Charles Dickens: Popularisierungen eines populären Autors im 19., 20. und 21. Jahrhundert
Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau
vorgelegt von
Christoph Schüly aus Stuttgart
Wintersemester 2008/2009
Erstgutachterin: Prof. Dr. Barbara Korte Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Hochbruck
Vorsitzende des Prüfungsausschusses der Gemeinsamen Kommission der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Elisabeth Cheauré
Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 1. Juli 2009
Danksagung
Durch ein Hauptseminar über Charles Dickens, das Frau Prof. Dr. Barbara Korte im Wintersemester 2001/2002 an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen unterrichtete, wurde mein Interesse an Leben und Werk dieses Autors geweckt. Ab dem Wintersemester 2004/2005 betreute und begleitete Frau Prof. Korte den Entstehungsprozess der nun vorliegenden Arbeit. Für die stets rasche Rückmeldung und viele hilfreiche Hinweise bezüglich meiner Arbeitsergebnisse danke ich ihr herzlich. Mein Dank gebührt ihr auch dafür, dass sie mich in den ersten beiden Jahren meiner Arbeit an der Dissertation mit dem nötigen finanziellen Rückhalt versorgte, indem sie mich als Wissenschaftlichen Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl beschäftigte.
Zwischen August 2006 und Mai 2008 war ich als Max Kade Teaching Fellow an der Colgate University in Hamilton, New York, tätig. Das Kollegium des dortigen German Department verschaffte mir mit dieser Stelle die nötige finanzielle Absicherung, um die Arbeiten an meiner Dissertation weiterzuführen und abzuschließen. Zudem ermöglichte mir meine Tätigkeit an der Colgate University, unzählige wertvolle und unvergessliche Erfahrungen zu sammeln – in beruflicher wie privater Hinsicht. Allen, die dazu in irgendeiner Form einen Beitrag geleistet haben, möchte ich ein herzliches Dankeschön aussprechen.
Im August 2007 gab mir die Dickens Society die Möglichkeit, einen Teil meiner Ergebnisse in einem Vortrag auf ihrem jährlichen Symposium vorzustellen, das in diesem Jahr in Montreal stattfand. Dafür sowie für alle hilfreichen Anmerkungen der teilnehmenden Dickens scholars danke ich ebenfalls.
Herrn Prof. Dr. Wolfgang Hochbruck gilt mein Dank dafür, dass er das Zweitgutachten für die vorliegende Dissertation anfertigte.
Mein besonders herzlicher Dank gebührt meinen Eltern, Marga und Ernst Schüly, die mich in meinem Vorhaben zu promovieren stets bestärkt und unterstützt haben. Ihnen widme ich meine nun fertiggestellte Dissertation.
Ludwigsburg, im April 2010
Christoph Schüly
Inhaltsverzeichnis:
1 Einleitung 1
2 Popular Culture-Theorien 19
2.1 Zur Forschungsgeschichte und den Schwierigkeiten der Definition 19
2.2 Charakteristika potentiell populärer Texte 25
2.3 Hochkultur und Popularisierung 38 2.3.1 Hochkultur in der Postmoderne 39 2.3.2 Popularisierung 41
3 Charles Dickens: Popularität und Popularisierung von 1836 bis in die 1990er Jahre 54
3.1 Dickens' Popularität bei seinen zeitgenössischen Lesern am Beispiel der Pickwick Papers 54 3.1.1 Ökonomische und soziologische Voraussetzungen für Dickens's Popularität 54 3.1.2 Dickens' klassenübergreifende Popularität 55 3.1.3 Zur Entstehung der Pickwick Papers 60 3.1.4 Die Produzierbarkeit der Pickwick Papers 62 3.1.5 Leseransprache 69 3.1.6 Tertiäre Texte 71 3.1.7 Spin off Produkte 75 3.1.8 Relevanz 76 3.1.9 Marketingstrategien der Verleger 79
3.2 Frühe Popularisierungen 79 3.2.1 Adaptionen von Dickens' Romanen in Schriftform 79 3.2.2 Dickens' public readings 85
3.3 Dickens' Popularität über seinen Tod hinaus und Beginn der literaturwissenschaft lichen Beschäftigung mit seinem Werk 89
3.4 Adaptionen von Dickens' Texten für Theater, Film und Fernsehen 94 3.4.1 Adaptionen für das Theater 95 3.4.2 Adaptionen für Film und Fernsehen 108
4 Case Studies: Popularisierungen seit den 1990er Jahren 125
4.1 Einführung 125 4.1.1 Das Kostümdrama im Kino 125 4.1.2 Das Kostümdrama im britischen Fernsehen 128 4.1.3 Die Relevanz der Klassikerverfilmung für ein zeitgenössisches Publikum 133
4.2 Case Studies 134
4.2.1 Martin Chuzzlewit (BBC, 1994) 136 4.2.1.1 Der Roman und seine Relevanz für das heutige Publikum 136 4.2.1.2 Das populäre Potential der Verfilmung 139 4.2.1.3 Resümee 150
4.2.2 Great Expectations (Alfonso Cuarón, 1998) 151 4.2.2.1 Der Roman und seine Relevanz für das heutige Publikum 151 4.2.2.2 Das populäre Potential der Verfilmung 154 4.2.2.3 Resümee 161
4.2.3 Great Expectations (BBC, 1999) 162 4.2.3.1 Das populäre Potential der Verfilmung 162 4.2.3.2 Resümee 174
4.2.4 icholas ickleby (ITV, 2001) 175 4.2.4.1 Der Roman und seine Relevanz für das heutige Publikum 175 4.2.4.2 Das populäre Potential der Verfilmung 177 4.2.4.3 Resümee 187
4.2.5 icholas ickleby (Douglas McGrath, 2002) 188 4.2.5.1 Das populäre Potential der Verfilmung 188 4.2.5.2 Resümee 200
4.2.6 Oliver Twist (Roman Polanski, 2005) 201 4.2.6.1 Der Roman und seine Relevanz für das heutige Publikum 202 4.2.6.2 Das populäre Potential der Verfilmung 204 4.2.6.3 Resümee 212
4.2.7 Bleak House (BBC, 2005) 214 4.2.7.1 Der Roman und seine Relevanz für das heutige Publikum 214 4.2.7.2 Das populäre Potential der Verfilmung 217 4.2.7.3 Resümee 232
4.2.8 David Copperfield als 'Kurzklassiker' (Orion Books, 2007) 233 4.2.8.1 Zur Originalfassung des Romans 235 4.2.8.2 Das populäre Potential der gekürzten Version 236 4.2.8.3 Resümee 242
4.2.9 Peter Ackroyds Dickens 244 4.2.9.1 Populärkulturelle Elemente in Dickens (1990) 246 4.2.9.2 Dickens (1994) – Die gekürzte Version 250 4.2.9.3 Dickens (BBC, 2002) 259 4.2.9.3.1 Das populäre Potential der Verfilmung 259 4.2.9.3.2 Resümee 268 4.2.9.4 Peter Ackroyds The Mystery of Charles Dickens 269 4.2.9.4.1 Das populäre Potential der Darbietung 271 4.2.9.4.2 Resümee 274 4.2.9.5 Resümee des populären Potentials der Ackroyd Produkte in ihrer Gesamtheit 276
4.2.10 Dickens World – Eine themed attraction in Chatham, Groβbritannien 277 4.2.10.1 Zu Geschichte und kultureller Bedeutung der Einrichtung Themenpark 277 4.2.10.2 Selbstverständnis und Zielsetzung von Dickens World 284 4.2.10.3 Die Popularisierung von Dickens' Leben und Werk in Dickens World 287 4.2.10.3.1 Die ständigen Attraktionen 287 4.2.10.3.2 Die Shows 300 4.2.10.4 Resümee 304
5 Schlussbetrachtung 305
Literaturverzeichnis 311 1
1 Einleitung In the spring of 2002 the BBC launched a new multi media phenomenon, and gave us the Definitive Dickens Man, Peter Ackroyd. The UK experienced something of a Dickens Blitzkrieg, which seemed to have been masterminded by Peter Ackroyd. It was a simultaneously co ordinated assault on several fronts – stage, radio, TV, the web, audiocassette, videocassette and general merchandize. I cannot recall such a campaign focused on a single writer before Operation Ackroyd/Dickens. [...] The assault of Operation Boz came in two parts. First there was the one man stage show, The Mystery of Charles Dickens, scripted by Peter Ackroyd, starring Simon Callow. This was adapted for radio and transmitted on BBC Radio Four and subsequently released on audiocassette. The stage version was then televised on BBC 4, the Corporation’s new arts and culture channel, in April 2002. This was then followed in May by a three part television drama documentary series, Dickens, on BBC 2, hosted by Peter Ackroyd. The BBC published Ackroyd's accompanying book, Dickens: Public Life and Private Passion. And, oh, I nearly forgot, there's a BBC website devoted to this campaign. [...] This whole enterprise shows the extent of the Corporation's metamorphosis from Reithian elitism to full engagement in the populist market, and cannot be viewed in isolation from the global market economy and Post Modern, Blairite Britain of which it is so characteristic a product. This exciting package and its antecedents deserves examining (Giddings n.d.2). Im Herbst 2005 setzte die BBC zum nächsten Feldzug an: Diesmal sollte der Roman Bleak House von Charles Dickens so verfilmt werden, dass die Verfilmung Anklänge an das populäre Genre der soap opera erkennen lassen und auch vom selben Publikum rezipiert werden würde. Auch diese Produktion wurde von zahlreichen Marketingmaβnahmen begleitet: Schon Monate vorher berichtete die britische Presse darüber, die BBC schaltete erneut eine Homepage, zudem legte der Penguin Verlag seine Taschenbuchausgabe des Romans neu im tie in Cover auf. Bereits wenige Monate nach Ende der Ausstrahlung war die Verfilmung in einem attraktiv aufgemachten DVD Set erhältlich. Im März 2008 schlieβlich eroberte Dickens auch das Genre der Casting Show: Unter dem Titel I'd Do Anything suchte Musical Veteran Andrew Lloyd Webber gemeinsam mit der BBC nach einer jungen Sängerin und Schauspielerin, die in einer Neuproduktion des legendären Musicals Oliver! die Rolle der Nancy übernehmen sollte, sowie nach drei jungen Darstellern, die jeweils im Wechsel als Titelfigur Oliver auf der Bühne stehen sollten: "[T]wenty million Britons tuned in to the I’d Do Anything final […]. Telephone lines were jammed with voters keen to make sure that Oliver was cared for by their vision of one of Dickens's most loved creations" (Knight 2009: 6). Bereits im Jahr zuvor, im Mai 2007, war zudem in Chatham, Groβbritannien, ein Themenpark eröffnet worden, der sich mit Dickens' und Leben und Werk beschäftigt. 2
Der von Robert Giddings so benannte 'Dickens Blitzkrieg' kurz nach der Jahrtausendwende kam nicht von ungefähr. Während die BBC und einige Verbündete – etwa der britische Privatsender ITV – bereits ab Mitte der 1990er Jahre verstärkt aufgerüstet hatten, waren die ersten Schlachtpläne bereits im 19. Jahrhundert entworfen worden, und zwar von Dickens höchstselbst: "From the early days of original serial publication, through to his exploitation by the Victorian stage and the more recent attentions of film, radio and television, Dickens has always been a mass media phenomenon", bemerkt Mike Pool (1983, 148). Dennoch, wie Robert Giddings (1983b, 18) wiederum betont: "Dickens's existence in our literature has been, and no doubt will continue to be, similar to that he describes of the Broker's Man in Sketches by Boz: '...one of a very chequered description: he had undergone transitions....'" Dickens' erster, serialisiert veröffentlichter Roman The Pickwick Papers geriet mit bis zu 40.000 Exemplaren pro instalment schnell zum "most sensational triumph in nineteenth century publishing" (Ford 1955, 6), nachdem der Erfolg der ersten instalments dieses Textes mit jeweils etwa 400 verkauften Exemplaren noch recht moderat gewesen war (vgl. James 1963, 47). Obgleich die Verkaufszahlen von Dickens' Romanen im Laufe seiner Karriere durchaus gewissen Schwankungen unterworfen waren, so konnte doch ein britischer Journalist zu dem Zeitpunkt, als das erste instalment von Dickens' letztem Roman, The Mystery of Edwin Drood, erschien, gleichsam ausrufen: "What other story teller, English or foreign, ever maintained so great and increasing a popularity for six and thirty years" (Z.n. Collins 1974b, 6). Nach Darstellung von Philip Collins (1970, 152) gilt Dickens auch als "best selling author in the history of American publishing." Zu seinen Lebzeiten gelangten Dickens' Geschichten und Figuren noch vornehmlich über das von ihm geschriebene Wort in das Bewusstsein seines Publikums – obgleich schon während des Erscheinens seines ersten Romans die ersten Adaptionen für das Theater erschienen, die sich auch durchaus positiv auf die weitere Popularisierung der Texte auswirkten, wie sich im dritten Kapitel dieser Arbeit zeigen wird. Zu Beginn des 21. Jahrhundert hat sich diese Situation gewandelt, obgleich John O. Jordan (2001b, xix) bemerkt: Dickens is unusual if not unique among canonical English language authors in remaining at once a vital focus of academic research and a major figure in popular culture. Only Shakespeare, Mark Twain, and perhaps Jane Austen can compare with him in terms of their ability to hold the attention of both a scholarly and a general audience. Und auch Richard J. Dunn (1993, 21) sieht die heutige Rezeption von Dickens' Werk von 3
"enduring popularity" und "continuing critical acclaim" geprägt. Die Qualität dieser Popularität hat sich seit dem 19. Jahrhundert jedoch verändert. "[Dickens'] popularity today is probably sustained as much by performed versions, which offer a strong if incomplete impression of his genius, as by the words on the printed page", konstatiert Philip Collins (1999, 469). Als repräsentativ für die Erfahrungen seiner eigenen als auch nachfolgender Generationen können wohl die Kindheitserinnerungen von Jeffrey Richards (1997, 345f.) betrachtet werden: "I grew up in the 1950s [...] and was turned into a Dickens reader by watching the television adaptations more than anything else." Auch John Glavin (2003b, 5) betont: [T]he Dickens film now shapes Dickens's fiction. Of course, Dickens's books came first (in time). They just don't come first (in meaning) anymore. Baldly stated: all but specialists in Victorian fiction know Dickens's fiction primarily on and through the screen (Hervorhebung im Original). Und wie die Ausführungen von Joss Marsh (2001, 204) erkennen lassen, existiert eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich über Kinoleinwand oder Fernsehbildschirm mit Dickens' Werk vertraut zu machen: "Since 1897, when the Mutoscope Company put the Death of ancy Sykes [sic] on the screen, more films have been made of works by Dickens than of any other author's." Michael Pointer (1996, 113), der die bis ins Jahr 1994 hinein erschienenen Kino und Fernsehverfilmungen von Dickens' Texten akribisch auflistet und diskutiert, schrieb 1996: "There seems to be little chance of there being any end of Charles Dickens on the screen", und er sollte Recht behalten: Auch nach der Wende zum dritten Jahrtausend erscheinen noch regelmäßig neue Adaptionen von Dickens' Romanen für Kino und Fernsehen: Neben der bereits genannten BBC Verfilmung von Bleak House gab es im Jahr 2005 eine neue Kino Verfilmung von Oliver Twist, bei der Roman Polanski Regie führte. Zu Weihnachten 2007 war eine neue Produktion von The Old Curiosity Shop auf dem britischen Privatsender ITV zu sehen, im Herbst 2008 lieβ Andrew Davies seiner Verfilmung von Bleak House eine Adaption des Romans Little Dorrit folgen, die in einem ähnlichen Stil gehalten und wiederum auf BBC1 zu sehen war. Im November 2009 veröffentlichte Walt Disney Pictures eine neue Variante des Christmas Carol im 3 D Format.1 Bei der aktuellen Produktion führte Robert Zernecki Regie, gleich mehrere Rollen, unter anderem die des Ebenezer Scrooge, wurden mit Jim Carrey besetzt. Eine neue Adaption des Romans David Copperfield mit Rowan Atkinson ("Mr. Bean") in der Rolle des Mr. Micawber soll 2010 in die Kinos kommen.
