßregel erfordere232. Die Prognose über die Gefährlichkeit des Straftäters zum Zeitpunkt der Strafentlassung lag im Ermessensspielraum der Richter. Diese machten bei 72 % der im Untersuchungssample als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ verurteilten Homosexuellen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung Gebrauch. Nur in 28 % zog die Anwendung der in § 20a geregelten Bestimmungen zur Strafschärfung nicht die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach sich – dies entsprach der allgemeinen Rechtsprechungspraxis: Für die Vergleichsgruppe der wegen eines kriminellen Deliktes verurteilten Personen konnten ähnliche Verteilungen ermittelt werden (75,5 % bzw. 24,5 %)233.

Insbesondere in der Kriegszeit wurde aufgrund der Konkurrenz zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch die Polizei und den daraus resultierenden Forderungen nach einem stärkeren Gebrauch der justitiellen Möglichkeit einer zeitlich unbefristeten Inhaftierung von Straftätern die Anordnung der Sicherungsverwahrung auch bei Verurteilungen nach §§ 175, 175a, 176,3 zur Regel, wenn die objektiven und subjektiven Voraussetzungen des § 20a als gegeben erachtet wurden. Das folgende Diagramm zeigt die zeitliche Verteilung der Anordnung der Sicherungsverwahrung. Der Anteil der zu Sicherungsverwahrung verurteilten Homosexuellen wurde jeweils nach der Gesamtzahl der im jeweiligen Jahr aufgrund eines einschlägigen Delikts nach § 20a verurteilten Personen bemessen:

232 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 24.11.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 995-999, hier S. 996. 233 Auch hier gilt, daß ein Vergleich mit den wegen eines politischen Delikts Verurteilten wenig sinnvoll erscheint, da die objektiven Voraussetzungen der Anwendung des § 42e mehrheitlich nicht gegeben waren. 179

Diagramm 6: Anteil der zu anschließender Sicherungsverwahrung verurteilten Homosexuellen

100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% Anteil in % in Anteil 30% 20% 10% 0% 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 Jahr des Urteils

Begründet wurde die Annahme der „dringende[n] Gefahr für die Allgemeinheit“, die die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfordere, in der Regel mit der mangelnden „Willenskraft“234 sowie mit dem „stark verwurzelt[en] [...] gleichgeschlechtlichen Trieb“ des zu Verurteilenden, der diesen „auch nach der Strafverbüßung immer wieder zu neuen Straftaten der gleichen Art verführen“ könne, weshalb Vorsorge zu treffen sei, daß „die Öffentlichkeit vor dem Angeklagten [...] bewahrt“ werde. Für den Zeitpunkt der Haftentlassung glaubte das Gericht in diesem Fall feststellen zu können, „daß auch die Strafverbüßung auf den Angeklagten keinen Eindruck machen wird und ihn von seiner gleichgeschlechtlichen Veranlagung nicht abbringen wird“, zumal der Betroffene bereits zwei Jahre in Untersuchungshaft gesessen habe, „ohne daß ihn diese Haft irgendwie beeindruckt hätte“235. Ferner prüfte das Gericht die „äußeren Verhältnisse des Angeklagten, die er im Falle seiner Entlassung vorfinden wird“ – häufig mit dem Ergebnis, daß diese „keinen Anlaß dafür [bieten], die Erforderlichkeit der Sicherungsverwahrung zu verneinen“. Bei der Einschätzung der „Gefährlichkeit“ eines nach § 20a verurteilten Homosexuellen wurde auch das Alter des Betroffenen zu einem Kriterium: Waren die Angeklagten noch jung, „so daß [...] nicht etwa wegen zunehmenden Alters ein Nachlassen des verbrecherischen Triebes zu erwarten“ war236, erschien „die Anordnung der Sicherungsverwahrung [als] die wirksamste [...] Maßnahme, um die Allgemeinheit [...] vor dem verbrecherischen Hang des Angeklagten in der Zukunft zu schützen“237.

234 Personalakte des Gefangenen E.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1910. 235 Personalakte des Gefangenen E.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/93. 236 Personalakte des Gefangenen K.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2450. 237 Personalakte des Gefangenen J.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4519. 180

Abgelehnt wurde die gerichtliche Anordnung der Sicherungsverwahrung eines als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ verurteilten Homosexuellen in Einzelfällen, wenn die Bedingungen, die zu der Ausübung der Straftat geführt hatten, nach der Entlassung wegfielen (z.B. das Leben in einer Großstadt238), wenn der Angeklagte aus „geordnete[n] häusliche[n] Verhältnisse[n]“ kam und nach der Strafverbüßung in diese zurückkehren konnte239 bzw. zumindest die Hoffnung bestehe, daß der Betroffene – in diesem Fall ein „in seinem Berufsleben als brauchbarer Facharbeiter bewährter“ Elektriker – „nach Verbüßung der Strafe alsbald in geordnete wirtschaftliche Verhältnisse kommen“ werde240, oder wenn altersbedingt am Ende der Haftzeit mit weiteren unter die Strafrechtsbestimmungen der §§ 175, 175a fallenden Handlungen nicht mehr zu rechnen sei. So wurde ein 63jähriger Angeklagter als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ wegen homosexueller Handlungen mit Jugendlichen zu 10 Jahren Zuchthaus, aber nicht zu anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, weil nach Auffassung des Gerichts für den Fall, daß der Verurteilte „die langjährige Zuchthausstrafe überhaupt überleben sollte, [...] bestimmt damit gerechnet werden [kann], daß der Angeklagte nach deren Verbüßung keinerlei geschlechtliche Regungen mehr haben wird“241. Am häufigsten wurde die Ablehnung der Sicherungsverwahrung damit begründet, daß „die Verbüßung einer mehrjährigen Zuchthausstrafe“ 242, speziell die „geordnete Arbeitstätigkeit“ im Strafvollzug, durch die der „verbrecherische Trieb von selbst geschwächt“ werde243, Anlaß zu der Hoffnung gebe, daß der Angeklagte sich nach der Strafverbüßung straffrei werde halten können. Diese Möglichkeit, wurde insbesondere dann gesehen, wenn der Angeklagte zum ersten Mal zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde244, zumal die Gerichte sich bei der Persönlichkeitswertung zum Teil von gängigen Vorstellungen über den Charakter homosexueller Männer leiten ließen und in dem jeweiligen Angeklagten eine „weiche[] Persönlichkeit“ sahen, die nun die „ganze Härte des Gesetzes [...] zu fühlen“ bekomme und „durch die jetzige Strafe geläutert“ werde245. Die zu erwartende Wirkung der verhängten Zuchthausstrafe wurde auch dann noch als Begründung für die ausbleibende Anordnung der Sicherungsverwahrung bei nach § 20a verurteilten Homosexuellen angeführt, als in einer Entscheidung des Reichsgerichts vom August 1939 ausdrücklich darauf hingewiesen worden

238 Personalakte des Gefangenen W.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15470. 239 Personalakte des Gefangenen F.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/534. 240 Personalakte des Gefangenen L.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/299. 241 Personalakte des Gefangenen A.R.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 44/1277. 242 Personalakte des Gefangenen J.F.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/971. 243 Personalakte des Gefangenen K.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/250. 244 Personalakte des Gefangenen L.G.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/673. Vgl. auch Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/232. 181 war, daß bei einem „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ nur dann von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen werden dürfe, „wenn mit dem Grade von Wahrscheinlichkeit, der bei einer solchen Beurteilung von Zukunftsmöglichkeiten überhaupt erreichbar ist“, erwartet werden könne, „daß im Zeitpunkte der Entlassung aus der Strafhaft bestimmte Umstände die Sicherungsverwahrung für den Schutz der Allgemeinheit entbehrlich machen werden“. Keineswegs genüge jedoch „die bloße [...] 'Erwartung', der Angeklagte werde durch die Schwere der erlittenen Strafe beeindruckt werden“, für die Ablehnung der Sicherungsverwahrung246.

4.1.6.3.3. Die „Entmannung“ homosexueller Straftäter (§ 42k)

Der durch das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ eingeführte § 42k sah die Möglichkeit der gerichtlichen Anordnung zwangsweiser „Entmannung“ von (erneut) straffällig gewordenen sog. gefährlichen Sittlichkeitsverbrechern vor. Homosexuelle Männer konnten bei Vorliegen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen nur dann zu dieser als „Sicherungsmaßregel“ bezeichneten Maßnahme verurteilt werden, wenn sie eine Strafe nach § 176,3 erhielten247.

Im Untersuchungssample wurde gegen 39,5 % derjenigen (unter anderem) nach § 176,3 verurteilten Personen, bei denen die objektiven Voraussetzungen der Bestimmungen des § 42k vorlagen, die zwangsweise Kastration angeordnet. Mit 39,5 % der möglichen Fälle wurde die Maßregel der „Entmannung“ demnach von den Gerichten deutlich seltener angeordnet als die in § 42e geregelte Sicherungsverwahrung (82,3 %)248. Dies verwundert nicht vor dem Hintergrund, daß die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen der Kastration weitgehend bekannt waren, wogegen über die erhoffte Wirkung dieser Maßnahme keine gesicherten Angaben vorlagen.

Die Maßregel der „Entmannung“ stand in der Praxis – soweit die objektiven Voraussetzungen jeweils vorlagen – in Konkurrenz zur ebenfalls durch das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ eingeführten Maßregel der Sicherungsverwahrung. Beide Maßnahmen sollten den „Schutz der

245 Personalakte des Gefangenen A.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15394. 246 „§§ 20a, 42e StGB. Von der Anordnung der Sicherheitsbewahrung kann nicht mit der Begründung abgesehen werden, es sei zu erwarten, der wegen widernatürlicher Unzucht Verurteilte werde durch die erkannte mehrjährige Zuchthausstrafe so stark beeindruckt werden, daß er nach Verbüßung dieser Strafe von der gleichgeschlechtlichen Grundlage Abstand nehmen werde.“ In: DJ 101 (1939), S. 1665 (Hervorhebung im Original). 247 Vgl. Kapitel 4.1.3.4.2. 248 Über die Anwendung der in § 42k geregelten Bestimmungen im Gebiet des Deutschen Reiches liegen keine genauen Zahlenangaben vor, weshalb das relative Ausmaß der Anordnung der zwangsweisen „Entmannung“ gegenüber Homosexuellen nicht ermittelt werden kann. 182

Allgemeinheit“ gewährleisten – während allerdings die Sicherungsverwahrung, so die Urteilsbegründung im Fall eines 36-jährigen Verurteilten, dafür so lange andauern müßte, bis „der abnorme Geschlechtstrieb des Angeklagten infolge Alters erloschen sein wird“, biete die „Entmannung den Vorzug, daß der Angeklagte nach Verbüßung seiner Strafe ohne Bedenken in Freiheit gesetzt werden“ könne. „Im Interesse der Allgemeinheit“ sei deshalb der „Entmannung der Vorzug zu geben, weil der Angeklagte nach der Verbüßung seiner Strafe am Erwerbsleben wieder voll teilnehmen und nutzbringende Arbeit leisten kann“, wohingegen „die Arbeit in der Sicherungsverwahrung [...] für die Allgemeinheit doch nur von beschränktem Wert“ sei249. In der Regel wurde die Rückfallwahrscheinlichkeit für den Zeitraum nach der Kastration für so gering gehalten, daß von der Anordnung der Sicherungsverwahrung, deren gleichzeitige Anordnung nach § 42n zulässig war, abgesehen wurde250. In Einzelfällen wurden beide Maßnahmen gerichtlich angeordnet. So sah das Gericht den Schutz der „öffentliche[n] Sicherheit“ nur dann gewährleistet, wenn der Angeklagte auch nach erfolgter „Entmannung“ zunächst in Sicherungsverwahrung genommen werde, da „sich die Auswirkungen der Entmannung nicht sofort zeigen, [sondern] vielmehr oft erst nach Jahren in Erscheinung treten“251.

Über die Auswirkungen der Kastration bei Homosexuellen bestanden verschiedene Ansichten252, die sich auch in den Urteilsbegründungen widerspiegeln: Während in einigen Fällen davon ausgegangen wurde, daß die Kastration „den Angeklagten vor weiteren Rückfällen bewahren“ werde253, formulierte man in anderen Urteilsbegründungen bewußt vage, daß zumindest „eine begründete Aussicht auf Aufhebung oder zum mindesten Abschwächung des [...] Triebes“ bestehe254 bzw. „die Wahrscheinlichkeit neuer Sittlichkeitsdelikte erheblich geringer“ werde255. In die Unsicherheit über die Wirkung der Kastration mischten sich verschwommene Vorstellungen von den Ursachen der Homosexualität: Einige Richter nahmen an, daß die gewünschte Wirkung der „Entmannung“ in Form des Nachlassens des homosexuellen „Geschlechtstriebes“ insbesondere dann erzielt werden könne,

249 Personalakte des Gefangenen F.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5236. 250 Vgl. auch Personalakte des Gefangenen P.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15564. 251 Personalakte des Gefangenen G.L.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/41. 252 Vgl. hierzu auch das im RJM angefertigte Gutachten „Ursachen der Homosexualität und Entmannung Homosexueller“, vermutlich aus dem Jahr 1942 oder später; BA R 22/950, fol. 39-57 sowie die durch Gerichtsassessor Raudszus gesammelten „Literaturauszüge zur Frage der Kastration von Homosexuellen“ aus dem Jahr 1935; BA R 22/950, fol. 58-120. 253 Personalakte des Gefangenen J.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 283. 254 Personalakte des Gefangenen W.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14569. 255 Personalakte des Gefangenen A.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4811. 183 wenn es sich um einen „im wesentlichen auf Anlage beruhenden Trieb[]“256 – den man in der Regel an der Zahl der Vorstrafen abzulesen können glaubte – handelte257. Von anderen wurde aus der Tatsache, daß Vergehen gegen §§ 175, 175a nicht unter die Bestimmungen des § 42k fielen, geschlossen, daß eine Kastration nur sinnvoll sei, wenn das „Verbrechen nicht aus homosexueller Veranlagung begangen wurde“, wohingegen der „Erfolg bei homosexueller Veranlagung nicht eintreten würde“258.

Obwohl immer wieder Forderungen erhoben wurden, die zwangsweise Kastration generell auch auf Homosexuelle anwenden zu können, blieb die durch das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ eingeführte gesetzliche Regelung der zwangsweisen „Entmannung“ bestehen259; gleichfalls wurde eine analoge Anwendung des §42k auf Vergehen nach §§ 175, 175a durch das Reichsgericht abgelehnt 260. Anders wurde in der Frage der freiwilligen „Entmannung“ entschieden: § 14/2 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 sah in der Fassung vom 26. Juni 1935 vor, daß auch ein im Sinne der §§ 175, 175a straffällig gewordener Mann „mit seiner Einwilligung“ kastriert werden könne261. Auch wenn von offizieller Seite darauf hingewiesen wurde, daß „die Freiwilligkeit des Entschlusses [...] durch keinen, auch durch keinen nur mittelbar wirkenden Zwang zur Erteilung der Einwilligung beeinträchtigt werden“ dürfe262, erscheint die tatsächliche Freiwilligkeit einer solchen Entscheidung durch den Betroffenen vielfach fraglich: Zahlreiche „freiwillige“ Kastrationen wurden an homosexuellen Konzentrationslagerhäftlingen durchgeführt, die

256 Personalakte des Gefangenen W.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14569. 257 Vgl. auch die Begründung, mit der im Fall W.H. die Anordnung der Kastration abgelehnt wurde; Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2973. 258 Personalakte des Gefangenen K.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14985. 259 Vorgesehen war die zwangsweise Kastration bei Delikten nach §§ 175, 175a im letzten Entwurf des „Gesetz[es] zur Behandlung Gemeinschaftsfremder“, das jedoch nicht mehr erlassen wurde. Vgl. hierzu BA R 22/944, fol. 225-229. Auch abgedruckt in: „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933-1945, bearb. von Wolfgang Ayaß. Koblenz 1988, S. 366-373. 260 „Bei Verurteilung wegen Vergehen gegen den § 175 RStGB ist die Anordnung der Entmannung auch nicht in mittelbarer Anwendung des § 42k in Verbindung mit § 2 RStGB möglich; wohl aber kann das Gericht Sicherungsverwahrung anordnen, wenn mit größter Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß der Täter nach seiner Entlassung aus der Strafhaft wieder auf sittlichem Gebiet rückfällig werde und somit eine Gefährdung der Öffentlichkeit durch ihn ungehindert fortbestehen werde.“ In: DStR (N.F.) 8 (1941), S. 168f. 261 Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 26.6.1935. In: RGBl. I 1935, S. 773. 262 Freiwillige Entmannungen. RdErl. d. RuPrMdI u. d. RJM v. 23.1.1936. In: Ministerial-Blatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Inneren, hg. vom Reichs- und Preußischen Ministerium des Inneren 1 (97) 1936, S. 257f., hier S. 257. Vgl. auch: N. Trunk: Die freiwillige Entmannung. Zu § 14/2 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Verfahren, Anwendungsbereich und Fortentwicklung. In: DJ 98 (1936), S. 1519-1525. 184 auf diese Weise versuchten, ihre Entlassung zu bewirken263. Auch homosexuelle Justizgefangene sahen in dieser Maßnahme häufig eine letzte Möglichkeit, die drohende Überweisung in ein KZ zu verhindern264, zumal von dem Erlaß des RSHA vom 12. Juli 1940, wonach „alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen“ seien265, diejenigen Homosexuellen, die „entmannt“ waren, ausgeschlossen waren, „wenn nach ärztlicher Begutachtung der Geschlechtstrieb bereits vollkommen abgeklungen und ein Rückfall in homosexuelle Verfehlungen nicht zu befürchten ist“266. Burkhard Jellonnek vermutet, daß darüber hinaus viele Homosexuelle die Stigmatisierung ihres sexuellen Erlebens bereits so verinnerlicht hatten, daß sie der „Entmannung“ bereitwillig zustimmten267.

Mit dem Antrag auf „freiwillige Entmannung“ versuchten zahlreiche der nach §§ 175, 175a Angeklagten, Einfluß auf das gerichtliche Urteil zu nehmen. Die Bereitwilligkeit eines Angeklagten, sich kastrieren zu lassen, konnte in der Tat eine Strafmilderung zur Folge haben, wie im Fall eines wegen eines Vergehens nach § 175a/3 Angeklagten, der statt einer Zuchthausstrafe eine einjährige Gefängnisstrafe erhielt268. Einige Angeklagte versuchten, diese Möglichkeit der Strafmilderung auszunutzen und stellten einen Antrag auf freiwillige „Entmannung“, den sie unmittelbar nach der Verurteilung wieder zurückzogen269. Die Gerichte nahmen deshalb zunehmend davon Abstand, die bloße Absicht eines Angeklagten, sich kastrieren zu lassen, in die Strafbemessungsüberlegungen einzubeziehen. Es wurde jedoch in diesen Fällen in den Urteilsbegründungen darauf hingewiesen, daß für den Fall der Ausführung der „Entmannung“ die Bereitwilligkeit des Angeklagten zu dieser Maßnahme bei einem eventuellen Gnadengesuch270 oder bei der Prüfung der Entlassung aus der

263 Vgl. insbesondere Homosexualität in der NS-Zeit, S. 305ff. sowie Frank Sparing: „...daß er es der Kastration zu verdanken hat, daß er überhaupt in die Volksgemeinschaft entlassen wird“. Die Entmannung von Homosexuellen im Bereich der Kriminalbiologischen Sammelstelle Köln. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 160-181. Vgl. hierzu auch die Lebensgeschichte von Friedrich-Paul von Groszheim, der nach der Entlassung aus dem KZ vor die Wahl gestellt wurde, sich entweder kastrieren zu lassen oder erneut inhaftiert zu werden. In: Lutz van Dijk: Ein erfülltes Leben – trotzdem... Erinnerungen Homosexueller 1933-1945. Reinbek 1992, S. 25-34. 264 Vgl. hierzu beispielsweise Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1578. 265 Runderlaß Reichssicherheitshauptamt, 12.7.1940. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 89, S. 311; vgl. auch Kapitel 5.3.1. 266 Erlaß Reichskriminalpolizeiamt, 23.9.1940. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 90, S. 312. 267 Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990, S. 153. 268 Personalakte des Gefangenen K.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13947. 269 So z.B. Personalakte des Gefangenen M.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/304. 270 Personalakte des Gefangenen O.O.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5092. 185

Sicherungsverwahrung271 positiv bewertet werden sollte. Hierbei kam es vor, daß einem Angeklagten nachdrücklich nahegelegt wurde, „durch freiwillige Ausführung dieser Maßregel [der Kastration] auf eine Abkürzung der Sicherungsverwahrung hin[zu]wirken“272.

Ein anderer Aspekt der „Entmannung“ betraf die Rückfälligkeit: Wurden „entmannte“ Homosexuelle erneut straffällig, wirkte sich dies deutlich negativ auf die Strafbemessung aus. So wurde ein wegen versuchter Verführung nach § 175a/3 Angeklagter – dessen Straftat darin bestand, einem Arbeitskollegen Geschenke gemacht und Briefe geschrieben zu haben, um diesen zu homosexuellen Handlungen zu „verführen“ – zu 15 Monaten Zuchthaus und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, da das Gericht festzustellen können glaubte, daß es sich bei dem Angeklagten um einen Menschen handele, „bei dem der Hang zu homosexueller Betätigung durch jahrelangen Mißbrauch und Gewöhnung so tief eingeschliffen ist, daß selbst die Entmannung [...] es nicht vermocht hat, ihn von seinen dahingehenden Gedankenbildern und Wunschträumen zu befreien“273. Ein anderer Angeklagter wurde wegen fortgesetzter Onanie bei einem anderen Mann zu drei Jahren Zuchthaus und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, da „das unzüchtige Treiben“ zeige, „daß auch die vorgenommene Entmannung seine Gefährlichkeit auf diesem Gebiete nicht beseitigt hat“, weshalb die Gefahr bestehe, „daß er auch in Zukunft den Rechtsfrieden erheblich stören wird“274.

4.1.6.3.4. Unterbringung in einem Arbeitshaus (§ 42d) und Untersagung der Berufsausübung (§ 42l)

Die Maßregeln der Sicherungsverwahrung und der „Entmannung“ waren die Homosexuelle am häufigsten betreffenden gerichtlich angeordneten Maßnahmen. Das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ sah weitere Maßregeln vor275, die sich – unter den im Gesetz genannten spezifischen Umständen – in Einzelfällen auch gegen Homosexuelle richteten. So wurde wegen eines Homosexualitätsdelikts verurteilten Männern die Ausübung ihres Berufs gerichtlich untersagt, wenn sie nach Auffassung des Gerichts ein Vergehen „unter Mißbrauch [...] [ihres] Berufs oder Gewerbes“276 begangen hatten – einem Friseur, der mit einem Kunden „in seinem Geschäftslokal [...] unzüchtige[] Handlungen

271 Personalakte des Gefangenen F.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1790. 272 Personalakte des Gefangenen M.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 44/616. 273 Personalakte des Gefangenen R.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5043. 274 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7496. 275 Vgl. Kapitel 4.1.3.4.2. 276 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 24.11.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 995-999, hier S. 997. 186 vorgenommen hat“, wurde, „um die Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung durch die Ausübung des Gewerbes seitens des Angeklagten zu schützen“, die Berufsausübung für drei Jahre untersagt277; einem anderen Angeklagten wurde die Konzession für das Betreiben einer Schankstube entzogen, da er mit Kunden seines Lokals homosexuell verkehrt hatte278. Wurde ein Angeklagter wegen „gewerbsmäßiger Unzucht“ in Tateinheit mit § 361/6 verurteilt, da das Gericht der Überzeugung war, daß der Betroffene sich „öffentlich in auffälliger Weise oder in einer Weise, die geeignet ist, einzelne oder die Allgemeinheit zu belästigen, zur Unzucht auffordert oder sich dazu anbietet“279, so konnte gegen diesen nach § 42d zudem die Unterbringung in einem Arbeitshaus angeordnet werden, wenn diese Maßnahme als erforderlich angesehen wurde, um den Betroffenen „zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen“280. So wurde bei einem mehrfach vorbestraften Angeklagten, der sich „in der als Strichgegend für Homosexuelle bekannten Gegend am Rhein“ aufgehalten und dort „in Gesellschaft von bekannten Strichjungen beobachtet [wurde], wobei er sich besonders auffallend verhielt“ und einem „ihm unbekannten Kriminalbeamten in unmißverständlicher Weise mit dem Kopfe zuwinkte“, von der Anordnung der Arbeitshausunterbringung Gebrauch gemacht281; bei einem anderen Angeklagten, dem ein „arbeitsscheue[s] Wesen[]“ und ein „Hang[] zu strafbaren Handlungen“ nachgesagt wurde, hielt das Gericht es „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und im eigenen Interesse des E.B. zu seiner Wiedererziehung zu einem nützlichen Gliede der Volksgemeinschaft“ für nötig, die Unterbringung in einer „Arbeitsanstalt“ für einen Zeitraum von 18 Monaten zu verfügen282.

277 Personalakte des Gefangenen E.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7706. 278 Personalakte des Gefangenen K.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/250. 279 Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 640. 280 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 24.11.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 995-999, hier S. 996. 281 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14075. 282 Personalakte des Gefangenen E.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 586. 187

4.1.6.4. Strafrechtspraxis bei Verurteilungen nach § 175

Die in § 175 festgelegten Strafrechtsbestimmungen zum Tatbestand der Homosexualität blieben nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ zunächst unverändert bestehen283. Allerdings wurde die mit der Neuformulierung des § 175 in der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 verbundene Rechtsänderung zum Teil schon vor ihrem Inkrafttreten vorweggenommen: In einer Entscheidung vom 1. August 1935 hielt das Reichsgericht zwar formal an dem Erfordernis der „beischlafähnlichen“ Handlung zur Erfüllung des Straftatbestandes der Homosexualität fest, überließ jedoch – mit dem Hinweis auf die Novellierung des Paragraphen und der darin zum Ausdruck kommenden gewandelten Rechtsauffassung – die Definition dieses Strafbarkeitskriteriums den Gerichten und schloß insbesondere die gegenseitige Onanie nicht davon aus284. Wie in einer späteren Entscheidung vom 6. August 1936 festgestellt wurde, war man sich durchaus bewußt, daß die geänderte „Volksanschauung“ darüber, daß „auch nichtbeischlafähnliche unzüchtige Handlungen eines Mannes mit einem anderen Manne“ strafwürdig seien, dem Richter nicht ohne weiteres die Befugnis gebe, „derartige Handlungen auch dann zu bestrafen, wenn sie vor dem 1. September 1935 begangen worden sind“. Die durch das geltende Recht bestehende Regelung wurde jedoch dadurch umgangen, daß den Gerichten freigestellt wurde, im Einzelfall auch die wechselseitige Onanie als „beischlafähnlich“ zu werten285. Diese Praxis wurde vielfach als ungenügend kritisiert, und es wurde weitergehend gefordert, daß schon „in der Übergangszeit“ bei der Auslegung des § 175 stärker „dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung“ getragen werden sollte, da „die vom Gesetzgeber im vorigen Jahrhundert vertretene Auffassung“ über die Homosexualität „dem heutigen allgemeinen Volksempfinden [...], das im Interesse der Bildung und des Bestands eines qualitativ und quantitativ starken sowie sittlich gesunden Volkes die nachdrückliche Bestrafung [...] widernatürlichen Sexuallebens verlangt“, nicht mehr entspreche286.

283 Vgl. Kapitel 4.1.3.2. 284 „Zum Begriff der widernatürlichen Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts.“ In: RGSt 69 (1936), S. 273-276. 285 „Gibt die Volksanschauung, die in neuerer Zeit immer mehr durchgedrungen ist, daß auch nicht beischlafähnliche unzüchtige Handlungen eines Mannes mit einem anderen Manne fragwürdig seien, dem Richter die Befugnis, derartige Handlungen auch dann zu bestrafen, wenn sie vor dem 1. September 1935 begangen worden sind?“ In: RGSt 70 (1937), S. 277-281. Vgl. auch: „Der Irrtum darüber, ob die wechselseitige Onanie als beischlafähnliche Handlung anzusehen ist, ist unbeachtlich.“ In: DJ 98 (1936), S. 1533. 286 Botho Schleich: Die Bekämpfung der Homosexualität und die Rechtsprechung. In: DR 7 (1937), S. 299f. Vgl. hierzu auch die Kritik von Rudolf Klare, der das Festhalten an dem Begriff der „Beischlafähnlichkeit“ für Fälle, die nach dem § 175 alter Fassung abzuurteilen waren, grundsätzlich ablehnte: Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 135f. 188

Schließlich regelte das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 3. Juli 1937 den Konflikt dahingehend, daß es für den Rechtsbegriff der „Beischlafähnlichkeit“ nicht darauf ankomme, ob die „unzüchtige Betätigung“ dem „natürlichen Geschlechtsverkehr“ im äußeren Geschehen ähnele, sondern entscheidend sei, ob „eine Befriedigung, [...] die der ähnlich ist, die mit dem natürlichen Geschlechtsverkehr verbunden ist“, herbeigeführt werden sollte. Die „gegenseitige Onanie“ sei deshalb „stets beischlafähnlich“287.

Die durch die Entscheidungen des Reichsgerichts möglich gewordene erweiterte Auslegung auch des § 175 alter Fassung wurde von den Richtern konsequent umgesetzt. Bereits vor dem Inkrafttreten des neuformulierten § 175 am 1. September 1935 wurden wegen gegenseitiger Onanie angeklagte Männer – zum Teil mit Bezug auf die Reichsgerichtsentscheidung vom 1. August 1935 288 – zu Freiheitsstrafen verurteilt. Auch nach Inkrafttreten der Strafrechtsnovelle wurden homosexuelle Handlungen, die vor diesem Zeitpunkt begangen worden waren, nach § 175 alter Fassung als dem zur Tatzeit geltenden Recht geahndet. Die vor dem 1. September 1935 betriebene gegenseitige Onanie reichte, obwohl formell an dem Begriff der „Beischlafähnlichkeit“ festgehalten wurde, in diesen Urteilen zur Erfüllung der Strafbarkeitsvoraussetzungen aus. Begründet wurde dies damit, daß die Handlungen „der Ausübung des natürlichen Beischlafs durchaus ähnlich“289 seien bzw. der Tatbestand des § 175 als erfüllt anzusehen sei, da die Handlungen „der Befriedigung der Wollust“ gedient hätten290. In Anlehnung an die Reichsgerichtsentscheidung vom 3. Juli 1937 wurde beispielsweise eine gerichtliche Entscheidung damit begründet, daß „für die Entscheidung, ob die unzüchtige Betätigung eines Mannes am Körper eines anderen Mannes 'beischlafähnlich'“ sei, es nicht darauf ankomme, ob „sie in ihrem äußeren Geschehen nach Art der Ausführung mehr oder weniger der Form ähnelt, in welcher der normale Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau vor sich zu gehen pflegt“; vielmehr sei von Bedeutung, „ob durch die Betätigung des einen Beteiligten an dem Körper des anderen eine geschlechtliche Befriedigung eines von ihnen beiden herbeigeführt werden soll, welche der mit dem normalen Geschlechtsverkehr verbundenen ähnlich ist“291. Strafmildernd wurde bei der Umsetzung der genannten Reichsgerichtsentscheidungen bei Verurteilungen nach

287 „Beischlafähnlichkeit ist ein Rechtsbegriff. Für ihn kommt es nicht darauf an, ob die unzüchtige Handlung dem natürlichen Geschlechtsverkehr im äußeren Geschehen ähnelt, sondern darauf, ob dadurch eine Befriedigung, ähnlich der, die mit dem Beischlafe verbunden ist, herbeigeführt werden soll. Die gegenseitige Selbstbefriedigung ist stets beischlafähnlich.“ In: RGSt 71 (1938), S. 281-283, hier S. 281, 283. 288 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 652; Personalakte des Gefangenen K.Z.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 16880. 289 Personalakte des Gefangenen A.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 16529. 290 Personalakte des Gefangenen O.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4087. 291 Personalakte des Gefangenen M.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3239. 189

§ 175 alter Fassung gelegentlich berücksichtigt, daß „die Unzuchtshandlungen in eine Zeit fallen, in der fast allgemein die irrige Ansicht verbreitet war, wechselseitige Onanie sei nicht strafbar“292, bzw. wurde eingeräumt, daß der Angeklagte „bei einer früheren Aburteilung [...] wahrscheinlich freigesprochen worden wäre“, da „der Vorfall sich in einer Zeit abspielte, als noch die alte Fassung des § 175 galt und die gegenseitige Onanie von den Gerichten noch nicht als strafbar angesehen wurde“293. Im Fall eines 1936 nach § 175 alter Fassung Verurteilten differenzierte das Landgericht Kleve zwischen gegenseitiger und einseitiger Onanie und sprach einen Angeklagten in den Fällen der einseitigen Onanie frei, da „eine weitere Ausdehnung dieses Begriffs [der „Beischlafähnlichkeit“] dahin, daß auch einseitige Onanie hierunter zu fassen ist, nicht angeht“294.

Bei Verurteilungen aufgrund von homosexuellen Handlungen, die nach dem 1. September 1935 begangen worden waren, wurden uneingeschränkt die Bestimmungen des § 175 neuer Fassung angewendet. Daß einzelne Angeklagte unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Strafrechtsnovelle von der Neuformulierung des § 175 noch nicht erfahren hatten und deshalb glaubten, sich nicht strafbar gemacht zu haben, fand bei der Strafzumessung in der Regel keine Beachtung295, schließlich sei „die künftige Verschärfung der Bestimmungen des § 175 durch Pressenachrichten [...] allgemein bekannt“ gegeben worden296. In einem Fall bewirkte die Angabe eines Angeklagten, er habe „infolge seiner Strafverbüßung [...] von der Änderung der Gesetzgebung zum § 175 nichts erfahren und habe deshalb geglaubt, die gegenseitige Onanie sei straflos“, immerhin, daß die von der Anklagebehörde geforderte Sicherungsverwahrung nicht angeordnet wurde297.

Durch den Wegfall der Beschränkung der „widernatürlichen Unzucht“ auf sog. beischlafähnliche Handlungen erfüllte zusätzlich zu den bisher strafbaren homosexuellen Handlungen nicht nur die gegenseitige Onanie die Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 175298, sondern darüber hinaus sollte der Straftatbestand „Homosexualität“ nach einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 4. Juni 1936 bei „jede[r] Art von Unzucht zwischen Männern“ erfüllt sein, wozu es ausreichte, daß eine „auf die Erregung oder Befriedigung der eigenen oder fremden Geschlechtslust gerichtete Handlung des Täters geeignet ist, das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Hinsicht zu

292 Personalakte des Gefangenen T.C.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 956. 293 Personalakte des Gefangenen P.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2202. 294 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/138. 295 Personalakte des Gefangenen R.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4259. 296 Personalakte des Gefangenen F.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4720. 297 Personalakte des Gefangenen K.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14681. 298 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen G.E.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1505; Personalakte des Gefangenen O.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7817. 190 verletzen“, und dabei der Täter den Körper eines anderen Mannes „als Mittel benutzt, Wollust zu erregen oder zu befriedigen“299. Bei der Einschätzung des „Scham- und Sittlichkeitsgefühls“ war es, so die Ausführungen Klares, „ohne Belang, was ein sittlich anständiger Mensch, der nur das äußere Geschehen betrachtet, über das Ereignis denkt“, entscheidend sei vielmehr, „wie die gesunde Volksanschauung urteilen würde, wenn ihr die Handlung in ihrer ganzen Bedeutung, also sowohl das körperliche Tun wie auch die Gesinnung und die Willensrichtung des Täters bekannt wäre“300. Wurde bei Verurteilungen nach § 175 am Erfordernis einer körperlichen Berührung noch eine gewisse Zeit festgehalten, so entfiel schließlich auch diese Begrenzung: Nach einem Urteil des Reichsgerichts vom 9. Januar 1939 konnte „der Körper eines anderen durch Treiben von Unzucht auch dann in Mitleidenschaft gezogen sein [...], wenn hierbei eine körperliche Berührung nicht stattgefunden hat und auch gar nicht beabsichtigt gewesen ist“. Zur Erfüllung des Straftatbestandes der Homosexualität reichte bereits eine an den anderen gerichtete Aufforderung aus, „seinen Körper, namentlich den Geschlechtsteil, unzüchtigen Blicken preiszugeben“, allerdings wiederum nicht das bloße „Betrachten des entblößten Körpers des anderen Mannes in wollüstiger Absicht“301. Auf diese Weise konnte auch die von zwei Männern voreinander betriebene Onanie bestraft werden 302.

Die in den Entscheidungen des Reichsgerichts erkennbar werdende weite Auslegung der Strafrechtsbestimmungen zur Homosexualität wird auch in der Rechtsprechungspraxis deutlich: Ein Wehrmachtsoldat wurde zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er versucht hatte, zum Teil minderjährige Mitglieder seiner Einheit unsittlich zu berühren, was von diesen abgewehrt worden war303; bei einem anderen Soldat sah das Gericht „den Tatbestand des Vergehens der Unzucht zwischen Männern nach § 175 StGB“ als erfüllt an, weil er bei einem Zeugen „nach dessen Geschlechtsteil griff und diesen auch anfaßte“, wobei es – gemäß einer Reichsgerichtsentscheidung vom 27. April 1937304 – „ohne Belang [war], daß der Angeklagte nicht den bloßen Geschlechtsteil

299 „Zum Begriff der 'Unzucht' zwischen Männern i.S. des § 175 Abs. 1 StGB.“ In: RGSt 70 (1937), S. 224f., hier S. 225. 300 Klare, Homosexualität und Strafrecht, S. 134f. 301 „Das Merkmal des Unzuchttreibens mit einem anderen i.S. der §§ 175, 175a StGB kann auch durch Handlungen erfüllt sein, bei denen keine körperliche Berührung des anderen stattgefunden hat. Das Betrachten des entblößten Körpers des anderen Mannes in wollüstiger Absicht reicht hierzu nicht ohne weiteres aus.“ In: RGSt 73 (1940), S. 78-81. 302 Personalakte des Gefangenen M.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11833. 303 Personalakte des Gefangenen F.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1952. 304 „Für ein vollendetes Vergehen gegen § 175 StGB ist weder erforderlich, daß der Körper des anderen entblößt gewesen, noch daß dieser mit dem Tun des Angeklagten einverstanden gewesen ist.“ In: JW 66 (1937), S. 1797. 191 erfaßte, sondern über die Hose griff“305. Ein mehrfach vorbestrafter Angeklagter wurde als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er in einer Gastwirtschaft einen Zeugen zu homosexuellen Handlungen aufgefordert und diesen unsittlich am Oberschenkel berührt habe306; in einem anderen Fall räumte das Landgericht Aurich bei einem Angeklagten, der versucht hatte, andere Männer zur gegenseitigen Onanie zu veranlassen, indem „er ihre Hand an seinen entblößten oder auch verdeckten Geschlechtsteil führte“, ein, daß „die Handlungen über einen [...] strafbaren Versuch nicht hinausgekommen sind“307, und sprach eine siebenmonatige Gefängnisstrafe aus. Erkennbar wird an diesen Beispielen, daß die Grenze zwischen der straflosen Vorbereitung und dem strafbaren Versuch immer stärker subjektiviert wurde, hatte doch Freisler vor der Akademie für Deutsches Recht betont, daß „für die Strafwürdigkeit menschlichen Handelns nicht die Tat, sondern der verbrecherische Wille des Täters entscheidend“ sei308.

Vergleichsweise hohe Strafen drohten denjenigen Angeklagten, denen vorgeworfen wurde, homosexuelle Handlungen unter Ausnutzung der in der sog. Volksschädlingsverordnung genannten Umstände begangen zu haben: Zu insgesamt drei Jahren Zuchthaus wurde beispielsweise ein Angeklagter nach § 175 sowie gleichzeitig nach § 2 der sog. Volksschädlingsverordnung309 verurteilt, dem vorgeworfen wurde, einen anderen Mann unsittlich berührt zu haben und dabei „bewußt die als Kriegsmaßnahme angeordnete Verdunkelung ausgenutzt“ zu haben310. Fanden Berührungen von Männern in der Öffentlichkeit statt, so drohte eine zusätzliche Verurteilung nach § 183 (Erregung öffentlichen Ärgernisses), wie im Fall eines zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilten Arbeiters, dessen Straftat darin gesehen wurde, daß er in einem Lokal einem anderen Mann „mit dem Arm um den Hals faßte und ihn auf die Wangen küßte“311.

Hatte ein Angeklagter mit einem Partner mehrere homosexuelle Handlungen begangen, wurde in der Regel statt mehrerer Einzelhandlungen eine fortgesetzte Handlung angenommen312. Begründet

305 Personalakte des Gefangenen M.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8137. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen K.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13947. 306 Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/232. 307 Personalakte des Gefangenen J.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14079. 308 Roland Freisler: Der Versuch. In: ZAkDR 1 (1934), S. 82-84, hier S. 83. 309 § 2 der Verordnung gegen Volksschädlinge, 5.9.1939: „Verbrechen bei Fliegergefahr“. Abgedruckt in: RGBl. I 1939, S. 1679. 310 Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 41/320. 311 Personalakte des Gefangenen F.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4187. 312 Personalakte des Gefangenen K.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/405; Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/90. 192 wurde die Annahme eines Fortsetzungszusammenhangs damit, daß die Handlungen mit einem Partner als „ein in sich abgeschlossener einheitlicher Vorgang“ angesehen werden könnten, bei dem „eine gewisse Stetigkeit der sämtlichen Handlungen“ sichtbar werde313. Von dieser Praxis wurde in Einzelfällen dann abgewichen, wenn die Handlungen in großem zeitlichen Abstand zueinander begangen wurden, da angenommen wurde, daß der Angeklagte dann nicht aus einem einheitlichen Vorsatz gehandelt habe314. Unklarheit bestand zunächst darüber, ob ein Fortsetzungszusammenhang auch vorliege, wenn sich ein Angeklagter mit mehreren Partnern homosexuell betätigt hatte. Im August 1935 stimmte das Reichsgericht einer Auslegung der Strafvorschrift des § 175 alter Fassung zu, wonach „die widernatürliche Unzucht mit einem anderen Manne zugleich eine Verletzung eines höchstpersönlichen Rechtsgutes dieses Mannes“ bedeute, weshalb „nach allgemeinen Grundsätzen die Verletzung dieses Rechtsgutes bei mehreren Personen zur Annahme mehrerer selbständiger Handlungen“ zwinge315. Dagegen argumentierte der 1. Strafsenat des Reichsgerichts im Januar 1936, daß „mehrere an sich selbständige Handlungen [...] grundsätzlich [...] dann rechtlich zu einer fortgesetzten Straftat zusammengefaßt werden [können], wenn sie sich gegen dasselbe Rechtsgut richten“. Der § 175 schütze jedoch nicht vordergründig „ein höchstpersönliches Rechtsgut des einzelnen“, da in diesem Fall auch in gegenseitigem Einverständnis vorgenommene homosexuelle Handlungen straflos bleiben müßten, sondern vielmehr diene die Strafbestimmung – gemäß der nationalsozialistischen Auffassung vom Vorrang des Allgemeinwohls gegenüber dem Wohl des Individuums – dazu, „ohne Rücksicht auf die Schutzwürdigkeit einzelner“ die „körperliche und geistige Gesundheit des Volkes auch auf dem Gebiet der geschlechtlichen Betätigung zu erhalten und vor Abirrungen zu bewahren und damit zugleich den Fortbestand des Volkes zu sichern“. Dementsprechend kam der Strafsenat zu der Überzeugung, daß es für die Frage der Einheit oder Mehrheit von Vergehen gegen § 175 nicht von entscheidender Bedeutung sei, ob sich der Täter mit einem oder mehreren anderen Männern gleichgeschlechtlich betätigt habe316. Dieser Auffassung widersprach der 2. Strafsenat des Reichsgerichts in einer Entscheidung vom 13. August 1936: Bei Straftaten, „die sich gegen Leben, Gesundheit, Ehre und sittliche Reinheit verschiedener

313 Personalakte des Gefangenen H.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12240. 314 Personalakte des Gefangenen R.N.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/335. 315 „Widernatürliche Unzucht mit mehreren Männern ist nicht eine fortgesetzte Handlung.“ In: JW 64 (1935), S. 2732-2735. 316 „Können mehrere Handlungen, die gegen § 175 StGB a.F. verstoßen, auch dann im Fortsetzungszusammenhang stehen, wenn sie mit verschiedenen anderen Männern begangen werden?“ In: RGSt 70 (1937), S. 145-151. 193

Volksgenossen richten“, so auch der „Unzucht mit verschiedenen Männern“, könne grundsätzlich keine fortgesetzte Handlung angenommen werden317.

Die uneinheitlichen Entscheidungen des Reichsgerichts über die Annahme eines Fortsetzungszusammenhangs bei homosexuellen Handlungen, die mit mehreren Partnern ausgeübt wurden, spiegeln sich auch in der Rechtsprechungspraxis wider: Überwiegend wurde in diesen Fällen auf Tatmehrheit entschieden, und es wurden dementsprechend hohe Freiheitsstrafen verhängt318. In der kurzen Zeit nach der die Zulässigkeit eines Fortsetzungszusammenhangs befürwortenden Entscheidung des 1. Strafsenats (Januar 1936) und vor dem ablehnenden Urteil des 2. Strafsenats (August 1936) wurde die Tateinheit homosexueller Handlungen auch dann gesehen, wenn diese mit verschiedenen Männern begangen worden waren319.

4.1.6.5. Strafrechtspraxis bei Verurteilungen nach § 175a

Als sog. qualifizierte Fälle der Homosexualität galten homosexuelle Handlungen, die unter Anwendung von Gewalt (§ 175a/1), bei Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses (§ 175a bzw. § 175 in Tateinheit mit § 174), an Minderjährigen unter 21 Jahren (§ 175a bzw. § 175 in Tateinheit mit § 176) oder „gewerbsmäßig“ (§ 175a/4) vorgenommen wurden. Für diese Straftatbestände sah der in der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 neu geschaffene § 175a Zuchthausstrafen bis zu 10 Jahren vor. Im Gegensatz zur erweiterten Auslegung des § 175 neuer Fassung, die die Gerichte in der Praxis bereits vor dem Inkrafttreten der Novelle anwendeten320, wurden die Bestimmungen des § 175a erst nach dem 1. September 1935 umgesetzt321.

Die sog. Nötigung eines anderen Mannes zur Unzucht „mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gewalt für Leib und Seele oder Leben“ (§175a/1) betraf nur in seltenen Fällen die Bedrohung eines erwachsenen Mannes. Mehrheitlich handelte es sich bei den Betroffenen um

317 „Können mehrere Handlungen, die gegen § 175 StGB a.F. oder n.F. verstoßen, auch dann im Fortsetzungszusammenhang stehen, wenn sie mit verschiedenen anderen Männern begangen worden sind?“ In: RGSt 70 (1937), S. 282-285. Vgl. hierzu z.B. auch die Entscheidung des Reichsgerichts vom 31.3.1939: „Verbrechen der Rassenschande, die mit verschiedenen Personen begangen sind, können zueinander nicht im Fortsetzungszusammenhang stehen.“ In: RGSt 73 (1940), S. 164-168. 318 Personalakte des Gefangenen H.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12240; Personalakte des Gefangenen B.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6597. 319 Personalakte des Gefangenen A.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5060. 320 Vgl. Kapitel 4.1.6.4. 321 Vgl. z.B. die Urteilsbegründung des Landgerichts Stolp in: Personalakte des Gefangenen K.Z.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 16880. 194 männliche Jugendliche, so daß gleichzeitig eine Verurteilung nach § 175a/3 erfolgte322; war der Genötigte noch keine 14 Jahre alt, so wurde die Strafe gemäß § 73323 nach § 176/3 bemessen324. Bei der Anwendung des § 175a/1 stellte das jeweilige Gericht in der Regel die Gefahr heraus, die von einem Mann ausgehe, der bei der Begehung von Vergehen nach § 175 „sogar vor der Anwendung von Gewalt nicht zurückschreckt“325. In Einzelfällen wurde von der Anwendung des § 175a/1 abgesehen, wenn das Gericht feststellte, daß der Angeklagte, „sobald er merkte, daß es sich um einen ernstlichen Widerstand [des Zeugen] handelte, von dem betreffenden Manne stets abgelassen“ habe326. Ähnlich verhielt es sich bei Verurteilungen, wenn unterstellt wurde, daß homosexuelle Handlungen „unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit“ vorgenommen wurden (§ 175a/2). Auch hier wurde die Ausnutzung des bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses mehrheitlich nicht hinterfragt, obwohl die Beschreibung des Tathergangs vielfach daran Zweifel aufkommen läßt327 und nach einer Entscheidung des Reichsgerichts das bloße Bestehen einer Abhängigkeit nicht zu einer Verurteilung nach § 175a/2 ausreichte, sondern vielmehr unzweifelhaft festgestellt werden mußte, daß „dieses Verhältnis dazu benutzt worden ist, auf den anderen [...] einzuwirken“328. In einem Fall wurde einem Lehrer, der mit Schülern homosexuell verkehrt haben sollte, zugestanden, daß nicht in allen Fällen festgestellt werden konnte, daß er „als Vorgesetzter einen Druck auf die Untergebenen ausübte, daß er also mit dem Übergewicht rechnete, das die Vorgesetztenstellung gegenüber dem Untergebenen seinem Willen erfahrungsgemäß verleiht“329. Der Betroffene wurde deshalb nach § 175 zu einer Gefängnisstrafe und nicht nach § 175a zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Die Mehrheit der nach § 175a/2 abgeurteilten Fälle betraf Vorgesetzte in der Wehrmacht330 oder in NS-Organisationen

322 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen E.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8160; Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3682; Personalakte des Gefangenen S.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 9. 323 § 73 StGB regelte das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen: „Wenn eine und dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze verletzt, so kommt nur dasjenige Gesetz, welches die schwerste Strafe, und bei ungleichen Strafarten dasjenige Gesetz, welches die schwerste Strafart androht, zur Anwendung.“ Vgl. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 229. 324 Personalakte des Gefangenen K.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14985. 325 Personalakte des Gefangenen E.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1910. 326 Personalakte des Gefangenen F.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1952. 327 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2993. 328 „Wann wird die Abhängigkeit, die durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründet ist, i.S. des § 175a Nr. 2 StGB 'mißbraucht'?“ In: RGSt 71 (1938), S. 8-10, hier S. 8. 329 Personalakte des Gefangenen E.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3038. 330 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen A.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5032; Personalakte des Gefangenen R.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8743; Personalakte des Gefangenen E.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2506; Personalakte des Gefangenen H.Z.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7926. 195

(HJ331, Jungvolk332). In selteneren Fällen lieferte das Abhängigkeitsverhältnis im Beruf, z.B. zwischen Lehrherrn und Lehrling333, Anlaß für eine Verurteilung nach § 175a/2. Eine Verurteilung nach § 174, der im Vergleich zu § 175a/3 die schwerere Strafe vorsah, drohte demjenigen Angeklagten, der „unter Ausnutzung [...] seiner Stellung in einer Anstalt für Kranke oder Hilfsbedürftige einen anderen zur Unzucht mißbraucht“ (§ 174/1)334 oder als Erzieher einer ihm unterstellten Person galt (§ 174/1). Als Erzieher im Sinne der Strafbestimmung galten nach einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 18. Januar 1934335 auch Vorgesetzte in der HJ ab dem Rang eines „Bannführers“, da diesen, so die Auffassung des Landgerichts Bochum, neben der „Dienst- und Befehlsgewalt über die ihnen unterstehenden Hitlerjungen [...] auch große erzieherische Aufgaben oblagen“336. Zwar ließ die Entscheidung des Reichsgerichts eine Regelung für die der Rangordnung folgenden „Führer“ offen; in der Rechtspraxis wurde § 174/1 jedoch auch auf rangniedrigere Betreuer in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen angewendet337.

Den größten Teil der Verurteilungen nach § 175a machten die in § 175a/3 geregelten Fälle aus – also die „Verführung“ einer männlichen Person unter 21 Jahren durch einen Mann über 21 Jahren. Dies verwundert nicht, denn es kann davon ausgegangen werden, daß sich die Ermittlung für die beteiligten Verfolgungsinstanzen häufig einfacher gestaltete, da die Anklagen oftmals Folge einer Anzeige durch Eltern oder – soweit die Handlungen nicht in gegenseitigem Einverständnis erfolgten – auch durch die betroffenen Jugendlichen selbst waren338. Bei einer Anklage wegen Vornahme „unzüchtiger Handlungen“ mit Personen unter 14 Jahren drohte dem Betroffenen gleichzeitig eine

331 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen E.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1822; Personalakte des Gefangenen F.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3117; Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 41/209. 332 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3499. 333 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen R.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4880; Personalakte des Gefangenen F.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2. 334 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen J.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5375; Personalakte des Gefangenen A.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15320; Personalakte des Gefangenen J.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15064; Personalakte des Gefangenen W.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/786. 335 „Ist der Bannführer der Hitlerjugend als 'Erzieher' im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB anzusehen?“ In: RGSt 68 (1935), S. 20-26. 336 Personalakte des Gefangenen W.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4671. 337 Personalakte des Gefangenen H.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15246; Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/305. 338 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen M.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5255; Personalakte des Gefangenen A.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4811; Personalakte des Gefangenen A.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15394; Personalakte des Gefangenen H.Z.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15097. 196

Verurteilung nach § 176/3339. Ebenso wie im Fall der §§ 175, 175a konnte auch bei Verurteilungen nach § 176/3 ein Fortsetzungszusammenhang bei wiederholten Handlungen nur dann angenommen werden, wenn diese sich gegen eine einzige Person richteten340.

Mit Freiheitsstrafen von durchschnittlich 4,1 Jahren Zuchthaus lag das Strafmaß bei Verurteilungen nach §§ 175a/3, 176/3 höher als im Gesamtdurchschnitt der nach § 175a Verurteilten (3,0 Jahre). Auch bei der Anwendung der in § 20a geregelten Bestimmungen der Strafschärfung läßt sich ein überproportional hoher Anteil der als „Jugendverführer“ verurteilten Homosexuellen feststellen: In 16,8 % dieser Fälle, bei denen die objektiven Voraussetzungen des § 20a gegeben waren, wurde von der Möglichkeit der Strafschärfung Gebrauch gemacht, während es bei den übrigen nach § 175a Verurteilten 13,6 % waren. Zum einen dürfte dies Folge der immer wieder erhobenen Forderungen nach der „erforderliche[n] Härte im Strafmaß“ gegenüber „Sittlichkeitsverbrechern, die sich an Jugendlichen und Kindern vergangen haben“, gewesen sein341. Darüber hinaus wird an den Urteilsbegründungen deutlich, daß homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen auch von den Richtern als besonders abstoßend und verwerflich angesehen wurden. Unterstellt wurde, daß die jungen Männer ihre sexuelle Identität noch nicht gefunden hätten und homosexuelle Kontakte mit Älteren nicht frei entschieden seien342. Den nach § 175a/3 bzw. § 176/3 verurteilten Männern wurde als „gefährlichen Jugendverführer[n]“343 und „Schädling[en] der deutschen Jugend“ ein in höchstem Maß „verwerfliches“ und „gemeinschädliches“ Verhalten vorgeworfen, durch das die betroffenen Jugendlichen – in diese Argumentation mischten sich häufig gängige Vorstellungen von der Ausbreitung der Homosexualität ähnlich einer Krankheit – möglicherweise für ihr ganzes Leben „verseucht“ seien344 bzw. das bewirkt hätte, daß „die Neigung zur Unzucht bei ihnen geweckt

339 „§ 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist gegenüber § 175 a Nr. 3 StGB keine Sondervorschrift.“ In: DJ 99 (1937), S. 1039. Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen F.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3645; Personalakte des Gefangenen F.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 39/104. 340 „Ein Fortsetzungszusammenhang bei wiederholten Verbrechen nach dem § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist rechtlich nicht möglich, wenn sich die Handlungen gegen verschiedene Kinder richten.“ In: RGSt 70 (1937), S. 243-245. 341 Mitteilung des Leiters der Partei-Kanzlei Martin Bormann an den Reichsminister der Justiz Dr. Thierack, 21.9.1942, betr. Strafzumessung gegenüber Sittlichkeitsverbrechern, die sich an Jugendlichen und Kindern vergangen haben; BA R 22/970, fol. 107-110, hier fol. 107. Vgl. auch die in den Richterbriefen abgedruckte Stellungnahme des Reichsministers der Justiz zu Urteilen bezüglich „Sittlichkeitsverbrechen an Kindern und Jugendlichen“, Richterbriefe, S. 12-14. 342 Daß diese Einschätzung an der Realität vorbeiging, zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 1977, in der Lautmann zu dem Ergebnis kommt, daß etwa zwei Drittel der von ihm befragten homosexuellen Männer sich vor ihrem 18. Lebensjahr ihrer sexuellen Orientierung bewußt waren. Vgl. Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977, S. 57f. 343 Personalakte des Gefangenen P.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4482. 344 Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2981. 197 worden“ sei345. Nach dem nationalsozialistischen Erziehungsanspruch war es „eine der vornehmsten Aufgaben des Staates [...], die Jugendlichen, die das kostbarste Volksgut darstellen, [...] zu schützen“346. Betont wurde in den Urteilsbegründungen immer wieder, daß der NS-Staat es nicht zulasse, daß „seine Jugend von Volksverderbern in sittlicher Beziehung gefährdet“ werde347 – dies insbesondere, da die Jugend „infolge der kriegsbedingten Abwesenheit der Väter“ und der daraus resultierenden „fehlenden Erziehung“ besonders gefährdet sei. Da „die deutsche Jugend im Interesse der Volksgemeinschaft und Rasse auf jeden Fall rein erhalten werden“ müsse348, stellten die Taten der Angeklagten „eine Sabotage an den Säuberungsbestrebungen des Führers“ dar349 bzw. würden die „Wurzel des Volkstums“ angreifen350, schließlich sei „die Jugend davor zu schützen, daß sie durch solche Verirrungen ihrer natürlichen Fortpflanzungsaufgabe entfremdet [werde]“351. Vor allem in der Kriegszeit wurde offen betont, daß „derartige Unzuchtshandlungen“ einen Rückgang der Bevölkerung und damit eine „Schädigung der Wehrkraft“ darstellten352.

Zum Tatbestand der „Verführung“ Minderjähriger im Sinne des § 175a/3 genügte nicht schon die bloße Beteiligung eines Jugendlichen unter 21 Jahren. In der Praxis wurde allerdings mehrheitlich davon ausgegangen, daß bei homosexuellen Handlungen Älterer mit jüngeren Partnern der Jugendliche zu der Handlung „verführt“ worden war. Auch wenn der wegen einer Straftat im Sinne des § 175a/3 Beschuldigte bestritt, der Urheber und „Verführer“ gewesen zu sein, wie im Fall eines zur Tatzeit 31jährigen Angeklagten, der mit jüngeren Partnern verkehrt hatte, ging das Gericht davon aus, daß jener die jüngeren Angeklagten verführt habe, da er „bereits homosexuelle Erfahrungen besaß und den Partnern kraft seiner geistigen Begabung ohne weiteres überlegen war“353. Die Angabe eines Angeklagten, das Alter des jeweiligen Zeugen höher eingeschätzt zu haben, schützte nur in Einzelfällen vor einer Bestrafung nach § 175a/3354 bzw. § 176/3355; mehrheitlich wurde davon ausgegangen, daß der Ältere die „geschlechtliche Unerfahrenheit“ und

345 Personalakte des Gefangenen E.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3078. 346 Personalakte des Gefangenen E.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1822. 347 Personalakte des Gefangenen H.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/385. 348 Personalakte des Gefangenen F.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2149. 349 Personalakte des Gefangenen G.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2900. 350 Personalakte des Gefangenen K.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3361. 351 Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1578. 352 Personalakte des Gefangenen O.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 80. 353 Personalakte des Gefangenen O.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5677. 354 Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7845. 355 Personalakte des Gefangenen H.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12379. 198

„geringe Widerstandsfähigkeit“ des Minderjährigen 356 bzw. dessen „Unkenntnis in großstädtischen und sexuellen Verhältnissen“ ausgenutzt habe357. Grundsätzlich werde unter „Verführung“, so die Auslegung durch das Landgericht Münster, „jede Einwirkung auf den Willen des Minderjährigen [...], die dazu dient, diesem dem beabsichtigten Verbrechen willfährig zu machen“, verstanden. Dabei handele es sich in der Regel „um eine zunächst gelinde einsetzende und sich dann steigernde Einwirkung auf das Vorstellungs- und Gefühlsleben des zu Verleitenden, wodurch sittliche Hemmungen zerstört und Lustgefühle erweckt werden sollen“358. Nur für den Fall, daß „der Minderjährige ohne Beeinflussung seines Willens zur Unzucht bereit gewesen ist und sich dazu ohne weiteres preisgegeben hat“, entfiel das Tatmerkmal der „Verführung“. „Unter Umständen“ könne aus der Feststellung, „daß der Jugendliche selbst gleichgeschlechtlich veranlagt ist und sittlich bereits vorher verdorben war“, geschlossen werden, daß dieser „von sich aus zur Unzucht bereit gewesen ist, daß es also bei ihm keiner Verführung bedurft hat“359. So lehnte in einem Fall das Landgericht Düsseldorf die Verurteilung eines Angeklagten nach § 175a/3 ab, da es „zum mindesten zweifelhaft [sei], ob der Zeuge mit den unsittlichen Berührungen nicht einverstanden war“. Hinzu komme, „daß der Zeuge nach diesem Erlebnis keine Bedenken gehabt hat, weiter mit dem Angeklagten zu verkehren, und ihn auch in der Wohnung aufsuchte, wo es gleichfalls zu widernatürlichen Unzuchtshandlungen gekommen ist.“360 Ein anderer Angeklagter, der mit Jugendlichen gegenseitig onaniert hatte, wurde nach § 175 und nicht nach § 175a/3 verurteilt, weil „nach der Überzeugung des Gerichts die drei Zeugen [...] zu den Unzuchtshandlungen bereit waren“361; in weiteren Fällen erkannte das Gericht an, daß nicht nachgewiesen werden könne, daß „es überhaupt noch nötig war, die anderen durch irgendwelche Mittel zur Verübung von Unzucht“ zu „verführen“362 oder daß „die Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen dem Angeklagten und [dem Zeugen] S. zustande

356 Personalakte des Gefangenen P.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2453. 357 Personalakte des Gefangenen K.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14824. 358 Personalakte des Gefangenen E.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14267. 359 „Was ist in § 175a Nr.3 StGB unter 'Verführung' zu verstehen? Welche Bedeutung hat es für den Begriff, wenn der Minderjährige selbst gleichgeschlechtlich veranlagt und bereits sittlich verdorben war?“ In: RGSt 70 (1937), S. 199f. Eine Verurteilung nach § 175a/3 StGB war darüber hinaus auch möglich, wenn ein Mann über 21 Jahren eine männliche Person unter 21 Jahren „zur Unzucht mißbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke willenlos oder bewußtlos gemacht hat“. Vgl. hierzu: „§ 175a Nr. 3, § 2 StGB. Ein Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren zur Unzucht mißbraucht, nachdem er sie zu diesem Zweck willenlos oder bewußtlos gemacht hat, ist gemäß § 175a Nr. 3, § 2 StGB ebenso zu bestrafen, wie wenn er sie zur Duldung der Unzucht verführt hätte; daß § 175 StGB unmittelbar eine Bestrafung der Tat ermöglicht, steht dem nicht entgegen.“ In: DJ 100 (1938), S. 196. 360 Personalakte des Gefangenen J.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2632. 361 Personalakte des Gefangenen P.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2410. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen W.D.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1109. 199 gekommen sind, beweise, daß S. von dem Angeklagten nicht verführt worden ist, sondern daß er es ebenso wie der Angeklagte auf eine gleichgeschlechtliche Betätigung von sich aus abgesehen hatte“363.

Die Annahme mildernder Umstände wurde bei Verurteilungen nach § 175a/3 bzw. § 176/3 zur seltenen Ausnahme364; vielmehr wurden vermeintliche homosexuelle Handlungen, die sich gegen Jugendliche bzw. Kinder richteten, schon bei geringfügigen Verdachtsmomenten Gegenstand eines Strafverfahrens. So wurde ein Angeklagter 1941 zu 15 Monaten Zuchthaus und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, weil er versucht haben soll, einen noch nicht 21jährigen Arbeitskollegen durch Geschenke und Briefe zu homosexuellen Handlungen zu bewegen365; ein anderer erhielt dafür, daß er einem Schüler während einer Kinovorstellung mehrfach die Hand auf den Oberschenkel gelegt haben soll, „bis der Zeuge seine Hände auf seine Knie legte und dadurch die Zugriffe des Angeklagten unmöglich machte“, eine 18monatige Zuchthausstrafe366, und ein weiterer Angeklagter wurde zu der gleichen Strafe verurteilt, da er, indem er zwei Jugendliche unsittlich berührte, „den Entschluß, eine männliche Person unter 21 Jahren zu verführen, sich zur Unzucht mißbrauchen zu lassen, durch Handlungen betätigt“ habe, auch wenn es nicht zu einer Vollendung des Verbrechens gekommen sei367. Folgender Fall ereignete sich im Oktober 1943: Ein mehrfach vorbestrafter Angeklagter hatte einen 17 Jahre alten Zeugen in einer Wirtschaft zu alkoholischen Getränken eingeladen und ihn anschließend auf dem Heimweg begleitet. Über den vermeintlichen Tathergang wird im Gerichtsurteil berichtet:

„Als der Zeuge einen Augenblick stehen blieb, um sich eine Zigarette anzuzünden, nutzte der Angeklagte diesen Moment aus und griff über der Hose nach dem Geschlechtsteil des Zeugen, wobei es ihm gelang, zwei Finger in den Hosenschlitz hineinzudrängen. Der Zeuge wehrte indessen sofort den Angeklagten ab und schlug ihm auf die Finger. Der Angeklagte machte daraufhin eine Bemerkung, derer sich der Zeuge dem Wortlaut nach nicht mit Genauigkeit entsinnt, die aber nach seiner bestimmten Erinnerung dem Sinne nach ausdrückte, es sei ja auch der erste Abend, der zweite Abend werde wohl besser werden. Der Angeklagte, der die vorgeschilderten Begleitumstände des Vorfalls einräumt, stellt in

362 Personalakte des Gefangenen W.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 16608. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen O.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 41/179. 363 Personalakte des Gefangenen E.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5216. 364 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen J.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13853; Personalakte des Gefangenen E.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14267. 365 Personalakte des Gefangenen R.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5043. 366 Personalakte des Gefangenen F.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 39/104. 367 Personalakte des Gefangenen F.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3787. 200

Abrede, den Zeugen [...] in irgend einer Form angefaßt zu haben. Das Gericht hat indessen nicht die geringsten Bedenken getragen, der Bekundung des Zeugen [...] zu folgen.“368

Bei der Beurteilung des Tathergangs wurde im Zweifelsfall somit eher der Zeugenaussage Glauben geschenkt – insbesondere, wenn es sich um bereits einschlägig vorbestrafte Angeklagte handelte. Der Betroffene wurde nach § 175a/3 zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Nach § 175a/4 wurde schließlich mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft, wer „gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet“. Die Sanktionierung der männlichen Prostitution, die sich in den 1920er Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse und der hohen Arbeitslosigkeit stark ausgebreitet hatte369, mit Zuchthausstrafe entsprang zum einen den nationalsozialistischen Bestrebungen, jegliche Form sozial abweichenden Verhaltens aus der Öffentlichkeit zu verbannen; zum anderen dürfte die Vorstellung, auf diese Weise einer Ausbreitung der Homosexualität entgegenwirken zu können, hierbei von Bedeutung gewesen sein. Nicht bedacht wurde indes, daß gerade die verstärkte Kriminalisierung homosexueller Lebensformen in der NS-Zeit indirekt eine Anonymisierung der Sexualkontakte und damit die männliche Prostitution gefördert haben dürfte370.

