mus und Kommunismus auf der ganzen Erde – wenn auch nicht nach dem Modell der Russen oder Chinesen, sondern nach eigenen Visionen. Dutschke wird die Sym- bolgestalt dieses gigantischen Entwurfs, ihr selbstgewisser Held und Rhetor: „Er war ein Redner, wie es außer Strauß und Weh- ner in Deutschland nach 1945 keinen mehr gegeben hat“, schreibt SPIEGEL-Heraus- geber Rudolf Augstein in seinem Nachruf (SPIEGEL 53/1979). Und außerdem: „un- korrupt bis ins Mark“. Über den rechten Weg zum Glück, grundsätzlich für alle Menschen dieser Welt, war Rudi Dutschke sich nie im Zwei- fel. Ironie, gar Zynismus lagen dem stets ernsthaften Optimisten völlig fern. Selbst im Tagebuch findet sich davon keine Spur. Seine Ehefrau Gretchen – eine US-Ameri- kanerin, die nun wieder in Massachusetts lebt – hat die rund 300 Seiten jetzt zum Druck freigegeben*. Den Texten fügte sie ein kluges, infor- matives Nachwort (35 Seiten) bei. Der nahe liegenden Versuchung, das Tagebuch zu kürzen, es zu bearbeiten und zu glätten,

G. DUTSCHKE hat die Witwe widerstanden; lediglich sechs Brautpaar Dutschke (Hochzeitsfeier in , März 1966): „Liebe zur Revolution“ Seiten wurden aus „juristischen Gründen“ gestrichen. So kommt nun alles ans Licht, zum REVOLUTIONÄRE Beispiel auch die Sache mit Gott und dessen Sohn Christus. Wie kann man, fragten sich Dutschkes Mitstreiter in Im fernen Reich der Freiheit den sechziger Jahren, zugleich Marxist (mithin „Materialist“) und Christ (philo- Rudi Dutschke, Heros und Opfer der 68er Revolte, führte sophisch betrachtet also „Idealist“) sein? Darüber hat sich der Student, Sohn einer heimlich Tagebuch – über Gott, die Liebe und die Grünen. Nach strengen protestantischen Mutter, seiner- dem Attentat hat ihn die Angst nie mehr verlassen. zeit öffentlich nicht geäußert. Obwohl damals alles diskutiert wurde, Sex und r denkt so oft an Urischka, schwarze Rudi brennt. Er will alles. „Jeder hat sein Geld und der Glauben sowieso. Ostern Haare, „fantastisches Mädchen“: Leben ganz zu leben“, lautet das Credo des 1963, nach der unglücklichen Geschichte E„Die Kälte des hereinströmenden charismatischen Studenten, vierter Sohn mit Urischka, vertraut Dutschke seinem Schlafes … die Äonen des Lichts … kaum eines Postbeamten aus bei Tagebuch an: ist mein Geist wieder im bewussten Raum Berlin. Im Sturmlauf erobern er und sein Jesus ist auferstanden, Freude und Dank- und auch in bewusster Zeit, so denke ich Freund Bernd Rabehl ab 1965 den SDS, ei- barkeit sind die Begleiter dieses Tages; an Urischka, an die Möglichkeiten und an gentlich eine konformistische SPD-Nach- die Revolution, die entscheidende Revo- die Tatsächlichkeiten.“ Rudi Dutschke ist wuchsschmiede, den vormals der Hambur- lution der Weltgeschichte ist geschehen, 22 Jahre alt, er studiert an der Freien Uni- ger Ökonomiestudent Helmut Schmidt die Revolution der Welt durch die alles versität Berlin die Soziologie. führte. Mit Dutschke wird alles anders. überwindende Liebe. Nähmen die Men- Mit Urischka wird es nichts, sie erhört ei- Der schwarzhaarige Leichtathlet, der schen voll die offenbarte Liebe im Für- nen anderen. Konsequenterweise beginnt nicht raucht und nicht