1 Walt Disney Pictures hatte sich des Stoffes bereits 1983 (Mickey’s Christmas Carol) und 1992 (The Muppet Christmas Carol) angenommen. 4
Bis zum heutigen Tag inspiriert Dickens' Werk nicht nur Filmschaffende, sondern auch Verfasser von Romanen – teilweise durchaus populärkulturellen Zuschnitts. Die Einflüsse, die von Dickens' Texten ausgehen, finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in den verschiedensten Genres – vom Kinderbuch bis zum Thriller – und im Werk sowohl britischer als auch amerikanischer Autoren. Zwei Beispiele seien angeführt: Der Kinderroman Henry Hollins and the Dinosaur des englischen Schriftstellers Willis Hall aus dem Jahr 1977 beinhaltet eine Vielzahl von Anspielungen auf Dickens und sein Werk. Die Handlung spielt in dem fiktiven Städtchen Staplewood, von dem behauptet wird, Dickens habe dort für eine gewisse Zeit in einem Hotel gewohnt und auch an einem seiner Romane gearbeitet. Aus diesem Grund wurden die Straßennahmen nach Charakteren aus Dickens' Romanen benannt – die Familie des Protagonisten Henry Hollins etwa lebt in 23 icholas ickleby Close. Der 2009 erschienene Thriller The Last Dickens aus der Feder des US amerikanischen Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Matthew Pearl erzählt von Versuchen seitens der amerikanischen Verleger von Dickens, nach dessen Tod an Informationen bezüglich des geplanten Fortgangs von Dickens' letztem Roman The Mystery of Edwin Drood zu gelangen, um diese vermarkten zu können, und entwickelt daraus eine spannende und action reiche Handlung. Aber auch in die nicht literarische Kultur Großbritanniens und Amerikas haben Begebenheiten und Figuren aus Dickens' Werk Eingang gefunden. "[Dickens'] reputation both in his own country and abroad has long burst the narrow banks of 'literature' and become part of everyday existence", bemerkt E.W.F. Tomlin (1969b, 263). "Today, many more know of Mr. Pickwick and Mrs. Gamp than have read through Pickwick Papers and Martin Chuzzlewit" (Tomlin 1969b, 238). Richard J. Dunn (1993, 26) erkennt: "As with many Dickens characters and phrases, incidents such as Oliver's asking for 'more' and pronouncements by Bumble, the Artful Dodger, and Fagin seem to have found life apart from the pages of the novel." Ebeneezer Scrooge, "[t]he protagonist [of A Christmas Carol] is probably better known than any other Dickens character, even to people who have never heard of Dickens", urteilt Paul Schlicke (1999a, 102). Paul Davis (1990, 215f.) ergänzt: Thinly disguised as Mister Magoo or Maddie Hayes, Scrooge turns prime time into Christmastime, and during the commercial breaks he pushes Scrabble games and waterbeds, or hosts a Christmas party where he urges his guests to mingle and enjoy a Big Mac. [...] The sportswriter Hal Bock characterizes the confrontation between Kareem Abdul Jabbar and rookie Patrick Ewing as an 'NBA Carol' pitting 'the ghost of centers past ... and present ... against the ghost of centers future.' Senator Pete Domenici, chairman of the Senate Budget Committee, gives a Dickensian turn to 5
the ongoing battle of the budget when he analyzes the nation's financial situation as the problem of 'budgets past, budgets and the ghosts of deficits forever.' Politicians run the perennial peril of being identified as Scrooges [...]. Not long after Mayor Ed Koch of New York accused President Reagan of being a Scrooge for supporting the elminination of state and local tax deductions on the federal income tax, Koch himself earned the appellation for asserting that some of the homeless people on New York's streets were there by choice. Eine Anspielung auf Dickens' wohl berühmteste Weihnachtsgeschichte findet sich auch auf dem am 7. November 2008 erschienenen Album And Winter Came der in vielen Ländern bekannten und kommerziell erfolgreichen irischen new age Musikerin Enya. Eines der auf dem Album enthaltenen Lieder trägt den Titel "The Spirit of Christmas Past". Auch in den Schlagzeilen der britischen Tageszeitungen – und zwar sowohl in den Tabloids als auch in den Broadsheets – finden sich häufig Anspielungen auf Dickens' Werk, und zwar zumeist mittels der Verwendung von puns, die sich auf sein Werk bzw. auf Figuren daraus beziehen. Zwei Beispiele seien genannt: Am 18. März 2003 titelte der Guardian: "A Tale of Two Cities: Nottingham is home to two excellent universities, so why are pupils in some parts of the city alienated from higher education?" In der Sun war am 17. April desselben Jahres zu lesen: 'The Artful Todgers' [sic]: Culture fans make a complete and utter arts of themselves by stripping at a gallery. The 200 volunteers – aged 18 to 61 – went naked for a display of 'living art' to celebrate the opening of London's Saatchi Gallery. The nudes were arranged by a US artist, then met guests like Jade Jagger. Auf Dickens' Werk angespielt wird auch in für den internationalen Markt produzierten populären amerikanischen Fernsehserien, so etwa in der Folge "The One with all the Jealousy" aus der dritten Staffel der Serie Friends und in der der zweiten Staffel der Serie Angel entstammenden Episode "Untouched". Einer der ständigen Charaktere der amerikanischen Cartoon Fernsehserie South Park trägt den Namen Pip, eine nach dieser Figur benannten Folge der Serie versteht sich als Parodie auf Dickens' Roman Great Expectations. Das Interesse an Dickens beschränkte und beschränkt sich indes nicht auf sein Werk. "Dickens was so forceful a personality and achieved his unique celebrity so early in life, that virtually from the beginning of his career criticism of the work has been intertwined with an interest in the man" (Westland et al. 1999, 135). Aufgrund des kommerziellen Erfolges seiner Romane und der zahlreichen Lesereisen, die Dickens ab 1853 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1870 in Großbritannien und Amerika unternahm, erreichte Dickens innerhalb großer Teile der britischen und amerikanischen Bevölkerung einen Status, der dem heutiger Prominenter durchaus vergleichbar ist. So schreibt Emlyn Williams (1969, 228) über 6
Dickens' erste Amerikareise im Jahr 1842: "[W]hen Dickens arrived at Boston, his reception was like that of a monarch. A striking likeness was made of him by the sculptor Henry Dexter, and a series of receptions, balls and visits to celebrities arranged." Paul Schlicke (1985, 232) bemerkt bezüglich des Ausmaßes von Dickens' Popularität in späteren Jahren: "[T]he long queues of people waiting to buy tickets to hear him read and the crowds following him about in the streets testify to a degree of adulation comparable to that given to pop stars in our own day." Dem Interesse auch an Dickens' Privatleben wurde bereits kurz nach seinem Tod durch Veröffentlichung einer von seinem engen Vertrauten John Forster verfassten Biographie Rechnung getragen, die zwischen 1872 und 1874 in drei Bänden herausgegeben wurde. Neben weiteren, eher wissenschaftlich ausgerichteten biographischen Veröffentlichungen, wie etwa den Dickens Biographien von Edgar Johnson aus dem Jahr 1952 und Fred Kaplan aus dem Jahr 1988, wurde Dickens' Vita auch mehrfach in populäre Form gegossen. Michael Slater (1970, 135) diskutiert eine Veröffentlichung von C.E. Bechhoffer Roberts, die 1928 unter dem Titel This Side Idolatry erschien und Dickens' Leben in fiktionaler Form erzählte. Eine weitere Dickens Biographie mit populärem Anstrich erschien 1967: "Christopher Hibbert's highly readable The Making of Charles Dickens distilled the Johnson/Edmund Wilson Dickens for a wider public", bemerkt Slater (1999a, 43) und betont damit den popularisierenden Charakter dieser Veröffentlichung. George H. Ford (1970, 176) spricht von weiteren "popular retellings" in den 1960er Jahren. Bereits kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren Dickens Biographien für Kinder erschienen, etwa im Jahr 1905 Dickens for Boys and Girls von Amy Steedman; 1911 hatte Mamie Dickens den Band Charles Dickens by His Eldest Daughter veröffentlicht, in dem sie das Interesse ihres Publikums durch häufige Bezüge auf Dickens' eigene Kinder und Haustiere wachzuhalten suchte (vgl. Avery 1999, 92). Auch für das Medium Fernsehen wurden immer wieder Sendungen produziert, die Teile von Dickens' Biographie auf unterschiedliche Weise dokumentarisch aufarbeiteten. Die im Jahr 1967 in den USA hergestellte Fernsehproduktion Mr. Dickens of London mit Michael Redgrave in der Rolle des Charles Dickens zeigte Teile Londons, "where the evidence of the author's impact is still preserved" (Pointer 1996, 103). "The centenary of his [Dickens's] death was marked in 1970 by two 90 minute biographical programs made for British television: The Hero of My Life (also shown in the United States) and The Great Inimitable Mr. Dickens" (Pointer 1996, 103). Michael Pointer (1996, 91) diskutiert darüberhinaus die im Jahr 1976 produzierte serielle Adaption Dickens of London, die sowohl in Großbritannien als auch in den USA ausgestrahlt wurde. Das Drehbuch für diese Produktion stammte aus der Feder von Wolf Mankowitz, 7
whose earlier stage success with Pickwick had led him to study the author's life extensively. The result was 13 one hour installments covering the first 32 years of Charles Dickens's life, beginning with an ailing Dickens on one of his last reading tours of America and turning in flashback to his childhood, youth, and early manhood. Daneben tritt Dickens auch in nicht biographischen Film und Fernsehproduktionen immer wieder als Figur auf (vgl. Pointer 1996, 102f.). So hatte er etwa in der vornehmlich in den 1960er Jahren weilweit populären TV Serie Bonanza, die im Western Milieu des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist, einen Gastauftritt. In der Folge A Passion for Justice besucht Dickens im Rahmen einer seiner beiden Lesereisen durch Amerika die Ponderosa, jene Ranch, auf der die Familie Cartwright zuhause ist, die im Mittelpunkt der Serie steht. Auch in Adaptionen seiner eigenen Texte für Film und Fernsehen wurde Dickens immer wieder als Figur integriert. Der 1913 erschienene Film Scrooge beginnt etwa mit einer Szene, die Dickens in seiner Bibliothek in Gads Hill zeigt, a view of his birthplace in Portsmouth, and then Dickens in his library suddenly being inspired to pen the words "A Christmas Carol." Unfortunately, the fact is that Gads Hill only became available for purchase by Dickens some 12 years later after the Carol was published; but it probably looked impressive in 1913 (Pointer 1996, 44). Der Drehbuchautor einer aus Dänemark stammenden Verfilmung von David Copperfield aus dem Jahr 1922 reicherte – wohl inspiriert durch den autobiographischen Anstrich des Romans – den Plot um einen Epilog an, "showing David Copperfield transformed into Charles Dickens, sitting in the garden with his family, plus Betsey Trotwood and Mr. Dick" (Pointer 1996, 44). Die erste Dickens Verfilmung im amerikanischen Fernsehen, eine im Jahr 1945 produzierte Adaption von A Christmas Carol unter dem Titel The Strange Christmas Dinner "introduced a mysterious stranger (Charles Dickens) who reforms a Scroogelike restaurant owner who has refused to allow his staff Christmas Day off" (Pointer 1996, 75). Auch die an icholas ickleby angelehnte BBC Produktion The Man from the Moors aus dem Jahr 1955 "depicted Dickens himself visiting the North of England and encountering a cruelly run school, plainly a model for Dotheboys Hall in icholas ickleby" (Pointer 1996, 78). Wie seine Figuren und zahlreiche Begebenheiten aus seinem Werk, so existiert auch die Person Charles Dickens außerhalb von literarischen Diskursen. Laut Michael Pointer (1996, v) gilt Dickens heute innerhalb der britischen Kultur als "inventor of Christmas, all stageoaches, holly, jollity, and punch bowls." Dickens' Bedeutung für britische Weihnachtsfeierlichkeiten betont auch Ruth Glancy (1999, 95). Wie sie ausführt, wurde sein Weihnachtsbuch A Christmas Carol schon kurz nach Veröffentlichung zu einem "inseparable part of the English speaking Christmas": 8
Dickens came to be associated with the season so completely that Theodore Watts Dunton's famous story of the barrow girl in Covent Garden who, on hearing of Dickens' death, exclaimed, 'Then will Father Christmas die too? has the ring of truth (ebd.). Paul Davis (1990, 13) erläutert, wie ein solch enger Zusammenhang zwischen Dickens und Weihnachten in Großbritannien entstehen konnte: Dickens' story proved that urbanization had not destroyed Christmas. In the British imagination, Christmas was associated with the manor house, peasant revels, and baronical feasts. During the first half of the nineteenth century – particularly in the two decades that preceded the publication of the Carol – the growth of industry and cities threatened this rural holiday by threatening its country seat. Dickens' story provided celebratory proof that despite dour Dissenting tradesmen who condemned Christmas revels, the old Christmas could flourish in the new cities. Scrooge's reformation thus became urban Britain's counter reformation to puritanical excess. Dickens' starke Präsenz innerhalb der britischen Kultur wird auch durch das häufige Auftreten des Adjektives Dickensian im Sprachgebrauch der Briten, das u.a. von Florian Schweizer (2004b, 12) dokumentiert wird, belegt. Der Historiker Raphael Samuel (1992, 9) definiert diesen Begriff als "short hand expression to describe conditions of squalor and want". Ganz ähnlich betrachtet Pointer (1996, v) Dickensian als "synonym for the conditions of squalor and deprivation in mid Victorian England which Dickens campaigned so hard to rectify", räumt aber ein, dass dasselbe Adjektiv auch häufig als "synonym for the quaint and the charming" verwendet wurde und wird (Pointer 1996, 33). Andrew Sanders (1999, 15) bescheinigt vor allem Journalisten eine häufige Verwendung dieses Begriffs: Journalists freely resort to the adjective 'Dickensian' in order to express a vague dismay at the survival of a defunct Victorian institution or in response to some faint shadow of Saffron Hill in a modern housing estate, some hint of the drudgery of Murdstone and Grinby's warehouse in a modern sweatshop, or a distant echo of the educational achievement of Dotheboys Hall in a modern comprehensive school. Sanders (2003, 176) sucht die Widersprüchlichkeiten, die die verschiedenen Definitionsweisen dieses Adjektivs mit sich bringen, aufzulösen, indem er dessen Bedeutung nahezu gänzlich unfixiert lässt: "[T]he shorthand term 'Dickensian' has achieved a unique and unrivalled breadth of application, whether that application refers to snowy Christmases or to decaying schools or failing hospitals." Daneben legen auch zahlreiche britische Pubs, die entweder nach Dickens selbst oder nach einer seiner Figuren benannt sind – eine 'Dickens Tavern' befindet sich etwa auf dem Gelände des Londoner Flughafens Gatwick – sowie eine britische Zehn Pfund Note Zeugnis für die nach wie vor starke Präsenz Dickens' innerhalb der britischen Kultur ab. Diese von der Bank of England herausgegebene Banknote zeigt ein vom Künstler Roger Withington 9 gezeichnetes Dickens Portrait. Der Schein wurde 2003 aus dem Verkehr gezogen (vgl. Xavier 2004, 128). Neben den zahlreichen Dickens Museen, etwa dem 'Charles Dickens Museum' im Londoner Stadtteil Holborn, dem 'Charles Dickens Birthplace Museum' in Portsmouth oder dem 'Dickens House Museum' in Broadstairs, das sich im ehemaligen Haus von Mary Pearson Strong befindet – jene Person, die Dickens zu der Figur Betsey Trotwood inspiriert hatte – belegen vor allem zahlreiche Dickens Festivals das nach wie vor vorhandene populärkulturelle Interesse an Dickens und seinem Werk. Diese Festivals werden zumeist vor der Kulisse eines nachgebauten viktorianischen London, das von Schauspielern in den Rollen von Figuren aus Dickens' Werk bevölkert wird, veranstaltet. Ein solches Dickens Festival findet jährlich an zwei Wochenenden in Rochester, Kent, statt, jeweils Ende Mai oder Anfang Juni sowie am ersten Dezemberwochenende. In den USA wird im kalifornischen Riverside das 'Riverside Dickens Festival' gefeiert, in San Francisco gibt es die 'Great Dickens Christmas Fair', die sich auf die vier bis fünf Wochenenden vor Weihnachten erstreckt, und in Galveston, Texas, wird alljährlich, wiederum am ersten Wochenende im Dezember, ein Festival unter dem Titel 'Dickens on the Strand' veranstaltet. Auch im Internet ist Dickens präsent. Den Recherchen von Jan Clayton (2003, 4) zufolge hat Dickens zu Beginn des dritten Jahrtausends "one of the largest Web presences of any literary figure". Wie Clayton ausführt, richtete der japanische Professor Mitsuharu Matsuoka im September 1995 The Dickens Page ein, eine der ersten Dickens Homepages. Professor Mitsuharu Matsuoka created his site in the early years of the Web, when the protocol developed by Tim Berners Lee began to make the Internet accessible to people other than academics, Defense Department personnel, hackers, and geeks. Matsuoka's continuing commitment to Dickens online is a nice example of the worldwide appeal of this nineteenth century writer at the turn of the milennium. As I write these words, The Dickens page has been accessed 2,721,124 times, and that number is increasing rapidly (ebd.). Schon die Tatsache, dass eine der ersten Dickens Homepages von einem Japaner ins Internet gestellt wurde, zeigt, dass sich Dickens's kulturelle Präsenz und Popularität nicht auf die englischsprachigen Länder beschränkt – trotz George Orwells (1961b, 83) Einschätzung, Dickens sei "scarcely intelligible outside the English speaking culture". "Dickens has a particular attraction for the enormous reading public of the Soviet Union, where his sales have run into millions", bemerkt etwa E.W.F. Tomlin (1969b, 265). Auch Michael Slater (1970, 127) betont: Outside the English speaking world the most striking phenomenon concerning Dickens's popularity was the acclaim his work received in Soviet Russia. The 10