Als sog. „Strichjungen“, deren strafrechtliche Verfolgung der 1935 eingeführte § 175a/4 vorrangig ermöglichen sollte, galten nach nationalsozialistischer Auffassung

„jene asozialen Elemente, die sich, anstatt einer geregelten Arbeit nachzugehen, an Orten oder in Lokalen, wo gleichgeschlechtlich veranlagte Männer nach geeigneten Unzuchtspartnern sich umsehen, aufzuhalten pflegen und dort die Gelegenheit zu anschließender oder späterer Vornahme von Unzucht gegen Entgelt ausnutzen.“371

Zur Erfüllung des Tatbestandes der „gewerbsmäßigen Unzucht“ reichte im Sinne des § 175a/4 bereits das „Sich-Anbieten“ zur „Unzucht“ aus, so daß – wie im Fall eines 28jährigen Angeklagten – allein die Tatsache, daß dieser sich „in der als Strichgegend für Homosexuelle bekannten Gegend am Rhein“ aufgehalten habe und dort „in Gesellschaft von bekannten Strichjungen beobachtet [wurde], wobei er sich besonders auffallend verhielt“, für eine Verurteilung zu 15 Monaten Zuchthaus

368 Personalakte des Gefangenen P.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5626. 369 Magnus Hirschfeld schätzte in dieser Zeit die „Zahl der sich zeitweilig prostituierenden männlichen Personen“ allein in Berlin auf etwa 20.000. Vgl. Magnus Hirschfeld: Die männliche Prostitution. In: § 297(3) Unzucht zwischen Männern? Hg. von R. Linsert. Berlin 1929, S. 13-32, hier S. 21. Vgl. zur Geschichte der männlich- homosexuellen Prostitution auch Hans-Joachim Schickedanz: Homosexuelle Prostitution. Eine empirische Untersuchung über sozial diskriminiertes Verhalten bei Strichjungen und Call-Boys. Frankfurt/M. 1979, S. 1-16. 370 Vgl. hierzu auch Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 299. 371 Niederreuther: Zum Begriff der Gewerbsmäßigkeit im Sinne des § 175a Nr. 4 StGB. In: DJ 99 (1937), S. 994- 997. 201 ausreichte372. In einem anderen Fall wurde ein Angeklagter dabei beobachtet, wie er „einem aus der Bedürfnisanstalt tretenden Mann nachging, mit ihm sprach und dieser Mann dann in die Tasche griff und dem Angeklagten etwas reichte“. Das Landgericht Köln glaubte feststellen zu können, daß „diese Vorgänge in Verbindung mit dem Vorleben des Angeklagten“ keinen Zweifel daran aufkommen ließen, daß der Betroffene sich „zur Unzucht angeboten hat, und zwar, um sich Einnahmequellen zu verschaffen“373. Besonders schwer hatten es einschlägig Vorbestrafte, die gegen sie gerichtete Anklage abzuwehren. So wurde ein 20jähriger Angeklagter, der bereits vorbestraft war und „nach seiner äußeren Erscheinung den Eindruck eines Strichjungen“ erweckte, zu 15 Monaten Zuchthaus verurteilt, weil er sich an „fraglichen Orten [...] wie ein Strichjunge benommen hat“, indem er „vorübergehende Männer anlächelte und mit wiegendem Gang umherging“. Der Einlassung des Angeklagten, er sei an den genannten Orten nur spazierengegangen, wurde unter Hinweis auf die bereits ergangenen einschlägigen Vorstrafen kein Glauben geschenkt374. Ähnlich läßt sich die rigorose Auslegung des § 175a/4 in der Begründung des Urteils gegen einen nach § 175a/4 zu 21 Monaten Zuchthaus Verurteilten deuten:

„Das Verhalten des Angeklagten ist [...] von Beginn an das typische Verhalten eines Strichjungen gewesen, sowohl am 21. wie am 22. Juni 1938. Sein Aufenthalt am Alexanderplatz und der wiederholte Besuch der Bedürfnisanstalt ist gar nicht anders zu erklären als durch den Wunsch, Männer zu finden, die ihn für die Hingabe zum gleichgeschlechtlichen Verkehr bezahlen würden. Es muß daher angenommen werden, daß der Angeklagte an beiden Tagen von vornherein darauf ausging, sich als Strichjunge zu betätigen. Bei der Sicherheit, mit der er zu Werke ging, und angesichts seiner Vergangenheit ist ferner anzunehmen, daß er mit dieser Betätigung nicht etwa in den folgenden Tagen wieder aufhören, sondern daß er diese Tätigkeit zu einer dauernden Einrichtung machen wollte.“375

Ziel der gesetzlichen Regelung war es, die Manifestationen der nach außen sichtbaren männlichen Prostitution zu unterbinden. Strafbar war nicht allein die „Entgeltlichkeit“, sondern es mußte der Nachweis der „Gewerbsmäßigkeit“ erbracht werden. Täter, die „sich nur gelegentlich von einem anderen Mann zur Unzucht mißbrauchen lassen und dafür etwas zugewendet erhalten“, fielen somit nicht unter die Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 175a/4376 – so lehnte das Landgericht Magdeburg in einem Fall eine Verurteilung nach § 175a/4 ab, weil die „geldlichen Unterstützungen“, die der Angeklagte erhalten habe, als „eine Hilfe angesehen werden können, die sich auch nichthomosexuelle

372 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14075. 373 Personalakte des Gefangenen J.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6203. 374 Personalakte des Gefangenen E.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7742. 375 Personalakte des Gefangenen O.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 81. 376 Niederreuther, Zum Begriff der Gewerbsmäßigkeit, S. 996. 202

Freunde gegenseitig gewähren“377, und in einem anderen Fall bewertete das Landgericht Münster den Erhalt von Kleidung und Verpflegung als „Geschenke [...], die aus dem zwischen den jeweiligen Personen bestehenden anormalen Liebesverhältnis zu verstehen sind“378. Unklarheit bestand darüber, ob der Begriff der „Gewerbsmäßigkeit“ es erfordere, „daß der Täter sich einem individuell nicht bestimmten Kreise von Männern geschlechtlich preisgibt oder preisgeben will in der Absicht, durch diese Preisgabe sich eine Einnahmequelle zu verschaffen“, oder ob es genüge, „daß er in dieser Absicht mit einem bestimmten Manne Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt“379. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts war der Tatbestand der Gewerbsmäßigkeit generell dann gegeben, wenn eine strafbare Handlung mit dem Willen begangen wurde, diese zu wiederholen und sich durch die erneute Begehung eine Einnahmequelle zu verschaffen. Hierfür konnte auch eine einzige Handlung ausreichen, wenn sie von einem auf Wiederholung gerichteten Willen getragen war380. In der Auslegung des § 175a/4 wurde diese Definition des Begriffs „Gewerbsmäßigkeit“ übernommen: Im Fall eines einschlägig vorbestraften Angeklagten wurde diesem beispielsweise unterstellt, er sei „von vornherein darauf ausgegangen, die gewisse anormale Veranlagung des W.K. auszunutzen, um sich Obdach und Unterhalt zu verschaffen“381; bei einem anderen Angeklagten ging das Gericht davon aus, daß er „die bezeichnete Freundschaft von vornherein bewußt nur zu dem Zweck aufnahm, um die besagten Vorteile [Verpflegung, Unterkunft] dadurch zu erlangen“382. Die Notlage der Angeklagten wurde von den Gerichten nur selten anerkannt – in einem Fall wurde einem Angeklagten beispielsweise zugestanden, daß er das erhaltene Geld seiner kranken Frau zugute kommen ließ383. Mehrheitlich wurde vermutet, daß die Annahme einer geregelten Beschäftigung möglich gewesen wäre384, und den Angeklagten unterstellt, daß sie „einer geregelten Arbeit geflissentlich aus dem Wege“ gingen385; in Einzelfällen hatte eine solche

377 Personalakte des Gefangenen A.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 45. 378 Personalakte des Gefangenen R.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12130. 379 Niederreuther, Zum Begriff der Gewerbsmäßigkeit, S. 994. 380 Vgl. hierzu: „Wird die Annahme gewerbsmäßiger Hehlerei dadurch ausgeschlossen, daß die einzelnen Hehlerhandlungen im Fortsetzungszusammenhang stehen?“ In: RGSt 58 (1925), S. 19-24, hier S. 20. 381 Personalakte des Gefangenen F.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5730. 382 Personalakte des Gefangenen A.C.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 885. 383 Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2850. Vgl. auch Personalakte des Gefangenen G.E.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1932; Personalakte des Gefangenen P.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14607. 384 Personalakte des Gefangenen E.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5742. 385 Personalakte des Gefangenen F.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13872. 203

Einschätzung die Anordnung der an die Haftzeit anschließenden Einweisung in ein Arbeitshaus zur Folge386.

Für eine Verurteilung nach § 175a/4 war die homosexuelle Neigung des Angeklagten nicht von Bedeutung – im Gegenteil wurde es teilweise negativ ausgelegt, wenn nach der Auffassung des Gerichts ein Angeklagter „selbst nicht homosexuell veranlagt ist [...] [und] lediglich einen Vermögensvorteil erlangen“ wollte387 bzw. sich „als verheirateter Mann [...] aus materiellen Gründen homosexuell betätigt hat“388. Strafschärfend wirkte sich zudem aus, wenn ein als „Strichjunge“ Verurteilter versucht hatte, die mit ihm verkehrenden homosexuellen Männer um Geldbeträge zu erpressen389 – nach nationalsozialistischer Auffassung stellte die Homosexualität „eine dauernde Gefahrenquelle für die Ordnung im Staatsleben“ unter anderem deshalb dar, weil sie oftmals Ausgangspunkt für eine Reihe weiterer Straftaten, insbesondere der Erpressung, sei390. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß den Erpreßten bei einer Verurteilung nach § 175 häufig strafmildernde Umstände zugebilligt wurden – so wurde einem Homosexuellen zugestanden, daß er von einem „Strichjungen [...] in seiner Gutmütigkeit ausgenutzt worden“ sei391; in einem anderen Fall hielt das Gericht „eine höhere Freiheitsstrafe als 5 Monate Gefängnis für nicht erforderlich“, da der Angeklagte „in gewissem Umfange schon durch die Erpressung des K. und die damit verbundenen Gewissensqualen bestraft worden“ sei392.

4.1.6.6. Strafbemessungskriterien

In die Überlegungen zur Strafbemessung wurden von den Gerichten unterschiedliche Kriterien einbezogen, die in den Urteilsbegründungen jeweils aufgeführt sind. Im folgenden werden die genannten Strafbemessungsgründe in einem knappen Überblick zusammengefaßt, wobei eine Einteilung in die Tat, die Tatumstände sowie den Täter betreffende Kriterien vorgenommen wird.

386 Vgl. Personalakte des Gefangenen E.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 586; Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14075; vgl. auch Kapitel 4.1.6.3.4. 387 Personalakte des Gefangenen O.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3804. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen R.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 34/1079. 388 Personalakte des Gefangenen E.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 304. 389 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15216; Personalakte des Gefangenen W.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7498; Personalakte des Gefangenen O.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3804. 390 Vortrag Kriminalrat Meisinger am 5./6. April 1937 in Berlin. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 38, S. 147-153, hier S. 151. 391 Personalakte des Gefangenen G.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13972. 204

4.1.6.6.1. Die Tat betreffende Strafbemessungskriterien

Was die Tat betraf, so machten die Richter die Zahl der festgestellten Partner eines Angeklagten zu einem Kriterium bei der Strafbemessung: Promiskuitives Sexualverhalten wirkte sich auf die Höhe des Strafmaßes negativ aus – zum einen, weil die Handlungen mit verschiedenen Personen als Einzeltaten gewertet wurden, und zum anderen galt eine hohe Partnerzahl als Hinweis auf einen „unausrottbaren Hang“393 des Angeklagten. Strafschärfend wirkte sich auch ein langer Strafzeitraum aus: Die „Wiederholung der Taten durch längere Zeit“394, das „jahrelange [...] gleichgeschlechtliche Treiben“395 oder das gemeinsame Beziehen einer Wohnung396 wurden zum Anlaß für die Verhängung längerer Freiheitsstrafen genommen, wogegen einmalige Handlungen oftmals als „Entgleisungen“ gewertet und dementsprechend mit geringeren Strafen geahndet wurden397. Erwähnung findet in den Urteilsbegründungen gelegentlich auch die Art der ausgeführten Straftat. Strafschärfend wirkte sich die Ausübung des „überaus ekelhaften Mund- und Afterverkehrs“ aus398, wogegen die nach der Neuformulierung des § 175 ebenfalls strafbare gegenseitige Onanie vielfach als geringfügiges Vergehen gewertet und dementsprechend milder geahndet wurde399.

4.1.6.6.2. Die Tatumstände betreffende Strafbemessungsfaktoren

Sahen die Richter es als erwiesen an, daß ein Angeklagter zur Tatzeit unter dem Einfluß von Alkohol stand, so wurde dieser Umstand in der Regel mildernd in die Strafbemessungsüberlegungen einbezogen400; in Einzelfällen sah man von der Anordnung der Sicherungsverwahrung401 oder der

392 Personalakte des Gefangenen N.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/547. 393 Personalakte des Gefangenen L.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/658. 394 Personalakte des Gefangenen E.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1932. 395 Personalakte des Gefangenen A.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4515. 396 Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1668. 397 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen A.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14495; Personalakte des Gefangenen B.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4497. 398 Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1668. 399 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen E.D.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1233. 400 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen A.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13565; Personalakte des Gefangenen H.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13803; Personalakte des Gefangenen E.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14544; Personalakte des Gefangenen J.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13444. 401 Personalakte des Gefangenen F.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/534. 205

„Entmannung“402 ab. Dagegen wurde eine verminderte Zurechnungsfähigkeit des unter Alkoholeinfluß stehenden Angeklagten im Sinne des § 51403 in der Regel nicht angenommen, da, so die Begründung des Gerichts im Fall des Angeklagten R.F., „die Taten des Angeklagten ihre Ursache nicht ausschließlich im Alkoholgenuß finden“, sondern „ein innerer verbrecherischer Hang vorliegt, der jeweils unter dem Einfluß des Alkohols ausgelöst wird“404.

Als strafmildernder Umstand wurde von den Gerichten des weiteren berücksichtigt, wenn ein Angeklagter angab, sich aus „Geschlechtsnot“ homosexuell betätigt zu haben. Mehrheitlich handelte es sich hierbei um verheiratete Angeklagte, die beispielsweise aufgrund eines Arbeitseinsatzes längere Zeit von ihrer Familie getrennt lebten405. Umgekehrt konnte es für einen verheirateten Angeklagten eine Strafschärfung bedeuten, wenn das Gericht als erwiesen ansah, daß der Betroffene ein „glückliches Eheleben“ führte und nicht aus „Geschlechtsnot“ gehandelt hatte406.

Eine uneinheitliche Argumentation findet sich in den Strafbemessungsüberlegungen bei den Fällen, in denen Männern homosexuelle Handlungen mit Ausländern vorgeworfen wurden. Vielfach handelte es sich bei den Angeklagten um Wehrmachtangehörige, die sich im Kriegseinsatz außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches befanden. In den jeweiligen Urteilsbegründungen wurde das „würdelose Benehmen als Deutscher im Ausland“407, durch das „das Ansehen Deutschlands“408 geschädigt werde, mehrheitlich negativ beurteilt. Dies galt in der Regel auch dann, wenn deutsche Männer homosexuelle Handlungen mit Angehörigen von nach nationalsozialistischer Auffassung „minderwertigen Rassen“ ausübten, so z.B. im Fall eines in Marokko stationierten Wehrmachtangehörigen, dem vorgeworfen wurde, „seinen niedrigen sexuellen Gelüsten mit den ihm unterstellten Farbigen nachzugehen“ und dadurch nicht nur das „Ansehen der deutschen Wehrmacht, sondern darüber hinaus auch noch die Würde des Europäers in schwerstem Maße verletzt“ zu

402 Personalakte des Gefangenen G.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2900. 403 Nach § 51 StGB konnte von Strafe abgesehen oder die Strafe gemildert werden, wenn „der Täter zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig“ war, „das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“, bzw. wenn diese Fähigkeit „zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe erheblich vermindert“ war. Vgl. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 173. 404 Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1578. So auch die Entscheidung des Reichsgerichts vom 22.12.1938: „Gesichtspunkte für die Behandlung der Sicherungsfrage bei einem Täter, dessen verbrecherische Neigung auf Giftsucht (hier Alkoholsucht) beruht.“ In: RGSt 73 (1940), S. 44-47. 405 Personalakte des Gefangenen A.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15212. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen P.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/73. 406 Personalakte des Gefangenen R.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/369. 407 Personalakte des Gefangenen G.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6636. 408 Personalakte des Gefangenen E.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7742. 206 haben409. Ebenso wurde einem Soldaten, der ihm unterstellte russische „Zivilarbeiter“ zur gegenseitigen Onanie veranlaßt haben soll, vorgeworfen, „das Ansehen des deutschen Volkes in den Augen seiner Opfer und aller anderen fremdländischen Arbeiter, die von seinem Verhalten gehört haben, [...] erheblich herabgesetzt“ und dadurch „dem deutschen Volke [...] großen Schaden zugefügt“ zu haben410. Dagegen wurde in einem anderen Fall die Tatsache, daß der Angeklagte „sich [...] nur mit Griechen eingelassen hat“, als Strafmilderungsgrund anerkannt, wenn auch, so die Urteilsbegründung des Kriegsgerichts, berücksichtigt werden müsse, daß der Angeklagte „durch sein Verhalten das Ansehen der Wehrmacht auf Kreta aufs schwerste geschädigt“ habe411. Besonders strafschärfend wirkte es sich schließlich aus, wenn ein Angeklagter sich „von einem volksfremden Mann mißbrauchen ließ“412.

4.1.6.6.3. Den Täter betreffende Strafbemessungsfaktoren

Eine wesentliche Rolle spielte bei den Strafbemessungsüberlegungen die Einschätzung des bisherigen Lebenswandels des Angeklagten sowie insbesondere die Zahl der bereits ergangenen Vorstrafen. Eine hohe Zahl von Vorstrafen konnte – wie in Kapitel 4.1.6.3.1. ausführlich beschrieben – eine Strafschärfung im Sinne des § 20a zur Folge haben. Darüber hinaus wirkte sich die Zahl der Vorstrafen auch dann auf die Höhe des Strafmaßes aus, wenn die objektiven Voraussetzungen der Strafschärfung nach § 20a nicht erfüllt waren. So wurden auch das Vorliegen einer einzigen bzw. mehrerer geringer Vorstrafen413 (zur Erfüllung der Bedingungen des § 20a/1 waren zwei Vorstrafen von mindestens sechs Monaten Dauer erforderlich) sowie eine kurze Dauer der Straffreiheit seit der letzten Strafverbüßung414 strafschärfend ausgelegt, galt doch die Vorbestraftheit als Indiz dafür, daß die betroffene Person „nur noch geringe Hemmungen bei der Begehung der widernatürlichen Unzucht“ habe415. Über die Feststellung der einschlägigen Vorverurteilungen hinaus wurden auch sonstige Vorstrafen des Angeklagten in die Strafbemessungsüberlegungen einbezogen: Angeklagte,

409 Personalakte des Gefangenen J.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 44/387. 410 Personalakte des Gefangenen A.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 44/2478. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7786. 411 Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6083. 412 Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7140. 413 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7154; Personalakte des Gefangenen W.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/12. 414 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.D.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/702; Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/372; Personalakte des Gefangenen F.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 39/104. 207 die wegen politischer „Delikte“ vorbestraft416, bereits in KZ-Haft gewesen waren417 oder auch nur als „politisch vorbelastet“ galten418, mußten bei einer Verurteilung nach §§ 175, 175a mit höheren Strafen rechnen. Gleiches galt für Angeklagte, die wegen sonstiger als kriminell geltender Handlungen vorbestraft waren. Diese wurden als „asoziale Rechtsbrecher“419, „verbrecherische Persönlichkeit[en]“420, „verkommene asoziale Erscheinung[en]“421 oder „moralisch minderwertig[e] Mensch[en]“422 angesehen, die als „Gemeinschaftsfremde“ – „verwahrlost und sittlich haltlos“423 – zu „Rechtsbrüchen neige[n]“ und deshalb außerhalb der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ stünden424 und denen „nur mit verhältnismäßig harten Strafen beizukommen sei“425. Der Einschätzung der Lebensführung kam – über die Feststellung der Zahl der Vorstrafen hinaus – bei der Strafbemessung eine wesentliche Bedeutung zu. Das von einem Gericht festgestellte „Vagabundenleben“426 eines Angeklagten oder dessen generelles „asoziales Verhalten“427 wirkte sich grundsätzlich strafschärfend aus: So wurde z.B. bei einem im Jahr 1941 zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus Verurteilten herausgestellt, daß dieser „seit 1924 ein derart intensives gemeinschaftswidriges Verhalten“ gezeigt habe, daß „der Umstand seines Nichtvorbestraftseins keinerlei Milderungsgründe mehr verschaffen“ könne428. Im Gegenzug wurden „Fleiß und Arbeit im bürgerlichen Leben“429, ein „ordentlicher Lebenswandel“430 sowie die Ausübung eines geregelten Berufs von den Gerichten generell strafmildernd berücksichtigt.

415 Personalakte des Gefangenen P.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13500. 416 Personalakte des Gefangenen E.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1536; Personalakte des Gefangenen O.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1610. 417 Personalakte des Gefangenen A.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1773. 418 Personalakte des Gefangenen P.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4500. 419 Personalakte des Gefangenen F.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 801. 420 Personalakte des Gefangenen A.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14495. 421 Personalakte des Gefangenen H.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2687. 422 Personalakte des Gefangenen K.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14681. 423 Personalakte des Gefangenen K.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13677. 424 Personalakte des Gefangenen W.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 269. 425 Personalakte des Gefangenen A.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4812. 426 Personalakte des Gefangenen H.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4599. 427 Personalakte des Gefangenen B.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/384. 428 Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6758. 429 Personalakte des Gefangenen H.E.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/168. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen J.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3690. 430 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14162. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen K.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2335. 208

Neben den häuslichen Verhältnissen und dem Berufsleben wurde hinsichtlich des Vorlebens des Angeklagten besonders die aktive Kriegsteilnahme zu einer Einflußgröße bei der Strafzumessung: „Verdienste für Vaterland und Partei“431, der „tapfere[] Einsatz an der Front“432 sowie die „hervorragende Bewährung vor dem Feinde“433 wurden in den Urteilsbegründungen als Strafmilderungsgründe angegeben. Inhaber des „Eisernen Kreuzes“434, „Frontkämpfer“, die im Ersten oder Zweiten Weltkrieg verwundet worden waren435, oder auch Familienväter, deren Söhne gefallen waren436, konnten ebenfalls auf Strafmilderung hoffen.

Üblicherweise wurde auch das Alter eines Angeklagten in die Strafbemessungsüberlegungen einbezogen: Hohes Alter437 sowie Jugendlichkeit438 wurden bei der Festsetzung des Strafmaßes häufig strafmildernd berücksichtigt. Insbesondere Jugendliche, die aus zerrütteten Familienverhältnissen stammten oder ein Elternteil verloren hatten, wurden in der Regel weniger hart bestraft439. Straferschwerend wirkte sich in einem Fall aus, daß ein Angeklagter sich „als Jude [...] nicht gescheut hat, seine Opfer ausgerechnet unter den Ariern [...] zu suchen“440.

Generell überwogen unter den wegen eines Homosexualitätsdelikts Verurteilten Angehörige der Mittel- und Unterschicht441, die schlechtere Möglichkeiten als Oberschichtsangehörige hatten, ihre Homosexualität zu verbergen. Bei der Strafzumessung läßt sich eine einheitliche Bewertung des

431 Personalakte des Gefangenen E.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12605. 432 Personalakte des Gefangenen R.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4259. 433 Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7787. 434 Personalakte des Gefangenen B.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 43/700; Personalakte des Gefangenen E.V.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/193. 435 Personalakte des Gefangenen A.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3655; Personalakte des Gefangenen F.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8136; Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7140. 436 Personalakte des Gefangenen W.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 42/42. 437 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 44/1304. 438 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen M.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5921; Personalakte des Gefangenen R.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1886; Personalakte des Gefangenen P.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11948; Personalakte des Gefangenen K.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12. 439 Personalakte des Gefangenen H.C.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11339; Personalakte des Gefangenen L.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15404; Personalakte des Gefangenen A.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4437; Personalakte des Gefangenen H.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/385. 440 Personalakte des Gefangenen C.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3702. 441 Die Auswertung der auf den Gefangenenkarteikarten verzeichneten Berufsangaben homosexueller Emslandlagerhäftlinge ergab, daß nur 5,8 % der Betroffenen der Oberschicht (qualifizierte Angestellte, höhere Beamte, Geistliche, mittlere und größere Selbständige) zuzurechnen waren. Dieses Ergebnis entspricht in etwa den bisher in der Forschung zur Sozialstruktur homosexueller Verfolgter ermittelten Angaben; vgl. etwa Rüdiger Lautmann; Winfried Grikschat; Egbert Schmidt: Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977, S. 325-365, hier S. 331f. sowie Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz, S. 187f., 231, 302f. 209 sozialen Status und der intellektuellen Fähigkeiten eines Angeklagten nicht erkennen: Grundsätzlich dürfte die Tatsache, daß Oberschichtsangehörige in der Regel nicht dem Bild des „Asozialen“ und „Gemeinschaftsfremden“ entsprachen, zu einer verhältnismäßig milden Rechtsprechung geführt haben. In Einzelfällen wirkte sich eine akademische Bildung jedoch auch strafschärfend aus: So warf das Landgericht Hannover einem Angeklagten vor, daß er „als gebildeter Mensch sich der Tragweite seiner Verfehlungen bewußt gewesen sein muß“ 442; gegen einen anderen Angeklagten wurde vorgebracht, daß er als Akademiker „arme, ihm in der Bildung nicht gleichstehende Volksgenossen mißbrauchte“443, und in einem weiteren Fall wertete das Gericht die Tatsache, daß der Angeklagte „in seiner Verteidigung darauf hinweisen ließ, daß Vergehen nach § 175 StGB in anderen Kulturstaaten nicht bestraft würden“, strafschärfend als „Überheblichkeit“ und „völlige[n] Mangel an Einsicht und Reue“444. Im Gegenzug konnte die Feststellung des Gerichts, wonach ein Angeklagter als „geistig nicht sehr hochstehend“445 oder „geistig minderwertig“446 einzustufen sei, strafmildernd berücksichtigt werden. Nur in seltenen Fällen wurde jedoch die verminderte Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten im Sinne des § 51 anerkannt und dementsprechend eine deutliche Strafmilderung vorgenommen447. In einem Fall erklärte das Gericht, daß zwar die Voraussetzungen des § 51 vorlägen, das Gericht jedoch davon Abstand genommen habe, die Strafe zu mildern, da es „verfehlt“ erscheine, „Psychopathen stets milder zu behandeln“, schließlich müsse sich „der geistig minderwertige Mensch [...] besonders bemühen, seine gefährlichen Anlagen zu unterdrücken“448.

Aus den Urteilsbegründungen geht hervor, daß in vielen Fällen Angeklagte versuchten, eine Strafmilderung zu bewirken, indem sie in der Gerichtsverhandlung angaben, nicht homosexuell veranlagt449 oder bisexuell450 zu sein bzw. zumindest „früher auch schon mal ein Mädchen gehabt“ zu

442 Personalakte des Gefangenen O.R.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/79. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen H.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/385. 443 Personalakte des Gefangenen E.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5742. 444 Personalakte des Gefangenen K.J.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/218. 445 Personalakte des Gefangenen P.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14607. 446 Personalakte des Gefangenen G.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1713. 447 Personalakte des Gefangenen A.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13625; Personalakte des Gefangenen F.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13240; Personalakte des Gefangenen E.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13950; Personalakte des Gefangenen W.O.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11137. 448 Personalakte des Gefangenen M.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/171. Ähnlich hatte sich der Landgerichtsdirektor im Sächsischen Justizministerium, Hans Eichler, der auch von Freisler vertretenen Ansicht angeschlossen, wonach „Minderwertigkeit in Zukunft nicht entlastend [...], sondern [...] belastend“ sein sollte, da „der Minderwertige sonst ein Vorrecht gegenüber dem Vollwertigen erhält“. Vgl. Hans Eichler: Die Wandlung im Strafvollzuge. In: DRiZ 26 (1934), S. 67-70, hier S. 68. 449 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen O.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8469; Personalakte des Gefangenen W.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 269; Personalakte des Gefangenen A.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5032; Personalakte des Gefangenen K.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2994. 210 haben451. Manch einer rechtfertigte sein abweichendes sexuelles Verhalten mit der Angst vor Geschlechtskrankheiten beim heterosexuellen Verkehr452. Den Richtern lieferten diese von den Angeklagten vorgebrachten Erklärungen in der Regel keinen ausreichenden Grund, eine Strafmilderung vorzunehmen453 – im Gegenteil: Es galt als besonders verwerflich, wenn ein Angeklagter „sich [...] selbst als normal veranlagt bezeichnet, Mädchenverkehr gehabt haben will und nicht durch sexuelle Not zu den Taten getrieben sein will“454 und deshalb „um so eher in der Lage war, von jenen gleichgeschlechtlichen Handlungen abzulassen“455. Vor allem verheiratete Angeklagte mußten mit einer Strafschärfung rechnen: Ihnen wurde vorgeworfen, „im Gegensatz zu rein homosexuellen Menschen in der Lage“ zu sein, ihren „Trieb zu unterdrücken und sich normalgeschlechtlich zu betätigen“456. Daß Homosexuelle vielfach nicht aus Zuneigung, sondern unter gesellschaftlichem Druck eine Ehe eingingen und deshalb keineswegs ein so „glückliches Familienleben“ führten, das sie von ihrem „Laster“ befreien sollte, wie es das Landgericht Halberstadt in einer Urteilsbegründung ausführte457, blieb dabei unberücksichtigt. Allenfalls erkannten die Gerichte an, wenn verheiratete Männer ihre Tat mit der Krankheit ihrer Ehefrau, die den ehelichen Geschlechtsverkehr unmöglich mache, entschuldigten458. Wurde festgestellt, daß Angeklagte sich – ohne daß die Voraussetzungen des § 175a/4 gegeben waren – „um Geld und Geldeswert und ohne selbst sexuell abnormal veranlagt zu sein“459 homosexuell betätigt hatten, um daraus „lediglich einen Vermögensvorteil“ zu erlangen460 oder sogar eine „ständige Einnahmequelle“461 zu machen, galt dies als weiterer Strafschärfungsgrund. Die Bedeutung der „homosexuellen Veranlagung“ wurde insgesamt von den Gerichten bei der Strafzumessung

450 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen F.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4720; Personalakte des Gefangenen J.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8209; Personalakte des Gefangenen E.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1910. 451 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6633. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen C.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 407. 452 Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2973. 453 Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1578; Personalakte des Gefangenen A.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 377. 454 Personalakte des Gefangenen E.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1822. 455 Personalakte des Gefangenen W.U.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7227. 456 Personalakte des Gefangenen R.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 476. 457 Personalakte des Gefangenen R.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2797. 458 Personalakte des Gefangenen K.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/91. 459 Personalakte des Gefangenen F.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7171. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen E.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 304. 460 Personalakte des Gefangenen O.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3804. 461 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15418. 211 unterschiedlich bewertet, wobei sich eine gewisse Unsicherheit über die Ursachen und Entstehung der Homosexualität bemerkbar machte. Überwiegend zeigt sich, daß mit einer Strafmilderung insbesondere der unter seiner „unglückliche[n] gleichgeschlechtliche[n] Veranlagung“ leidende462 Homosexuelle rechnen konnte, der „gegen seine homosexuelle Veranlagung angekämpft“ hatte, indem er beispielsweise Ärzte zu Rate zog463 oder „einmal ein Bordell aufgesucht und sich auch sportlich betätigt“ hat464. In Einzelfällen betrachteten die Richter die homosexuelle Veranlagung eines Angeklagten geradezu als einen körperlichen Defekt, der den Betroffenen zu einem „arme[n] und bemitleidenswerte[n] Mensch[en], dessen Triebleben irregeleitet ist“, mache465. Ein Strafmilderungsmotiv konnte bereits dann bestehen, wenn ein Gericht feststellte, daß ein Angeklagter „die unglückliche Neigung zur gleichgeschlechtlichen Liebe offenbar von Natur aus hat“466. Dagegen wurde von anderen Gerichten in Einzelfällen herausgestellt, daß die bloße „widernatürliche Veranlagung“ einem Angeklagten nicht zugute gehalten werden könne467; gelegentlich wurde aus der Feststellung einer vermeintlichen „inneren Veranlagung“ zur Homosexualität eine „ständige Gefahr“ für die Bevölkerung abgeleitet468 und damit ein hohes Strafmaß gerechtfertigt. Eine gewisse Bedeutung kam bei der Beurteilung der homosexuellen „Veranlagung“ herkömmlichen Vorstellungen über die Persönlichkeit homosexueller Männer zu. Danach galten Homosexuelle als „unmännlich“469, „feminin“470, „verweichlicht“ und „schlapp“471. „Ohne inneren starken Willen“472 seien sie nicht in der Lage, ihren Neigungen ausreichend Widerstand entgegenzusetzen. Vielfach wurde besonders Angeklagten, denen man eine „weiche Natur“473 und „starke Empfindlichkeit“ unterstellte, eine Strafmilderung zugebilligt, da davon ausgegangen wurde, daß eine Freiheitsstrafe

462 Personalakte des Gefangenen B.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5720. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen R.V.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7288; Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2345. 463 Personalakte des Gefangenen K.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5812. 464 Personalakte des Gefangenen R.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1668. 465 Personalakte des Gefangenen H.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 405. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen K.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2450. 466 Personalakte des Gefangenen J.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5248. 467 Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7140. 468 Personalakte des Gefangenen A.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15320. 469 Personalakte des Gefangenen K.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5908. 470 Personalakte des Gefangenen C.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 407. 471 Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/10. 472 Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/447. 473 Personalakte des Gefangenen K.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5338. 212 den Betroffenen „viel schwerer treffen [wird] als andere Verbrecher“474. Die von nationalsozialistischen Parteiführern immer wieder vorgebrachte vermeintliche Charakterschwäche homosexueller Männer sowie ihre angebliche Neigung zu lügen fanden dagegen nur äußerst selten Eingang in die Urteilsbegründungen475.

4.1.6.7. Verurteilungen von Mitgliedern nationalsozialistischer Organisationen und Wehrmachtangehörigen

Als „Mitglieder der Bewegung“ sollten Angehörige der SA und SS476 bzw. Mitglieder der NSDAP dazu verpflichtet sein, „durch ein in jeder Beziehung vorbildliches Leben den anderen Volksgenossen ein Beispiel für nationalsozialistische Lebensauffassung und -gestaltung“ zu geben und durch eine vorbildhafte Lebensführung die ihnen „anvertrauten Volksgenossen zur Sauberheit und Reinheit“ zu erziehen477. Die Zugehörigkeit zur Partei bzw. einer ihrer Gliederungen wirkte sich deshalb in der Regel negativ auf die Strafzumessung aus, zumal davon ausgegangen wurde, daß insbesondere Parteiangehörigen das Ziel der „Bewegung, das Laster des gleichgeschlechtlichen Verkehrs [...] auszurotten“, bekannt gewesen sei478. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auf die sog. Röhm-Affäre verwiesen: Spätestens seit Juli 1934 sei „oft genug öffentlich vor den verheerenden Wirkungen der homosexuellen Betätigung gewarnt und auf die Strafbarkeit hingewiesen worden“479, und es hätte den jeweiligen Angeklagten bekannt sein müssen, „wie die heutige Staatsführung über

474 Personalakte des Gefangenen E.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12605. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen P.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11807. 475 Vgl. Personalakte des Gefangenen G.Z.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7972. 476 Nach dem sog. Reinhaltungserlaß vom 15.11.1941 konnte gegen Angehörige der SS und der Polizei, die nach Himmlers Auffassung „Vorkämpfer im Kampfe um die Ausrottung der Homosexualität im deutschen Volke sein“ sollten (vgl. Befehl Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, 7.3.1942. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 64, S. 248-251, hier S. 250f.), bei Verurteilungen nach §§ 175, 175a StGB sogar die Todesstrafe verhängt werden; vgl. Erlaß des Führers zur Reinhaltung von SS und Polizei, 15.11.1941. Abgedruckt in: „Führer-Erlasse“ 1939-1945: Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, zusammengestellt und eingeleitet von Martin Moll. Stuttgart 1997, Dok. 118, S. 206f. In seinem Tagebuch schreibt Goebbels im Februar 1942 diesbezüglich: „Ein sehr segensreicher Erlaß, der die Eliteorganisation der Partei vor diesem Krebsschaden bewahren wird“; vgl. Goebbels Tagebücher. Aus den Jahren 1942-43 mit anderen Dokumenten, hg. von Louis P. Lochner. Zürich 1948, S. 101. Die Zahl der todeswürdigen Verbrechen war allerdings in der SS generell höher als in der Wehrmacht; vgl. hierzu das Kapitel „SS-Sondergerichtsbarkeit“ bei Franz W. Seidler: Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939-1945. Rechtsprechung und Strafvollzug. München [u.a.] 1991, S. 201-211 sowie Hans Buchheim: Die Sondergerichtsbarkeit der SS und Polizei. In: Anatomie des SS-Staates, Bd. 1. Olten 1967, S. 153-160. 477 Personalakte des Gefangenen M.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/380. 478 Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 43/38. 213 derartige Straftaten denkt“480. Strafmildernd wurden nur in wenigen Fällen die „Verdienste um die Partei“481 berücksichtigt: So nahm in einem Fall das Landgericht Verden die Feststellung, daß „der Angeklagte [...] auch früher im nationalen Sinn tätig gewesen“ war und „als Sturmführer der SA bei einem Überfall durch Kommunisten nicht unerheblich verletzt worden“ war, zum Anlaß, „davon abzusehen, diesmal schon die Vorschriften über gefährliche Gewohnheitsverbrecher zur Anwendung zu bringen, obwohl das bei der Planmäßigkeit seiner jetzt zur Aburteilung gekommenen Verbrechen nahe gelegen hätte“482.

Rigoros sollte nach dem Willen der nationalsozialistischen Machthaber gegen homosexuelle „Verfehlungen“ in den nationalsozialistischen männlichen Jugendorganisationen, der HJ und dem Jungvolk, eingeschritten werden – schließlich hatte Hitler 1934 infolge der Röhm-Affäre gefordert, „daß jede Mutter ihren Sohn in SA, Partei und HJ geben kann, ohne Furcht, er könnte dort sittlich oder moralisch verdorben werden“483. Einer vermeintlichen Ausbreitung der Homosexualität unter den organisierten Jugendlichen versuchte man, durch Maßnahmen wie der Einführung einer Meldepflicht bei homosexuellen Handlungen innerhalb der HJ sowie durch die Herausgabe von Sonderrichtlinien zur „Bekämpfung gleichgeschlechtlicher Verfehlungen“ entgegenzuwirken484. Von der Reichsjugendführung wurde zudem angeregt, einen Sonderausschuß zur „Bekämpfung der Homosexualität in der Jugend“ einzurichten485.

Was die Rechtsprechungspraxis gegen Angehörige nationalsozialistischer Jugendorganisationen betrifft, so läßt sich feststellen, daß homosexuelle Handlungen in der HJ mit vergleichsweise

479 Personalakte des Gefangenen F.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 45. 480 Personalakte des Gefangenen A.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5371. 481 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1066. 482 Personalakte des Gefangenen W.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/136. 483 Tagesbefehl an den Stabschef Lutze, 30.6.1934. Abgedruckt in: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. 1 (1), S. 400f., hier S. 401. 484 Arbeitsrichtlinien der Hitler-Jugend: Die Bekämpfung gleichgeschlechtlicher Verfehlungen; BA R 22/1197, fol. 109-146. Vgl. auch das Schreiben des RJM an den Reichsjugendführer, 7.2.1939, betr. Bekämpfung der Homosexualität in der Jugend; BA R 22/1175, fol. 92. 485 Sonderausschuß zur Bekämpfung der Homosexualität. Schreiben des RJM an Jugendführer des Deutschen Reiches, 7.2.1939. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 82, S. 283. Relativ hoch dürfte bei Strafverfahren nach §§ 175, 175a gegen Jugendliche der Anteil willkürlich zugeschriebener Vorgänge gewesen sein, da von dem Vorwurf der Homosexualität vielfach Gebrauch gemacht wurde, um gegen (ehemalige) Mitglieder oppositioneller Jugendgruppen vorzugehen. Vgl. hierzu: „Vernichtung von Volksschädlingen.“ Prominente Angehörige der Bündischen Jugend im Sudetenland verurteilt. Das SS-Organ „Das Schwarze Korps“ über Prozesse 1938/39. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 81, S. 279-283. 214 niedrigen Strafen geahndet wurden486. Strafmildernd wirkten sich in der Regel weniger die „Verdienste in der HJ“487 als vielmehr das jugendliche Alter der Angeklagten sowie das Fehlen von Vorstrafen aus. Vor allem gegen sog. Hitlerjugendführer wurde allerdings vorgebracht, daß diese „als Vertreter der nationalsozialistischen Bewegung in besonderem Maße dazu verpflichtet“ seien, ihre Aufgabe „in völliger Sittenreinheit zu erfüllen“, um den ihnen unterstellten Jugendlichen ein positives Beispiel zu liefern488. Das „Ansehen der Hitlerjugendorganisation und darüber hinaus der ganzen nationalsozialistischen Bewegung“, das durch die Handlungen der Angeklagten geschädigt werde489, nahm in den jeweiligen Urteilsbegründungen breiten Raum ein: Immer wieder wurde hervorgehoben, daß homosexuelle Handlungen von „Jungvolk-“ bzw. „HJ-Führern“ mit den ihnen unterstellten Jugendlichen „zur schwersten Erschütterung des Vertrauens in den Wert der nationalsozialistischen Erziehungsarbeit führen“ würden490.

Sonderrichtlinien zum Umgang mit Homosexuellen wurden nicht nur für die HJ, sondern auch für die Wehrmacht erlassen. Zum einen sah man „die Gefahr gleichgeschlechtlicher Betätigung“ überall dort als besonders groß an, „wo gesunde, jugendliche, geschlechtlich bedürftige Männer in enger körperlicher und seelischer Kameradschaft zusammen leben und keine Gelegenheit haben, mit Frauen geschlechtlich zu verkehren oder Beziehungen freundschaftlicher Art anzuknüpfen“491. Zum anderen war man der Auffassung, daß die Homosexuellen unterstellte „Günstlings-Wirtschaft“ insbesondere in der Wehrmacht negative Auswirkungen habe492. So wurde in den Urteilsbegründungen immer wieder darauf hingewiesen, daß homosexuelle Handlungen „bei der Truppe sehr viel schwerere Folgen als im Zivilleben“ hätten493 – zum einen bestehe bereits in „Truppenteile[n], in denen auch nur ein derart veranlagter Soldat sich befindet“, die Gefahr einer massiven Ausbreitung der

486 Mit einem durchschnittlichen Strafmaß von neun Monaten bei Gefängnisstrafen wurden Mitglieder der HJ nach dem Ergebnis der Auswertung von Gefangenenpersonalakten vergleichsweise niedrig bestraft. Die Auswertung liefert keine Angaben darüber, in welchem Umfang bei jugendlichen Angeklagten nach § 175, Absatz 2 StGB von Strafe abgesehen wurde. 487 Personalakte des Gefangenen B.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 43/700. 488 Personalakte des Gefangenen E.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1822. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 41/209. 489 Personalakte des Gefangenen W.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4671. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen H.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15246. 490 Personalakte des Gefangenen K.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 10165. 491 Anweisung für Truppenärzte zur Beurteilung gleichgeschlechtlicher Handlungen. Auszugsweise abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 60, S. 230ff., hier S. 231. 492 Vgl. Aktenvermerk aus dem Führerhauptquartier, 19.8.1941. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 53, S. 213f., hier S. 214 sowie Kapitel 2.2. 493 Personalakte des Gefangenen E.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4821. 215

Homosexualität494, zum anderen seien homosexuelle Handlungen von Wehrmachtangehörigen dazu geeignet, „die Disziplin in der Deutschen Wehrmacht stark zu gefährden“495.

Ein Erlaß des Oberkommandos der Wehrmacht vom 19. Mai 1943 regelte die „Behandlung von Unzuchtsfällen“ schließlich dahingehend, daß zu unterscheiden sei zwischen

„I. Täter[n], die sich aus Veranlagung oder aus einem erworbenen, offenbar unverbesserlichen Trieb vergangen haben; II. Täter[n], die nur einmal abgeirrt sind, insbesondere dann, wenn sie verführt wurden; III. Täter[n], bei denen der Hang zweifelhaft ist.“

Die Wehrmachtgerichte wurden dazu verpflichtet, „im Urteil begründet festzulegen, ob der jeweilige Täter offenbar unverbesserlicher Hangtäter ist oder nicht“. „Empfindliche Zuchthausstrafen“ sollten vor allem gegen die der ersten Gruppe zugerechneten Angeklagten verhängt werden496. Die Feststellung der sog. Hangtäterschaft schloß nach Auffassung des Chefs der Sicherheitspolizei, Ernst Kaltenbrunner, darüber hinaus ein, daß der Verurteilte „auch nach der Strafverbüßung eine ständige Gefahr für die Gemeinschaftsordnung“ bilde und deshalb in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen sei497.

In der Rechtsprechungspraxis machte sich eine gewisse Unsicherheit darüber bemerkbar, was als „Hang“ zur Homosexualität zu qualifizieren sei – nicht selten endeten die dazu angestellten Überlegungen mit der Feststellung, daß „die bisherigen Vorgänge zu einer klaren Feststellung hinsichtlich des gleichgeschlechtlichen Hanges des Angeklagten nicht ausreichen“, weshalb das Gericht zu der Auffassung gelangt sei, „einen solchen Hang als zweifelhaft anzusehen“498. Der ersten Gruppe wurden Angeklagte in der Regel nur dann zugeordnet, wenn sie bereits erheblich einschlägig vorbestraft waren und/oder sogar eine Kastration an ihnen durchgeführt worden war499. Über die Strafzumessung hinaus kam der Bewertung der „Hangtäterschaft“ ab 1943 entscheidende Bedeutung bei der Beurteilung in Bewährungsfragen zu500. Bei den Strafbemessungsüberlegungen lag in der

494 Personalakte des Gefangenen B.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 204. 495 Personalakte des Gefangenen W.C.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 973. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen F.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1952. 496 Richtlinien für die Behandlung von Strafsachen wegen widernatürlicher Unzucht (§§ 175, 175a und 330a RStGB), 19.5.1943; BA R 22/5015, fol. 138-139, hier fol. 138. 497 Geheimerlaß des Chefs der Sicherheitspolizei, 12.5.1944. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 59, S. 229f., hier S. 229. 498 Personalakte des Gefangenen K.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5221. 499 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen A.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/360. 500 Vgl. Kapitel 4.2.2.7. 216

Regel mehr Gewicht als auf der Frage der sog. Hangtäterschaft auf den auch bei zivilrechtlichen Verurteilungen nach §§ 175, 175a vorgebrachten Kriterien.

4.1.7. „...im Interesse der Bildung und des Bestands eines qualitativ und quantitativ starken sowie sittlich gesunden Volkes...“ – Zusammenfassung: Rechtsprechungspraxis bei Homosexualitätsdelikten

In quantitativer Hinsicht markierte das Jahr 1935 hinsichtlich der strafrechtlichen Ahndung von Homosexualitätsdelikten eine deutliche Zäsur: Die Neufassung des § 175 in der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, die eine erweiterte Auslegung des Straftatbestandes der Homosexualität zuließ, bewirkte einen Anstieg der jährlich nach § 175 bzw. §§ 175, 175a ausgesprochenen Urteile von unter 1.000 in den Jahren 1933 und 1934 bis zu über 5.300 im Jahr 1936. Die Richter folgten somit der hinter der Neuformulierung des Strafrechtsparagraphen stehenden Absicht, nicht mehr nur sog. beischlafähnliche Handlungen, sondern nunmehr „jede Art gleichgeschlechtlicher Unzucht zwischen Männern“501 strafrechtlich zu ahnden. Bei der Auslegung der Strafrechtsvorschriften hielten sie sich eng an die Vorgaben des Reichsgerichts, nach denen immer mehr Handlungen unter den neu formulierten § 175 gefaßt wurden. Mit dem Anstieg der Verurteilungszahlen nahm die Höhe der verhängten Freiheitsstrafen ab, vermutlich als Folge der durch die Neuformulierung des § 175 möglich gewordenen Ahndung bis dahin straflos gebliebener geringfügiger „Delikte“. Erst nach Kriegsbeginn wurden – bedingt durch die generelle Verschärfung der Strafrechtspraxis – auch Homosexualitätsdelikte mit härteren Strafen geahndet. Die Höhe des Strafmaßes variierte in erster Linie mit der Zahl der Partner, da – abgesehen von einer kurzen Phase zwischen Januar und August 1936 – ein Fortsetzungszusammenhang zwischen einzelnen Handlungen nur dann angenommen werden konnte, wenn diese mit einem einzigen Partner vorgenommen worden waren. Darüber hinaus zog promiskuitives Sexualverhalten vergleichsweise hohe Freiheitsstrafen nach sich, da es, ebenso wie die Feststellung eines langen Strafzeitraums, als Anzeichen eines „unausrottbaren Hangs“ des Angeklagten zur Homosexualität gewertet wurde.

Mit hohen Freiheitsstrafen mußten insbesondere Personen rechnen, denen ein Handeln vorgeworfen wurde, das als sog. qualifizierter Fall der Homosexualität galt: Mit der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 sah der neu eingeführte § 175a für diese Handlungen Zuchthausstrafen bis zu 10 Jahren vor. Mehrheitlich betrafen Verurteilungen nach § 175a Männer, die mit Jugendlichen unter 21 Jahren homosexuell verkehrt haben sollen (§ 175a/3). Forderungen nach harten Strafen gegenüber 217 den als „Jugendverführer“ benannten Angeklagten wurden ideologisch damit begründet, daß die Jugend als das „kostbarste Gut der Nation“ in „ihre[r] geschlechtliche[n] Freiheit und Ehre“ geschützt werden müsse, um so die „Substanz“ des deutschen „Volkskörpers“ zu erhalten502. Lange Freiheitsstrafen waren bei Verfahren nach § 175a/3 nicht nur Folge der Übernahme rassenideologischer Argumente, sondern darüber hinaus dürfte der moralische Abscheu der Richter, der in den Urteilsbegründungen hervortritt, eine bedeutende Rolle eingenommen haben: Verbreitet war die Annahme, daß Jugendliche unter 21 Jahren ihre sexuelle Identität noch nicht gefunden hätten und somit „nach der falschen Richtung beeinflußt“ würden. Ausnahmen bildeten homosexuelle Handlungen, die innerhalb des „Milieus“ ausgeübt wurden, also beispielsweise der Umgang mit sog. Strichjungen oder in Einzelfällen mit Partnern, die angaben, von sich aus zu homosexuellen Handlungen bereit gewesen zu sein, und sich mit dieser Aussage selbst der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzten. Die zweite große Gruppe der nach § 175a Verfolgten bildeten diejenigen Angeklagten, denen vorgeworfen wurde, „gewerbsmäßig mit Männern Unzucht“ zu treiben bzw. sich dazu anzubieten – in erster Linie fielen darunter die sog. Strichjungen. Die Ahndung der im Sinne des § 175a/4 strafbaren Handlungen mit Zuchthausstrafe entsprang der nationalsozialistischen Auffassung, wonach die männliche Prostitution mitverantwortlich für die vermeintliche Ausbreitung der Homosexualität war. Darüber hinaus galten die sog. Strichjungen den Richtern als „arbeitsscheu“ und „asozial“. Ihre Verfolgung entsprach dem Bedürfnis nach der Entfernung sozial abweichenden Verhaltens aus dem öffentlichen Leben.

Mit dem Erlaß des sog. Gewohnheitsverbrechergesetzes im November 1933 wurde den Gerichten die Möglichkeit gegeben, bei Vorliegen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen eine über den im Gesetzestext vorgesehenen Strafrahmen hinausgehende Strafschärfung vorzunehmen (§20a) sowie zusätzlich zur Freiheitsstrafe sog. Maßregeln der Sicherung und Besserung, darunter die Sicherungsverwahrung (§42e), anzuordnen. Die Untersuchung der Inanspruchnahme dieser Instrumentarien bietet die Möglichkeit, die relative Häufigkeit der Anwendung bei Verurteilungen nach §§ 175, 175a zu bestimmen. Es zeigt sich, daß von der Möglichkeit der Strafschärfung bei Homosexuellen häufiger Gebrauch gemacht wurde als bei Verurteilungen wegen anderer Delikte. Insbesondere nach § 175 ausgesprochene Strafen wurden durch die Anwendung der in § 20a geregelten Bestimmungen verschärft, wogegen der ohnehin weit gesteckte Strafrahmen des § 175a eine zusätzliche Strafschärfung seltener zu erfordern schien. Ob die vergleichsweise häufige Anwendung der in § 20a geregelten Strafschärfung bei Verurteilungen nach § 175 eine Reaktion auf

501 Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, S. 39. 502 Richterbriefe, S. 13. 218 die von nationalsozialistischen Machthabern immer wieder vorgebrachten Forderungen nach harten Strafen darstellte oder Ausdruck einer ablehnenden Einstellung der in ihrem politischen und gesellschaftlichen Verständnis eher konservativ eingestellten Richterschaft503 gegenüber Homosexuellen war, läßt sich nicht rekonstruieren. Möglicherweise kann die Tatsache, daß die in § 20a geregelten Bestimmungen vor allem bei Verurteilungen wegen sog. einfacher homosexueller Handlungen (§ 175) angewendet wurden, um Zuchthaus- anstelle von Gefängnisstrafen auszusprechen, als Indiz dafür gelten, daß man glaubte, auf diese Weise die als „verweichlicht“ und „feminin“ geltenden Homosexuellen „umerziehen“ oder zumindest vor der Begehung weiterer homosexueller Handlungen abschrecken zu können. Gegen 70 % der als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ verurteilten Homosexuellen – etwa ebenso häufig wie gegen wegen anderer krimineller Delikte Verurteilter – wurde zusätzlich die an die Haftzeit anschließende, zeitlich unbegrenzte Sicherungsverwahrung ausgesprochen.

Die Kriterien, die über das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen hinaus bei der Anwendung der im „Gewohnheitsverbrechergesetz“ geregelten Bestimmungen eine Rolle spielten, ähnelten denen, die in den Urteilsbegründungen bei Verfahren nach §§ 175, 175a generell in den Strafbemessungsüberlegungen aufgeführt sind: Strafmildernd wirkten sich demnach eine bürgerliche Lebensführung, jugendliches bzw. hohes Alter, Trunkenheit sowie „Geschlechtsnot“, politischer und militärischer Einsatz, der erkennbare Wille des jeweiligen Angeklagten, gegen seine sexuelle Orientierung anzukämpfen, sowie bei Jugendlichen zerrüttete Familienverhältnisse aus. Allgemein ist zu erkennen, daß sexuelle Betätigung bei Männern als eine Notwendigkeit angesehen wurde. Insofern konnten Angeklagte, die angaben, daß es für sie unmöglich sei, mit Frauen sexuell zu verkehren, mitunter mit einem milderen Urteil rechnen. Dagegen galten bisexuelle Männer als besonders lasterhaft – insbesondere, wenn sie in intakten Eheverhältnissen lebten und somit für sie keine „Geschlechtsnot“ bestand. Negativ auf die Rechtsprechung wirkte sich darüber hinaus eine hohe Zahl von Vorstrafen aus, die als Indiz für eine „gemeinschaftsfremde“ Gesamteinstellung des Angeklagten gewertet wurde. Dem Anlaß der ergangenen Vorstrafen kam bei der Einschätzung der Täterpersönlichkeit in der Regel nur eine untergeordnete Rolle zu.

Nur zu einem kleinen Teil richteten sich die Kriterien, die bei Verurteilungen nach §§ 175, 175a hinsichtlich der Strafbemessung eine Rolle spielten, spezifisch gegen Homosexuelle: Der Vergleich mit Urteilsbegründungen nicht-homosexueller Verurteilter zeigt, daß Alter, Familienverhältnisse504,

503 Vgl. hierzu Ralph Angermund: Deutsche Richterschaft 1919-1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung. Frankfurt/M. 1990. 504 Personalakte des Gefangenen H.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4391. 219

Verdienste um die nationalsozialistische Partei505, politische Einstellung506, das Ansehen nationalsozialistischer Organisationen in der Öffentlichkeit bzw. im Ausland507, ja sogar ein vermeintlich „körperlich schlaffes“ Erscheinungsbild508 – eine Beschreibung, die sich auch in den Vorstellungen über Homosexuelle immer wieder findet – ebenfalls bei nicht-homosexuellen Angeklagten als Strafmilderungs- bzw. -schärfungsgründe galten. Insbesondere war es die vermeintlich „asoziale“ Lebensweise, die homosexuelle wie nicht-homosexuelle Angeklagte509 zu „Gemeinschaftsfremden“ machte, die durch hohe Freiheitsstrafen aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen werden sollten.

Im Rahmen der zunehmenden Orientierung der NS-Rechtsprechung an der Täterpersönlichkeit verlor auch bei Verurteilungen nach §§ 175, 175a die eigentliche Straftat mehr und mehr an Bedeutung zugunsten einer stärkeren Ausrichtung an der Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit des Angeklagten. Im Mittelpunkt der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller stand keineswegs immer die homosexuelle Veranlagung, sondern die Angaben über den Lebenswandel des Angeklagten510. Wenn auch in den Urteilsbegründungen in der Regel eine Bewertung der Tat nach nationalsozialistischen Wertgrundsätzen vorgenommen wurde, bei der gewöhnlich floskelhaft auf die „Gefahr für das Volksleben“511, das „Überhandnehmen der widernatürlichen Unzucht“512 bzw. deren „seuchenartige[] Ausbreitung“513 und damit die vermeintliche Gefahr für den „Fortbestand des deutschen Volkes“514 sowie auf die „Bekämpfung der Unzucht zwischen Männern“ durch den nationalsozialistischen Staat „mit schärfsten Mitteln“515 verwiesen wurde, so zeigt sich doch, daß

505 Personalakte des Gefangenen F.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2985. 506 Personalakte des Gefangenen P.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4500. 507 Personalakte des Gefangenen W.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2113. 508 Personalakte des Gefangenen W.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 650. 509 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen E.D.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 991; Personalakte des Gefangenen F.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2043; Personalakte des Gefangenen P.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3588. 510 Dagegen behauptet Sparing, daß bei Verurteilungen nach §§ 175, 175a StGB nicht die homosexuelle Handlung, sondern zunehmend die Homosexualität der Angeklagten bei der Urteilsfindung von Bedeutung war. Vgl. Sparing, „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“, S. 153. Noch drastischer formulieren Stümke und Finkler: „Wurde ein Homosexueller als solcher einmal in der Öffentlichkeit 'überführt', dann traten bei der Beurteilung seiner Persönlichkeit alle seine sonstigen Eigenschaften in den Hintergrund, und seine Form der Sexualität galt als Charakterisierung schlechthin.“ Vgl. Hans-Georg Stümke; Rudi Finkler: Rosa Winkel, Rosa Listen. Homosexuelle und „Gesundes Volksempfinden“ von Auschwitz bis heute. Reinbek 1981, S. 101. 511 Personalakte des Gefangenen F.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4720. 512 Personalakte des Gefangenen F.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5729. 513 Personalakte des Gefangenen L.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2952. 514 Personalakte des Gefangenen G.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3552. 515 Personalakte des Gefangenen H.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 8167. 220 soziale Verbundenheitsgefühle der Richter vielfach echten oder gespielten Abscheu vor sexuellen Verhaltensweisen modifizierten.

4.2. Der Strafvollzug an homosexuellen Männern

4.2.1. Strafvollzug im „Dritten Reich“

4.2.1.1. Die Zeit vor 1933

Seit der Jahrhundertwende wurde das Problem der Strafvollzugsmethoden nicht mehr nur unter dem Aspekt eines gerechten Verhältnisses zwischen Delikt und Strafe diskutiert, sondern stärker vom Standpunkt der Zukunft des Kriminellen, der Rehabilitierungsaussichten und der Rentabilität vorbeugender Maßnahmen betrachtet. Zumindest in Fachkreisen setzte sich zunehmend die Auffassung durch, daß Strafvollzug nicht mehr allein Buße zur Sühne eines begangenen Unrechts sein solle, sondern zur Erziehung des Delinquenten beitragen müsse. Zwar behielten auch die reformwilligen Kriminologen die Vorstellung bei, daß der Lebensstandard innerhalb der Haftanstalten deutlich unter dem allgemeinen Minimum liegen sollte, im Zuge der Verbesserung der Lebensbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besserten sich jedoch auch die Zustände in den Haftanstalten516. Die Überlegungen zum Erziehungs- oder Besserungsvollzug fanden ihren Niederschlag in den Reichsgrundsätzen für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923, die an die Stelle der am 28. Oktober 1897 vereinbarten Vollzugsgrundsätze517 traten und mangels einer reichsgesetzlichen Regelung des Strafvollzugs für die gesamte Dauer der Weimarer Republik Gültigkeit behielten. § 48 der Reichsgrundsätze benannte das Vollzugsziel: „Durch den Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen, soweit es erforderlich ist, an Ordnung und Arbeit gewöhnt und sittlich so gefestigt werden, daß sie nicht wieder rückfällig werden.“ Einen weiteren bedeutenden Grundsatz enthielt § 49, in dem es hieß: „Die Gefangenen sind ernst, gerecht und menschlich zu

516 Georg Rusche; Otto Kirchheimer: Sozialstruktur und Strafvollzug. Stuttgart 1974, S. 193ff. Zur Frühzeit des Vollzugs vgl. Thomas Berger: Die konstante Repression. Zur Geschichte des Strafvollzugs in Preußen nach 1850. Frankfurt/M. 1974; Paul Freßle: Die Geschichte des Männerzuchthauses Bruchsal. Freiburg 1970. 517 Grundsätze, welche bei dem Vollzuge gerichtlich erkannter Freiheitsstrafen bis zu weiterer gemeinsamer Regelung zur Anwendung kommen. Abgedruckt in: Materialien zur Strafrechtsreform, hg. vom Bundesministerium der Justiz. Bonn 1954. Bd. 6, S. 75-78. Bedeutung und Wert dieser Grundsätze für die Entwicklung des Strafvollzugs waren umstritten; vielfach wurden sie lediglich als Verwaltungsvorschriften angesehen. Vgl. hierzu Heinz Müller-Dietz: Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform. Köln 1970, S. 9f. 221 behandeln. Ihr Ehrgefühl ist zu schonen und zu stärken.“ Für längere Freiheitsstrafen empfahl § 130 der Reichsgrundsätze die Einführung des Stufenstrafvollzugs:

„Bei längeren Strafen ist der Vollzug in Stufen anzustreben. Er soll die sittliche Hebung dadurch fördern, daß dem Gefangenen Ziele gesetzt werden, die es ihm lohnend erscheinen lassen, seinen Willen anzuspannen oder zu beherrschen. Der Vollzug in Stufen soll auf der Grundlage aufgebaut sein, daß der Strafvollzug je nach dem Fortschreiten der inneren Wandlung des Gefangenen seiner Strenge entkleidet und durch Vergünstigungen, die nach Art und Grad allmählich gesteigert werden, gemildert und schließlich so weit erleichtert wird, daß er den Übergang in die Freiheit vorbereitet.“518

In Preußen trat am 7. Juni 1929 die Verordnung über den Strafvollzug in Stufen in Kraft, die eine Aufteilung der Gefangenen in drei Stufen vorsah: Stufe I (Eingangsanstalt), Stufe II (Anstalt für Geförderte), Stufe III (Ausgangsanstalt). Gefangene der Stufe II hatten beispielsweise Anspruch auf eine wohnlichere Zellenausstattung und erhielten die Erlaubnis zur Benutzung der Gemeinschaftsräume. Als besondere Hafterleichterung galt der Urlaub, der den Gefangenen bereits ab der II. Stufe gewährt werden konnte. Mit Erreichen der III. Stufe wurde die Überwachung durch das Vollzugspersonal wesentlich eingeschränkt und die Selbstverwaltung der Gefangenen gefördert. Die wichtigsten zusätzlichen Hafterleichterungen betrafen die Kleidung der Gefangenen, die Ausstattung der Hafträume, den Fortfall der Fenstervergitterung und anderer Sicherheitsmaßnahmen, die Erlaubnis zur Selbstbeschäftigung und die Urlaubsdauer. An Sonn- und Feiertagen konnten die Gefangenen der III. Stufe sogar in Begleitung eines Aufsichtsbeamten Spaziergänge in die Umgebung der Anstalt unternehmen. Gefangene, die eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verbüßen hatten, waren von den Vergünstigungen der III. Stufe ausgeschlossen bzw. konnten erst dann in Stufe III gelangen, wenn ihre Strafe durch einen Gnadenentscheid in eine zeitlich befristete Freiheitsstrafe umgewandelt worden war; vom Stufenstrafvollzug ganz ausgenommen waren Gefangene mit kurzen Strafen sowie „Gefangene mit abnormer geistiger Beschaffenheit schweren Grades“ und „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher, die einer erziehlichen Einwirkung unter normalen Verhältnissen nicht zugänglich erscheinen“519, so daß beispielsweise im Jahr 1931 von den etwa 30.000 täglich einsitzenden Gefangenen nur etwa 10.000 für den Stufenstrafvollzug in Frage kamen. Von diesen erfüllten wiederum nur ca. 2.000 die Voraussetzungen der Stufe II und III und erhielten die in der Stufenverordnung vorgesehenen Hafterleichterungen520.

518 Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen, 7. 6.1923. Abgedruckt in: Reichsgesetzblatt, hg. im Reichsministerium des Innern. Berlin. Teil II 1923, S. 263-282. 519 Paul Mayer: Der Strafvollzug in Stufen. Nach dem Stande der preußischen „Verordnung über den Strafvollzug in Stufen“ vom 7. Juni 1929. Köln 1931, S. 54ff. 520 Haushalt der Justizverwaltung für das Rechnungsjahr 1931. In: Der Strafvollzug 21 (1931), S. 41-49, hier S. 44. 222

Bei der Umsetzung der reformerischen Regelungen des Strafvollzugs kam dem Vollzugspersonal eine wichtige Rolle zu. Als Beispiele für eine positive Durchsetzung der Reformen können die thüringische Haftanstalt in Untermaßfeld unter der Leitung von Albert Krebs521 sowie die hamburgischen Gefangenenanstalten unter dem Direktor Christian Koch522 gelten. In vielen anderen Strafanstalten führte jedoch die ablehnende Haltung vieler im Justizdienst Beschäftigter dazu, daß sich nur wenig an der Vollzugsrealität änderte, weshalb in einem 1929 in der „Weltbühne“ abgedruckten Aufsatz die resignierende Feststellung getroffen wird: „Der Strafvollzug ist heute noch eine Barbarei und der Republik unwürdig.“523 Während der wirtschaftlichen Krisenjahre der Weimarer Republik verschlechterten sich die Haftbedingungen, da ein Ansteigen der Kriminalität zu einer Überbelegung der Gefängnisse sowie zu Problemen bei der Beschäftigung der Gefangenen führte524. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden zunehmend Zweifel an den Erfolgsaussichten der reformpolitischen Konzepte geäußert525.

4.2.1.2. Strafzweck und Vollzugsziele im Nationalsozialismus

Für die Nationalsozialisten – wie auch für breite Teile der Bevölkerung526 – stellte sich die reformerische Strafrechts- und Vollzugspraxis als „sinnlose und schädliche Humanitätsduselei“527 dar, die sich zu einem reinen „Schutzrecht des Strafgefangenen“528 ausgebildet habe. In zahlreichen Reden und Schriften zur Frage der neuen Inhalte und Formen des Freiheitsentzugs wurde in den ersten Jahren nach der „Machtergreifung“ von Anstaltsleitern, führenden Juristen und Ministerialbeamten Kritik an den Liberalisierungstendenzen im Strafvollzug, insbesondere der vermeintlichen Überbetonung individueller Grundrechte, geübt: Man glaubte, daß die „ursprünglich

521 Albert Krebs: Strafvollzug am Vorabend des Dritten Reiches. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 11-16, hier S. 15. 522 Wolfgang Sarodnick: „Dieses Haus muß ein Haus des Schreckens werden ...“. Strafvollzug in Hamburg 1933 bis 1945. In: Für Führer, Volk und Vaterland... Hamburger Justiz im Nationalsozialismus. Bd. 1, red. Klaus Bästlein [u.a.]. Hamburg 1992, S. 332-381, hier S. 333ff. 523 Kurt Großmann: Deutscher Strafvollzug. In: Die Weltbühne 25 (1929), S. 697f., hier S. 697. 524 Rusche; Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug, S. 247ff. 525 Otto Rietzsch: Abnahme der Strafen – Zunahme der Verbrechen. Zur Praxis der Strafzumessung. In: DJ 95 (1933), S. 395-398, hier S. 397. 526 Vgl. hierzu Christiane Hottes: Grauen und Normalität. Zum Strafvollzug im Dritten Reich. In: Ortstermin Hamm. Zur Justiz im Dritten Reich, hg. vom Oberstadtdirektor der Stadt Hamm. Hamm 1991, S. 63-70, hier S. 63. 527 Äußerung des Generalsekretärs des Deutschen Reichsverbandes für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge, H. Seyfarth, zur Frage der „Neugestaltung des Strafwesens“. Abgedruckt in: Sarodnick, Haus des Schreckens, S. 348. 223 strenge und zuchtvolle Struktur des Strafvollzugs“ in der „Zeit des Liberalismus, in der [...] die Rücksichtnahme auf die Einzelperson über allem thronte“, durch „Vergünstigungen und Freiheiten [...], die mit dem Begriff der Strafe unvereinbar waren“, untergraben worden sei529. Im Mittelpunkt der Kritik standen die Reichsgrundsätze von 1923: § 48 erwähne mit keinem Wort, „daß die Strafe ein Übel ist, das der Vergeltung schuldhafter Tat dient, daß der Rechtsbrecher den Rechtsbruch durch die Verbüßung der Strafe zu sühnen hat, daß der Vollzug der Strafe demgemäß auch abschreckend sowohl auf die Allgemeinheit wie auf den Gefangenen zu wirken hat“. Der Strafvollzug in Stufen auf der Grundlage des § 130 der Grundsätze bilde die „Krone des Vollzugs“ und sei mit dem Begriff der Strafe unvereinbar530. Indem die Freiheitsentziehung „in vieler Hinsicht von Beschränkungen befreit, ja darüber hinaus mit Freiheiten ausgestattet [wurde], die mit dem Begriff Strafe kaum noch vereinbar waren“, sei die Haltung der Gefangenen „immer anmaßender und disziplinloser“ geworden. Die Zustände in den Strafanstalten entsprächen denen in Sanatorien, denn die Gefangenen würden „besser gehalten, als ungezählt viele rechtschaffene Volksgenossen, namentlich die unverschuldet arbeitslosen sich halten könnten“. Ein „schwerer Irrtum“ sei es, „wenn man im Glauben an die Erziehbarkeit und Besserungsfähigkeit der Gefangenen [...] Erziehung und Besserung als alles überragenden Zweck von Strafe und Strafvollzug“ ansähe und danach handle531.