trinkt, wird inner- sich-Sein an, die Wirklichkeit des Jetzt, der erfolglose Liebhaber, Tagebuch zu halb weniger Monate zum die Logik des Wahnsinns führen, am 18. Februar 1963. Dabei bleibt Heros der Studentenrebellion. könnte nicht mehr weiter- er, bis zu seinem frühen Tod 1979. Er hat Ab 1966 fällt die autoritäre, bestehen. die Notizen vor Familie, Freunden und Ge- meist noch deutschnationale Im Jahr darauf – politisch nossen geheim gehalten, dem Tagebuch Hochschule Stück für Stück in destabilisiert er die bestehen- aber alle Wahrheiten anvertraut – über sei- Scherben: Die Studenten ris- den Verhältnisse längst als ne Verliebtheiten, die großen Utopien der kieren Regelverletzungen, for- aktives Mitglied der anarcho- Weltrevolution und die kleinen Intrigen im dern Debatten („Teach-ins“) liberalen „Subversiven Ak- Sozialistischen Deutschen Studentenbund und Mitsprache, engagieren tion“ – verklärt er am Karfrei- (SDS), über die „halbasiatische“ Sowjet- sich ungebeten für die Dritte tag Jesus Christus zum „größ- union, die piefige DDR, über Geheim- Welt, gegen den Vietnam- ten Revolutionär der Welt“. dienste, Geld, Sex, antiautoritäre Erzie- Krieg und das Etepetete der Die „Konterrevolution“ habe hung und gesundheitliche Probleme. verzopften Ordinarienuniver- ihn „im keuchenden Mor- sität: „Unter den Talaren Muff genlande ans Kreuz“ geschla- * Rudi Dutschke: „Jeder hat sein Leben ganz zu leben“. von tausend Jahren.“ gen. Auch für den SDSler Die Tagebücher 1963–1979. Hrsg. von Gretchen Dutschke. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 432 Seiten; Dutschkes Fernziel ist die Dutschke-Buch Dutschke sind, zumindest an- 22,90 Euro. Weltrevolution, sind Sozialis- Geheime Notizen fangs, „Sozialismus und Glau-

82 14/2003 Deutschland ben nicht voneinander zu trennen“. Ins visionisten“ durch ihre Geheimpolizei per- Politik macht manchen guten Vorsatz zu- Praktische gewendet heißt das: Es gilt, eine manent überwachen. nichte. Er liest bis spät in die Nacht, die „neue Wirklichkeit zu schaffen“, das Ob ostdeutsche Staatssicherheitsorgane wissenschaftlichen Themen werden immer „Reich der Freiheit“, und zwar durch Klas- irgendetwas mit dem Attentat auf den Stu- komplizierter, es geht um die „halbasiati- senkampf und Revolution. dentenführer zu tun hatten, ist bis heute sche Produktionsweise“ (das Kreuz der Er hat sie so geliebt, die Revolution. umstritten. Am Gründonnerstag 1968 wur- schon siechen Sowjetunion), um die „all- Wenn möglich, sollte sie ohne Blut- de er von dem Hilfsarbeiter Josef Bach- gemeine Staatssklaverei“ (gestern, heute, vergießen verlaufen, jedenfalls in den mann, der aus der DDR stammte, auf dem morgen). 1973 promoviert Dutschke in ei- industrialisierten Ländern. Die Welt- Berliner Kurfürstendamm in Kopf, Hals ner großen Anstrengung an der Freien Uni- revolution werde die „kapitalistische Ar- und Schulter geschossen. versität Berlin zum Dr. phil. beit“ und die „Arbeitsteilung“ abschaf- Dutschke überlebt schwerstverletzt. 