Cricket on the Hearth played to packed houses in both Moscow and St Petersburg in 1922 [...]. In 1937 The Dickensian quoted Izvestia as stating that Dickens 'has become one of the most beloved authors with Soviet readers' and reported 'Last year 166,000 copies of Pickwick, Dombey and Son, Hard Times and Bleak House were published. So eager was the public to acquire them that none were left at any of the book stores in Moscow within a week' (1937, 79). Philip Collins (1970, 148) erwähnt die Popularität von Dickens' A Christmas Carol bei den Inuit Völkern und ergänzt: "Dickens was taken seriously in Turkey, too, where Kemel Ataturk made him compulsory reading; but fortunately the Turks had, or developed, a passionate love for his works" (Collins 1970, 152f.). E.W.F. Tomlin (1969b, 265) fügt hinzu: "He has also a faithful public in India, where two of his sons were stationed, and even Japan [...]. Only Shakespeare has outstripped Dickens in world influence, and in the way in which his characters have become part of everyday life." Auch in der nicht englischsprachigen Welt stützt sich Dickens' Popularität zumindest teilweise auf Adaptionen seiner Werke. So erschien bereits kurz nachdem sich der große Erfolg der Pickwick Papers in Großbritannien abgezeichnet hatte in Indien eine schriftliche Adaption dieses Textes mit dem Titel Pickwick in India (vgl. James 1963, 56). "[T]he diaspora of his characters illustrates an almost universal appeal: they have been impersonated by actors from Moscow to California, broadcast from Melbourne to Manchester, and filmed from Spain to Scandinavia, Hollywood to London", ergaben Philip H. Boltons (1999, 198) Untersuchungen. Auch Michael Pointer diskutiert eine Vielzahl von Adaptionen, die in nicht englischsprachigen Ländern entstanden sind, etwa eine Oliver Twist Verfilmung aus Frankreich im Jahr 1906 (Pointer 1996, 16). 1915 folgte die Veröffentlichung einer russischen Version von The Cricket on the Hearth (Pointer 1996, 38), im Jahr 1920 schloss sich unter der Regie von Richard Oswald die deutsche Oliver Twist Adaption Die Geheimnisse von London an (Pointer 1996, 42). Anfang der 1920er Jahre wurde auch die Nordisk Company in Dänemark auf Dickens aufmerksam und produzierte jeweils eine Adaption der Romane Our Mutual Friend, Great Expectations, David Copperfield und Little Dorrit in Spielfilmlänge – "[i]n an attempt to recapture some of the international business lost to the American film industry as a result of World War I" (Pointer 1996, 43). Im Jahr 1958 erschien Le Avventure di icola ickleby in Italien, gefolgt von Il Grillo del Focolare (The Cricket on the Hearth), David Copperfield, und Il Circolo Pickwick in den 1960er Jahren (Pointer 1996, 79). "Other European TV channels followed suit, mostly with better known stories" (ebd.). Dickens' weltweite Popularität wurde auch von Kulturwissenschaftlern, die sich mit 11 dem Feld der popular culture befassen, zur Kenntnis genommen. Dickens wird gar verschiedentlich als Begründer heute geläufiger Formen von populärer Kultur betrachtet. John Fiske (1989b, 138f.) scheint ihn als eine Art Prototypen für populäre Kultur zu betrachten, allerdings ohne die Konsequenzen dieser Annahme auszuführen. Bereits im Jahr 1955 nahm George H. Ford (1955, 178) Bezug auf folgende vielzitierte These: "[E]arly moving picture producers learned certain screening techniques from a study of Dickens's novels, especially the method of increasing tension by alternate shots from a parallel series of events" – und ergänzte: "It could also be said that much more indirectly, they had learned from him some of the requirements of mass entertainments." Laut Juliet John (2000, 130) spielte Dickens eine "major role in the popularizing of fiction and newspapers". Nach Einschätzung von Jennifer Hayward (1997, 3) waren es Dickens' Pickwick Papers, die 1836 einen "mass market for fiction" begründeten, nachdem die Industrialisierung die Grundvoraussetzungen für eine massenweise Vermarktung von Texten geschaffen hatte. "[Dickens] alone was capable of speaking authoritatively to a mass audience through the first technological developments of modern mass communications: the machine driven press, cheap pulp paper, and rapid general distribution of printed matter" (Axton 1976, 27). Während John Sutherland (1995, 151) noch im Jahr 1995 festhielt: "Awareness of Victorian fiction as an industry is uncommon", gestand Jennifer Hayward (1997, 17) Dickens bereits zwei Jahre später eine "essential role in developing an entertainment industry" zu. Auch Richard L. Stein (2001, 186) zählt Dickens' Texte zu den "first firms of the culture industry". Bei solchen in Darstellungen zu populärer Kultur eher en passant eingeflochtenen Beobachtungen ist es bis heute jedoch geblieben. Eine Untersuchung des populärkulturellen Phänomens 'Charles Dickens' mit Hilfe von popular culture Theorien ist bislang nicht erfolgt. Dies soll die vorliegende Arbeit leisten. Im folgenden Kapitel soll zunächst die theoretische Basis für dieses Vorhaben gelegt werden. Obgleich sich bis heute keine einheitliche popular culture Definition etablieren konnte, liegen eine Reihe von Arbeiten vor, die sich eingehend mit diesem Teil des kulturellen Feldes befassen. So kann sich diese Studie einige Ergebnisse aus dem Gesamtwerk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu 1982, 1993, 1997, 1999) nutzbar machen, in dessen Sinn hier auch der Feldbegriff verwendet wird.2 Daneben existieren einschlägige Untersuchungen zur popular culture von
2 Bourdieus (1993, 107f.) Defintion zufolge sind Felder Räume, "die ihre Struktur durch Positionen (oder Stellen) bekommen, deren Eigenschaften wiederum von ihrer Position in diesen Räumen abhängen und unabhängig von den (partiell durch sie bedingten) Merkmalen ihrer Inhaber untersucht werden können. Es gibt allgemeine Gesetze von Feldern: So ungleiche Felder wie das Feld der Politik, das Feld der Philosophie, das Feld der Religion haben invariante Funktionsgesetze [...]. Immer wenn man ein neues Feld untersucht [...] 12
John Fiske (1989a und 1989b), John Storey (2001 und 2003) und Lawrence Grossberg (1992). Während sich diese Arbeiten mit unterschiedlichen Erscheinungsformen populärer Kultur befassen, existieren auch einige Untersuchungen speziell zu populärer Literatur, etwa von Scott McCracken (1998), Clive Bloom (2002) und Ken Gelder (2003). Auch die Ergebnisse dieser Studien werden in die vorliegende Arbeit einflieβen. Daneben wird sich dieses Kapitel mit dem Popularisierungesbegriff auseinandersetzen. Obwohl dieser Begriff heute ein vielzitiertes Schlagwort darstellt, beschränken sich Arbeiten, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen, zumeist auf Untersuchungen der Popularisierung von naturwissenschaftlichem und historischem Wissen. Bislang hat sich v.a. die Wissenssoziologie um die Erforschung von Popularisierungsprozessen bemüht. Dennoch, und obwohl, wie Andreas W. Daum (1998, 15) bemerkt, "[i]n England, Frankreich und den USA [...] die Geschichte der Popularisierung inzwischen ein anerkanntes Forschungsfeld" ist, hat sich auch auf dem Sektor der Wissenssoziologie eine "einheitliche, allgemeinverständliche Popularisierungs definition" noch nicht herauskristallisiert. "Begriffe und Methoden variieren vielmehr in mitunter irritierender Weise" (Kretschmann 2003b, 12). Zudem habe man sich "bislang ausschließlich der Verbreitung naturwissenschaftlichen und technischen Wissens gewidmet [...]. Die Popularisierung nicht naturwissenschaftlicher Wissensinhalte ist hingegen bislang kaum untersucht worden" (ebd.). Dagmar Stegmüller (2003, 197) sieht den Grund für dieses Defizit darin, dass es nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften evident zu sein [scheint], dass die Ergebnisse der Forschung für den Laien allgemeinverständlich aufbereitet werden müssen, nur hier scheint eine hermetische Sprache eine kleine Expertengruppe vom Rest der Welt zu isolieren, nur hier sind Probleme und Lösungsversuche derart komplex, dass alleine eine professionelle Vorbildung zu befriedigendem Verständnis befähigt. Wie Daum (1998, 37) darlegt, der sich in seiner Studie den Begriffen 'Popularität' und 'Popularisierung' auch begriffsgeschichtlich anzunähern sucht, galt der Popularisierungebegriff seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar auch "literarischen und philosophischen Themen, er bezeichnete medizinische und technische Inhalte, und er diente allgemein zur Bezeichnung von Volksbildungsbestrebungen." Dennoch wurde er schon damals "überwiegend an naturwissenschaftliche Themen gekoppelt."
entdeckt man besondere, nur für ein bestimmtes Feld charakteristische Merkmale und erweitert doch gleichzeitig das Wissen über die universalen Mechanismen von Feldern [...]. Ein Feld, auch das wissenschaftliche, definiert sich unter anderem darüber, dass die spezifischen Interessen und Interessenobjekte definiert werden, die nicht auf die für andere Felder charakteristischen Interessen und Interessenobjekte reduzierbar sind [...] und von jemandem, der für den Eintritt in dieses Feld nicht konstruiert ist, nicht wahrgenommen werden" (Hervorhebung im Original). 13
Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge ist es kaum verwunderlich, dass bislang das Auftreten von Popularisierungsprozessen weder für das kulturelle Feld noch speziell das literarische Feld untersucht wurde. Eine Erklärung für die Tatsache, dass es bislang keine Arbeiten gibt, die sich mit der Popularisierung von Literatur auseinandersetzen, mag darin liegen, dass, wie Manuel Braun (2005, 25) feststellt, "[s]ofern es marktförmig organisiert ist, [...] dem typographischen Medium die Tendenz zur Popularisierung [...] inhärent" ist und Literatur somit vielfach als von vornherein populäre Kunstform betrachtet wird. Dennoch ist das Bewusstsein zumindest dafür, dass Popularisierungsprozesse aktiv sind, die dafür sorgen, dass Hochkultur "mehr Bevölkerungsschichten erreicht als in der bürgerlichen Gesellschaft" (Winter 2003, 351) und sich somit der populären Kultur annähert, innerhalb der cultural studies durchaus vorhanden. Dafür spricht etwa der – wenngleich kurze – Abschnitt, den Rainer Winter innerhalb seines mit dem Begriff "Popularisierung" überschriebenen Beitrags zum Handbuch Populäre Kultur der "Popularisierung von Artefakten der Hochkultur" widmet, oder auch die Existenz des von Jim Collins herausgegebenen Sammelbandes High Pop – Making Culture into Popular Entertainment mit Beiträgen von John Storey und anderen einschlägigen Repräsentanten der popular culture Forschung. Im Zusammenhang mit der Popularisierung von Hochkultur ist allerdings zu berücksichtigen, dass seit dem Aufkommen der Postmoderne die Unterscheidung zwischen hoher und populärer Kultur schwierig geworden ist. So wird das sich anschlieβende Kapitel dieser Arbeit auch zeigen, dass innerhalb der cultural studies kein Konsens darüber besteht, ob formale Unterschiede zwischen beiden Kategorien anzunehmen sind. Die vorliegende Studie geht von der Prämisse aus, dass in den meisten Fällen durchaus formale Unterschiede zwischen high culture und popular culture existieren. In diesem Zusammenhang muss allerdings mitbedacht werden, dass sich die Zuordnung eines Textes zur populären oder zur Hochkultur nicht zwangsläufig aus seinen textuellen Eigenschaften ergibt. "[H]ow a story is presented to a reader [i.e. whether as a text of high or popular culture] determines at least in part how the reader will respond to it", bemerkt etwa Richard Keller Simon (1999, 9, meine Hervorhebung), und Simon Frith vertritt neben anderen3 die These, dass der Differenzierungsprozess zwischen Hoch und Populärkultur im Wesentlichen von akademischen Institutionen gesteuert wird: [I]t is this institutional setting, rather than the value issues as such, that has come to differentiate high from popular culture. It is the academy, that is – the
3 Vgl. hierzu auch Hall (1998, 448f.) und Storey (2001, 35f.). Letzterer formuliert signifikanterweise: "Shakespeare's plays were gradually removed from the theatrical world of acrobats and jugglers, burlesques and parodies, dancers and singers, and were instead relocated in theatres where the audience was no longer a heterogeneous mix of American society" (Storey 2001, 36, meine Hervorhebungen). 14
university, the conservatoire, the art school – that, as Pierre Bourdieu argues, nowadays sustains high culture and guarantees its reproduction: in the master/pupil relationship, in the continuity of knowledge and sense of tradition embodied in the library and gallery and concert hall, in the setting of the standards of creative skill and interpretative expertise (Frith 1998, 580). Ebenfalls mitbedacht werden muss, dass innerhalb des literarischen Feldes nicht nur der Hochkultur Zuzurechnendes popularisiert und somit "unters Volk" gebracht wird, wie Christian Hünemörder (2002, 15) den Popularisierungsbegriff dem Wortsinn folgend definiert, bzw. "einer breiten Masse zugänglich gemacht" wird (Oltmann 2005, 267). Auch bereits Populäres kann durch Anwendung von Popularisierungsstrategien für noch weitere Rezipientenkreise aufbereitet werden. So konstatiert Clive Boom (2002, 75) im Bezug auf populäre Literatur: "A bestseller, once identified, could [...] be boosted by tie ins with television and film or with branded products and could be packaged for book clubs, a condensed novel, serial rights and a paperback version." Zu berücksichtigen ist auch, dass ein beobachteter Popularisierungsprozess noch nichts über die tatsächliche Popularität eines Produktes aussagt. Deshalb ist, wie Gereon Blaseio (2005, 247f.) fordert, in popular culture Analysen neben der Produktions auch die Rezeptionsseite in den Blick zu nehmen. Abgesehen von Einschaltquoten bzw. Verkaufszahlen lassen sich allerdings kaum Daten ermitteln, die über Erfolg oder Misserfolg eines Produktes Auskunft geben. Im Fall von Fersehverfilmungen etwa werden Untersuchungen darüber, wie Produktionen vom Publikum aufgenommen wurden, nicht veröffentlicht, so sie denn überhaupt angestellt werden (vgl. Abschnitt 4.2.7.3.). Die vorliegende Arbeit muss deswegen ihren Schwerpunkt auf Strategien legen, die Popularisierungsabsichten erkennen lassen. Wo sich Daten ermitteln lassen, die über die tatsächliche Popularität eines Produktes Aufschluss geben, werden diese in die jeweilige Analyse einbezogen. Die im zweiten Kapitel gewonnenen theoretischen Erkenntnisse werden im dritten Kapitel auf das Fallbeispiel Dickens bezogen. Das dritte Kapitel wird sich mit Dickens' Popularität und Popularisierung zwischen 1836, dem Jahr der Erstveröffentlichung der Pickwick Papers, und den frühen 1990er Jahren beschäftigen. Zunächst wird hier die Popularität von Dickens' Texten zu Lebzeiten ihres Autors untersucht werden. Dabei wird deutlich werden, dass Dickens' Werke nicht nur dann als populär bezeichnet werden müssen, wenn von einem eher intuitiven Verständnis dieses Begriffs ausgegangen wird, sondern dass sich ihre Popularität auch vor dem Hintergrund gängiger popular culture Theorien feststellen lässt. Dennoch wurden sie schon auf dem Höhepunkt ihrer Popularität mit Hilfe von 15