Das Jahr 1933 wurde von den Kritikern der Strafvollzugsreform als das Jahr der „Wiedergeburt“ Deutschlands gefeiert, in dem ein „Gesundungsprozeß im deutschen Strafvollzug“ herbeigeführt532 und damit dem „unhaltbaren Zustande des Strafvollzuges alsbald ein Ende bereitet“ worden sei533. Deutlich distanzierte man sich bei der Erörterung von Strafvollzugsfragen in der Folgezeit von den „Auswüchse[n] der früheren Zeit“534 und den „Übertreibungen der versunkenen Epoche“535 und orientierte sich statt dessen an der nationalsozialistischen Auffassung vom Strafrecht, als dessen

528 Zum 11. Internationalen Kongreß für Strafrecht und Gefängniswesen. Einführung und Widmung. In: DStR (N.F.) 2 (1935), S. 225-227, hier S. 226. 529 Wilhelm Hofmann: Der Strafvollzug in Stufen in Deutschland in Geschichte und Gegenwart. München 1936, S. 57. 530 Christians: Ziele des Strafvollzugs. In: BlGefk 68 (1937/38), S. 339-350, hier S. 345f. 531 Fritz Hauptvogel: Welche Zielrichtung ist dem künftigen Strafvollzug zu setzen? In: DStR (N.F.) 2 (1935), S. 321-334, hier S. 325. 532 Ebd., S. 327, 332. 533 Christians, Ziele des Strafvollzugs, S. 346. 534 Niederschrift über die Erörterung von Strafvollzugsfragen in der Arbeitstagung der Generalstaatsanwälte im RJM, 14.11.1936; BA R 22/1263, fol. 36-43, hier fol. 37. 535 Der Berliner Internationale Strafrechts- und Gefängniskongreß, von Reichsminister der Justiz Dr. Franz Gürtner; BA R 22/1284, fol. 192-196, hier fol. 194. 224

„Spiegelbild“536 der Strafvollzug gelten sollte. So wie im Strafrecht nach nationalsozialistischer Auffassung „eine übertriebene Rücksichtnahme auf die persönlichen Verhältnisse des Täters“537 gegenüber dem „Schutz der völkischen Gemeinschaft“538 zurückzutreten hatte, sollte auch im Strafvollzug eine „Wendung der Blickrichtung vom Individuum hinweg auf die Volksgemeinschaft“539 vollzogen werden. Im Rahmen der „Sicherung des völkischen Gemeinschaftslebens“ sollte Strafe den Gedanken der „Besserung und Erziehung“ sowie insbesondere „der Vergeltung und der Sühne, der Abschreckung und der Warnung“ verwirklichen540. „Abschreckung und Warnung“ in der Gesellschaft, also die generalpräventive Funktion von Strafe, sollten im Interesse der Allgemeinheit auch im Strafvollzug vorangestellt werden. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang das „Problem der Proportion zwischen der Stärke des Strafübels und der Generalpräventionswirkung“: Als „unbestreitbar“ galt, „daß der Generalpräventionsgedanke voraussetzt, daß die Strafe ein erhebliches Übel für den Sträfling darstellt“, weshalb „die Vergünstigungen und Lockerungen des Strafzwanges im Stufenstrafvollzug“ damit kaum vereinbar seien541. Im Hinblick auf den einzelnen sollte Strafe in erster Linie „Vergeltung“ und „Sühne“ für begangenes Unrecht sein542: Verbüßung von Strafe sollte „eine durch Schuld von Rechts wegen verdiente Einbuße an Lebenswerten, hier vor allem am Lebenswert der Freiheit, darstellen, die nicht ungerechterweise übersteigert, von der aber [...] dem Gefangenen [auch] nichts erspart werden darf“543. In der „Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen“ vom 14. Mai 1934544 wurde deshalb in § 48 festgelegt, daß die Freiheitsentziehung so zu gestalten sei, „daß sie für die Gefangenen ein empfindliches Übel ist und auch bei denen, die einer inneren Erziehung nicht zugänglich sind, nachhaltige Hemmungen gegenüber der Versuchung, neue strafbare Handlungen zu begehen, erzeugt“545. Intensiv wurde in diesem Zusammenhang auch die Frage des Lebensstandards

536 Hofmann, Strafvollzug in Stufen, S. 58. 537 Richterbriefe, S. 13. 538 Begründung zum Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches von 1936. In: Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, hg. von Werner Schubert. Bd. 1: Entwürfe eines Strafgesetzbuches, hg. von Jürgen Regge und Werner Schubert. T. 2: Berlin [u.a.] 1990, S. 1-7, hier S. 1; vgl. auch Kapitel 4.1.1.1. 539 Hans Eichler: Die Strafvollzugsordnung vom 22. Juli 1940. In: GS 115 (1941), S. 119-144, hier S. 126. 540 E. Schmidt: Sinn und Zweck des Strafvollzugs. In: BlfGefk 68 (1937/38), S. 42-52, hier S. 52. 541 Friedrich Schaffstein: Die Bedeutung des Erziehungsgedankens im neuen deutschen Strafvollzug. In: ZStW 55 (1936), S. 276-290, hier S. 280. 542 Vgl. zum Begriff der „Sühne“ im nationalsozialistischen Strafrecht Werle, Justiz-Strafrecht, S. 702ff. 543 Eichler, Strafvollzugsordnung, S. 134. 544 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4.2.1.3. 545 Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, 14.5.1934. Abgedruckt in: RGBl. I 1934, S. 383-389, hier S. 383. 225 im Strafvollzug erörtert. „Soweit es mit gesundheitlichen Belangen vereinbar“ sei546, sollte dieser deutlich unter dem der unteren Bevölkerungsschichten liegen, da es „gegen das natürliche Empfinden“ spreche, „wenn es dem Volksschädling in seinen Lebensbedingungen besser geht als dem ehrlichen Volksgenossen“547. Obwohl die Pro-Kopf-Ausgaben für das Gefängniswesen nach 1933 auf ein Minimum sanken548, mehrten sich insbesondere nach Kriegsausbruch die Stimmen, die eine weitere Senkung des Lebensstandards für die „in den Zuchthäusern [...] konserviert[en] Asozialen“ forderten549. Auch nach Hitlers Ansicht blieb die Praxis des Strafvollzugs hinter diesen Forderungen zurück. Noch im Februar 1942, als die Verhältnisse in den deutschen Strafanstalten von Überbelegung und mangelnder Versorgung geprägt waren, erklärte er:

„Wenn einer mit Erfolg geschoben hat, war er fein heraus. Ist er nicht freigesprochen worden, hatte er im Gefängnis ein wunderbares Leben. [...] Wenn man sich vorstellt, wie leicht da vorn [an der Front] ein Menschenleben weggeht! Hier wird ein Gauner auf Kosten der Volksgemeinschaft ernährt! [...] Wenn Verbrecher darauf kommen, daß man bei Beraubungen von Zügen allenfalls einige Jahre Zuchthaus erhält, sagen sie sich: Man bekommt ein geregeltes Leben, wenn es schlecht geht, braucht nicht Soldat zu werden und alles ist schön hygienisch. Kein Mensch wird einem etwas tun, dafür bürgt der Justizminister.“550

Gegenüber dem „Übelscharakter“ der Strafe, durch den dem Gefangenen „sein pflichtwidriges Verhalten zum Bewußtsein kommen“ sollte551, trat der Erziehungsaspekt von Strafe zurück: Die „Besserung des Rechtsbrechers“ sei im deutschen Strafvollzug „nicht allererster Zweck“, sondern nur so lange „in allen Arten des Strafvollzugs Ziel und Aufgabe“, wie „nicht die vordringlicheren Strafzwecke widersprechen“552 – keineswegs dürfe die generalpräventive Wirkung des Strafvollzuges durch „die im Erziehungsinteresse erfolgenden Vergünstigungen und Milderungen des Strafzwanges“ beeinträchtigt werden. Die begrenzten Kapazitäten des Erziehungsvollzugs waren, so Friedrich Schaffstein, „rationell zu verteilen und insbesondere dort einzusetzen, wo der Einsatz den größten

546 Niederschrift über die Erörterung von Strafvollzugsfragen in der Arbeitstagung der Generalstaatsanwälte im RJM, 14.11.1936; BA R 22/1263, fol. 36-43, hier fol. 37. 547 Hofmann, Strafvollzug in Stufen, S. 63. 548 Nach Rusche; Kirchheimer betrugen die Pro-Kopf Ausgaben im Gefängniswesen im Jahr 1931 1229 RM, während es im Jahr 1934 nur noch 725 RM waren. Vgl. Rusche; Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug, S. 263. 549 Besprechung mit den Chefpräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 29. September 1942. Auszugsweise abgedruckt in: Christiane Hottes: Strafvollzug im Dritten Reich. Ein Beitrag zu seiner Darstellung und historischem Lernen aus der NS-Geschichte. In: Juristische Zeitgeschichte, Bd.1: Justiz und Nationalsozialismus, hg. vom Justizministerium NRW. Düsseldorf 1993, S. 169-213, hier S. 178. 550 Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, S. 203. 551 Hofmann, Strafvollzug in Stufen, S. 59. 552 Konrad Dra: Was heißt Besserung im Strafvollzug? In: BlfGefK 70 (1939/40), S. 44-48, hier S. 44. 226

Erfolg verspricht“ 553. Mit „einer gewissen Rigorosität“ sollte die Erziehungsarbeit deshalb auf diejenigen Gefangenen beschränkt werden, „deren Erhaltung für die Gemeinschaft nach ihrer Persönlichkeit und nach ihrer erbbiologischen Veranlagung für Volkstum und Rasse wirklich wünschenswert erscheint“554. Von vornherein ausgeschlossen vom Erziehungsvollzug waren dementsprechend „erbbiologisch Minderwertige“ sowie „Gefangene, bei denen nach pflichtgemäßer Überzeugung des vollzugsleitenden Beamten alles dafür spricht, daß sie praktisch einer wirklichen Besserung nicht fähig sind“555. Der Kreis der für den Erziehungsvollzug in Frage kommenden Gefangenen wurde somit stark beschränkt, wobei die voraussichtliche „Besserungsfähigkeit“ zu einem entscheidenden Kriterium für die Einteilung der Gefangenen wurde556. Im Gegensatz zu der Zeit vor 1933 zielte die Differenzierung der Gefangenen jedoch nicht auf eine gestufte Besserung im Verlauf des Strafvollzugs, sondern es wurde nach einem Prinzip der gestuften Vergeltung bereits im Vorfeld der eigentlichen Strafverbüßung über die „Besserungsfähigkeit“ des jeweiligen Häftlings entschieden557. Bei „schwerste[n] Verbrechen sollte eine „Wiedereingliederung des Verbrechers in die Gemeinschaft“ auch dann ausgeschlossen sein, wenn im Einzelfall eine individuelle Erziehung und 'Resozialisierung' des Täters im früheren Sinne möglich erscheint“558. Indem so durch eine „sachgemäße[] Klassifizierung der Verurteilten“ ganze Gruppen von Gefangenen von Beginn an vom Erziehungsvollzug ausgeschlossen waren, sollten die „begrenzten Kräfte“ auf „die wirklich Hoffnungsvollen“ vereinigt werden559, wozu insbesondere minderjährige und erstmalig bestrafte Gefängnisinsassen gezählt wurden560.

553 Schaffstein, Erziehungsgedanke, S. 288. 554 Ebd., S. 287. 555 Eichler, Strafvollzugsordnung, S. 134. 556 In diesem Sinne hatte auch Hitler in „Mein Kampf“ eine Resozialisierung mehrfach straffällig gewordener Personen ausgeschlossen: „Sicherlich sind die wesentlichen Charaktereigenschaften im einzelnen Menschen grundsätzlich vorgebildet: [...] Der geborene Verbrecher wird Verbrecher sein und bleiben, aber zahlreiche Menschen, bei denen bloß eine gewisse Hinneigung zum Verbrecherischen vorhanden ist, können durch richtige Erziehung noch zu wertvollen Gliedern der Volksgemeinschaft werden“. Vgl. Hitler, Mein Kampf, S. 460. 557 Vgl. hierzu auch Hottes, Grauen und Normalität, S. 65. 558 Die Definition der „schwerste[n] Verbrechen“ beschränkte sich in der Regel auf unvollkommene Aufzählungen von Delikten, so nennt beispielsweise Schaffstein „Hochverrat und Landesverrat, Mord, schwerste Sittlichkeitsdelikte, schwerste gemeingefährliche Verbrechen und dergleichen“; Schaffstein, Erziehungsgedanke, S. 288. 559 Exner, Aufgaben der Kriminologie im Dritten Reich, S. 14. 560 Schaffstein, Erziehungsgedanke, S. 288. 227

4.2.1.3. Normative Grundlagen des Strafvollzugs

Die entscheidende Neuerung der rechtlichen Regelung des Strafvollzugs stellte auf Reichsebene die Neuformulierung der Strafvollzugsgrundsätze von 1923 dar. Ergebnis war die „Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind“ vom 14. Mai 1934561. Dieser waren auf der Ebene der Länder562 verschiedene Vereinbarungen und Verordnungen vorausgegangen, darunter die Dienst- und Vollzugsordnung in Preußen vom 1. August 1933, in deren § 6 Vergeltung und Sühne als Prinzipien des neuen Strafvollstreckungsrechts herausgestellt wurden563. Als Übergangsregelung gedacht, löste die Vollzugsordnung vom 14. Mai 1934 die Grundsätze von 1923 nicht vollständig ab, sondern änderte diese nur insoweit, als sie den nationalsozialistischen Vorstellungen vom Strafvollzug widersprachen564. Ausgehend vom „Gedanken der Sühne“, verfolgte man mit der Änderung der Grundsätze das Ziel, „den Strafvollzug zu einer ernsten und wirksamen Waffe des Staates im Kampfe gegen verbrecherische Volksschädlinge zu machen“565. Die Änderungen betrafen neben der bereits erwähnten Neuformulierung der Vollzugsziele in § 48 die Vorschriften über die Strafanstaltsbeiräte, die Einführung des sog. strengen Arrests, die Regelung des Schriftverkehrs der Gefangenen sowie die Bestimmungen über Lektüre und Unterricht, durch den „die Gefangenen zu vaterländischer und rechtlicher Gesinnung zu erziehen und [...] zu lebenstüchtigen Gliedern der Volksgemeinschaft zu machen“ seien566. Eine weitere Änderung behandelte die Vorschriften über die Beschwerdemöglichkeiten der Gefangenen: §§ 147 bis 153 wurden so formuliert, daß die diesbezüglichen Rechte der Gefangenen stark eingeschränkt wurden und auf diese Weise dem vermeintlichen „Beschwerdeunwesen“567 aus der Zeit der Weimarer Republik ein Ende gesetzt werden sollte. Schließlich enthielt Artikel 3 der Verordnung Ergänzungen der Grundsätze von 1923,

561 Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, 14.5.1934. Abgedruckt in: RGBl. I 1934, S. 383-389. 562 Bis Anfang 1935 unterstand die Strafvollzugsverwaltung den Ländern. Mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30.1.1934 gingen die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich über. Das erste Überleitungsgesetz vom 16.2.1934 ermächtigte den Reichsjustizminister zur „Verreichlichung“ der gesamten Justiz; mit dem dritten Überleitungsgesetz vom 1.4.1935 wurden schließlich die Justizbeamten der Länder zu unmittelbaren Reichsbeamten. Vgl. hierzu ausführlich Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 45ff. 563 Schmidt: Die reichsrechtlichen Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom Standpunkt des preußischen Strafvollzugs. In: DJ 96 (1934), S. 667-669, hier S. 668. 564 Vgl. hierzu Artikel 1 der Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, 14.5.1934. 565 Schmidt, Die reichsrechtlichen Grundsätze, S. 669. 566 § 106 der Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, 14.5.1934. 567 Hauptvogel, Zielrichtung, S. 329. 228 die den Vollzug der mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln der Sicherung und Besserung betrafen.

Die Bestimmungen der „Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen“ waren auch als Grundlage für ein künftiges Strafvollzugsgesetz gedacht. Ebenso wie die allgemeine Strafrechtsreform scheiterten jedoch auch die Bemühungen um eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs. Am 7. Dezember 1935 wurde eine neue Strafvollstreckungsordnung erlassen, in der vorwiegend formale Aspekte der Strafvollstreckung (Vollstreckungsplan, Aufnahmeersuchen, Haftbefehl, Strafberechnung), jedoch nicht die Praxis des Strafvollzugs geregelt wurde568. Als weitere Zwischenlösung erließ das Reichsjustizministerium am 22. Juli 1940 eine neue Strafvollzugsordnung, die am 1. September 1940 in Kraft trat569 und den Strafvollzug anhand von 218 Punkten zusammenfassend regelte. Die Strafvollzugsordnung beseitigte weitere Elemente der Strafvollzugsreform aus der Weimarer Zeit. So wurden die Bestimmungen des Stufenstrafvollzugs, die zwar in der Praxis stark eingeschränkt, formal jedoch unverändert geblieben waren, endgültig abgeschafft und als neues Prinzip der „strengere Anfangsvollzug“ eingeführt: Innerhalb der ersten drei Monate (Gefängnisstrafen) bzw. sechs Monate (Zuchthausstrafen) unterlagen die Gefangenen dadurch verschärften Bestimmungen hinsichtlich Unterbringung, Leistungsbelohnung, Unterricht und Verkehr mit der Außenwelt570. Als neu eingeführte „Sondervollzugsarten von bedeutungsvoller Eigenart“ sah die Strafvollzugsordnung von 1940 in Artikel 49/5 den Erstvollzug der Gefängnisstrafe sowie den Jugendstrafvollzug vor. Mit der neuen Vollzugsordnung sollte den Beamten ein Werkzeug in die Hand gegeben werden, „von dem sie nicht gegängelt würden, sondern das sie in weitgespanntem freiem Ermessen verantwortungsfreudig und schaffenslustig zu meistern imstande wären“571. Gleichzeitig glaubte man immer noch, daß die erneute Zwischenregelung Gelegenheit biete, „Neuerungen, die sie birgt und die auch für die kommende Regelung geplant sind, auf ihre praktische Brauchbarkeit zu erproben“ und auf diese Weise die „Vorbereitung der kommenden gesetzlich unterbauten Regelung“ zu unterstützen572. Bis Kriegsende wurden mehrere Änderungen der Vollzugsordnung zu Einzelfragen vorgenommen. Die stärksten Auswirkungen auf den Gefangenenalltag dürften die sog. Kriegsvereinfachungen gehabt haben, die eine Einschränkung der

568 Strafvollstreckungsordnung. AV. d. RJM v. 7.12.1935. In: DJ 97 (1935), S. 1800-1811. 569 Vereinheitlichung der Dienst- und Vollzugsvorschriften für den Strafvollzug im Bereich der Reichsjustizverwaltung (Strafvollzugsordnung). Berlin 1940 (Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 21). 570 Artikel 153 und 155 der Strafvollzugsordnung (1940). 571 Eichler, Strafvollzugsordnung, S. 127. 572 Hans Eichler: Der Strafvollzugsordnung vom 22. Juli 1940 zum Geleit. In: BlfGefK 71 (1940/41), S. 195f., hier S. 196. 229 gesundheitlichen Überwachung, der seelsorgerischen Dienste sowie des Außenverkehrs der Häftlinge zur Folge hatten573.

4.2.1.4. Personalpolitische Maßnahmen nach dem 30. Januar 1933

Bei der praktischen Umsetzung der neu geregelten Bestimmungen zum Umgang mit den Gefangenen kam der Vollzugsbeamtenschaft entscheidende Bedeutung zu. Diese wies eine starke personelle Kontinuität auf: Zwar wurden politische Gegner sowie Beamte „nicht-arischer Abstammung“574 auch aus dem Vollzugsdienst entlassen und durch politisch zuverlässige Beamte ersetzt, ein umfassender personeller Wechsel erfolgte jedoch vorwiegend bei den Generalstaatsanwälten, die die Dienstaufsicht über die Justizvollzugsanstalten ausübten, wogegen sich die Veränderungen auf der Ebene der Anstaltsleiter sowie der Verwaltungsbeamten und Vollzugskräfte in Grenzen hielten575. Einen deutlichen Einschnitt in der Zusammensetzung der Beamtenschaft verursachten mit Kriegsbeginn die zahlreichen Einberufungen von Vollzugsbeamten zur Wehrmacht, die einen Mangel an qualifiziertem Fachpersonal hervorriefen576.

Eine fachliche und ideologische Schulung der Vollzugsbeamten nach reichseinheitlichen Richtlinien fand weder vor noch während der Kriegszeit statt577. Die starke Kontinuität in der Vollzugsbeamtenschaft, die zu einem großen Teil noch von den reformpolitischen Maßnahmen der 20er Jahre mitgeprägt war, dürfte sich insgesamt diskriminierungshemmend auf die Behandlung der Gefangenen ausgewirkt haben. So heißt es in einer 1936 im tschechischen Exil herausgegebenen Denkschrift über das Wachpersonal in den Zuchthäusern: „Die alten Beamten sind in ihrer Mehrheit korrekt, einige sehr gut. Sie sorgen oft für Bücher, dulden keine Mißhandlungen, und verteilen das

573 Kriegsvereinfachung im Strafvollzug und im Vollzug der Untersuchungshaft. AV. d. RJM v. 11.2.1942 und v. 29.9.1944. Abgedruckt in: DJ 104 (1942), S. 134f. sowie DJ 106 (1944), S. 270. 574 Vgl. hierzu das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, 7.4.1933. Abgedruckt in: RGBl. I 1933, S. 175f. 575 In einzelnen Anstalten herrschte dennoch eine relative NS-ideologische Geschlossenheit unter den Vollzugsbeamten, die jedoch nicht unbedingt Folge personeller Maßnahmen war. So gibt Scharf für die JVA Zweibrücken an, daß dort bereits im Jahr 1933 alle höheren Beamten der NSDAP, der SS oder der SA angehört hätten; vgl. Eginhard Scharf: Strafvollzug in der Pfalz unter besonderer Berücksichtigung der JVA Zweibrücken. In: Justiz im Dritten Reich: Justizverwaltung, Rechtsprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, hg. vom Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz. Frankfurt/M. [u.a.] 1995, S. 759-849, hier S. 788. 576 Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 33ff. sowie ders.: Volksgenossen und „Gemeinschaftsfremde“ hinter Gittern – zum Strafvollzug im Dritten Reich. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 17-21, hier S. 20. 577 Vgl. hierzu Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 112ff. sowie Sarodnick, Haus des Schreckens, S. 341ff. 230

Essen gerecht“578. In den Deutschlandberichten der Sopade war im August 1936 von einem ehemaligen Gefangenen über das Zuchthaus Waldheim zu lesen: „Die Bewachung im Zellenhaus bestand aus älteren Beamten, die uns gut behandelten“579. Ähnliches wird über das Zuchthaus Osterstein berichtet: „Die Behandlung der Gefangenen ist, soweit sie älteren Beamten aus der Republik unterstehen, erträglich. Anders ist es mit den jungen Beamten, die erst nach 1933 angestellt wurden“580.

4.2.1.5. Formen des Strafvollzugs

Die in den Reichsgrundsätzen von 1923 festgesetzten „Vorschriften für die einzelnen Arten von Freiheitsstrafen“ blieben von der Vollzugsverordnung von 1934 weitgehend unberührt. Unterschieden wurde zwischen Haft-, Gefängnis- und Zuchthausstrafen sowie den mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln der Sicherung und Besserung. Letztere bleiben in der folgenden Übersicht ausgeklammert, da sie keine Strafen im eigentlichen Sinn darstellten, weshalb ihre Durchführung kein Strafvollzug war, auch wenn in der Vollzugsrealität häufig keine großen Unterschiede bestanden581.

Als kurze Gefängnisstrafe von maximal sechs Wochen Dauer stellte die Haftstrafe eine „einfache[] Freiheitsentziehung“582 dar, die gewöhnlich am Ort des Gerichts in den sog. Gerichtsgefängnissen583 vollzogen wurde. Die Arbeitszeit der Gefangenen wurde auf acht Stunden am Tag festgelegt, und soweit es „mit Sicherheit, Zucht und Ordnung verträglich“ sei, konnten den Gefangenen gewisse

578 Der Strafvollzug im III. Reich. Denkschrift und Materialsammlung, hg. von der Union für Recht und Freiheit. Prag 1936, S. 69. 579 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade). Frankfurt/M. 1980. Bd. 3 (1936), S. 1020. 580 Deutschland-Berichte der Sopade 4 (1937), S. 715. 581 Vgl. zur Durchführung der mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln der Sicherung und Besserung die Broschüre „Das Gefängniswesen in Deutschland, hg. vom RJM. Berlin 1935“; BA R 22/1285, fol. 137-159, hier fol. 155ff. sowie Teil 3 der Strafvollzugsordnung von 1940 (S. 97ff.). Speziell zur Durchführung der Sicherungsverwahrung vgl. Hans Eichler: Der Vollzug der Sicherungsverwahrung. In: Dringende Fragen der Sicherungsverwahrung, hg. von Roland Freisler und Franz Schlegelberger. Berlin 1938, S. 98-104 sowie Hermann Georgi: Zum Vollzug der Sicherungsverwahrung in Deutschland. In: ZStW 55 (1936), S. 613-620. 582 § 18 StGB. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 72f. 583 Zur Bezeichnung der Justizvollzugsanstalten im „Dritten Reich“ vgl. Bezeichnung der Vollzugsanstalten der Reichsjustizverwaltung. AV. v. 22.6.1936; BA R 22/1265, fol. 122. 231

Vergünstigungen hinsichtlich Selbstbeköstigung, Lektüre, dem Tragen eigener Kleidung sowie Besuchs- und Schreibfristen eingeräumt werden584.

Längere Gefängnisstrafen wurden in Gefängnissen, Strafgefängnissen oder Strafanstalten vollstreckt585. Beim Vollzug sollte stärker als bei der Haftstrafe Wert gelegt werden auf den Versuch, „den Gefangenen zur Einsicht seiner Schuld, zum Bewußtsein seiner Verantwortung der Volksgemeinschaft gegenüber und zur Entwicklung von Gemeinschaftssinn und Gemeinschaftswillen hinzuführen“586. Nach § 16/2 konnten Gefängnisinsassen in einer „ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessene[n] Weise“ beschäftigt werden587, vorgeschrieben war eine Arbeitszeit von mindestens neun Stunden täglich. Zudem war vorgesehen, daß Gefangene in den Gefängnissen am Unterricht teilnahmen und alle zwei Monate Besuch erhalten sowie alle vier Wochen einen Brief absenden durften588. Die ersten drei Monate des Vollzugs wurden als strengerer Anfangsvollzug unter verschärften Bedingungen durchgeführt589.

In reine Zuchthäuser oder in Strafanstalten gelangten schließlich Gefangene, die zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden waren. Für Zuchthausgefangene war die Arbeitszeit länger (mindestens zehn Stunden täglich) und die Arbeitsbelohnung geringer als sonst im Strafvollzug. Zum Unterricht sollten nur ausgewählte Zuchthausgefangene herangezogen werden, und auch die Besuchs- und Schreibfristen unterlagen stärkeren Beschränkungen als beim Vollzug von Gefängnisstrafen590. Der strengere Anfangsvollzug erstreckte sich bei Zuchthausstrafen über einen Zeitraum von sechs Monaten, die der Gefangene in Einzelhaft ohne die Erlaubnis zum Empfang von Besuch oder zum Schriftverkehr verbrachte591. Der Vollzug der Zuchthausstrafe sollte an den Gefangenen „besonders schwere Anforderungen stellen“ und im Vergleich zu den anderen Haftarten

584 Artikel 162 der Strafvollzugsordnung (1940). 585 Die Bezeichnung der Vollzugsanstalten richtete sich nach dem jeweiligen Verwendungszweck. Bei den Strafanstalten handelte es sich um Vollzugsanstalten, in denen sowohl Gefängnis- und Haft- als auch Zuchthausstrafen vollzogen wurden; insofern fallen unter diese Bezeichnung auch die Strafgefangenenlager. Zur Bezeichnung der Justizvollzugsanstalten im „Dritten Reich“ vgl. Bezeichnung der Vollzugsanstalten der Reichsjustizverwaltung. AV. v. 22.6.1936; BA R 22/1265, fol. 122. 586 Artikel 49/3 der Strafvollzugsordnung (1940). 587 § 16/2 StGB. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941, S. 71f. 588 Artikel 154 der Strafvollzugsordnung (1940). 589 Artikel 155 der Strafvollzugsordnung (1940). 590 Artikel 152 der Strafvollzugsordnung (1940). Vgl. auch Schreiben des RJM vom 5.1.1938 zur Unterscheidung von Zuchthaus- und Gefängnisstrafen; BA R 22/931, fol. 126-132. 591 Artikel 153 der Strafvollzugsordnung (1940). 232

„die geringste Rücksicht auf die Belange des einzelnen Gefangenen“ nehmen592. Immer wieder wurde aus diesem Grund gefordert, eine stärkere Differenzierung zwischen der Gefängnis- und der Zuchthausstrafe zu schaffen und dem Zuchthausgefangenen gegenüber deutlicher zum Ausdruck zu bringen, „daß er außerhalb der Volksgemeinschaft steht und an ihrer Lebensfreude keinen Anteil hat“593.

4.2.1.6. Haftbedingungen

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gingen Veränderungen in der Strafvollzugspraxis einher, die sich auch in den Haftbedingungen niederschlugen. Die „Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen“ vom Mai 1934 und die Strafvollzugsordnung von 1940 bewirkten eine erhebliche Reduzierung der Rechte der Gefangenen: Eingeschränkt wurden die Beschwerdemöglichkeiten der Gefangenen594, die Bestimmungen über die Strafanstaltsbeiräte entfielen, und als neue Form der Hausstrafe wurde der „strenge Arrest“ für Zuchthausgefangene sowie später für alle Gefangenen eingeführt595. Gefangenenunterricht wurde nur noch bei Verbüßung einer mindestens sechsmonatigen Strafe erteilt. Die ideologische Ausrichtung von Unterricht und Gefangenenbücherei sollte zudem dazu dienen, „die Gefangenen zu vaterländischer und rechtlicher Gesinnung zu erziehen“ 596. Daneben bestanden liberale Elemente des in der Weimarer Republik praktizierten Strafvollzugs zunächst weiter fort, wurden jedoch ihrem Inhalt nach immer stärker ausgehöhlt. Der Grad der Umsetzung der Bestimmungen und der Umgang mit den Gefangenen differierte mit der Zusammensetzung des Vollzugspersonals in den jeweiligen Strafanstalten: Während in einigen Vollzugsanstalten insbesondere in der Anfangsphase des „Dritten Reiches“ die tägliche Durchführung der Haftvollstreckung an hergebrachten Vollzugsmethoden orientiert blieb bzw. in einigen Hafteinrichtungen sogar während der gesamten Dauer des „Dritten Reiches“ die Grundstrukturen des Strafvollzugs erhalten blieben, lehnte man sich in anderen Vollzugsanstalten bei der Durchführung des Strafvollzugs sehr viel stärker an nationalsozialistisch geprägten Vorstellungen

592 Artikel 49/2 der Strafvollzugsordnung (1940) sowie Eichler, Strafvollzugsordnung, S. 137. 593 Strube: Wie müssen Haft-, Gefängnis- und Zuchthausstrafen umgewandelt werden, damit sie dem Rechtsempfinden des Deutschen Volkes entsprechen? In: BlGefK 67 (1936), S. 365-377, hier S. 371f. 594 § 147-153 der Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, 14.5.1934. 595 § 143 der Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, 14.5.1934 sowie Artikel 182-192 der Strafvollzugsordnung (1940). 596 § 106 der Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen und von Maßregeln der Sicherung und Besserung, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind, 14.5.1934. 233

über den Strafzweck an, so z.B. in den Emslandlagern597. Insofern markierte das Jahr 1933 im Strafvollzug eine deutliche Zäsur, stellte jedoch nicht den Zeitpunkt eines völligen Neubeginns dar598.

Über die Änderungen der den Strafvollzug betreffenden rechtlichen Regelungen hinaus verschlechterten sich die Haftbedingungen für die Gefangenen im „Dritten Reich“ im Vergleich zu der Zeit vor 1933 aufgrund des Mangels an räumlichen und personellen Kapazitäten sowie an materiellen Gütern. Schon kurze Zeit nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ waren infolge der Massenverhaftungen von kommunistischen und sozialdemokratischen Funktionären in den meisten Vollzugsanstalten die Kapazitätsgrenzen erreicht oder überschritten599. Nach einer kurzen Phase Ende der 30er Jahre, während der die Belegung zurückging, stiegen die Gefangenenzahlen aufgrund der Verschärfung des Strafrechts während der Kriegszeit erneut drastisch an; spätestens mit der Evakuierung der frontnahen Vollzugsanstalten ab Ende 1944 nahm die Überbelegung im Reichsinneren ein für die Gefangenen unerträgliches Ausmaß an600. Die Überbelegung in den Vollzugsanstalten ging einher mit einer allgemeinen Unterversorgung, die sich seit Kriegsbeginn aufgrund der allgemeinen Nahrungsknappheit zunehmend verschlechterte601. Gleichzeitig wurden an die Gefangenen während der Kriegszeit hohe Arbeitsanforderungen gestellt – seit Ende Oktober 1939 betrug die tägliche Arbeitszeit für die Dauer des Krieges für Zuchthausgefangene und Sicherungsverwahrte zwölf und für die übrigen Gefangenen elf Stunden. Jede „Arbeitsverweigerung, Faulheit oder schuldhaft schlechte Arbeitsleistung“ sollte streng geahndet werden602. Folge der zunehmenden Verschlechterung der Haftbedingungen im Verlauf der

597 Vgl. Kapitel 4.2.1.7. 598 Vgl. hierzu Scharf, Strafvollzug in der Pfalz, S. 759; Claudia Dörr: Strafvollzug im Dritten Reich – am Beispiel des Saarlandes. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 42-46, hier S. 43. 599 Vgl. hierzu beispielsweise Scharf, Strafvollzug in der Pfalz, S. 775f. 600 Vgl. hierzu Sarodnick, Haus des Schreckens, S. 349; Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 89ff. sowie die Dokumente zu den Belegungsverhältnissen der Strafanstalten des deutschen Reiches bei Erich Kosthorst; Bernd Walter: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933-1945. Zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz. Darstellung und Dokumentation, Bd. 1-3. Düsseldorf 1983, Dok. C IIa/1.01f., S. 1266ff. Einen Eindruck über die Belegungssituation der Strafanstalten aus Sicht der Gefangenen vermitteln die Deutschlandberichte der Sopade, z.B. Deutschland-Berichte der Sopade 3 (1936), S. 1004, Deutschland-Berichte der Sopade 4 (1937), S. 681f. und S. 714. 601 Vgl. hierzu beispielsweise Der Strafvollzug im III. Reich, S. 78ff. 602 Verfügung des Reichsministers der Justiz, 28.10.1939, betr. den Strafvollzug an Erwachsenen während des Kriegszustandes. Abgedruckt in: Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C IIa/1.28, S. 1313f. 234

Kriegszeit war in den meisten Vollzugsanstalten eine Häufung von Krankheits- und Todesfällen unter den Gefangenen603.

4.2.1.7. Die Bedeutung der Emslandlager im nationalsozialistischen Strafvollzug

Von der Situation in den herkömmlichen Vollzugsanstalten unterschied sich die Strafvollzugspraxis in den Emslandlagern in mancher Hinsicht. Bereits 1933 waren im Emsland die Konzentrationslager Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum errichtet worden, in denen die Gefangenen zu Moorkultivierungsarbeiten im Landkreis Aschendorf-Hümmling eingesetzt wurden. Als Einrichtungen des preußischen Staates sollten sie die zahlreichen verstreuten, sog. wilden Konzentrationslager ersetzen und die schon kurze Zeit nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ gänzlich überfüllten Polizeigefängnisse in Preußen entlasten. Mit ca. 3.000, dann ca. 4.000 Häftlingen bildeten die Emslandlager im Sommer und Herbst des Jahres 1933 neben dem Konzentrationslager Dachau bei München die bedeutendste Schutzhaftstätte des Reiches. Die Wachmannschaften dieser frühen Konzentrationslager bestanden mehrheitlich aus SA-Angehörigen, deren Verhalten gegenüber den Gefangenen von Willkür und Brutalität geprägt war604. Wegen der unmenschlichen Zustände in den Lagern kam es in dieser frühen Phase immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der Lagerleitung und den preußischen Behörden605.

Als Heinrich Himmler im Jahr 1934 eine zentrale Leitung und einheitliche Bewachung aller Konzentrationslager durch spezielle SS-Formationen anordnete, wurde als einziges der Emslandlager Esterwegen in dieses System einbezogen. Die übrigen Lager im Emsland dienten ab 1934 als Strafgefangenenlager und unterstanden kurzzeitig dem preußischen, dann dem Reichsjustizministerium. Die Wachmannschaften setzten sich bis 1938 aus SA-Mitgliedern zusammen, die in der Regel zu Justizvollzugsangestellten gemacht worden waren, ohne die im Justizdienst übliche Ausbildung zum Wachpersonal erhalten zu haben. Dieses Bewachungspersonal

603 Vgl. z.B. zur Situation in den Vollzugsanstalten in der Pfalz Scharf, Strafvollzug in der Pfalz, S. 806f. sowie zur Justizvollzugsanstalt Halle/Saale Kurt Fricke: Die Justizvollzugsanstalt „Roter Ochse“ Halle/Saale 1933-1945. Eine Dokumentation. Magdeburg 1997, S. 29. 604 Vgl. hierzu die zahlreichen Berichte Überlebender, z.B. Wolfgang Langhoff: Die Moorsoldaten. Zürich 1935; Karl August Wittfogel: Staatliches Konzentrationslager VII. Eine "Erziehungsanstalt" im Dritten Reich. Bremen 1991 (Erstveröffentlichung: London 1936); Willy Perk: Hölle im Moor. Zur Geschichte der Emslandlager 1933- 1945. Frankfurt/M. 21979, S. 11-36 sowie Karl Wloch: Das war Esterwegen 1935/36. In: Die Weltbühne 1963, S. 678-683. 605 Vgl. zur Phase der Konzentrationslager im Emsland allgemein Elke Suhr: Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlager 1933-1945. Bremen 1985, S. 29-37; Perk, Hölle im Moor, S. 11-36 sowie die Broschüre: Die Geschichte der Emslandlager und das „Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager“ in Papenburg. Papenburg 1993, S. 3f. 235 führte in den Emslandlagern ein System von offiziellen und inoffiziellen Behandlungsmethoden ein, wie sie sonst nur in den Konzentrationslagern der SS üblich waren. Im Zuge der Zentralisierung des KZ-Systems wurde dann im Jahr 1936 auch das Lager Esterwegen wegen seiner Abgelegenheit und geringen Ausbaufähigkeit als Konzentrationslager aufgelöst und zum Strafgefangenenlager umgewandelt. Nach einer ersten Ausbauphase bestanden 1938 insgesamt sieben Strafgefangenenlager im Emsland, die einer Kommandantur in Papenburg unter der Leitung von Werner Schäfer606 unterstellt waren und ihrerseits von jeweils einem Lagerleiter geführt wurden: Lager I Börgermoor, Lager II Aschendorfermoor, Lager III Brual-Rhede, Lager IV Walchum, Lager V Neusustrum, Lager VI Oberlangen, Lager VII Esterwegen607.

Die Unterbringung einer großen Zahl von Gefangenen in Strafgefangenenlagern608 sollte zur Lösung von zwei Problemen der Justizverwaltung beitragen: dem Abbau der chronischen Überbelegung der bestehenden Vollzugsanstalten609 sowie der verbreiteten Arbeitslosigkeit in den Gefangenenanstalten, die durch die wirtschaftliche Krise des freien Handwerks und Gewerbes hervorgerufen worden war. In Preußen waren im Jahr 1927 21 % der Strafanstaltsinsassen ohne Arbeit, 1930 waren es bereits 36 %, und 1933 konnte für 67 % der Gefangenen keine Arbeitsmöglichkeit geschaffen werden610. Rudolf Marx, Ministerialdirigent im Reichsjustizministerium, sah in der fehlenden Gefangenenarbeit das wesentliche Problem des Strafvollzugs:

„Das Problem des Strafvollzuges ist das Problem der Gefangenenarbeit. Mit ihr steht und fällt der gesamte Strafvollzug. Mit der Einführung der zwangsweisen Erziehung durch Arbeit und zur Arbeit ist dem ehemals toten Körper der Freiheitsstrafe erst eine Seele eingehaucht worden. [...] Durch sie wird der in der Strafe liegende Sühnegedanke erst verwirklicht. Der Rechtsbrecher ist gezwungen, während Verbüßung seiner Strafzeit durch Hergabe seiner ganzen Arbeitskraft dem Volksganzen zu dienen. Nur regelmäßige Arbeit ist auf die Dauer auch geeignet, den Gefangenen vor geistigem und körperlichem Siechtum zu

606 Werner Schäfer, von 1934 bis 1942 Kommandeur der Strafgefangenenlager im Emsland, hatte 1933 das KZ Oranienburg kommandiert. 607 Vgl. André Hohengarten: Die Emsland-Strafgefangenenlager. In: Les Sacrifiés 13 (1973), S. 11-19, hier S. 13. 608 In den Jahren 1937/38 wurden außer den Emslandlagern folgende weiteren Strafgefangenenlager errichtet: Das Lager Rodgau/Dieburg mit einer Kapazität von ca. 4.000 Gefangenen, die das zwischen Darmstadt und Aschaffenburg gelegene Sumpfgelände kultivieren sollten, das Lager „Elbregulierung“, in dem ca. 1.300 Gefangene untergebracht waren, sowie das Strafgefangenenlager „Bayerische Ostmark“ für ca. 1.600 Gefangene, die mit dem Bau der sog. Ostmarkstraße von Passau nach Wunsiedel beschäftigt waren. Vgl. hierzu das Kapitel „Lagervollzug“ bei Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 82-88. 609 Vgl. hierzu die Dok. C IIa/1.01-1.03 sowie C IIa/1.14 bei Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 1266-1272 sowie S. 1291f. 610 Ebd., S. 537. 236

bewahren und ihm die seelische Spannkraft und körperliche Widerstandsfähigkeit zu erhalten.“611

Bereits in den Reichsratsgrundsätzen von 1923 war die Beschaffung von Arbeiten im Freien, insbesondere von landwirtschaftlichen Tätigkeiten und Arbeiten zur Erschließung von Ödland, als wichtige Aufgabe formuliert worden612. Im Nationalsozialismus wurde der Einsatz von Gefangenen zu gemeinnützigen Außenarbeiten als die zukünftige Vollzugsform schlechthin gesehen, die „dem [gesamten] Strafvollzug ein neues Gesicht“ gebe. Arbeiten wie Tütenkleben, Matten- oder Korbflechten sollten allenfalls vergeben werden, um „sonst nicht arbeitseinsatzfähigen oder aus Sicherheitsgründen mit anderer Arbeit nicht betraubaren Gefangenen Arbeit zuweisen zu können“ bzw. um Zwischenzeiträume bis zur Beschaffung einer „für das Volk notwendigere[n]“ Arbeit ausfüllen zu können613. Der Gefangene sollte sein Unrecht durch die Verrichtung einer volkswirtschaftlich nützlichen Arbeit sühnen. Gleichzeitig hoffte man, durch die Einnahmen aus der Gefangenenarbeit die Kosten für den Strafvollzug zu senken, ohne dabei eine Konkurrenz zum freien Handwerk zu bilden.614 Von Strafvollzugspraktikern wurde gelegentlich daran Kritik geübt, daß der Massenbetrieb im Lagervollzug eine individuelle Betreuung der Gefangenen erschwere; der grundsätzliche Nutzen der Beschäftigung von Häftlingen mit Außenarbeiten wurde jedoch zumindest offiziell nicht in Frage gestellt615. Die emsländischen Moore boten auf lange Sicht eine ausreichende Beschäftigungsmöglichkeit für eine große Zahl von Strafgefangenen: Marx veranschlagte für die erfolgreiche Kultivierung der ca. 50.000 ha Moorlandschaft bei einer Belegung der Emslandlager mit etwa 15.500 Gefangenen eine Arbeitszeit von 12 Jahren616.

Bereits vor dem 1. Weltkrieg und während der Weimarer Republik hatte es staatliche und private Initiativen zur Erschließung und Kultivierung der Emslandregion – auch durch Gefangene617 – gegeben, ohne daß jedoch durchgreifende Erfolge erzielt worden wären. Insbesondere während der Weltwirtschaftskrise stellten die Kultivierungsarbeiten ein wichtiges Betätigungsfeld für Arbeitslose und Mitglieder des Freiwilligen Arbeitsdienstes dar. Nach der nationalsozialistischen

611 Rudolf Marx: Die Gefangenenarbeit unter besonderer Berücksichtigung der Urbarmachung von Ödländereien. In: DStR (N.F.) 2 (1935), S. 364-373, hier S. 364. 612 Vgl. § 62 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen, 7. 6.1923. Abgedruckt in: RGBl. II 1923, S. 263- 282, hier S. 269. 613 Roland Freisler: Arbeitseinsatz im Strafvollzug. In: DJ 102 (1940), S. 1021-1025, hier S. 1022. 614 Marx, Gefangenenarbeit, S. 364f. 615 Hans Semler: Strafvollzug in festen Anstalten und Lagern. In: BlfGefK 70 (1939/40), S. 3-14, hier S. 11. 616 Rudolf Marx: Die Kultivierung der emsländischen Moore, eine Kulturaufgabe des Staates. In: DJ 96 (1934), S. 732-734, hier S. 734. 237

„Machtergreifung“ wurde die Tätigkeit des Arbeitsdienstes im Rahmen der nationalen Siedlungs- und Autarkiepolitik zum „Ehrendienst am Volk“ stilisiert. Ein deutlicher Hinweis auf den fortbestehenden Vorrang der Arbeitsbeschaffung ist in dem Verzicht auf den Einsatz großer Maschinen anstelle von menschlicher Arbeitskraft zu sehen618. Die beschäftigungsfördernde Wirkung der Erschließungsmaßnahmen wurde in der propagandistischen Aufarbeitung jedoch ausgeblendet. Für den Arbeitsdienst bedeutete die Einziehung von KZ-Häftlingen bzw. später von Strafgefangenen zu Zwangsarbeiten im Moor einen erheblichen Prestigeverlust. Durch räumliche Abgrenzung619 sowie durch eine Beschränkung des Einsatzes von Strafgefangenen auf die eigentlich schwere Kultivierungsarbeit versuchte man, „Ehrendienst“ und Zwangsarbeit stärker voneinander zu unterscheiden: Nach einer Vereinbarung zwischen dem Leiter der Reichsstelle für Raumordnung, Hans Kerrl, Reichsjustizminister Franz Gürtner und dem Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl vom 17. Dezember 1936 sollte nach der Durchführung der körperlich belastenden sog. Kuhlungsarbeiten „dem Reichsarbeitsdienst die Ableistung der letzten Vorbereitungsarbeiten und die erste Siedlerhilfe überlassen“ bleiben, um so dem „Einsatz des Reichsarbeitsdienstes im Emslande seinen Charakter als Ehrendienst der deutschen Jugend zu wahren“620. Ein Jahr später erfolgte die vollständige Herauslösung der in den emsländischen Mooren eingesetzten Arbeitsdienstabteilungen aus dem Kultivierungsprogramm, das nun ausschließlich durch Strafgefangene erfüllt werden sollte. Die Zurücknahme des Arbeitsdienstes läutete die letzte Ausbauphase der Emslandlager ein. Bis zum Jahr 1939 wurden acht weitere Lager errichtet: Lager VIII Wesuwe, Lager IX Versen, Lager X Fullen, Lager XI Groß-Hesepe, Lager XII Dalum, Lager XIII Wietmarschen, Lager XIV Bathorn, Lager XV Alexisdorf621.

Der Ausbau der Emslandlager wurde von immenser Propaganda begleitet622: Die Kultivierung der Ödlandflächen wurde zu einer „Kulturaufgabe des Staates“ erklärt623 und die Emslandlager als

617 Vgl. dazu Edgar Wutzdorff: Die Arbeit der Gefangenen. In: Deutsches Gefängniswesen: ein Handbuch, hg. von Erwin Bumke. Berlin 1928, S. 178-197, hier S. 184f. 618 Vgl. zur Tätigkeit des Arbeitsdienstes vor 1933 sowie zur Bewertung der Kultivierungsaufgaben nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 531ff. 619 Vermerk des Reichsfinanzministeriums, 7.7.1936. Abgedruckt in: Ebd., Dok. C I/2.02, S. 584f. 620 Vereinbarung RJM, 17.12.1936. Abgedruckt in: Ebd., Dok. C I/2.11, S. 601f. 621 Zur Lokalisierung der Lagerstandorte vgl. die Karten bei Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 1161ff. sowie bei W.M. Badry: Konzentrations- und Gefangenenlager im Emsland von 1933-1945. In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 15 (1968), S. 127-136, hier S. 129. 622 Vgl. hierzu die Sammlung von Berichterstattungen deutscher Zeitungen über die Strafgefangenenlager im Emsland bei Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C I/11.01-11.07, S. 1030-1146. 623 Marx, Kultivierung der emsländischen Moore, S. 732. 238

„modernste[r] Teil des Strafvollzugs“ zu einem Prestigeobjekt des „Dritten Reiches“ erhoben624. In seiner Ansprache zur Richtfestfeier der neuen Lager im August 1938 bezeichnete Reichsminister Kerrl die Emslandkultivierung als Aufgabe, die sich in ihrer staatspolitischen Bedeutung „ebenbürtig neben die übrigen Großaufgaben des Dritten Reiches“ stelle. Nur der vorausschauenden Planung und entschlossenen Durchführung des nationalsozialistischen Staates sei es zu verdanken, daß große Erfolge bereits erzielt und auch weiter zu erwarten seien625.

Zu der in der Öffentlichkeit verbreiteten Darstellung bildete die Situation innerhalb der Lager einen krassen Gegensatz. Zu Beginn des Jahres 1938 wurde gegen den Kommandanten der bestehenden Lager, Werner Schäfer, ein Dienststrafverfahren eingeleitet, nachdem sich Berichte über die unzureichende Verpflegung und Mißhandlungen von Gefangenen gehäuft hatten. Schäfer wurde vorübergehend vom Dienst suspendiert und die Dienstaufsicht über die Strafgefangenenlager dem Generalstaatsanwalt in Hamm übertragen. In der Lagerverwaltung wurde ein Teil der SA-Wachleute durch Justizbeamte ersetzt. Die Hauptverhandlung gegen Schäfer fand vom 23. Mai bis zum 23. Juni 1938 vor dem Oberlandesgericht in Celle statt. Unter massiver Einflußnahme von im Gerichtssaal versammelten Parteiführern erklärte das Gericht trotz geradezu erdrückender Beweislast, eine Pflichtwidrigkeit Schäfers nicht nachweisen zu können, und erteilte diesem lediglich einen Verweis. Noch im Herbst des Jahres wurde Schäfer wieder als Kommandeur der Strafgefangenenlager eingesetzt. Ihm vorgesetzt wurde ein neu berufener „Beauftragter des Reichsministeriums der Justiz für die Strafgefangenenlager im Emsland“ mit Sitz in Papenburg, der auf die Einhaltung der Vollzugsbestimmungen achten sollte. Der Einfluß der Justizverwaltung auf die Kommandantur der Emslandlager blieb jedoch auch in der Folgezeit gering und beschränkte sich weitgehend auf wirtschaftliche Bereiche626.

An der Lage der Gefangenen änderte sich nach dem Abschluß des Dienststrafverfahrens nur wenig: Während nach Aussagen einiger ehemaliger Häftlinge nach dem Eintritt der Justizbeamten in die Lagerverwaltung bessere Haftbedingungen geherrscht haben sollen627, weisen andere Berichte Überlebender darauf hin, daß die Justizbeamten oftmals sogar schärfere Vollzugsmethoden

624 Niederschrift über die Erörterung von Strafvollzugsfragen in der Arbeitstagung der Generalstaatsanwälte im RJM, 14.11.1936; BA R 22/1263, fol. 36-43, hier fol. 41. 625 Ansprache des Reichsministers Kerrl in Fullen am 9.8.1938 (Entwurf). Abgedruckt in: Ebd., Dok. C I/3.39, S. 771-774. 626 Vgl. zum Prozeß gegen Schäfer Suhr, Emslandlager, S. 61ff. sowie Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 2324ff. 627 Vgl. z.B Deutschland-Berichte der Sopade 5 (1938), S. 875. 239 einführten628. Durch Schäfers Wiedereinsetzung zum Kommandeur der Emslandlager wurden diesem auch die neu eingestellten Justizbeamten unterstellt.

Außer an den Willkürmaßnahmen des Bewachungspersonals litten die Strafgefangenen an der mangelnden Hygiene sowie der völlig unzureichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung, die insbesondere während der Wintermonate und in der Kriegszeit ein katastrophales Ausmaß annahm und zu Unterernährung und Krankheiten führte629. Unter diesen Bedingungen nahm die Heranziehung zu den körperlich stark belastenden Außenarbeiten für viele Gefangene lebensbedrohliche Formen an. Zahlreiche Häftlinge begingen angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation Verzweiflungstaten: „Manch einer, der das nicht mehr aushalten konnte“, so der ehemalige Gefangene Karl-Heinz Hoffmann aus dem Lager Aschendorfermoor, „versuchte, sich das Leben zu nehmen, oder ließ sich die Finger oder die Zehen abfahren, damit er wieder in das Zuchthaus zurückkehren konnte“630.

Die Strafgefangenenlager ergänzten das Strafvollzugssystem somit um eine besonders harte Variante, und es muß angenommen werden, daß eine Überstellung in die Emslandlager eine beabsichtigte erschwerte Haft bedeutete631. So heißt es auch in der Begründung der Aufnahme der Emslandlager in das durch den Internationalen Suchdienst erstellte „Vorläufige Verzeichnis der Haftstätten unter dem Reichsführer SS 1933 bis 1945“: „Die unter Justizverwaltung stehenden Strafgefangenenlager hatten Haftbedingungen, die denen von Konzentrationslagern vergleichbar waren“632. In gleicher Weise kommt Klaus Drobisch in seiner vergleichenden Untersuchung von Justiz- und KZ-Haft zu dem Ergebnis, daß die Strafgefangenenlager des Emslandes eine Art „Mittelstellung zwischen Justiz- und

628 Vgl. hierzu die auf Interviews und schriftlichen Berichten ehemaliger Gefangener beruhenden Angaben bei Suhr, Emslandlager, S. 69f. 629 Vgl. beispielsweise den Bericht eines im Lager Aschendorfermoor inhaftierten politischen Häftlings. Abgedruckt in: Deutschland-Berichte der Sopade 5 (1938), S. 872ff. Eine ausführliche Beschreibung des Umgangs der Wachmannschaften mit den Gefangenen findet sich bei Suhr, Emslandlager, S. 91ff. 630 Karl-Heinz Hoffmann: Am Eismeer verschollen. Erinnerungen aus der Haftzeit in faschistischen Strafgefangenenlagern in Nordnorwegen. Berlin/Ost 1988, S. 41. Vgl. auch die Berichte der Lagerleitungen über Selbstbeschädigungen von Gefangenen in NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 726 und NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 637 sowie die Niederschrift über die Besprechung vom 30.4.1940 zwischen dem Kommandeur, den Vorstehern und Dezernenten, in der u.a. das Problem der „Schlucker“ erörtert wurde – gemeint waren damit Gefangene, die absichtlich Fremdkörper verschluckt hatten. In: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 726. 631 So auch Möhler, der den Vollzug in den Emslandlagern sowie den Strafvollzug an Polen als Sonderfälle des Strafvollzugs herausstellt: Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 109. 632 Das nationalsozialistische Lagersystem, hg. von Martin Weinmann. Frankfurt 1990 (Nachdruck des „Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories 1939-1945“ von 1949), S. XXXIII. 240

KZ-Haft“ einnahmen633. Dies galt uneingeschränkt auch für die Wehrmachtstrafgefangenenlager im Emsland ab 1939/40. Im Mai 1943 beschwerte sich das Oberkommando der Marine in einem Schreiben an den Reichsjustizminister darüber, daß in „mehreren Fällen“ kriegsgerichtlich zu Zuchthaus Verurteilte tatsächlich in ein Zuchthaus eingeliefert worden seien. Man hielt „eine solche Art des Strafvollzuges für unbefriedigend, da der Zuchthausvollzug in den Moorlagern des Emslandes ungleich wirkungsvoller erscheint.“634

Mit Kriegsbeginn trat die durch die Emslandlagergefangenen geleistete Kultivierungsarbeit zunehmend zugunsten des Einsatzes der Häftlinge für sog. kriegswichtige Arbeiten zurück. Im Februar 1941 schließlich wurde die Neugewinnung von land- und forstwirtschaftlich nutzbaren Flächen durch Trockenlegung der emsländischen Moore auf Anweisung Hitlers eingestellt – man glaubte, auf die Kultivierungsarbeiten verzichten zu können, da „die Erfolge dieses Krieges neues Wald- und Ackerland in reichlichem Maße“ einbringen würden635. In der Folgezeit leisteten Gefangene zwar weiterhin Unterhaltungsarbeiten in den bereits bearbeiteten Moorgebieten, es wurden jedoch kaum noch neue Flächen trockengelegt.

Parallel zu diesem Funktionswandel veränderte sich auch die Gefangenenstruktur in den Emslandlagern: Da nach §§ 31, 32 MStGB die Verhängung einer Zuchthausstrafe sowie die Anordnung der Sicherungsverwahrung oder der sog. Entmannung automatisch den „Verlust der Wehrwürdigkeit“ und damit das „Ausscheiden aus jedem Wehrdienstverhältnis und aus dem Wehrmachtbeamtenverhältnis“ zur Folge hatte636, ging die Vollstreckung der gegen Wehrmachtangehörige verhängten Zuchthausstrafen auf die allgemeinen Behörden über, und die Staatsanwaltschaft ordnete die Überweisung des Verurteilten in eine Vollzugsanstalt der Reichsjustizverwaltung an. Viele dieser Verurteilten gelangten in die Emslandlager, von denen in der

633 Klaus Drobisch: Konzentrationslager und Justizhaft. Versuch einer Zusammenschau. In: Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, hg. von Helge Grabitz, Klaus Bästlein und Johannes Tuchel. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag. Berlin 1994, S. 280-297, hier S. 284f. Ähnlich auch Suhr, Emslandlager, S. 81. 634 Schreiben des Oberkommandos der Kriegsmarine an den Reichsminister der Justiz, 25.5.1943, betr. Unterbringung von wehrmachtgerichtlich verurteilten Zuchthausgefangenen. Abgedruckt in: Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C IIa/1.80, S. 1381. 635 Schreiben des Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei, Hans-Heinrich Lammers, an den Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Walther Darré, 25.2.1941. Abgedruckt in: Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C I/5.16, S. 920. 636 Verordnung über die Neufassung des Militärstrafgesetzbuches, 10.10.1940. In: RGBl. I 1940, S. 1347-1362, hier S. 1350. 241

Kriegszeit sechs für die Verwahrung von Wehrmachtstrafgefangenen dienten637. Deren Zahl wuchs gegenüber den von der 'ordentlichen' Justiz verurteilten Gefangenen im Verlauf der Jahre ab 1940 stetig an. Des weiteren gelangten während der Kriegszeit zehntausende von Kriegsgefangenen in die Emslandlager, die in den dafür bereitgestellten Lagern VIII-XV und im Lager VI untergebracht waren. Dienten diese dem Kommandeur der Kriegsgefangenen im Wehrkreis Münster unterstehenden Lager zunächst vorwiegend als Durchgangslager, so waren ab Mai 1940 mindestens 70.000 Kriegsgefangene, vor allem aus Frankreich, der Sowjetunion und später Italien längerfristig im Emsland untergebracht. Insbesondere unter den sowjetischen Kriegsgefangenen war die Sterberate aufgrund der unzureichenden Versorgung und schlechten Behandlung sehr hoch. Erst als im Frühjahr 1942 zusätzliche Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft benötigt wurden, machte sich eine leichte Verbesserung der Behandlung auch der sowjetischen Kriegsgefangenen bemerkbar638.

Im Jahr 1943 wurden schließlich etwa 1.800 „Nacht und Nebel“-Gefangene in den Lagern Esterwegen und Börgermoor untergebracht. Hierbei handelte es sich um westeuropäische Widerstandskämpfer, vorwiegend Belgier sowie Franzosen und Niederländer, die bei „Nacht und Nebel“, also ohne das Wissen ihrer Angehörigen bzw. der Bevölkerung, als Untersuchungsgefangene nach Deutschland gebracht wurden. In völliger Ungewißheit über ihr weiteres Schicksal und bei minimaler Versorgung mit materiellen Gütern lebten die sog. NN-Gefangenen am Rande des Existenzminimums; viele von ihnen starben an den Folgen schlechter Ernährung, unzureichender hygienischer Bedingungen und von Mißhandlungen. Im Frühjahr 1944 wurden die meisten „NN- Gefangenen“ wegen der näher rückenden Westfront auf verschiedene Justizvollzugsanstalten im Reichsgebiet verteilt, wo sie zunächst unter dem Einfluß der Justizverwaltung blieben; später kamen viele von ihnen in ein Konzentrationslager639. Ende 1944/Anfang 1945 gelangten etwa 2.500 Insassen des KZ Neuengamme bei Hamburg in die teilweise leerstehenden Kriegsgefangenenlager

637 Vgl. Dokumente zur Einweisung von Gefangenen, die auf Grund eines wehrmachtgerichtlichen Urteils wehrunwürdig geworden sind (November 1939-Januar 1941). Abgedruckt in: Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C IIa/1.30-1.44, S. 1316-1332. Vgl. auch Fritz Wüllner: Die NS- Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht. Baden-Baden 21997, S. 134 sowie Norbert Haase: „Gefahr für die Manneszucht“: Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven (1939-1945). Hannover 1995, S. 244f. 638 Vgl. zu den emsländischen Kriegsgefangenenlagern ausführlich Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Teil D: S. 3301-3542. 639 Vgl. zum Schicksal der „Nacht und Nebel“-Gefangenen in den Emslandlagern ausführlich ebd., Teil C IV: S. 2845-3086 sowie Suhr, Emslandlager, S. 175-185. 242

Dalum und Versen und wurden als Zwangsarbeiter für den Aufbau des sog. Friesenwalls, einer Befestigungsanlage im Nordseeküstenbereich, eingesetzt640.

Die Belegung der Emslandlager differierte somit im Verlauf des „Dritten Reiches“ hinsichtlich Zahl und Zusammensetzung der Häftlinge. Von 1934 bis Anfang 1937 konnten ca. 5.500 Strafgefangene in den Emslandlagern untergebracht werden. Durch die Erweiterung der bestehenden Lager und die Übernahme des Lagers Esterwegen wurde die Kapazität auf ca. 10.500 und im Jahr 1939 auf die maximale Zahl von 12.600 Personen erhöht. Im Durchschnitt waren die Strafgefangenenlager mit ca. 8.000 Häftlingen belegt; insgesamt waren etwa 66.500 Strafgefangene im Emsland untergebracht641. Nicht eingerechnet sind in dieser Zahl die Gefangenen der frühen Konzentrationslager, der Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme, die „Nacht und Nebel“-Gefangenen sowie die Kriegsgefangenen. Die folgende Darstellung der Situation homosexueller Gefangener in den Emslandlagern bezieht sich ausschließlich auf die Phase der Strafgefangenen- und Wehrmachtstrafgefangenenlager.

4.2.1.8. Regelung der Zuführung von Gefangenen in die Strafgefangenenlager

Bis zum Jahr 1937 wurden ausschließlich Häftlinge aus preußischen Gefangenenanstalten in die Emslandlager eingeliefert. Mit dem weiteren Ausbau der Lager – bei schon erkennbar rückläufigen Gefangenenzahlen – wurden die Lager für Gefangene aus Strafanstalten des gesamten Reichsgebiets geöffnet; im Jahr 1939 kamen etwa 40 % der neu eingewiesenen Häftlinge aus Gefangenenanstalten außerhalb von Preußen642.

Aufgabe der Generalstaatsanwaltschaften war es, die Größe der Gefangenenkontingente aus den jeweiligen Vollzugsanstalten festzulegen. Hierbei sollten sie durch die Anstaltsleiter unterstützt werden, indem diese auf Abgabemöglichkeiten hinwiesen bzw. bei Bedarf Zuweisungsanträge stellten643. Während zu Zeiten der Überbelegung der Haftanstalten in der Frühphase der NS- Herrschaft diese den Aufforderungen, Gefangene an die Emslandlager abzugeben, bereitwillig nachkamen, ergaben sich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre häufig Schwierigkeiten bei der

640 Elke Suhr: Konzentrationslager – Justizgefangenenlager – Kriegsgefangenenlager im Emsland 1933-1945. In: Verfolgung – Ausbeutung – Vernichtung: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern 1933-1945, hg. von Ludwig Eiber. Hannover 1985, S. 66-89, hier S. 77f. 641 Zu den Zahlenangaben vgl. die schematische Übersicht bei Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 1264. 642 Vgl. zur Herkunft der Gefangenen die Auswertung von Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Diagramm 3, S. 1796. 243

Bereitstellung von Gefangenen, da zum einen die Zahl der Strafanstaltsinsassen insgesamt abnahm und zum anderen durch den Ausbau der Kapazitäten in den Emslandlagern immer mehr Gefangene zur Auffüllung der neu entstehenden Lager angefordert wurden. Besonders die von der Kommandantur in Papenburg angeforderten jungen und arbeitsfähigen Gefangenen wurden auch in den Vollzugsanstalten gebraucht, um die anfallenden Arbeiten innerhalb der Anstalt zu leisten sowie die eingegangenen Verpflichtungen hinsichtlich der Bereitstellung von Arbeitskräften für die Industrie zu erfüllen. So heißt es beispielsweise in einem Schreiben des Direktors der Bremischen Vollzugsanstalten, Wegener, an den Generalstaatsanwalt in Hamburg vom Februar 1937:

„Die Auswahl der 100 Zuchthausgefangenen, die wir in letzter Woche nach Papenburg geschickt haben, hat schon Schwierigkeiten gemacht[,] und der Arbeitsbetrieb würde, wenn eine weitere größere Anzahl Gefangener herausgezogen werden müßte, in Schwierigkeiten kommen. Ich bitte, die für die Strafgefangenenlager Papenburg benötigten 300 Zuchthausgefangenen möglichst aus den Hamburgischen Anstalten zu entnehmen. [...] Wenn die Strafanstalten in Hamburg nicht die 300 Zuchthausgefangenen zusammenstellen können, so würde es uns möglich sein, etwa 50 Gefangene noch herauszusuchen und nach Papenburg abzugeben. Ich bitte aber, über diese Zahl hinaus uns nicht in Anspruch zu nehmen.“644

Wegen der zunehmenden Schwierigkeiten bei der Belegung der Emslandlager verpflichtete das Reichsjustizministerium im September 1937 die Vollzugsanstalten, künftig monatlich die Zahl der „moorfähigen“ Zuchthausgefangenen der Zentralverwaltung der Strafgefangenenlager in Papenburg mitzuteilen. Weiter heißt es in der Verfügung:

„Rückgang der Belegung darf, worauf ich ausdrücklich hinweise, mit Rücksicht auf die im Rahmen des Vierjahresplans liegenden wichtigen Meliorationsarbeiten im Emsland keinesfalls ein Grund sein, moorfähige Gefangene zurückzuhalten; gegebenenfalls ist vielmehr bei mir Auffüllung der Anstalt aus anderen Bezirken zu beantragen. [...] Ich behalte mir vor, die gemeldeten Zahlen an moorfähigen Gefangenen [...] in den Bezirken überprüfen zu lassen.“645

Die Auswahl der an die Strafgefangenenlager im Emsland abzugebenden Gefangenen sollte sich an den Richtlinien des Reichsjustizministers zur Auswahl von Ersatzgefangenen für die Emslandlager aus dem Jahr 1937 orientieren. Danach mußten die Gefangenen „gesundheitlich voll geeignet sein“ und einen Strafrest von mindestens sechs Monaten bzw. nicht mehr als zehn Jahren haben. Häftlinge, die jünger als 21 bzw. älter als 50 Jahre waren, sollten „mit Rücksicht auf die Art der Arbeiten und die besonderen Lagerverhältnisse“ nicht ausgewählt werden; bei „körperlich voll geeignete[n]

643 Freisler, Arbeitseinsatz im Strafvollzug, S. 1024. 644 Schreiben des Direktors der Bremischen Vollzugsanstalt, Wegener, an den GStA in Hamburg, 2.2.1937; StA B 4.80-III, 149. 645 Schreiben des RJM an die GStA, 22.9.1937; StA B 4.80-III, 140. 244

Gefangene[n]“ konnte allerdings die Altersgrenze von 50 Jahren bis zu fünf Jahre überschritten werden. Vom Lagervollzug auszuschließen waren Gefangene mit schweren bzw. ansteckenden Krankheiten sowie Häftlinge, die „wegen Landesverrats oder Verrats militärischer Geheimnisse verurteilt oder deswegen vorbestraft sind“, und „wegen Hochverrats oder Vorbereitung zum Hochverrat verurteilte Gefangene, die eine führende Rolle gespielt haben“. Des weiteren sollten Gefangene mit anschließender Sicherungsverwahrung, besonders fluchtverdächtige Gefangene sowie Ausländer und Juden nicht in die Emslandlager überwiesen werden646. Ergänzt wurden diese Richtlinien durch die Bestimmungen des Reichsjustizministers zum Einsatz von Gefangenen bei Kultivierungs- und Straßenbauarbeiten vom Juli 1938. Für Gefängnis- wie für Zuchthausgefangene, die an die Strafgefangenenlager im Emsland bzw. an die Lager Rodgau/Dieburg und Ostmarkstraße abgegeben werden sollten, galt danach, daß diese „nach dem Gutachten des Anstaltsarztes für Außenarbeiten tauglich“ sein und Strafreste von sechs Monaten und mehr647 haben mußten. Aus den Richtlinien von 1937 übernommen wurden die Ausführungen über den Ausschluß von Häftlingen mit schweren Krankheiten, von solchen, die bestimmten Deliktgruppen zuzuordnen waren, sowie von besonders fluchtverdächtigen Gefangenen und Häftlingen mit anschließender Sicherungsverwahrung. Neu eingefügt wurde eine Bestimmung über die Zuführung von Gefangenen, die nach § 175 verurteilt waren; darin hieß es:

„Gegen die Abstellung von Gefangenen, die wegen eines Vergehens oder Verbrechens wider die Sittlichkeit verurteilt sind, bestehen im allgemeinen keine Bedenken, insbesondere sind auch Gefangene, die nach § 175 RStGB bestraft sind, zu den Außenarbeiten heranzuziehen.“

Erneut wurde in den Richtlinien auf die „Bedeutung und Dringlichkeit“ der auszuführenden Außenarbeiten hingewiesen und hervorgehoben, daß der Einsatz der für die Arbeiten notwendigen Gefangenen „unter allen Umständen, auch unter Zurückstellung der Eigen- und Unternehmerbetriebe gewährleistet“ werden müsse648.