1974 Die alten Kombattanten von SDS und fen und auf diesem neuen Fundament notiert er: „Wir haben ja auch nie genü- Apo driften derweil weit auseinander. Die dann auch Wissenschaft, Künste, Kinder- gend reflektiert, warum Ba(chmann) mich terroristische Rote Armee Fraktion ist für erziehung, Universitäten und die „Se- im April 68 zusammengeschossen hat; wel- Dutschke von Anfang an „ohne Relevanz xualökonomie“ revolutionieren. Sexual- che Interessen sich, real und konkret be- und Perspektive“, eine „Dummheit“. Den ökonomie war zu den Zeiten der „Außer- stimmbar, dahinter verbargen.“ von ihm einst geforderten „langen Marsch parlamentarischen Opposition“ (Apo) das Dutschke, seine Frau und ihr gemeinsa- durch die Institutionen“ sieht er ab 1978 Codewort für die Liebe und deren mer, 1968 geborener Sohn Hosea Che ver- von den Grünen begonnen. Er schließt sich Vollzug. lassen nach dem heimtückischen Überfall ihnen an. UPI / CORBIS Studentenprotest gegen Notstandsgesetze (Bonn, Mai 1968): „Der Kampf für die Befreiung hat gerade erst begonnen“

Die „Liebe zur Revolution“ ging für Deutschland. Nach Stationen in der Wenn alles nach Plan und Wunsch ge- Dutschke jedoch vor, was er 1974 der „lie- Schweiz, Italien und England gewährt gangen wäre, hätte der Liebhaber der Re- ben Genossin“ Jutta, die sich extra für ihn Dänemark der Familie in der Universitäts- volution Anfang der achtziger Jahre als freigenommen hatte, erklären musste und stadt Asyl. Äußerlich ist der sport- grüner Abgeordneter im Bonner Parlament später auch noch Elsa und Ellen. Selbst liche Mann bald wieder ganz der alte. In- gesessen. Doch am Heiligen Abend 1979 Ehefrau Gretchen wollte er nicht im ersten nerlich, so beweist sein Tagebuch, durch- erleidet er in der Badewanne einen epi- Verliebtsein heiraten; Begründung: Ein Re- leidet er schwere Zeiten. leptischen Anfall und ertrinkt. volutionär muss die Revolution machen. Mühsam muss er sich die Sprache Dem Attentäter Josef Bachmann hat Für die DDR, aus der Rudi Dutschke zurückerwerben, jede intellektuelle Arbeit Rudi Dutschke schon 1968 ins Gefängnis am Tag vor dem Mauerbau 1961 endgül- geht langsam voran. Durch die organische geschrieben und den desorientierten, zu tig geflüchtet war, erschien ihm eine Hirnverletzung stellen sich immer wieder sieben Jahren Haft verurteilten Mann für „zweite Revolution“ dringend nötig. In epileptische Krämpfe ein. Ihm bleiben in- die große Sache zu begeistern versucht. Als dem armen deutschen Halbstaat sei näm- nerliche Unruhe und Angst vor Verfolgung der sich, 25 Jahre alt, im Februar 1970 das lich „alles real und existent, nur nicht der und neuen Schüssen. Nur schwer kann Leben nimmt, notiert Dutschke in sein Ta- Sozialismus“. Weil er die politische Zu- Dutschke die manchmal aufbrandende Pa- gebuch: „Es war mein Fehler, mit ihm die sammenarbeit mit der SED ablehnte und nik und paranoide Ideen dämpfen. Kontakte nicht aufrechtzuerhalten … der sich auch noch die deutsche Wiederverei- Im Tagebuch ermahnt er sich zu Diszi- Kampf für die Befreiung hat gerade erst nigung wünschte – eine „sozialistisch-an- plin. „Regelmäßiger Schlaf! Sport!“ Doch begonnen; leider kann Bachmann daran tiautoritäre“ –, ließen ihn die DDR-„Re- seine ungebrochene Leidenschaft für die nun nicht teilnehmen.“ Hans Halter

der spiegel 14/2003 83