Adaptionen für noch weitere Rezipientenkreise popularisiert, wie das Kapitel ebenfalls zeigen wird. Von 1853 an bis zu seinem Tod popularisierte Dickens selbst seine Texte mittels regelmäβiger öffentlicher Lesungen. Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gewann das aufkommende filmische Medium zunehmend an Bedeutung für die Popularisierung von Dickens' Werk. Durch die etwa gleichzeitig einsetzende substanzielle literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Dickens' Werk begann sich zudem dessen Status innerhalb des literarischen Feldes zu wandeln: Dickens' Texte avancierten zu Klassikern, dank des nicht abreiβenden Stromes an Adaptionen mit populärem Potential zu populären Klassikern. Nach Explizierung dieser Zusammenhänge wird das Kapitel einen Überblick über die Adaptionen von Dickens' Werken bzw. seiner Biographie geben, die zwischen 1836 und 1994 erschienen sind. Hierbei wird das Augenmerk vor allem auf Adaptionen mit populärkulturellem Potential gerichtet werden. Aufgrund der Fülle an solchen Dickens bezogenen Adaptionen kann hier über einen Überblick nicht hinausgegangen werden. Wesentlich detaillierter wird das sich daran anschlieβende Kapitel dieser Arbeit ausfallen. Da diese Arbeit auf der Prämisse aufbaut, dass sich Dickens' heutige Popularität und kulturelle Präsenz zu einem großen Teil den unzähligen Adaptionen seiner Werke und – in geringerem Ausmaß – seiner Biographie verdanken, sollen innerhalb dieses Kapitels einige ausgewählte Dickens Adaptionen, die seit den 1990er Jahren erschienen sind, genauen Analysen unterzogen werden. Mittels dieser Analysen sollen die Popularisierungsstrategien, die bei der Produktion dieser Adaptionen verwendet wurden, ermittelt werden. Der bereits im ersten Kapitel erstellte Katalog an Popularisierungsstrategien soll mit Hilfe der einzelnen Analysen überprüft werden. Um diese Analysen richtig einordnen zu können, wird es nötig sein, zu Beginn dieses Kapitels eine allgemeinere Entwicklung in der Kino und Fernsehlandschaft der 1980er und 1990er Jahre nachzuzeichnen, namentlich das in diesem Zeitraum wachsende populäre Potential des Genres Kostümdrama in Kino und Fernsehen. Die Auswahl der in diesem Kapitel zu analysierenden Produktionen für Kino und Fernsehen ist insofern ausgewogen, als für beide Medien etwa gleich viele Beispiele betrachtet werden, deren populäre Potentiale jeweils unterschiedlich sind. Unter den Fernsehverfilmungen finden sich neben drei für die BBC hergestellten Produktionen auch eine Verfilmung für den britischen Privatsender ITV, nämlich die im Jahr 2001 produzierte zweiteilige Verfilmung von icholas ickleby. Bei den BBC Verfilmungen handelt es sich um die folgenden Produktionen: Eine sechsteilige Verfilmung des Romans Martin Chuzzlewit aus dem Jahr 1994, die bereits auf das zunehmende populäre Potential des Kostümdramas im britischen Fernsehen ab Mitte der 16
1990er Jahre vorausweist, daneben eine 1999 entstandene zweiteilige Adaption von Great Expectations sowie eine im Herbst 2005 auf BBC1 ausgestrahlte fünfzehnteilige Verfilmung von Bleak House, die wohl als die bislang innovativste Dickens Adaption für das Medium Fernsehen betrachtet werden kann. Aus der Reihe der Kino Verfilmungen werden zwei Adaptionen berücksichtigt, die sich dem Genre des Heritage Crossover Films zuordnen lassen: Zum einen Douglas McGraths Verfilmung von icholas ickleby aus dem Jahr 2002, zum anderen Roman Polanskis Oliver Twist, der in den Jahren 2005 und 2006 in den Kinos zu sehen war. Zudem wird mit Alfonso Cuaróns Verfilmung von Great Expectations eine Adaption untersucht, die einem kompletten updating unterzogen wurde, sich somit nicht mehr der Kategorie des Heritage Crossover Films zurechnen lässt und noch stärker als diese in Richtung Mainstream tendiert. Wie diese Aufstellung zeigt, stammen die den Verfilmungen zugrunde liegenden Romane aus unterschiedlichen Schaffensphasen ihres Autors, was ebenfalls zur Ausgewogenheit des Korpus beiträgt. Die Analyse zweier Adaptionen desselben Romans für jeweils unterschiedliche Medien verspricht Hinweise darauf zu liefern, welche Popularisierungsstrategien als medienübergreifend betrachtet werden können und welche nicht. Der Schwerpunkt liegt auf Adaptionen für Kino und Fernsehen, da in diesen Medien Adaptionen in sehr starker Häufung auftreten und es sich hierbei um die Medien mit der gröβten Breitenwirkung handeln dürfte. Zudem wurde das erstmalige Erscheinen vor allem der jüngeren der hier zu analysierenden Produktionen auf Kinoleinwand bzw. Fernsehbildschirm von umfangreichen Marketingmaßnahmen begleitet, die dafür sorgten, dass die betreffenen Produkte beachtliche Echos auch in anderen Medien auslösten. Davon legt etwa die reichhaltige Berichterstattung vor allem im Print und Onlinejournalismus Zeugnis ab. Eine solche mediale Präsenz erreichen popularisiernde Adaptionen, die in anderen Medien – etwa dem Printmedium – veröffentlicht werden, häufig nicht, sie ist aber für den Erfolg des Popularisierungsprozesses von großer Bedeutung.4 Aus diesem Grund werden entsprechende, die Popularisierung unterstützende Maßnahmen jeweils in die Untersuchungen miteinbezogen. Eine im Jahr 2007 im britischen Phoenix Verlag erschienene Reihe von gekürzten Klassikern der Weltliteratur, die auch die Romane David Copperfield und Bleak House einschloss, wurde allerdings bereits vor ihrer Veröffentlichung von der britischen, amerikanischen und australischen Presse ausgiebig zur Kenntnis genommen, was sich wiederum zumindest zu einem großen Teil mit dem massiven vom Verlag betriebenen
4 Vgl. dazu Abschnitt 2.3.2. 17
Marketing erklären lässt. Aus diesem Grund wird der in dieser Reihe erschienenen gekürzten Buchfassung von David Copperfield – David Copperfield In Half the Time – in dieser Arbeit ebenfalls eine Fallstudie gewidmet, die als exemplarisch für Dickens Popularisierungen in Schriftform betrachtet werden soll. Diese Fallstudie wird ergänzt durch einige Anmerkungen zu einer seit 2008 erscheinenden Reihe von graphic novel Adaptionen klassischer Literatur, die mit Adaptionen von A Christmas Carol und Great Expectations auch zwei kanonische Texte von Dickens beinhaltet. Neben Adaptionen von Dickens' Werken soll auch die Popularisierung von Dickens' Biographie anhand eines Fallbeispiels in die Analyse einbezogen werden. Im Jahr 1990 veröffentlichte Peter Ackroyd seine Dickens Biographie, über die der Rezensent Stephen Gill (1990, 911) schon kurz nach ihrem Erscheinen urteilte: "Dickens is designed to reach a wide audience, but its scholarly pretensions clearly indicate that it is meant to supersede Edgar Johnson in every academic library." Damit sein Werk auch wirklich eine breite Öffentlichkeit erreichen konnte, sah sich Ackroyd in den Folgejahren dazu veranlasst, dessen populäres Potential noch zu verstärken. Zu diesem Zweck adaptierte er es für unterschiedliche Medien: 1994 veröffentlichte er eine verkürzte Version der Biographie, in der noch ca. ein Drittel des Originaltextes enthalten war. Ackroyd verfasste auch das Drehbuch für eine Verfilmung seiner Dickens Biographie, die im Jahr 2002 unter dem Titel The Mystery of Charles Dickens an drei aufeinander folgenden Samstagabenden zur besten Sendezeit im zweiten Programm der BBC zu sehen war. Auch das Skript zu einer biographischen Ein Mann Bühnen Show, mit der der britische Schauspieler Simon Callow ab Ende der 1990er in groβen Teilen der englischsprachigen Welt auf Tour ging, stammt aus Ackroyds Feder und soll an entsprechender Stelle berücksichtigt werden. Abschlieβend wird untersucht, auf welche Weise und mit welchen Mitteln der 2007 in Chatham eröffnete Themenpark Dickens World zur Popularisierung von Werk und Biographie des Autors einen Beitrag leistet. Die vorliegende Arbeit versteht sich als case study, die – neben ihrem Anspruch, Erkenntnisse über den Autor Charles Dickens und die populäre Rezeption seines Werkes und seiner Biographie zu liefern – anhand des Beispiels 'Dickens' darstellt, welche Strategien zur Popularisierung von Literatur generell verwendet werden. Wie Henry Jenkins, Tara McPherson und Jane Shattuc (2002b, 14f.) darlegen, stellt die Anfertigung einer "case study, which [...] details a particular example of popular culture at work", eine innerhalb der popular culture Forschung übliche Analysemethode dar. Jenkins et. al erachten diese Methode auch als durchaus gewinnbringend, da ihre Resultate nuancierteren popular culture Theorien den Weg ebnen können: "Looking at concrete moments of cultural production, 18 circulation, and reception helps us to understand the range of possibilities within popular genres and the complex struggles that surround any cultural text" (ebd., 15).
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2 Popular Culture-Theorien 2.1 Zur Forschungsgeschichte und den Schwierigkeiten der Definition 1964 wurde in Birmingham das Centre for Contemporary Cultural Studies gegründet. Raymond Williams, Richard Hoggart und E.P. Thompson begannen damit, erste Studien zu den kulturellen Praktiken der Jugend und der Arbeiterschaft anzufertigen. Trotz der damit nun seit mehr als 40 Jahren andauernden wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Phänomenen populärer Kultur5, und trotz Noel Carrolls (1998, 239) wohl zutreffender Einschätzung, dass sich zumindest intuitiv relativ leicht und unkontrovers entscheiden lässt "what falls into the categories of popular culture and popular art respectively", entzieht sich der Begriff der popular culture6 noch immer einer exakten Bestimmung. Bemerkte Stuart Hall 1981 in seinen "Notes on Deconstructing 'the Popular'", dass das Adjektiv "popular" eine Reihe verschiedener Bedeutungen haben könne, "not all of them useful" (Hall 1981, 231), so diskutiert John Storey in seiner Anfang der 1990er Jahre erstmals erschienenen Einführung Cultural Theory and Popular Culture seinerseits verschiedene Möglichkeiten der Definition, die alle nur eines gemeinsam haben: "[T]he insistence that whatever else popular culture might be, it is definitely a culture that emerged following industrialization and urbanization"7 (Storey 2001, 13). Ansonsten sei popular culture "not a historically fixed set of popular texts and practices, nor is it a historically fixed conceptual category" (Storey 2001, 15). Es gibt, wie Hans Otto Hügel (2003, 1) in der Einführung zu seinem Handbuch Populäre Kultur anmerkt, weder eine allgemein anerkannte Theorie Populärer Kultur [...] noch ist verbindlich geklärt, welche Gegenstände und/oder welche kulturellen Aktivitäten zur Populären Kultur gehören. Auch die Grundfrage, wie Populäre Kultur zur Gesamtkultur steht, ob
5 Zur Geschichte der popular culture Forschung innerhalb der Cultural Studies vgl. etwa Winter (2001) und Hügel (2003). 6 Obwohl heute in deutschen Studien zur popular culture meist mit der Übersetzung 'Populärkultur' gearbeitet wird, soll im Folgenden weitgehend die englische Bezeichung beibehalten werden, um möglichen Missverständnissen und Unklarheiten vorzubeugen. 7 Außerhalb der Cultural Studies wird das Aufkommen der Phänomene Popularität und Popularisierung zuweilen auch auf einen anderen Zeitpunkt datiert. So sieht Manuel Braun (2005, 21) in der "Medienrevolution des 15. Jahrhunderts" die "Voraussetzung für die damals neuen Phänomene der Popularisierung und der Popularität, für die es im Mittelalter kein Äquivalent gibt." Mittels der "Erfindung und Durchsetzung des Drucks mit beweglichen Lettern konnten die Schriften Martin Luthers zu Hunderttausenden hergestellt und verbreitet werden, und es erschienen mehrere Millionen Flugblätter und Flugschriften zur causa Lutheri" (ebd.). Braun (2005, 28) bezeichnet die Publikationsformen 'Flugblatt' und 'Flugschrift' aufgrund ihrer "enorme[n] Verbreitung und Reichweite" als "'Massenmedien' der Frühen Neuzeit." Er räumt jedoch ein, dass diese Publikationsformen ihre "volle Wirkung [...] erst im Verbund mit mündlicher Rede zu entfalten" (Braun 2005, 21) vermochten, "die ihre Inhalte auch den Analphabeten vermittelte." Zudem ist zu beachten, dass Braun (ebd.) hier mit einem anderen Popularitäts Konzept als dem in der Cultural Studies Forschung vorherrschenden arbeitet: "Da Popularität als Ergebnis religiöser Auseinandersetzungen entstand, ist der Begriff hier von der Konnotation 'beliebt' freizuschalten, die ihm heute leicht anhaftet: Auch bei seinen Gegnern war Luther 'populär' in dem Sinne, dass sie über seine Person und seine Lehre kommunizierten." 20
und wie sie als eigenständiger Bereich zu fassen ist, ist umstritten.8 Mit welchen Schwierigkeiten sich der Versuch einer Definition von popular culture konfrontiert sieht, zeigt John Storey (2001, 6) im Einführungskapitel von Cultural Theory and Popular Culture. Er macht zwar einen Vorschlag, wo eine Definition dieses Begriffs ansetzen könnte, verwirft diesen Vorschlag jedoch gleich wieder: An obvious starting point in any attempt to define popular culture is simply culture which is widely favoured or well liked by many people. [...] We could examine sales of books, sales of CDs and videos. We could also examine attendance records at concerts, sporting events, festivals. We could also scrutinize market research figures on audience preferences for different television programmes. Such counting would undoubtedly tell us a great deal. The difficulty might prove to be that, paradoxically, it tells us too much. Unless we can agree on a figure over which something becomes popular culture, and below which it is just culture, we might find that widely favoured or well liked by many people included so much as to be virtually useless as a conceptual definition of popular culture. Simon Frith (1998, 572) zweifelt die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes zu Recht an, da einerseits solcherlei Zahlen – "Neilsen ratings, the music charts, box office returns, bestseller lists, circulation statistics, and so on" – nicht immer akkurat sind, und sie andererseits keinerlei Aufschluss darüber geben, as to why such goods are chosen by their consumers nor whether they are actually enjoyed or valued by them (it is a common enough experience to go to a blockbuster film, watch a high rated TV program, read a bestselling book, or buy a chart record that turns out to be quite uninteresting) (ebd., 572f.). Davon abgesehen wäre an einer solchen Definition problematisch, dass die Zuordnung eines Textes zum Gegenstandsbereich popular culture in Extremfällen von wenigen verkauften Exemplaren abhängen könnte. Zudem weist der Medienwissenschaftler John Fiske (1989b, 31) darauf hin, dass sich zwischen 80 und 90 Prozent der neu erscheinenden Produkte trotz teilweise extensiver Reklame nicht auf dem Markt durchsetzen können: "[M]any films fail to recover even their promotional costs at the box office" (ebd.). Somit könnten also nur die 10 bis 20 Prozent der Produkte, die neu auf den Markt kommen und die sich dort auch tatsächlich durchsetzen können, der popular culture zugerechnet werden. Frith (1998, 573) gibt außerdem zu bedenken, dass eine solche Definition einige Phänomene innerhalb der popular culture nicht zu erklären vermag: "In accounts of popular music, at least, this is to