Mit den Verfügungen des Reichsjustizministers aus den Jahren 1937 und 1938 wurde somit zum einen die Dringlichkeit der Zuführung von Ersatzgefangenen an die Strafgefangenenlager herausgestellt, und zum anderen wurden Kriterien festgelegt, an denen sich die Auswahl der Häftlinge zu orientieren hatte. Diese Kriterien grenzten den Kreis der in Frage kommenden

646 Verfügung des RJM an die GStA, 5.7.1937, betr. Abgabe von Gefängnisgefangenen an die Strafgefangenenlager Papenburg (Ems). Abgedruckt in: Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C IIa/1.13, S. 1289-1291. 647 Für die Lager Rodgau/Dieburg und „Bayerische Ostmark“ wurde abweichend festgelegt, daß ein Strafrest von mindestens 3 Monaten erforderlich war. 245

Gefangenen ein, ließen jedoch bei deren Auswahl einen weiten Handlungsspielraum. Welche Einflußfaktoren im konkreten Fall die Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Gefangenen beeinflußten, läßt sich kaum noch rekonstruieren. Anzunehmen ist, daß hierbei zum einen objektive Gründe, wie z.B. die berufliche Vorbildung eines Häftlings, und zum anderen subjektive Einstellungen des Vollzugspersonals gegenüber einem Gefangenen eine Rolle spielten – jede Vollzugsanstalt wird das Bestreben gehabt haben, Häftlinge, die für bestimmte Arbeiten qualifiziert waren und diese gewissenhaft ausführten, zu behalten und „Störenfriede“ an andere Strafanstalten abzugeben. Da diese informellen Beweggründe bei der Auswahl der Gefangenen in den Akten nicht vermerkt wurden, läßt sich die Frage, inwieweit hierbei die Homosexualität von Gefangenen eine Rolle spielte, nicht eindeutig beantworten.

4.2.2. Homosexuelle Gefangene in den Justizvollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern des „Dritten Reiches“ am Beispiel der Strafgefangenenlager im Emsland, der Zuchthäuser Celle und Hameln sowie des Gefängnisses Lingen

4.2.2.1. Quantitative Angaben

„Gegen die Abstellung von Gefangenen, die wegen eines Vergehens oder Verbrechens wider die Sittlichkeit verurteilt sind“, beständen „im allgemeinen keine Bedenken“; insbesondere sollten auch „Gefangene, die nach § 175 RStGB bestraft sind“, in die Emslandlager eingewiesen und zu Außenarbeiten herangezogen werden, heißt es in den Richtlinien aus dem Reichsjustizministerium über die Zuführung von Ersatzgefangenen in den Lagervollzug. Zu fragen bleibt, inwieweit diese Anweisung in die Praxis umgesetzt wurde. Aus den Berichten ehemaliger Häftlinge geht hervor, daß von diesen die Anzahl der homosexuellen Gefangenen in den Emslandlagern649 als hoch wahrgenommen wurde: Der homosexuelle Gefangene Jakob K. berichtet von der harten Arbeit, der er im Zuchthaus Wehlheiden ausgesetzt war, und erwähnt dabei: „Und trotzdem ging es mir hier noch besser als z.B. den Häftlingen im Emsland, die dort im Moor schuften mußten. [...] Im Emsland, so wurde erzählt, waren auch viele homosexuelle Häftlinge.“650

648 Verfügung des RJM an die GStA, 14.7.1938, betr. den Einsatz von Gefangenen bei Kultivierungs- und Straßenbauarbeiten; BA R 22/1437, fol. 162f., hier fol. 163. 649 Gemeint sind hiermit zunächst die Gefangenen der Emslandlager. Aufgrund der zahlreichen Verlegungen, die die meisten Gefangenen während ihrer Haftzeit erlebten, wurden Informationen über die Verhältnisse in den Lagern jedoch auch in anderen Haftanstalten bekannt. 650 Dijk, Ein erfülltes Leben – trotzdem, S. 73. 246

Den von den Lagerverwaltungen angefertigten Übersichten über die Belegungsverhältnisse in den einzelnen Lagern sind keine genauen Aussagen über die zahlenmäßige Verteilung der nach §§ 175, 175a verurteilten Männer zu entnehmen, da diese in den jeweiligen Zusammenstellungen den sog. Sittlichkeitsverbrechern zugeordnet wurden. Deren Anteil an der Gesamtbelegung der Lager wird darin für die Kriegszeit mit durchschnittlich 4,5 % angegeben651. Da die mangelnde Differenzierung innerhalb der nach zeitgenössischer Rechtsprechung den „Sittlichkeitsverbrechern“ zugeordneten Gefangenen in den bisher vorliegenden Forschungsarbeiten zur Geschichte der Emslandlager beibehalten wurde, liefern auch diese keine weiterführenden Angaben über das Ausmaß der Inhaftierung von Homosexuellen in diesen Lagern: Elke Suhr wertete in ihrer Studie über die Emslandlager noch vorhandene Transportlisten aus der Zeit nach Kriegsbeginn aus und unterscheidet dabei drei Deliktgruppen: (1) Widerstandshandlungen mit wahrscheinlich politischem oder religiösem Motiv, (2) Nonkonforme Handlungen mit unbekanntem Motiv sowie (3) Handlungen mit wahrscheinlich kriminellem Motiv. Zu der letzten Gruppe werden unter der Rubrik „Sittlichkeitsvergehen“ – diese machten nach den Ergebnissen der Untersuchung insgesamt 4,4 % der Straftaten aus – auch die wegen eines homosexuellen Straftatbestandes Inhaftierten gezählt652. In einer weiteren Studie gibt Suhr für die Kriegszeit einen Anteil von 2 % homosexuellen Wehrmachtstrafgefangenen in den Emslandlagern an653. In frühen Forschungsarbeiten vereinzelt zu lesende Annahmen, wonach ein Drittel der Häftlinge in den Emslandlagern als Homosexuelle verfolgt waren654, gelten als deutlich übertrieben.

Die genaue Zahl der homosexuellen Gefangenen in den Emslandlagern läßt sich aufgrund der Unvollständigkeit des noch vorhandenen Quellenmaterials nicht mehr rekonstruieren. Einen Anhaltspunkt liefert die Auswertung der Gefangenenkarteikarten, nach der in der Phase der Strafgefangenenlager 2,6 % der Emslandlagerhäftlinge als Homosexuelle verfolgt waren. Der Anteil dieser Gefangenen in den Strafgefangenenlagern variierte mit der Intensität der Homosexuellenverfolgung, mit der Höhe der Strafmaße sowie mit der Gesamtbelegung der Lager. In jedem Fall waren die homosexuellen Inhaftierten in den Emslandlagern im Hinblick auf die Gesamtbelegung stärker vertreten als in den meisten nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Zum Vergleich: Untersuchungen geben für die Zeit von 1933-1939 an, daß dort ca. ein Prozent der

651 Zusammenstellung der Straffälle durch die Lagerverwaltungen aus dem Jahr 1942. NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 726. 652 Suhr, Emslandlager, S. 52. 653 Suhr, Konzentrationslager – Justizgefangenenlager – Kriegsgefangenenlager, S. 75. 654 Wolfgang Harthauser: Der Massenmord an Homosexuellen im Dritten Reich. In: Das große Tabu, hg. von Wilhart Schlegel. München 1967, S. 26f. 247

Inhaftierten als Homosexuelle verfolgt waren; mit Kriegsbeginn traten die homosexuellen Gefangenen im Erscheinungsbild der Konzentrationslager noch stärker zurück655.

Ähnliche Größenordnungen wie in den Emslandlagern nahm ab 1935 mit ca. 2,3 % auch der Anteil der nach §§ 175, 175a verurteilten Inhaftierten in den Zuchthäusern Celle und Hameln ein656. Im Gefängnis Lingen lag der zahlenmäßige Anteil der homosexuellen Inhaftierten an der Gesamtbelegung mit knapp 5 % zumindest in den Jahren 1935 bis 1939 etwas höher. Die Ursache hierfür liegt auf der Hand: § 175 sah auch nach der Strafrechtsverschärfung im Jahr 1935 die Gefängnisstrafe als Regelstrafe vor. Nur bei einer Verurteilung nach § 175a oder einer Einstufung als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ konnte eine Zuchthausstrafe ausgesprochen werden.

Was die Einlieferungspraxis in die Emslandlager betrifft, so helfen die quantitativen Angaben nur wenig weiter. Verglichen mit dem für die Zuchthäuser ermittelten Zahlenwert (2,3 %), erscheint vor dem Hintergrund, daß die Einweisung in die Strafgefangenenlager an bestimmte Voraussetzungen gebunden war und insbesondere Zuchthausgefangene betraf657, der Anteil von 2,6 % als homosexuell verfolgten Häftlingen in den Emslandlagern relativ hoch. Weitere Anhaltspunkte zur Einlieferungspraxis liefert die Verteilung der Strafarten (Gefängnis- bzw. Zuchthausstrafe) sowie die Zahl der Vorstrafen der Emslandlagergefangenen. Betrachtet man die Verteilung der Strafarten der im Emsland inhaftierten Strafgefangenen, so fällt auf, daß die homosexuellen Strafgefangenen überproportional häufig als Gefängnisgefangene dem Strafvollzug in den Emslandlagern unterworfen wurden: Während von der Gesamtheit der Häftlinge nur 7 % eine Gefängnisstrafe zu verbüßen hatten, waren es unter den homosexuellen Inhaftierten 18 %. Eine Erklärung für diesen Sachverhalt findet sich in offiziellen Dokumenten nicht. Möglicherweise wurden wegen ihrer Homosexualität verfolgte Gefangene auch bei Gefängnisstrafen vermehrt einem besonders harten Strafvollzug unterworfen.

Für diese Vermutung spricht ebenfalls, daß homosexuelle Gefangene nach den Ergebnissen der Auswertung weniger häufig vorbestraft waren als die Gesamtheit der Emslandlagerhäftlinge. Grundsätzlich sollten in die Emslandlager vorwiegend vorbestrafte Gefangene eingeliefert werden658.

655 Vgl. hierzu Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 332. 656 Dies ist das Ergebnis der Auswertung der Gefangenenbücher aus dem Zuchthaus Celle. Vgl. zu den quantitativen Angaben auch Rainer Hoffschildt: Statistische Daten zu homosexuellen Gefangenen im Zuchthaus Celle 1938- 1945. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 70-76. 657 Vgl. Kapitel 4.2.1.8. 658 Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C II a/1.11, S. 1285ff. 248

Dementsprechend waren 87 %659 der Emslandlagerhäftlinge bereits mindestens einmal vorbestraft; von den wegen „Betrug“ und „Diebstahl“ verurteilten Inhaftierten hatten sogar 97 % schon eine Vorstrafe erhalten. Von den homosexuellen Häftlingen waren dagegen nur 62 % vorbestraft; der Anteil der sog. Ersttäter war dementsprechend mit 38 % in dieser Gruppe überdurchschnittlich hoch. Auch eine differenziertere Auswertung der Anzahl der Vorstrafen660 zeigt, daß die homosexuellen Inhaftierten durchschnittlich weniger häufig vorbestraft waren. Homosexuelle wurden somit nicht nur als Gefängnisgefangene, sondern auch als sog. Ersttäter vermehrt dem als besonders abschreckend geltenden Strafvollzug in den Emslandlagern unterworfen. Ob dies Folge der Anweisung des Reichsjustizministers, wonach insbesondere nach § 175 Verurteilte in die Emslandlager abzugeben seien, oder Ausdruck einer ablehnenden Haltung des Justizvollzugspersonals gegenüber Homosexuellen war oder ob man tatsächlich glaubte, Homosexuelle, die man für „verweichlicht“ und „weiblich“ hielt, durch einen harten körperlichen Strafvollzug „umerziehen“ zu können, läßt sich abschließend nicht klären.

4.2.2.2. Kategorien und Kennzeichnungen

Eine Kennzeichnung der Häftlinge nach ihrem Einlieferungsgrund durch an der Kleidung angebrachte verschiedenfarbige Winkelabzeichen, wie sie 1936 in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern eingeführt worden war, wurde in den der Justiz unterstehenden Vollzugsanstalten nicht vorgenommen. Eine Ausnahme stellte die durch eine Verfügung des Reichsjustizministers vom 31. Oktober 1941 angeordnete Kennzeichnung von Juden und Polen dar661, die nach offiziellem Wortlaut dazu dienen sollte, „die Scheidung der vielfach die unruhigen Elemente im Strafvollzug darstellenden Juden und Angehörigen polnischen Volkstums von den übrigen Gefangenen zu gewährleisten“, so daß diese „von vornherein vor der Anbahnung von Freundschaften mit ihnen“ gewarnt seien662. In den Emslandlagern bestanden darüber hinaus einzelne

659 Ebd., Statistische Tabellen zur Gefangenenkartei, Liste 3 – Seite 13, S. 1873. 660 Hierfür wurden die Angaben, die den Gefangenenkarteikarten über die Anzahl und Art der Vorstrafen entnommen werden können, in 5 Kategorien zusammengefaßt: Kat. 0 = keine Vorstrafe; Kat. 1 = Geldstrafe(n); Kat. 2 = 1 Haftstrafe bzw. 1 Haftstrafe und 1 Geldstrafe; Kat. 3 = 2-4 Haftstrafen bzw. 1 Haftstrafe und mehrere Geldstrafen; Kat. 4 = 5-10 Haftstrafen; Kat. 5 = mehr als 10 Haftstrafen. Um die Unterteilung in Zuchthaus- und Gefängnisstrafen zu berücksichtigen, wurde ab der dritten Kategorie immer dann die nächsthöhere Kategorie gewählt, wenn es sich bei den angegebenen Haftstrafen ausschließlich um Zuchthausstrafen handelte. 661 Schreiben des RJM an die GStA, 31.10.1941, betr. Kennzeichnung der Juden und der im Reich eingesetzten Zivilarbeiter polnischen Volkstums; BA R 22/1422, fol. 105. 662 Schreiben des RJM an die GStA, Sept. 1941, betr. Kennzeichnung der Juden und der im Reich eingesetzten Zivilarbeiter polnischen Volkstums; BA R 22/1422, fol. 107. 249

Sonderkennzeichen, zum Beispiel für Fluchtverdächtige, sog. Rückfällige und Neuzugänge663. Auch hier erfolgte jedoch – obwohl zum Teil konzentrationslagerähnliche Zustände herrschten – keine Markierung der Gefangenen nach dem Einlieferungsgrund durch verschiedenfarbige Winkelabzeichen664.

Zu fragen ist deshalb, ob die Gefangenen über den einer Einlieferung zugrundeliegenden Straftatbestand von Mithäftlingen auch ohne eine entsprechende Kennzeichnung durch Winkel Kenntnis hatten – nur dann konnte eine Verurteilung nach §§ 175, 175a Einfluß auf die soziale Stellung eines Gefangenen in der Häftlingsgemeinschaft haben. Den Berichten überlebender Häftlinge zufolge waren auch in den Justizvollzugsanstalten der Einlieferungsgrund sowie das Strafmaß der Gefangenen einer Organisationseinheit (Baracke, Arbeitskommando) den Mitgefangenen wie auch den Aufsehern bekannt bzw. wurden von Neuzugängen bald ermittelt.

So heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade über das Zuchthaus Waldheim: „Wenn auch in den Belegschaften nicht viel gesprochen werden kann, so ist doch jedesmal bei einem Zugang bald bekannt, ob der Neue ein Politischer oder ein Krimineller ist.“665 Ebenso berichtet der in den Jahren 1936/37 wegen einer Verurteilung nach § 175 im Lager Neusustrum inhaftierte Harry Paul:

„Wer wegen welcher Strafe im Lager war, hatte sich innerhalb einer Baracke immer schnell rumgesprochen. Jeder wußte, ob der eine 36 oder 37 Wagen geknackt hatte oder ob er wegen 175 oder wegen einer politischen Sache usw. gefangengehalten wurde.“666

Grundsätzlich hätten die „Politischen“ bei Neuankünften versucht zu erfahren, „wer noch Genosse war, um Verbindung untereinander zu halten“667, aber auch bei den „nicht-politischen“ Häftlingen hieß es: „Das ging schnell mit dem Bekanntmachen. Gleiches Delikt, also freundete man sich an.“668 Dies galt auch für die homosexuellen Gefangenen, die sich auch ohne den rosa Winkel „durch ihre Intuition oder nach entsprechenden Gesprächen“669 erkannt hätten, wie der ehemalige Emslandlagerhäftling Heinz Dörmer, verurteilt nach § 175, schreibt. Zusätzlich hatten Wachleute

663 Perk, Hölle im Moor, S. 21; Klaus Drobisch; Günther Wieland: System der NS-Konzentrationslager: 1933-1945. Berlin 1993, S. 206f. 664 Vereinzelt finden sich Angaben ehemaliger Häftlinge über eine Kennzeichnung der Emslandlagergefangenen durch Winkel, die auf Erinnerungsfehlern oder auf Verwechslungen mit früheren bzw. späteren Haftzeiten in den Konzentrationslagern beruhen dürften, so z.B. in dem Bericht von Paul Gerhard B. über seine Haftzeit im Emsland. Abgedruckt in: Heinz Dieter Schilling: Schwule und Faschismus. Berlin 1983, S. 63. 665 Deutschland-Berichte der Sopade 5 (1938), S. 879. 666 Harry Pauly über das „Moorlager Neusustrum“. In: Stümke; Finkler, Rosa Winkel, Rosa Listen, S. 298-301. 667 Ebd., S. 135. 668 „Und alles wegen der Jungs.“ Pfadfinderführer und KZ-Häftling: Heinz Dörmer, hg. von Andreas Sternweiler. Berlin 1994, S. 79. 669 Ebd. 250 sowie in der Schreibstube beschäftigte Gefangene die Möglichkeit, den Verurteilungsgrund eines Häftlings dessen Karteikarte zu entnehmen.

Es soll im folgenden die Politik der Lagerleitung (Emslandlager) bzw. der Strafanstaltsdirektionen (Zuchthaus Celle, Zuchthaus Hameln, Gefängnis Lingen670) gegenüber homosexuellen Gefangenen untersucht werden. Hierbei wird unterschieden zwischen den Bereichen, die der Produktion bzw. der Reproduktion des Lager- bzw. Anstaltslebens dienten (Unterbringung sowie Aufgaben zur Erhaltung und Verwaltung des Lager- bzw. Anstaltsbetriebs). Im Anschluß daran werden die soziale Einschätzung der Insassen sowie des Wachpersonals gegenüber den im Sinne der §§ 175, 175a verurteilten Häftlinge analysiert.

4.2.2.3. Reproduktion des Lager- bzw. Anstaltslebens

4.2.2.3.1. Unterbringung

„Mit einer Masse ungleich Gearteter befaßt, bringt der Strafvollzug die Gefahr mit sich, daß Verurteilte, die in besonderer Lage ihres Lebens gestrauchelt, ihrer sonstigen Haltung nach jedoch für die Volksgemeinschaft nicht verloren sind, von Mitgefangenen verdorben werden, die sich verbrecherischem Handeln ganz ergeben haben. Vor jeder anderen Bemühung um den Erfolg des Strafvollzugs müssen daher Vorkehrungen stehen, die diese Gefahr abwenden. So wird neben der selbstverständlichen Trennung nach der Art der Freiheitsentziehung, nach dem Geschlecht und nach der Entwicklungsreife die planmäßige und streng durchgeführte Trennung derjenigen, von denen die Gefahr der Ansteckung mit verbrecherischer Gesinnung ausgeht, von den dadurch Gefährdeten die wesentlichste Voraussetzung eines sachgemäßen und erfolgreichen Strafvollzugs. Für die Erfüllung dieser Voraussetzung zu sorgen, mache ich allen Beteiligten zur besonderen Pflicht.“671

Die Trennung verschiedener Gefangenengruppen, wie sie in dem nachträglich eingefügten Vorspruch der Strafvollzugsordnung von 1940 zum Ausdruck kommt, stellte ein Grundprinzip des nationalsozialistischen Strafvollzugs dar. Eine Trennung sollte vorgenommen werden nach der Art des Freiheitsentzugs (Gefängnis-, Zuchthaus-, Haftstrafe, Sicherungsverwahrung), nach dem Geschlecht und nach der Entwicklungsreife der Gefangenen. Darüber hinaus sollten Gefangene nach „dem Grad ihres Verfalls in Kriminalität“ – Indikator war hierbei die Anzahl der Vorstrafen – sowie

670 Was die Zuchthäuser Celle und Hameln sowie das Gefängnis Lingen betrifft, wird hier auf die allgemeinen Vollzugsbedingungen nur insoweit eingegangen, als es im Rahmen der Fragestellung notwendig ist. Untersuchungen zur Geschichte dieser Vollzugsanstalten in der Zeit von 1933 bis 1945 liegen nicht vor. Zur Frühgeschichte der Zuchthäuser Celle und Hameln vgl. Karl Emmermann: Das Zuchthaus zu Celle. Diss. Göttingen 1921 sowie Thomas Krause: Die Strafrechtspflege im Kurfürstentum und Königreich Hannover. Vom Ende des 17. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Aalen 1991, S. 41ff., 201ff. und 227ff. 671 Vorspruch der Strafvollzugsordnung vom 22. 7. 1940; eingefügt durch die fünfte Änderung der Strafvollzugsordnung; AV. d. RJM v. 22.12.1942; BA R 22/1261, fol. 338-339, hier fol. 338. 251 nach ihrer „Volkszugehörigkeit“ voneinander getrennt werden. In Einzelhaft waren Häftlinge zu nehmen, die „eines besonderen Schutzes gegen ungünstige Beeinflussung durch Mitgefangene“ bedurften bzw. die „die Sicherheit, die Zucht und Ordnung oder die Gesundheit in der Anstalt gefährden, die ihre Mitgefangenen ungünstig beeinflussen, oder deren Zustand oder Verhalten den Mitgefangenen lästig fallen muß“. Insbesondere sollten „Gefangene, die wegen schwerer politischer Taten Strafe verbüßen“, in Einzelhaft genommen werden672. In einer Rundverfügung des Reichsjustizministers vom 5. Juni 1936 wurden die Generalstaatsanwaltschaften deshalb angewiesen, „zu veranlassen, daß Gefangene, von denen eine Beeinflussung im staatsfeindlichen Sinne zu befürchten ist, von anderen Gefangenen getrennt gehalten werden“. Die Durchführung dieser Anordnung sei „besonders zu überwachen“ 673. Außer den politischen Gefangenen waren von dieser Regelung auch die Zeugen Jehovas, die sog. Ernsten Bibelforscher, betroffen674. In der Vollzugsordnung von 1940 fanden sich diese Vorstellungen über die Wahl der Haftform in Artikel 55 wieder675. Mit der fünften Änderung der Strafvollzugsordnung vom Dezember 1942 wurden in den Kreis der in Einzelhaft zu nehmenden Gefangenen auch „Verführer zu gleichgeschlechtlicher Betätigung“ aufgenommen676. In gemeinsamer Haft durften Gefangene „nur zusammengebracht werden, wenn die Zusammenlegung Unzuträglichkeiten nicht befürchten läßt, vor allem weder eine Gefahr noch eine ungerechtfertigte Zumutung für Beteiligte bedeutet“677. Häftlinge, „die in derselben Sache verurteilt sind“, sollten grundsätzlich nicht zusammen untergebracht werden678.

Über die praktische Umsetzung des Trennungsprinzips im nationalsozialistischen Strafvollzug gibt das Quellenmaterial nur bedingt Aufschluß: So heißt es z.B. in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade über das Gefängnis Bautzen: „Die wegen politischer Delikte Verurteilten sind in Bautzen größtenteils in besonderen Abteilungen zusammengefaßt und kommen in Einzelzellen. Mit kriminellen Gefangenen kommen sie so gut wie nicht zusammen.“679 Eine konsequente Umsetzung

672 Denkschrift über den Trennungsgedanken im Strafvollzug; BA R 22/1261, fol. 340-342. 673 Rundverfügung vom 5.6.1936 über Unterbringung politischer Gefangener in Vollzugsanstalten; NdS HStA H, Az. 44, 441; vgl. auch BA R 22/1261, fol. 69. 674 Schreiben des RJM an den GStA in Jena, 21.11.1935, betr. Behandlung der Ernsten Bibelforscher im Strafvollzug; BA R 22/1422, fol. 29. 675 Artikel 55 der Strafvollzugsordnung (1940). 676 5. Änderung StrVollzO. AV. d. RJM v. 22.12.1942. Abgedruckt in: DJ 105 (1943), S. 22f., hier S. 23. 677 Vorschlag zur Änderung der Strafvollzugsordnung von Dr. Eichler, 30.11.1942; BA R 22/1261, fol. 343-344, hier fol. 344. 678 Denkschrift über den Trennungsgedanken im Strafvollzug; BA R 22/1261, fol. 340-342. 679 Deutschland-Berichte der Sopade 4 (1937), S. 1549. 252 des Trennungsprinzips ließ sich in der Strafvollzugspraxis jedoch häufig nicht durchführen. So sollte beispielsweise in den Emslandlagern nach den Verfügungen des Kommandeurs das Lager Walchum zur Unterkunft für nichtvorbestrafte Gefängnisgefangene bestimmt sein und das Lager Oberlangen als Zuchthauslager für erstmalig bestrafte Zuchthausgefangene eingerichtet werden680; eine konsequente Trennung dieser Gefangenengruppen blieb jedoch auch in der Folgezeit aus681. Daran, daß durch das Reichsjustizministerium immer wieder gemahnt wurde, das Trennungsprinzip einzuhalten, kann man ablesen, daß die Umsetzung der entsprechenden Verfügungen in der Strafvollzugspraxis häufig auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen sein muß682.

Hinsichtlich der Gestaltung der einzelnen Haftformen liefert die 1935 vom Reichsjustizministerium herausgegebene Broschüre „Über das Gefängniswesen in Deutschland“ folgende Informationen: In Einzelhaft blieb der Gefangene sowohl tagsüber als auch nachts von anderen Gefangenen getrennt. Er arbeitete in der Zelle und verbrachte dort auch die arbeitsfreie Zeit; sogar bei den Aufenthalten im Freien sollte der betroffene Häftling von anderen Insassen der Vollzugsanstalt separiert bleiben. Auch in Zellenhaft blieb ein Gefangener die meiste Zeit allein; er durfte jedoch beim Gottesdienst, beim Unterricht und bei der Bewegung im Freien mit anderen Gefangenen zusammenkommen. Die dritte Haftform war die Gemeinschaftshaft, bei der Gefangene gemeinsam untergebracht wurden; soweit dafür die Voraussetzungen gegeben waren, konnte nachts eine Aufteilung der Gefangenen in Einzelschlafzellen vorgenommen werden683. Im Einzelfall dürften bei der Wahl der jeweils geeigneten Haftform neben den individuellen Voraussetzungen des Gefangenen die Kapazitäten der jeweiligen Vollzugsanstalt von entscheidender Bedeutung gewesen sein. So waren beispielsweise im Zuchthaus Hameln 10 Schlafsäle für jeweils 25 bis 30 Personen, aber nur 96 Einzelzellen vorhanden684. In Zeiten, zu denen die Vollzugsanstalten stark überbelegt waren, wurden auch in Einzelzellen zwei oder mehr Gefangene untergebracht685.

Mit der fünften Änderung der Strafvollstreckungsordnung wurde 1942 erstmals eine Regelung bezüglich der Unterbringung von homosexuellen Gefangenen getroffen, indem festgelegt wurde, daß

680 Verfügungen des Kommandeurs der Emslandlager vom 28.11.1939 sowie vom 24.1.1940; NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 844. 681 Vgl. hierzu eine Beschreibung der Strafvollzugspraxis in den Emslandlagern in einer Schwurgerichtsanklage gegen ehemalige Wachleute vom Oktober 1948; NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 708. 682 Vgl. beispielsweise Schreiben des RJM an die GStA, betr. Trennung der Gefangenen, 21.11.1940; BA R 22/1422, fol. 96. 683 Das Gefängniswesen in Deutschland, hg. vom RJM. Berlin 1935; BA R 22/1285, fol. 137-159, hier fol. 144f. 684 Belegungsfähigkeit des Zuchthauses Hameln; Mitteilung an den Generalstaatsanwalt in Celle, 8.9.1938; NdS HStA H, Az., 44, 430. 253

„Verführer zu gleichgeschlechtlicher Betätigung“ in Einzelhaft genommen werden sollten. Diese Regelung entsprach einer gängigen Vollzugspraxis. So heißt es in einem Schreiben des Reichsjustizministers an Heinrich Himmler vom 15. Dezember 1939 zur Frage der Unterbringung von Homosexuellen in Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern der Justizverwaltung, daß § 45 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen, wonach „Gefangene, von denen ein schädlicher Einfluß auf Mitgefangene zu befürchten ist“, nach Möglichkeit in Einzel- oder Zellenhaft gehalten werden sollten686, nach „alter Strafvollzugspraxis“ dahingehend ausgelegt werde, daß „hiernach vor allem Verurteilte, die wegen homosexueller Betätigung einsitzen, und Gefangene, die sonst noch als Homosexuelle erkannt sind, von anderen Gefangenen mindestens bei allen denjenigen Gelegenheiten getrennt gehalten werden, bei denen die Gefahr einer Annäherung besteht“. Üblicherweise würden Homosexuelle „auch von ihresgleichen getrennt gehalten, damit auch dort, wo es einer Verführung nicht bedarf, die Gelegenheit zur Fortsetzung homosexueller Betätigung unterbunden wird“687.

Für die Zuchthäuser Celle und Hameln läßt sich die Unterbringung der Gefangenen anhand der Eintragungen auf den Aufnahmebögen in den Personalakten rekonstruieren. Unter der Rubrik „Unterbringung“ finden sich nur bei einem kleinen Teil der Akten die Eintragungen „Einzelhaft“ bzw. „Zellenhaft“. Mehrheitlich war als Haftform auch für homosexuelle Gefangene „Gemeinschaftshaft“ angegeben – allerdings mit der Besonderheit, daß bei diesen die Eintragungen fast ausnahmslos durch – zum Teil in roter Farbe vorgenommene – Bemerkungen wie „mit nächtlicher Trennung“688, „nachts allein“689 oder „Schlafzelle“690 ergänzt wurden.

Ziel der Separierung von Homosexuellen war es, gleichgeschlechtliche Handlungen von Gefangenen im Strafvollzug sowie insbesondere die „Verführung“ von Mithäftlingen durch homosexuelle Inhaftierte zu verhindern. Zur Erreichung dieses Zwecks erschien es den Zuständigen ausreichend,

685 Vgl. z.B. Sarodnick, Haus des Schreckens, S. 349 sowie das Kapitel „Belegung“ bei Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 88-91. 686 Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen, 7. 6.1923. Abgedruckt in: RGBl. II 1923, S. 263-282, hier S. 268. 687 Schreiben des RJM an den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, 15.12.1939, betr. Homosexuelle in Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern der Justizverwaltung; BA R 22/1437, fol. 400-402, hier fol. 401. 688 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen J.O.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/222; Personalakte des Gefangenen W.O.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 41/179; Personalakte des Gefangenen F.N.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 40/33. 689 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/54; Personalakte des Gefangenen F.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 41/488; Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/20. 690 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/138; Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/229; Personalakte des Gefangenen H.L.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/170. 254 nach §§ 175, 175a verurteilte Häftlinge während der Nacht von anderen Gefangenen getrennt zu halten. Bei den begrenzten Kapazitäten an Hafträumen ließ sich eine nächtliche Trennung der homosexuellen Gefangenen wesentlich leichter durchführen als deren generelle Unterbringung in Einzelzellen. Zudem stellte eine dauerhafte Unterbringung in Einzel- oder Zellenhaft für die Betroffenen ein zusätzliches Hafterschwernis dar. Aus Sicht der Gefangenen stellte die Gemeinschaftshaft mit nächtlicher Trennung vermutlich die angenehmste Haftform dar. So schreibt der nach § 175 verurteilte Gefangene H.D. in einem Brief an seine Eltern:

„Ich schlafe in einer Einzelzelle mit Tisch, Schemel, Bett, Wandschrank usw. [...] Die ersten 14 Tage habe ich auf meiner Zelle gearbeitet, Bastgeflechte für Likörflaschen. Seit einigen Wochen arbeite ich aber mit etwa 8 Leuten zusammen in einem größeren Raum. Das ist ganz angenehm, tagsüber mit anderen zusammen, aber für sich wohnen.“691

Die nächtliche Trennung konnte sich jedoch für die Betroffenen auch als Nachteil erweisen. So lehnte beispielsweise der Vorsteher des Zuchthauses Hameln den Antrag eines Aufsehers, einen nach § 175 verurteilten Gefangenen zum „Hilfskalfaktor“ in der Bäckerei zu machen, mit der Begründung ab, dieser könne dort während der Schlafenszeit nicht allein untergebracht werden692.

Die Unterbringung homosexueller Gefangener in Gemeinschaftshaft mit nächtlicher Trennung entsprach auch der gängigen Vollzugspraxis im Gefängnis Lingen; in vielen Fällen findet sich dort auf dem Aufnahmebogen unter der Rubrik „Unterbringung“ lediglich die Eintragung „§ 175“693 – das Vollzugspersonal wußte damit, daß bei der Wahl der Haftform das Kriterium der nächtlichen Trennung berücksichtigt werden mußte. Nur in wenigen Fällen waren homosexuelle Gefangene in „sonstige[r] Gemeinschaftshaft“ untergebracht; in der Regel lagen dafür besondere Gründe vor. So wurde beispielsweise für den Gefangenen G.J. im Gefängnis Lingen die Unterbringung in Gemeinschaftshaft ohne nächtliche Trennung verfügt, weil dieser in Einzel- bzw. Zellenhaft besonders stark an Depressionen litt. Die entsprechende Eintragung in der Personalakte lautet: „Soll auf Grund ärztlicher Anordnung vom 24.6.37 wegen Depressionserscheinungen in Gemeinschaftshaft, trotz § 175“. „Die Mitgefangenen der Gemeinschaftszellen“, so heißt es in der Anweisung weiter, seien „entsprechend zu belehren“694 – auf diese Weise glaubte man, einer möglichen „Verführung“ heterosexueller Gefangener vorbeugen zu können. Die Unterbringung von Homosexuellen in Gemeinschaftshaft ohne nächtliche Trennung blieb jedoch die Ausnahme und

691 Personalakte des Gefangenen H.D.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14141. 692 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/138. 693 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13331; Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13188; Personalakte des Gefangenen F.E.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12220. 255 mußte in der Regel stichhaltig begründet sein. Kam es trotz der nächtlichen Trennung zu gleichgeschlechtlichen Handlungen unter den Gefangenen, so wurde deren Unterbringung in Einzel- oder Zellenhaft angeordnet: Gegen den Gefangenen R.G. verfügte der Leiter des Gefängnisses Lingen im Oktober 1934 die Verlegung in Zellenhaft, da dieser während der tagsüber währenden Unterbringung in Gemeinschaftshaft mehrfach mit Mithäftlingen onaniert haben soll. Ein Antrag des Gefangenen von August 1936, in Gemeinschaftshaft verlegt zu werden, wurde abgelehnt695. Im Fall des Gefangenen R.N. wurde die auch tagsüber vorzunehmende Trennung angeordnet, da der Betroffene als „triebhaft unbeherrscht“ eingestuft wurde und man einen „aktiven Willen zum gleichgeschlechtlichen Verkehr“ festzustellen glaubte696.

Homosexuelle waren nicht die einzigen Gefangenen, die im Strafvollzug spezifische Einschränkungen hinsichtlich der Wahl der Haftform erfuhren – es wurde bereits darauf hingewiesen, daß auch Gefangene, die als sog. Ernste Bibelforscher oder aus politischen Gründen inhaftiert waren, gesonderten Bedingungen bei der Wahl der Haftform unterlagen. Soweit die räumlichen Kapazitäten in den jeweiligen Vollzugsanstalten es zuließen, wurden diese Gefangenen in Einzel- bzw. Zellenhaft untergebracht. Auch bei dieser Maßnahme war die Prävention – in diesem Fall die Unterbindung einer möglichen politischen Beeinflussung von Mithäftlingen – vorrangiges Ziel. In Fällen starker Überbelegung von Vollzugsanstalten und der damit verbundenen Unmöglichkeit der Trennung von Gefangenen versuchte man mitunter, sowohl homosexuellen Handlungen als auch politischen Gesprächen dadurch vorzubeugen, daß man je einen homosexuellen und einen politischen Gefangenen zusammen in einer Zelle unterbrachte. In der Beschreibung dieser Vollzugspraxis heißt es:

„Beide waren stets in ihrem Charakter so grundverschieden, daß sie sich gegenseitig nicht beeinflussen konnten. Die Hochverräter waren meistens Menschen, die etwas riskierten und Kerle waren, während die Homosexuellen viel zu weich und labil waren, als daß sie sich auf eine derart gefährliche Angelegenheit wie kommunistische Betätigung eingelassen hätten.“697

Die Trennung homosexueller Gefangener durch deren – zumindest nächtliche – Unterbringung in Einzelzellen war nur in festen Vollzugsanstalten möglich. Im Lagervollzug dagegen unterschied man nicht zwischen einzelnen Haftformen, sondern es wurden jeweils zwischen 100 und 125 Gefangenen

694 Personalakte des Gefangenen G.J.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13196. 695 Personalakte des Gefangenen R.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11960. 696 Personalakte des Gefangenen R.N.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/335. 697 Schreiben aus der Partei-Kanzlei an den RJM Thierack, 16.10.1942, betr. Strafvollzug an Sittlichkeitsverbrechern; BA R 22/1261, fol. 336f. 256 in gemeinsamen Tages- und Nachträumen untergebracht698. Da eine Trennung von Gefangenen hier kaum möglich war, befürchtete man insbesondere im Hinblick auf die Einweisung von politischen sowie von homosexuellen Gefangenen, „daß sich [...] in der Kolonne, besonders aber in der Nachtgemeinschaft, Infektionsherde ungehindert ausbreiten können“699.

Was die Beschäftigung von homosexuellen Inhaftierten mit Arbeiten außerhalb fester Vollzugsanstalten betraf, wurde deshalb in einer Verfügung des Reichsjustizministers vom 23. Juli 1937 festgelegt, daß diese zu Außenarbeiten herangezogen werden könnten, sofern sie „während der Nachtzeit in einer Vollzugsanstalt oder einem Außenarbeitslager einzeln verwahrt werden können“700. Im Strafgefangenenlager „Bayerische Ostmark“ wurde eine Einzelzellenbaracke errichtet, die die nächtliche Trennung von Homosexuellen ermöglichte701. Auch im Lager Rodgau wurden die homosexuellen Gefangenen nachts von anderen Häftlingen separiert untergebracht – indem man sie in einer Einzelzellenbaracke oder im Zellenbau eines nahegelegenen ehemaligen Arbeitshauses schlafen ließ 702. In den Emslandlagern war die Unterbringung der homosexuellen Gefangenen in anderer Weise organisiert: Es wurde dort die Praxis des sog. Verdünnungsprinzips angewendet. In einem Erfahrungsbericht über die Unterbringung von Homosexuellen im Strafvollzug an Himmler führt Reichsjustizminister Gürtner dazu aus:

„Dieses Prinzip geht dahin, die Homosexuellen so zu verteilen, daß sie sich überall einer großen Mehrheit sexuell nicht Pervertierter gegenübersehen, die einmal sie, dann aber auch einander aus dem auch unter Strafgefangenen sehr verbreiteten gesunden Abscheu gegen die Homosexualität heraus unter Kontrolle halten. Unterbringung in einem besonders leicht zu überschauenden Teil der Baracke und bei übereinanderstehenden Betten stets im oberen Bett sowie gute Auswahl der Barackenältesten vervollständigen dieses System.“ 703

698 Vgl. zur Größe und Einteilung der Baracken Deutschland-Berichte der Sopade 5 (1938), S. 873. 699 Semler, Strafvollzug in festen Anstalten und Lagern, S. 11. 700 Schreiben des RJM an die GStA, 23.7.1937, betr. Beschäftigung von Gefangenen mit Außenarbeiten; BA R 22/1437, fol. 118-120, hier fol. 118. Ebenso: Schreiben des RJM an die GStA, 22.5.1937, betr. Beschäftigung von Gefangenen mit Außenarbeiten; BA R 22/1437, fol. 404. 701 Ollmann: Der Einsatz von Gefangenen beim Bau der Ostmarkstraße. In: BlfGefK 72 (1941/42), S. 53-61, hier S. 56. 702 Schreiben des RJM an den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, 15.12.1939, betr. Homosexuelle in Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern der Justizverwaltung; BA R 22/1437, fol. 400-402, hier fol. 401. 703 Ebd. 257

Die Verteilungsmaßnahmen hatten zum Ziel, homosexuelle Aktivitäten unter den Strafgefangenen – vorausgesetzt, daß sie körperlich dazu noch in der Lage waren – zu unterbinden704; die negative Bewertung von Homosexualität in der Gesellschaft gehörte dabei zum Kalkül. Inwieweit sich die Lagerleitung tatsächlich auf den „auch unter Strafgefangenen sehr verbreiteten gesunden Abscheu gegen die Homosexualität“ verlassen konnte, wird in Kapitel 4.2.2.5.2. zu zeigen sein.

Das in den Emslandlagern praktizierte „Verdünnungsprinzip“ erinnert an die im Fall von Raumknappheit auch in festen Vollzugsanstalten geübte Praxis der Zusammenlegung von homosexuellen und politischen Gefangenen. Diskutiert wurde das „Verdünnungsprinzip“ auch in anderen Kontexten, so z.B. hinsichtlich der Unterbringung von als „vermindert zurechnungsfähig“ geltenden „Asozialen“ in den Strafanstalten, die, so der Vorschlag des Ministerialrats Otto Rietzsch, „unter Normalen, unter denen sie ihre Eigenart nicht zur Geltung bringen können“, belassen werden sollten705.

Dem „Verdünnungsprinzip“ wurde in den Emslandlagern bewußt der Vorzug gegenüber der in vielen nationalsozialistischen Konzentrationslagern geübten Praxis der Zusammenlegung homosexueller Gefangener gegeben706. Dazu heißt es in dem Bericht Gürtners:

„Homosexuelle unter Absonderung von anderen unter sich zusammenzubringen, scheint abgesehen von der Gelegenheit, die homosexuelle Betätigung heimlich fortzusetzen, die Gefahr in sich zu bergen, daß sich eine 'homosexuelle Atmosphäre' bildet, die den einzelnen noch tiefer in die Homosexualität hineinzieht.“707

Während die Separierung homosexueller Gefangener in den Konzentrationslagern in vielen Fällen verstärkte Repressionen durch die Wachmannschaften nach sich zog und für die betroffenen Häftlinge zudem ein Erschwernis darstellte, Kontakte zu anderen Häftlingen aufzubauen bzw. aufrechtzuerhalten, war das Schicksal der Homosexuellen durch die am „Verdünnungspinzip“

704 Die Angabe des ehemaligen Strafgefangenen K.S. anläßlich einer Vernehmung in der Strafanstalt Oslebshausen im Jahr 1944, wonach es im Lager Esterwegen eine „Schwulenbaracke“ („wenn dort noch einer nicht schwul ist, dann wird er es in kurzer Zeit“) gegeben habe, findet sich an keiner anderen Stelle. Zu vermuten ist, daß K.S. hier seine höchst subjektiven Eindrücke über die homosexuelle Praxis unter den Funktionsgefangenen wiedergibt. (NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 816) 705 Stellungnahme des Min.Rat Rietzsch zum Entwurf einer Verordnung zur Ausführung des Gesetzes über die Behandlung der Asozialen (vermutlich 1941); BA R 22/950, fol. 31-33, hier fol. 32. 706 Vgl. Kapitel 3.5.2.2.1. Rudolf Höß schildert in seinen autobiographischen Aufzeichnungen, daß anfänglich auch im Konzentrationslager Dachau erwogen worden war, die homosexuellen Gefangenen auf die einzelnen Baracken zu verteilen. Letztendlich setzte sich dort jedoch – angeblich aufgrund der „laufend[en] Meldungen aus allen Blocks über homosexuellen Verkehr“ – die Praxis der Zusammenlegung Homosexueller durch. Vgl. hierzu Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß, eingel. u. komm. von Martin Broszat. Stuttgart 1958, S. 77. 707 Schreiben des RJM an den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, 15.12.1939, betr. Homosexuelle in Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern der Justizverwaltung; BA R 22/1437, fol. 400-402, hier fol. 401f. 258 orientierte Art der Unterbringung in den Emslandlagern vorrangig durch ihr Verhältnis zu den Mitgefangenen geprägt. Zu vermuten ist, daß homosexuellen Häftlingen die Integration in die Häftlingsgemeinschaft durch diese Art der Unterbringung eher gelang. Hingegen dürfte der Kontakt der Homosexuellen untereinander durch die Aufteilung auf die Lager und Baracken erschwert worden sein. Allerdings war der Umgang von homosexuellen Gefangenen untereinander im Strafvollzug wie auch in den Konzentrationslagern generell mit Schwierigkeiten verbunden, da er sie häufig einschlägigem Verdacht aussetzte.

4.2.2.3.2. „Häftlingsselbstverwaltung“ und interne Lagerhierarchie

Die Einrichtung einer „Häftlingsselbstverwaltung“ war in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß die in den Lagern Inhaftierten den Bewachern nicht als homogene Gruppe gegenüberstanden: Indem einzelnen Häftlingen – den sog. Häftlingsfunktionären – mit Privilegien und Machtbefugnissen verbundene Aufgaben der Verwaltung und der Kontrolle von Gefangenen übertragen wurden, verbesserte sich deren Situation im Lager gemessen am Schicksal der übrigen Häftlinge. Auf diese Weise entstand in den Konzentrationslagern des „Dritten Reiches“ eine interne Lagerhierarchie, in der die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten homosexuellen Gefangenen einen niedrigen Status innehatten708.

In den Gefängnissen und Zuchthäusern fand eine Selbstverwaltung der Häftlinge in dieser Form nicht statt. Zwar wurden auch hier einzelnen Häftlingen – zum Teil mit Privilegien verbundene – Arbeiten innerhalb der Strafanstalten zugewiesen709, die den damit beauftragten Gefangenen jedoch in der Regel keine weiterreichenden Machtbefugnisse verliehen.

Eine Besonderheit im nationalsozialistischen Strafvollzug stellten in dieser Hinsicht die Emslandlager dar, in denen es eine gewisse Form der Selbstverwaltung nach dem Vorbild der Konzentrationslager gegeben hat. Zu den Funktionsgefangenen bzw. „Kommandierten“, wie sie in den Emslandlagern genannt wurden, gehörten die „Barackenältesten“, denen die „Tischältesten“ und die „Schlafsaalältesten“ zur Seite standen, sowie die Vorarbeiter in der Küche, der Kleiderkammer, der

708 Vgl. Kapitel 3.5. 709 Vgl. zur Vergabe der Innenarbeiten in den Strafanstalten Kapitel 4.2.2.3.3. 259

Effektenverwaltung, im Lazarett, in der Wäscherei und in einzelnen Werkstätten710. Sämtliche Funktionsgefangene wurden nicht zu der anstrengenden Moorarbeit eingesetzt und waren vom Antreten zu den Appellen befreit711; sie waren außerdem bei der Nahrungsmittelzuteilung gegenüber den übrigen Häftlingen privilegiert. Infolge der sich verschlechternden Ernährungssituation während des Krieges nahm der Kampf um diese Privilegien an Härte zu. Während dieser Zeit erhielten die Häftlingsfunktionäre aufgrund des Personalmangels in den Lagern erweiterte Befugnisse und konnten vielfach erheblichen Einfluß auf den Strafvollzug nehmen712. Der ehemalige Emslandlagergefangene Heinrich Scheel erinnert sich:

„Neben den massenhaften Arbeitseinsätzen im Moor gab es eine ganze Reihe kleiner Kommandos für anders geartete Einsätze, die sehr begehrt waren. Das Glück, dafür eingeteilt zu werden, hing vom Baracken-Boss ab, der über eine beträchtliche Machtfülle verfügte. Der Boss wurde vom Platzmeister eingesetzt und aus solchen Gefangenen ausgewählt, die vom Kriegsgericht wegen krimineller Delikte verurteilt waren [...]. Jeder Boss blieb vom Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers verschont und war ausschließlich für die Ordnung und Sauberkeit seiner Baracke verantwortlich [...]. Natürlich rührte er selbst keinen Finger, aber er hatte seine Leute, die dafür sorgten, daß jeder das Seine dazu tat. Diese Leute waren dem Boss bedingungslos ergeben, denn er hatte sie durch die Vergabe kleinerer Funktionen zu Privilegierten gemacht. Dazu gehörten sein Vizeboss, sein Bettenbauer, der Kellenputzer, der Waschraumgewaltige, die drei Essenausgeber, der Besenwart und andere mehr; alles in allem waren es etwa ein Dutzend kräftige Männer, die am ersten Tisch saßen und sich faktisch immer doppelte Portionen zuteilten. [...] Der Boss [...] verfügte natürlich über beste Verbindungen zu anderen Funktionsträgern im Lager, insbesondere zur Küche und zur Schreibstube. Hier beim Platzschreiber wurde entschieden, welche lukrativen kleinen Kommandos welcher Baracke zugeschlagen wurden. Natürlich wusch dabei eine Hand die andere [...].“713

Was die Kriterien betrifft, die zur Auswahl der Häftlingsfunktionäre führten, so ist den Berichten ehemaliger Emslandlagergefangener zu entnehmen, daß sich in der frühen KZ-Phase der Lager die „Häftlingsselbstverwaltung“ ausschließlich aus politischen Gefangenen zusammensetzte, wohingegen in der späteren Phase der Strafgefangenen- und Wehrmachtstrafgefangenenlager vorwiegend sog. Kriminelle als Funktionsträger eingesetzt wurden und die aus politischen Gründen inhaftierten

710 Immer noch Kommunist? Erinnerungen von Paul Elflein, hg. von Rolf Becker und Claus Bremer. Hamburg 1978, S. 82ff. sowie Hubert Rohe: Zur gesellschaftlichen und politischen Funktion der Konzentrationslager im Emsland und ihrer geschichtlichen Aufarbeitung. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Wissenschaftlichen Prüfung für das Höhere Lehramt, Univ. Hannover, Seminar für Wissenschaft von der Politik. Hannover 1981, S. 87. 711 Wilhelm Thiele: Geschichten zur Geschichte. Berlin (Ost) 1981, S. 133. 712 Suhr, Emslandlager, S. 140ff. 713 Heinrich Scheel: Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts. Mein Weg in den Widerstand. Berlin 1993, S. 367. 260

Häftlinge kaum noch Aussicht auf privilegierte Positionen hatten714. Von den Lagerinsassen wurde der hohe Anteil der kriminellen Gefangenen unter den Funktionsgefangenen häufig auf deren Skrupellosigkeit und auf ihre Hafterfahrungen zurückgeführt. So heißt es beispielsweise bei Wilhelm Thiele: „Die wichtigsten Kommandierten waren der Lagerschreiber und die Barackenältesten. Die Kriminellen hatten es mit ihren langjährigen Knasterfahrungen sofort verstanden, sich in alle Kommandiertenstellen hineinzuschleichen.“715

Die Auswertung des Quellenmaterials zeigt, daß stärker als die „langjährigen Knasterfahrungen“ der wegen krimineller Delikte Inhaftierten eine gezielte Politik der Lagerleitung die Verteilung der Funktionsposten bestimmte: Nach den Erfahrungen in der Anfangsphase der Emslandlager, als es den politischen Häftlingen gelang, eine illegale Häftlingsorganisation aufzubauen, versuchte die Lagerleitung später, den Einfluß der aus politischen Gründen Inhaftierten zu beschränken, indem sie diese von den Posten der „Häftlingsselbstverwaltung“ weitgehend ausschloß. Folgender Vorgang zeigt die neue Präferenz der Lagerleitung bei der Vergabe der Funktionsposten: Im März 1943 schlug der Vorsteher des Lagers Börgermoor vor, den Gefangenen H.S. als „Barackenältesten“ einzusetzen. Der Kommandeur der Strafgefangenenlager in Papenburg lehnte dies in einem Antwortschreiben ab mit der Begründung, H.S. sei Kommunist und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt und könne deshalb nicht „Kommandierter“ werden716.

Die Politik der Lagerleitung zielte bei der Vergabe von Funktionsposten somit insbesondere darauf ab, den Einfluß der politischen Gefangenen, von denen man befürchtete, daß sie die „Häftlingsselbstverwaltung“ zur Organisation des Widerstandes nutzten, gering zu halten. Es finden sich weder im internen Schriftverkehr der Lagerverwaltung noch in den Berichten überlebender Emslandlagerhäftlinge Hinweise auf einen Ausschluß auch der homosexuellen Gefangenen aus der „Häftlingsselbstverwaltung“. Die Angaben, die dem Aktenmaterial zur Auswahl der Funktionsgefangenen entnommen werden können, lassen allerdings darauf schließen, daß homosexuelle Gefangene entsprechend ihrem insgesamt geringen Anteil an der Belegung der Lager

714 Vgl. dazu Suhr, Emslandlager, S. 136ff. Suhr bezieht sich in ihrer Darstellung der „Häftlingsselbstverwaltung“ hauptsächlich auf Gespräche mit überlebenden Gefangenen der Emslandlager. Die Bevorzugung der wegen eines kriminellen Delikts Inhaftierten bei der Besetzung der Funktionsposten in den Strafgefangenenlagern wird in der Erinnerungsliteratur zu den Emslandlagern durchgehend betont, so z.B. bei Scheel, Schranken des Reichskriegsgerichts, S. 387; Thiele, Geschichten zur Geschichte, S. 132ff.; Erich Wiesner: Man nannte mich Ernst. Erlebnisse und Episoden aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin (Ost) 1956, S. 221. In der Erinnerungsliteratur herrscht die Sichtweise der politischen Inhaftierten vor. Zu vermuten ist, daß bei der Auswahl der Funktionshäftlinge eine gewisse Durchlässigkeit bestand, so gelang es Thiele beispielsweise, als politischer Häftling „Kommandierter“ in der Schneiderstube zu werden. 715 Thiele, Geschichten zur Geschichte, S. 132. 716 Beschrieben in der Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, Akz. 30/93, 8038. 261 nur vereinzelt an der „Häftlingsselbstverwaltung“ beteiligt waren. In einem Einzelfall forderte im Januar 1944 ein Aufseher, daß ein nach § 175a verurteilter Gefangener als „Kommandierter“ im Lager Börgermoor abgelöst werde, da es nach seiner Meinung nicht angehe, daß „Leute[,] die mit § 175 bestraft sind[,] auf derartige[n] Posten eingesetzt sind“. Die Ablösung des Gefangenen von dem Funktionsposten erfolgte jedoch augenscheinlich nicht, denn noch im Juli 1944 wurde dem Betroffenen bescheinigt, daß er sich „auf Kommandiertenposten bestens bewährt“ habe und auch ansonsten bemüht sei, „durch beste Führung und äußersten Fleiß die Wehrwürdigkeit wiederzuerlangen“717. In einem anderen Fall wurde ein in Esterwegen inhaftierter Homosexueller als Stubenältester abgelöst, da ihm vorgeworfen wurde, sich mit Mitgefangenen homosexuell betätigt zu haben718.

Inwieweit ein solcher Vorwurf auf tatsächlichen Ereignissen beruhte, läßt sich im Einzelfall anhand des Quellenmaterials nicht mehr rekonstruieren. Hinweise lassen darauf schließen, daß einzelne Funktionsgefangene mit anderen Häftlingen homosexuell verkehrten: So erklärte der ehemalige Gefangene P.G. über seine Haftzeit in Esterwegen (ab Juni 1944), daß der als Platzmeisterschreiber eingesetzte Gefangene F.S. von den Häftlingen besonders gefürchtet gewesen sei. Dieser sei „geschlechtlich anormal“ gewesen und habe „aufgrund seiner Macht im Lager stets willige oder vielmehr eingeschüchterte Gefangene [gefunden] [...], die auf seine Gelüste eingingen. [...] Auf die schmutzigen Perversitäten dieses Schweinigels näher einzugehen“, so P.G., [„sträubt] [...] sich meine Feder.“ Weiter heißt es in dem Bericht: „Koch war H.[...] S.[...] aus Naumburg. Er war der ungekrönte König des Lagers. Von seinen Launen bzw. Befriedigung seiner anormalen sexuellen Triebe hing unser Wohl und Wehe ab. Hatte er seine Gelüste befriedigt, dann war auch das Essen gut.“719 Ob es sich allerdings bei den bezeichneten Personen um Gefangene handelte, die aufgrund des Straftatbestandes der Homosexualität inhaftiert waren, läßt sich aufgrund des zum Teil unvollständigen Quellenmaterials und der mangelnden Differenzierung zwischen homosexuellem Verhalten im Lager und homosexuellen Häftlingen in den Berichten heterosexueller Gefangener nicht mehr nachvollziehen. Belegt ist für die nationalsozialistischen Konzentrationslager homosexuelles Verhalten von Funktionsgefangenen, bei dem es sich um sexuelle „Ersatzhandlungen“ heterosexueller Häftlinge handelte; ähnliches dürfte auch in den ausschließlich mit Männern belegten Emslandlagern vorgekommen sein. Insofern bleibt offen, in welchem Ausmaß sich derartige Vorwürfe gegen Gefangene richteten, die aufgrund einer Verurteilung nach §§ 175, 175a inhaftiert

717 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7353. 718 Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6852. 719 Vgl. hierzu: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 789, S. 91f. 262 waren. Auch unter nicht-homosexuellen Gefangenen dürften aufgrund der Sexualnot während der Haftzeit gleichgeschlechtliche Handlungen vorgekommen sein, so daß die Aussagen ehemaliger Häftlinge über die vermeintliche homosexuelle Praxis unter Funktionsgefangenen kein Indiz für eine etwaige Begünstigung homosexueller Gefangener bei der Vergabe der Funktionsposten durch das Lagerpersonal liefern.

Für die Untersuchung nur von untergeordneter Bedeutung ist die Frage nach dem Verhältnis der „Kommandierten“ zu den übrigen Gefangenen. Auch hier ergibt sich kein einheitliches Bild: Während in vielen Darstellungen überlebender Häftlinge geschildert wird, daß Funktionsgefangene ihre Position zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der ihnen unterstehenden Häftlinge ausnutzten720, heißt es dagegen bei einem anderen Überlebenden: „Die Barackenältesten waren die besten, die zuverlässigsten Kameraden“721. Vor allem für die Kriegszeit finden sich auch in den internen Verwaltungsschriftstücken aus den Emslandlagern zahlreiche Hinweise auf den Mißbrauch der Machtposition einzelner Gefangener722.

4.2.2.3.3. Gefangenenarbeit innerhalb der Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlager

Die Gefangenenarbeit, vor 1933 wichtiges Element des Resozialisierungskonzepts, wurde auch nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ als „eines der wichtigsten Mittel eines erfolgreichen Strafvollzugs“723 angesehen. „Jeder Gefangene“, hieß es in der Vollzugsordnung von 1940, „ist verpflichtet zu arbeiten und hat zu leisten, was er bei Fleiß und Sorgfalt leisten kann.“724 Der Schwerpunkt der Gefangenenarbeit verlagerte sich jedoch während der NS-Zeit weg vom Ziel erzieherischer Einflußnahme. Mit dem zunehmenden Bedarf an Arbeitskräften rückte seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre immer stärker die Ausnutzung der Arbeitskraft der Inhaftierten in den Vordergrund. Das Reichsjustizministerium war bestrebt, durch den möglichst vollständigen Arbeitseinsatz von Gefangenen die Leistungsfähigkeit des Strafvollzugs gegenüber konkurrierenden Einrichtungen der Polizei und SS herauszustellen725. Ende Oktober 1939 wurde die tägliche

720 Vgl. z.B. Hans Frese: Bremsklötze am Siegeswagen der Nation. Erinnerungen eines Deserteurs an Militärgefängnisse, Zuchthäuser und Moorlager in den Jahren 1941-1945, hg. von Fietje Ausländer und Norbert Haase. Bremen 1989, S. 45ff. 721 Hermann Kempf: Erinnerungen, Teil 1-2. Bad Marienberg 1979/80, S. 24 (T. 2). 722 NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 844: Verfügungen der Zentralverwaltung. 723 Freisler, Arbeitseinsatz im Strafvollzug, S. 1021. 724 Artikel 67 der Strafvollzugsordnung (1940). 725 Vgl. hierzu Möhler, Strafvollzug, S. 94ff. 263

Arbeitszeit für Zuchthausgefangene auf zwölf und für Gefängnisgefangene auf elf Stunden heraufgesetzt726.

Hinsichtlich der durchzuführenden Arbeit wurde im Strafvollzug unterschieden zwischen Innen- und Außenarbeiten, wobei die Innenarbeiten überwiegend reproduktiven Charakter hatten, d.h. zur Erfüllung der Anstaltsbedürfnisse dienten727. Innerhalb der Vollzugsanstalten waren von den Gefangenen beispielsweise Arbeiten in der Küche, in der Wäscherei, in Bekleidungs- und Schuhmacherwerkstätten, in der Tischlerei, in der Bäckerei und in der Klempnerei durchzuführen. Darüber hinaus wurden Gefangene im Bereich der Produktion zu – häufig stark gesundheitsschädigenden – Arbeiten wie Mattenflechten oder der Herstellung von Bombenkästen und Geschoßkörben aus Weidengeflecht sowie zur Altmaterialverwertung herangezogen728. Da die auszuführenden Arbeiten für den Häftling eine unterschiedliche körperliche Belastung darstellten und ihm mehr oder weniger guten Zugang zu Gütern und Machtpositionen verschafften, kam der Arbeitszuteilung entscheidende Bedeutung hinsichtlich der Haftsituation des einzelnen zu.

Begehrt waren unter den Gefangenen insbesondere Tätigkeiten in der Küche, da sie Zugang zu Nahrungsmitteln boten: „Die Arbeit in der Küche macht satt“729, hieß es unter den Insassen der Vollzugsanstalten und Lager. Auch die Arbeiten in den Werkstätten boten Privilegien, da sie in der Regel körperlich weniger belastend waren als ungelernte Tätigkeiten und sich zudem Kontakte zum Bewachungspersonal herstellen ließen – in dem Bericht des ehemaligen Gefangenen Karl Schröder heißt es dazu: „Handwerker im Käfig sind Privilegierte, zwar nicht direkt, aber indirekt730“. In den festen Vollzugsanstalten erfolgte die Zuweisung der Arbeit durch das Vollzugspersonal. In der Vollzugsordnung von 1940 wurde festgelegt:

„Zu Hausarbeiten, deren Zuweisung einen Vertrauensbeweis enthält, werden Gefangene herangezogen, die bisher fleißig und sorgfältig gearbeitet und sich auch sonst gut geführt haben, und von denen keine Durchstechereien oder sonstiger unerlaubter Verkehr zu

726 Verfügung des Reichsministers der Justiz, 28.10.1939, betr. den Strafvollzug an Erwachsenen während des Kriegszustandes. Abgedruckt in: Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C IIa/1.28, S. 1313f. 727 Das Thema „Innenarbeiten“ wurde in der vorliegenden Arbeit deshalb dem Kapitel „Reproduktion des Lager- bzw. Anstaltslebens“ zugerechnet. 728 Vgl. zur Darstellung der Beschäftigungsmöglichkeiten für Gefangene innerhalb der Vollzugsanstalten die Broschüre „Das Gefängniswesen in Deutschland, hg. vom RJM. Berlin 1935“; BA R 22/1285, fol. 137-159, hier fol. 146. 729 Karl Schröder: Die letzte Station, hg. von Fietje Ausländer. Bremen 1995, S. 163. 730 Ebd., S. 164. 264

befürchten sind. Das Vorleben, die Straftat und der Gesundheitszustand werden berücksichtigt.“731

„Soweit möglich“, sollte darüber hinaus bei der Zuteilung der Arbeiten „auf Kenntnisse und Fähigkeiten, Gesundheitszustand, Lebensalter und Beruf der Gefangenen Rücksicht genommen [werden]“732. Sog. fremdvölkische Häftlinge sollten von den Hausarbeiten ausgeschlossen bleiben733; weitere Einschränkungen betrafen die Verwendung von politischen Gefangenen: Bei deren Arbeitszuweisung sollte darauf geachtet werden, daß insbesondere diejenigen Gefangenen, die als „Funktionäre“ anzusehen seien oder von denen „eine Beeinflussung anderer Gefangener im staatsfeindlichen Sinne“ befürchtet werden müsse, nicht als Hausarbeiter eingesetzt würden734. Dementsprechend waren die politischen Häftlinge in vielen Vollzugsanstalten von den privilegierten Hausarbeiten ausgeschlossen. So heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade über das Untersuchungsgefängnis Moabit:

„Die politischen Gefangenen sind fast alle in Einzelhaft. Sie werden grundsätzlich nicht zu Hilfsarbeiten, als Kalfaktoren usw. herangezogen. Eines Tages wollte mich der Stationsoberwachtmeister im Untersuchungsgefängnis als Kalfaktor heranziehen und fragte mich, aus welchen Gründen ich in Untersuchungshaft sei. Als er hörte, daß ich ein 'Politischer' wäre, antwortete er: 'Immer wenn man einen anständigen Menschen haben will, ist es ein Politischer'.“735

Was die Einteilung von homosexuellen Gefangenen zu Hausarbeiten in den Vollzugsanstalten betrifft, so konnten diese – im Gegensatz zu den politischen Häftlingen – grundsätzlich zu jeder Hausarbeit abgestellt werden. Dementsprechend finden sich in den Personalakten von nach §§ 175, 175a verurteilten Häftlingen Angaben über deren Verwendung zu fast allen Arten der privilegierten Hausarbeiten: Sie wurden in den Zuchthäusern Celle und Hameln sowie im Gefängnis Lingen als Flurwärter736, Bäcker737, Schreiber738, Tischler739, Schuhmacher740, Hausreiniger741 sowie als Maler742

731 Artikel 77 der Strafvollzugsordnung (1940). 732 Das Gefängniswesen in Deutschland, hg. vom RJM. Berlin 1935. BA R 22/1285, fol. 137-159, hier fol. 145. 733 Verfügung des RJM an die GStA, 28.7.1943, betr. Heranziehung Fremdvölkischer zu Hausarbeiten. BA R 22/1338, fol. 275. 734 Verfügung des Generalstaatsanwalts Celle, 12.6.1936; NdS HStA H, Az. 44, 441. Vgl. hierzu auch die Anweisung des RJM an die GStA, 21.11.1940, betr. Trennung der Gefangenen; BA R 22/1422, fol. 96. 735 Deutschland-Berichte der Sopade 3 (1936), S. 1618. 736 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen J.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/7. 737 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/187; Personalakte des Gefangenen W.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15471. 738 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/185. 739 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/57. 265 eingesetzt. Des weiteren wurden Homosexuelle in der Kleiderkammer743 sowie in der Küche als Kartoffelschäler744 und Gemüsereiniger745 beschäftigt. Voraussetzung für die Zuteilung zu diesen Arbeiten war häufig, wie die in den Personalakten dokumentierten Vorgänge zeigen, die berufliche Qualifikation eines Gefangenen. So hatten alle als Gärtner, Bäcker, Tischler, Maler und Schuhmacher beschäftigten Häftlinge eine entsprechende berufliche Ausbildung vorzuweisen. Auch für die Heranziehung von homosexuellen Gefangenen zu den hier aufgeführten Hausarbeiten wurde, wie die Angaben in den Personalakten zeigen, zur Bedingung gemacht, daß die Betroffenen während der Nacht von Mitgefangenen getrennt untergebracht waren. In einem Fall wurde im Zuchthaus Hameln der Antrag eines Vollzugsbeamten, den nach § 175 verurteilten Gefangenen K.W. als sog. Hilfskalfaktor in der Bäckerei zu beschäftigen, vom Vorstand der Vollzugsanstalt mit der Begründung abgelehnt, es bestünde in der Bäckerei zur Zeit keine Möglichkeit einer separaten nächtlichen Unterbringung des Betroffenen746.