8 Zu der Schwierigkeit, popular culture zu definieren und gegenüber anderen Kulturzweigen abzugrenzen, vgl. auch Bigsby (1975, 23f.) und Frith (1996b, 415). Letzterer weist zudem darauf hin, dass in der jüngeren Geschichte der cultural studies diese Problematik mitunter gewissermaßen zum Programm erhoben wird: "The importance of the Open University approach to popular culture was not its theoretical sophistication, nor its attempt to apply a range of analytical methods to a complex, multifaceted issue, but its understanding that the essence of popular culture is its conceptual slipperiness, its fluidity, and lack of clear definition" (Frith 1996b, 416f.). 21 ignore the significant unpopularity of certain stars (Vanilla Ice, say) and the popular cult influence of such market failures as Velvet Underground or the Stone Roses." Obwohl Frith hier nicht deutlich macht, worauf sich seine Einschätzung von Vanilla Ice als unpopulär und von Velvet Underground und The Stone Roses als trotz schlechter Verkaufszahlen populär stützt, scheint dennoch eine Definition von popular culture, die sich ausschließlich auf eine quantitative Komponente gründet, zumindest einem intuitiven Verständnis dieses Begriffes zuwider zu laufen.9 Eine Definition von popular culture, die sich im Wesentlichen auf die quantitative Komponente des Begriffs popular stützt, scheint sich also als wenig hilfreich zu erweisen – zumal Storey (2001, 6) darauf hinweist, dass eine solche Begriffsbestimmung auch Teile der Hochkultur miteinbeziehen würde, "which in terms of books and records sales and audience ratings for television dramatisations of the classics, can justifiably claim to be 'popular' in this sense." Dennoch, so Storey (ebd.), müsse jegliche Definition von popular culture auch eine quantitative Dimension miteinbeziehen: "The popular of popular culture would seem to demand it" (Hervorhebung im Original). Einige Arbeiten speziell zur populären Literatur suchen dieser Problematik Herr zu werden, indem sie die Einordnung von Texten in den Bereich der populären Literatur nicht auf der Basis von tatsächlichen Verkaufszahlen, sondern von Intentionen vornehmen. So bemerkt Ken Gelder (2004, 22): [T]he scale of difference between popular fiction and literary fiction is registered not simply in terms of numbers, and in fact, much like blockbuster films that find themselves failing at the box office, a lot of popular fiction secures audiences that are relatively and often disappointingly small […]. The scale of difference between literary and popular fiction is in one sense more accurately registered in terms of intention, rather than actual achievement (Hervorhebung im Original). Ähnlich formuliert Clive Bloom (2002, 15): "[The field of popular literature] includes fiction that may not sell well, but aspires to the level of bestsellerdom" (meine Hervorhebung).10 Storey (2001, 8f.) spricht sich zudem dezidiert gegen eine – in Theorie und Praxis häufig zu beobachtende – Gleichsetzung der Begriffe popular culture und mass culture aus: The first point that those who refer to popular culture as mass culture want to establish is that popular culture is a hopelessly commercial culture. It is mass produced for mass consumption. Its audience is a mass of nondiscriminating consumers. The culture itself is formulaic, manipulative [...]. It is culture which is consumed with brain numbed and brain numbing passivity. Storey setzt diesen Überlegungen die bereits angesprochene hohe kommerzielle
9 Darauf, dass "Minderheiten Texte populär sein" bzw. "Hochkultur Artefakte massenhaft Erfolg haben" können, weist auch Hügel (2002, 56) hin. 10 Bourdieus Theorie lässt die Möglichkeit offen, innerhalb einzelner Felder mehrere Subfelder anzunehmen. So sieht er innerhalb des literarischen Feldes das 'Subfeld der eingeschränkten Produktion' vor (vgl. Bourdieu 1999, 346). Das von Bloom so benannte 'Feld der populären Literatur' kann als weiteres dieser Subfelder betrachtet werden. 22
Misserfolgsquote neu erscheinender Produkte entgegen: "Such statistics should clearly call into question the notion of cultural consumption as an automatic and passive activity" (Storey 2001, 9).11 Ab Mitte der 1980er Jahre richtete vor allem John Fiske sein Augenmerk auf die "sich ereignende Fabrikation des Populären in alltäglichen Praktiken" (Winter 2001, 10). Diese Fabrikation des Populären konstituiert für Fiske ein "kreative[s] und widerständige[s] Potenzial [...], das zur (allmählichen) Transformation des Bestehenden beitragen kann" (ebd.). Fiskes hauptsächliches Interesse gilt dabei "den sozialen Praktiken spezifischer Formationen von Menschen, in denen die widerständige Kraft eines Textes kreativ entfaltet wird" (Winter 2001, 10f.). Dieses Interesse bedingt, dass sich seine Analysen auf "das Zusammenspiel von Text, sozialer Formation und historischen Bedingungen in spezifischen Raum Zeit Momenten" konzentrieren (ebd., 11). Objekt von Fiskes Analyse ist die soziale Zirkulation von Bedeutungen, die in kulturellen Praktiken entfaltet wird. Um Texte als Teil dieser Zirkulation fassen zu können, analysiert er sie von der Seite ihres möglichen Gebrauchs her. Dabei interessiert ihn primär, ob Texte zur Artikulation der Interessen von Subordinierten und zu ihrer Ermächtigung beitragen können. Insbesondere seltene und abweichende Verwendungsweisen können einen Einblick in die Möglichkeiten gesellschaftlichen Wandels geben (ebd.). Fiske baut hier auf einem Postulat Michel de Certeaus auf, der bereits zu Beginn der 1980er Jahre gefordert hatte, nicht nur "the representations of a society" und "its modes of behaviour" zu analysieren, sondern die Untersuchung dahingehend auszuweiten, dass auch Aussagen bezüglich des Gebrauchs "to which they are put by groups or individuals" gemacht werden können (de Certeau 1984, xii). De Certeau erläutert auch, wie eine solche Analyse sich gestalten könnte: For example, the analysis of the images broadcast by television (representation) and of the time spent watching television (behavior) should be complemented by a study of what the cultural consumer "makes" or "does" during this time and with these images (ebd., meine Hervorhebung). Dieses "making" bezeichnet de Certeau explizit als eine Form der Produktion – but a hidden one, because it is scattered over areas defined and occupied by systems of 'production' (television, urban development, commerce, etc.), and because the steadily increasing expansion of these systems no longer leaves "consumers" any place in which they can indicate what they make or do with the products of these systems. To a rationalized, expansionist and at the same time centralized, clamorous, and spectacular production corresponds another production, called "consumption." The latter is devious, it is dispersed, but it insinuates itself everywhere, silently and almost invisibly, because it does not manifest itself through its own products, but rather through its ways of using the products imposed by a
11 Für eine umfangreiche mass culture Analyse vgl. Carroll (1998). 23
dominant economic order (ebd., xiif.). Der Vorgang des Lesens eines Bildes oder Textes weist für de Certeau alle Charakteristika einer "silent production" auf: [T]he drift across the page, the metamorphosis of the text effected by the wandering eyes of the reader, the improvisation and expectation of meanings inferred from a few words, leaps over written spaces in an ephemeral dance. [...] He [the reader] insinuates into another person's text the ruses of pleasure and appropriation: he poaches on it, is transported into it, pluralizes himself in it like the internal rumblings of one's body. Ruse, metaphor, arrangement, this production is also an "invention" of the memory (ebd., xxi). De Certeau widerspricht damit dem folgenden Vorurteil: "[R]eading (an image or text) [...] seems to constitute the maximal development of the passivity assumed to characterize the consumer" (ebd.). John Fiske führt diesen Gedanken de Certeaus konsequent weiter. Für ihn sind populäre Texte inadequate in themselves – they are never self sufficient structures of meanings and pleasure, they are completed only when taken up by people and inserted into their everyday culture. The people make popular culture at the interface between everyday life and the consumption of the products of the cultural industries (Fiske 1989a, 6).12 Diese Produkte der Kulturindustrie haben die Funktion von 'Rohmaterialien'13 (vgl. Fiske 1989b, 35): All the culture industries can do is produce a repertoire of texts or cultural resources for the various formations of the people to use or reject in the ongoing process of producing their popular culture. [...] Popular culture is made by the people, not imposed upon them; it stems from within, from below, not from above. Popular culture is the art of making do with what the system provides (Fiske 1989b, 24f.). Oder, wie Storey (2001, 192) prägnant formuliert: "[P]opular culture is what we make from the commodities and commodified practices made available by the culture industries." Daraus ergibt sich, dass Gegenstand einer popular culture Analyse weder
12 Vgl. dazu auch Paul Willis (1990, 128), der, von ähnlichen Voraussetzungen wie Fiske ausgehend, die kulturellen Aktivitäten von Jugendlichen untersucht hat, und die Ansicht vertritt: "We are all cultural producers in some way and of some kind in our everyday lives. It is still often denied or made invisible in many of our official attitudes and practices, in our formal lives and communications. But the necessary symbolic work and symbolic creativity of common culture are now all around us." 13 Wie er den Vergleich von culture industry Produkten mit Rohmaterialien verstanden wissen will – wohl wissend, dass ein solcher Vergleich nicht vollständig adäquat ist – erläutert Fiske (1989b, 142, Hervorhebungen im Original) so: "The metaphor is extreme, for clearly the products of capitalism cannot be entirely raw, they cannot be entirely primary. But, in the literal sense of determine (that is, 'set the boundaries of'), 'natural' raw resources do determine their cultural uses (a soft metal such as gold cannot be fashioned into a glass cutter, nor can a degradable one such as iron form the basis of a currency). But though the nature of the resource may limit its use, it cannot limit the creativity of those that use the resource. Just as the fabrication of an object out of raw material is always a struggle between the nature of the raw material and the cultural needs of the producer, so too popular culture is a struggle between the 'nature' (ideological, strategic, disciplinary) of the resources provided by the financial economy and the cultural needs of everyday life." 24 ausschlieβlich die von der Kulturindustrie als Ressourcen bereitgestellten Produkte sind, noch das System als solches, das diese bereitstellt, "but the concrete specific uses they are put to, the individual acts of consumption production, the creativities produced from the commodities" (1989b, 37).14 Dergleichen Analysen, die sich nicht allein auf den populären Text als solchen, sondern auch auf den Umgang seiner Rezipienten mit ihm richten, bergen aber wiederum gewisse Schwierigkeiten, da sie im Prinzip nur auf der Basis von Befragungen eben dieser Rezipienten durchführbar sind. Es ist offensichtlich, dass sich eine solche Vorgehensweise für die Analyse der popular culture früherer Epochen wie dem 19. Jahrhundert als problematisch erweisen kann – wenn nicht, wie das etwa bei Charles Dickens allerdings der Fall ist, die Art und Weise des Umgangs der damaligen Rezipienten mit dem Text ausreichend dokumentiert ist. Aber selbst im Fall von aktuelleren Texten, deren zeitgenössische Rezipienten noch befragt werden können, ist ein solcher Analysemodus nicht unproblematisch. Hügel (2003, 10) weist auf die Gefahr hin, die darin besteht, "die ästhetische Erfahrung der Rezipienten gleich[zu]setzen mit dem, was sie von sich aus zu äußern verstehen." Dabei werde häufig vergessen, dass die Rezipienten nur in den seltensten Fällen geschult und von sich aus gewillt sind, über ihre ästhetischen Erfahrungen reflektierend zu sprechen. Ohne vorhergehende Analyse, die klären kann, worin der Rezeptionswert eines populären Artefakts liegen könnte, lässt sich aber weder ein Fragebogen verfassen noch ein themenzentriertes Interview führen (ebd.). Diese Dilemmata lassen sich nur lösen, indem darauf geachtet wird, dass die Analyse des "Zusammenspiel[s] von Text, sozialer Formation und historischen Bedingungen" (Winter 2001, 11) nicht zu sehr in Richtung der beiden letzteren der drei genannten Faktoren ausschlägt, sondern weiterhin auch den Texten selbst die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zukommen lässt. Scheint Fiske zuweilen sein Augenmerk ausschließlich darauf zu richten, welchen Gebrauch Konsumenten von den Erzeugnissen der Kulturindustrie machen, so
14 Vgl. dazu wiederum Willis (1990, 132): "Crucially, we need to recognize that consumption of cultural commodities involves its own processes of production (symbolic work and creativity, grounded aesthetics) in a way that is not true for other commodities. In short, a pop song is not a steel ingot. For cultural commodities our interest, policy intervention and concern may lie more in what happens after rather than during or before manufacture." Dergleichen Überlegungen waren freilich schon vor Fiske formuliert worden. In einer Untersuchung zum Kinofilm gestand schon Franklin Fearing (1947, 70) dem Rezipienten eine aktive Rolle zu: "He takes from the picture what is usable for him or what will function in his life." Ähnlich postulierte Davison (1964, 89): "[T]he communicator's audience is not a passive recipient – it cannot be regarded as a lump of clay to be molded by the master propagandist. Rather, the audience is made up of individuals who demand something from the communications to which they are exposed, and who select those that are likely to be useful to them." Der "uses of gratification" Ansatz der Massenkommunikationsforschung schließlich, der sich aus solcherlei Überlegungen entwickelt hat, "proceeds from the assumption that the social and psychological attributes of individuals shape their use of the mass media rather than vice versa. This is the approach that asks the question not 'What do the media do to people?' but, rather, 'What do people do with the media?' (Katz/Foulkes 162, 378, Hervorhebung im Original). 25 lassen seine Studien in ihrer Gesamtheit doch erkennen, dass ihm die Wichtigkeit der Kategorie 'Text' durchaus bewusst ist. So fordert er für die Analyse populärer Texte einen doppelten Fokus: On the one hand we need to focus upon the deep structure of the text in the ways that ideological, psychoanalytic analyses and structural or semiotic analyses have proved so effective and incisive in recent scholarship. [...] The complementary focus is upon how people cope with the system, how they read its texts, how they make popular culture out of its resources. It requires us to analyze texts in order to expose their contradictions, their meanings that escape control, their producerly invitations; to ask what it is within them that has attracted popular approval. Traditional academic analyses and professional criticism have rarely focused upon popular texts in this way (Fiske 1989b, 105). Der Text als solcher bleibt also weiterhin eine zentrale Komponente innerhalb der popular culture Analyse.