Vorbehalte bestanden hinsichtlich der Beschäftigung von homosexuellen Gefangenen mit Hausarbeiten dann, wenn die auszuführende Tätigkeit einen engen körperlichen Kontakt zu Mitgefangenen ermöglichte bzw. voraussetzte: In der Personalakte des im Gefängnis Lingen inhaftierten J.C. findet sich folgende Eintragung des Vorstehers des Gerichtsgefängnisses Osnabrück, in dem der Betroffene vor seiner Haftzeit in Lingen untergebracht war:

„Der Strafgefangene J.C., der als Anstaltsbarbier nach hier überwiesen wurde, hat 9 Monate Gefängnis wegen widernatürlicher Unzucht bis 15. November ds. Js. zu verbüßen. Wegen derselben Straftat ist er schon einmal vorbestraft. Mit Rücksicht hierauf [...] habe ich gegen die Weiterverwendung als Hausbarbier Bedenken. Ein anderer Friseur oder ein zum Anlernen als Hausbarbier geeigneter Strafgefangener sitzt hier nicht ein. Ich bitte deshalb einen Gefangenen-Barbier nach hier überführen zu lassen.“747

Bedarf an Friseuren für den Anstaltsbetrieb bestand augenscheinlich nicht nur im Gerichtsgefängnis Osnabrück, denn auch im Gefängnis Lingen wurde der Betroffene – trotz seiner Verurteilung nach § 175 – erneut als Häftlingsfriseur eingesetzt.

740 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/14; Personalakte des Gefangenen H.E.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12977. 741 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/796. 742 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen P.G.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/150. 743 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen M.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 16455. 744 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen E.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 41/3; Personalakte des Gefangenen J.O.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/222. 745 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen R.N.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/335; Personalakte des Gefangenen P.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11948. 746 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/138. 266

Die Zuteilung der Hausarbeiten verdeutlicht zwei Grundzüge des Umgangs mit den Gefangenen im nationalsozialistischen Strafvollzug: Erstens tritt – wie schon bei der Regelung der Unterbringung von Gefangenen – auch hier der Präventionsgedanke deutlich hervor. Ebenso wie die politischen Gefangenen, von denen befürchtet wurde, daß sie den Umgang mit Mitgefangenen zu deren politischer Beeinflussung nutzten, von den entsprechenden Tätigkeiten ausgeschlossen wurden, sollte den im Sinne der §§ 175, 175a verurteilten Häftlingen – denen unterstellt wurde, daß sie gleichsam jede Gelegenheit, sich Mitgefangenen zu nähern, ausnutzen würden – jede Möglichkeit zur Ausübung der Homosexualität genommen werden. Aus diesem Grund erhielten sie nur dann eine mit Privilegien verbundene Arbeit, wenn zum einen die nächtliche Trennung gewährleistet war und zum anderen sich durch die Tätigkeit keine Möglichkeit bot, in körperlichen Kontakt zu Mitgefangenen zu gelangen. Zweitens wird an der Zuteilung der Hausarbeiten deutlich, daß die Vollzugsanstalten jeweils bestrebt waren, die Reproduktion des Anstaltslebens möglichst aus eigenen Mitteln, d.h. durch die Arbeit der Gefangenen, zu leisten, um auf diese Weise die Kosten für den Strafvollzug gering zu halten. Diesem Erfordernis wurden die Vollzugsziele oftmals untergeordnet.

Neben den mit Privilegien verbundenen Innenarbeiten waren homosexuelle Häftlinge innerhalb der Zellen auch mit Kartonage-748, Bastflecht-749 und Hanfarbeiten750 sowie beim Tütenkleben751 und bei der Herstellung von Geschoßkörben752 beschäftigt. Es findet sich jedoch kein Hinweis darauf, daß sie in stärkerem Maße zu diesen eintönigen, nicht-privilegierten und zum Teil gesundheitsschädlichen Arbeiten eingesetzt worden wären. Im Gegenteil: Vielfach wurden Homosexuelle durch das Vollzugspersonal als fleißige und zuverlässige Arbeiter charakterisiert, die sich auf den sog. Vertrauensposten bewährten. So heißt es in einer Beurteilung des im Zuchthaus Hameln inhaftierten Homosexuellen H.H.: „Im Anstaltsleben führt er sich gut, wie Homosexuelle meist, und arbeitet anständig“753.

747 Personalakte des Gefangenen J.C.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 11921. 748 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15471; Personalakte des Gefangenen H.U.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 45/174. 749 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13161; Personalakte des Gefangenen A.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13565. 750 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen P.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12913; Personalakte des Gefangenen M.D.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12193. 751 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/229; Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/54. 752 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen G.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/50. 753 Personalakte des Gefangenen H.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/314. 267

Die Vollzugsbeamten wählten aus dem Kreis der für die qualifizierten Hausarbeiten in Frage kommenden Gefangenen verständlicherweise diejenigen aus, die sie für gewissenhaft und zuverlässig hielten, um so die Reproduktion des Anstaltslebens zu gewährleisten. Aufgrund der Tatsache, daß die politischen Gefangenen von diesen Tätigkeiten weitgehend ausgeschlossen waren, kamen unter den beruflich einschlägig vorgebildeten nur die wegen eines kriminellen Delikts verfolgten und die homosexuellen Häftlinge in Frage. Da die größtenteils aufgrund von Betrugs- und Eigentumsdelikten verurteilten und zum Teil vielfach vorbestraften kriminellen Gefangenen häufig nicht als vertrauenswürdige Arbeitskräfte galten, ist es denkbar, daß nach §§ 175, 175a verurteilte Häftlinge verhältnismäßig häufig zu den privilegierten Hausarbeiten eingeteilt wurden754. Als Sonderfall dürfte allerdings die Schilderung des nach § 175 verurteilten Heinz Dörmer anzusehen sein, der über seine Haftzeit im Kolumbia-Haus berichtet, daß er dort in der Küche arbeitete, wo ausschließlich homosexuelle Gefangene tätig gewesen seien, denn so Dörmer: „Da hieß es, mit Homosexuellen läßt es sich am einfachsten arbeiten. Die sind sauber, die wissen, worum es geht, bringen von sich aus Initiative mit.“755

In den Emslandlagern stellten die Arbeiten innerhalb des Lagers generell eine deutlich geringere Belastung für den Gefangenen dar als die vom Großteil der Inhaftierten auszuführende Kultivierungsarbeit im Moor756. Die Zuteilung der Arbeit erfolgte in diesen Lagern durch das Lagerpersonal sowie durch die Angehörigen der „Häftlingsselbstverwaltung“. Da der Bedarf an qualifizierten Arbeitern in den Strafgefangenenlagern vergleichsweise gering war, dürfte in den meisten Fällen – wie in den Konzentrationslagern – das Ansehen von Häftlingen bei Wachleuten und einflußreichen Funktionsgefangenen für die Einteilung zu einer mit Privilegien ausgestatteten Aufgabe im Lager ausschlaggebend gewesen sein.

Einschränkungen hinsichtlich der Einteilung von homosexuellen Gefangenen zu den Innenarbeiten wurden auch hier vorgenommen. So heißt es in einem Schreiben aus dem Reichsjustizministerium an den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei vom Dezember 1939 über die Praxis der Arbeitszuteilung in den Emslandlagern: „Bei der Arbeitszuteilung wird darauf gehalten, daß homosexuelle Gefangene nicht Gelegenheit bekommen, ohne ständige unmittelbare Aufsicht mit einzelnen anderen Gefangenen zusammenzusein“. Daher würden sie „z.B. im Küchendienst und

754 Eine quantitative Auswertung der zu den privilegierten Hausarbeiten eingesetzten Gefangenen erweist sich aufgrund der zum Teil unvollständigen Quellenangaben als wenig sinnvoll. 755 „Und alles wegen der Jungs“, S. 64. 756 Vgl. zu den Arbeiten außerhalb der Lager das folgende Kapitel. 268

Kammerdienst nicht verwendet“757. In einem Rundschreiben an die einzelnen Lagervorsteher vom Juni 1939 wies der Kommandeur der Strafgefangenenlager zudem darauf hin, daß „wegen widernatürlicher Unzucht bestrafte Gefangene und solche, die sonstwie als homosexuell bekannt sind, nicht als Barbiere oder deren Gehilfen verwandt werden dürfen“758. Wie in den festen Vollzugsanstalten war also auch in den Emslandlagern der Umgang mit homosexuellen Gefangenen vom Präventionsgedanken geprägt: Den im Sinne der §§ 175, 175a verurteilten Häftlingen sollte jede Möglichkeit zur Ausübung der Homosexualität genommen werden. Dies glaubte man zu erreichen, indem man die Betroffenen von allen Tätigkeiten ausschloß, die einen engen körperlichen Kontakt mit einzelnen Mitgefangenen ermöglichten.

Durch den Ausschluß von bestimmten Innenarbeiten nahmen Homosexuelle in den Emslandlagern eine Sonderstellung bei der Arbeitszuteilung ein. Auch hier waren Homosexuelle jedoch nicht grundsätzlich von den mit Privilegien verbundenen Innenarbeiten ausgeschlossen. So finden sich in den Personalakten sowie in der Erinnerungsliteratur mehrfach Angaben, die auf eine Beschäftigung homosexueller Gefangener in den Werkstätten759, in der Bäckerei760, als Schreiber761 sowie als Sanitäter762 hinweisen. Auch scheint die in dem im Reichsjustizministerium verfaßten Schreiben empfohlene Trennungspraxis bei der Arbeitszuteilung an Homosexuelle in den Emslandlagern nicht konsequent umgesetzt worden zu sein, denn den Personalakten ist zu entnehmen, daß einige nach §§ 175, 175a verurteilte Gefangene auch im Küchen-763 sowie im Kammerdienst764 verwendet wurden. Möglicherweise hatten diese Häftlinge gute Verbindungen zu den zuständigen „Kommandierten“ und konnten so – entgegen der gängigen Praxis – ihre Zuteilung zur Küchenarbeit bewirken.

757 Schreiben des RJM an den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, 15.12.1939, betr. Homosexuelle in Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern der Justizverwaltung; BA R 22/1437, fol. 400-402, hier fol. 401. 758 NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 726. 759 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen R.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4259. 760 Vgl. hierzu Suhr, Emslandlager, S. 159. 761 Personalakte des Gefangenen W.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6738. 762 Vgl. hierzu „Und alles wegen der Jungs“, S. 76, 80. 763 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen K.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5908; Personalakte des Gefangenen F.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7793. 764 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7517. 269

4.2.2.4. Produktion durch Häftlingsarbeit

4.2.2.4.1. Gefangenenarbeit außerhalb der Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlager

Nur wenige der von Gefangenen im Freien auszuführenden Arbeiten dienten der Reproduktion des Anstalts- bzw. Lagerlebens, so z.B. die Bewirtschaftung kleinerer anstaltseigener Nutzflächen. Zum Großteil wurden Häftlinge gegen einen geringen Tageslohn an die private Landwirtschaft und an Unternehmen ausgeliehen oder in staatlichen Einrichtungen, beispielsweise beim Straßenbau oder bei Moor- und Kultivierungsarbeiten, beschäftigt. In den festen Vollzugsanstalten stieg aufgrund des zunehmenden Arbeitskräftedefizits der Anteil der Häftlinge, die außerhalb der Anstaltsmauern beschäftigt waren, bis Kriegsende auf ca. ein Drittel aller arbeitsfähigen Gefangenen765.

Im Juli 1937 wurde durch das Reichsjustizministerium folgende Regelung hinsichtlich der Beschäftigung von Gefangenen mit Außenarbeiten getroffen:

„Außenarbeiten im Sinne dieser Verfügung sind Arbeiten, die außerhalb des Anstaltsgeländes vorgenommen werden. Zu Außenarbeiten dürfen nur solche Gefangene verwendet werden, die nach Führung, Straftat, Vorleben und Gesundheitszustand zu diesen Arbeiten geeignet erscheinen. Von den Außenarbeiten sind insbesondere ausgeschlossen: a) gemeingefährliche, widersetzliche und fluchtverdächtige Gefangene [...]; b) politische Gefangene, mit Ausnahme der Gefangenen, die nur als Mitläufer anzusehen sind und von denen eine staatsfeindliche Betätigung nicht zu erwarten ist; c) Gefangene, die wegen eines Vergehens oder Verbrechens wider die Sittlichkeit bestraft sind, mit Ausnahme der gemäß § 175 RStG bestraften Gefangenen, sofern sie während der Nachtzeit in einer Vollzugsanstalt oder einem Außenarbeitslager einzeln verwahrt werden können.“

Hinsichtlich der Beschäftigung von homosexuellen Gefangenen mit Außenarbeiten wurde außerdem festgelegt:

„Gefangene mit Gefängnis- und Haftstrafen, deren Strafrest nicht mehr als drei Monate beträgt und die zu Außenarbeiten besonders geeignet erscheinen, können ausnahmsweise im Falle dringender Notwendigkeit während der Erntezeit zu landwirtschaftlichen Arbeiten an zuverlässige und vertrauenswürdige Betriebsführer (Unternehmer) auch ohne Beaufsichtigung durch einen Beamten einer Vollzugsanstalt einzeln abgegeben werden. Ausgenommen hiervon sind Gefangene, die gemäß § 175 RStGB bestraft sind.“766

Wie bei der Zuteilung zu den Innenarbeiten galt auch bei der Beschäftigung mit Außenarbeiten das Präventionsprinzip. Homosexuelle Gefangene sollten deshalb nur dann außerhalb der Vollzugsanstalten beschäftigt werden, wenn eine nächtliche Separierung der Betroffenen

765 Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 100. 766 Schreiben des RJM an die GStA, 23.7.1937, betr. Beschäftigung von Gefangenen mit Außenarbeiten; BA R 22/1437, fol. 118-120, hier fol. 118f. 270 gewährleistet war. Zudem sollten sie auch bei Arbeiten außerhalb der Vollzugsanstalten nicht ohne Beaufsichtigung tätig sein, da man befürchtete, die Betroffenen würden sich erneut homosexuell betätigen. Keineswegs waren nach §§ 175, 175a Verurteilte jedoch grundsätzlich von den Außenarbeiten ausgeschlossen – im Gegenteil versprach man sich von der „heilsamen Heranziehung der Homosexuellen zu schwerer Arbeit im Freien“767 große Wirkung. So wurde dann auch ein Jahr später, im Juli 1938, hinsichtlich des Einsatzes von Gefangenen bei Kultivierungs- und Straßenbauarbeiten festgelegt, daß insbesondere „Gefangene, die nach § 175 RStGB bestraft sind, zu den Außenarbeiten heranzuziehen“ seien768.

Die von den Gefangenen zu leistenden Arbeiten waren mit unterschiedlich hohen Anforderungen an die physische Leistungsfähigkeit verbunden und boten ungleiche Möglichkeiten, sich persönliche Vorteile zu schaffen. Als besonders belastend galten neben den Kultivierungsarbeiten im Moor Arbeiten beim Straßenbau sowie in der Rüstungsindustrie. Über die Verwendung von Justizgefangenen für die Kriegsproduktion liegen bisher nur wenige Informationen vor; in seiner vergleichenden Untersuchung über KZ-Haft und Strafvollzug kommt Drobisch zu dem Ergebnis, daß Justizgefangene in der Rüstungsindustrie ähnlichen Belastungen ausgesetzt waren wie KZ-Häftlinge, wenn auch die Behandlung der Justizgefangenen noch stärker von – wenn auch durchlöcherten – rechtlichen Normen geprägt war769. Begehrt waren unter den Außenkommandos die Arbeiten in der Landwirtschaft – die sog. Freßkommandos, wie es unter den Gefangenen hieß770. Die Vorteile, die sich aus einer solchen Beschäftigung ergaben, verdeutlicht folgende Einschätzung eines ehemaligen Gefangenen aus dem Zuchthaus Celle: „Der Theo war ein Außenarbeiter und beim Futtermittel- Kommando eingeteilt. So ein Posten. Genügend zu essen, ab und an eine Kippe und dazu jeden Tag Neuigkeiten. Beneidet von uns Proleten war so ein Außenarbeiter.“771

Was die Zuweisung von Außenarbeiten an homosexuelle Vollzugsgefangene betrifft, so finden sich in den Personalakten der nach §§ 175, 175a verurteilten Gefangenen der Zuchthäuser Celle und Hameln nur sehr vereinzelte Hinweise auf deren Beschäftigung außerhalb des Anstaltsgeländes. Da die aus diesen Zuchthäusern zusammengestellten Außenkommandos zum Teil weit von den Vollzugsanstalten entfernt lagen und die Häftlinge deshalb auch nachts dort untergebracht waren,

767 Schreiben des RJM an den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, 15.12.1939, betr. Homosexuelle in Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern der Justizverwaltung; BA R 22/1437, fol. 400-402, hier fol. 400. 768 Verfügung des RJM an die GStA, 14.7.1938, betr. den Einsatz von Gefangenen bei Kultivierungs- und Straßenbauarbeiten; BA R 22/1437, fol. 162f., hier fol. 163; vgl. auch Kapitel 4.2.1.8. 769 Drobisch, Konzentrationslager und Justizhaft, S. 289f. 770 Hans Bielefeld: Durch das dunkelste Abendland: 4 Jahre hinter Schloß und Riegel. Hameln 1951, S. 57. 771 Ebd., S. 60. 271 war ein Grund für den geringen Anteil homosexueller Gefangener in diesen Arbeitskommandos möglicherweise die unzureichende Möglichkeit einer nächtlichen Trennung dieser Häftlinge. Im Gefängnis Lingen waren dagegen vergleichsweise viele homosexuelle Gefangene zumindest zeitweilig zu Arbeiten in der Landwirtschaft eingeteilt (ca. 20 %); hier hatten die Arbeitskräfte jedoch keine größere Entfernung zurückzulegen und konnten dementsprechend nachts ins Lingener Gefängnis zurückkehren.

Während in den festen Vollzugsanstalten in der Regel nur der kleinere Teil der Gefangenen mit Arbeiten außerhalb des Anstaltsgeländes beschäftigt war, wurden die Strafgefangenenlager im „Dritten Reich“ eigens dafür errichtet, eine große Zahl von Gefangenen mit Außenarbeiten zu beschäftigen. Von Ausnahmen abgesehen, gab es in diesen Lagern deshalb nur eine Arbeit772; in den Emslandlagern war dies die Kultivierungsarbeit im Moor, neben der es zumindest bis 1939 keine andere ökonomisch bedeutsame Beschäftigungsmöglichkeit gab773. Zu dieser körperlich sehr belastenden und oft lebensgefährlichen Arbeit bestand somit für die Gefangenen keine Alternative – abgesehen von denjenigen, die sich im Krankenrevier oder im Arrest befanden bzw. zu Innenarbeiten eingeteilt waren. Bei den Moorarbeiten, so ein ehemaliger Emslandlagerhäftling, war zudem „partout nichts Zusätzliches zu gewinnen, was das Leben verschönte, also irgend etwas Eßbares oder auch nur ein paar Zigarettenkippen“774. Erst infolge des kriegsbedingten Arbeitskräftedefizits wurden die Gefangenen der Emslandlager nach 1939 zunehmend auch in der Rüstungsindustrie, bei der Torfgewinnung und in der Landwirtschaft sowie zur Beseitigung von Bombenschäden in den Städten Osnabrück und Emden eingesetzt775. Bei der Einteilung der Gefangenen zu diesen Außenkommandos machten die „Kommandierten“ ihren Einfluß geltend, vor allem wenn es um die Zuteilung zu Arbeiten in der Landwirtschaft ging, bei denen Gefangene die Gelegenheit hatten, sich zusätzliche Nahrungsmittel zu verschaffen776.

Über die zahlenmäßige Verteilung der Gefangenen auf die einzelnen Arbeitskommandos liegen keine Angaben vor. Es finden sich in den Gefangenenpersonalakten zwar einzelne Hinweise auf die Zuweisung von Außenarbeiten; eine quantitative Auswertung ist jedoch aufgrund der

772 Vgl. hierzu auch Semler, Strafvollzug in festen Anstalten und Lagern, S. 12. 773 Frank Bührmann-Peters: „Dort haben wir an und für sich gar nicht gemerkt, daß wir Gefangene waren“. Der Arbeitseinsatz von Strafgefangenen aus den Emslandlagern im Raum Osnabrück. In: Osnabrücker Mitteilungen 103 (1998), S. 205-236, hier S. 213. 774 Scheel, Schranken des Reichskriegsgerichts, S. 356. 775 Frank Peters: Aspekte des Arbeitseinsatzes in den Emslandlagern. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Osnabrück, 1996, S. 29ff. 776 Vgl. hierzu die Aussage des Gefangenen K.S. über seine Haftzeit im Strafgefangenenlager Esterwegen. In: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 844. 272

Unvollständigkeit des Materials nicht möglich. Was die Zuweisung homosexueller Gefangener zu Außenarbeiten während der Kriegszeit betrifft, so lassen sich nur wenige Aussagen treffen: In einem Fall wurde vom Vorsteher des Lagers Esterwegen gegen einen homosexuellen Gefangenen angeordnet, diesem „als einem üblen 175er die schwerste Arbeit im Moor zuzuteilen“777. Ob man tatsächlich daran glaubte, den Betroffenen, über dessen vermeintlich effeminiertes Erscheinungsbild sich in der Personalakte mehrere Angaben finden, durch eine körperlich anstrengende Arbeit von seiner sexuellen Neigung abzubringen oder ob die Zuweisung schwerer Moorarbeit alleine als Strafübel angeordnet war, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Auffällig ist, daß sich keine Angaben über die Verwendung homosexueller Gefangener bei den ab 1944 zusammengestellten Bombenräumkommandos finden. Die dazu eingeteilten Häftlinge verrichteten bei der Entschärfung von Blindgängern und Bomben mit Langzeitzündern äußerst gefährliche Arbeiten, genossen jedoch in der Regel eine bessere Behandlung und Verpflegung durch die örtlichen Bewacher und Arbeitsanweiser778. Denkbar ist, daß homosexuelle Häftlinge von diesen Tätigkeiten ausgeschlossen waren, da durch die Unterbringung außerhalb der Lager eine ausreichende Kontrolle über die Gefangenen nicht mehr gewährleistet schien. Hinweise auf eine Sonderstellung speziell der homosexuellen Häftlinge finden sich in dem Quellenmaterial sonst nicht; ebenso wie sich in Einzelfällen ihre Zuteilung zu den vermutlich begehrten Arbeiten in der Landwirtschaft rekonstruieren läßt, kann auch ihr Einsatz in anderen Außenkommandos nachgewiesen werden.

4.2.2.4.2. Homosexuelle Gefangene in den Sonderkommandos „Nord“ und „West“

Stärker noch als die Einteilung zu den täglichen Arbeitskommandos wirkte sich die Zuweisung zu einem Sonderkommando auf die Lebensbedingungen des einzelnen Gefangenen und damit auf seine Überlebenschancen aus. Aus den Emslandlagern wurden Gefangene den Sonderkommandos „Nord“ und „West“ zugeteilt.

Lager „Nord“ war eine Sammelbezeichnung für eine Vielzahl kleinerer Lager, die im Sommer des Jahres 1942 entlang der nordnorwegischen Küste errichtet wurden779. Etwa 2.000 Gefangene aus den Emslandlagern wurden hierhin verlegt, um für die Organisation Todt Stellungen, Straßen und U-

777 Personalakte des Gefangenen H.C.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 922. 778 Bührmann-Peters, „Dort haben wir an und für sich gar nicht gemerkt, daß wir Gefangene waren“, S. 218ff. 779 Zu den Sonderkommandos vgl. Suhr, Emslandlager, S. 169ff; Peters, Aspekte des Arbeitseinsatzes, S. 12ff.; Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, S. 548f. 273

Boot-Unterstände zu bauen780 – Arbeiten, die, wie der Reichsjustizminister in einem Schreiben vom März 1945 feststellte, „ungleich schwerer waren, als der Vollzug in festen Anstalten des Reichsgebiets“781. Die erschwerten Haftbedingungen in den insgesamt acht Lagern dieses Einsatzkommandos hatten eine hohe Krankheitsquote und zahlreiche Todesfälle zur Folge782. Während der ersten anderthalb Jahre starben etwa 10 % der Häftlinge; in der darauffolgenden Zeit lag die Sterberate noch höher. Insgesamt überlebte fast die Hälfte der Gefangenen die Haftzeit im Lager „Nord“ nicht783. In Einzelfällen wurden nicht mehr einsatzfähige Gefangene in die Emslandlager zurückgeführt784.

Ebenfalls der Organisation Todt unterstand das Sonderkommando „West“, auch „Kommando X“, „Sondereinsatz X“ oder „Gruppe West“ genannt. In diesem Strafgefangenenlager wurden ab Oktober 1943 knapp 2.500 Gefangene aus den Emslandlagern zum Stellungs- und Festungsbau eingesetzt, bis sie mit dem Vorrücken der alliierten Truppen im September 1944 in das Lager Lendringsen in Westfalen überführt wurden. Auch in diesem Sonderkommando herrschten ungleich härtere Haftbedingungen als im übrigen Strafvollzug; allerdings waren die Einsatzbedingungen in der „Gruppe West“ schon aufgrund der besseren klimatischen Bedingungen deutlich weniger gefährlich als im Sonderkommando „Nord“.

Über die Kriterien, die bei der Auswahl der Gefangenen für die Sonderkommandos angewendet wurden, ist wenig bekannt785. Nur wenige Häftlinge meldeten sich freiwillig zu den Sondereinsätzen; einige taten dies in der Hoffnung, dort bessere Haftbedingungen vorzufinden786; andere glaubten, daß sich von einem Arbeitseinsatz außerhalb des Deutschen Reiches eine Flucht leichter realisieren

780 Franz W. Seidler: Fritz Todt. Baumeister des Dritten Reiches. München [u.a.] 1986, S. 233. 781 Schreiben des RJM an das OKW, 7.3.1945; BA R 22/4053, fol. 22. 782 Vgl. zu den Haftbedingungen im Lager „Nord“ den Bericht von Horst Schluckner: Sklaven am Eismeer. In: Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, hg. von Fietje Ausländer. Bremen 1990, S. 14-40. 783 Suhr, Emslandlager, S. 172. 784 Vgl. hierzu das Verzeichnis der nicht einsatzfähigen Strafgefangenen aus dem Lager „Nord“ und das Verzeichnis über die Rückführung von Gefangenen: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 612 sowie NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 778. 785 Die Angabe Suhrs (Suhr, Emslandlager, S. 170), wonach durch den Führererlaß vom 13.5.1942 verschiedene Häftlingsgruppen, darunter wegen „widernatürlicher Unzucht“ Verurteilte, von dem Einsatz im Strafgefangenenlager „Nord“ ausgeschlossen waren, läßt sich hier nicht bestätigen. In dem erwähnten Führererlaß ist von einem Ausschluß der bei Suhr bezeichneten Häftlingsgruppen nicht die Rede. Im Gegenteil wird darin, wie auch in verschiedenen Schreiben bezüglich des Gefangeneneinsatzes in Norwegen, auf die Dringlichkeit des Arbeitseinsatzes und den weiteren Bedarf an Arbeitskräften hingewiesen. Vgl. hierzu Führer- Erlaß vom 13.5.1942. Abgedruckt in: „Führer-Erlasse“ 1939-1945, Dok. 158, S. 249f. sowie Schreiben des Oberkommandos der Kriegsmarine an den Reichsarbeitsminister, 16.6.1942, betr. Arbeitskräfte für Bauarbeiten des Hafenbaues der Kriegsmarine in Bergen (Norwegen); BA R 42/171, fol. 235f. 786 Vgl. hierzu die Aussage des ehemaligen Gefangenen Paul Groß in NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 789, S. 95f. 274 ließe787. Mehrheitlich erfolgte die Zuteilung der Gefangenen in die Sonderkommandos jedoch durch das Bewachungspersonal; möglicherweise hatten auch die „Kommandierten“ Einfluß auf die Zusammensetzung der Kommandos. Die Zuweisung zum Kommando „Nord“ oder „West“ läßt dementsprechend Rückschlüsse auf eine eventuelle ungleiche Stellung einzelner Gefangenengruppen zu. In der quantitativen Auswertung wurden nur diejenigen Personen berücksichtigt, die sich in dem entsprechenden Zeitraum (nach dem 1. Januar 1942) noch in den Emslandlagern befanden, weil nur diese Gefangenen von der Einteilung zu einem Sonderkommando betroffen sein konnten. Nicht einbezogen wurden in diese Auswertung außerdem die politischen Gefangenen, da diese während der letzten Kriegsjahre nur einen sehr geringen Anteil an der Gesamtbelegung der Lager ausmachten. Das folgende Säulendiagramm zeigt die zahlenmäßige Verteilung der zu den Sonderkommandos eingeteilten Gefangenen:

Diagramm 7: Anteil der zu Sonderkommandos eingeteilten Emslandlagergefangenen

25,00%

20,00% West

15,00%

West 10,00% Nord

5,00% Nord

0,00% "Homosexuelle" "Kriminelle"

Es zeigt sich, daß homosexuelle Gefangene prozentual geringfügig seltener zu einem Sonderkommando eingeteilt wurden als Gefangene der Vergleichsgruppe. Insbesondere beim Sonderkommando „Nord“ lag der Anteil der homosexuellen Gefangenen mit 7 % deutlich unter dem Anteil der kriminellen Gefangenen (15 %). Dagegen waren nach §§ 175, 175a verurteilte Häftlinge im Sonderkommando „West“ stärker repräsentiert als wegen eines kriminellen Delikts Inhaftierte. Die Gründe für diese ungleiche Verteilung lassen sich nur schwer rekonstruieren: Möglicherweise traute man den als verweichlicht geltenden Homosexuellen den Einsatz unter den strapaziösen Bedingungen des Sonderkommandos „Nord“ nicht zu. Nach den Angaben von Elke Suhr wurde

787 Vgl. hierzu Schluckner, Sklaven am Eismeer, S. 19. 275 zudem erwogen, Gefangenen, die sich in Norwegen bewährten, anschließend Gelegenheit zur „Frontbewährung“ zu geben788. Da zumindest die als „Hangtäter“ geltenden Homosexuellen davon ausgeschlossen waren789, liegt hier eventuell ein weiterer Grund für deren geringen Anteil im Kommando „Nord“. Es ist nicht auszuschließen, daß auch das Trennungsprinzip bei der Einteilung der Gefangenen eine Rolle spielte: Homosexuelle wären demnach seltener einem Sonderkommando zugeteilt worden, da eine separierte Unterbringung während der Nacht nicht durchführbar war. Denkbar ist schließlich auch, daß homosexuelle Häftlinge bei den für die Einteilung zuständigen Instanzen (Lagerpersonal, Funktionsgefangene) ein höheres Ansehen besaßen als die Gefangenen der Vergleichsgruppe und deshalb häufiger vor einem Einsatz unter den gefahrvollen Arbeits- und Haftbedingungen in den Sonderkommandos bewahrt blieben. Nicht erklärt wäre hierdurch die unterschiedliche Repräsentanz von homosexuellen Gefangenen in den Sonderkommandos „Nord“ und „West“.

Die Auswertung des Arbeitseinsatzes der Emslandlagergefangenen in den Sonderkommandos liefert keinen Hinweis auf eine Schlechterstellung der homosexuellen Gefangenen. Die Ursachen für den vergleichsweise geringen Anteil dieser Gefangenengruppe im Lager „Nord“ lassen sich jedoch nicht mehr eindeutig rekonstruieren.

4.2.2.5. Die soziale Einschätzung der homosexuellen Inhaftierten durch die Mitinsassen

4.2.2.5.1. Solidarität und Widerstand

„Niemals in meiner bisherigen Kampfzeit hatte ich einer solchen verschworenen Gemeinschaft angehört wie hier im Börgermoor! Ein Genosse half dem anderen, wo er nur konnte. Das war ungeschriebenes Gesetz für jeden von uns. Fühlte sich zum Beispiel ein Genosse so elend, daß die Gefahr bestand, er würde sein Pensum nicht schaffen, dann richtete es einer von uns so ein, daß er im Graben neben dem kranken Kameraden arbeitete, um ihm zu helfen.“790

Zusammenschlüsse von Häftlingen und Maßnahmen zur gegenseitigen Unterstützung mit dem Ziel, die Haftsituation zu erleichtern, wie sie hier der politische Gefangene Erich Wiesner beschreibt, hat es auch in den Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern des „Dritten Reiches“ gegeben. Aktionen der Selbstbehauptung und Solidarität unter Gefangenen werden in der einschlägigen Literatur als eine Form des Widerstandes bezeichnet, da unter den Extrembedingungen der Haft

788 Suhr, Emslandlager, S. 170. 789 Vgl. Kapitel 4.1.6.7. 276

„jede Handlung zur Erhaltung der körperlichen und seelischen Lebensfähigkeit der Gefangenen Widerstand“ war791. Insbesondere von den politischen Gefangenen ist bekannt792, daß sie sich untereinander in vielen Vollzugsanstalten unterstützten793 und die Solidarität unter den Gefangenen generell stärkten794.

In den Emslandlagern herrschte eine ausgeprägte Solidarität unter den Gefangenen vor allem während der frühen Phase der Konzentrationslager. Während der ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft waren hier fast ausschließlich aus politischen Gründen Verfolgte inhaftiert. Viele Mitglieder der KPD kannten einander aus der Zeit vor der Inhaftierung oder verständigten sich schnell. In den Konzentrationslagern des Emslandes gelang es ihnen, eine illegale Organisation der Häftlinge aufzubauen, die den Belastungen des Lagerlebens entgegenwirken sollte: Ältere und schwächere Insassen wurden bei der Arbeit unterstützt, man sorgte für die gerechte Aufteilung der vorhandenen Nahrungsmittel, unterstützte Gefangene, die sich im Arrest befanden, und organisierte sogar politische und kulturelle Abende. Ausdruck der Solidarität war das Moorsoldatenlied, das später auch in vielen anderen Konzentrationslagern gesungen wurde795. Wie ein roter Faden durchzieht dementsprechend das Wort „Solidarität“ die Berichte ehemaliger Gefangener der Konzentrationslager im Emsland – „Kameradschaft“ und „eiserne Disziplin“ habe unter den Gefangenen des Lagers Esterwegen geherrscht796; Widerstand sei vor allem von politischen

790 Wiesner, Man nannte mich Ernst, S. 221. 791 Vgl. hierzu Suhr, Emslandlager, S. 144. Hermann Langbein faßt unter Widerstandsaktionen im Konzentrationslager alle „Bemühungen um eine organisierte Gegenwirkung gegen die Vernichtungstendenzen der SS“ zusammen; vgl. Hermann Langbein: ... nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frankfurt/M. 1980, S. 414. 792 Es ist wenig über die Organisation von Solidargemeinschaften durch kriminelle Häftlinge bekannt. Zu beachten ist allerdings, daß das „kollektive Gedächtnis“ auch der Erfahrungen in den NS-Vollzugsanstalten zum Großteil von den ehemaligen politischen Häftlingen getragen wird. Vgl. hierzu Lutz Niethammer: Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. Kommentierende Bemerkungen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 1046-1060, hier S. 1047. 793 Vgl. beispielsweise Deutschland-Berichte der Sopade 3 (1936), S. 1021; Deutschland-Berichte der Sopade 5 (1938), S. 876. 794 Johannes Berbig: Knast. Schatten und Gestalten einer Leidenszeit. Oberursel 1947, S. 125f. 795 Vgl. hierzu Werner Boldt: Die Emslandlager als Gegenstand historisch-politischer Bildung. In: Lager im Emsland 1933-1945. Geschichte und Gedenken, hg. von Elke Suhr und Werner Boldt. Oldenburg 1985, S. 45- 72, hier S. 51ff.; Langhoff, Moorsoldaten sowie Perk, Hölle im Moor, S. 11ff. Einen lebendigen Eindruck von der Solidarität der Emslandlagergefangenen in den frühen Konzentrationslagern liefert auch Willi Dickhut: „So war's damals...“. Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948. Stuttgart 1979 sowie das Manuskript „Frühe Feuertaufe“ von Heinz Junge über seine Haftzeit im KZ Börgermoor (NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 789). 796 Kempf, Erinnerungen, S. 24. 277

Gefangenen geleistet worden, aber die solidarische Gemeinschaft habe „Menschen vieler politischer Bekenntnisse und religiöser Auffassungen“ umfaßt797.

Für die Phase der Strafgefangenenlager ist der Erinnerungsliteratur kein einheitliches Bild der Solidarität unter den Gefangenen zu entnehmen. Während einige Überlebende erklären, in den Strafgefangenenlagern hätten schlimmste Verhältnisse geherrscht, da die offizielle „Häftlingsselbstverwaltung“ vollständig den „Kriminellen“ übertragen worden sei, die ihre Machtposition zum eigenen Vorteil ausgenutzt hätten798, kommt in den Aussagen anderer ehemaliger Gefangener zum Ausdruck, daß es durchaus zu Zusammenschlüssen von Gefangenen gekommen sei, in denen Solidarität gegenüber Mitgefangenen geübt wurde. In diese Solidarität seien auch „kriminelle“ Häftlinge einbezogen worden, die – sogar wenn sie von der Lagerleitung zur Bespitzelung der „Politischen“ eingesetzt worden waren – sich dem Gemeinschaftsgeist nicht entzogen hätten799.

Zu ähnlichen Ergebnissen kam auf einem internationalen Symposium über „Die Emslandlager in Vergangenheit und Gegenwart“ eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema „Leben und Überleben im Lager“ beschäftigte und hierzu ehemalige Häftlinge der Emslandlager einlud. Auch in diesem Kreis herrschte die Sichtweise der politischen Häftlinge vor. Diese betonten, daß anders als in vielen nationalsozialistischen Konzentrationslagern kein Kampf zwischen „Rot“ und „Grün“ stattgefunden habe800. Solidarität und Widerstand seien jedoch in den einzelnen Lagern im Emsland und während der verschiedenen Phasen unterschiedlich stark ausgeprägt gewesen. Spektakuläre Ausdrucksformen des Widerstandsgeistes der Gefangenen – wie z.B. eine von Häftlingen aufgeführte Zirkusveranstaltung801 – gab es in dieser Phase nicht mehr.

Unter dem Aspekt der Solidarität unter Gefangenen stellte das Lager Aschendorfermoor eine Besonderheit dar. Hierhin wurden ab 1937 in der Mehrzahl aus politischen Gründen Verfolgte verlegt, denen es gelang, eine Art Widerstandsorganisation zu errichten. Maßnahmen wie die Unterstützung von schwachen und kranken Gefangenen bei der Arbeit, die gerechte Aufteilung der Lebensmittel oder die Einrichtung eines Solidaritätsfonds für Gefangene, denen der Arbeitslohn gekürzt worden war, schufen einen solidarischen Zusammenhalt, in den auch aufgrund krimineller

797 Perk, Hölle im Moor, S. 59. 798 So zum Beispiel Willi Schroers, ehemaliger Strafgefangener im Lager Walchum, in einem Interview mit E. Suhr. Suhr, Emslandlager, S. 158. 799 Ebd., S. 157f. 800 Die Emslandlager in Vergangenheit und Gegenwart, S. 23f. 801 Vgl. hierzu z.B. Dickhut, „So war’s damals ...“, S. 198. 278

Delikte Inhaftierte einbezogen wurden. Von der Lagerleitung zur Bespitzelung eingesetzt, vermochten sie entweder nichts auszurichten oder unterstützten den Widerstand der politischen Gefangenen802.

Während der Kriegszeit kam es in den Emslandlagern zu keinem organisierten Widerstand mehr, und die sich stetig verschlechternden Lebensumstände trugen dazu bei, daß die Gefangenen nur noch an das eigene Überleben dachten. Solidarisches Verhalten sei allenfalls in kleinen Gruppen von drei bis fünf Gefangenen vorgekommen803.

Es wird deutlich, daß das Ausmaß von Widerstand und Solidarität in den Emslandlagern variierte. Die Aussagen über Mitmenschlichkeit und Kameradschaftssinn beziehen sich immer nur auf die Zustände in einem bestimmten Lager und auf eine bestimmte Zeit. Am größten waren der Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung der Häftlinge in der frühen Phase der Konzentrationslager und während der Zeit der Strafgefangenenlager im Lager Aschendorfermoor. Inwieweit Häftlinge, die aufgrund eines homosexuellen Straftatbestandes verurteilt waren, in solidarische Zusammenschlüsse eingebunden waren, läßt sich nur schwer rekonstruieren. Die Angaben, die der Erinnerungsliteratur über Solidarität und Widerstand zu entnehmen sind, bieten gewisse Anhaltspunkte: So beschreibt beispielsweise der nach § 175 verurteilte Hans Bielefeld, wie er im Zuchthaus Celle von Mitgefangenen einbezogen wurde, wenn eine Möglichkeit bestand, an zusätzliche Nahrungsmittel heranzukommen oder sogar von Mitgefangenen, die in sog. Freßkommandos beschäftigt waren, Lebensmittel erhielt804. Für die Strafgefangenenlager des Sonderkommandos „Nord“ beschreibt der ehemalige Gefangene Karl-Heinz Hoffmann die Solidarität insbesondere unter den politischen Häftlingen, in die jedoch auch zwei Homosexuelle eingeschlossen waren805. Zu den „kriminellen Gefangenen“ habe ansonsten eine große Distanz bestanden, denn, so Hoffmann: „Von den Kriminellen kam der größte Teil nicht mehr zurück, denn bei ihnen galt das Wolfsgesetz, Solidarität kannten sie nicht. Die Stärkeren lebten auf Kosten der Schwächeren, sie richteten sich gegenseitig zugrunde“806. Aus anderen Berichten ehemaliger Emslandlagerhäftlinge geht hervor, daß das Verhältnis zu den homosexuellen Gefangenen durchaus zwei Seiten hatte: In der literarischen Verarbeitung der Haftzeit in den emsländischen Konzentrationslagern beschreibt der Autor Valentin Schwan, wie im Konzentrationslager Esterwegen der Gefangene Ulli aufgrund seiner

802 Suhr, Emslandlager, S. 157ff. 803 Ebd., S. 167f. 804 Bielefeld, Durch das dunkelste Abendland, S. 52ff. 805 Hoffmann, Eismeer, S. 64f., S. 99. 806 Ebd., S. 97. 279

Homosexualität von den Wachleuten besonders gequält worden sei, jedoch von einigen Mitgefangenen vielfältige Unterstützung erfahren habe807. Ähnlich heißt es über das Verhältnis zu homosexuellen Gefangenen in der Phase der Strafgefangenenlager im Emsland bei Scheel:

„Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die wegen Homosexualität Verurteilten zu den menschlich saubersten Gestalten im Moor gehörten. Sie waren durch ihre Art, sich zu geben, leicht als solche erkennbar und auch häufig gebildeter, so daß man bei der gemeinsamen Arbeit einmal über etwas anderes reden konnte als über das Thema eins im Lager, über das Fressen. [...] An einem freundlichen Verhältnis zu den Homosexuellen lag mir um so mehr, als sie nicht nur von Justiz und Wachmannschaft ständig drangsaliert, sondern auch von vielen Mitgefangenen wie der letzte Dreck behandelt wurden.“808

Diskutiert wurde das Verhältnis zu den homosexuellen Gefangenen im Rahmen eines internationalen Symposiums über „Die Emslandlager in Vergangenheit und Gegenwart“, zu dem auch ehemalige Häftlinge aus den Emslandlagern eingeladen worden waren. Von den Überlebenden wurde das gute Verhältnis zu den Homosexuellen im Lager Aschendorfermoor betont809. Dort sei ein Hauptstützpunkt des Widerstandes die Bäckerei gewesen, wo ein Homosexueller beschäftigt war810. Auch der aufgrund seiner Homosexualität inhaftierte Gefangene Heinz Dörmer wurde von der Lagerleitung aus dem Lager Brual-Rhede nach Aschendorfermoor verlegt, um dort die politischen Häftlinge auszuspionieren, fügte sich jedoch schnell in die solidarische Gemeinschaft ein und nahm an von den politischen Gefangenen organisierten kulturellen Veranstaltungen teil811. In der Beschreibung seines Abschiedes von den Mitgefangenen bei seiner Entlassung aus den Emslandlagern wird die Kameradschaft, die er im Kreis der Lagerinsassen erfuhr, deutlich. Von diesen sei er angewiesen worden: „Dreh dich nicht um, geh strikt geradeaus und winke ja nicht! Sonst kommst du wieder!“812

Über die anderen Emslandlagern konnten auch im Rahmen des Symposiums keine Angaben zum Verhältnis zu den homosexuellen Inhaftierten gemacht werden. Suhr vermutet, daß die nachlassende Solidarität in den Emslandlagern bewirkte, daß die „Homosexuellen [...] zusammen mit den Kriminellen sich zu Herrschern im Lager aufschwangen und die anderen Gefangenen ausnutzten und unterdrückten“813. Sie leitet diese Annahme aus Berichten über homosexuelle Handlungen von

807 Valentin Schwan: Bis auf Weiteres. Darmstadt 1961, S. 389. 808 Scheel, Schranken des Reichskriegsgerichts, S. 363f. 809 Emslandlager in Vergangenheit und Gegenwart, S. 33. 810 Paul Langer in einem Interview mit Elke Suhr. Suhr, Emslandlager, S. 159. 811 „Und alles wegen der Jungs“, S. 76ff. 812 Ebd., S. 82. 813 Emslandlager in Vergangenheit und Gegenwart, S. 34. 280

Funktionsgefangenen mit den ihnen unterstehenden Häftlingen sowie generell aus den Angaben über die Ausnutzung von Machtpositionen durch kriminelle „Kommandierte“ in den späteren Phasen der Emslandlager ab.

Die Annahme Suhrs kann durch die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung nicht bestätigt werden. Zu vermuten ist, daß die soziale Einschätzung der homosexuellen Gefangenen durch ihre Mithäftlinge variierte und stark von der Persönlichkeit des einzelnen beeinflußt war. So nahm es auch der nach § 175 verurteilte ehemalige Emslandlagergefangene Paul Gerhard B. wahr. Auf die Frage nach den Kontakten zu anderen Häftlingen antwortete er in einem Interview:

„Es war ganz eigenartig. Die politischen Häftlinge, gleichgültig, ob es sich um Kommunisten, Sozialdemokraten oder bürgerliche Demokraten handelte, hielten sehr zusammen. Unter den kriminellen Häftlingen herrschte das Gesetz des Ellenbogens und der Faust. Ich habe oft gesehen, daß Gefangene sich untereinander schlugen. Wir 'Rosa-Winkel'- Häftlinge spielten da eine Sonderrolle. Wir achteten besonders darauf, uns nicht durch irgendwelche Kontakte verdächtig zu machen. So weiß ich noch, daß es vorkam, daß heterosexuelle Häftlinge sich gegenseitig sexuell befriedigten, wir homosexuellen aber aus Angst auf alle körperlichen Kontakte verzichteten. Es war nicht so, daß wir mit dem 'Rosa Winkel' im Lager der letzte Dreck waren. Aber wir waren ziemlich isoliert.“814

4.2.2.5.2. Das Anzeigeverhalten von Mitgefangenen bei Vergehen gegen die Lagerordnung durch homosexuelle Gefangene

Jeder Häftling war in den Emslandlagern dazu verpflichtet, Mitgefangene, die gegen die Lagerordnung verstießen, bei der Lagerleitung anzuzeigen. Die Anzeigen der Häftlinge sind in den Gefangenenpersonalakten dokumentiert; dabei wurden nicht nur der Inhalt der Meldung und die verhängte Strafe vermerkt, sondern auch die Aussagen sämtlicher Beteiligter protokolliert. Bei der Auswertung der dokumentierten Vorfälle ist die eingeschränkte Aussagekraft des Quellenmaterials zu berücksichtigen. Wie viele Vorfälle nicht angezeigt wurden, ist aus den Akten ebensowenig ersichtlich wie der tatsächliche Tathergang der beschriebenen Ereignisse. Die ausführliche Darstellung der Meldungen läßt jedoch Rückschlüsse auf die Haltung der Häftlinge gegenüber dem bzw. den Beschuldigten zu und liefert so einen Anhaltspunkt über das Verhältnis der Insassen gegenüber homosexuellen Inhaftierten.

814 Abgedruckt in: Schilling, Schwule und Faschismus, S. 63. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Gefangenen in den Emslandlagern keine Winkelabzeichen trugen. Bei der Bezeichnung „Rosa-Winkel- Häftlinge“ dürfte es sich um einen Erinnerungsfehler oder um eine Verwechslung mit einer späteren KZ-Haft handeln. 281

Eine besondere Stellung hinsichtlich der Meldung von Übertretungen nahmen die Funktionsgefangenen ein, zu deren Aufgabe es gehörte, für die Durchsetzung der Lagervorschriften zu sorgen. So meldete beispielsweise ein „Barackenältester“ zwei Gefangene der ihm unterstellten Baracke, nachdem er während einer Barackeninspektion bei diesen einen Dietrich sowie Zivilkleidung gefunden hatte und diese daraufhin ihre Fluchtabsichten zugaben815. Der Aspekt der Loyalität der Funktionshäftlinge gegenüber den ihnen unterstellten Gefangenen wird vor allem in der Erinnerungsliteratur vielfach kritisch behandelt. Wenn auch einzelnen „Kommandierten“ häufig zu Recht unterstellt wurde, daß sie ihre Stellung auf Kosten anderer Gefangener ausnutzten und sich bei der Lagerleitung beliebt machen wollten816, so gilt zu bedenken, daß diese häufig dadurch in eine Konfliktsituation gerieten, daß sie ihren Posten nur behalten konnten, wenn sie die Durchsetzung der Lagervorschriften in ihren Baracken gewährleisteten.

Von Mitgefangenen, die keinen Funktionsposten besetzten, wurden vor allem Vorfälle angezeigt, die deren eigene Interessen berührten: Im Lager Esterwegen klagte ein Strafgefangener einen anderen Häftling an, weil dieser sein Brot gestohlen habe. Einem anderen wurde die Arbeitshose entwendet und bei einem Außenarbeitskommando gegen Kautabak getauscht, und in einem weiteren Fall entwickelte sich wegen einiger aus der Küche geschmuggelter Rüben eine Prügelei unter den Gefangenen817.

Gelegentlich versuchten die Lageraufseher, Gefangene gezielt zur Bespitzelung und Kontrolle von Mithäftlingen einzusetzen. Im April 1940 wurde ein Häftling in Esterwegen vom Bewachungspersonal mit mehreren Paketen Tabak ausgestattet, die er gegen von den Gefangenen – verbotenerweise – zurückbehaltene Wertgegenstände (Goldkronen, Geld, Schmuck) eintauschen sollte. Als einige Häftlinge den „Goldaufkäufer Schäfers“818, wie sie ihn nannten, bei den Wachmannschaften vermutlich bewußt diskreditieren wollten, indem sie ihm unterstellten, einzelne Wertgegenstände nicht abgeliefert zu haben, wurde der Handel allgemein bekannt. Welches Ausmaß in einem derartigen Fall die Repressionen durch Mitgefangene annehmen konnten, kommt in der Aussage des angezeigten Gefangenen zum Ausdruck: „Die Verwaltung des Lagers III wird einsehen müssen, daß ein längerer Aufenthalt im hiesigen Lager unmöglich ist und bitte daher mich in ein anderes Lager verlegen zu wollen. Bis zu meiner Überführung bitte ich in Baracke 7 untergebracht

815 Arrest und Vernehmungen wegen Vergehen im Lager Esterwegen sowie Arrestantenlisten 1937-45. NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 816. 816 Vgl. zur Rolle der Funktionsgefangenen Kapitel 4.2.2.3.2. 817 Sämtliche Vorfälle in: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 816. 818 Schäfer war seit 1934 Kommandeur der Strafgefangenenlager im Emsland; zu Beginn des Jahres 1938 wurde er wegen eines Disziplinarverfahrens nur kurzzeitig vom Dienst suspendiert; vgl. Kapitel 4.2.1.7. 282 zu werden und mich nicht in größeren Kommandos zu beschäftigen.“819 Ähnlich verhielt es sich mit dem Gefangenen S.A. aus dem Lager Esterwegen, der im März 1944 in ein Bewährungsbataillon kam. In dem Führungsbericht des Lagervorstehers wird S.A. eine gute Führung bescheinigt und darauf hingewiesen, daß der Betroffene die Lagerleitung „in jeder Weise durchgreifend unterstützt“ habe. Weiter heißt es in dem Bericht:

„Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Haltung von einigen Mitgefangenen, die sich auch bei dem Transport befinden können, mißverstanden und nicht gebilligt wurde und dabei nach einer Gelegenheit zum Ausgleich suchen. Falls solches dort eintreten sollte, bitte ich A.[...] nach Möglichkeit zu unterstützen.“820

Die Bereitschaft zur Anzeige von Mitgefangenen bei der Lagerleitung wurde durch die Androhung von Repressionen beim Verschweigen dieser Vorfälle gefördert. Gleichzeitig mögen andere Beweggründe hinter diesem Verhalten gestanden haben – z.B. persönliche Feindseligkeiten oder auch das Ziel, Vergünstigungen für das Zeigen des von der Lagerleitung gewünschten Verhaltens zu erhalten. Eine Anschuldigung, die besonders gegen die nach §§ 175, 175a verurteilten Inhaftierten vorgebracht wurde, war die homosexuelle Betätigung von Gefangenen während der Haftzeit. Es gibt allerdings nur wenige Hinweise darauf, ob diese Anschuldigungen erfunden waren oder ob ihnen konkrete Handlungen zugrunde lagen, die – sei es aus Opportunismus oder aus Abscheu – den jeweiligen Lagerleitungen gemeldet wurden. Generell wurde das Vorhandensein von Homosexualität im Strafvollzug unterschiedlich eingeschätzt. So heißt es in den „Deutschland-Berichten“ der Sopade vom Mai 1938 über das Lager Aschendorfermoor: „Zur Zeit befinden sich im Lager alle möglichen Strafgefangenen [...]. Ein großer Teil sind auch Homosexuelle [...]. Eine Besserung dieser Leute in diesem Lager ist jedoch ausgeschlossen, im Gegenteil kann man direkt von einer Ausbreitung der männlichen Prostitution reden.“821 Der ehemalige Häftling P.G. berichtet über die homosexuelle Praxis im Lager Esterwegen: „Einzelne [Gefangene] verschwinden [nach dem Abendessen] mit ihrem Napf zur Küche. Sie haben hier einen guten 'Freund'. Gewöhnlich sind es die unter Männern als schön geltenden Gesichter. In der Nacht kommt dann die Bezahlung.“822 Dagegen erklärt ein ehemaliger politischer Häftling über seine Haftzeit im Zuchthaus Hameln und im Emslandlager Brual-Rhede, er könne sich „nur wundern, daß in den vielen Jahren, in denen [...] [er sich] gezwungenermaßen ausschließlich in Männergesellschaft befand, ganz und gar ohne irgend ein

819 NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 816. 820 Personalakte des Gefangenen S.A.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 139. 821 Deutschland-Berichte der Sopade 5 (1938), S. 875. 822 Vgl. hierzu die Aussage des ehemaligen Gefangenen Paul Groß in NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 789, S. 103. 283 weibliches Wesen, keine homosexuellen Annäherungsversuche stattfanden“823. Aus den Angaben heterosexueller Häftlinge geht häufig nicht hervor, ob die in der beschriebenen Weise handelnden Personen sich selbst als homosexuell definierten bzw. aus diesem Grund inhaftiert waren.

Wie bei allen Anzeigen von Häftlingen wurden auch bei Anschuldigungen wegen vermeintlicher homosexueller „Vergehen“ die beteiligten Personen sowie eventuell als Zeugen in Betracht kommende Gefangene (in diesem Fall Bettnachbarn etc.) zu den Anschuldigungen vernommen und deren Aussagen protokolliert. Bei der Beschreibung des Tathergangs fällt auf, daß sich den Angaben der Gefangenen zufolge die beschuldigten Personen in einigen Fällen – wenn man den Darstellungen Glauben schenken darf – in geradezu unvorsichtiger Weise anderen Häftlingen näherten: Der Gefangene S.T. beschuldigte den Gefangenen B.W., er habe mit ihm unzüchtige Handlungen vornehmen wollen. Dazu sei er mit ihm in das Vortragszimmer des katholischen Geistlichen gegangen, wo der den Kirchendienst versehende Gefangene hinter ihnen die Tür abgeschlossen habe. Dort habe B.W. versucht, S.T. zu umarmen und zu küssen, wogegen dieser sich gewehrt und die Angelegenheit gemeldet habe. Da der Vorfall nicht bewiesen werden konnte, wurden alle Beteiligten mit einem Monat Strafkompanie bestraft, weil sie sich unbefugt in dem Zimmer des Geistlichen versammelt hatten824. Der Vorwurf homosexueller Betätigung durch einen einzelnen Gefangenen reichte in diesem Fall nicht aus, um eine Bestrafung des Beschuldigten herbeizuführen.

In einem anderen Fall habe der Darstellung zufolge der nach § 175a verurteilte Strafgefangene P.S. mit einem anderen Häftling über unzüchtige Dinge gesprochen und ihn auch dazu verleiten wollen, mit ihm auf den Abort zu gehen. Von den anderen dazu vernommenen Strafgefangenen hatte niemand ein auffälliges Verhalten bemerkt825.

Eine schwerere Anschuldigung wurde gegen den im Lager Brual-Rhede inhaftierten Homosexuellen W.M. vorgebracht: Ein Strafgefangener beschuldigte diesen, während der Nacht bei ihm onaniert zu haben. Sämtliche in unmittelbarer Nähe untergebrachten Häftlinge wurden zu diesem Vorfall befragt. Zwar erklärten einige der Vernommenen, daß sie in der Nacht Geräusche und Unruhen wahrgenommen hätten, andere gaben jedoch an, nichts gehört zu haben, und einige vermuteten, daß W.M. als ehemaliger Nationalsozialist bei vielen Mitgefangenen, vor allem den politischen Häftlingen, unbeliebt gewesen sei und bewußt durch einen vorgespielten Vorfall denunziert werden sollte. Auch der protokollführende Wachmann äußerte Zweifel daran, daß die Tat stattgefunden

823 William C. Emker: Zwischen den Welten: Autobiographie des Antifaschisten Willy Eucker. Frankfurt/M. 1993, S. 40. 824 Beschrieben in der Personalakte des Gefangenen W.R.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15216. 825 Personalakte des Gefangenen P.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6787. 284 habe, da W.M. zu der Zeit ein Wiederaufnahmeverfahren betrieben habe. Da der Personalakte keine Strafentscheidung beigefügt ist, bleibt der Ausgang des Geschehens ungewiß826.

Auch dem Gefangenen M.H. wurde zur Last gelegt, „Zärtlichkeitsversuche“ und während der Nacht „Annäherungen unsittlicher Art“ unternommen zu haben. Den belastenden Aussagen von drei vermeintlichen Zeugen stand nur eine entlastende Erklärung des Mitgefangenen R.K. gegenüber, der von „Annäherungen unsittlicher Art“ nichts bemerkt haben wollte und darüber hinaus eine bewußte Verleumdung des Beschuldigten vermutete, da „von Mitgefangenen ein gewisser Haß gegen H. bestand, weil er auf der Arbeitsstelle als Anweiser tätig ist und die Leute zur Arbeit antrieb“827.

Es wird an diesen Fällen deutlich, daß die Lagerleitungen zwar Anschuldigungen bezüglich homosexueller Betätigung von Gefangenen keinesfalls als Bagatelle werteten, jedoch darauf aus waren, eine Straftat nachweisen zu können. Gleichzeitig ist erkennbar, daß der Vorwurf der homosexuellen Betätigung eine leichte Handhabe bot, einen unbeliebten Mitgefangenen zu diskreditieren, wobei die Abneigung gegen die beschuldigten Häftlinge in keinem der beiden Fälle aufgrund ihrer homosexuellen Veranlagung bestand.

In den bisher beschriebenen Fällen wurden homosexuelle Häftlinge durch Mitgefangene gemeldet, denen sie sich angeblich genähert hatten. Die anzeigenden Gefangenen fühlten sich gewissermaßen als Opfer oder stellten sich zumindest als solche dar. Durch die Anzeige riskierten sie zum Teil selber, mit einer Strafe belegt zu werden. Daneben kam es auch vor, daß derartige Anzeigen durch Unbeteiligte erfolgten: Im Lager Börgermoor wurden im Januar 1939 zwei Strafgefangene durch Mithäftlinge gemeldet, weil sie angeblich miteinander homosexuell verkehrten. Die Angeklagten stellten die Vorgänge als bloßen Scherz und Balgerei dar, und auch die Aussagen der Mitgefangenen konnten den Verdacht nicht bekräftigen. Es wurde daraufhin angeordnet, die beschuldigten Häftlinge in verschiedenen Baracken unterzubringen828 – auch hier wird die bereits beschriebene präventive Haltung der Lagerleitungen gegenüber homosexuellen Gefangenen deutlich: Die räumliche Trennung der jeweiligen Häftlinge sollte der Ausübung möglicher homosexueller Handlungen vorbeugen.

Konnte eine homosexuelle Handlung von Gefangenen durch die Lagerleitungen nicht nachgewiesen werden, blieb eine Bestrafung der Beschuldigten – zumindest offiziell – aus, oder es wurden Hausstrafen verhängt. Die Verhängung einer Hausstrafe in Form von Arrest oder Strafkompanie konnte für den Betroffenen bereits gravierende Folgen nach sich ziehen. Weitaus schärfere

826 Personalakte des Gefangenen W.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4671. 827 Aussage des Gefangenen R.K. In: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 816. 828 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14075. 285

Konsequenzen ergaben sich für einige Beschuldigte, bei denen zusätzlich zu den Hausstrafen ein Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft gestellt wurde: Im Lager Börgermoor wurde der Strafgefangene R.K. von einem Mithäftling bei der Lagerleitung angezeigt, weil er mehrmals versucht haben soll, einem anderen Häftling unter der Bettdecke an das Geschlechtsteil zu fassen – bei seiner Vernehmung gab der Beschuldigte die Vorfälle zu. Die Lagerleitung bestrafte den nach § 175a/3 Verurteilten mit 12 Wochen Strafkompanie und stellte außerdem Strafantrag sowie einen Antrag auf zwangsweise Kastration. Der Vorfall wurde im April 1938 vom Schöffengericht in Meppen verhandelt und mit einer zusätzlichen Gefängnisstrafe von neun Monaten geahndet; die sog. Entmannung wurde nicht angeordnet. Außerdem leitete die Lagerleitung in diesem Fall den Vorgang an die Kriminalpolizeileitstelle in Hamburg weiter, die in einem solchen Fall nach der Strafverbüßung mit hoher Wahrscheinlichkeit polizeiliche Vorbeugungshaft verhängt haben wird. Als für den Gefangenen R.K. ein Gnadengesuch bei der Staatsanwaltschaft eingereicht wurde, hieß es dementsprechend in einer Beurteilung des Vorstehers vom Lager Börgermoor: „Er hat auch während seines Hierseins versucht, andere Gefangene zu unsittlichem Treiben zu verleiten [...]. Restlose Verbüßung ist bei dem unverbesserlichen Menschen dringend geboten. Zur Befürwortung eines Gnadenerweises besteht nicht der geringste Anlaß.“829

In einem anderen Fall wurden zwei Gefangene im Jahr 1936 durch die Zentralverwaltung der Strafgefangenenlager dem Oberstaatsanwalt beim Landgericht in Osnabrück gemeldet, weil sie sich während der Haftzeit homosexuell betätigt haben sollten; dieser Vorfall wurde ebenfalls durch einen Mithäftling angezeigt, der auch als Zeuge auftrat. Das Gericht verurteilte einen der beiden Beschuldigten zu zwei Monaten Zuchthaus; der „verführte“ Partner M.W. blieb straffrei. Beide wurden außerdem vom Lagervorsteher mit 12 Wochen Strafkompanie bestraft830.

Die dargestellten Fälle zeigen, daß der Verdacht der homosexuellen Betätigung während der Haftzeit für die Beschuldigten unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Nicht jedes Verdachtsmoment wurde als Anlaß für schärfste Repressionen verwendet: In minder schweren Fällen wurden Hausstrafen verhängt, oder die Beschuldigten gingen sogar straffrei aus. Gravierende Folgen entstanden für den – mit welchen Mitteln auch immer – überführten Gefangenen im Fall der Einleitung eines weiteren Strafverfahrens, denn zusätzliche Gefängnis- oder Zuchthausstrafen bedeuteten für den Betroffenen neben der Verlängerung der Haftzeit auch eine erhöhte

829 Personalakte des Gefangenen R.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14824. 830 Personalakte der Gefangenen M.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 16608 und J.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1682. 286

Wahrscheinlichkeit, als „unverbesserlich“ eingestuft zu werden und im Anschluß an die Strafverbüßung in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen zu werden.

Ob ein Häftling als Homosexueller inhaftiert war, hatte bei der Ahndung homosexueller Vergehen während der Strafzeit keine nennenswerte Auswirkung auf die Höhe der Strafe. In dem oben beschriebenen Fall der Strafgefangenen J.F. und W.M. war nur J.F. mit einer Gefängnisstrafe belegt worden, obwohl er – im Gegensatz zu W.M. – nicht wegen eines homosexuellen Straftatbestandes in die Emslandlager gekommen war.

Die Auswertung zeigt, daß das Konzept der Lagerleitung, den „natürlichen Abscheu“ der Gefangenen gegenüber der Homosexualität dazu zu nutzen, sexuellen Kontakten der Häftlinge untereinander vorzubeugen, aufging: Tatsächlich wurden homosexuelle Gefangene wegen angeblicher sexueller Kontakte nicht nur von Mithäftlingen angezeigt, die sich als „Opfer“ fühlten, sondern auch beobachtende Zeugen zeigten Gefangene, die sich homosexuell betätigt haben sollen, bei der Lagerleitung an. Obwohl bekannt war, daß die Beschuldigten schärfste Repressionen zu erwarten hatten, wurde eine homosexuelle Betätigung durch Mitgefangene somit auch dann nicht toleriert, wenn diese selbst davon überhaupt nicht betroffen waren. Die protokollierten Zeugenaussagen liefern allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, daß homosexuelle Gefangene bewußt aus der Häftlingsgemeinschaft ausgeschlossen waren. In den meisten Fällen machten die als Zeugen befragten Personen keine die Beschuldigten belastenden Aussagen, sondern verhielten sich zum Großteil passiv und gaben an, nichts Auffälliges wahrgenommen zu haben.

Ungeklärt bleibt, mit welcher Intensität derartige Vorfälle – gemessen an ihrem Vorkommen – auf diese Weise öffentlich gemacht wurden, denn es kann weder rekonstruiert werden, ob den Anschuldigungen tatsächlich konkrete Handlungen zugrunde lagen, noch wie viele Vorfälle nicht gemeldet wurden. Zu vermuten ist, daß die Bereitschaft zur Denunziation in diesen Fällen aufgrund bestehender antihomosexueller Einstellungen relativ hoch war. Einen Anhaltspunkt zur Überprüfung dieser Vermutung liefert der Vergleich mit einem weiteren „opferlosen“ Denunziationsinhalt: den verbotenen politischen Äußerungen. Den Berichten überlebender Emslandlagerhäftlinge ist zu entnehmen, daß ehemalige KPD- und SPD-Angehörige, die wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt worden waren, entgegen den Verfügungen der Lagerleitungen ihre politischen Anschauungen zum Teil auch in der Häftlingsgemeinschaft vertraten831. In diesen Fällen handelte es sich ebenfalls um ein „opferloses Vergehen“, das jedoch eine leichte Handhabe bot, unbeliebte Mitgefangene bei der Lagerleitung zu verleumden. In den Gefangenenpersonalakten der wegen

831 Vgl. z.B. Emker, Zwischen den Welten, S. 47. 287

„Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilten Personen findet sich allerdings nicht eine einzige Anschuldigung eines Gefangenen wegen verbotener politischer Äußerungen. Ein ehemaliger Häftling des Lagers Esterwegen gibt in einem Interview an, daß viele verbotene politische Gespräche in den Lagern geführt worden seien. Die wegen eines kriminellen Delikts Inhaftierten seien jedoch der Aufforderung durch die Lagerleitung, die entsprechenden Häftlinge zu melden, nicht nachgekommen832.

Die unterschiedliche Bereitschaft zur Denunziation von „Vergehen“ durch Mitgefangene dürfte ihre Ursache darin haben, daß Unmutsäußerungen bezüglich des nationalsozialistischen Regimes weitgehend auf Zustimmung unter den Inhaftierten stießen. Die Strafbarkeit der Homosexualität auch in vornationalsozialistischer Zeit bewirkte dagegen, daß unter den Häftlingen ein Bewußtsein für den Unrechtscharakter der homosexuellen Betätigung von Gefangenen bestand. Antihomosexuelle Einstellungen dürften sich während der Haftzeit zum Teil sogar noch verstärkt haben, da – wie Kerstin Meier es für weibliche Konzentrationslagerhäftlinge nachweist – viele Häftlinge sich gerade in der Lagerwelt an ihre bürgerlichen Werte und bestimmte Moralvorstellungen klammerten, um „für sich das Gefühl zu haben, wenigstens ein Stück ihrer Menschlichkeit in dieser unmenschlichen Umgebung erhalten zu können833.