2.2 Charakteristika potentiell populärer Texte Fiske nennt einige Charakteristika, die die Chancen eines Textes auf populäre Verbreitung erhöhen. Das Vorhandensein dieser Merkmale garantiert allerdings noch nicht, dass solche Texte auch tatsächlich zu popular culture werden: The people discriminate among the products of the culture industries, choosing some and rejecting others in a process that often takes the industry by surprise, for it is driven by the social conditions of the people at least as much as by the characteristics of the text (Fiske 1989b, 129). Die von Fiske aufgeführten Charakteristika populärer Texte, die im folgenden einzeln erläutert werden sollen, lassen sich alle unter seinem Postulat subsumieren, der betreffende Text müsse sich als 'produzierbar' ("producerly", (Fiske 1989b, 103)) erweisen. Fiske erweitert hier eine von Roland Barthes bereitgestellte Terminologie. Barthes unterscheidet zwischen Tendenzen in Texten, die er mit den Begriffen 'lesbar' ('readerly') und 'schreibbar' ('writerly') benennt: [A] readerly text invites an essentially passive, receptive, disciplined reader who tends to accept its meanings as already made. It is a relatively closed text, easy to read and undemanding of its reader. Opposed to this is a writerly text, which challenges the reader constantly to rewrite it, to make sense out of it. It foregrounds its own textual constructedness and invites the reader to participate in the construction of meaning. […T]he readerly text is the more accessible and popular, the writerly the more difficult, avant garde, and therefore of minority appeal (ebd.). Fiske führt nun die Kategorie des produzierbaren ('producerly') Textes ein. Bei einem solchen Text handelt es sich um einen popular writerly text, a text whose writerly reading is not necessarily difficult, that does not challenge the reader to make sense out of it, does not faze the reader with its 26
sense of shocking difference both from other texts and from the everyday. It does not impose laws of its own construction that readers have to decipher in order to read it on terms of its, rather than their, choosing. The producerly text has the accessibility of a readerly one, and can theoretically be read in that easy way by those of its readers who are comfortably accommodated within the dominant ideology [...], but it also has the openness of the writerly. The difference is that it does not require this writerly activity, nor does it set the rules to control it. Rather, it offers itself up to popular production; it exposes, however reluctantly, the vulnerabilities, limitations, and weaknesses of its preferred meanings; it contains, while attempting to repress them, voices that contradict the ones it prefers; it has loose ends that escape its control, its meanings exceed its own power to discipline them, its gaps are wide enough for whole new texts to be produced in them – it is, in a very real sense, beyond its own control (Fiske 1989b, 103f.). Dazu, dass ein Text sich als produzierbar erweist und somit zumindest potentiell zu popular culture werden kann, können nun wiederum verschiedene Faktoren beitragen. Als eines der zentralen Kriterien nennt Fiske in diesem Zusammenhang das der Sprache (ebd., 106ff.), wobei er besonders auf die Bedeutung von Wortspielen ("puns") hinweist, die sich häufig in Produkten der Kulturindustrie wie "advertisements, headlines, pop songs, slogans" (Fiske 1989b, 111) ausmachen lassen.15 In belletristischen Texten mit populärem Potential sind sie jedoch weitaus seltener anzutreffen, wie Gerhard Haefners (1981, 239) Analysen zeigen.16 Ein weiteres zentrales Merkmal eines produzierbaren Textes sieht Fiske darin, dass er sich als "[s]ensational, obvious, excessive, cliched" beschreiben lässt (Fiske 1989, 117). Das Kriterium der "excessiveness" definiert Fiske als meaning out of control, meaning that exceeds the norms of ideological control or the requirements of any specific text. Excess is overflowing semiosis, the excessive sign performs the work of the dominant ideology, but then exceeds and overspills it, leaving excess meaning that escapes ideological control and is free to be used to resist or evade it (Fiske 1989b, 114). Die Offenkundigkeit ("obviousness") potentiell populärer Texte bewirkt, dass deren Rezeption "vom Bildungsstand der Rezipienten nahezu unabhängig ist", wie Bourdieu (1999, 237) darlegt. Darin unterscheiden sie sich deutlich von Artefakten der Hochkultur, die "nur solchen Konsumenten zugänglich [sind], die über die entsprechende und für ihr Bewerten notwendige Disposition und Kompetenz verfügen." Diese Disposition und Kompetenz sind abhängig vom 'kulturellen Kapital' des Rezipienten, das sich zusammensetzt aus "dem schulischen oder Bildungskapital (gemessen am Schul oder Hochschulabschluss)" sowie dem kulturellen Erbe, das dem Rezipienten kraft seiner "sozialen Herkunft (erfasst anhand
15 Für eine Erläuterung des populären Potentials von Wortspielen vgl. Fiske (1989b, 109ff.) 16 Problematisch an Haefners Analysen ist, dass sie noch mit dem heute im wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr gebräuchlichen Begriff 'Trivialliteratur' operieren. Davon abgesehen sind Haefners Überlegungen jedoch in vielen ihrer Aspekte den wenige Jahre später entstandenen popular culture Analysen Fiskescher Prägung verwandt und lassen sich deshalb teilweise für die Zwecke der vorliegenden Studie nutzbar machen. 27 des Berufs des Vaters)" mitgegeben wurde (Bourdieu 1982, 34). Für potentiell populäre Produkte lieβe sich also formulieren, dass sie auch von Personen mit geringem kulturellem Kapital problemlos rezipert werden können. Zudem charakterisiert Fiske popular culture als widersprüchlich – "shot through with contradictions that escape control" (Fiske 1989b, 120). Freilich handelt es sich hier um andere Formen von Widersprüchlichkeit und Komplexität, als sie in high culture anzutreffen sind: The complexities for which poetry and literature are valued are located typically in its use of language and its ability to use the full resources of a language to provide an artistic correlative of the subtle varieties and fine differences of individual sentiment (ebd.). Die Komplexität populärer Texte liegt demgegenüber as much in their uses as in their internal structures. The densely woven texture of relationships upon which meaning depends is social rather than textual and is constructed not by the author in the text, but by the reader: it occurs at the moment when the social relationships of the reader meet the discursive structure of the text (Fiske 1989b, 122). Um für eine heterogene Leserschaft von Interesse zu sein, muss sich ein potentiell populärer Text als polysem erweisen – "that is, capable of producing multiple meanings and pleasures" (Fiske 1989b, 158). Als Beispiel für einen solchen polysemen und komplexen populären Text nennt Fiske die in den 1980er Jahren – zur Zeit der Entstehung seiner Theorie – weltweit überaus erfolgreiche Fernsehserie Dallas. Dallas ist für Fiske ein komplexer Text, because so many and such diverse audiences can make so many and diverse intersections between it and their social relations. Its dialogue, its representation of relationships among people, its psychological depth, its exploration of the infinitely subtle problems and rewards in accommodating the needs of the individual with the demands of the social – all of these may be only alluded to, sketched in superficially in the broadest brush strokes. But that is precisely its strength. It is a text full of gaps, it provokes its producerly viewers to write in their meanings, to construct their culture from it (ebd.). Eng verbunden mit diesem Kriterium der Komplexität ist auch das letzte von Fiske angeführte Merkmal populärer Texte, das er als ihre 'textuelle Armut' ("textual poverty", (Fiske 1989b, 123)) bezeichnet. Dieses Merkmal führt er darauf zurück, dass Texte innerhalb der popular culture lediglich "commodities" sind, "and as such they are often minimally crafted (to keep production costs down), incomplete, and insufficient unless and until they are incorporated into the everyday lives of the people" (ebd.). Scheint diese 'textuelle Armut' nach Fiske eher unbeabsichtigt zu sein, so finden sich daneben in populären Texten auch 28 gezielt eingesetzte Leerstellen – "jene Textstellen also, wo der Erzähler nicht alles ausformuliert und die dadurch entstehende Unbestimmtheit den Leser anhält, die Leerstelle selbst zu besetzen" (Haefner 1981, 218). Haefners Analysen zufolge bedienen sich populäre bzw. in seiner Terminologie triviale Texte dreier unterschiedlicher Leerstellentechniken, deren erste er mit dem Begriff "[s]pannnungserzeugende Leerstellen auf der Handlungsebene" umschreibt: Der Autor bricht einen Erzählstrang, nachdem sich Spannung gebildet hat, ab und greift einen anderen auf. Ein solcher Suspens Effekt bewirkt, dass wir uns Begebenheiten, die uns im Augenblick vorenthalten werden, selbst vorzustellen, auszumalen versuchen. Diese Leerstellen erhöhen somit die Beteiligung des Lesers am Geschehen (Haefner 1981, 220). Solcherlei Leerstellen werden gemeinhin als cliffhangers bezeichnet. Als zweite Leerstellenform nennt Haefner (1981, 222) die Technik der Aussparung, also Textstellen, die ein Geschehen nicht beschreiben, sondern es durch die Art seiner Präsentation der Imagination oder der Entdeckungsfähigkeit des Lesers anheimgeben. Eine solche Erzähltechnik findet sich in trivialer Prosa häufig bei Liebesszenen und Dialogen. So heiβt es bei der Schilderung des zweiten Kusses zwischen Oliver und Jennifer in Segals Love Story: 'I kissed her again. But not on the forehead, and not lightly. It lasted a long nice time'. Der Appell dieser Textstelle zielt ausschlieβlich auf die erotische Phantasie und die Affekte des Lesers. Die Negation heizt die Phantasie an, und der Zusatz setzt ihr keine Grenzen. Bei der dritten Leerstellenform nach Haefner (1981, 223) handelt es sich um die Technik der "doppelte[n] Lesart". Sie kann darin bestehen, dass das erzählte Geschehen eines Textes zwar nicht expliziert negiert, aber durch beispielsweise einen ironischen Kommentar des Erzählers konterkariert wird, so dass zwei unterschiedliche Lesarten entstehen – eine, die sich auf den wörtlichen Sinn des Erzählten stützt und eine weitere, der der durch die Ironie entstandene übertragene Sinn des Erzählten zugrunde liegt. Eine weitere Möglichkeit, eine doppelte Lesart zu erzeugen, liegt darin, ein Geschehen aus zwei verschiedenen Blickwinkeln darzustellen bzw. zu kommentieren: Vor das Geschehen schaltet der Autor einen Verstehensraster, der das Verständnis des Geschehens auf zwei Möglichkeiten reduziert, die zugleich Werbesignale an den Leser enthalten. [...] Da an psychologische oder weltanschauliche Dispositionen des Lesers appelliert wird, ist der Leser im wesentlichen in seiner Entscheidung nicht mehr frei (Haefner 1981, 224). Im Unterschied zu den Leerstellen, die in hoher Literatur Anwendung finden und verschiedentlich als Kriterium von deren ästhetischem Wert betrachtet werden (vgl. Haefner 1981, 219), sind Leerstellen in potentiell populären Texten "meist einfacher gebaut" und "spechen weniger kognitive als affektive Fähigkeiten des Lesers an" (Haefner 1981, 225). Durch solche Leerstellen erfolgt eine "Aktivierung des Lesers" (Haefner 1981, 218), er erhält 29 also die Möglichkeit, sich verstärkt in den Text einzubringen, wodurch sich die Distanz zwischen Text und Leser verringert. Diese 'Unvollständigkeit' einzelner Texte innerhalb der popular culture bedingt zweierlei: Zum einen führt sie dazu, dass solche Texte mittels intertextueller Lesepraktiken konsumiert werden müssen. Nach Darstellung von Fiske zirkulieren populäre Texte in dreierlei Gestalt – in Form von primären, sekundären und tertiären Texten. Als primäre Texte bezeichnet Fiske die jeweiligen Originaltexte bzw. originalen Erzeugnisse der Kulturindustrie. Sekundärtexte nehmen direkten Bezug auf diese und treten etwa in Gestalt von Werbung, Veröffentlichungen in der Presse und Kritiken auf. Tertiärtexte ergeben sich aus dem Umgang des Konsumenten mit dem Produkt der Kulturindustrie und werden von Fiske wie folgt beschrieben: "Tertiary texts […] are in constant process in everyday life (conversation, the ways of wearing jeans or dwelling in apartments, window shopping)" (Fiske 1989b, 125). Als zweite Konsequenz der 'Unvollständigkeit' populärer Texte nennt Fiske deren häufig serielles und von Wiederholungen geprägtes Auftreten: Magazines are published weekly or monthly, records played constantly, television is organized into series and serials, clothes worn and discarded, video games played time and again, a sports team watched game after game – popular culture is built on repetition, for no one text is sufficient, no text is a completed object. The culture consists only of meanings and pleasures in constant process (Fiske 1989b, 126).17 Wie Fiske wiederum ausführt, bringt der solchermaβen stets fragmentarische Charakter populärer Texte nicht nur mit sich, dass sich solche Texte leichter in das Alltagsleben ihrer Konsumenten integrieren lassen, sondern auch, dass sich die Grenzen zwischen eben diesem Leben und den populären Texten generell verwischen. Fiske spricht von den "leaky boundaries" populärer Texte: "[T]hey flow into each other, they flow into everyday life" (ebd.). Gerhard Haefner führt noch eine weitere in populären Texten häufig anzutreffende Erzähltechnik an, die er unter dem Oberbegriff "Pragmatische Figuren" (Haefner 1981, 216) diskutiert und in "Figuren der direkten und Figuren der indirekten Leseransprache" (Haefner 1981, 217) unterteilt. Die direkte Leseransprache erfolgt nach Haefner durch Verwendung
17 Vgl. dazu auch Hayward (1997, 137): "In addition to enjoying the reassurance of the familiar, readers take pleasure in the rhythms of seriality. This process works on several levels. First, there is the daily experience of reading or watching, which usually takes place at the same time and in the same location and can serve, for example, as punctuation or accompaniment to the rhythms of housework or as a transition between home and work or school. Second, discussion of soaps can form an integral part of a daily routine and work to bond discussants who do not know each other [...]. Third, reliability of character types, plots, and generic themes satisfies by means of the very predictability often cited as proving serial worthlessness." 30 des Personalpronomens der zweiten Person Singular und Plural, Formen der indirekten Leseransprache – die sich seinen Analysen zufolge "ungleich häufiger" (ebd.) finden, gestalten sich entweder als "Antworten auf vorhersehbare Leserreaktionen" oder sie "suchen Anschluss an die Lebenserfahrung des Lesers" (ebd.). Den Möglichkeiten dieser pragmatischen Figuren bei der Lesersteuerung steht allerdings eine Schwäche gegenüber, die relativ viele Autoren davon abhält, pragmatische Figuren zu verwenden. Sie durchbrechen und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick die Illusionsbildung des Lesers und rücken dadurch das Erzählte in eine sonst unübliche Distanz (Haefner 1981, 216f.). Dadurch, dass der Leser angesprochen wird, wird er allerdings selbst quasi in den Text einbezogen, wodurch sich seine Distanz dazu auch wieder erheblich verringert. Ken Gelder (2004, 23f.) konstatiert zudem das Bemühen vieler Autoren populärer Literatur, ein enges Verhältnis zu ihren Lesern aufzubauen: [P]opular fiction writers [...] often work hard to maintain a sense of 'intimacy' between their readers and themselves. […] Most contemporary novelists have their own online homepages and some actively engage with their fans […]. Popular fiction is by nature mindful and respectful of its audience […]. For writers of popular fiction, readers are their marketplace, their destination and the providers of their income: it would be impossible not to want to engage positively with this domain, and indeed, the intention here would doubtless be to maximize its potential, to increase the size of that domain as much as possible (Hervorhebung im Original). Damit nun aber – um bei Fiskes Metaphorik zu bleiben – Konsumenten die Produkte der Kulturindustrie auch wirklich in ihr Leben hineinfließen lassen, müssen diese noch ein zusätzliches Charakteristikum aufweisen, dessen Notwendigkeit Fiske (1989b, 129) wie folgt begründet: "If the cultural resource does not offer points of pertinence through which the experience of everyday life can be made to resonate with it, then it will not be popular." Ähnlich formuliert Scott McCracken (1998, 11) im Bezug auf populäre Literatur: "Popular fiction may use simple forms, but if these forms are to win an audience they must be able to address that audience's concerns." Fiske führt hier ein Kriterium ein, dass sich nicht mittels einer Analyse ausschließlich des Textes ausmachen lässt. Es handelt sich um das Kriterium der Relevanz, das als weiterer Schlüsselbegriff in Fiskes Theorie betrachtet werden kann: "Popular culture has to be, above all else, relevant to the immediate social situation of the people" (Fiske 1989b, 25f., Hervorhebung im Original). [Relevance] minimizes the difference between text and life, between the aesthetic and the everyday that is so central to a process and practice based culture (such as the popular) rather than a text or performance based one (such as the bourgeois, highbrow one) [...]. Relevance can be produced only by the people, for only they can know which texts enable them to make the meanings that will function in 31
their everyday lives (Fiske 1989a, 6).18 Dieses Kriterium der Relevanz bedeutet nun nicht einfach, dass die Konsumenten der Kulturindustrie Produkte in diesen ihre Lebenswelt gespiegelt fänden. Fiskes Kriterium gestaltet sich komplexer. Es lässt sich auf zwei Ebenen ansiedeln: [A]t the level of representation it operates along axes of similarity and difference. But it is not confined to the level of representation; indeed, it appears that discursive relevance is more productive of popular culture than representational relevance because it is more likely to be a foregrounded element in producerly texts: representational relevance can be made to fit more easily with readerly, nonproductive, texts, and these are unlikely to be as widely chosen as the raw resources of popular culture. Representational relevance in a nonproducerly text is unlikely to produce popular culture (Fiske 1989b, 186). Die Funktion der beiden Achsen der Ähnlichkeit ('similarity') und der Differenz ('difference') auf der Ebene der repräsentionalen Relevanz erläutert Fiske (1989b, 183f.) am Beispiel populärer Fernsehserien. Dallas etwa werde in der westlichen Welt von einer Vielzahl von Zuschauern unterschiedlichster sozialer Herkunft rezipiert. In some cases, at least, it is made into surprisingly different popular cultures: it is read resistingly and/or incorporated within the daily lives of people whose social experience is far removed from that of the Ewings. The relevance of Dallas does not lie in the material conditions of the world it represents. Indeed, for many of the popular readers, the pleasure of these material conditions lies in their difference: they embody the dominant ideology that popular experience differs from, but relates to (Fiske 1989b, 183). Fernsehserien wie Coronation Street oder East Enders dagegen repräsentierten auf unmittelbarere Weise das soziale Umfeld der unteren Gesellschaftsschichten. Aus der Gesamtheit dieser Beobachtungen schlieβt Fiske (1989b, 185): "The most significant relevances may not be those of similarity. The popularity of science fiction or historical romance cannot lie simply in represented social relevances at the level of the material details and conditions of everyday life." Als Beispiel für das Auftreten von diskursiver Relevanz ('discursive relevance') führt Fiske u.a. die Rezeption von puns, game shows oder Auszügen aus der Regenbogenpresse an. Diese repräsentierten in keiner Weise "popular social experience" (ebd.). These are popular discourse, not because of the representation of the world that they offer, but because they combine contradictory discursive orientations to that world. Their relevancies lie in the relationships between the reading practices that make sense and pleasure out of them and the social practices that are used to make sense and pleasure out of everyday life (ebd.).
18 Vgl. hierzu auch Bourdieu (1982, 64): "Alles spricht dafür, dass 'populäre Ästhetik' sich darauf gründet, zwischen Kunst und Leben einen Zusammenhang zu behaupten [...], oder, anders gesagt, auf der Weigerung, jene Verweigerungshaltung mitzuvollziehen, die aller theoretisch entfalteten Ästhetik zugrunde liegt, d.h. die schroffe Trennung zwischen gewöhnlicher Alltagseinstellung und geniun ästhetischer Einstellung." 32
Im Zusammenhang mit Fiskes Kriterium der Relevanz wird auch deutlich, weshalb für ihn die Einbeziehung des Sozialen in seine Analyse so bedeutsam ist: Unlike aesthetic criteria, those of relevance can be located only in the social situation of the reader; they can reside in the text only as a potential, not as a quality. Relevance is a quality determined by and activated in the specifics of each moment of reading; unlike aesthetics, relevance is time and placebound (Fiske 1989b, 130). Zwar lassen sich bestimmte textliche Charakteristika ermitteln, die einem Text populäres Potential verleihen. Prognosen bezüglich dessen tatsächlicher Popularität müssen jedoch stets unverbindlich bleiben (vgl. ebd.). Lawrence Grossberg (1992, 76) fasst diesen Sachverhalt prägnant zusammen: "There are no necessary correspondences between the formal characteristics of any text and its status (or audience) at a particular moment." Dass es denkbar schwer ist, die populäre Wirkung von Texten vorherzusagen, zeigt die bereits erwähnte Tatsache, dass sich 80 bis 90 Prozent der Erzeugnisse der Kulturindustrie nicht auf dem Markt durchsetzen können. Dennoch muss festgehalten werden, dass eine Text Analyse durchaus Hinweise darauf liefern kann, ob ein Text zumindest potentiell populär ist – um herauszufinden, ob dieses Potential realisiert wird, muss die Analyse dann tatsächlich, wie von Fiske postuliert, den Rezipienten und den Gebrauch, den dieser von dem Text macht, einbeziehen. Im Zusammenhang mit Fiskes Kategorie der Relevanz kommt noch ein weiteres Kennzeichen von popular culture zur Sprache. Dieses weitere Charakteristikum klang schon in Winters (2001, 11) bereits zitierter Beschreibung des Fiskeschen Analysegegenstandes als "Zusammenspiel von Text, sozialer Formation und historischen Bedingungen in spezifischen Raum Zeit Momenten" an. Es handelt sich dabei um das populärer Kultur anhaftende Ephemere, ihre relative Kurzlebigkeit: "[A]s the social conditions of the people change, so do the texts and tastes from which relevances can be produced" (Fiske 1989a, 6)19. Dies führt dazu, dass Texte im Lauf der Zeit mitunter unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden können: [P]opular forms become enhanced in cultural value, go up the cultural escalator – and find themselves on the opposite side. Other things cease to have high cultural value, and are appropriated into the popular, becoming transformed in the process (Hall 1998, 448).20 John Storey (2003, 35f.) veranschaulicht diesen Sachverhalt am Beispiel Shakespeares, der seiner Darstellung zufolge im Amerika des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil des "popular
19 Vgl. zu dieser Eigenschaft von popular culture auch Bigsby (1975, 15). 20 Vgl. dazu auch Grossberg (1992, 76). 33 entertainment" war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich Shakespeares Position innerhalb der amerikanischen Kultur dann zu wandeln: Shakespeare's plays were gradually removed from the theatrical world of acrobats and jugglers, burlesques and parodies, dancers and singers, and were instead relocated in theatres where the audience was no longer a heterogeneous mix of American society, but had been reduced in the main to middle class ladies and gentlemen, concerned as much with strategies of social distinction as they were with gazing aesthetically at what was happening on the stage.21 Noch dezidierter als Fiske (1989b, 121) macht Bourdieu (1999, 237) für solche Vorgänge das "Bildungswesen" verantwortlich, "welches das Monopol auf die Kanonisierung der Werke der Vergangenheit" beansprucht und dem es obliegt, "post mortem und nach einem langwierigen Prozess dieses unfehlbare Siegel der Konsekration: die Kanonisierung der Werke als klassische kraft ihrer Aufnahme in die Lehr und Studienpläne" zu gewähren. Nachdem nun wesentliche Merkmale populärer Kultur dargelegt wurden, muss noch geklärt werden, wie sich der Gebrauch gestaltet, den Konsumenten von den Produkten der Kulturindustrie machen, um diese Komponente, wie von Fiske gefordert, in die popular culture Analyse miteinbeziehen zu können. Hierfür ist Fiskes Kategorie der 'tertiären Texte' hilfreich, die aus dem produktiven Umgang der Konsumenten eines 'primären' Textes mit diesem entstehen.22 Fiske (1989b, 150) verweist in diesem Zusammenhang auf die Produktivität von Fans23 der Serie Star Trek. Die Vielfalt der von Star Trek Fans verfassten Texte reicht von "newsletters to full length novels, most of which are romances filling in the gaps left in the original series by expanding on the personal (particularly romantic) relationships among the crew of the Enterprise." Tertiäre Texte können auch in Gestalt von Briefen auftreten, die Fans von Fernsehserien an deren Produzenten schreiben, um – häufig erfolgreich – zu versuchen, den Ausgang bestimmter Handlungsstränge zu beeinflussen. Tertiäre Texte erkennt Fiske auch in der Beteiligung von Fans an Umfragen in
21 Ähnliches widerfuhr laut Storey (2002, 37) auch dem Genre Oper: "[The opera] was actively appropriated from its popular audience by elite social groups determined to situate it as the crowning glory of their culture, i.e. so called 'high culture.' In short, opera was transformed from entertainment enjoyed by the many into Culture to be appreciated by the few" (Hervorhebungen im Original). 22 Die Grenzen zwischen sekundären und tertiären Texten gestalten sich jedoch mitunter fließend, wie anhand von Jennifer Haywards exemplarischer Analyse einiger in verschiedenen Zeitungen veröffentlichten Rezensionen von Dickens' letztem vollständigen Roman Our Mutual Friend deutlich wird. Für Hayward (1997, 63) zeigt sich in den von ihr analysierten Zeitungstexten – die nach Fiske als sekundäre Texte klassifiziert werden müssten – ein hohes Maß an Identifikation mit 'gewöhnlichen' Lesern seitens der Rezensenten, was sie wiederum in den Bereich der von Fiske so bezeichneten tertiären Texte rückt: "Every paper's reviewer employs the collective 'we' at least at times during the run of this and other novels, making absolute pronouncements such as the Sun's 'the reader will therefore have the mournful task of taking leave of one who has so long fascinated and charmed his leisure with his inimitable productions' (review of Denos Duvall, May 2, 1864) or the same paper's comment that 'as an opening chapter, this first one of 'Our Mutual Friend' ... influences the reader, like a glance from the Ancient Mariner's eye: we needs must listen' (May 2, 1864)." 23 'Fans' unterscheiden sich nach Fiske (1989b, 147) von "less excessive readers in degree, but not in kind." 34
Fanzeitschriften, wo sie nach ihrer Meinung bezüglich zukünftiger Ereignisse und Beziehungen zwischen einzelnen Charkteren gefragt werden (Fiske 1989b, 148). Fiske nennt auch Beispiele für tertiäre Texte, die in gar keiner materiellen Form existieren. Als eine typische Erscheinungsform von nicht schriftlich fixierten tertiären Texten bezeichnet Fiske Unterhaltungen zwischen Fans etwa von soap operas: [T]he gossip of soap opera fans becomes a pre text of the actual script of their soap, predicting what will happen. […] The flip side of this creativity of course is retrospective 'rewriting' – the what would have happened if script can be just as productive as the predictive one. In this way, fan gossip fills in the gaps in the text. It explains motivations and consequences omitted from or buried in the text itself; it expands explanations, offers alternative or extended insights; it reinterprets, re presents, reproduces (Fiske 1989b, 147). In anderen Fällen besteht popular culture auch lediglich in der "dialogic relationship between the reader and the industrial text, it may exist only in the interior fantasy" (Fiske 1989b, 174), verschafft sich also weder in schriftlicher noch in mündlicher Form Ausdruck. Der Verbreitung tertiärer Texte bietet die im 21. Jahrhundert anzutreffende Medienvielfalt nun Möglichkeiten, deren Konsequenzen Fiske Ende der 1980er Jahre, als die Eckpfeiler seiner Theorie entstanden sind, noch kaum absehen konnte – vor allem, da zu diesem Zeitpunkt das Medium Internet noch nicht im heutigen Ausmaß verfügbar war. Von Fans verfasste Romane und Kurzgeschichten finden sich heute in Form von fan fictions in einer unüberschaubaren Vielzahl im Internet. Fans von Fernsehserien erfinden hier zusätzliche Episoden ihrer Lieblingsserie, zumeist weibliche Fans von Musikgruppen verfassen Texte über fiktive Begegnungen mit ihren Stars. Die weite Verbreitung und Nutzung des Mediums Internet führt auch dazu, dass die tertiären Textsorten, die nach Fiske nicht materiell verfügbar sind – etwa "the gossip of soap opera fans" (Fiske 1989b, 147) – sich über das Internet teilweise doch materialisieren – etwa in Gestalt der Beiträge von Fans zu den ebenfalls zahlreichen Internetforen, in denen sie sich über ihre Lieblingsserien austauschen. Jennifer Hayward (1997, 15) verdeutlicht die Bedeutung, die die auf diese Weise publizierten tertiären Texte für die tägliche Arbeit der popular culture Produzenten haben: [P]roducers [...] have increasingly turned to a collaborative productive process, forming creative teams to handle the high volume of serial production, asking audiences for their suggestions to ensure high sales or ratings, and even (in some on line serials) providing 'alternate' episodes for readers not satisfied with the standard episode and easy e mail buttons for readers to write to characters or forward their ideas directly to creators. Neben diesen Erscheinungsformen von tertiären Texten diskutiert Fiske die Bedeutung einer 35 weiteren Gruppe von sekundären Texten. Es sind dies die sogenannten "spin off products" (Fiske 1989b, 174), die unter anderem dazu beitragen können, dass die Verbindung zwischen primärem Text und Leben des Konsumenten noch enger geknüpft wird. Fans, die solche Marketingprodukte erwerben, sind nun nach Fiske nicht ausschließlich further commodified consumers, but are actively contributing to the social circulation of their meanings of the primary text. The choice of which Madonna T shirt to buy is a choice about which meanings of Madonna to circulate. The choice of which fan magazine to buy, or which article to read, is equally a way of circulating some meanings rather than others. [...] Even the most commercialized secondary texts, such as the toys that spin off from children's TV shows, are not necessarily limited to their economic function. The toy version of ALF, for example, may well enable children to take to bed with them not only a soft cuddly commodity, but also a set of meanings – meanings of the childlike ALF whose otherness from the adult world can be expressed only by his origination in another planet, whose childlike non sense may at times be superior to the adult sense that constantly attempts to control and discipline him. […] The toy aids the imbrication of the pleasures of the program into the everyday life of the child (Fiske 1989b, 174 und 176, meine Hervorhebung). In ihrer Gesamtheit bieten Fiskes hier diskutierte Überlegungen popular culture Analysen eine durchaus sinnvolle Grundlage. So gewann Fiske auch, wie Rainer Winter (2001, 9) darlegt, seit Ende der 1980er Jahre innerhalb der cultural studies Bewegung großen Einfluss und wurde "zu einer der wichtigsten Bezugsgrößen im Feld, an die man nicht nur positiv anschließt, sondern von der man sich auch gerne abgrenzt, um eine eigene Position zu profilieren" (ebd.). Solche Abgrenzungen gegenüber Fiske fanden häufig aufgrund der politischen Implikationen seiner Theorie statt. Nach Ansicht von Fiske ist popular culture always, at its heart, political. It is produced and enjoyed under conditions of social subordination and is centrally implicated in the play of power in society. But in investigating its politics we must not confine our definition of politics to direct social action, for that is only the tip of the iceberg, resting upon a less visible, but very real, politicized consciousness – the consciousness of, and in, popular culture (Fiske 1989b, 159). Das politische Potential von popular culture bezeichnet Fiske somit als "progressive rather than radical" (Fiske 1989b, 161). Für seine Definition des Gegenstandes hat dies folgende Konsequenzen: Popular culture is not the culture of the subdued. People subordinated by white patriarchal capitalism are not helplessly manacled by it. Their economic and social deprivation has not deprived them of their difference, or of their ability to resist or evade the forces that subordinate them; on the contrary, it motivates them to devise the constantly adaptive tactics of everyday resistances that never allow the power bloc to relax and feel that the victory is won (Fiske 1989b, 169). Dieses Postulat brachte Fiske wiederholt Kritik ein. Noel Carroll (1998, 238) etwa urteilt: 36
"[T]he view that people are always resisting the products of the culture industry seems hardly more plausible empirically than the view that they are never resisting."24 Das Postulat, für das Fiske hier von Carroll kritisiert wird, findet sich bei Fiske in dieser Zuspitzung allerdings gar nicht. Rainer Winter (2001, 11) räumt zwar ein, Fiske sei in seinen Analysen bisweilen "zu optimistisch [...], weil er Potenziale identifiziert, die in alltäglichen Praktiken dann doch nicht realisiert werden oder die erhofften Wirkungen erzielen." Die in Noel Carrolls Kritik sich ausdrückende Annahme, Fiske halte jede Form des Medienkonsums für subversiv, bezeichnet er jedoch als eines der für die Rezeption von Fiskes Arbeiten "charakteristischen Missverständnisse" (ebd.). In der Tat akzentuiert Fiske die politischen Implikationen seiner Theorie unterschiedlich. Zwar bezeichnet er popular culture als "the culture of the subordinate who resent their subordination, who refuse to consent to their positions or to contribute to a consensus that maintains it" (Fiske 1989b, 169), räumt aber ein, dass das nicht bedeutet, that they live their lives in a constant state of antagonism [...], but that the oppositionality is sporadic, sometimes sleeping, sometimes aroused into guerilla raids, but never finally anaesthetized. Some resistances may be active and offensive, others more inclined to dogged refusals of the dominant, and others more evasive, carnivalesque and liberating. The forms of opposition are as numerous as the formations of subordination, but running through them all, sometimes acute, sometimes muted, is the central thread of antagonism (ebd., meine Hervorhebungen).25 John Storey (2001, 192) fasst diesen Zusammenhang prägnant zusammen: [M]aking popular culture ('production in use') can be empowering to subordinate and resistant to dominant understandings of the world. But this is not to say that popular culture is always empowering and resistant (Hervorhebung im Original).26 Storey (2001, 185) nennt darüber hinaus eine weitere Komponente, die in die Analyse von popular culture einbezogen werden sollte. Eine solche Analyse sollte die Texte auch innerhalb des Feldes ihrer wirtschaftlichen Existenzbedingungen verorten, also ihr Augenmerk auf die Art und Weise richten, wie Texte hergestellt und verbreitet werden bzw. wurden, da sich die Produktionsweise und die Art der Distribution über verschiedene Medientypen wiederum auf ihre Rezeption auswirken27:
24 Letztere Sichtweise drückt sich laut Carroll (1998, 238) in Louis Althussers kulturtheoretischen Texten und den von ihm beeinflussten Arbeiten aus: "Reacting to the Althusserian approach in cultural studies, which seemed to entail that resistance to the ideology communicated by the products of the popular culture industry is impossible, Fiske set out in exactly the opposite theoretical direction." 25 Vgl. auch Fiskes (1989b, 151) Beispiel für eine nicht subversive populärkulturelle Praktik. 26 Vgl. dazu auch Storey (1998, xv). 27 Fiske (1989b, 158) stellt eine ähnliche Überlegung an, wenn er anmerkt: "To be popular, the commodities of the cultural industries must not only be polysemic – that is, capable of producing multiple meanings and 37
The consumer always confronts a cultural text or practice in its material existence as a result of determinate conditions of production. But in the same way, the text or practice is confronted by a consumer who in effect produces in use the range of possible meaning(s) – these cannot just be read off from the materiality of the cultured text or practice, or the means or relations of its production (Storey 2001, 191, Hervorhebung im Original). Aus diesem Grund warnt Storey davor, Produktion und Gebrauch des Textes durch seinen Konsumenten in der Analyse miteinander zu vermengen: For the purposes of detailed analysis they have to be artificially kept apart. We cannot understand consumption by collapsing it into production, nor will we understand production by reading it off consumption. Of course the difficulty is not keeping them apart, but bringing them into a relationship that can be meaningfully analyzed (Storey 2001, 190) Paul Willis (1990, 146) plädiert für eine dialektische Behandlung der Bereiche Gebrauch und Produktion: "Both are on a creative continuum, not broken between 'passive' and 'active'." Abschlieβend lässt sich festhalten, dass eine popular culture Analyse idealerweise die folgenden drei Komponenten, in die auch Michael Schudson (1998, 495f.) popular culture unterteilt, in dem dialektischen Verhältnis, in dem sie zueinander stehen, berücksichtigen sollte: "(a) the production of cultural objects, (b) the content of the objects themselves, and (c) the reception of the objects and the meanings attributed to them by the general population or subpopulations"
Zusammenfassung Popular culture Theorien: Storey (2001, 192): "Popular culture is what we make from the commodities and commodified practices made available by the culture industries." → Produkte der Kulturindustrie fungieren bei der Entstehung von popular culture als 'Rohmaterialien'. (Fiske 1989b, 35) → Untersuchungsgegenstand der popular culture Analyse: (a) die Produktion kultureller Objekte → Verortung dieser Objekte "within the field of their economic conditions of existence." (Storey 2001, 185) (b) der Inhalt dieser Objekte (c) die Rezeption dieser Objekte und die Bedeutungen, die ihnen von ihren Konsumenten zugeschrieben werden → Untersuchung von tertiären Texten (Fanfiction, Fanbriefe, Internetforen, Gespräche etc.)
pleasures – they must be distributed by media whose modes of consumption are equally open and flexible. Television, books, newspapers, records, and films are popular partly because their nature as media enable them to be used in ways in which the people wish to use them." 38
Charakteristika populärer Texte nach Fiske: Hauptkriterium: Produzierbarkeit ('producerly') Wortspiele (v.a. in Werbung, Schlagzeilen, Popmusik) Sensationalität, Offenkundigkeit, Exzessivität, Cliché Widersprüchlichkeit und Komplexität; Polysemie; Fähigkeit, eine Vielzahl von Bedeutungen und Arten von Vergnügen zu produzieren textuelle Armut, Unvollständigkeit, Leerstellen: spannungserzeugende Leerstellen auf Handlungsebene Aussparungstechnik Doppelte Lesart → 'leaky boundaries' → Texte müssen mittels intertextueller Lesepraktiken mit Hilfe von sekundären und tertiären Texten konsumiert werden → Kennzeichnung populärer Kultur durch Wiederholung und Serialität, die leichte Integrierung ins Alltagsleben der Konsumenten ermöglicht →Grenzen zwischen Alltagsleben und populärer Kultur zerfließen → Intensivierung dieses Vorgangs möglich durch 'spin off'' Produkte Relevanz für die unmittelbare soziale Situation der Konsumenten, aber nicht zwingend deren unmittelbare Spiegelung → repräsentionale Relevanz (z.B. in Fernsehserien): 'similarity' vs. 'difference', oder Symbiose aus beidem → diskursive Relevanz (z.B. in Quizsendungen, Regenbogenpresse etc.) Kurzlebigkeit: "As the social conditions of people change, so do the texts and tastes from which relevances can be produced" (Fiske 1989a, 6). Abb. 1
2.3 Hochkultur und Popularisierung Im vorausgegangenen Abschnitt wurden einige Kriterien zusammengestellt, die nach Darstellung von John Fiske die Chancen eines Textes auf populäre Verbreitung erhöhen. Im Fall von Texten, die diese Kriterien nicht oder nur eingeschränkt aufweisen, kann das populäre Potential allerdings durch Anwendung von Popularisierungsstrategien gestärkt werden. Dieser Vorgang ist häufig zu beobachten, wenn ein Werk der Hochkultur bzw. ein Werk, das Klassikerstatus erreicht hat, mittels einer Adaption für ein zeitgenössisches Publikum neu aufbereitet wird. Da der Popularisierungsbegriff zumeist im Zusammenhang 39 mit der Adaption von Hochkulturellem verwendet wird, soll im Folgenden kurz das Verhältnis zwischen hoher und populärer Kultur in der Postmoderne diskutiert werden. Das Beispiel 'Dickens' wird dann allerdings sehr bald zeigen, dass nicht nur Hochkulturelles popularisiert werden kann, sondern auch bereits Populäres, indem es noch weiteren Rezipientenkreise zugänglich gemacht wird.