4.2.2.6. Die soziale Einschätzung der homosexuellen Inhaftierten durch das Aufsichtspersonal

Für das Haftschicksal eines Gefangenen war neben der sozialen Einschätzung durch Mitgefangene das Ansehen, das er bei den Wachleuten hatte, von großer Bedeutung. Zum einen hatte das Vollzugspersonal entscheidenden Anteil in bezug auf die Situation der Gefangenen in den Bereichen der Produktion und der Reproduktion des Lagerlebens. Zum anderen richteten sich Schikanen und Brutalitäten der Wachleute – wie sie im Zuständigkeitsbereich der Justiz insbesondere von den Emslandlagern überliefert sind – in unterschiedlichem Ausmaß gegen die Häftlinge. Zu fragen ist, ob und inwiefern die Behandlung der Gefangenen durch das Bewachungspersonal mit dem Verurteilungsgrund variierte.

832 Interview mit E. Walsken in Suhr, Emslandlager, S. 158. 833 Kerstin Meier: „Es war verpönt, aber das gab’s“ – Die Darstellung weiblicher Homosexualität in Autobiographien von weiblichen Überlebenden aus Ravensbrück und Auschwitz. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 22-33, hier S. 29. 288

Ebenso wie die soziale Einschätzung der Mitgefangenen läßt sich auch die Haltung des Vollzugspersonals gegenüber den Inhaftierten nur schwer rekonstruieren. Einen Anhaltspunkt liefern die in den Personalakten verhältnismäßig gut dokumentierten Anzeigen Gefangener durch das Bewachungspersonal bei Verstößen gegen die Lagerordnung. Daß Gefangene durch Angehörige des Bewachungspersonals wegen solcher – meist geringfügiger – Verstöße gemeldet wurden, war in den festen Vollzugsanstalten wie auch in den Strafgefangenenlagern nicht ungewöhnlich. Beschuldigungen, die Wachleute gegen Gefangene vorbrachten, wurden in den Personalakten auf dem Formblatt „Anzeigen und Hausstrafen“ notiert. Diese bürokratische Abhandlung der Fälle bedeutete in den meisten Fällen nicht, daß die Wachleute vermeintliche Vergehen nicht auch schon vorher nach eigenem Ermessen durch die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel bestraften.

Häufig wurden den Gefangenen ihre „mangelhafte Arbeitsleistung“834, „Faulheit und Frechheit“835 und die angebliche Nichtbeachtung von Anordnungen der Wachmannschaften836 vorgeworfen. Als Strafen für diese „Vergehen“ wurde der zeitweise Entzug der Mittagskost, eine Einkaufssperre von bis zu drei Monaten oder mehrtägiger Arrest verhängt. Ebenso wurden Häftlinge gemeldet, die Nahrungsmittel, Tabak oder Kleidung mit anderen Gefangenen tauschten; das sog. Portionenverschieben im Lager wurde mit mehrwöchigem Arrest bestraft837. Zahlreiche Meldungen erfolgten außerdem, weil Gefangene angeblich nicht sorgsam mit Lagereigentum (Kleidung, Arbeitsgerät, Eßgeschirr) umgingen838. In solchen Fällen mußten diese den entstandenen Schaden durch ihren ohnehin schon geringen Arbeitslohn ausgleichen.

Streng geahndet wurden außerdem Fluchtversuche839 sowie jegliche Handlungen, die auf Solidarität und Widerstandsgeist der Gefangenen hindeuteten – ein Häftling aus dem Emslandlager Walchum, der einem in der Strafkompanie befindlichen Gefangenen Tabak zugeschoben hatte, wurde mit vier

834 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 150; Personalakte des Gefangenen H.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4600; Personalakte des Gefangenen E.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/90; Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/54. 835 Personalakte des Gefangenen J.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4169; Personalakte des Gefangenen L.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15404. 836 Personalakte des Gefangenen G.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4640. 837 Personalakte des Gefangenen L.O.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5079; Personalakte des Gefangenen G.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1695; Personalakte des Gefangenen R.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4259. 838 Personalakte des Gefangenen K.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13486; Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13188. 839 Personalakte des Gefangenen J.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 386; Personalakte des Gefangenen H.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5210. 289

Wochen Entzug der Arbeitsentlohnung bestraft840, ein anderer, der neu eingelieferten Gefangenen Vorhängeschlösser für ihren Spind verschaffte, mußte für drei Tage in den Arrest841.

Hinweise darauf, daß einzelne Gefangene oder ganze Häftlingsgruppen von den Meldungen durch das Vollzugs- bzw. Lagerpersonal ausgenommen bzw. besonders betroffen waren, finden sich nicht. Überrepräsentationen der Anzeigen bei einzelnen Häftlingsgruppen sind nicht erkennbar. Auch scheinen die Arten der Strafen nicht mit dem Einlieferungsgrund zu variieren. Es bleibt zu bedenken, daß nicht gemeldete Vorfälle genauso wenig rekonstruiert werden können wie der tatsächliche Hergang der in den Akten geschilderten Vorgänge. Denkbar ist, daß einzelne Häftlinge ein höheres bzw. geringeres Ansehen bei den Wachleuten genossen und sich dies auch auf die Bereitschaft, Verstöße gegen die Lager- bzw. Hausordnung zu melden, auswirkte.

Einen anderen Zugang zur Rekonstruktion der sozialen Einschätzung der homosexuellen Inhaftierten durch das Bewachungspersonal bieten die zum Teil in den Gefangenenpersonalakten enthaltenen Angaben auf den Vordrucken „Bemerkungen über Person und Straftat“ sowie die für die Staatsanwaltschaft oder die Kriminalpolizei angefertigten Gefangenenbeurteilungen842. Zwar zeigt sich, daß in den Gefangenenbeurteilungen vielfach auf die Angaben über die Persönlichkeit des Angeklagten aus den Gerichtsurteilen zurückgegriffen wurde, es finden sich darin jedoch auch weiterführende, die Zeit des Strafvollzugs betreffende Einschätzungen des Vollzugspersonals.

Diese spiegeln ein breites Spektrum von Einschätzungen der Persönlichkeit und des Verhaltens homosexueller Gefangener durch die Wachleute wider. Positive Beurteilungen bezogen sich in erster Linie auf die von dem Gefangenen erbrachte Arbeitsleistung: Der Gefangene V.P. zeige sich „äußerst fleißig und gewissenhaft bei der Arbeit“, er schaffe „zur Zeit 15 Überstunden“, lautet beispielsweise die Beurteilung eines Häftlings aus dem Zuchthaus Hameln843. Im Fall des Gefangenen P.H. bewirkte der Leiter des Gefängnisses Lingen die Aussetzung des verbleibenden Strafrestes mit der Begründung: „Sein Verhalten in der Strafhaft ist tadelfrei, die ihm übertragenen Arbeiten verrichtet er willig und mit Fleiß“844. Ausdrücke wie „Fleiß“ und „gute Arbeitsleistungen“ finden sich in den Beurteilungen homosexueller Gefangener immer wieder. Wie schon in den Gerichtsurteilen treten auch in den Beurteilungen aus dem Strafvollzug soziale Verbundenheitsgefühle der

840 Personalakte des Gefangenen J.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4894. 841 Personalakte des Gefangenen G.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4640. Vgl. hierzu auch den noch erhalten gebliebenen Teil des Strafenbuchs aus dem Emslandlager Bathorn: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 1188 sowie die Arrestmeldungen für das Lager Esterwegen aus dem Jahr 1943: NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 817. 842 Vgl. hierzu Kapitel 4.2.2.7, 5.2.3. und 5.3.1.2. 843 Personalakte des Gefangenen V.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/15. 844 Personalakte des Gefangenen P.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13500. 290

Stellungnehmenden zum Teil deutlich hervor, so z.B. in einer Gefangenenbeurteilung aus dem Zuchthaus Hameln, in der es heißt, der Häftling habe sich „seiner Bildung und seinem Herkommen entsprechend tadellos geführt und fleißig gearbeitet“845. Positiv vermerkt wurde auch die Unterordnung unter die Anordnungen des Vollzugs- bzw. Lagerpersonals. Vielen homosexuellen Gefangenen wurde eine „einwandfreie Führung“ gegenüber den Wachleuten bescheinigt, und es wurde das Fügen unter „den Anstaltszwang“ herausgestellt846. Schließlich waren auch ein gepflegtes Auftreten sowie eine gute körperliche Konstitution Kriterien für eine positive Beurteilung eines Häftlings. So wird dem Gefangenen K.W. bescheinigt, er sei ein „starker, sauberer und fleißiger Mensch“. Weiter heißt es in der Beurteilung durch den Vorsteher des Lagers Aschendorfermoor: „Bei jeder Arbeit ist er hervorragend fleißig und zuverlässig. Er legt großen Wert auf gute Haltung und hält sich sauber und gepflegt. Nach seinem Auftreten fällt es schwer, in ihm einen Verbrecher zu sehen.“847

Negativ wurden in den Gefangenenbeurteilungen mangelnde oder „als nicht zufriedenstellend“ bezeichnete Arbeitsleistungen sowie eine schlechte Führung während des Strafvollzugs vermerkt848. Die Bewertung der Persönlichkeit des Häftlings orientierte sich dabei häufig an dessen Vorleben und insbesondere an der Höhe der Vorstrafen. So heißt es über einen bereits 17mal mit Freiheitsstrafe vorbestraften homosexuellen Gefangenen aus dem Zuchthaus Celle, dieser sei ein „halt- und hemmungsloser Asozialer, der völlig heruntergekommen und verlumpt“ sei849. Was die äußere Erscheinung des Beurteilten betrifft, so waren es immer wieder die feminin wirkenden Homosexuellen, die deutlich negativ beurteilt wurden: „Schlaffheit“, „Weichheit“ und „Schwäche“850 waren Eigenschaften, die nicht dem nationalsozialistischen Männlichkeitsideal entsprachen und deshalb zu negativen Einschätzungen führten. Keine Aussicht auf eine positive Beurteilung hatten schließlich diejenigen homosexuellen Gefangenen, deren vermeintliche „Haltlosigkeit“ dadurch zum Ausdruck kam, daß sie sich während der Haftzeit homosexuell betätigt haben sollen: Über den Gefangenen J.F. aus dem Zuchthaus Hameln heißt es in dessen Personalakte, er sei ein „haltloser Charakterschwächling, der sich auch während des Strafvollzuges nicht zusammennehmen konnte“851.

845 Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/115. 846 Personalakte des Gefangenen A.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13220. 847 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15161. 848 Personalakte des Gefangenen A.G.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 39/295. 849 Personalakte des Gefangenen E.N.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 39/337. 850 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen K.F.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/372; Personalakte des Gefangenen G.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13589. 851 Personalakte des Gefangenen J.F.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/188. 291

Außer diesen eindeutig positiven bzw. negativen Einschätzungen homosexueller Gefangener findet sich zu dieser Häftlingsgruppe eine Vielzahl von durchschnittlichen Beurteilungen, in denen den Betroffenen eine „ordentliche“852 oder eine „hausordnungsgemäße“853 bzw. „lagerordnungsgemäß[e]“854 Führung, die zu „besonderen Klagen keine Veranlassung gegeben“855 habe, bescheinigt wird. Wenn auch eine exakte quantitative Auswertung der Gefangenenbeurteilungen aufgrund des höchst subjektiven Bewertungsmaßstabes kaum möglich ist, so läßt sich zumindest überschlägig angeben, daß ca. 30 % aller in den Personalakten homosexueller Gefangener enthaltenen Beurteilungen eine deutlich negative Wertung der Persönlichkeit des Häftlings sowie seiner Führung während der Haftzeit offenbaren. In ca. 40-45 % aller Fälle wurde eine Beurteilung abgegeben, die als durchschnittlich bis positiv anzusehen ist. Ca. 20-25 % aller Homosexuellen wurden schließlich eindeutig positiv beurteilt. In den Vergleichsgruppen fielen die Beurteilungen durchschnittlich etwas schlechter aus: Von den kriminellen Gefangenen wurden ca. 45 % deutlich negativ bewertet, ca. 35-40 % wurde eine mittelmäßige bis gute Führung bescheinigt, und nur ca. 15-20 % der Häftlinge erhielten eine positive Beurteilung. Was die politischen Gefangenen betrifft, fällt auf, daß die Beurteilungen in den betrachteten Vollzugsanstalten schwankten: Während in den emsländischen Strafgefangenenlagern die Beurteilungen häufig sehr negativ ausfielen (ca. 35-40 %), wurde diesen Gefangenen in den Zuchthäusern Celle und Hameln sowie im Gefängnis Lingen überwiegend eine gute Führung während der Haftzeit sowie ein positiver Eindruck der Gesamtpersönlichkeit bescheinigt (ca. 50-55 %).

Die Kriterien, die bei der Beurteilung der Gefangenen eine Rolle spielten, waren weitgehend straftatbestandsunabhängig: Arbeitsleistung, Auftreten gegenüber dem Vollzugs- bzw. Lagerpersonal, äußeres Erscheinungsbild und der soziale Status waren dabei entscheidende Faktoren. Insbesondere bei der Bewertung von homosexuellen Häftlingen fällt auf, daß ein vermeintlich feminines Auftreten besonders negativ hervorgehoben wurde. Gemessen an den Gefangenenbeurteilungen der Vergleichsgruppen wurde das Verhalten der nach §§ 175, 175a verurteilten Häftlinge von den Wachleuten insgesamt überwiegend positiv wahrgenommen. Dieses Ergebnis spiegeln auch die wenigen Äußerungen von Vollzugsbeamten über das Verhalten homosexueller Gefangener wider: Über den nach § 175 verurteilten Häftling H.H. schreibt der Leiter des Zuchthauses Hameln in einer Beurteilung aus dem Jahr 1939: „Im Anstaltsleben führt er sich gut,

852 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen G.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12770. 853 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 41/209. 854 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2345. 855 Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/232. 292 wie Homosexuelle meist.“856 Ähnlich heißt es in einer Stellungnahme aus dem Lager Esterwegen: „Daß hier Gefangene einsitzen, welche wegen anormalen Verhaltens verurteilt sind, ist bekannt. Diese haben nach meinen bisherigen Beobachtungen nur das eine Interesse alles daran zu setzen, ihre Verfehlungen durch tadellose Haltung und Führung wieder gutzumachen, um wenn der Zeitpunkt dafür geeignet erscheint, auch mit einem Gnadenerweis zur Frontbewährung bedacht werden zu können.“857 Eine mögliche Erklärung für die vergleichsweise vielen positiven Beurteilungen homosexueller Inhaftierter durch das Wachpersonal liefert die Auswertung der Daten der Gefangenen unter Schichtungsgesichtspunkten der Emslandlagergefangenen: Nach §§ 175, 175a verurteilte Inhaftierte gehörten gemessen an der Gesamtbelegung der Lager überproportional häufig der Mittelschicht an und waren – darauf wurde bereits in Kapitel 4.2.2.1. hingewiesen – durchschnittlich seltener vorbestraft als andere Häftlinge858.

Eine weitere Möglichkeit zur Rekonstruktion der sozialen Einschätzung der homosexuellen Gefangenen durch das Vollzugs- bzw. Lagerpersonal bietet der Rückgriff auf die Erinnerungsliteratur, in der gelegentlich das Verhältnis einzelner Gefangenengruppen zu den Wachleuten thematisiert wird. In den Berichten Überlebender finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß insbesondere jüdische Gefangene in der Gefangenenhierarchie der Vollzugsanstalten einen niedrigen Status innehatten859. In den Emslandlagern waren es neben den wenigen jüdischen Häftlingen vor allem die politischen Gefangenen, die verstärkten Diskriminierungen durch die Wachmannschaften ausgesetzt waren: So beschreibt der ehemalige Strafgefangene Wilhelm Thiele aus dem Lager Oberlangen, wie die Arbeit im Moor

„noch durch eigenartige Spiele ergänzt [wurde], die die Wachmannschaften mit uns während der Arbeit trieben. Eine beliebte Frage war: 'Weshalb bist du eingesperrt?' Wehe dem, der darauf antwortete: 'Wegen Vorbereitung zum Hochverrat'. Er hatte die nächste halbe Stunde nichts zu lachen. [...] Besser war es tatsächlich, statt des Hochverrates ein kriminelles Delikt anzugeben. Die Wachleute kannten nicht jeden genau und begleiteten

856 Personalakte des Gefangenen H.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/314. 857 NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 816. 858 Carola von Bülow: Die Verfolgung von homosexuellen Männern im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland am Beispiel der Emslandlager. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland. Bremen 1999, S. 62-69, hier S. 66. 859 Vgl. hierzu Der Strafvollzug im III. Reich, S. 68. Franz Maier stellt darüber hinaus fest, daß sich auch in den Beurteilungen jüdischer Gefangener der Vollzugsanstalten im nördlichen Teil von Rheinland-Pfalz die deutlichsten negativen Ausfälle finden; vgl. Franz Maier: Strafvollzug im Gebiet des nördlichen Teiles von Rheinland-Pfalz im Dritten Reich. In: Justiz im Dritten Reich: Justizverwaltung, Rechtsprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, hg. vom Ministerium der Justiz Rheinland- Pfalz. Frankfurt/M. [u.a.] 1995, S. 853-1006, hier S. 937. 293

auch nicht jeden Tag denselben Arbeitstrupp. Man riskierte dabei allerdings, daß der Posten zufällig einmal dahinterkam, und dann waren die Folgen schlimm.“860

Die Repressionen gegen politische Gefangene setzten bereits bei der Aufnahme in eines der Emslandlager ein. Der politische Gefangene Heinz Schmidt beschreibt den Empfang durch die Wachleute in Börgermoor im Jahr 1935: „Politisch oder asozial?“ sei jeder Neuankömmling gefragt worden. „Ich war einer der ersten“, so Schmidt, „der hinausging, auf die an mich gerichtete Frage gab ich 'politisch' zur Antwort. Daraufhin packte mich der eine von Beiden im Genick und gab mir mit dem Fuß einen Stoß ins Kreuz, daß ich in hohem Bogen hinunter auf den Schotter flog. So passierte es jedem politischen.“861 Aus der Sicht eines nicht-politischen Gefangenen berichtet ein wegen eines kriminellen Delikts inhaftierter Gefangener ähnlich über die Aufnahmepraxis in den Emslandlagern: „Nach Einteilung durch die Beamten in politische oder kriminelle Gefangene und Sittenverbrecher wurden die politischen Gefangenen vor unseren Augen blutig geschlagen. Als Kriminelle erhielten wir nur verschiedene Schläge mit der Faust oder mit einem Knüppel.“862

Speziell zum Umgang mit Homosexuellen liefern die Berichte ehemaliger Häftlinge ein uneinheitliches Bild. Von homosexuellen Betroffenen liegen nur wenige Angaben über ihr Verhältnis zu den Wachmannschaften vor.

Ein nach § 175 verurteilter Häftling beschreibt seine Ankunft in Esterwegen folgendermaßen:

„Bei Ankunft Ende Juli in Esterwegen mehrmals hinlegen. Als ich auf Latrine saß, faßte mich ein breitschultriger dicker Beamter [...] bei meinem Schlips und sagte: 'Du bist auch einer von den moralisch Degenerierten.' Er schlug mich dabei mehrmals mit der Faust heftig ins Gesicht. [...] Als ich erstes Mal zur Arbeit ins Moor ging, nahm ich ½ Pfund Brot mit. Rückten 5.30 Uhr aus. Gegen 11 Uhr aß ich von meinem Brot. Beamter verbot es, schlug mich mehrmals mit der Faust ins Gesicht und mußte auf seinen Befehl Rest des Brotes im Moor vergraben.“863

Von schweren Mißhandlungen durch die Wachmannschaften berichtet auch der im Lager Brual- Rhede inhaftierte Homosexuelle R.S., dem im Krankenrevier folgendes widerfuhr:

„Der Revierwachtmeister Wilms fragte mich zunächst nach meinen Krankheitsbeschwerden und sagte darauf, ich müsse ins Revier zur Behandlung eingeliefert werden. Als Wilms dann bei einer Abschlussfrage den Grund meiner Bestrafung erfahren hatte, schlug er mich und warf mich zur Tür hinaus, ohne Revierbehandlung zu veranlassen.“

860 Thiele, Geschichten zur Geschichte, S. 129. 861 Heinz Schmidt in NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 789, S. 14f. 862 Bericht des Strafgefangenen S. über seine Haftzeit in den Emslandlagern. In: StA B 4.80-III, 149. 863 Ruth Gürntke; Jürgen Müller: „Ihr habt nur das, was ihr verdient.“ Homosexuelle in Arbeits- und Konzentrationslagern. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 120-128, hier S. 122. 294

Das Verhalten der Wachleute änderte sich gegenüber dem ehemaligen Standarten- und Bannführer in der HJ allerdings schlagartig, als dieser auf seine langjährige Mitgliedschaft in der NSDAP hinwies:

„Von der Zeit änderte sich die Behandlung. Mir wurde erklärt, ich solle von jetzt ab nicht mehr geschlagen werden, ich brauche auch nicht mehr so viel zu arbeiten wie die anderen, weil ich altes Parteimitglied gewesen sei. Ich wurde dann auch tatsächlich zum Vorarbeiter ernannt und habe seit der Zeit keinen Grund mehr zu Klagen gehabt.“864

In den Berichten nicht-homosexueller Überlebender wird das Verhalten des Vollzugs- bzw. Lagerpersonals gegenüber den nach §§ 175, 175a verurteilten Inhaftierten nur selten thematisiert. Der ehemalige Emslandlagergefangene Scheel gibt an, daß ihm an einem freundlichen Verhältnis zu den Homosexuellen sehr gelegen habe, da diese „von Justiz und Wachmannschaft ständig drangsaliert“ worden seien865. Zu bedenken ist, daß Mißhandlungen von Gefangenen in den Emslandlagern nach den Angaben aus der Erinnerungsliteratur vielfach vorkamen und von den Überlebenden vorrangig erinnert werden. Insofern verwundert es nicht, daß auch homosexuelle Gefangene von den Schikanen und Körperverletzungen durch das Wachpersonal berichten. Dem Einlieferungsgrund mag hierbei eine gewisse Bedeutung zugekommen sein – eine eindeutige Aussage über eine Schlechterstellung insbesondere der homosexuellen Gefangenen läßt sich nach der Durchsicht des Quellenmaterials insgesamt jedoch nicht treffen. Nach den Angaben, die der Erinnerungsliteratur zu entnehmen sind, waren in den Emslandlagern vor allem die politischen und die wenigen jüdischen Häftlinge zusätzlichen Diskriminierungen unterworfen. Hinweise auf eine Schlechterstellung finden sich vereinzelt, jedoch keineswegs in dem Umfang und der Eindeutigkeit wie bei den politischen und jüdischen Häftlingen. Chancen ergaben sich auch für homosexuelle Gefangene: durch biographische Merkmale, wie z.B. einer langjährigen Mitgliedschaft in der NSDAP, oder durch ein angepaßtes Verhalten während der Haftzeit. In den festen Vollzugsanstalten wurden homosexuelle Gefangene – insbesondere diejenigen, die nicht dem Bild des mehrfach vorbestraften „Berufs“- bzw. „Gewohnheitsverbrechers“ entsprachen – durch das Vollzugspersonal vergleichsweise positiv wahrgenommen.

4.2.2.7. Behandlung von Gnadensachen

Die Entscheidung in Gnadensachen war in einem Großteil der Fälle dem Reichsminister der Justiz übertragen. Das Gnadenrecht umfaßte die Befugnis, „rechtskräftig erkannte Strafen zu erlassen, zu

864 NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 636, fol. 102-104. 865 Scheel, Schranken des Reichskriegsgerichts, S. 364. 295 ermäßigen, umzuwandeln oder auszusetzen“ 866. Grundlage für Gnadenmaßnahmen in der Wehrmacht war die Gnadenordnung für die Wehrmacht vom 1. Juli 1938, die am 23. August 1939 durch die „Gnadenordnung für das Heer im Krieg und bei besonderem Einsatz“ den Besonderheiten des bevorstehenden Krieges gegen Polen angepaßt wurde. Das Gnadenrecht übten demnach grundsätzlich der „Führer“ Adolf Hitler sowie die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte aus, die dieses zum Teil an untergeordnete Befehlshaber delegieren konnten.

Am 21. Dezember 1940 verfügte Hitler, daß verurteilten Wehrmachtangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen nach Vollstreckung eines Teils der Strafe die Gelegenheit „zur Bewährung vor dem Feind“ gegeben werden sollte867. Durch die Verordnung vom 26. Januar 1942 wurden schließlich Gnadenmaßnahmen generell an die Bewährung868 im Kriegseinsatz gekoppelt869. Bereits im April 1941 wurde mit dem „Infanteriebataillon zur besonderen Verwendung 500“ die erste Einheit speziell für Bewährungssoldaten aufgestellt. Von zivilen Gerichten strafrechtlich verurteilte wehrunwürdige Gefangene wurden bei Erfüllung der formalen Voraussetzung in speziellen Wehrunwürdigen- Einheiten, insbesondere in der Bewährungstruppe 999, zusammengefaßt. Schätzungen, wie viele 999-Soldaten es gab, geben Zahlen zwischen 25.000 und 40.000 an; die Zahl der 500er Bewährungssoldaten wird mit etwa 82.000 angenommen. Die Bewährungseinheiten wurden zu sehr unterschiedlichen Einsatzformen herangezogen, sehr häufig waren dies besonders gefährliche Sonderaufgaben870.

Die Strafaussetzung zur Bewährung war an bestimmte Bedingungen geknüpft871. Was den Einsatz von nach §§ 175, 175a verurteilten Gefangenen in den Bewährungseinheiten betrifft, ähnelten die

866 Vgl. hierzu die Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen, 6.2.1935 (Gnadenordnung); BA R 22/1226, fol. 19-23. Ausnahmen betrafen a) Todesstrafen, b) Strafen wegen Hoch- und Landesverrats, c) Freiheitsstrafen gegen Wehrmachtangehörige von mehr als sechs Monaten Dauer sowie d) Strafen, bei denen „der Führer und Reichskanzler den Vorbehalt allgemein oder im Einzelfall ausgesprochen hat“. In diesen Fällen war Hitler die Ausübung des Gnadenrechts persönlich übertragen. 867 Erlaß des Führers zur Aussetzung der Strafvollstreckung zum Zwecke der Bewährung, 21.12.1940. Abgedruckt in: „Führer-Erlasse“ 1939-1945, Dok. 68, S. 156. 868 Zur Verwendung des Begriffs „Bewährung“ vgl. Fritz Wüllner; Fietje Ausländer: Aussonderung und Ausmerzung im Dienste der „Manneszucht“. Militärjustiz unter dem Hakenkreuz. In: Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, hg. von Fietje Ausländer. Bremen 1990, S. 65- 89, hier S. 82f. 869 Erlaß des Führers über Gnadenmaßnahmen bei hervorragender Bewährung während des Krieges, 26.1.1942. Abgedruckt in: „Führer-Erlasse“ 1939-1945, Dok. 142, S. 233f. 870 Wüllner; Ausländer, Aussonderung und Ausmerzung, S. 85; Hans-Peter Klausch: „Wehrunwürdige“, die Bewährungsbataillone 999 und das Problem der Desertion als eine Form des antifaschistischen Widerstandes. In: Verräter oder Vorbilder?, S. 157-179, hier S. 170f.; Seidler, Militärgerichtsbarkeit, S. 73 sowie Hans-Peter Klausch: Die Bewährungstruppe 500. Stellung und Funktion der Bewährungstruppe 500 im System von NS- Wehrrecht, NS-Militärjustiz und Wehrmachtstrafvollzug. Bremen 1995. 871 Vgl. hierzu ebd., S. 59. 296

Bestimmungen für zivilrechtlich Verurteilte denen für wehrmachtgerichtlich Verurteilte. Zwar hatte Hitler noch im August 1942 erklärt: „Wer wegen widernatürlicher Unzucht, sei es auch im Vollrausch, verurteilt ist, darf niemals Bewährung vor dem Feinde und Rehabilitierung erhalten“872, und auch in einem Rundschreiben Martin Bormanns vom 9. Dezember 1942 heißt es, den „Einsatz der Wehrunwürdigen in der Wehrmacht“ betreffend: „Der Kreis der einzuberufenen Wehrunwürdigen ist eng gezogen. Es kommen nur solche mit geringen Strafen in Frage, die wegen gleicher oder ähnlicher Taten nicht erheblich vorbestraft sind oder deren Tat eine einmalige Entgleisung darstellt. Ausgenommen von einer Einbeziehung zum Wehrdienst bleiben solche Personen, die u.a. wegen widernatürlicher Unzucht, Landesverrat usw. bestraft worden sind [...]“873. Entsprechende Durchführungsverordnungen schlossen nach §§ 175, 175a verurteilte Gefangene von dem Einsatz in den Bewährungstruppen aus874. Entgegen diesen Beteuerungen wurde in den späteren Verordnungen jedoch sowohl wehrmachtgerichtlich als auch zivilrechtlich verurteilten Homosexuellen die Möglichkeit der „Bewährung vor dem Feind“ gegeben, wenn die Annahme berechtigt erschien, daß es sich nicht um sog. Hangtäter875 handelte876. Die Einberufungspraxis wich zudem häufig von den offiziellen Regelungen ab, zumal in den letzten Kriegsjahren aufgrund der hohen Gefallenenzahlen immer mehr Bedarf auch an Mitgliedern von Bewährungseinheiten bestand877.

872 Zit. nach Franz Seidler: Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Sanitätsführung 1939-1945. Neckargemünd 1977, S. 212. 873 Rundschreiben Nr. 61/42 des Leiters der Reichskanzlei, 9.12.1942, betr. Einsatz der Wehrunwürdigen in der Wehrmacht. Abgedruckt in: Klausch, „Wehrunwürdige“, S. 160f. 874 Vgl. Geheimkommandosache des OKW, betr. Aufstellung der Afrika Brigade 999 aus ehemaligen Wehrunwürdigen, 2.10.1942; BA R 22/5015, fol. 64-65; Geheime Kommandosache des OKW, betr. Aufstellung einer weiteren Brigade aus Wehrunwürdigen, 13.1.1943; ebd., fol. 110-111 sowie Seidler, Militärgerichtsbarkeit, S. 60. 875 Vgl. zum Begriff der „Hangtäterschaft“ die Richtlinien für die Behandlung von Strafsachen wegen widernatürlicher Unzucht (§§ 175, 175a und 330a RStGB), 19.5.1943; BA R 22/5015, fol. 138-139; vgl. auch Kapitel 4.1.6.7. 876 Vgl. hierzu die Angaben über die Verordnung zur Durchführung des Führererlasses über die Aufstellung einer Bewährungstruppe, 18.7.1944 bei Seidler, Militärgerichtsbarkeit, S. 61f. sowie zu den zivilgerichtlich Verurteilten: Geheime Kommandosache des OKW, betr. Heranziehung von zivilgerichtlich verurteilten Wehrunwürdigen zum Wehrdienst, 20.8.1943; BA R 22/5015, fol. 143-144. Nach einem Vorschlag des Hauptamtes SS-Gericht vom 14.9.1943 sollten wegen „widernatürlicher Unzucht“ verurteilte ehemalige SS- Mitglieder, bei denen „eine Rückfälligkeit zwar nicht mit Sicherheit, aber doch mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann“, dem Sonderkommando Dirlewanger zugewiesen werden. Vgl. hierzu Schreiben des Hauptamtes SS-Gericht an den SS-Richter beim Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei SS- Obersturmbannführer Bender, 14.9.1943, betr. Zuweisung wegen widernatürlicher Unzucht Verurteilter zum SS- Sonderkommando Dirlewanger. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 58, S. 227f. Generell waren Homosexuelle von einem Einsatz in dem berüchtigten Sonderkommando Dirlewanger jedoch ausgeschlossen. Vgl. hierzu Hellmuth Auerbach: Konzentrationslagerhäftlinge im Fronteinsatz. In: Miscellanea. Festschrift für Helmut Krausnick. München 1980, S. 63-83, hier S. 65. 877 Klausch, „Wehrunwürdige“, S. 163f. 297

Ein Gnadengesuch konnte von dem Gefangenen selbst oder einem seiner Angehörigen eingereicht werden, oder es wurde von den Vollzugsbehörden eine Anfrage zum Zweck der Strafaussetzung zur „Frontbewährung“ gestellt. Da eine Begnadigung für die Gefangenen – abgesehen von Flucht – die einzige Möglichkeit darstellte, die Zeit des Strafvollzugs zu verkürzen, wurde von der Möglichkeit, einen Gnadenantrag zu stellen, von der Mehrzahl der Inhaftierten Gebrauch gemacht. Auch nachdem seit 1942 Strafen in der Regel nur noch zur Bewährung ausgesetzt wurden, nutzten viele Inhaftierte die Möglichkeit, einen Gnadenantrag zum Zweck der „Frontbewährung“ zu stellen, obwohl sie von der Gefährlichkeit des Einsatzes in den Bewährungseinheiten wußten. Bei vielen stand hinter diesem Handeln der Wunsch, als Soldat wieder eine angemessene Stellung in der Gesellschaft zu erlangen, andere hofften vermutlich, in der Wehrmacht eine erträglichere Situation als im Strafvollzug vorzufinden.

Im weiteren Verlauf des Gnadenvorgangs wurde von den Vollzugsinstanzen ein Führungsbericht sowie im Fall einer Strafaussetzung zur „Frontbewährung“ zusätzlich eine Feststellung des Tauglichkeitsgrades eingeholt878. Die gutachterliche Äußerung der Vollzugsanstalt sollte sich an den in § 21 der Gnadenordnung vom 6. Februar 1935 aufgestellten Richtlinien orientieren. Demnach konnte eine Aussetzung der Strafvollstreckung „nur gewährt werden, wenn die begangene Verfehlung nicht durch Verdorbenheit und verbrecherische Neigung, sondern durch Leichtsinn, Unerfahrenheit, Verführung oder Not veranlaßt worden ist“. Von dieser Regelung abzuweichen war nur dann möglich, wenn eine begründete Annahme vorlag, „daß der Verurteilte, wenn er eine Zeit lang den Ernst des Strafvollzuges verspürt hat, sich der in Aussicht genommenen Vergünstigung würdig zeigen und in Zukunft straffrei führen wird“879. Die Befürwortung eines Gnadengesuchs sollte der Anstalts- bzw. Lagervorsteher nicht nur von einer äußerlich guten Führung im Vollzug abhängig machen, sondern es mußte weitestgehend sichergestellt sein, daß der Strafzweck erfüllt war und daß für den Betroffenen Unterkunfts- und Arbeitsmöglichkeiten im Fall der Freilassung vorhanden waren880. Bei Homosexuellen war für die Prüfung der Frage, ob ein Gnadenerweis angebracht sei, auch die „Tatsache, daß der Verurteilte sich freiwillig hat entmannen lassen, um nicht wieder straffällig zu werden, gebührend zu berücksichtigen“881. Hinsichtlich der Führung im

878 Geschäftsgang eines Gnadenvorganges; NdS StA OS, Rep 947, Lin I, 726, fol. 262-263. 879 § 21 der Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen, 6.2.1935 (Gnadenordnung); BA R 22/1226, fol. 19-23, hier fol. 21. 880 Otto Weissenrieder: Zur Einordnung des Strafvollzugs in das deutsche Recht. In: BlfGefk 67 (1936), S. 133-141, hier S. 139f. 881 Freiwillige Entmannungen. RdErl. d. RuPrMdI u. d. RJM v. 23.1.1936, S. 257f. 298

Strafvollzug sollten insbesondere die Arbeitsleistungen eines Inhaftierten in die Beurteilung einbezogen werden882.

In der Praxis wurden in den Gutachten vor allem Führung, soldatische Haltung, Arbeitsleistung sowie Sauberkeit und Charakter des Gefangenen beleuchtet. Negativ wurden immer wieder fehlende Reue und Einsicht, Willensschwäche sowie ein vermeintlich schlappes, unmilitärisches Wesen angemerkt. Letzteres wurde denjenigen homosexuellen Inhaftierten, die nicht dem vorherrschenden Männlichkeitsideal entsprachen, vorgeworfen. Entsprechend den in der Gnadenordnung aufgestellten Richtlinien wurden auch Angaben über die Art der Straftat sowie über Vorleben und Vorstrafen des Verurteilten in die Gutachten einbezogen. Vielfach wurden den betroffenen Inhaftierten zwar eine einwandfreie Führung und gute Arbeitsleistungen attestiert, ein Gnadenantrag jedoch mit dem Hinweis auf die Art und Schwere der Straftat und die Zahl der Vorstrafen abgelehnt. Die folgende Beurteilung des im Gefängnis Lingen Inhaftierten E.K. aus dem Jahr 1935 steht beispielhaft für viele andere: „Sein Verhalten im Strafhause ist gut. K.[...] sieht ein, daß er schwer gefehlt hat, er vermeidet es irgendwie hervorzutreten. [...] Wegen der Schwere der Straftaten ist es mir nicht möglich[,] den beantragten Gnadenerweis zu befürworten.“883

Breiten Raum nahm in der Regel die Abschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit ein. Hierbei war neben der Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit und der vermeintlichen inneren Haltung des Gefangenen besonders dessen Bindung an die – im Fall der Homosexuellen häufig elterliche – Familie sowie die berufliche Situation bei einer möglichen Entlassung von Bedeutung. Im Fall des wegen Diebstahls und „widernatürlicher Unzucht“ verurteilten Gefangenen G.H. heißt es z.B.:

„H.[...] ist zu einem Gewohnheitsverbrecher herabgesunken. [...] Eine innere Umstellung, die ein künftiges Wohlverhalten versprechen könnte, ist bei ihm aber noch nicht erfolgt. H.[...] ist ein hemmungsloser, haltloser Dieb und Betrüger, der einmal auf die Bahn des Verbrechers getrieben ist und jetzt immer wieder rückfällig werden wird. Er ist geschieden, ohne Familienbindung und hat auch an seiner Mutter bisher keinen Halt gehabt. H.[...] wird zweifellos nach seiner Entlassung bald wieder rückfällig werden.“884

Zudem wird an der Einschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit durch die Anstalts- bzw. Lagerleitungen deutlich, daß von diesen vielfach an dem Konzept der „Umerziehung“ Homosexueller durch die Anwendung der Freiheitsstrafe gezweifelt wurde. Den meisten Strafvollzugspraktikern war bewußt, daß Homosexualität eine Veranlagung darstellte, die durch Strafe nicht geändert, sondern allenfalls unterdrückt werden konnte. Der Sinn der Strafe wurde dementsprechend in ihrer

882 Schreiben des RJM an die Generalstaatsanwälte, 14.4.1938, betr. Berücksichtigung der Arbeitsleistung in Gnadenverfahren; BA R 22/1226, fol. 129. 883 Personalakte des Gefangenen E.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12605. 299 abschreckenden Wirkung bzw. in der Festigung der in den Gutachten immer wieder angeführten sog. Willenskraft gesehen, die die Betroffenen in Zukunft von der Ausübung ihrer sexuellen Neigung abhalten sollte. Vor diesem Hintergrund wurde jeweils auch die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls beurteilt. So wird z.B. in dem Gutachten über den Gefangenen K.M. angegeben: „Seine widernatürliche Veranlagung hat die Strafhaft naturgemäß nicht zu ändern vermocht. Er kann trotzdem als besserungsfähig bezeichnet werden, da die Möglichkeit besteht, daß er die Willenskraft aufzubringen vermag, sich vor homosexuellen Ausschreitungen zu hüten.“885 Dagegen wurde im Fall des Häftlings R.L. an dessen „Willenskraft“ gezweifelt. Der Vorsteher des Zuchthauses Hameln nahm zu der Frage der Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls wie folgt Stellung:

„L.[...] hat sich während seiner Strafverbüßung hausordnungsgemäß geführt und zufriedenstellend gearbeitet. Seine widernatürliche Veranlagung hat die Haft naturgemäß nicht ändern können. Ob die abschreckende Wirkung der Strafe groß genug ist, ihn vor einem Rückfalle zu bewahren, läßt sich nicht erkennen.“886

Deutlich wird, daß das Aufbringen dieser Willenskraft zur Unterdrückung ihrer sexuellen Neigung im Fall der Entlassung insbesondere denjenigen homosexuellen Inhaftierten zugetraut wurde, die ihre Homosexualität nicht abstritten, sondern ihre sexuelle Neigung offen einstanden und dabei den Eindruck vermittelten, sich der daraus resultierenden vermeintlichen Gefahren bewußt zu sein. So heißt es in der Beurteilung des in Hameln Inhaftierten O.R.:

„R.[...] hat sich während seiner Strafhaft hausordnungsgemäß geführt und zufriedenstellend gearbeitet. Er ist vollkommen ehrlich, gibt seine angeborene homosexuelle Veranlagung unumwunden zu und kennt ihre Gefahren. Ein Rückfall ist infolge dieser Einstellung allem Anscheine nach nicht zu erwarten.“887

Dagegen traute man insbesondere den effeminierten Homosexuellen nicht zu, daß sie die Kraft aufbringen würden, sich straffrei zu halten. Über den Häftling G.B. schrieb der Vorsteher des Zuchthauses Hameln:

„Man wird ihm den guten Willen nicht absprechen können, aber ich glaube nicht, daß er die Kraft aufbringen wird, seinen Willen in die Tat umzusetzen. Rein äußerlich macht er einen weichlichen[,] schlaffen Eindruck. Die Strafverbüßung wird ihm eine ernste Warnung sein. Ob die Warnung nachhaltig genug ist, wird die Zukunft zeigen.“888

884 Personalakte des Gefangenen G.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/216. 885 Personalakte des Gefangenen K.M.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/333. 886 Personalakte des Gefangenen R.L.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/217. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen L.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/299. 887 Personalakte des Gefangenen O.R.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/79. 888 Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/90. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen K.H.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/162. 300

Ähnlich beurteilte man die Rückfallwahrscheinlichkeit des Gefangenen H.S., über den es heißt: „Die Frage, ob er die Kraft aufbringen wird, seinen dunklen Trieben zu widerstehen, wird man verneinen müssen. Dem weichlichen Gefangenen kann nur durch restlose Verbüßung der Strafe der Ernst seiner Lage zum Bewußtsein gebracht werden.“889

Immer wieder wurde bei der Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit auf den erforderlichen „Schutz der Volksgemeinschaft“ hingewiesen, denn nach nationalsozialistischer Auffassung – so hatte es der Strafrechtswissenschaftler Franz Exner bereits im Jahr 1933 formuliert – stellte „eine sogenannte Gnade gegenüber dem Individuum [...] [eine] Ungnade gegenüber der Gemeinschaft“890 dar. So wird beispielsweise in der Beurteilung des Gefangenen R.M angeführt, daß „auch die Volksgemeinschaft darauf [...] Anspruch [habe], möglichst lange vor diesem Volksschädling geschützt zu sein“891. Neben dem Schutzgedanken fand vielfach der Sühnegedanke Erwähnung in den Beurteilungen892.

In einzelnen Fällen finden sich in den ablehnenden Gutachten Hinweise, die eine deutliche Übernahme der auf propagandistischer Ebene geäußerten Ziele der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung erkennen lassen. So heißt es in der Beurteilung eines homosexuellen Inhaftierten durch den Vorsteher des Gefängnisses Lingen vom 22.1.1938: „Sein bisheriges Verhalten in der Strafhaft war ordentlich. Zur Bekämpfung der Homosexualität ist die restlose Verbüßung der erkannten Strafen notwendig.“893 Ähnlich wurde im Dezember 1936 in dem Gutachten über einen im Lager Walchum Inhaftierten festgehalten:

„Die Gesunderhaltung des deutschen Volkes erfordert gebieterisch die rücksichtslose Anwendung der vollen Schärfe des Gesetzes gegen derartige Verbrechen, deren starkes Umsichgreifen auch nur so wirksam bekämpft werden kann. Ich spreche mich daher für die restlose Verbüßung der verhängten Strafe aus und befürworte einen Gnadenerweis nicht.“894

Attribute wie „verwerflich“895, „widerlich“896, „pervers“897 und „verabscheuenswürdig“898 zur Charakterisierung der Straftat zeigen zudem in vielen Gutachten eine deutlich von Abscheu geprägte

889 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/54. 890 Exner, System der sichernden und bessernden Maßregeln, S. 647. 891 Personalakte des Gefangenen R.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14940. 892 Personalakte des Gefangenen J.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14569. 893 Personalakte des Gefangenen G.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12770. 894 Personalakte des Gefangenen G.Z.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7972. 895 Personalakte des Gefangenen W.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2981; Personalakte des Gefangenen O.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6152; Personalakte des Gefangenen A.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5371. 896 Personalakte des Gefangenen E.D.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 1088. 301

Einstellung gegenüber der Homosexualität und verringerten die Chancen eines Gnadenerweises bereits im Vorfeld der Entscheidung.

Die ablehnenden Stellungnahmen überwogen in den von den Anstalts- und Lagervorstehern abgegebenen Gnadengutachten – dies allerdings nicht nur im Fall der nach §§ 175, 175a verurteilten Inhaftierten. Neben einer Vielzahl von Fällen, in denen ein Gutachten als verfrüht eingestuft wurde899, wurden jedoch auch einen Gnadenantrag eindeutig unterstützende Beurteilungen abgegeben. Bedingung hierfür waren neben einer geringen Zahl an Vorstrafen900 eine nach Einschätzung der Vollzugsbeamten gute Führung im Strafvollzug sowie ein erkennbarer Besserungswille. So heißt es beispielsweise in einer Stellungnahme zu einem Gnadenantrag eines homosexuellen Inhaftierten aus dem Jahr 1938: „Sein Verhalten in der Strafhaft ist tadelfrei, die ihm übertragenen Arbeiten verrichtet er willig und mit Fleiß. Aus erziehlichen Gründen befürworte ich die bedingte Aussetzung des letzten Strafmonats.“901 Ähnlich äußert sich der Vorsteher des Gefängnisses Lingen über einen möglichen Gnadenerweis gegenüber dem nach §§ 175, 176 verurteilten Gefangenen A.K.:

„Sein Verhalten in der Strafhaft ist tadellos. Mit bestem Willen und Einsicht fügt er sich dem Anstaltszwange und bemüht sich mit Erfolg zu innerer Reife und Selbstbeherrschung zu gelangen. Nach dem persönlichen Eindruck kann angenommen werden, daß er auch nach der Entlassung sich mit ganzer Kraft darauf einstellt, daß er nicht mehr strauchelt.“902

Positiv wirkte es sich in der Regel auf das Gutachten aus, wenn ein nach §§ 175, 175a verurteilter Häftling nicht den gängigen Vorstellungen des unverheirateten, effeminierten Homosexuellen entsprach, wie z.B. im Fall des Gefangenen K.W., der für zwei uneheliche Kinder Unterhaltszahlungen leistete und über den es im Gutachten aus dem Lager Börgermoor heißt:

„Nach den hiesigen Erfahrungen und Beobachtungen kann er nicht als unverbesserlicher Homosexueller angesehen werden. [...] Daß er für 2 uneheliche Kinder Alimente zahlen muß, beweist, daß ein wesentliches Merkmal des typischen Homosexuellen nicht gegeben ist. In beiden Fällen wollte er die von ihm geschwängerten Mädchen heiraten, was in einem

897 Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/10; Personalakte des Gefangenen J.O.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/222. 898 Personalakte des Gefangenen A.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5050. 899 So heißt es z.B. in einer Stellungnahme aus dem Jahr 1941 über den Gefangenen G.V., es sei „über Führung und Arbeitsleistung des V. nichts Nachteiliges bekannt geworden. V. zeigt Reue über seine Tat. Ich halte das Gesuch jedoch für verfrüht und lehne die Befürwortung desselben ab, zumal V. vorbestraft ist.“ Personalakte des Gefangenen G.V.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 42/28. 900 § 21 der Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen, 6.2.1935 (Gnadenordnung); BA R 22/1226, fol. 19-23, hier fol. 21. 901 Personalakte des Gefangenen P.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13500. 902 Personalakte des Gefangenen A.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 13220. 302

Falle von seinen Eltern, im anderen Falle von den Eltern des betr. Mädchen verhindert wurde. [...] Ich habe keinen Zweifel, daß er die Kraft aufbringen wird, diesen Vorsatz [sich straffrei zu führen] auch durchzuführen. W. hat nun weit über das festgesetzte Maß die Strafe zu spüren bekommen, die ihn tief und wie angenommen werden darf auch nachhaltig beeindruckt hat. [...] Er ist somit eines Gnadenerweises würdig, der von hier auch befürwortet werden kann.“903

In Einzelfällen wurde einem Gnadenerweis zugestimmt, wenn ein fortdauernder Freiheitsentzug – z.B. aus gesundheitlichen oder aus familiären Gründen904 – eine besondere Härte für den Betroffenen darstellte. Mit der Möglichkeit, eine Strafe zum Zweck der „Frontbewährung“ auszusetzen, stieg die Zahl der zustimmenden Gutachten in Gnadensachen. Keineswegs bewirkte eine positive Stellungnahme zu einem Gnadenantrag jedoch automatisch dessen Annahme; umgekehrt führte eine negative Beurteilung durch die Anstalts- bzw. Lagervorsteher nicht in jedem Fall zu einer Ablehnung eines Gnadenantrags – dies obwohl immer wieder die Forderung nach einer stärkeren Mitwirkung des Strafvollzugs im Gnadenwesen erhoben wurde905.

Insgesamt erhielten knapp 10 % der homosexuellen Inhaftierten einen Gnadenerweis. Nur wenige906 wurden allerdings vorzeitig nach Hause entlassen; hierfür lagen zum Teil besondere Gründe – wie z.B. Haftunfähigkeit aufgrund von Krankheit – vor907. Der Großteil der vorzeitig Entlassenen (7 %) wurde nach 1940, als immer mehr Verurteilten Strafaussetzung mit dem Ziel der „Frontbewährung“ zugestanden wurde, in die Bewährungseinheiten der Wehrmacht eingegliedert. Bedingung hierfür war, daß die jeweiligen Gefangenen „frontverwendungsfähig“ waren. Entsprachen sie den körperlichen Anforderungen – beispielsweise aufgrund von Krankheit oder Unterernährung – nicht, wurden sie in die Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlager zurückverlegt908.

Die Typisierung von Homosexuellen entweder als „Hangtäter“ oder „Gestrauchelte“ verlor in der Gnadenpraxis an Bedeutung: In einem Fall wurde eine vorzeitige Entlassung eines nach § 175 verurteilten Gefangenen mit der Begründung abgelehnt, daß dieser von Natur aus homosexuell sei und deshalb nach den bestehenden Bestimmungen nicht Soldat werden dürfe909. Einige ablehnende

903 Personalakte des Gefangenen K.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7353. Ähnlich auch Personalakte des Gefangenen A.N.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5032. 904 Vgl. hierzu ausführlich das Gnadenverfahren des Anton Purkl; BA R 22/3062, fol. 9-70. 905 Weissenrieder, Einordnung des Strafvollzugs, S. 140. Vgl. im Hinblick auf die Aussetzung der Sicherungsverwahrung ähnlich Freisler, Fragen zur Sicherungsverwahrung, S. 629. 906 Dies galt auch für die Vergleichsgruppen der wegen krimineller bzw. politischer Delikte Inhaftierten. 907 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 43/778; Personalakte des Gefangenen H.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 12283. 908 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen N.H.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 2628. 909 Personalakte des Gefangenen G.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 6636. 303

Bescheide verweisen direkt auf eine vermeintliche „Hangtäterschaft“, die in der Regel von der Anzahl der Vorstrafen und die Straftat betreffenden Faktoren (hohe Partnerzahl, langer Strafzeitraum) abgeleitet wurde910. Im Fall des nach § 175 verurteilten Gefangenen R.V. wurde eine Überstellung zur Wehrmacht aufgrund der vermeintlichen „Hangtäterschaft“ erst abgelehnt und im Juli 1944 dann doch angenommen911.

Die zahlenmäßige Verteilung der zur „Frontbewährung“ ausgesetzten Strafen in den hier betrachteten Gefangenengruppen ist im folgenden Diagramm dargestellt:

Diagramm 8: Anteil derjenigen Gefangenen, deren Strafe zur „Frontbewährung“ ausgesetzt wurde

25,00%

20,00%

15,00%

10,00%

5,00%

0,00% "Homosexuelle" "Politische" "Kriminelle"

Die Auswertung zeigt deutlich, daß die Strafe bei den homosexuellen Inhaftierten aufgrund des formalen Ausschlusses der sog. Hangtäter seltener als bei den wegen eines kriminellen Delikts Inhaftierten zum Zweck der „Frontbewährung“ ausgesetzt wurde. Die Betroffenen mögen diese ungleiche Verteilung verschieden bewertet haben: Während einige den Ausschluß aus den Bewährungseinheiten als Benachteiligung empfanden, da es ihr „sehnlichster Wunsch“ war, „Soldat zu werden, um die verwerfliche Tat an der Front wieder gutmachen zu können“912, dürften andere das Verbleiben in der Strafhaft als Vorteil wahrgenommen haben, zumal die hohe Todesrate unter den vorwiegend in Krisensituationen eingesetzten Bewährungssoldaten vielen bekannt war.

910 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7140; Personalakte des Gefangenen J.P.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 5248. 911 Personalakte des Gefangenen R.V.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7288. 912 So der Vorsteher des Lagers Börgermoor über den Gefangenen K.W.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 7353. 304

4.2.2.8. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen während des Krieges begangener Taten

Mit der „Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat“ vom 11. Juni 1940 wurde für bestimmte Verurteiltengruppen – betroffen waren alle von einem ordentlichen Gericht zu einer Zuchthausstrafe Verurteilten sowie von einem Gericht der Wehrmacht oder einem SS- und Polizeigericht zu einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe mit Verlust der Wehrwürdigkeit Verurteilte – eine Doppelverbüßung von Freiheitsstrafen zur Regel erklärt: War eine Tat während des Krieges begangen worden, so wurde „die in die Zeit des Kriegszustandes fallende Vollzugszeit in die Strafzeit nicht einberechnet“. Zusätzlich sah § 1 IV der Verordnung für diese Freiheitsstrafen einen Vollzug „unter verschärften Bedingungen“ vor913. Ziel dieser Regelung war es, „feigen und ehrlosen Wehrpflichtigen den Anreiz zu nehmen, sich durch Straftaten dem Frontdienst in der Wehrmacht zu entziehen“914. Ausgenommen waren dementsprechend Frauen, Ausländer, Wehrunfähige und deutsche Zivilpersonen, die das wehrpflichtige Alter (45 Jahre) bereits überschritten hatten, sowie ab 1943 auch Juden und Polen915.

Die sog. Kriegstäterverordnung betraf auch nach §§ 175, 175a verurteilte Männer. Für die Betroffenen bedeutete dies eine Verlängerung der Haftzeit um unbestimmte Zeit, da ihr persönliches Schicksal mit dem Ausgang des Weltkrieges verbunden war. Ausnahmen wurden gemäß den aufgestellten Richtlinien bei Wehrunfähigkeit916 sowie bei Überschreitung der Altersgrenze917 gewährt. In Einzelfällen wurde von der Nichteinrechnung der in die Zeit des Kriegszustandes fallenden Vollzugszeit abgesehen, wenn man zu der Auffassung kam, daß „die Nichteinrechnung mit Rücksicht auf die Tat und die Persönlichkeit des Verurteilten für diesen eine besondere Härte bedeuten würde und die Ausnahme den Zweck der Regelung nicht gefährdet“918. Bedingung war

913 Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat, 11.6.1940. Abgedruckt in: RGBl. I 1940, S. 877. Mit der Verordnung wurden bereits bestehende Regelungen zur Nichteinrechnung der Strafzeit während des Krieges aufgehoben. Vgl. hierzu Wüllner, NS-Militärjustiz, S. 651. 914 Verfügung des RJM, 27.1.1943, betr. Richtlinien zur Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat, 11.6.1940. Abgedruckt in: Kosthorst; Walter, Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland, Dok. C IIa/1.77, S. 1373-1376, hier S. 1373. 915 Ebd. 916 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen H.G.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/365; Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 41/209. 917 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.A.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/839; Personalakte des Gefangenen J.F.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 43/971. 918 Verfügung des RJM, 6.1.1942, betr. Richtlinien für die Anwendung des § 1 Absatz 2 der Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat. Rep 947; Lin I, 726, fol. 218. Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen M.M.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 4796; Personalakte des Gefangenen W.P.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 41/160. 305 hierfür in der Regel, daß der Verurteilte als sog. Ersttäter anzusehen war. Dem Verurteilungsgrund „Homosexualität“ kam bei der Anwendung der Bestimmungen der Kriegstäterverordnung keine gesonderte Bedeutung zu.

4.2.2.9. Todesfälle homosexueller Gefangener

Das Überleben und Sterben von Häftlingen wird in Untersuchungen zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern als Indikator für die soziale Stellung von Häftlingen bzw. Häftlingsgruppen gewertet – wer im Lager keinen Zugang zur Funktionsmacht hatte, zu den schwersten Arbeitskommandos eingeteilt wurde und keine Unterstützung von Mitgefangenen erhielt, hatte nur eine geringe Chance, die Haftzeit zu überleben. Bisher geleistete Untersuchungen geben für die mit dem rosa Winkel gekennzeichneten KZ-Gefangenen – entsprechend ihrem niedrigen sozialen Status in der Häftlingsgemeinschaft – eine überdurchschnittlich hohe Sterberate an919.

Eine eindeutige Korrelation zwischen Haftschicksal und Todeswahrscheinlichkeit bestand in den festen Vollzugsanstalten des „Dritten Reiches“ nicht. Trotz der auch in den Gefängnissen und Zuchthäusern erschwerten Haftbedingungen hatte ein niedriger Status für die betroffenen Gefangenen nicht unweigerlich lebensbedrohliche Konsequenzen zur Folge, da in den festen Vollzugsanstalten der Justiz – anders als in den Konzentrationslagern – die physische Vernichtung der Inhaftierten nicht bewußt in Kauf genommen wurde und der Tod von Gefangenen eine Ausnahme darstellte. Zwar führten Unterernährung, Mißhandlungen und hohe Arbeitsanforderungen auch hier in Einzelfällen zum Tod von Gefangenen, jedoch dürften in erster Linie straftatbestandsunabhängige Kriterien, wie z.B. Alter und Krankheit, Einfluß auf das Überleben von Gefangenen gehabt haben.

Etwas anders verhielt es sich in den emsländischen Strafgefangenenlagern: Zwar wurde auch hier keine systematische Vernichtung der Häftlinge betrieben, jedoch bestanden deutlich härtere Haftbedingungen als in den festen Vollzugsanstalten, so daß die Stellung des einzelnen Gefangenen in den Bereichen der Produktion und der Reproduktion des Lagerlebens sowie dessen soziale Einschätzung durch Mitgefangene und Aufseher sich auch auf dessen Überlebenschancen auswirkten. Insofern kann für die Emslandlager die Todesrate unter den Gefangenen als Indikator für deren sozialen Status in der Gefangenschaft herangezogen werden.

919 Lautmann; Grikschat; Schmidt, Rosa Winkel, S. 351. 306

Da sich die Haftbedingungen in den Emslandlagern im Verlauf der NS-Zeit änderten, gilt es bei der Auswertung der Todesrate in den einzelnen Gefangenengruppen, die zeitliche Verteilung der Sterbefälle zu berücksichtigen. Es wurde deshalb der Anteil der verstorbenen Häftlinge an der Gesamtzahl der in einem Jahr inhaftierten Personen der jeweiligen Gefangenengruppe berechnet920.

Diese Art der Auswertung macht deutlich, daß die Überlebenschancen aller Häftlinge in der Vorkriegszeit wesentlich größer waren als nach Kriegsbeginn: Bis einschließlich 1938 ist von der hier betrachteten Auswahl von Gefangenen – soweit das Haftende aus dem Aktenmaterial ersichtlich war – keine Person während der Haftzeit gestorben. Erst in der Zeit ab 1939 lassen sich bei den in die Untersuchung einbezogenen Häftlingen Todesfälle nachweisen; insbesondere in den letzten Kriegsjahren nahm deren Zahl infolge der sich stetig verschlechternden Lebensbedingungen in den Lagern zu.

Im Hinblick auf die Fragestellung sind weniger die absoluten Zahlen als vielmehr die relativen Angaben über die Häufigkeit von Todesfällen in den einzelnen Gefangenengruppen von Bedeutung. Die Auswertung zeigt, daß die Sterberate in den betrachteten Gefangenengruppen sich nur geringfügig quantitativ unterschied. Der Anteil der Todesfälle schwankte während der ersten Kriegsjahre zwischen 3 und 8 %; ab 1942 waren es zwischen 10 und 17 % der Insassen, die die Haftzeit nicht überlebten. Es lassen sich bei der Analyse der ermittelten Zahlenwerte allerdings keine eindeutigen gruppenspezifischen Schwankungen feststellen. Einen Anhaltspunkt für eine Besser- oder Schlechterstellung einzelner Gefangenengruppen, die sich direkt auf die Überlebenschancen der Häftlinge ausgewirkt hätte, liefert die Auswertung nicht.

4.2.2.10. „Im Anstaltsleben führt er sich gut, wie Homosexuelle meist...“ – Zusammenfassung: Homosexuelle Gefangene in den Justizvollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern des „Dritten Reiches“

Die Beschäftigung mit dem nationalsozialistischen Strafvollzug am Beispiel der Strafgefangenenlager im Emsland, der Zuchthäuser Celle und Hameln sowie des Gefängnisses Lingen liefert zu der Frage nach der Situation der homosexuellen Gefangenen kein abschließendes Urteil, sondern läßt allenfalls eine Annäherung zu.

920 Es wurde hierfür mit Hilfe von Stichproben für jedes Jahr die Anzahl der Inhaftierten der jeweiligen Gefangenengruppen ermittelt, die Zahl der Sterbefälle im Verlauf der Jahre damit verglichen und in Prozentangaben umgerechnet. Die Ermittlung der Anzahl der sich in einem Jahr in den Lagern befindlichen Häftlinge erfolgte annähernd genau durch die Zählung an zwei Stichtagen (15. März und 15. Oktober). 307

Es läßt sich zunächst feststellen, daß nach §§ 175, 175a verurteilte Gefangene überdurchschnittlich häufig aus den Gefängnissen und Zuchthäusern in die emsländischen Strafgefangenenlager eingewiesen wurden – Anzeichen hierfür sind der vergleichsweise hohe Anteil der Gefängnisgefangenen sowie der sog. Ersttäter in dieser Gefangenengruppe. Die Ursache hierfür findet sich in der vom Reichsminister der Justiz an die Vollzugsanstaltsleiter ergangenen Verfügung zur Stellung von Ersatzgefangenen an die Strafgefangenenlager. Demnach sollten insbesondere auch homosexuelle Gefangene an die Lager abgegeben werden – vermutlich weil man glaubte, daß der dort praktizierte, als besonders abschreckend geltende Strafvollzug bei den als verweichlicht angesehenen Homosexuellen einen starken Eindruck hinterlassen werde. Ob darüber hinaus eine negative Einschätzung des Vollzugspersonals in den Gefängnissen und Zuchthäusern gegenüber homosexuellen Inhaftierten dazu führte, daß diese verhältnismäßig häufig aus den festen Vollzugsanstalten in die Emslandlager abgegeben wurden, läßt sich nur schwer rekonstruieren. Angaben, die dem noch vorhandenen Quellenmaterial sowie der Erinnerungsliteratur entnommen werden können, weisen darauf hin, daß nach §§ 175, 175a verurteilte Inhaftierte von den Vollzugsbeamten zum Teil durchaus positiv wahrgenommen wurden – vom Bildungsniveau, ihrer äußeren Erscheinung sowie ihrer Bereitschaft, sich der Anstaltsordnung zu fügen, wichen sie vielfach ab vom Bild des mehrfach straffälligen kriminellen Unterschichtsangehörigen. Dementsprechend gelangten die homosexuellen Gefangenen in den festen Vollzugsanstalten verhältnismäßig häufig auf die begehrten „Vertrauensposten“. Für die Einschätzung der Gefangenen durch die Vollzugsbeamten waren ähnliche Kriterien von Bedeutung wie für die Gerichte bei der Urteilsfindung; sichtbar spiegelt sich dies in den Stellungnahmen der Anstalts- bzw. Lagerleiter in Gnadenverfahren wider. In diesen Schriftstücken wird auch deutlich, daß insbesondere die effeminierten Homosexuellen eine negative Einschätzung durch die Strafvollzugsbeamten erfuhren, da man sie für „haltlos“ und nicht dazu in der Lage befand, ihren „entarteten Trieb“ zu unterdrücken – ähnliches wird vereinzelt auch über die Situation homosexueller Gefangener in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern berichtet921.

Sowohl in den festen Vollzugsanstalten als auch in den emsländischen Strafgefangenenlagern war der Umgang mit den als homosexuell Verfolgten geprägt durch das Bestreben, durch eine Art technische Prävention homosexuelle Handlungen von Gefangenen zu verhindern. Die nach §§ 175, 175a

921 Vgl. hierzu die Angabe von Kurt Ruffin, wonach dieser, da er „keine schwule Ausstrahlung hatte“, eine etwas bevorzugte Behandlung im Konzentrationslager erfahren habe. Als schwuler Häftling 1934/1935 in den KZs Kolumbia-Haus und Lichtenburg. Kurt von Ruffin im Gespräch mit Winfried Kuhn. In: 100 Jahre schwul. Eine Revue, hg. von Elmar Kraushaar. Berlin 1997, S. 46-59, hier S. 51f. Ähnlich stellt Albert Knoll für das KZ Dachau fest, daß dort „besonders die effeminierten Homosexuellen [...] Zielscheibe des Spottes und der Gewaltausbrüche“ sowohl der Aufseher als auch der Mithäftlinge waren; vgl. Albert Knoll: Totgeschlagen – totgeschwiegen. Die homosexuellen Häftlinge im KZ Dachau. In: Dachauer Hefte 14 (1998), S. 77-101, hier S. 86. 308 verurteilten Häftlinge, in denen man eine Hauptgefahrenquelle zur Verbreitung der Homosexualität in den Strafanstalten sah, wurden deshalb bei allen denjenigen Gelegenheiten von anderen Gefangenen getrennt gehalten, bei denen die Möglichkeit einer Annäherung gesehen wurde. Auf diese Weise nahmen homosexuelle Gefangene im Strafvollzug eine Sonderstellung ein, die jedoch weniger Merkmale einer vertikal als einer horizontal gegliederten Struktur aufwies.

Die Verhinderung jeglicher Störungen des Anstaltsbetriebes war ein durchgängiges Ziel im Strafvollzug und betraf nicht nur die teilweise Separierung von homosexuellen – sowie wie von politischen – Gefangenen. Ebenso wurden z.B. bei sog. Selbstbeschädigern und Fluchtverdächtigen entsprechende Eintragungen in den Personalakten vorgenommen und der Strafvollzug so gestaltet, daß die betreffenden Personen an der Ausübung ihrer jeweiligen Absichten gehindert wurden. Insofern stellte die Homosexualität von Gefangenen eines von mehreren Merkmalen dar, an denen sich der Umgang des Personals orientierte. Auch bei der Anfertigung von Strafvollzugsstatistiken sowie von in den Haftanstalten angefertigtem Listenmaterial ist ein an den jeweils relevanten Praxisfeldern orientiertes Vorgehen erkennbar. Außer den Angaben zur Identifizierung des Häftlings (Name, Geburtsdatum, Gefangenenbuchnummer) wurden darin jeweils die Informationen verzeichnet, die für den jeweiligen Verwendungszweck von Bedeutung waren. Dementsprechend finden sich in den Listen der Neuzugänge bzw. Verlegungen Angaben zu Beruf und Strafzeit, in den Aufstellungen der an die Wehrmacht überstellten Gefangenen Informationen zum Musterungsergebnis und zur bisherigen Verwendung bei der Truppe sowie in den Listen der in den gefahrvollen Sonderkommandos eingesetzten Häftlinge Angaben zu Namen und Anschriften der nächsten Angehörigen, die im Todesfall benachrichtigt werden sollten. Die Homosexualität eines Gefangenen wurde in diesen Aufstellungen nicht gesondert vermerkt.

Was die soziale Einschätzung der homosexuellen Gefangenen durch die Insassen betrifft, so ist nach den Ergebnissen der Auswertung zu vermuten, daß diese nicht von solidarischen Zusammenschlüssen der Inhaftierten – soweit es dazu kam – ausgeschlossen waren. Die Erinnerungsliteratur liefert einzelne Hinweise auf die Beteiligung auch homosexueller Gefangener an Formen des Widerstandes in den Emslandlagern. Einen Einblick in das Verhältnis der wegen eines homosexuellen Straftatbestandes verurteilten Häftlinge zu den Mitinsassen geben die Protokolle der „Meldungen wegen Vergehen im Lager“. Speziell die Anschuldigung der homosexuellen Betätigung von Gefangenen bot eine leichte Handhabe, mißliebige Mithäftlinge bei der Lagerleitung zu diskreditieren. Die protokollierten Aussagen der zu den „Vorfällen“ befragten Gefangenen liefern keinen Anhaltspunkt für die Annahme, daß homosexuelle Gefangene in besonderer Weise Adressaten von deren Diskriminierung wurden. 309

Die Ergebnisse der Auswertung lassen die Vermutung zu, daß homosexuelle Gefangene im Strafvollzug – im Vergleich zu ihrer Stellung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern – nicht in besonderer Weise diskriminiert wurden und gemessen an der Gruppe der politischen und der kriminellen Gefangenen keinen niedrigeren Status innehatten. Dies mag daran gelegen haben, daß die Haftbedingungen in den Gefängnissen und Zuchthäusern des „Dritten Reiches“ und trotz des dort praktizierten rigorosen Strafvollzugs auch in den Emslandlagern immer noch besser waren als in den Konzentrationslagern. Statusdifferenzen bedrohten deshalb in geringerem Maß die Überlebenschancen des einzelnen922. Von Bedeutung für die soziale Struktur dürfte auch gewesen sein, daß im Strafvollzug keine gruppenstrukturierende Etikettierung der Gefangenen durch verschiedenfarbige Winkelabzeichen vorgenommen wurde. Zu vermuten ist, daß die soziale Wahrnehmung in den Lagern stark von dem Kennzeichnungssystem abhängig war: In den Vollzugsanstalten erfolgte somit – im Gegensatz zu den Konzentrationslagern – keine Vorverurteilung der wegen §§ 175, 175a Inhaftierten, da diese nicht als „homosexuell“ etikettiert waren. Die Situation der Gefangenen war in den Vollzugsanstalten deshalb weniger vom Einlieferungsgrund bestimmt als vielmehr von individuellen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten des Sich-Anpassens bis hin zu handwerklichen Fähigkeiten, also von dem, was Falk Pingel für die Konzentrationslager als „vorkonzentrationäre Prägung“ bezeichnet923. Während in den Konzentrationslagern des „Dritten Reiches“ die Farbe des zugewiesenen Winkels dessen Träger in ein kollektives Schicksal zwang, hatten in den der Justiz unterstehenden Haftanstalten, in denen keine Kennzeichnung der Häftlinge durch Winkelabzeichen erfolgte, individuelle Verhaltensweisen sehr viel größeren Einfluß auf das Haftschicksal des einzelnen.

Die Situation der homosexuellen Inhaftierten in den Gefängnissen, Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern des „Dritten Reiches“ soll durch diese Aussagen keineswegs verharmlost werden: Die sich stetig verschlechternden Haftbedingungen und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Anschauungen über Ziele und Methoden der Verbrechensbekämpfung hatten erheblich negative Konsequenzen auf die Situation in den Vollzugsanstalten. Diese Änderungen betrafen jedoch nicht spezifisch die Situation der Homosexuellen. Insofern läßt sich nach den

922 Vgl. hierzu auch Sofsky, der über den mangelnden Zusammenhalt unter Konzentrationslagerhäftlingen feststellt: „Elend schweißt nicht zusammen, sondern treibt die Menschen aus- und gegeneinander. Terror dissoziiert, er zersprengt die Voraussetzungen des Sozialen, die Norm der Gegenseitigkeit, das Grundvertrauen in den Fortbestand der Gesellschaft, die Aussicht auf Hilfe, die Gewißheit gemeinsamen Sinns.“ Wolfgang Sofsky: An der Grenze des Sozialen. Perspektiven der KZ-Forschung. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 1141-1169, hier S. 1159. 923 Falk Pingel: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager. Hamburg 1978, S. 10; vgl. auch Kapitel 3.5.2.2. 310

Ergebnissen der Auswertung die These von einem „Sonderschicksal“ der homosexuellen Konzentrationslagerhäftlinge nicht auf die homosexuellen Justizgefangenen übertragen.

Es sollte überdies nicht vergessen werden, daß die Situation der Häftlinge nach Haftart, individuellen Voraussetzungen und Zeitpunkt der Inhaftierung differierte. Der konkreten Situation des einzelnen können die ermittelten quantitativen Daten der Häftlingsstatistik kaum gerecht werden. 311

5. Das Verhältnis von Strafvollzug und polizeilicher Verbrechensbekämpfung am Beispiel der homosexuellen Gefangenen

5.1. Polizei und Strafvollzug – Zusammenarbeit und Abgrenzung

Geheime Staatspolizei und Kriminalpolizei wurden im „Dritten Reich“ – wie im dritten Kapitel dieser Arbeit dargestellt – in umfassender Weise im Bereich der Verbrechensbekämpfung tätig. Die nationalsozialistische Polizei unter der Leitung Heinrich Himmlers begab sich damit in Konkurrenz zu den Institutionen der Justiz, die bis dahin die alleinige Zuständigkeit auf diesem Gebiet beanspruchte und der die Polizei lediglich als eine Art „Hilfsorgan“ bei der Verbrechensaufklärung diente. Mit den Mitteln der Vorbeugungshaft und der Schutzhaft erhielten Kriminalpolizei und Geheime Staatspolizei schließlich sogar weiterreichende Möglichkeiten der Verfolgung und Inhaftierung von zu Straftätern erklärten Personen als die Organe der Justiz1.

Dem Zugriff der Polizei war ein Angeklagter mit der gerichtlichen Verurteilung zu Freiheitsstrafe keinesfalls endgültig entzogen. Maßnahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung in Form von Schutzhaft bzw. Vorbeugungshaft wurden durch Gestapo und Kripo auch nach oder sogar während des Vollzugs von Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung angewendet. Hierbei waren die Organe der Polizei auf die Mitarbeit der Strafvollzugsbehörden angewiesen – insbesondere benötigten sie Informationen über die bevorstehende Haftentlassung von Gefangenen. Was die aus politischen Gründen inhaftierten Justizgefangenen betrifft, so wurden die zuständigen Staatspolizeistellen von Beginn der NS-Herrschaft an über deren bevorstehende Entlassung informiert. Auf diese Weise wurde der Polizei die Möglichkeit gegeben, die betreffende Person bei der Entlassung festzunehmen und in Schutzhaft zu überführen. In den folgenden Jahren wurden weitere Gefangenengruppen, so die „Ernsten Bibelforscher“, sämtliche wegen Hoch- und Landesverrats verurteilten Personen, jüdische sowie schließlich alle „asozialen“ Häftlinge, in dieses Mitteilungssystem aufgenommen2. Zwischen den Strafvollzugsbehörden und der Geheimen Staatspolizei entstand auf diese Weise eine immer enger werdende institutionalisierte Zusammenarbeit. Parallel zu der Tätigkeit der Gestapo forderte die Kriminalpolizei Informationen über Haftentlassungstermine sowie Führungsberichte auch

1 Vgl. Kapitel 4.1.4. 2 Rainer Möhler: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel des Saarlandes. In: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Am Beispiel des Saarlandes, hg. von Heike Jung; Heinz Müller- Dietz. Baden-Baden 1996, S. 9-301, hier S. 147f. sowie ders.: Volksgenossen und „Gemeinschaftsfremde“ hinter Gittern – zum Strafvollzug im Dritten Reich. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 17-21, hier S. 19. 312 von anderen Gefangenen an. Gegebenenfalls wurde die Vollzugsanstalt angewiesen, die betreffende Person nicht bzw. nur unter Auflagen freizulassen. Die Strafvollzugsbehörden ihrerseits reagierten nicht nur auf Anfragen der Polizei, sondern entwickelten auch eigene Initiative und schlugen weiterreichende Maßnahmen gegen zur Entlassung vorgesehene Inhaftierte vor.

Im Oktober 1936 wurde durch einen Geheimerlaß Himmlers der Kriminalpolizei die grundsätzliche Zuständigkeit bei Homosexualitätsdelikten zugesprochen3. Nur diejenigen als homosexuell verfolgten Männer waren in der Folgezeit von Schutzhaftmaßnahmen durch die Gestapo betroffen, deren Straftat in einen politischen Kontext gestellt wurde4. Zwischen dieser und der Justiz hat, so das Ergebnis einer Untersuchung Burkhard Jellonneks, die Zusammenarbeit im Bereich der Homosexuellenverfolgung weitgehend reibungslos funktioniert5.

Im folgenden soll der Einfluß der Kriminalpolizei auf die nach §§ 175, 175a verurteilten Gefangenen analysiert werden: Es wird der Frage nachgegangen, in welchem Ausmaß Justizgefangene an die Kriminalpolizei ausgeliefert bzw. von dieser im Anschluß an eine verbüßte Freiheitsstrafe in Vorbeugungshaft genommen wurden. Des weiteren ist zu prüfen, inwieweit Kriminalpolizei und Strafvollzugsbehörden einander zuarbeiteten und nach welchen Auswahl- und Entscheidungskriterien über die Anwendung kriminalpolizeilicher Maßnahmen entschieden wurde. Nicht berücksichtigt sind in dieser Untersuchung diejenigen Personen, die ohne gerichtliche Verurteilung oder im Fall eines Freispruches in Vorbeugungshaft bzw. Schutzhaft genommen wurden. Des weiteren kann eine nach der Haftentlassung vorgenommene spätere Inhaftierung von ehemaligen Justizgefangenen hier nicht rekonstruiert werden. Soweit die Voraussetzungen der polizeilichen Vorbeugungsmaßnahmen nicht bereits Gegenstand von Kapitel 3.2. waren, wird zu Beginn des entsprechenden Abschnitts ein kurzer Überblick darüber gegeben.

3 Geheimerlaß zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung, 10.10.1936. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, hg. von Günter Grau. Frankfurt/M. 1993, Dok. 27, S. 122-125. 4 Der weitaus größere Teil der von der Polizei im Anschluß an die Freiheitsstrafe inhaftierten Homosexuellen (92 %) gelangte in kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft. 5 Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990, S. 309f. 313

5.2. Polizeiliche planmäßige Überwachung

5.2.1. Auflagen und materielle Voraussetzungen

Die polizeiliche planmäßige Überwachung stellte eine reine Überwachungsmaßnahme dar, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden war. In Preußen war die polizeiliche Überwachung bereits mit dem Erlaß des Preußischen Ministers des Inneren vom 10. Februar 1934 eingeführt worden6; eine reichseinheitliche Regelung erbrachte der „Grundlegende Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom 14. Dezember 1937, der bis Kriegsende in Kraft blieb7.

Abschnitt A I des Erlasses umschrieb die materiellen Voraussetzungen der Überwachungsmaßnahme. Demnach konnten unter polizeiliche planmäßige Überwachung sowohl „Berufsverbrecher“ als auch „Gewohnheitsverbrecher“8 gestellt werden, wenn sie mindestens dreimal zu einer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe von mindestens drei Monaten rechtskräftig verurteilt worden waren. Die letzte maßgebliche Straftat mußte weniger als fünf Jahre zurückliegen. Unter polizeiliche planmäßige Überwachung wurden darüber hinaus alle aus der polizeilichen Vorbeugungshaft Entlassenen gestellt. Schließlich konnte „in ganz besonderen Ausnahmefällen“ die Überwachung auch unabhängig vom Vorliegen von Vorverurteilungen angeordnet werden, wenn sie „zum Schutze der Volksgemeinschaft unerläßlich“ erschien9. Nach den Richtlinien des Erlasses war die polizeiliche planmäßige Überwachung auch nach der Entlassung aus der Strafhaft vorgesehen, wenn ihre Voraussetzungen als gegeben erachtet wurden10.

Die Auflagen dieser kriminalpolizeilichen Vorbeugungsmaßnahme bestanden in Ge- und Verboten, die „je nach Persönlichkeit des Verbrechers zu gestalten und auszuwählen“ waren11; ausdrücklich

6 Erlaß des PrMdI, 10.2.1934, betr. Planmäßige Überwachung der auf freiem Fuß befindlichen Berufsverbrecher. Auszugsweise abgedruckt in: Karl-Leo Terhorst: Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich. Heidelberg 1985, S. 88f. 7 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49; vgl. auch Kapitel 3.2.1.2. 8 Als „Berufsverbrecher“ wurde angesehen, wer „das Verbrechen zu seinem Gewerbe gemacht hat und aus dem Erlös seiner Straftaten ganz oder teilweise lebt oder gelebt hat“. Unter die „Gewohnheitsverbrecher“ fielen nach den Bestimmungen des Grunderlasses Personen, die „aus verbrecherischen Trieben oder Neigungen wiederholt in gleicher oder ähnlicher Weise straffällig geworden“ waren; vgl. Kapitel 3.2.1. 9 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 46. 10 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 64. 11 Paul Werner: Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. In: KM 12 (1938), S. 58-61, hier S. 60. 314 wurde in den Richtlinien vor „wahllosen Auflagen“ gewarnt12. Abschnitt B I 1 des Erlasses sah unter den Buchstaben a) bis u) einen Katalog von 20 Maßnahmen vor, die vom Verbot, den Wohn- oder Aufenthaltsort ohne vorherige polizeiliche Erlaubnis zu verlassen, über zeitlich oder räumlich eingegrenzte Aufenthaltsverbote bis hin zum Verbot, mit „bestimmten Personen zu verkehren oder bestimmte Personen zu beherbergen“ oder „unter Chiffre zu inserieren“, reichten13. Der Zweck der einzelnen Auflagen wurde in den Richtlinien zum Teil ausführlich erläutert. Gegen vermeintliche Homosexuelle richtete sich vor allem (i) das Verbot, „mit bestimmten Personen zu verkehren oder bestimmte Personen zu beherbergen“, (p) das Verbot, „postlagernd zu korrespondieren“ sowie (o) das Verbot, „unter Chiffre zu inserieren oder Inserate eines bestimmten Inhalts aufzugeben“– hierbei war „insbesondere an die oft sehr gut getarnten Inserate zur Herbeiführung perversen Geschlechtsverkehrs oder unzüchtigen Briefwechsels“ gedacht14. Bei Nichtbeachtung der zeitlich unbefristeten Überwachungsmaßnahmen drohte dem Betroffenen die Anwendung der Vorbeugungshaft.

Eine Überlagerung von justitieller und polizeilicher Zuständigkeit ergab sich für den Bereich der Überwachung straffällig Gewordener durch das Nebeneinander von polizeilicher planmäßiger Überwachung und der in §§ 38, 39 als gesetzliche Nebenstrafe vorgesehenen Polizeiaufsicht. Als weniger weitgehende Möglichkeit trat diese zunehmend hinter der weiterreichende Auflagen ermöglichenden polizeilichen planmäßigen Überwachung zurück15. Da sowohl nach § 175 alter Fassung als auch nach § 175 neuer Fassung eine Verhängung von Polizeiaufsicht bei Homosexualitätsdelikten nicht zulässig war, stellt sich die Frage der Konkurrenz von polizeilicher und justitieller Tätigkeit bei der Überwachung vermeintlicher Homosexueller nicht.

12 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 64. 13 Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 47f. 14 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 66. 15 Werle spricht diesbezüglich von einem „Schattendasein“, das die Polizeiaufsicht nach Einführung der polizeilichen planmäßigen Überwachung führte. Vgl. hierzu: Gerhard Werle: Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin [u.a.] 1989, S. 497. 315

5.2.2. Polizeiliche planmäßige Überwachung von Homosexuellen – Ausmaß und zeitlicher Verlauf

Der polizeilichen planmäßigen Überwachung kam nach den Ergebnissen der Auswertung nur eine untergeordnete Bedeutung bei der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung zu – jedenfalls dann, wenn man die Anordnung der Überwachungsmaßnahme über den gesamten Untersuchungszeitraum betrachtet. Demnach wurden etwa 2 % der nach §§ 175, 175a verurteilten Homosexuellen im Anschluß an die Strafverbüßung unter polizeiliche planmäßige Überwachung gestellt. Untersucht man die zeitliche Verteilung der Anordnungen, so fällt auf, daß alle Maßnahmen nach dem Grunderlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ vom Dezember 1937 ergangen waren. Bereits kurze Zeit nach Kriegsbeginn trat die Überwachungsmaßnahme jedoch hinter der personell weniger aufwendigen Vorbeugungshaft deutlich zurück und wurde nur noch in Einzelfällen verhängt. Somit kam der polizeilichen planmäßigen Überwachung lediglich für die kurze Dauer von Dezember 1937 bis zur Jahreswende 1939/40 Bedeutung bei der polizeilichen Verbrechensbekämpfung zu16. Betrachtet man ausschließlich die in diesem Zeitraum zur Entlassung kommenden homosexuellen Gefangenen, so lag der Anteil der unter polizeiliche planmäßige Überwachung gestellten Personen bei knapp 13 %17. Was das Ausmaß und die zeitliche Verteilung dieser polizeilichen Vorbeugungsmaßnahme betrifft, kann somit festgestellt werden, daß diese gegenüber homosexuellen Strafentlassenen in nennenswertem Ausmaß nur in einem zeitlich sehr begrenzten Rahmen angewendet wurde.

5.2.3. Auswahlkriterien und Entscheidungsprozesse

Was die Auswahl- und Entscheidungskriterien bei der Anwendung der polizeilichen planmäßigen Überwachung gegen homosexuelle Inhaftierte betrifft, so lassen sich generalisierende Aussagen aufgrund der geringen Anzahl der in die Untersuchung eingegangenen Fälle kaum treffen. Auffällig ist jedoch, daß die unter polizeiliche planmäßige Überwachung gestellten homosexuellen Häftlinge zum Großteil nicht die in dem „Grundlegende[n] Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ aufgeführten Voraussetzungen des „Berufs-“ oder „Gewohnheitsverbrechers“ erfüllten: Nur knapp ein Drittel der unter polizeiliche Überwachung gestellten homosexuellen Verfolgten war bereits dreimal oder öfter zu einer mindestens

16 Vgl. zur Gesamtzahl der unter polizeilicher planmäßiger Überwachung stehenden Personen die Übersicht bei Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft, S. 129. 17 Für die Gruppe der wegen eines kriminelles Delikts Inhaftierten wurden ähnliche Zahlenwerte ermittelt. 316 dreimonatigen Gefängnis- oder Zuchthausstrafe rechtskräftig verurteilt worden. Die meisten Betroffenen waren, abgesehen von der der Inhaftierung zugrundeliegenden Verurteilung, nur geringfügig oder gar nicht gerichtlich vorbestraft und als „besondere[] Ausnahmefälle[]“18 unabhängig vom Vorliegen von Vorverurteilungen unter polizeiliche planmäßige Überwachung gestellt.

Hinsichtlich der Auswahl der Personen fällt auf, daß in der hier betrachteten Gefangenengruppe besonders die als „Jugendverführer“ geltenden, nach § 175a/3 oder § 176 verurteilten Männer davon betroffen waren. Die Initiative zur Verhängung der polizeilichen Überwachungsmaßnahme ging in fast allen Fällen von den Vollzugsanstalten aus, die den zuständigen Kriminalpolizeileitstellen die Anordnung der Überwachungsmaßnahme empfahlen. So heißt es in einem Schreiben des Zuchthausvorstehers aus Hameln an die Kriminalpolizeileitstelle Hannover über den nach § 176 verurteilten Gefangenen H.L.: „[...] ein Rückfall liegt im Bereich der Möglichkeit. [...] Ich halte polizeiliche planmäßige Überwachung für erforderlich.“19 Eine „fühlbare polizeiliche Beaufsichtigung“ wurde auch im Fall des Zuchthausgefangenen H.K. empfohlen20, und über den ebenfalls in Hameln Inhaftierten E.V. heißt es in dem Bericht an die Kriminalpolizei:

„Es handelt sich bei ihm offenbar um einen hoffnungslosen Homosexuellen, der nicht den Willen und die Kraft aufbringt, seine Triebe zu zügeln. [...] Seine Frau hat sich von ihm getrennt. Damit hat V. jeden Halt verloren. Er ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Einen Rückfall halte ich für sehr wahrscheinlich. Polizeiliche Überwachung ist unter allen Umständen erforderlich.“

Für die Überwachung vorgeschlagen wurden der Kriminalpolizei in erster Linie diejenigen homosexuellen Gefangenen, bei denen spezielle Auflagen der polizeilichen planmäßigen Überwachung dazu geeignet erschienen, einer als möglich erachteten „Rückfälligkeit“ vorzubeugen. So heißt es in dem Enlassungsgutachten des nach § 175a/3 verurteilten Häftlings H.S. an die Kriminalpolizeileitstelle Hannover:

„S.[...] war zuletzt als Bote eines Lesezirkels in Hannover tätig. Er hofft, nach seiner Entlassung diese alte Arbeitsstelle wieder zu erhalten. Eine Botentätigkeit, die ihn mit vielen Menschen in Berührung bringt, ist m.E. aber für ihn gefährlich. Ich stelle deshalb anheim, dem Gefangenen bei der Entlassung die Verpflichtung aufzuerlegen, in Zukunft nicht wieder als Bote oder in ähnlichen für ihn gefährlichen Berufszweigen zu arbeiten.“21

18 Absatz A I, 2; Erlaß des RuPrMdI über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, 14.12.1937; BA R 58/473, fol. 46-49, hier fol. 46. 19 Personalakte des Gefangenen H.L.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/64. 20 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/229. 21 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/187. 317

Die zuständigen Kriminalpolizeileitstellen nahmen die an sie herangetragenen Vorschläge aus den Vollzugsanstalten in der Regel bereitwillig auf und ordneten die polizeiliche planmäßige Überwachung an. In einem knappen Antwortschreiben wurde der Vollzugsanstalt mitgeteilt, dem Betroffenen bei der Entlassung die Auflage zu erteilen, sich bei der an seinem Wohnort zuständigen Kriminalpolizeistelle zu melden, damit ihm dort Art und Inhalt der Überwachungsmaßnahmen bekanntgegeben würden. Gelegentlich kam es vor, daß die Kriminalpolizeileitstellen über die Anregung der Vollzugsanstalten hinausgriffen und anstelle einer bloßen Überwachungsmaßnahme polizeiliche Vorbeugungshaft anordneten. Betroffen waren hiervon insbesondere nach Kriegsbeginn zur Entlassung kommende Häftlinge22.

5.3. Polizeiliche Vorbeugungshaft

5.3.1. Die Verhängung polizeilicher Vorbeugungshaft gegen zur Entlassung kommende homosexuelle Justizgefangene

5.3.1.1. Ausmaß und zeitlicher Verlauf

Die Richtlinien zum Grunderlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei ermöglichten es, daß die Kriminalpolizei Strafentlassene, gegen die keine Sicherungsverwahrung angeordnet war, in Vorbeugungshaft23 überführte, soweit ein weiterbestehender Schutz der „Gemeinschaft vor dem Verbrecher“ für nötig gehalten wurde24. Daß die Polizei von dieser Möglichkeit intensiven Gebrauch machte, geht aus einem Schreiben des Ministerialrats Rietzsch im April 1941 an den Reichsjustizminister hervor:

„Die Polizei läßt sich anscheinend ohne Rücksicht auf die Vorstrafen alle Sittlichkeitsverbrecher, politischen Verbrecher, gewerbsmäßigen Abtreiber, Münzfälscher, Arbeitsverweigerer, Prostituierte zur Prüfung der Frage, ob Vorbeugungshaft angeordnet werden soll, zuführen. Bei einer großen Anzahl erheblich Vorbestrafter ist von den Gerichten die Sicherungsverwahrung offenbar nicht angeordnet worden [...]. In allen diesen Fällen handelt es sich auf den ersten Blick 'nach den Vorstrafen' um asoziale Erscheinungen.“25

22 Vgl. z.B. den Vorgang in der Personalakte des Gefangenen O.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15125. 23 Zu den materiellen Voraussetzungen der kriminalpolizeilichen Vorbeugungshaft vgl. Kapitel 3.2.1. 24 Richtlinien zum Erlaß des RuPrMdI vom 14.12.1937 „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“, 4.4.1938; BA R 58/473, fol. 63-72, hier fol. 69. 25 RJM, Vermerk Otto Rietzsch, 2.4.1941; BA R 22/1469, fol. 109. 318

Die Justiz reagierte auf die Verfolgungspraxis der Polizei, indem sie die Vorbeugungshaft durch eine häufigere Anordnung der Sicherungsverwahrung entbehrlich zu machen versuchte: Die Generalstaatsanwälte wurden angewiesen, gegenüber den Staatsanwälten „auf einen nachdrücklicheren Einsatz der den Justizbehörden durch das Gesetz gegebenen Abwehrmittel [der Sicherungsverwahrung] hinzuwirken“26; mehrere Aufsätze in der „Deutschen Justiz“ behandelten das Thema der Sicherungsverwahrung vor dem Hintergrund ihrer verstärkten Anwendung27.

Verläßliche Informationen über das genaue Ausmaß der polizeilichen Maßnahmen gegenüber Strafentlassenen liegen nicht vor. Was die homosexuellen Inhaftierten betrifft, so zeigt die Auswertung, daß die Vorbeugungshaft auf sie deutlich häufiger angewendet wurde als die polizeiliche planmäßige Überwachung: Von den nach 1937 zu entlassenden (homosexuellen) Zuchthausgefangenen – diese waren von einer polizeilichen Inhaftierung besonders bedroht – wurden rund 33 % durch die Kriminalpolizei in Vorbeugungshaft genommen; bei weiteren 11 % war die Vorbeugungshaft zum Entlassungstermin vorgesehen. Aussagen, wonach „die meisten der [nach §§ 175, 175a] Verurteilten nach Verbüßung ihrer Strafe in ein Konzentrationslager eingeliefert wurden“28, erweisen sich allerdings als Fehlangaben, die ihre Ursache vermutlich in der Überschätzung der Gesamtzahl homosexueller KZ-Häftlinge haben.

Der weitaus größte Teil der Haftmaßnahmen gegen Strafentlassene erfolgte – dies nicht nur im Fall der homosexuellen Gefangenen – nach Kriegsbeginn: In den Jahren 1940 und 1941 wurde fast die Hälfte der zur Entlassung kommenden homosexuellen Justizhäftlinge in kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft genommen. Wurde also nach der reichseinheitlichen Regelung im Dezember 1937 anfänglich vielfach noch die polizeiliche planmäßige Überwachung als ausreichende Maßnahme zum „Schutz der Volksgemeinschaft“ gegenüber Homosexuellen angesehen, so trat diese relativ bald nach Kriegsbeginn hinter der Vorbeugungshaft zurück. Hinzu kam, daß nach einem Runderlaß des RSHA vom Juli 1940 die Kriminalpolizei angewiesen wurde, „in Zukunft alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche

26 Schreiben des RJM an die GStA, betr. Polizeiliche Vorbeugungshaft, 26.3.1941. BA R 22/1469, fol. 104. Vgl. auch den abschließenden Vermerk Rietzschs; BA R 22/1469, fol. 191. 27 Vgl. z.B. Roland Freisler: Fragen zur Sicherungsverwahrung. In: DJ 100 (1938), S. 626-629. Vgl. auch die Aufsatzsammlung in dem von Freisler und Franz Schlegelberger herausgegebenen Heft mit dem Titel: Dringende Fragen der Sicherungsverwahrung. Berlin 1938. 28 Harry Wilde: Das Schicksal der Verfemten. Die Verfolgung der Homosexuellen im 3. Reich und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft. Tübingen 1969, S. 19; ähnlich auch Franz Seidler: Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Sanitätsführung 1939-1945. Neckargemünd 1977, S. 197 sowie Thomas Tunsch: „Ausmerzung der Entarteten“. Einige Aspekte der Schwulenverfolgung in Deutschland. In: Wissenschaft unter dem NS-Regime, hg. von Burchard Brentjes. Berlin [u.a.] 1992, S. 122-131, hier S. 125. 319

Vorbeugungshaft zu nehmen“29. Ausgenommen waren diejenigen (vermeintlichen) Homosexuellen, die „entmannt“ waren, „wenn nach ärztlicher Begutachtung der Geschlechtstrieb bereits abgeklungen und ein Rückfall in homosexuelle Verfehlungen nicht zu befürchten“ war30. Der Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge wurde damit unter den homosexuellen Inhaftierten unabhängig vom Vorliegen von Vorstrafen deutlich erweitert.

5.3.1.2. Auswahlkriterien und Entscheidungsprozesse

Mit dem Inkrafttreten des grundlegenden Erlasses vom Dezember 1937 war der Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge weit gefaßt: War eine Inhaftierung von „Berufs-“ und „Gewohnheitsverbrechern“ noch an das Vorliegen einer bestimmten Zahl und Höhe von Vorstrafen gebunden, so konnten nach den Bestimmungen des Erlasses „Gemeingefährliche“ und „Asoziale“ schon dann festgenommen werden, wenn ein „verbrecherischer Wille“ oder ein „asoziales Verhalten“ festgestellt wurde. Der Grunderlaß griff damit über die enger gefaßten Bestimmungen zur Regelung der gerichtlichen Sicherungsverwahrung weit hinaus.

Von Anfang an griff die Kriminalpolizei auch bei der Homosexuellenverfolgung energisch gegen die nur geringfügig (vor-)bestraften sog. Gemeingefährlichen ein. Hauptzielgruppe der kriminalpolizeilichen Vorbeugungspraxis waren in der Anfangsphase jedoch besonders diejenigen Strafentlassenen, bei denen es die Justiz trotz Vorliegens der materiellen Voraussetzungen unterlassen hatte, die Sicherungsverwahrung anzuordnen: Etwa 75 % der bis zum Ende des Jahres 1940 in Vorbeugungshaft genommenen homosexuellen Strafentlassenen erfüllten nach Zahl und Höhe der Vorstrafen bzw. Straftaten die im „Gewohnheitsverbrechergesetz“ aufgeführten Voraussetzungen einer Verurteilung nach § 20a und der Verhängung der Sicherungsverwahrung nach § 42e. Die Praxis der Urteils„korrektur“ bei zu Sicherungsverwahrung verurteilten Gefangenen läßt sich umgekehrt auch daran feststellen, daß knapp 60 % der Häftlinge, bei denen die Gerichte von einer Verurteilung nach § 20a bzw. zumindest von der Verhängung der Sicherungsverwahrung abgesehen hatten, im Anschluß an die Strafhaft in Sicherungsverwahrung genommen wurden; gegen weitere 14 % war die Vorbeugungshaft im Anschluß an die Strafverbüßung vorgesehen. So verurteilte beispielsweise das Sondergericht Köln den u.a. wegen gewerbsmäßiger Unzucht mit Männern angeklagten H.S. als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ zu fünf Jahren Zuchthaus, lehnte jedoch die Anordnung der Sicherungsverwahrung mit der Begründung ab, daß „die öffentliche

29 Runderlaß RSHA, 12.7.1940. Abgedruckt in: Homosexualität in der NS-Zeit, Dok. 89, S. 311. 320

Sicherheit es zur Zeit noch nicht erfordert, daß er [der Angeklagte] in Sicherungsverwahrung untergebracht werden muß“. In der Kriminalpolizeileitstelle Köln war man darüber offensichtlich anderer Meinung und nahm den Betroffenen bei seiner Entlassung in Vorbeugungshaft31.

Indem die Justiz auf die Vorbeugungspraxis der Polizei mit der verstärkten Anwendung der Sicherungsverwahrung reagierte und nahezu gegen alle Straftäter, bei denen sie die Voraussetzungen als erfüllt ansah, die Sicherungsverwahrung anordnete32, verringerte sich der Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge. Neben der Zahl und Höhe der Vorstrafen bildete bei der Anordnung der Vorbeugungshaft vor allem die sog. Schwere der homosexuellen Verfehlung ein Auswahlkriterium der Polizei: Fast 95 % der in Vorbeugungshaft genommenen Strafentlassenen waren nach dem Ergebnis der Untersuchung zu meist langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden. Schwerpunktmäßig richtete sich die Maßnahme der Vorbeugungshaft gegenüber Strafentlassenen somit nicht gegen die nach § 175 – in der Regel zu Gefängnisstrafe – verurteilten Männer, sondern gegen die aufgrund eines Straftatbestandes der „qualifizierten“ Homosexualität nach § 175a bzw. §§ 174 und 176 verurteilten Personen. Zum Teil wurde in den Anweisungen der Kriminalpolizei direkt Bezug genommen auf den Runderlaß vom 12. Juli 194033.

Ebenso wie bei der Anordnung der polizeilichen planmäßigen Überwachung stellt sich auch bei der Verhängung der Vorbeugungshaft gegenüber Strafentlassenen die Frage nach der Zusammenarbeit zwischen Kriminalpolizei und Strafvollzugsbehörden. Diese unterstützten die kriminalpolizeiliche Vorbeugungspraxis, indem sie die Termine bevorstehender Haftentlassungen bekanntgab; zumindest formell besaßen Anstaltsleiter auch die Möglichkeit, über das Anfertigen von Führungsberichten Einfluß auf die Auswahl der Vorbeugungshäftlinge zu nehmen.

Die Auswertung der in die Untersuchung eingegangenen Führungsberichte zeigt, daß die Bewertungskriterien der Strafanstaltsleiter die gleichen waren wie in den Gnadengutachten34. Positiv wirkten sich dementsprechend besonders eine gute Führung im Strafvollzug, ein gepflegtes Erscheinungsbild, eine geringe Anzahl von Vorstrafen sowie die Annahme einer ausreichenden „Willenskraft“ zur Selbstbeherrschung aus. Negativ wurde die Rückfallwahrscheinlichkeit vor allem derjenigen homosexuellen Gefangenen beurteilt, die den Vorstellungen des „weichlichen“,

30 Erlaß RKPA, 23.9.1940. Abgedruckt in: Ebd., Dok. 90, S. 312. 31 Personalakte des Gefangenen H.S.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15418. Vgl. ebenso auch: Personalakte des Gefangenen L.G.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/673. 32 Vgl. Kapitel 4.1.6.3.2. 33 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15471. 34 Vgl. Kapitel 4.2.2.7. 321

„haltlosen“, „schwachen“ Homosexuellen entsprachen; bei mehrfach Vorbestraften wurde auch in den Beurteilungen an die Kriminalpolizei immer wieder die Nähe zur „Asozialität“ herausgestellt.

In den an die Polizei adressierten Führungsberichten hielten sich Vollzugs- und Lagerleiter bei der Einschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit überwiegend zurück und rieten im Zweifelsfall – nicht nur im Fall der homosexuellen Inhaftierten – einer polizeilichen Maßnahme eher zu als ab; dies vermutlich alleine schon deshalb, weil man nicht wagte, mit einer entschieden positiven Beurteilung des zu Entlassenden für dessen zukünftiges straffreies Verhalten zu bürgen. In einer Vielzahl von Fällen wurde deshalb angegeben, daß nicht „mit einiger Sicherheit“ erkannt werden könne, ob der Betreffende „sich in Zukunft straffrei zu halten vermag“35. Über den homosexuellen Gefangenen L.G. schrieb der Leiter des Zuchthauses Celle an die Kriminalpolizeileitstelle Frankfurt, daß die „innere Einstellung [...] sich bei ihm selber kaum geändert“ habe, es dürfe jedoch nicht verkannt werden, daß „die jetzige Strafe einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hat“36. Ähnlich undifferenziert wird über den im Zuchthaus Celle Inhaftierten G.B. geurteilt. In dem Bericht an die zuständige Kriminalpolizeistelle heißt es:

„Man wird ihm den guten Willen nicht absprechen können, aber ich glaube nicht, daß er die Kraft aufbringen wird, seinen Willen in die Tat umzusetzen. Rein äußerlich macht er einen weichlichen schlaffen Eindruck. Die Strafverbüßung wird ihm eine ernste Warnung sein. Ob die Warnung nachhaltig genug ist, wird die Zukunft zeigen.“37

Nahmen Vertreter der Vollzugsbehörden über diese indifferente Haltung hinaus unmißverständlich Stellung, so geschah das mehrheitlich in der Weise, daß der geplanten Vorbeugungshaft unter Hinweis auf „Vorleben und Vorstrafen“38, die „Verwerflichkeit der Straftat“39 und die mangelnde „innere Einstellung“40 zugestimmt wurde. Daneben finden sich vereinzelt jedoch auch positive Beurteilungen von Strafentlassenen, in denen – mit Bezug auf die günstigen Erfahrungen im Strafvollzug – zum Teil sogar vehement von der Anordnung der Vorbeugungshaft abgeraten wurde: So heißt es beispielsweise über den Gefangenen H.K. in dem Bericht an die Kriminalpolizei vom März 1941:

„Während seiner Strafverbüßung sind über Führung und Arbeitsleistungen des K.[...] keine Klagen laut geworden. In Bezug auf seine innere Einstellung kann er als einsichtig bezeichnet werden. [...] Die schwere Strafe ist nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Es

35 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen F.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/4. 36 Personalakte des Gefangenen L.G.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/673. 37 Personalakte des Gefangenen G.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 37/90. 38 Personalakte des Gefangenen H.B.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14548. 39 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 3722. 40 Personalakte des Gefangenen L.G.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/673. 322

besteht auch die Hoffnung, daß K.[...] sich in Zukunft halten wird. Die Verhängung der Vorbeugungshaft halte ich bei K.[...] nicht für notwendig. Die Anordnung einer polizeilichen Auflage halte ich bei ihm für ausreichend.“41

Auch im Fall des zur Entlassung kommenden Häftlings W.L. empfahl der Leiter des Gefängnisses Lingen die Anordnung von Maßnahmen der polizeilichen Überwachung anstelle der Vorbeugungshaft. In dem Bericht an die Kriminalpolizeileitstelle Karlsbad ist zu lesen:

„Seine Straftat bereut er und sieht das Verwerfliche ein. Seine Führung ist einwandfrei, sein Fleiß gut. Ihm fehlt die Einsicht nicht, daß er mit seinen Straftaten Schluß machen muß, um nicht in die Sicherungsverwahrung abzugleiten. Deshalb kann auch sein Besserungswille – trotz der Vorstrafen – als ernst gewertet werden. Die verbüßte Strafzeit hat derart auf ihn gewirkt, daß er zur Einsicht gekommen ist. Es kann angenommen werden, daß er sich in Zukunft straffrei halten wird. Vorbeugende Maßnahmen erscheinen nicht erforderlich. Unauffällige Beobachtung in der ersten Zeit ist jedoch empfehlenswert.“42

Die zum Teil sehr positiven Beurteilungen beeinflußten das Handeln der Kriminalpolizei nur wenig. Hatte diese einen zu entlassenden Gefangenen erst einmal für die Vorbeugungshaft vorgesehen, so wurde diese in der Regel auch angeordnet43. Nur ein einziger Fall ist in den in die Untersuchung einbezogenen Personalakten dokumentiert, bei dem die Kriminalpolizei aufgrund der Beurteilung eines Anstaltsleiters von der Anordnung der Vorbeugungshaft gegenüber einem Strafentlassenen Abstand nahm. Der Vorgang, der sich im Februar 1940 und damit vor dem Runderlaß aus dem Reichssicherheitshauptamt ereignete, wird im folgenden wiedergegeben:

Am 6. Februar 1940 wurde dem Leiter des Zuchthauses Hameln mitgeteilt, daß der Gefangene F.T. nach dem Ende der Strafverbüßung nicht entlassen, sondern der Kriminalpolizeileitstelle Saarbrücken überstellt werden sollte, da vorbeugende Maßnahmen gegen ihn geplant seien. Bereits einen Tag später beantwortete der Anstaltsleiter die Aufforderung mit folgendem Schreiben:

„Von den beabsichtigten vorbeugenden Maßnahmen über den Zuchthausgefangenen F. T. [...] bitte ich dringend Abstand zu nehmen und zwar aus folgenden Gründen: T.[...] hat sich hier sehr gut geführt und fleißig gearbeitet. Zwar läßt sich eine widernatürliche Veranlagung durch eine Zuchthausstrafe nicht beseitigen, aber es sind inzwischen Verhältnisse eingetreten, die es als zweckmäßig und im erziehlichen Sinne als am aussichtsreichsten erscheinen lassen, wenn vorbeugende Maßnahmen hier am Orte ergriffen werden. Die Eltern des T.[...] sind während seiner Haft nach Hameln verzogen. Sie machen einen ordentlichen, zuverlässigen Eindruck und haben ihrem Sohne bereits hier eine Arbeitsstelle

41 Personalakte des Gefangenen H.K.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 38/305. 42 Personalakte des Gefangenen W.L.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15400. 43 Vgl. hierzu z.B. auch Personalakte des Gefangenen H.G.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 15246; Personalakte des Gefangenen E.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 40/380; Personalakte des Gefangenen H.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/185; Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/115; Personalakte des Gefangenen K.F.: NdS StA OS, Rep 947, Lin II, 14681. 323

verschaffen können, die ihn unter ihrer ständigen Aufsicht läßt. Der hiesige unter meiner Leitung stehende Verein für Straffälligenbetreuung und Ermittlungshilfe kann hier am Orte in Gemeinschaft mit den Eltern die besten Maßnahmen ergreifen, um den Entlassenen vor einer Rückfälligkeit zu schützen. Die Abstandnahme der dortigen Kriminalpolizeileitstelle von anderen als den von uns beabsichtigten Maßnahmen erscheint mir daher geboten.“

Die Kriminalpolizei griff den Vorschlag des Anstaltsleiters auf und antwortete einige Tage später: „Ich bitte Sie, die von Ihnen vorgeschlagene Straffälligenbetreuung und Ermittlungshilfe zu übernehmen und mir laufend jeden Wechsel des Wohn- und Arbeitsverhältnisses des T.[...] mitteilen zu wollen.“44

Der beschriebene Vorgang stellt in der Untersuchung einen Einzelfall dar. In der Regel handelte die Kriminalpolizei bei der Inhaftierung von Strafentlassenen nach den Ergebnissen der Auswertung weitgehend unabhängig von den Erfahrungen der Strafvollzugsbehörden. Es kam sogar vor, daß die Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit eines zur Entlassung kommenden Gefangenen in einem von der Kriminalpolizei angeforderten Führungsbericht negativ ausfiel und diese schließlich trotzdem keine Vorbeugungshaft anordnete45.

Auch in den seltenen Fällen, in denen die Strafvollzugsbehörden selbst die Initiative ergriffen, gegenüber Strafentlassenen, bei denen sie aufgrund der Erfahrungen während der Haftzeit einen Rückfall für wahrscheinlich hielten, der Polizei die Verhängung der Vorbeugungshaft anzuraten, orientierte sich die Kriminalpolizei nicht unbedingt an diesen Ratschlägen: So forderte beispielsweise der Vorsteher des Zuchthauses Hameln die Kriminalpolizei auf, gegen den Zuchthausgefangenen J.O. im Anschluß an die Freiheitsstrafe Vorbeugungshaft zu verhängen. Als Begründung wurde angegeben, daß dieser „ein sittlich verkommener Geselle“ und „gefährliche[][r] Sittlichkeitsverbrecher“ sei, der seine Tat „ohne ein Spur von Reue gleichgültig“ zugebe. Obwohl darauf aufmerksam gemacht wurde, daß von dem Betroffenen im Fall der Strafentlassung eine große „Gefahr für die Jugend“ ausgehe, verhängte die Kriminalpolizei nicht wie gefordert die polizeiliche Vorbeugungshaft. In dem Antwortschreiben wird als Begründung angeführt, daß der Betroffene „karteimäßig bislang hier nicht bekannt geworden“ sei46. Insgesamt kam es jedoch selten vor, daß Vollzugs- oder Lagerleiter aus eigener Initiative einen Antrag auf Vorbeugungshaft gegenüber Strafentlassenen stellten47.

44 Personalakte des Gefangenen F.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 39/113. 45 Vgl. z.B. Personalakte des Gefangenen W.T.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 41/209 sowie Personalakte des Gefangenen E.B.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 38/199. 46 Personalakte des Gefangenen J.O.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 36/222. 47 Vgl. z.B. noch den Fall I.S. Personalakte des Gefangenen I.S.: NdS HStA H, Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90, Nr. 41/246. 324

5.3.2. Die Abgabe von Justizgefangenen an die Polizei zur „Vernichtung durch Arbeit“

War bis 1942 die Verhängung polizeilicher Vorbeugungshaft gegen Justizgefangene nur im Anschluß an die Strafverbüßung bzw. an die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung möglich, so erfuhr die Inhaftierung justitieller Verfolgter durch die Polizei mit dem Abkommen zwischen Reichsjustizminister Otto Thierack und dem Reichsführer SS Himmler vom 18. September 1942 eine neue Dimension. Thierack, seit dem 20. August 1942 Reichsjustizminister, teilte die Vorstellungen Hitlers über die „negative Auslese“ im Krieg und deren Folgen für den Strafvollzug. Gegenüber den Chefpräsidenten der Oberlandesgerichte und den Generalstaatsanwälten erklärte er:

„Draußen an der Front fallen unsere Besten, unsere Idealisten, und drinnen sitzen unsere Asozialen in den Zuchthäusern und werden konserviert. Ein Widerspruch in sich! [...] Da gibt es ein einfaches Mittel: Der Justizminister brauchte nur im vorigen Winter anzuordnen, daß in den Zuchthäusern genau dasselbe geschah, wie draußen an der Front, nämlich er brauchte nur anzuordnen, daß die zu 8 Jahren Zuchthaus und darüber verurteilten Zuchthäusler und ebenso die Sicherungsverwahrten 14 Tage lang draußen des Nachts bei den Kältegraden, die wir hier hatten, auf Pritschen schliefen. [...] Ich habe mir das überlegt und bin dahin gekommen: Diese Lösung kann [...] nur im Wege der Ethik gefunden werden, im Wege des Rechts, können Sie ruhig sagen. Denn wir sind hier in Notwehr. Wer diese Probleme in ihrer letzten Konsequenz erkennen will, muß in ihnen leben. Dann wird er erkennen: hier ist der Tatbestand der Notwehr für das ganze Volk absolut gegeben.“

Hinsichtlich der Sicherungsverwahrten erläuterte Thierack weiter, daß diese „unwertes Leben in höchster Potenz“ seien und „alle dort eingesetzt [werden], wo sie zugrunde gehen“ und dabei „noch Werte für unser Volk leisten“ würden. Bei den übrigen Häftlingen dachte er an einen Arbeitseinsatz, „der außerordentlich gefährlich ist, bei dem wahrscheinlich ein Teil dieser Menschen zugrunde gehen wird“48.

Ihre Umsetzung fanden diese Vorstellungen Thieracks über eine neue Justizpolitik in folgender Vereinbarung zwischen ihm und Himmler vom September 1942:

„Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über 3 Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichsjustizministers. Zunächst sollen die übelsten asozialen Elemente unter letzteren ausgeliefert werden. Hierzu werde ich den Führer durch Reichsleiter Bormann unterrichten.“49

48 RJM, Wortprotokoll der Besprechung, 29.9.1942; BA R 22/4199, fol. 8-137, hier fol. 38f. 49 RJM, Vermerk Otto Thierack, 18.9.1942; BA R 22/4062, fol. 35. 325

Die konkrete Auswahl der Gefangenen oblag den Anstaltsleitern. Ausgenommen waren wehrmachtgerichtlich und SS- bzw. polizeigerichtlich Verurteilte, bestimmte Gruppen von Ausländern sowie aufgrund von Krankheit nicht-transportfähige Gefangene und geisteskranke Häftlinge. Bei der Abgabe sollte zudem darauf geachtet werden, daß es nicht zu Ausfällen in der Rüstungsproduktion kam. Bis April 1943 waren insgesamt 13.100 männliche und 1.600 weibliche Justizgefangene aus dem Strafvollzug in ein Konzentrationslager überführt worden. Weitere 3.100 Männer wurden von der Abgabe zurückgestellt, da sie zu sog. kriegswichtigen Arbeiten eingeteilt waren50.

Auch homosexuelle Gefangene wurden aus den Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern an die Polizei ausgeliefert. Rund 10 % der dort Inhaftierten wurden in den Jahren 1942 bis 1944 während des Strafvollzugs in Vorbeugungshaft genommen. In Sammeltransporten gelangten die Gefangenen in die Konzentrationslager Neuengamme und Buchenwald.

Betroffen waren entsprechend dem Inhalt der Vereinbarung zwischen Himmler und Thierack insbesondere die zu Sicherungsverwahrung verurteilten Männer: Gegen 85 % der betroffenen Homosexuellen war nach § 42e im Gerichtsurteil die Sicherungsverwahrung ausgesprochen worden. In den übrigen Fällen war die Anordnung dieser Maßnahme entweder bewußt abgelehnt worden (wie im Fall des Gefangenen M.W. aufgrund einer bereits vollzogenen Kastration51) oder scheiterte an den fehlenden materiellen Voraussetzungen. Für die Auslieferung an die Polizei ausschlaggebend war hier das hohe Strafmaß der Gefangenen.

Von den sich nach 1942 in Haft befindenden zu Sicherungsverwahrung verurteilten Homosexuellen hatte wohl kaum einer eine Chance, der Auslieferung an die Polizei zu entgehen: Nach den Ergebnissen der Auswertung wurden von diesen über 61 % in Vorbeugungshaft genommen, 22 % starben im Strafvollzug, und bei etwa 15 % der Inhaftierten läßt sich das Haftende aus den Angaben in den Akten nicht mehr rekonstruieren52. In keinem Fall läßt sich der Verbleib eines zu Sicherungsverwahrung verurteilten Gefangenen im Strafvollzug nachweisen.

50 Vgl. zu den Zahlenangaben Möhler, Strafvollzug im „Dritten Reich“, S. 159 sowie allgemein Karl-Heinz Roth: „Abgabe asozialer Justizgefangener an die Polizei“ – eine unbekannte Vernichtungsaktion der Justiz. In: Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, hg. von Angelika Ebbinghaus [u.a.]. Hamburg 1984, S. 21-25. 51 Personalakte des Gefangenen M.W.: NdS HStA H, Hann. 86 Celle, Acc. 142/90, Nr. 42/171. 52 Einem Gefangenen aus dieser Personengruppe gelang die Flucht aus einem der Lager. 326

5.4. „Ob er sich in Zukunft straffrei zu halten vermag, läßt sich mit einiger Sicherheit nicht erkennen“ – Zusammenfassung: Kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft und polizeiliche planmäßige Überwachung gegen homosexuelle Strafentlassene

Daß nicht alle nach §§ 175, 175a verurteilten – und damit als Homosexuelle identifizierten – Männer auch polizeilich verfolgt und in Konzentrationslager überführt wurden, zeigt bereits der Vergleich von Verurteiltenzahlen (ca. 50.000 zwischen 1933 und 1945) und der Zahl der homosexuellen KZ- Insassen (zwischen 5.000 und 10.000). Es wurde deshalb einleitend die Frage gestellt, nach welchen Auswahl- und Entscheidungskriterien die Einweisung Homosexueller in ein Konzentrationslager erfolgte. Die Auswertung des Aktenmaterials aus den in die Untersuchung einbezogenen Strafanstalten macht deutlich, daß sich der Einfluß der Polizei auf bestimmte Gruppen von Häftlingen konzentrierte und in begrenzten Zeiträumen verlief. Bei der Verbrechensbekämpfung durch die Kriminalpolizei kam der polizeilichen planmäßigen Überwachung eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu. In nennenswertem Umfang wurde diese als „milde“ Variante zur KZ-Haft gedachte Vorbeugungsmaßnahme nur im Zeitraum von Ende 1937 bis Ende 1939 angewendet. Im Jahr 1939 setzte bereits in großem Umfang die Inhaftierung von zur Entlassung kommenden Justizhäftlingen durch die Kriminalpolizei ein. Betroffen waren zunächst besonders diejenigen nach §§ 175, 175a Verurteilten, bei denen die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung vorlagen, die Gerichte jedoch deren Anordnung unterlassen hatten. Am intensivsten war die Praxis der Vorbeugungshaft gegenüber homosexuellen Strafentlassenen in den Jahren 1940 und 1941. Danach verringerte sich der Kreis potentieller Vorbeugungshäftlinge durch die häufigere Anordnung der in § 42e geregelten Sicherungsverwahrung. Wegen geringfügiger „Delikte“ nach § 175 zu Gefängnisstrafe verurteilte Männer waren nur selten Adressaten der kriminalpolizeilichen Vorbeugungspraxis.

Der Strafvollzug intervenierte gegen die Vorbeugungspraxis der Kriminalpolizei gegenüber Strafentlassenen kaum. Bereitwillig wurden der Polizei Entlassungstermine sowie Führungszeugnisse über die Gefangenen zur Verfügung gestellt. Gelegentlich wurden der Kriminalpolizei sogar Maßnahmen der polizeilichen vorbeugenden Verbrechensbekämpfung – vor allem in Form der vergleichsweise milden polizeilichen planmäßigen Überwachung – vorgeschlagen. Es ist anzunehmen, daß die Kooperation mit der Polizei je nach Haftanstalt differierte. So fällt bei der Auswertung beispielsweise die enge Zusammenarbeit zwischen der Kriminalpolizeileitstelle Hannover und dem Leiter des Zuchthauses Hameln auf, der auf Anfragen der Polizei prompt reagierte und vergleichsweise häufig auch selbst die Anordnung vorbeugender Maßnahmen gegen einzelne Häftlinge vorschlug. An den wenigen Fällen, in denen Strafanstaltsleiter versuchten, eine 327 gegen einen zur Entlassung kommenden Gefangenen geplante polizeiliche Vorbeugungsmaßnahme abzuwenden, werden die engen Grenzen ihres Handelns sichtbar.

Mit der Ernennung Thieracks zum Reichsjustizminister wurde die Kooperation der Justiz mit der Polizei verstärkt. Das Abkommen zwischen ihm und Himmler vom September 1942 markierte einen Höhepunkt in der Zusammenarbeit zwischen Strafvollzug und Polizei, indem – gleichsam als Vorgriff auf die Bestimmungen des geplanten „Gemeinschaftsfremdengesetzes“53 –zu langen Haftstrafen sowie zu Sicherungsverwahrung verurteilte Gefangene praktisch ausnahmslos an die Polizei ausgeliefert wurden. Betroffen waren homosexuelle Gefangene ebenso wie wegen krimineller oder politischer Delikte bestrafte Gefangene. Ein homosexuellenspezifisches Vorgehen von Strafvollzug und Polizei läßt sich an der Durchführung der Auslieferungsbestimmungen nicht ablesen.

53 Vgl. Kapitel 2.2. 328

6. Zusammenfassung und Deutung

„Starker Schutz der geschlechtlichen Sittlichkeit und der Gesundung des geschlechtlichen Verkehrs durch die Gestaltung der Tatbestände und die der Strafdrohungen muß das Ziel sein. Denn die Sittlichkeit [...] gehört zu den Grundlagen gedeihlichen Volkslebens.“1 Diese Überlegungen des an der Ausarbeitung eines neuen deutschen Strafgesetzbuches beteiligten Grafen Wenzeslaus von Gleispach fanden ihre Umsetzung in der Neuformulierung des § 175 in der Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935, mit der als dringend erachtete Strafrechtsänderungen vorweggenommen wurden. Die Ausweitung des Straftatbestandes der „widernatürlichen Unzucht“ auf jegliche Form der „Unzucht“ zwischen Männern – darunter nicht mehr allein die sog. beischlafähnlichen Handlungen – markierte in quantitativer wie qualitativer Hinsicht einen entscheidenden Einschnitt in der justitiellen Verfolgung Homosexueller: Hinsichtlich des Verfolgungsausmaßes läßt sich mit dem Inkrafttreten der Strafrechtsnovelle am 1. September 1935 ein deutlicher Anstieg der Verurteiltenzahlen feststellen. Für die in Deutschland lebenden Homosexuellen hatte ein Leben in ständiger Angst vor Verfolgung bereits vorher begonnen – spätestens mit der Röhm-Affäre, die an der ablehnenden Haltung der Nationalsozialisten gegenüber Homosexuellen keinen Zweifel mehr aufkommen ließ, war den meisten Homosexuellen ihre gefahrvolle Lage bewußt geworden. Darüber hinaus bewirkte die Einführung des § 175a durch die Strafgesetznovelle eine Verschärfung der Strafrechtspraxis, indem bei bestimmten Handlungen – den sog. qualifizierten Fällen der Homosexualität – die Verhängung von Zuchthausstrafe anstelle von Gefängnisstrafe trat. Die Höhe der nach § 175 ergangenen Gefängnisstrafen nahm jedoch nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung – vermutlich als Folge der nun möglich gewordenen Verfolgung von Homosexuellen wegen bis dahin straflos gebliebener geringfügiger „Delikte“ – durchschnittlich ab.

Neben der speziell gegen homosexuelle Männer gerichteten Strafrechtsänderung waren diese auch von allgemeinen Verschärfungen des Strafrechts betroffen. Vor allem das im November 1933 erlassene sog. Gewohnheitsverbrechergesetz, das bei Vorliegen bestimmter materieller und immaterieller Voraussetzungen die Möglichkeit der Strafschärfung sowie der Verhängung der zeitlich unbefristeten Sicherungsverwahrung vorsah, bewirkte eine erhebliche Ausweitung des Strafrahmens bei bestimmten Tätergruppen. Gegenüber homosexuellen Straftätern wurden die Bestimmungen des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ vergleichsweise häufig angewendet,

1 Wenzeslaus von Gleispach: Unzucht. In: Das kommende deutsche Strafrecht. Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission, hg. von Franz Gürtner. Berlin 1936, S. 116-129, hier S. 116. 329 insbesondere um gegen nach § 175 Verurteilte anstelle von Gefängnisstrafe eine Zuchthausstrafe zu verhängen.

Generell mußte bei einer Verurteilung nach §§ 175, 175a mit hohen Strafen rechnen, wem homosexuelle Handlungen über einen längeren Zeitraum oder eine promiskuitive sexuelle Lebensform nachgewiesen werden konnte. Speziell homosexuelle Handlungen mit Kindern, Jugendlichen oder bei bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen wurden streng – mit Zuchthausstrafe – geahndet, wozu der 1935 eingeführte § 175a die rechtliche Grundlage bot. Ab September 1941 konnte bei Verurteilungen nach § 176 sogar die Todesstrafe verhängt werden. Bei der Strafbemessung wirkten sich neben den die Straftat betreffenden Kriterien zunehmend allgemeine, den Täter charakterisierende Merkmale (wie Lebensführung, Alter, Familienverhältnisse, politische Einstellung, Zahl und Höhe der Vorstrafen usw.) aus. Diese Tendenz war Folge der Durchsetzung der Tätertypenlehre in der nationalsozialistischen Strafrechtspraxis. Die eigentliche Straftat trat dabei zugunsten der Bewertung der Gesamtpersönlichkeit des überführten Angeklagten in den Hintergrund. Die homosexuelle Veranlagung stellte hierbei nur eines von mehreren Kriterien zur Feststellung des Grades von „Gemeinschaftsfremdheit“ dar. Die Intensivierung der justitiellen Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus war neben der Anwendung der gegen sie gerichteten verschärften rechtlichen Regelungen bedingt durch eine allgemeine Radikalisierung der Rechtsprechungspraxis in der Zeit von 1933 bis 1945.

Eine stärkere Resistenz gegenüber den ideologischen Forderungen von NS-Politikern im Umgang mit zu „Verbrechern“ und „Gemeinschaftsfremden“ erklärten Personen bewies der Strafvollzug im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland. Aufgrund einer starken personellen Kontinuität unter den Anstaltsleitern sowie den Verwaltungsbeamten und Vollzugskräften setzten sich den Umgang mit Gefangenen betreffende Regelungen und Einstellungen in den meisten Vollzugsanstalten nach 1933 erst allmählich durch. Eine Ausnahme bildeten die neugegründeten Strafgefangenenlager im Emsland, in denen von Anfang an konzentrationslagerähnliche Zustände bei der Behandlung der Inhaftierten bestanden.

Der Umgang des Vollzugspersonals mit homosexuellen Gefangenen war geprägt durch eine Art technischer Prävention, mit deren Hilfe gleichgeschlechtlichen Handlungen von Inhaftierten sowie besonders der „Verführung“ von Häftlingen durch Homosexuelle vorgebeugt werden sollte. Entsprechende Sonderregelungen, die vor allem die Art der Unterbringung sowie die Arbeitszuteilung betrafen, richteten sich jedoch nicht ausschließlich gegen homosexuelle Gefangene. Beispielsweise unterlagen auch die aus politischen Gründen Inhaftierten in diesen Bereichen gesonderten Bestimmungen, deren Anwendung eine politische Beeinflussung von Mitgefangenen verhindern sollte. Die betroffenen Gefangenen nahmen auf diese Weise eine Sonderstellung im 330

Strafvollzug ein, die allerdings im Fall der Homosexuellen nicht unbedingt zusätzliche Repressionen zur Folge hatte. Bei der sozialen Einschätzung der Gefangenen durch die Vollzugsbeamten sowie durch Mithäftlinge dürfte individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften eine größere Bedeutung zugekommen sein als dem Verurteilungsgrund. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in denen der nach außen durch verschiedenfarbige Winkel kenntlich gemachte Einlieferungsgrund der Inhaftierten deren Identität auf ein einziges Moment - im Fall der Homosexuellen auf ihre sexuelle Orientierung - reduzierte und so deren Haftschicksal festlegte. Hingegen konnten im Strafvollzug nach § 175 verurteilte Häftlinge, die nach außen nicht als Homosexuelle auftraten, gegen sie gerichtete Diskriminierungen vielfach vermeiden. Hingegen brachten Aufseher wie Mitgefangene den von ihrem äußeren Erscheinungsbild her effeminiert wirkenden Homosexuellen vielfach eine mangelnde Anerkennung entgegen. Die hinsichtlich der Situation homosexueller Konzentrationslagerinsassen aufgestellte These einer besonderen Diskriminierung der homosexuellen Inhaftierten generell ist anhand der den Strafvollzug betreffenden Quellen nicht belegbar.

Auf die Situation der Homosexuellen im Strafvollzug wirkte sich – stärker als gegen sie gerichtete Sanktionen und Diskriminierungen, die es auch gab – die allgemeine Verschlechterung der Haftbedingungen, insbesondere nach Kriegsbeginn, nachteilig aus. Hinzu kam in dieser Zeit die Ungewißheit über den Zeitpunkt des Haftendes, denn nach dem Inkrafttreten des „Grundlegenden Erlasses über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom 14. Dezember 1937 wurden polizeiliche Haftmaßnahmen gegen zur Entlassung kommende Justizgefangene immer häufiger angewendet. Betroffen waren hiervon auch nach § 175 verurteilte Häftlinge, die – nachdem im Oktober 1936 der Kriminalpolizei die grundsätzliche Zuständigkeit bei der Bearbeitung von Homosexualitätsfällen zugesprochen worden war – vorwiegend in kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft genommen wurden. Die Dienststellen der Polizei nutzten dabei Informationen, die ihnen von den Strafvollzugsbehörden zur Verfügung gestellt wurden, ließen sich jedoch durch die im Strafvollzug gesammelten Erfahrungen mit den Gefangenen und deren Einschätzung durch das Vollzugspersonal nur wenig beeinflussen. Eine neue Dimension erfuhr die Zusammenarbeit zwischen Kriminalpolizei und Strafvollzug durch die Umsetzung des im August 1942 zwischen Himmler und dem neu eingesetzten Reichsjustizminister Thierack geschlossenen Abkommens, wonach bestimmte Gruppen von Gefangenen aus dem Strafvollzug an die Polizei ausgeliefert werden sollten.

Obwohl nahezu jegliches als deviant definierbares Handeln eine polizeiliche Haftmaßnahme auslösen konnte, nahm die Polizei – entgegen den „Ausmerze“-Bekundungen des obersten Polizeiführers und Reichsführers SS Himmler – nicht willkürlich jeden aus der Haft entlassenen Homosexuellen in Vorbeugungshaft. Die Mehrzahl der gerichtlich nach § 175 verurteilten Männer blieb von der 331

Einweisung in ein Konzentrationslager verschont – dies wurde bereits an der Gegenüberstellung der Verurteiltenzahlen und der geschätzten Zahl homosexueller KZ-Häftlinge deutlich. Die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung gipfelte folglich – anders als im Fall der Judenverfolgung – nicht in der Vernichtung aller namhaft gewordenen homosexuellen Männer. Vielmehr setzte man sich zum Ziel, general- und spezialpräventiv (straffällige) Homosexuelle von der (weiteren) Ausübung ihrer Homosexualität abzuhalten. Hierfür stand ein differenzierter Maßnahmenkatalog zur Verfügung, der von Gefängnis- bzw. Zuchthausstrafe bis hin zur dauerhaften Absperrung oder sogar Tötung der „Unverbesserlichen“ reichte. In ein Konzentrationslager gelangten in der Regel „nur“ diejenigen Homosexuellen, denen man eine „Hangtäterschaft“ nachsagte bzw. ein „gemeinschaftsfremdes“ Verhalten vorwarf, welches man an Zahl und Höhe der Vorstrafen sowie an der Einschätzung des allgemeinen Lebenswandels abzulesen können glaubte. Somit bestätigt sich am Beispiel der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung die von Möhler aufgestellte These, wonach ein wesentliches Kennzeichen des NS-Strafvollzugs die zunehmende Aufspaltung im Umgang mit „Volksgenossen“ und „Gemeinschaftsfremden“ war: Während der Strafvollzug für die als „Volksgenossen“ angesehenen Inhaftierten weiterhin durch Normalität und starke Kontinuität gekennzeichnet war und das Vollzugsziel der Besserung erhalten blieb, wurden die zu „Gemeinschaftsfremden“ erklärten Gefangenen zunehmend daraus ausgeschlossen und in die Konzentrationslager überwiesen2. Die vorliegende Untersuchung macht deutlich, daß Homosexuelle, deren Lebensführung den Vorstellungen eines bürgerlichen Lebens entsprach, grundsätzlich als „Volksgenossen“ galten. Im Jahr 1940 wurde der Kreis der in Vorbeugungshaft zu nehmenden Homosexuellen um diejenigen erweitert, die – wie es in dem Erlaß hieß – „mehr als einen Partner verführt haben“.

Bestraft wurde generell nicht die homosexuelle Orientierung, sondern ihr Ausleben. Ein Konzept zur „Umerziehung“ Homosexueller existierte allerdings nicht, sondern einzig die Härte der Maßnahmen sollte die Verhaltensänderung bewirken. Umstritten war die Kastration als Maßnahme gegen homosexuelle „Hangtäter“, da über die Auswirkungen dieses medizinischen Eingriffs bei gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten keine gesicherten Kenntnisse vorlagen und eine Änderung der „Triebrichtung“ vielfach angezweifelt wurde. Anders als bei „Gemeinschaftsfremden“ und „Asozialen“, deren soziale Andersartigkeit im Nationalsozialismus erbbiologisch begründet wurde, war die Theorie von einer Vererbbarkeit der Homosexualität umstritten. Nur so ist erklärbar, daß man versuchte, Homosexuelle in die „Volksgemeinschaft“ wiedereinzugliedern und sich davon auch

2 Rainer Möhler: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel des Saarlandes. In: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Am Beispiel des Saarlandes, hg. von Heike Jung; Heinz Müller- 332 einen positiven Effekt hinsichtlich der Ziele der NS-Bevölkerungspolitik erhoffte. Schlugen derartige „Resozialisierungsversuche“ fehl bzw. glaubte man, ein generelles – auf eine erbliche Anlage zurückzuführendes – „gemeinschaftsfremdes“ Verhalten feststellen zu können, unterlagen Homosexuelle dem gleichen auf Vernichtung abzielenden Verfolgungsschicksal wie andere Deviante.

Die Verfolgung von Teilen der Bevölkerung aufgrund ihrer Religion, ihres sozialen Verhaltens oder ihrer politischen Gegnerschaft stellte ein Grundelement der NS-Herrschaft dar. Sie entsprang nicht etwa, wie Detlef Garbe vermutet, einer „Verfolgungsparanoia“, die ihre Ursache in der „Legitimation des [...] vor allem in den Jahren 1933/34 aufgeblähten institutionellen [Verfolgungs]Apparates“ hatte3, sondern gehörte untrennbar zum nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsdenken, das von der Antinomie „Volksgenossen“ versus „Gemeinschaftsfremde“ geprägt war4 und die Identifikation jener mit dem Staat stärkte. Daß ausgerechnet Homosexualität als „gemeinschaftsfremdes“ Verhalten definiert wurde, verwundert nicht. Für den Umgang mit Devianz in der Gesellschaft läßt sich generell feststellen, daß diskreditierungsgeeignete Themen nur wenig variieren5. Auch bei der Auswahl der als „Gemeinschaftsfremde“ aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzten Gruppen wurde auf bestehende, in der Gesellschaft tief verwurzelte Einstellungen zurückgegriffen6. Homosexualität galt nach Ansicht der meisten Deutschen als ausschweifend und promiskuitiv7 – daran hatten auch die Liberalisierungstendenzen der 20er Jahre nur wenig ändern können. In den Augen der Nationalsozialisten stellten Homosexuelle zudem eine klare Absage an die Ziele der NS- Bevölkerungspolitik dar, weshalb die Ausübung von Homosexualität mit allen Mitteln unterbunden wurde und Homosexuelle in den Reproduktionsprozeß wiedereingegliedert werden sollten. Ähnliche Aussagen lassen sich vermutlich hinsichtlich des Umgangs mit anderen, die Zeugungsfunktion von Sexualität verweigernden Lebensstilen, wie z.B. Prostitution und Schwangerschaftsabbruch, treffen. Hinzu kam, daß die Subkulturen und Selbstorganisationen Homosexueller, die während der Weimarer Republik stark an Mitgliederzahlen und Bedeutung gewonnen hatten, dem Monopol der Nationalsozialisten bei der Gründung und Betreuung von Zusammenschlüssen widersprachen. Sehr

Dietz. Baden-Baden 1996, S. 9-301, hier S. 262f. 3 Detlef Garbe: Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus. In: Norddeutschland im Nationalsozialismus, hg. von Frank Bajohr. Hamburg 1993, S. 186-217, hier S. 203. 4 Hans-Ulrich Thamer: Nation als Volksgemeinschaft. Völkische Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftsideologie. In: Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, hg. von Jörg- Dieter Gauger und Klaus Weigelt. Bonn 1990, S. 112-128, hier S. 123. 5 Vgl. hierzu Helge Peters: Devianz und soziale Kontrolle: eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens. Weinheim [u.a] 1989, S. 36. 6 Vgl. hierzu Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982, S. 235f. 333 deutlich tritt im Nationalsozialismus darüber hinaus der von Rüdiger Lautmann aufgezeigte Zusammenhang zwischen Geschlechtsrollenpolarität und sozialer Einschätzung der Homosexualität hervor: Indem Homosexuelle die Differenzen in den Verhaltensvorschriften für Männer und Frauen überschreiten, stellen sie das Verhältnis der Geschlechter zueinander in Frage8. Dies mußte auf eine starke Gegenwehr der Nationalsozialisten stoßen, die – zumindest auf programmatischer Ebene – bestrebt waren, die Stereotypen der Geschlechterrollen beizubehalten bzw. auf frühere Stufen zurückzuführen9.

Es wurde deutlich, daß weder die Ausgrenzung von Personen mit als abweichend definiertem Verhalten noch die Wahl diskreditierungsgeeigneter Themen spezifisch nationalsozialistisch war. Neu waren jedoch das Ausmaß und die Art der Verfolgung, die bis hin zur physischen Vernichtung reichen konnte. Ungekannt für die in Deutschland lebenden Homosexuellen war auch die allgegenwärtige Bedrohung durch den nationalsozialistischen Verfolgungsapparat und das ständige Klima der Angst, das sich daraus ergab. Auch wenn letztendlich der Großteil der homosexuellen Männer nicht direkt mit dem Verfolgungsapparat in Berührung kam, dürften viele von ihnen das NS- Regime und dessen Auswirkungen auf die Jahre nach 1945 ähnlich empfunden haben wie der wegen seiner Homosexualität verfolgte Schauspieler Kurt von Ruffin, der über sein Leben im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland erklärte: „Die besten Jahre meines Lebens hat Herr Hitler mir kaputtgemacht.“10

7 Vgl. Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977, S. 12f. sowie George L. Mosse: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. München [u.a.] 1985, S. 36. 8 Rüdiger Lautmann: Der Zwang zur Tugend. Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualitäten. Frankfurt/M. 1984, S. 223ff. 9 Vgl. hierzu Walter Tetzlaff: Homosexualität und Jugend. In: Der HJ-Richter. Schulungsblatt der HJ- Gerichtsbarkeit, S. 1-8. In der abschließenden Zusammenfassung heißt es: „Die Homosexualität schwächt ein Volk nicht nur durch Geburtenausfall, sie bedeutet darüber hinaus eine Entartung, eine Umkehrung des natürlichen Empfindens, eine Verweichlichung des Mannes und eine Vermännlichung der Frau.“ 10 Als schwuler Häftling 1934/1935 in den KZs Kolumbia-Haus und Lichtenburg. Kurt von Ruffin im Gespräch mit Winfried Kuhn. In: 100 Jahre schwul. Eine Revue, hg. von Elmar Kraushaar. Berlin 1997, S. 46-59, hier S. 58. 334

Literatur- und Quellenverzeichnis

(Die angeführten Buch- und Aufsatztitel werden bei der ersten Nennung in den jeweiligen Oberkapiteln in voller Länge zitiert; ab der zweiten Nennung werden Kurztitel verwendet. Gleiches gilt für die unter C aufgeführten Quellensammlungen und zeitgenössischen Periodika.)

A. Bis 1945 erschienene Literatur

Best, Werner: Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei. In: DR 6 (1936), S. 257f. Best, Werner: Erneuerung des Polizeirechts. In: Kriminalistische Monatshefte 12 (1938), S. 26-29. Best, Werner: Werdendes Polizeirecht. In: DR 8 (1938), S. 224-226. Best, Werner: Die Schutzstaffel der NSDAP und die Deutsche Polizei. In: DR 9 (1939), S. 44-48. Best, Werner: Die deutsche Polizei. Darmstadt 1941. Böhme, Albrecht: Die Vorbeugungsaufgaben der Polizei. In: DR 6 (1936), S. 142-145. Bürger-Prinz, Hans: Gedanken zum Problem der Homosexualität. In: MschrKrim 30 (1939), S. 430- 438. Bürger-Prinz, Hans: Über das Problem der Homosexualität. In: MschrKrim 32 (1941), S. 32-39. Christians: Ziele des Strafvollzugs. In: BlGefk 68 (1937/38), S. 339-350. Dahm, Georg: Todesstrafe und Tätertyp nach der Strafgesetznovelle vom 4. September 1941. In: DR 12 (1942), S. 401-406. Daluege, Kurt: Staatsanwaltschaft und Polizei in der Verbrechensbekämpfung. In: DJ 97 (1935), S. 1846-1850. Deussen, Julius: Sexualpathologie. In: Fortschritte der Erbpathologie, Rassenhygiene und ihrer Grenzgebiete 3 (1939), S. 67-102. Dra, Konrad: Was heißt Besserung im Strafvollzug? In: BlfGefK 70 (1939/40), S. 44-48. Eichler, Hans: Die Wandlung im Strafvollzuge. In: DRiZ 26 (1934), S. 67-70. Eichler, Hans: Der Vollzug der Sicherungsverwahrung. In: Dringende Fragen der Sicherungsverwahrung, hg. von Roland Freisler und Franz Schlegelberger. Berlin 1938, S. 98-104. Eichler, Hans: Der Strafvollzugsordnung vom 22. Juli 1940 zum Geleit. In: BlfGefK 71 (1940/41), S. 195f. Eichler, Hans: Die Strafvollzugsordnung vom 22. Juli 1940. In: GS 115 (1941), S. 119-144. Emmermann, Karl: Das Zuchthaus zu Celle. Diss. Göttingen 1921. Erdle, Wilhelm: Angriffe auf die Sittlichkeit Jugendlicher und Angriffe Jugendlicher auf die Sexualität. Köln 1939. Exner, Franz: Das System der sichernden und bessernden Maßregeln nach dem Gesetz v. 24. November 1933. In: ZStW 53 (1934), S. 629-655. Exner, Franz: Aufgaben der Kriminologie im Dritten Reich. In: MschrKrim 27 (1936), S. 3-16. 335

Exner, Franz: Wie erkennt man den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher? In: DJ o.B. (1943), S. 377-379. Feder, Gottfried: Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken. München 231930. Finke, Hans: Eine Reichszentralstelle für Kastrationsuntersuchungen. In: DJ 96 (1934), S.1472f. Finke, Hans: Die ersten 50 Entmannungen gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher im Oberlandesgerichtsbezirk Dresden. In: DStR (N.F.) 8 (1941), S. 186-197. Frank, Hans: Nationalsozialistische Strafrechtspolitik. München 1938. Frank, Hans; Himmler, Heinrich; Best, Werner; Höhn, Reinhard: Grundfragen der deutschen Polizei. Bericht über die konstituierende Sitzung des Ausschusses für Polizeirecht der Akademie für Deutsches Recht am 11. Oktober 1936. Hamburg 1937. Freisler, Roland: Der Versuch. In: ZAkDR 1 (1934), S. 82-84. Freisler, Roland: Richter, Recht und Gesetz. In: DJ 2 (1934), S. 1333-1335. Freisler, Roland: Volk, Richter und Recht. In: DJ 97 (1935), S. 1160-1163. Freisler, Roland: Der Wandel der politischen Grundanschauungen in Deutschland und sein Einfluß auf die Erneuerung von Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug. In: DJ 97 (1935), S. 1247-1254. Freisler, Roland: Fragen zur Sicherungsverwahrung. In: DJ 100 (1938), S. 626-629. Freisler, Roland: Arbeitseinsatz im Strafvollzug. In: DJ 102 (1940), S. 1021-1025. Freisler, Roland: Reich, Richter und Recht. In: DR 12 (1942), S. 145-150. Freiwillige Entmannungen. RdErl. d. RuPrMdI. u. d. RJM v. 23.1.1936. In: Ministerial-Blatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Inneren, hg. vom Reichs- und Preußischen Ministerium des Inneren 1 (97) 1936, S. 257f. Georgi, Hermann: Zum Vollzug der Sicherungsverwahrung in Deutschland. In: ZStW 55 (1936), S. 613-620. Gleispach, Wenzeslaus von: Zur Neugestaltung der Sittlichkeitsdelikte im kommenden Strafgesetzbuch. In: KM 9 (1935), S. 1-2. Gleispach, Wenzeslaus von: Unzucht. In: Das kommende deutsche Strafrecht. Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission, hg. von Franz Gürtner. Berlin 1936, S. 116-129. Großmann, Kurt: Deutscher Strafvollzug. In: Die Weltbühne 25 (1929), S. 697f. Hamel, Walter: Die Polizei im nationalsozialistischen Staat. In: DJZ 40 (1935), Sp. 326-332. Hauptvogel, Fritz: Welche Zielrichtung ist dem künftigen Strafvollzug zu setzen? In: DStR (N.F.) 2 (1935), S. 321-334. Haushalt der Justizverwaltung für das Rechnungsjahr 1931. In: Der Strafvollzug 21 (1931), S. 41- 49. Henkel, Heinrich: Das Sicherungsverfahren gegen Gemeingefährliche. Teil B: Kritik der Verfahrensregelung des geltenden Rechts. In: ZStW 58 (1938), S. 167-237. Heydrich, Reinhard: Die Bekämpfung der Staatsfeinde. In: DR 6 (1936), S. 121-123. Heydrich, Reinhard: Aufgaben und Aufbau der Sicherheitspolizei im Dritten Reich. In: Dr. Wilhelm Frick und sein Ministerium. Aus Anlaß des 60. Geburtstages des Reichs- und Preußischen Ministers des Inneren Dr. Wilhelm Frick am 12. März 1937, hg. von Hans Pfundtner. München 1937, S. 149- 153. 336

Hirschfeld, Magnus: Berlins Drittes Geschlecht. Schwules und lesbisches Leben im Berlin der Jahrhundertwende. Berlin 1991 (Nachdruck von 1904). Hirschfeld, Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin 1914. Hirschfeld, Magnus: Die männliche Prostitution. In: § 297(3) Unzucht zwischen Männern? Hg. von R. Linsert. Berlin 1929, S. 13-32. Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 151/1521935. Hofmann, Wilhelm: Der Strafvollzug in Stufen in Deutschland in Geschichte und Gegenwart. München 1936. Huber, Ernst Rudolf: Die Rechtstellung des Volksgenossen. Erläutert am Beispiel der Eigentumsordnung. In: ZgS 96 (1936), S.438-474. Jenne, Ernst: Soll § 175 auf Frauen ausgedehnt werden? In: DR 6 (1936), S. 469f. Jensch, Klaus: Zur Genealogie der Homosexualität. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 112 (1941), S. 527-540. Klare, Rudolf: Homosexualität und Strafrecht. Hamburg 1937. Klare, Rudolf: Die Homosexuellen als politisches Problem. 2. Teil: Die weibliche Homosexualität. In: Der Hoheitsträger 2 (1938), H. 3, S. 14-17. Klare, Rudolf: Zum Problem der weiblichen Homosexualität. In: DR 8 (1938), S. 503-507. Kriegsvereinfachung im Strafvollzug und im Vollzug der Untersuchungshaft. AV. d. RJM v. 11.2.1942 und v. 29.9.1944. Abgedruckt in: DJ 104 (1942), S. 134f. sowie DJ 106 (1944), S. 270. Lang, Theo: Beitrag zur Frage nach der genetischen Bedingtheit der Homosexualität. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 155 (1936), S. 702-713. Lang, Theo: Ergebnisse neuer Untersuchungen zum Problem der Homosexualität. In: MSchrKrim 30 (1939), S. 401-413. Lang, Theo: Anmerkungen zu dem Aufsatz „Homosexualität“ von Prof. Paul Schröder. In: MschrKrim 32 (1941), S. 162-168. Langhoff, Wolfgang: Die Moorsoldaten. Zürich 1935. Lemke, Rudolf: Zum Problem der Homosexualität. In: MschrKrim 32 (1941), S. 241-248. Marx, Rudolf: Die Kultivierung der emsländischen Moore, eine Kulturaufgabe des Staates. In: DJ 96 (1934), S. 732-734. Marx, Rudolf: Die Gefangenenarbeit unter besonderer Berücksichtigung der Urbarmachung von Ödländereien. In: DStR (N.F.) 2 (1935), S. 364-373. Maunz, Theodor: Gestalt und Recht der Polizei. Hamburg. 1943. Mayer, Paul: Der Strafvollzug in Stufen. Nach dem Stande der preußischen „Verordnung über den Strafvollzug in Stufen“ vom 7. Juni 1929. Köln 1931. Meyer, Kurt: Die unbestraften Verbrechen. Eine Untersuchung über die sogenannte Dunkelziffer in der deutschen Kriminalistik. München 1941. Mezger, Edmund: Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage. Stuttgart 1934. Mezger, Edmund: Die materielle Rechtswidrigkeit im kommenden Strafrecht. In: ZStW 55 (1935), S. 1-17. Mohr, Fritz: Einige Betrachtungen über Wesen, Entstehung und Behandlung der Homosexualität. In: Zentralblatt für Psychotherapie 15 (1943), S. 1-20. 337

Nebe, Arthur: Aufbau der deutschen Kriminalpolizei. In: Kriminalistik 12 (1938), S. 4-8. Niederreuther: Zum Begriff der Gewerbsmäßigkeit im Sinne des § 175a Nr. 4 StGB. In: DJ 99 (1937), S. 994-997. Ollmann: Der Einsatz von Gefangenen beim Bau der Ostmarkstraße. In: BlfGefK 72 (1941/42), S. 53-61. Quanter, Rudolf: Deutsches Zuchthaus- und Gefängniswesen: von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig 1905 / Neudruck: Aalen 1970. Rauscher, J.: Zum Kriminal-Problem der Homosexualität. In: BfGK 70 (1939/40), S. 243-257. Rauschning, Hermann: Gespräche mit Hitler. Zürich [u.a.] 1940. Rietzsch, Otto: „Abnahme der Strafen - Zunahme der Verbrechen.“ In: DJ 45 (1933), S. 397. Rietzsch, Otto: Das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933. In: DJ 95 (1933), S. 741-749. Rietzsch, Otto: Die Abwehr des Gewohnheitsverbrechertums. In: DJ 100 (1938), S. 134-142. Rodenberg, Carl-Heinz: Schaffung gesetzlicher Maßnahmen für die Möglichkeit zwangsweiser Fachuntersuchung in Freiheit befindlicher, gemäß § 42k StGB und § 14, 2 G.z.V.e.N. Entmannter. In: DJ 103 (1941), S. 596f. Rodenberg, Carl-Heinz: Über die Notwendigkeit einer Zentralisierung der Kastrationsuntersuchungen. In: DJ 104 (1942), S. 792f. Rodenberg, Carl-Heinz: Zur Frage des kriminaltherapeutischen Erfolges der Entmannung homosexueller Sittlichkeitsverbrecher. In: DJ 104 (1942), S. 581-587. Rothenberger, Curt: Die Stellung des Richters im Führerstaat. In: DR 9 (1939), S. 831-833. Sauer, W.: Nationalsozialistisches Strafrecht nach der Denkschrift des preußischen Justizministers. In: DJZ 38 (1933), Sp. 1462-1467. Schäfer, Leopold: Die Einzelheiten der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935. In: DJ 97 (1935), S. 994-999. Schaffstein, Friedrich: Die Bedeutung des Erziehungsgedankens im neuen deutschen Strafvollzug. In: ZStW 55 (1936), S. 276-290. Scheuner, Ulrich: Der Gleichheitsgedanke in der völkischen Verfassungsordnung. In: ZgS 99 (1939), S. 245-278. Schleich, Botho: Die Bekämpfung der Homosexualität und die Rechtsprechung. In: DR 7 (1937), S. 299f. Schmidt, E.: Die reichsrechtlichen Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom Standpunkt des preußischen Strafvollzugs. In: DJ 96 (1934), S. 667-669. Schmidt, E.: Sinn und Zweck des Strafvollzugs. In: BlfGefk 68 (1937/38), S. 42-52. Schmitt, Carl: Nationalsozialismus und Rechtsstaat. In: JW 63 (1934), S. 713-718. Schmitt, Carl: Kodifikation oder Novelle? Über die Aufgabe und Methode der heutigen Gesetzgebung. In: DJZ 40 (1935), Sp. 919-925. Schmitt, Carl: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit. Hamburg 1935. Schmitt, Carl: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923-1939. Berlin 1988 (Nachdr. von 1940). Schröder, Paul: Homosexualität. In: MschrKrim 31, 1940, S. 221-234. 338

Semler, Hans: Strafvollzug in festen Anstalten und Lagern. In: BlfGefK 70 (1939/40), S. 3-14. Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Erläuterungen, erl. von Dr. Eduard Kohlrausch. Berlin 371941. Strafprozeßordnung. Gerichtsverfassungsgesetz und Nebengesetze. Textausgabe mit einer Einleitung, Verweisungen und Sachregister, unter besonderer Berücksichtigung der amtlichen „Richtlinien für das Strafverfahren“, hg. von Rudolf Lehmann. Berlin 31935. Die strafrechtliche Fortbildungswoche für Staatsanwälte und Strafrichter in Jena. In: DJ 100 (1938), S. 1624-1644. Die Strafrechtsnovelle vom 28. Juni 1935 und die amtlichen Begründungen zu diesen Gesetzen. Amtliche Sonderveröffentlichungen der deutschen Justiz, Nr. 10. Berlin 1935. Der Strafvollzug im III. Reich. Denkschrift und Materialsammlung, hg. von der Union für Recht und Freiheit. Prag 1936. Strube: Wie müssen Haft-, Gefängnis- und Zuchthausstrafen umgewandelt werden, damit sie dem Rechtsempfinden des Deutschen Volkes entsprechen? In: BlGefK 67 (1936), S. 365-377. Tesmer, Hans: Die Schutzhaft und ihre rechtlichen Grundlagen. In: DR 6 (1936), S. 135-137. Tetzlaff, Walter: Homosexualität und Jugend. In: Der HJ-Richter. Schulungsblatt der HJ- Gerichtsbarkeit, S. 1-8. Thiele, H.: Die nordisch-germanische Auffassung über die Invertierten. In: Volk und Rasse 14 (1939), S. 103-106. Tirala, Lothar Gottlieb: Rasse, Geist und Seele. München 1935. Trunk, N.: Die freiwillige Entmannung. Zu § 14/2 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Verfahren, Anwendungsbereich und Fortentwicklung. In: DJ 98 (1936), S. 1519- 1525. Vereinheitlichung der Dienst- und Vollzugsvorschriften für den Strafvollzug im Bereich der Reichsjustizverwaltung (Strafvollzugsordnung). Berlin 1940. (Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 21). Weddige: Nochmals: Reichszentrale für Kastrationsuntersuchungen. In DJ 96 (1934), S. 1503. Weissenrieder, Otto: Wirkung der Entmannung bei einem Homosexuellen. In: BlfGefK 67 (1936), S. 87-90. Weissenrieder, Otto: Zur Einordnung des Strafvollzugs in das deutsche Recht. In: BlfGefk 67 (1936), S. 133-141. Werner, Paul: Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. In: KM 12 (1938), S. 58-61. Werner, Paul: Aufbau und Aufgaben der Reichskriminalpolizei. In: ZStW 61 (1942), S. 465-470. Wittfogel, Karl August: Staatliches Konzentrationslager VII. Eine „Erziehungsanstalt“ im Dritten Reich. Bremen 1991 (Erstveröffentlichung: London 1936). Wolf, Erik: Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates. In: ARSP 28 (1934/35), S. 348- 363. Wrobel, Ignaz (Pseud. für Kurt Tucholsky): Röhm. In: Die Weltbühne 28 (1932), Nr. 17, S. 641. Wutzdorff, Edgar: Die Arbeit der Gefangenen. In: Deutsches Gefängniswesen: ein Handbuch, hg. von Erwin Bumke. Berlin 1928, S. 178-197. Xingas, Georg: Die Kastration als Sicherungsmaßnahme gegen Sittlichkeitsverbrecher. Berlin 1936. 339

Zum 11. Internationalen Kongreß für Strafrecht und Gefängniswesen. Einführung und Widmung. In: DStr (N.F.) 2 (1935), S. 225-227. 340

B. Nach 1945 erschienene Literatur

Adler, Hans-Günther: Selbstverwaltung und Widerstand in den Konzentrationslagern der SS. In: VfZ 3 (1955), S. 221-236. Adler, Hans-Günther: Gedanken zu einer Soziologie des Konzentrationslagers. In: Ders.: Erfahrung der Ohnmacht. Frankfurt/M. 1964, S. 210-226. Als schwuler Häftling 1934/1935 in den KZs Kolumbia-Haus und Lichtenburg. Kurt von Ruffin im Gespräch mit Winfried Kuhn. In: 100 Jahre schwul. Eine Revue, hg. von Elmar Kraushaar. Berlin 1997, S. 46-59. Aly, Götz; Roth, Karl Heinz: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Berlin 1984 Anderbrügge, Klaus: Völkisches Rechtsdenken: zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus. Berlin 1978. Angermund, Ralph: Deutsche Richterschaft 1919-1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung. Frankfurt/M. 1990. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Bd. 3: Totale Herrschaft. Frankfurt/M. [u.a.] 1975. Aroneanu, Eugène: Konzentrationslager. Tatsachenbericht über die an der Menschheit begangenen Verbrechen. Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Baden-Baden 1947. Auerbach, Hellmuth: Konzentrationslagerhäftlinge im Fronteinsatz. In: Miscellanea. Festschrift für Helmut Krausnick. München 1980, S. 63-83. Ayaß, Wolfgang: „Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin“. Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938. In: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik, hg. von Wolfgang Ayaß [u.a.]. Berlin 1988, S. 43-74. Ayaß, Wolfgang: Das Arbeitshaus in Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874-1949). Kassel 1992. Badry, W.M.: Konzentrations- und Gefangenenlager im Emsland von 1933-1945. In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 15 (1968), S. 127-136. Bästlein, Klaus: Zum Erkenntniswert von Justizakten aus der NS-Zeit. Erfahrungen in der konkreten Forschung. In: Datenschutz und Forschungsfreiheit. Die Archivgesetzgebung des Bundes auf dem Prüfstand, hg. von Johannes Weber, Klaus Bästlein. München 1986, S. 85-102. Baumann, Jürgen: Paragraph 175. Über die Möglichkeit, die einfache, nichtjugendgefährdende und nichtöffentliche Homosexualität unter Erwachsenen straffrei zu lassen. Berlin [u.a.] 1968. Baumgardt, Manfred: Das Institut für Sexualwissenschaft (1919-1933). In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 117-123. Benz, Wolfgang: Homosexuelle und „Gemeinschaftsfremde“. Zur Diskriminierung von Opfergruppen nach der nationalsozialistischen Verfolgung. In: Dachauer Hefte 14 (1998): Verfolgung als Gruppenschicksal, S. 3-16. Berbig, Johannes: Knast. Schatten und Gestalten einer Leidenszeit. Oberursel 1947. 341

Berger, Thomas: Die konstante Repression. Zur Geschichte des Strafvollzugs in Preußen nach 1850. Frankfurt/M. 1974. Bertram, Günter: Der Jurist und die „Rutenbündel des Faschismus“. In: ZRP 16 (1983), S. 81-86. Berude, Wolfgang D.: Das Ende der „Blütenfeste“. Zum Vorgehen der nationalsozialistischen Polizei gegen Homosexuellenlokale - dargestellt an Beispielen aus dem Ruhrgebiet. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 47-61. Bielefeld, Hans: Durch das dunkelste Abendland: 4 Jahre hinter Schloß und Riegel. Hameln 1951. Bleuel, Hans Peter: Das saubere Reich. Theorie und Praxis des sittlichen Lebens im Dritten Reich - ein bisher ungeschriebenes Kapitel deutscher Vergangenheit. Bern [u.a.] 1972. Bloch, Charles: Die SA und die Krise des NS-Regimes 1934. Frankfurt/M. 1970. Boisson, Jean: Le triangle rose. La déportation des homosexuels (1933-1945). Paris 1988. Boldt, Werner: Die Emslandlager als Gegenstand historisch-politischer Bildung. In: Lager im Emsland 1933-1945. Geschichte und Gedenken, hg. von Elke Suhr und ders. Oldenburg 1985, S. 45-72. Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus. Köln 61969. Brandt, Peter: Die evangelische Strafgefangenenseelsorge. Geschichte, Theorie, Praxis. Göttingen 1985. Breidenstein, Georg: Geschlechtsunterschied und Sexualtrieb im Diskurs der Kastration Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, hg. von Christiane Erfurt [u.a.]. Frankfurt/M. 1996 , S. 216-239. Broszat, Martin: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. In: Anatomie des SS- Staates. Bd. 2. Olten 1965, S. 9-160. Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, hg. von David A. Hackett. München 1996. Buchheim, H.: Bearbeitung des Sachgebietes „Homosexualität“ durch die Gestapo. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte. München 1958, Bd. 1, S. 308-310. Buchheim, Hans: SS und Polizei im NS-Staat. Duisdorf/Bonn 1964. Buchheim, Hans: Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte 2, Stuttgart 1966, S. 189-195. Buchheim, Hans: Die Aufnahme von Polizeiangehörigen in die SS und die Angleichung ihrer SS- Dienstgrade an ihre Beamtenränge (Dienstgradangleichung) in der Zeit des Dritten Reiches. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte 2, Stuttgart 1966, S. 172-181. Bührmann-Peters, Frank: „Dort haben wir an und für sich gar nicht gemerkt, daß wir Gefangene waren“. Der Arbeitseinsatz von Strafgefangenen aus den Emslandlagern im Raum Osnabrück. In: Osnabrücker Mitteilungen 103 (1998), S. 205-236. Bülow, Carola von: Die Verfolgung von homosexuellen Männern im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland am Beispiel der Emslandlager. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 62-69. Consoli, Massimo: Homocaust: Il nazismo e la persecuzione degli omosessuali. Ragusa 1984. 342

Deutsch, Harold C.: Das Komplott oder Die Entmachtung der Generale. Blomberg- und Fritsch- Krise - Hitlers Weg zum Krieg. Zürich 1974. Dickhut, Willi: „So war's damals...“. Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948. Stuttgart 1979. Diels, Rudolf: Lucifer ante Portas. ...es spricht der erste Chef der Gestapo ... . Stuttgart 1950. Dijk, Lutz van: Ein erfülltes Leben - trotzdem... Erinnerungen Homosexueller 1933-1945. Reinbek 1992. Dölling, Dieter: Kriminologie im „Dritten Reich“. In: Recht und Justiz im „Dritten Reich“, hg. von Ralf Dreier. Frankfurt 1989, S. 194-225. Dörner, Christine: Erziehung durch Strafe. Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs von 1871-1945. Weinheim [u.a.] 1991. Das Dritte Reich. Bd. 1: „Volksgemeinschaft“ und Großmachtpolitik 1933-1939, hg. von Wolfgang Michalka. München 1985. Drobisch, Klaus: Alltag im Zuchthaus Luckau 1933 bis 1939. In: Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Dokumente, hg. von Dietrich Eichholtz. Berlin 1993, S. 247-272. Drobisch, Klaus; Wieland, Günther: System der NS-Konzentrationslager: 1933-1945. Berlin 1993. Drobisch, Klaus: Konzentrationslager und Justizhaft. Versuch einer Zusammenschau. In: Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, hg. von Helge Grabitz, Klaus Bästlein und Johannes Tuchel. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag. Berlin 1994, S. 280-297. Egger, Bernhard: Iwan Bloch. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 86-90. Eissler, W.U.: Arbeiterparteien und Homosexuellenfrage. Zur Sexualpolitik von SPD und KPD in der Weimarer Republik. Berlin 1980. Emker, William C.: Zwischen den Welten: Autobiographie des Antifaschisten Willy Eucker. Frankfurt/M. 1993. Ewers, Niko: „Mit der nötigen Durchschlagskraft zu Leibe rücken“. Die Verfolgung Homosexueller im Dritten Reich: Schwierige Spurensuche nach den „gern vergessenen Opfern des Faschismus“, die es auch in Bielefeld gegeben hat. In: StadtBlatt, 18.6.1998, S. 7. Fallois, Immo v.: Kalkül und Illusion. Der Machtkampf zwischen Reichswehr und SA während der Röhm-Krise 1934. Berlin 1994. Faralisch, Brigitte: „Begreifen Sie erst jetzt, daß wir rechtlos sind?“ Zeitzeugenberichte über den Strafvollzug im „Dritten Reich“. In: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Am Beispiel des Saarlandes, hg. von Heike Jung; Heinz Müller-Dietz. Baden-Baden 1996, S. 303-377. Faulenbach, Bernd: NS-Interpretation und Zeitklima. Zum Wandel in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 22 (1987), S. 19-30. Feig, Konnilyn: Non-Jewish Victims in the Concentration Camps. In: A Mosaic of Victims. Non- Jews Persecuted and Murdered by the Nazis, hg. von Michael Berenbaum. New York [u.a.] 1990, S. 161-178. Fest, Joachim C.: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft. München 1963. Fest, Joachim C.: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt/M. [u.a.] 1973. 343

Fleck, Christian; Müller, Albert: „Unzucht wider die Natur“. Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er Jahren. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1998) , S. 400-422. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1977. Fout, John C.: Sexual Politics in Wilhelmine Germany: The Male Gender Crisis, Moral Purity, and Homophobia. In: Forbidden History. The State, Society, and the Regulation of Sexuality in Modern Europe, hg. von John C. Fout. Chicago [u.a.] 1992, S. 259-292. Frese, Hans: Bremsklötze am Siegeswagen der Nation. Erinnerungen eines Deserteurs an Militärgefängnisse, Zuchthäuser und Moorlager in den Jahren 1941-1945, hg. von Fietje Ausländer. (DIZ-Schriften; 1) Bremen 1989. Freßle, Paul: Die Geschichte des Männerzuchthauses Bruchsal. Freiburg 1970. Freund, Florian: Häftlingskategorien und Sterblichkeit in einem Außenlager des KZ Mauthausen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 874-886. Fricke, Kurt: Die Justizvollzugsanstalt „Roter Ochse“ Halle/Saale 1933-1945. Eine Dokumentation. Magdeburg 1997. Für Zucht und Sitte. Die Verfolgung der Homosexuellen im Dritten Reich. Broschüre, hg. von der Aktionsgruppe Homosexualität Osnabrück. 1983. Gamm, Hans-Jochen: Der Flüsterwitz im Dritten Reich. München 1963. Garbe, Detlef: Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus. In: Norddeutschland im Nationalsozialismus, hg. von Frank Bajohr. Hamburg 1993, S. 186-217. Gellately, Robert: Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945. Paderborn [u.a.] 1993. Die Geschichte der Emslandlager und das „Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager“ in Papenburg. Papenburg 1993. Giles, Geoffrey J.: „The Most Unkindest Cut of All“: Castration, Homosexuality, and Nazi Justice. In: JCH 27 (1992), S. 41-61. Gollner, Günther: Homosexualität. Ideologiekritik und Entmythologisierung einer Gesetzgebung. Berlin 1974. Granier, Gerhard; Henke, Josef; Oldenhage, Klaus: Das Bundesarchiv und seine Bestände. Boppard am Rhein 31977. Graß, Karl Martin: Edgar Jung, Papenkreis und Röhmkrise 1933/34. Heidelberg 1966. Grau, Günter: Die Situation der Homosexuellen im Konzentrationslager Buchenwald. In: Zeitschrift für Sexualforschung 2 (1988), H. 3, S. 243-253. Grau, Günter: Die Verfolgung und „Ausmerzung“ Homosexueller zwischen 1933 und 1945 - Folgen des rassenhygienischen Konzepts der Reproduktionssicherung. In: Medizin unterm Hakenkreuz, hg. von Achim Thom und Genadij I. Caregorodcev. Berlin (Ost) 1989, S. 91-110. Grau, Günter: Verstümmelt und ermordet - Homosexuelle im KZ Buchenwald. In: Das Schicksal der Medizin im Faschismus, hg. von Samuel Mitja Rapoport und Achim Thom. Neckarsulm 1989, S. 76-79. Grau, Günter: Verfolgung und Vernichtung 1933-1945. Der § 175 als Instrument faschistischer Bevölkerungspolitik. In: Die Geschichte des § 175. Strafrecht gegen Homosexuelle. Katalog zur Ausstellung. Berlin 1990, S. 105-117. 344

Grau, Günter: Die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“. Administratives Instrument zur praktischen Durchsetzung rassenpolitischer Zielsetzungen. In: Der Arzt als „Gesundheitsführer“. Ärztliches Wirken zwischen Ressourcenerschl ießung und humanitärer Hilfe im Zweiten Weltkrieg, hg. von Sabine Fahrenbach und Achim Thom. Frankfurt/M. 1991, S. 117-128. Grau, Günter: „Unschuldige“ Täter. Mediziner als Vollstrecker der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 28 (Dezember 1998), S. 5-28. Gruchmann, Lothar: Hitler über die Justiz. Das Tischgespräch vom 20.8.1942. In: VfZ 12 (1964), S. 86-101. Gruchmann, Lothar: Die „rechtsprechende Gewalt“ im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Eine rechtspolitisch-historische Betrachtung. In: Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, hg. von Wolfgang Benz, Hans Buchheim, Hans Momms en. Frankfurt/M. 1983, S. 78-103. Gruchmann, Lothar: „Reichskristallnacht“ und Justiz im „Dritten Reich“. In: NJW 41 (1988), S. 2856-2861. Gruchmann, Lothar: Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. München 21990. Gürntke, Ruth; Müller, Jürgen: „Ihr habt nur das, was ihr verdient.“ Homosexuelle in Arbeits- und Konzentrationslagern. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 120-128. Haase, Norbert: „Gefahr für die Manneszucht“: Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven (1939-1945). Hannover 1995. Harthauser, Wolfgang: Der Massenmord an Homosexuellen im Dritten Reich. In: Das große Tabu, hg. von Willhart S. Schlegel. München 1967. Hauer, Gudrun: Lesben- und Schwulengeschichte - Diskriminierung und Widerstand. In: Homosexualität in Österreich, hg. von Michael Handl [u.a.]. Wien 1989, S. 50-65. Heger, Heinz: Die Männer mit dem rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ- Haft von 1939-1945. Hamburg 21979. Heimann, Andreas: „Krank, pervers und gefährlich“ - Homosexuellenfeindliche Stereotypen im Deutschen Kaiserreich. In: Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde, hg. von Henning Hahn. Oldenburg 1995, S. 150-172. Hekma, Gert: Die Verfolgung der Männer. Gleichgeschlechtliche männliche Begierden und Praktiken in der europäischen Geschichte. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1998), S. 311-341. Hensel, Gerd: Geschichte des Grauens - deutscher Strafvollzug in sieben Jahrhunderten. Altendorf 1979. Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1909-1989. Bonn 1996. Herbert, Ulrich; Orth, Karin; Dieckmann, Christoph: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 1, Göttingen 1998, S. 17-40. Hergemöller, Bernd-Ulrich: Grundfragen zum Verständnis gleichgeschlechtlichen Verhaltens im späten Mittelalter. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 9-38. 345

Hergemöller, Bernd-Ulrich: Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter. Hamburg 1998. Herzer, Manfred: Hinweise auf das schwule Berlin in der Nazizeit. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Museum. Berlin 1984, S. 44-47. Hockerts, Hans Günter: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936-1937. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf. Mainz 1971. Hoffmann, Karl-Heinz: Am Eismeer verschollen. Erinnerungen aus der Haftzeit in faschistischen Strafgefangenenlagern in Nordnorwegen. Berlin/Ost 1988. Hoffschildt, Rainer: Olivia. Die bisher geheime Geschichte des Tabus Homosexualität und die Verfolgung der Homosexuellen in Hannover. Hannover 1992. Hoffschildt, Rainer: Statistische Daten zu homosexuellen Gefangenen im Zuchthaus Celle 1938- 1945. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 70-76 . Hoffschildt, Rainer: Die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit. Zahlen und Schicksale aus Norddeutschland. Berlin 1999. Hoffschildt, Rainer; Rahe, Thomas: Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager - Das Beispiel Bergen-Belsen. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 48-61. Hohengarten, André: Die Emsland-Strafgefangenenlager. In: Les Sacrifiés 13 (1973), S. 11-19. Höhne, Heinz: Mordsache Röhm. Hitlers Durchbruch zur Alleinherrschaft 1933-1934. Reinbek 1984. Höß, Rudolf: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß, eingel. u. komm. von Martin Broszat. Stuttgart 1958. Hottes, Christiane: Grauen und Normalität. Zum Strafvollzug im Dritten Reich. In: Ortstermin Hamm. Zur Justiz im Dritten Reich, hg. vom Oberstadtdirektor der Stadt Hamm. Hamm 1991, S. 63-70. Hottes, Christiane: Strafvollzug im Dritten Reich. Ein Beitrag zu seiner Darstellung und historischem Lernen aus der NS-Geschichte. In: Juristische Zeitgeschichte, Bd.1: Justiz und Nationalsozialismus, hg. vom Justizministerium NRW. Düsseldorf 1993, S. 16 9-213. Hull, Isabel v.: Kaiser Wilhelm II. und der „Liebenberg-Kreis“. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 81-117. Hutter, Jörg: Rezension zu Burkhard Jellonnek - Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. In: MschrKrim 74 (1991), S. 387-389. Hutter, Jörg: Die Entstehung des § 175 im Strafgesetzbuch und die Geburt der deutschen Sexualwissenschaft. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 187-238. Hutter, Jörg: Richard von Krafft-Ebing. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 48-54. 346

Immer noch Kommunist? Erinnerungen von Paul Elflein, hg. von Rolf Becker und Claus Bremer. Hamburg 1978. Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Eine neue Zeitschrift stellt sich vor. In: Invertito 1 (1999), S. 7-11. Jäckel, Eberhard: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft. Tübingen 1969. Jamin, Mathilde: Zur Rolle der SA im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. In: Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, hg. von Gerhard Hirschfeld u. Lothar Kettenacker. Stuttgart 1981, S. 329-360. Jamin, Mathilde: Das Ende der „Machtergreifung“: Der 30. Juni 1934 und seine Wahrnehmung in der Bevölkerung. In: Die nationalsozialistische Machtergreifung, hg. von Wolfgang Michalka. Paderborn [u.a.] 1984, S. 207-218. Janßen, Karl-Heinz; Tobias, Fritz: Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blomberg-Fritsch-Krise 1938. München 1994. Jellonnek, Burkhard: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990. Jellonnek, Burkhard: In ständiger Furcht. Zur Lebenssituation homosexueller Männer in Düsseldorf während der NS-Zeit. In: Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933-1945, hg. von Anselm Faust. Köln [u.a.] 1992, S. 215-223. Jellonnek, Burkhard: Homosexuellenforschung im Dritten Reich. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 221-225. Jellonnek, Burkhard: Staatspolizeiliche Fahndungs- und Ermittlungsmethoden gegen Homosexuelle. Regionale Differenzen und Gemeinsamkeiten. In: Die Gestapo - Mythos und Realität, hg. von Klaus-Michael Mallmann [u.a.]. Darmstadt 1995, S. 343-356. Johansson, Warren and William A. Percy: Homosexuals in Nazi Germany (Literaturbericht). In: Simon Wiesenthal Center Annual 7, 1990, S. 225-263. Johe, Werner: Die gleichgeschaltete Justiz. Organisation des Rechtsweges und Politisierung der Rechtsprechung 1933-1945, dargestellt am Beispiel des Oberlandesgerichtsbezirks Hamburg. Frankfurt/M. 1967. Kahlfeld, Rudolf: „Der Abstand der Betten muß groß genug sein“. Homoerotische Vorfälle in der Fürsorgeerziehung in der Rheinprovinz. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschich te. Köln 1998, S. 182-199. Kaienburg, Hermann: „Freundschaft? Kameradschaft? ...Wie kann das möglich sein?“ Solidarität, Widerstand und die Rolle der „roten Kapos“ in Neuengamme: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1998, S. 18-5 0. Kautsky, Benedikt: Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern. Zürich 1946. Kempf, Hermann: Erinnerungen, Teil 1-2. Bad Marienberg 1979/80. Kennedy, Hubert: Karl Heinrich Ulrichs. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 32-38. Kershaw, Ian: Der Hitler-Mythos: Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart 1980. 347

Klausch, Hans-Peter: „Wehrunwürdige“, die Bewährungsbataillone 999 und das Problem der Desertion als eine Form des antifaschistischen Widerstandes. In: Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, hg. von Fietje Aus länder. Bremen 1990, S. 157-179. Klee, Ernst: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer. Frankfurt/M. 31997. Klein, Christian: „Wanderer zwischen den Welten“. Der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers zwischen Homosexuellenbewegung und Nationalsozialismus. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 75-86. Klein, Christian: Alles verboten und verbrannt? Anmerkungen zur Lage der schwulen deutschsprachigen Literatur zwischen 1933 und 1945. In: Verqueere Wissenschaft? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart , hg. von Ursula Ferdinand [u.a.]. Münster 1998, S. 83-90. Klein, Hans-Günter: Kurt Hiller. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 147-149. Knoll, Albert: Totgeschlagen - totgeschwiegen. Die homosexuellen Häftlinge im KZ Dachau. In: Dachauer Hefte 14 (1998), S. 77-101. Koch, Bernd: Das System des Stufenvollzugs in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung seiner Entwicklungsgeschichte. Freiburg 1972. Koch, Friedrich: Sexuelle Denunziation. In: Handbuch Sexualität, hg. von Siegfried Rudolf Dunde. Weinheim 1992, S. 33-36. Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. Berlin 81977. Krohn, Manfred: Die deutsche Justiz im Urteil der Nationalsozialisten 1920-1933. Frankfurt/M. 1991. Kokula, Ilse: Lesbisch leben von Weimar bis zur Nachkriegszeit. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Museum. Berlin 1984, S. 149-161. Kokula, Ilse: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit. In: Nirgendwo und überall. Zur feministischen Theorie und Praxis, Heft 25/26. Köln 1989, S. 29-36. Kolling, Hubert: Das Gerichtsgefängnis Marburg 1891-1971. Baugeschichte und Vollzugsalltag. Marburg 1988. Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945: Begleitband zur ständigen Ausstellung, hg. von der Gedenkstätte Buchenwald. Göttingen 1999. Konzentrationslager in Hannover: Konzentrationslager - Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des 2. Weltkrieges, hg. von Rainer Fröbe. Bd. 1-2, Hildesheim 1985. Kosthorst, Erich: Die Lager im Emsland unter dem NS-Regime 1933-45. In: GWU 35, 1984, S. 365-379. Kosthorst, Erich; Walter, Bernd: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933-1945. Zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz. Darstellung und Dokumentation. Düsseldorf 1985. Krause, Thomas: Die Strafrechtspflege im Kurfürstentum und Königreich Hannover. Vom Ende des 17. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Aalen 1991. Krause, Thomas: Geschichte des Strafvollzugs. Von den Kerkern des Altertums bis zur Gegenwart. Darmstadt 1999. 348

Krausnick, Helmut: Der 30. Juni 1934. Bedeutung - Hintergründe - Verlauf. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30. Juni 1954, S. 317-324. Krebs, Albert: Strafvollzug am Vorabend des Dritten Reiches. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 11-16. Kröner, Wolfgang: Freiheitsstrafe und Strafvollzug in den Herzogtümern Schleswig, Holstein und Lauenburg von 1700 bis 1864. Frankfurt/M. [u.a.] 1988. Kühne, Karsten: Das Kriminalverfahren und der Strafvollzug in der Stadt Konstanz im 18. Jahrhundert. Sigmaringen 1979. Kupfer-Koberwitz, Edgar: Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau. Stuttgart 1957. Langbein, Hermann: ... nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frankfurt/M. 1980. Langbein, Hermann: Menschen in Auschwitz. Neuausgabe Wien [u.a.] 1995. Lassen, Hans-Christian: Der Kampf gegen Homosexualität, Abtreibung und „Rassenschande“. Sexualdelikte vor Gericht in Hamburg 1933 bis 1939. In: Für Führer, Volk und Vaterland... Hamburger Justiz im Nationalsozialismus. Bd. 1, red. Klaus Bästlein. Hamburg 1992, S. 216-289. Lautmann, Rüdiger: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977. Lautmann, Rüdiger; Grikschat, Winfried; Schmidt, Egbert: Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Rüdiger Lautmann: Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt/M. 1977, S. 325-365. Lautmann, Rüdiger: „Hauptdevise: bloß nicht anecken“. Das Leben homosexueller Männer unter dem Nationalsozialismus. In: Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus, hg. von Johannes Beck [u.a.]. Reinbek 1980, S. 366-390. Lautmann, Rüdiger: Der Zwang zur Tugend. Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualitäten. Frankfurt/M. 1984. Lautmann, Rüdiger: Categorization in Concentration Camps as a Collective Fate: A Comparison of Homosexuals, Jehovah’s Witnesses and Political Prisoners. In: Journal of Homosexuality 19 (1990), S. 67-88. Lautmann, Rüdiger: Das Verbrechen der widernatürlichen Unzucht. Seine Grundlegung in der preußischen Gesetzesrevision des 19. Jahrhunderts. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger . Berlin 1992, S. 141-186. Lemke, Jürgen: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer aus der DDR. Frankfurt/M. 1989. Lindemann, Gesa: Magnus Hirschfeld. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 91-104. Maier, Franz: Strafvollzug im Gebiet des nördlichen Teiles von Rheinland-Pfalz im Dritten Reich. In: Justiz im Dritten Reich: Justizverwaltung, Rechtsprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, hg. vom Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz. Frankfurt/M. [u.a.] 1995, S. 853-1006. Majer, Diemut: Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems: Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei. Stuttgart [u.a.] 1987. Mann, Reinhard: Politische Penetration und gesellschaftliche Reaktion - Anzeigen zur Gestapo im nationalsozialistischen Deutschland. In: Soziologische Analysen beim 19. Deutschen Soziologentag, hg. von Rainer Mackensen und Felizitas Sagebiel. Berlin 1979 , S. 965-985. 349

Marschalck, Peter: Krise der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1880-1930. In: Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungstheorie in Geschichte und Gegenwart, hg. von Rainer Mackensen [u.a.]. New York [u.a.] 1989, S. 172-191. Mau, Hermann: Die „Zweite Revolution“ - Der 30. Juni 1934. In VfZg 1 (1953), S. 119-137. Meier, Heinrich Christian: So war es. Das Leben im KZ Neuengamme. Hamburg 1946. Meier, Kerstin: „Es war verpönt, aber das gab's“ - Die Darstellung weiblicher Homosexualität in Autobiographien von weiblichen Überlebenden aus Ravensbrück und Auschwitz. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nat ionalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 22-33. Meve, Jörn: „Homosexuelle Nazis“. Ein Stereotyp in Politik und Literatur des Exils. Hamburg 1990. Michelsen, Jens: Homosexuelle im Konzentrationslager Neuengamme - Eine Annäherung. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 42-47. Mitcham, Samuel W.: Generalfeldmarschall Werner von Blomberg. In: Hitlers militärische Elite. Bd. 1: Von den Anfängen des Regimes bis Kriegsbeginn, hg. von Gerd R. Ueberschär. Darmstadt 1998, S. 28-36. Möhler, Rainer: Volksgenossen und „Gemeinschaftsfremde“ hinter Gittern - zum Strafvollzug im Dritten Reich. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 17-21. Möhler, Rainer: Strafjustiz im „Dritten Reich“ - Neuerscheinungen. In: NPL 39 (1994), S. 423-441. Möhler, Rainer: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Nationale Politik und regionale Ausprägung am Beispiel des Saarlandes. In: Strafvollzug im „Dritten Reich“: Am Beispiel des Saarlandes, hg. von Heike Jung; Heinz Müller-Dietz. Baden-Baden 1996, S. 9-301. Mommsen, Wolfgang J.: Homosexualität, aristokratische Kultur und Weltpolitik. Die Herausforderung des wilhelminischen Establishments durch Maximilian Harden 1906-1908. In: Der Prozeß - Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, hg. von Uwe Schultz. München 1996, S. 279- 288. Mosse, George L.: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. München [u.a.] 1985. Mühleisen, Horst: Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch. In: Hitlers militärische Elite. Bd. 1: Von den Anfängen des Regimes bis Kriegsbeginn, hg. von Gerd R. Ueberschär. Darmstadt 1998, S. 61-70. Müller, Detlev; Müller, Jürgen: „Dienstags gesündigt, mittwochs gebeichtet“. Die Sittlichkeitsprozesse gegen die katholische Kirche in den Jahren 1936/1937. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limp richt [u.a.]. Köln 1991, S. 76-81. Müller, Jürgen: Die alltägliche Angst. Denunziation als Instrument zur Ausschaltung Mißliebiger. In: „Verführte Männer.“ Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 96-103. Müller, Jürgen: Bei „Angriffen“ auf die Sittlichkeit... Die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ der Kölner Kriminalpolizei gegen Homosexuelle. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwu le Geschichte. Köln 1998, S. 141-159. 350

Müller, Klaus-Jürgen: Armee und Drittes Reich 1933-1939. Darstellung und Dokumentation. Paderborn 1987. Müller-Dietz, Heinz: Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform. Köln 1970. Müller-Dietz, Heinz: Der Strafvollzug in der Weimarer Zeit und im Dritten Reich. Ein Forschungsbericht. In: Strafvollzug und Schuldproblematik, hg. von Max Busch und Erwin Krämer. Pfaffenweiler 1988, S. 15-38. Müller-Dietz, Heinz: Zur moralischen Rechtfertigung totalitärer Anschauungen am Beispiel des nationalsozialistischen Rechtsdenkens. In: Recht und Moral: Beiträge zu einer Standortbestimmung, hg. von Heike Jung, Heinz Müller-Dietz und Ulfrid Neumann. Baden Baden 1991, S. 177-204. Mußmann, Olaf: „Bunte Lagerprominenz“? Die Funktionshäftlinge im Rüstungs-KZ Mittelbau- Dora. In: Abgeleitete Macht - Funktionshäftlinge zwischen Widerstand und Kollaboration: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschlan d. Bremen 1998, S. 82-96. Das nationalsozialistische Lagersystem, hg. von Martin Weinmann. Frankfurt 1990 (Nachdruck des „Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories 1939-1945“ von 1949). Naucke, Wolfgang: Die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots 1935. In: NS-Recht in historischer Perspektive. Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte. München [u.a.] 1981, S. 71- 108. Naujoks, Harry: Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936-1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten. Köln 1987. Niethammer, Lutz: Häftlinge und Häftlingsgruppen im Lager. Kommentierende Bemerkungen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2. Göttingen 1998, S. 1046-1060. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990. Obenaus, Herbert: Der Kampf um das tägliche Brot. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 841-873. Oleschinski, Brigitte: Strafvollzug in Deutschland vor und nach 1945. In: NJ 46 (1992), S. 65-68. Oleschinski, Brigitte: Der Gefängnisgeistliche Peter Buchholz im Dritten Reich. In: ZfStrVo 42 (1993), S. 22-41. Oleschinski, Brigitte: Mut zur Menschlichkeit? Die Gefängnisseelsorge im Dritten Reich. In: ZfStrVo 44 (1995), S. 13-20. Oxenius, Nina: Zucht und Unzucht. Homosexuelle und die NS-Bevölkerungsideologie. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 48-55. Perk, Willy: Hölle im Moor. Zur Geschichte der Emslandlager 1933-1945. Frankfurt/M. 21979. Peters, Frank: Aspekte des Arbeitseinsatzes in den Emslandlagern. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Osnabrück, 1996. Peters, Helge: Devianz und soziale Kontrolle: eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens. Weinheim [u.a.] 1989. Peukert, Detlev J. K.: Alltag und Barbarei. Zur Normalität des Dritten Reiches. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit., hg. von Dan Diner. Frankfurt/M. 1987, S. 51-61. 351

Pingel, Falk: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager. Hamburg 1978. Plant, Richard: Rosa Winkel. Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen. Frankfurt/M. [u.a.] 1991. Plötz, Kirsten: Einsame Freundinnen? Lesbisches Leben während der 20er Jahre in der Provinz. Bremen 1999. Quandt, Helen: „...wegen Vergehen nach § 175...“. Zur Verfolgung von Homosexuellen während der NS-Zeit in Düsseldorf. In: Augenblick. Berichte, Informationen und Dokumente der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf; Nr. 10/11, 1997, S. 24f.. Quedenfeld, Hans Dietrich: Der Strafvollzug in der Gesetzgebung des Reiches, des Bundes und der Länder. Tübingen 1971. Rector, Frank: The Nazi Extermination of Homosexuals. New York 1981. Rohe, Hubert: Zur gesellschaftlichen und politischen Funktion der Konzentrationslager im Emsland und ihrer geschichtlichen Aufarbeitung. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Wiss. Prüfung für das Höhere Lehramt, Univ. Hannover. Hannover 1981. Röll, Wolfgang: Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald. Weimar 1992. Roth, Karl-Heinz: „Abgabe asozialer Justizgefangener an die Polizei“ - eine unbekannte Vernichtungsaktion der Justiz. In: Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, hg. von Angelik Ebbinghaus [u.a.]. Hamburg 1984, S. 21- 25. Ruck, Michael: Bibliographie zum Nationalsozialismus. Köln 1985. Rüping, Hinrich: Strafrechtspflege und politische Justiz im Umbruch vom liberalen Rechtsstaat zum NS-Regime. In: 1933 - Fünfzig Jahre danach. Die nationalsozialistische Machtergreifung in historischer Perspektive. München 1983, S. 153-168. Rüping, Hinrich: „Streng aber gerecht. Schutz der Staatssicherheit durch den Volksgerichtshof“. In: JZ 39 (1984), S. 815-821. Rüping, Hinrich: Strafjustiz im Führerstaat. In: Justiz und Nationalsozialismus, hg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Hannover 1985, S. 97-118. Rusche, Georg; Kirchheimer, Otto: Sozialstruktur und Strafvollzug. Stuttgart 1974. Rüthers, Bernd: Ideologie und Recht im Systemwechsel. Ein Beitrag zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe. München 1992. Sandmann, Gertrude: Anfang des lesbischen Zusammenschlusses: die Clubs der zwanziger Jahre. In: UKZ (Unsere kleine Zeitung) 2 (1976), S. 4-8. Sarodnick, Wolfgang: „Dieses Haus muß ein Haus des Schreckens werden ...“. Strafvollzug in Hamburg 1933 bis 1945. In: Für Führer, Volk und Vaterland... Hamburger Justiz im Nationalsozialismus. Bd. 1, red. Klaus Bästlein [u.a.]. Hamburg 1992, S. 332-381. Scharf, Eginhard: Strafvollzug in der Pfalz unter besonderer Berücksichtigung der JVA Zweibrücken. In: Justiz im Dritten Reich: Justizverwaltung, Rechtsprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz, hg. vom Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz. Frankfurt/M. [u.a.] 1995, S. 759-849. Schattke, Herbert: Die Geschichte der Progression im Strafvollzug und der damit zusammenhängenden Vollzugsziele in Deutschland. Frankfurt/M. [u.a.] 1979. Scheel, Heinrich: Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts. Mein Weg in den Widerstand. Berlin 1993. 352

Scherer, Klaus: „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster 1990. Schickedanz, Hans-Joachim: Homosexuelle Prostitution. Eine empirische Untersuchung über sozial diskriminiertes Verhalten bei Strichjungen und Call-Boys. Frankfurt/M. 1979. Schilling, Heinz Dieter: Schwule und Faschismus. Berlin 1983. Schluckner, Horst: Sklaven am Eismeer. In: Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, hg. von Fietje Ausländer. Bremen 1990, S. 14-40. Schoppmann, Claudia: Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität. Pfaffenweiler 1991. Schoppmann, Claudia: Nationalsozialismus und Forschung zur weiblichen Homosexualität. In: Homosexualität: Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, hg. von Rüdiger Lautmann. Frankfurt/M. 1993, S. 215-220. Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung: Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich“. Berlin 1993. Schoppmann, Claudia: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit. In: Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, hg. von Günter Grau. Frankfurt/M. 1993, S. 35-42. Schoppmann, Claudia: „Liebe wurde mit Prügelstrafe geahndet“ - Zur Situation lesbischer Frauen in den Konzentrationslagern. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschl and. Bremen 1999, S. 14-21. Schoppmann, Claudia: Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938-1945. Berlin 1999. Schorn, Hubert: Der Richter im Dritten Reich. Geschichte und Dokumente. Frankfurt/M. 1959. Schorn, Hubert: Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik. Frankfurt/M. 1963. Schröder, Karl: Die letzte Station, hg. von Fietje Ausländer. Bremen 1995. Schücking, Prosper; Sölle, Martin: § 175 StGB - Strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer in Köln. In: „Verführte Männer“. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich, hg. von Cornelia Limpricht [u.a.]. Köln 1991, S. 104-119. Schwan, Valentin: Bis auf Weiteres. Darmstadt 1961. Schwarz, Gudrun: Die nationalsozialistischen Lager. Frankfurt/M. 1990. Schwule in Auschwitz. Dokumentation einer Reise, hg. von Christoph Kranich [u.a.]. Bremen 1990. Seidler, Franz: Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Sanitätsführung 1939-1945. Neckargemünd 1977. Seidler, Franz W.: Fritz Todt. Baumeister des Dritten Reiches. München [u.a.] 1986. Seidler, Franz W.: Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939-1945. Rechtsprechung und Strafvollzug. München [u.a.] 1991. Siegert, Toni: Das Konzentrationslager Flossenbürg. Ein Lager für sogenannte Asoziale und Kriminelle. In: Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Konflikt. Bd. 2, hg. von Martin Broszat [u.a.] München [u.a.]. 1979, S. 429-492. Sievert, Hermann: Das anomale Bestrafen. Homosexualität, Strafrecht und Schwulenbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Hamburg 1984. Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt/M. 1993. 353

Sofsky, Wolfgang: An der Grenze des Sozialen. Perspektiven der KZ-Forschung. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 1141-1169. Sommer, Kai: Die Strafbarkeit der Homosexualität von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus. Eine Analyse der Straftatbestände im Strafgesetzbuch und in den Reformentwürfen (1871-1945). Frankfurt/M. [u.a.] 1998. Sparing, Frank: „... wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“: Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Düsseldorf 1997. Sparing, Frank: „...daß er es der Kastration zu verdanken hat, daß er überhaupt in die Volksgemeinschaft entlassen wird“. Die Entmannung von Homosexuellen im Bereich der Kriminalbiologischen Sammelstelle Köln. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung vo n Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschichte. Köln 1998, S. 160-181. Sparing, Frank: „Merken Sie nicht, dass wir beobachtet werden?“ Die Vorgehensweise der Gestapo gegen die Düsseldorfer Homosexuellen. In: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, hg. vom Centrum Schwule Geschich te. Köln 1998, S. 121-140. Spiekermann, Heinz: Arbeitsdienstlager, Strafgefangenenlager und Konzentrationslager im Emsland und damit verbundene Erschließungsmaßnahmen. Unveröffentl. Staatsexamensarbeit Univ. Münster 1980. Steinecke, Verena: Menschenökonomie. Der medizinische Diskurs über den Geburtenrückgang von 1911 bis 1931. Pfaffenweiler 1996. Stekl, H.: „Labor et fame“ - Sozialdisziplinierung in Zucht- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, hg. von C. Sachße und F. Tennstedt. Frankfurt/M. 1986, S. 119-147. Stolleis, Michael: Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus. In: VfZ 20 (1972), S. 16-38. Stolleis, Michael: Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht. Berlin 1974. Strebel, Bernhard: Die „Rosa-Winkel-Häftlinge“ im Männerlager des KZ Ravensbrück. In: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, hg. von der Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 1999, S. 34-41. Streng, Franz: Der Beitrag der Kriminologie zu Entstehung und Rechtfertigung staatlichen Unrechts im Dritten Reich. In: MSchrKrim 76 (1993), S. 141-168. Stümke, Hans-Georg; Finkler, Rudi: Rosa Winkel, Rosa Listen. Homosexuelle und „Gesundes Volksempfinden“ von Auschwitz bis heute. Reinbek 1981. Stümke, Hans-Georg: Die Verfolgung der Homosexuellen in Hamburg. In: Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, hg. von Angelika Ebbinghaus [u.a.]. Hamburg 1984, S. 80-84. Stümke, Hans-Georg: Vom „unausgeglichenen Geschlechtshaushalt“. Zur Verfolgung Homosexueller. In: Verachtet, Verfolgt, Vernichtet, hg. von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes. Hamburg 1988, S. 47-63. Stümke, Hans-Georg: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte. München 1989. Suhr, Elke: Die Emslandlager. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung der emsländischen Konzentrations- und Strafgefangenenlager 1933-1945. Bremen 1985. 354

Suhr, Elke: Konzentrationslager - Justizgefangenenlager - Kriegsgefangenenlager im Emsland 1933-1945. In: Verfolgung - Ausbeutung - Vernichtung: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern 1933-1945, hg. von Ludw ig Eiber. Hannover 1985, S. 66-89. Taeger, Angela; Lautmann, Rüdiger: Sittlichkeit und Politik. § 175 im Deutschen Kaiserreich. In: Männerliebe im alten Deutschland. Sozialgeschichtliche Abhandlungen, hg. von Rüdiger Lautmann und Angela Taeger. Berlin 1992, S. 239-268. Terhorst, Karl-Leo: Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich. Heidelberg 1985. Thamer, Hans-Ulrich: Nation als Volksgemeinschaft. Völkische Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftsideologie. In: Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, hg. von Jörg-Dieter Gauger und Klaus Weigelt. Bonn 1990, S. 112-128. Theis, Wolfgang; Sternweiler, Andreas: Alltag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Museum. Berlin 1984, S. 48-73. Thiele, Wilhelm: Geschichten zur Geschichte. Berlin (Ost) 1981. Tuchel, Johannes: Konzentrationslager: Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934-1938. Boppard am Rhein 1991. Tunsch, Thomas: „Ausmerzung der Entarteten“. Einige Aspekte der Schwulenverfolgung in Deutschland. In: Wissenschaft unter dem NS-Regime, hg. von Burchard Brentjes. Berlin [u.a.] 1992, S. 122-131. „Und alles wegen der Jungs.“ Pfadfinderführer und KZ-Häftling: Heinz Dörmer, hg. von Andreas Sternweiler. Berlin 1994. Utz, Richard: Soziologie der Intrige. Der geheime Streit in der Triade, empirisch untersucht an drei historischen Fällen. Berlin 1997. Veyne, Paul: Homosexualität im antiken Rom. In: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, hg. von Philippe Ariès; André Béjin [u.a.]. Frankfurt/M. 1984; S. 40-50. Vogel, Katharina: Zum Selbstverständnis lesbischer Frauen in der Weimarer Republik. Eine Analyse der Zeitschrift „Die Freundin“ 1924-1933. In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur, hg. vom Berlin Mu seum. Berlin 1984, S. 162- 168. Wagener, Otto: Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten, 1929-1932, hg. von Henry A. Turner. Kiel 21987. Wagner, Patrick: Das Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder. Die Kriminalpolizei und die „Vernichtung des Verbrechertums“. In: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik, hg. von Wolfgang Ayaß [u.a.]. Berlin 1988, S. 75-100. (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik ; 6). Wagner, Patrick: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Hamburg 1996. Wagner, Patrick: „Vernichtung der Berufsverbrecher“. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei bis 1937. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 1, Göttingen 1998, S. 87-110. Walmrath, Lothar: „Iustitia et disciplina“: Strafgerichtsbarkeit in der deutschen Kriegsmarine 1939- 1945. Frankfurt/M. [u.a.] 1998. 355

Weinkauff, Hermann: Die Justiz und der Nationalsozialismus. Ein Überblick. München 1968. Weisbrod, Bernd: Entwicklung und Funktionswandel der Konzentrationslager 1937/38 bis 1945. Kommentierende Bemerkungen. In: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, hg. von Ulrich Herbert [u.a.]. Bd. 2, Göttingen 1998, S. 349-362. Werle, Gerhard: Zur Reform des Strafrechts in der NS-Zeit: Der Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches 1936. In: NJW 41 (1988), S. 2865-2867. Werle, Gerhard: Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin [u.a.] 1989. Wiesner, Erich: Man nannte mich Ernst. Erlebnisse und Episoden aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin (Ost) 1956. Wilde, Harry: Das Schicksal der Verfemten. Die Verfolgung der Homosexuellen im 3. Reich und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft. Tübingen 1969. Winkler, Dörte: Frauenarbeit versus Frauenideologie. Probleme der weiblichen Erwerbstätigkeit in Deutschland 1930-1945. In: AfS 17 (1977), S. 99-126. Wloch, Karl: Das war Esterwegen 1935/36. In: Die Weltbühne 1963, S. 678-683. Wolff, Jörg: Jugendliche vor Gericht im Dritten Reich. Nationalsozialistische Jugendstrafrechtspolitik und Justizalltag. München 1992. Wüllner, Fritz; Fietje Ausländer: Aussonderung und Ausmerzung im Dienste der „Manneszucht“. Militärjustiz unter dem Hakenkreuz. In: Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, hg. von Fietje Ausländer. Bremen 1990, S. 65-89. Wüllner, Fritz: Der Wehrmacht“strafvollzug“ im Dritten Reich. In: Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug, hg. von Norbert Haase, Brigitte Oleschinski. Leipzig 1993, S. 29ff. Wüllner, Fritz: Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht. Baden-Baden 21997. Wuttke, Walter: Die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus und ihr Schicksal nach 1945. In: Es geschah in Braunschweig. Gegen das Vergessen der nationalozialistischen Vergangenheit Braunschweigs, hg. vom JUSO-Unterbezirk Braunschweig. Braunshweig o.J., S. 112-131. Zinn, Alexander: Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zur Genese und Etablierung eines Stereotyps. Frankfurt/M. [u.a.] 1997. Zürn, Gaby: „A. ist Prostituiertentyp“. Zur Ausgrenzung und Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten Frauen im nationalsozialistischen Hamburg. In: Verachtet, Verfolgt, Vernichtet, hg. von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes. Hamburg 1988, S. 129-151. 356

C. Publizierte Quellensammlungen, zeitgenössische Periodika

Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade). Bd. 1-7 (1934- 1940). Frankfurt/M. 1980. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, hg. von den Mitgliedern des Gerichtshofes und der Reichsanwaltschaft (RGSt). Bd. 1-77. Berlin [u.a.]. Entwürfe der Strafrechtskommission zu einem Deutschen Strafgesetzbuch und zu einem Einführungsgesetz (1911-1914), hg. und eingeleitet von Werner Schubert. Frankfurt/M. 1990 (Nachdruck). „Führer-Erlasse“ 1939-1945: Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärve rwaltung, zusammengestellt und eingeleitet von Martin Moll. Stuttgart 1997. „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933-1945, bearb. von Wolfgang Ayaß. Koblenz 1988. Goebbels Tagebücher. Aus den Jahren 1942-43 mit anderen Dokumenten, hg. von Louis P. Lochner. Zürich 1948. Heinrich Himmler. Geheimreden 1933-1945 und andere Ansprachen, hg. von Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson. Frankfurt/M. 1974. Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, hg. von Max Domarus. Bd. 1-2, München 1965. Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-42, eingeleitet und veröffentlicht von Gerhard Ritter. Bonn 1951. Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, hg. von Günter Grau. Frankfurt/M. 1993. Kosthorst, Erich; Walter, Bernd: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933-1945. Zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz. Darstellung und Dokumentation, Bd. 1-3. Düsseldorf 1983. Materialien zur Strafrechtsreform, hg. vom Bundesministerium der Justiz. Bd. 1-15. Bonn 1954. Protokolle der Kommission für die Reform des Strafgesetzbuches (1911-1913), hg. von Werner Schubert. Bd. 1-4, Frankfurt/M. 1990 (Nachdruck). Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, hg. von Werner Schubert. Bd. 1: Entwürfe eines Strafgesetzbuches, hg. von Jürgen Regge und Werner Schubert. T. 2: Berlin [u.a.] 1990. Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus. Ausgewählte Schriften, Gesetze und Gerichtsentscheidungen von 1933 bis 1945, hg. und erl. von Martin Hirsch [u.a.]. Köln 1984. Reichsgesetzblatt, hg. im Reichsministerium des Innern. Teil I + II. Berlin 1871-1945. Richterbriefe. Dokumente zur Beeinflussung der deutschen Rechtsprechung 1942-1944, hg. von Heinz Boberach. Boppard a. Rhein 1975. Ursachen und Folgen: vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hg. und bearb. von Herbert Michaelis [u.a.]. Bd. 1-26 + Register. Berlin 1958-1979. 357

Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Bearbeitet von der hierzu bestellten Sachverständigen-Kommission. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichs-Justizamts. Berlin 1909 (Nachdruck Frankfurt/M. 1990). 358

D. Unveröffentliche Quellenbestände

Bundesarchiv Berlin

Akten des Reichsjustizministeriums Sonstige Bestände R 22/845 R 22/1175 R 22/1422 R 42/171 R 22/854 R 22/1176 R 22/1437 R 43 II/398 R 22/855 R 22/1197 R 22/1467 R 58/473 R 22/862 R 22/1226 R 22/1469 R 61/127 R 22/885 R 22/1261 R 22/3062 R 22/931 R 22/1263 R 22/4053 R 22/944 R 22/1265 R 22/4062 R 22/950 R 22/1284 R 22/4199 R 22/970 R 22/1285 R 22/5015 R 22/973 R 22/1338

Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück (NdS StA OS)

Rep 947, Lin I Rep 947, Lin II Der Bestand Rep 947 Lin I wurde kürzlich auf Mikrofiche aufgenommen. Da die Akten für die vor- liegende Untersuchung noch im Original eingesehen wurden, können keine Fol.-Nr. angegeben werden.

Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (NdS HStA H)

Hann. 86 Celle, Acc. 142/90 Hann. 86 Hameln, Acc. 143/90 Die Akten mit den Signaturen Az. 44, 430 und Az. 44, 441 sind im Wege der Nachbereitung aus dem Bereich der Sammlung der Gedenkstätte Wolfenbüttel an das Hauptstaatsarchiv Hannover abgegeben worden.

Staatsarchiv Bremen (StA B)

4.80-III Ich versichere, daß ich diese Arbeit selbständig verfaßt und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.

Oldenburg, den 28. März 2000