2.3.1 Hochkultur in der Postmoderne Mit Aufkommen der Postmoderne scheint die Unterscheidung zwischen hoher und populärer Kultur schwieriger denn je geworden zu sein. Susan Sontag (1966, 302) erschien diese Unterscheidung bereits Mitte der 1960er Jahre "less and less meaningful". Laut John Storey zeigt sich in dieser Zurückweisung dessen, was Andreas Huyssen (1986, viii) als "the great divide ... [a] discourse which insists on the categorial distinction between high art and mass culture" bezeichnet hat, eine Auflehnung gegen das, what is seen as the cultural elitism of modernism. Modernism, in spite of the fact that it often quoted from popular culture, is marked by a deep suspicion of all things popular. Its entry into the museum and the academy was undoubtedly made easier [...] by its appeal to, and homologous relationship with, the elitism of class society. The postmodernism of the 1960s was therefore in part a populist attack on the elitism of modernism (Storey 2001, 148). Dieses Credo einer Einebnung der Unterschiede zwischen hoher und populärer Kultur blieb freilich für eine Vielzahl der seit den 1960er Jahren entstandenen Texte nicht ohne Folgen. Formulierte Andreas Huyssen im Jahr 1984 noch vorsichtig: A new creative relationship between high art and mass culture is, to my mind, indeed one of the major marks of difference between high modernism and the art and literature which followed it in the 1970s and 1980s both in Europe and the United States (Huyssen 1984, 23), so sprach er bereits zwei Jahre später dezidiert von einem Zerfließen der Grenzen zwischen "high art and mass culture" (Huyssen 1986, iv). In der darauffolgenden Dekade konstatierte Bourdieu (1999, 531 und 533), dass "die Logik der kommerziellen Produktion sich innerhalb der avantgardistischen Produktion [...] immer stärker durchsetzt" und "die Grenze zwischen dem experimentellen Werk und dem Bestseller [...] noch nie so unscharf" war. Ungefähr zur gleichen Zeit bemerken auch Jeremy Gibson und Julian Wolfreys (2000, 234f.), dass einer Vielzahl von postmodernen Texten der Spagat gelingt zwischen elitärer und populärer Kunst – "being both generally successful and receiving academic attention." Und zu Beginn des dritten Jahrtausends löst sich "[d]er Unterschied zwischen 'E' und 'U'" laut Winfried Gebhardt (2002, 287) gar auf "und mischt sich zum 'EU'." Gleichzeitig erkennt Hans Otto Hügel (2002, 40
53f.) weitgehende kulturelle Ausdifferenzierungen und das Versinken altgewohnter kultureller und künstlerischen [sic] Traditionen, das Auftreten von Stil und Genremischungen, die vertraute Erzählformen und Figuren in Frage stellen, und vor allem die – seit der transatlantischen Studentenrevolte – beschleunigte Auflösung eines dauerhaften Zusammenhangs zwischen sozial bestimmten Klassen oder Gruppen und ihren ästhetischen Rezeptions und Praxisgewohnheiten (Hügel 2002, 53f.). Dennoch hat sich in der Forschung die Ansicht, die Unterscheidung zwischen hoher und populärer Kultur sei "the 'un hip' assumption of an older generation" (Storey 2001, 149), bis heute nicht vollständig etabliert. Storey (2001, 169) vertritt am Ende seines Kapitels zum Postmodernism denn auch – leicht einschränkend – die Ansicht, es gebe keine absolute categorial difference between high and popular culture. This is not to say that one cultural text or practice might not be 'better' (for what/for whom, etc., must always be decided and made clear) than another cultural text or practice. But it is to say that there are no longer any easy reference points, to which we can refer, and which will automatically preselect for us the good from the bad (meine Hervorhebungen). Hügel hält noch etwas dezidierter an der Differenz zwischen hoher und populärer Kultur fest, was seiner Ansicht nach auch aus kulturtheoretischen wie historischen Gründen geboten ist. Denn: Zum einen machen wir nach wie vor Unterscheidungen und zum anderen bedeutet das Einebnen dieser Differenz eine Verarmung, da sie einen wesentlichen Motor unserer kulturellen Entwicklung außer Funktion setzt. Zwei Systeme zu haben ist besser als nur eines (ebd.). Auch Jostein Gripsrud (1998, 533) widerspricht der Annahme, die Unterscheidung zwischen hoher und populärer Kultur sei "outmoded and only kept alive in reactionary ideological rhetoric." Aus seiner Beobachtung: "[T]oday's university students and teachers may be devoted rock fans – while at the same time being readers of James Joyce and Friedrich Nietzsche" (ebd., 537) und aus der Anwesenheit des "PhD at the rock concert" (ebd.) schließt er lediglich, dass sich die Publika beider kultureller Sphären überlappen:28 "Some people have access to both high and low culture, but the majority has only access to the low one. (A diminishing minority has only access to high culture – that should not be forgotten either!)" (ebd.). Die Fähigkeit, zu beiden Sphären Zugang zu haben, bezeichnet Gripsrud als "class privilege; it does not mean that the socially operative distinctions between the two have
28 Ein Phänomen, das auch Scott McCracken (1998, 5) speziell im Bezug auf popular fiction feststellt: "It is [...] difficult in the late twentieth century to find a social class that prefers 'classic' to 'popular' fiction. [...] [T]he social groups that make up the audience for popular fiction are diverse and overlapping." Aus diesem Grund steht auch McCracken der Annahme von "clear boundaries between so called 'high' and 'low'cultures" (ebd.) skeptisch gegenüber. 41 ceased to exist" (ebd., 542): The dividing lines between between 'double access' and 'single access' audiences coincide with lines drawn on the basis of other significant social characteristics, such as income and education. (Age is also relevant here, as the most typical double access audiences are probably younger than, say, 50) (ebd., 537). Gripsruds Ausführungen lassen sich im Umfeld dessen ansiedeln, was Noel Carrol (1998, 176) als "Elimination Theory of mass art" bezeichnet. Dieser Theorie zufolge gibt es, wie Carrol darlegt, no formal features that distinguish popular art or mass art from other sorts of art, such as so called high art. Nor are there any recurring affective features (such as certain types of emotional responses) that will do the job either. For the Eliminativist, the distinction between popular art (and mass art as the relevant subcategory of popular art), on the one hand, and high art, on the other hand, has no structural, functional, formal, or ontological basis. Rather, the distinction is really a class distinction. So called high art is the art that is consumed by the members of the upper classes, and their consumption of high art is, in part, what signals their membership in that social stratum. Popular art and mass art are what everyone else cosumes, and likewise, their consumption of such art is a marker of their class affiliations. In short, the Eliminativist maintains that there is no such thing as popular art or mass art, apart from the role that certain objects play in marking and reinforcing certain class distinctions and class identities. Auch Storey (2002, 44) legt, wenngleich vorsichtiger und weniger ausschließlich, dar, dass sich die Zuordnung eines Produktes zum Bereich der hohen bzw. der populären Kultur nicht ausschlieβlich aufgrund von dessen textuellen Eigenschaften vornehmen lässt. Dennoch sprechen die von Hügel bebachteten "Stil und Genremischungen" in gegenwärtigen Texten (Hügel 2002, 54) gegen die Annahme, dass sich populäre bzw. Massenkultur und Hochkultur zumindest formal nicht unterscheiden lassen. Die Analyse von Popularisierungsprozessen mag einen Beitrag dazu leisten, Klarheit über dergleichen Phänomene zu gewinnen und verspricht Aufschluss darüber, in welcher Weise solche Prozesse zur in jüngerer Zeit verstärkt zu beobachtenden Vermischung von hoher und populärer Kultur beitragen.
2.3.2 Popularisierung Bei der Popularisierung von Artefakten der Hochkultur handelt es sich nach Darstellung von Andreas Huyssen (1986, 16) um ein keineswegs neues Phänomen: Ever since the failure of the 1848 revolution, the culture of modernity has been characterized by the contentious relationship between high art and mass culture. The conflict first emerged in its typical modern form in the Second Empire under Napoleon III and Bismarck's new German Reich. More often than not it has appeared in the guise of an irreconcilable opposition. At the same time, however, there has been a succession of attempts launched from either side to bridge the gap or at least appropriate elements of the other. 42
Als Beispiele dafür, wie "Hochkultur in großem Maße zirkuliert wird", nennt Winter (2003, 351) "[l]iterarische Klassiker, die verfilmt oder zum Comic Strip werden, Kunstzitate in der Werbung oder die Begeisterung der Wirtschaft für Kunst, die in Banken und Konzernen zur Ästhetisierung der Arbeitswelt beiträgt". Jim Collins (2002, 6) beobachtet seit den 1990er Jahren verstärkt auftretende "high pop phenomena", die für ihn eine Umkehrung der "Pop Art Era" der späten 1950er Jahre darstellen. Wenn nun die pop art Phase als "a matter of academy trained artists taking forms of popular iconography into the rarefied realm of museum art" (ebd.) betrachtet werden kann, so charakterisiert sich high pop für Collins durch die Umkehrung dieses Phänomens: "[H]igh culture' didn't stay put […]. It has become popular culture – Shakespeare's in love, with vengeance (Collins 2002, 3). Die Popularisierungsstrategien, die in solchen Fällen zur Anwendung kommen, können ganz erheblich dadurch unterstützt werden, dass Hochkultur – wie Collins betont – mittels der Marketingtechniken, derer sich auch die Produzenten populärer Kultur bedienen29 verbreitet wird. So bemerkt etwa auch Scott McCracken (1998, 21f.), dass, [w]hen a television production of George Eliot's 'classic' Victorian novel Middlemarch or a new film version of Jane Austen's Sense and Sensibility pushes the sales of those novels into the bestseller lists in Britain or the United States respectively, this is not just because readers had rediscovered the quality of the text through television or the big screen, but also because the text is being promoted as an image through postmodern marketing strategies. [...] Contemporary bestselling fiction may include nineteenth or twentieth century classics, but these have to be remade and reinterpreted as a bestseller in the present [...]. Allerdings sagt die „alleinige Untersuchung von Popularisierungsstrategien [...] über die Popularität eines Films noch nichts aus“ (Blaseio 2005, 247). Winter (2003. 350f.) weist darauf hin, dass der Erfolg der kommerziellen Strategien der Popularisierung davon ab[hängt], ob sich die angebotenen Waren für Taktiken des populären Gebrauchs eignen. Wenn sie Relevanz im Alltag der Konsumenten gewinnen und produktiv in der Schaffung von Bedeutungen und Vergnügen, die sich auf die eigene Existenz beziehen, eingesetzt werden können, werden sie Bestandtteil des Populären, das in der Lesart der Cultural Studies 'von unten' geschaffen wird. Die Popularisierung kann also nicht einfach von oben durchgesetzt werden, sie ist ein aktiver Prozess, welcher vom populären Widerstreit zwischen Strategien und Taktiken abhängt. Vornehmlich in Darstellungen zum Heritage Film bzw. dem costume drama ist statt von Popularisierung häufig von einer Orientierung am 'Mainstream' und damit am "kulturellen Geschmack einer groβen Mehrheit" (Wikipedia n.d.5) die Rede. Der Begriff 'Mainstream'
29 Ob Marketing als eigenständige Popularisierungsstrategie betrachtet werden kann, ist umstritten. Gereon Blaseio (2005, 247) betrachtet zumindest "Filmmarketing" als Popularisierungsstrategie. Jens Ruchatz (2005, 139) hingegen gibt zu bedenken, dass die "Anweisung, etwas populär zu machen [...] nicht nur den Akt der breiten Distribution an sich" bezeichnet, "sondern auch die erforderliche Formveränderung." 43 wird in popular culture Diskursen "als Abgrenzung zum Independent und entsprechenden Subkulturen" (ebd.) verwendet. Welche Strategien nun konkret zur Popularisierung literarischer Texte zur Verfügung stehen, wurde bislang noch nicht systematisch untersucht. Einige Popularisierungsstrategien lassen sich jedoch aus der Adaptionstheorie ableiten. Der Rückgriff auf die Adaptionstheorie ist durchaus sinnvoll und gerechtfertigt: Julie Sanders (2006, 18) diskutiert in ihrer Studie Adaptation and Appropriation Popularisierung gewissermaßen als Unterkategorie der Adaption, allerdings ohne den Begriff der Popularisierung explizit zu nennen. Sie macht deutlich, dass Texte unter anderem auch mit der Absicht adaptiert werden können, sie relevant oder zumindest leicht verständlich für neue Publika zu machen. Wie zuvor gezeigt wurde, muss ein Text, um überhaupt populär werden zu können, sich als relevant für seine Leserschaft erweisen. Wird nun mittels einer Adaption eines Textes versucht, die Relevanz dieses Textes für dessen potentielle Konsumenten zu verstärken oder gar erst herzustellen, kann diese Adaption als Popularisierung betrachtet werden. Vereinzelt wurde von Literaturwissenschaft, Linguistik und Geschichtswissenschaft auch bereits versucht aufzuarbeiten, welche Veränderungen an einem Text vorgenommen werden, der nicht für Film oder Fernsehen adaptiert wird, sondern dessen Adaption in einem neuen schriftlichen Text mündet. Gérard Genette diskutiert in Palimpsestes. La Littérature au Second Degré schriftliche Adaptionen litererarischer Texte. Er behandelt zunächst solche Adaptionen, die sich an ein junges Publikum richten. Selbst diese Ergebnisse lassen sich jedoch für die vorliegende Studie nutzbar machen, da ein Vergleich dieser Ergebnisse mit den von der Filmtheorie hervorgebrachten zeigt, dass die Unterschiede zwischen Adaptionen für Kinder oder Jugendliche und popularisierenden Adaptionen für andere Publika allenfalls graduell sind, wie Genette (1993, 317) selbst andeutet. Die Historikerin Dagmar Stegmüller (2003, 197ff.) hat die Popularisierung dreier narrativer historischer Texte untersucht und ist dabei zu Ergebnissen gelangt, die sich zumindest in Teilen und in leicht modifizierter Form auch auf die Popularisierung von belletristischer Literatur übertragen lassen, zumal Andreas Daum (1998, 322) mit seiner Diskussion von populärwissenschaftlichen "Texten, deren Charakter mit dem Begriff der Sachprosa kaum befriedigend bezeichnet werden kann" und deren Erzählform "die Grenzen zur Unterhaltungsliteratur ebenso wie zur Kinder und Jugendliteratur undeutlich werden" ließ (ebd., 331), zeigt, dass sich nicht fiktionale Texte im Zuge der Popularisierung fiktionalen Texten mitunter ohnehin annähern. Stegmüllers Analyse bezieht sich auf drei Werke des Historikers Friedrich Christoph Schlosser, nämlich dessen "Universalhistorische Uebersicht [sic] der Geschichte der alten Welt", dessen 44
"Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung" sowie dessen "Geschichte des 18. Jahrunderts". Diese wurden ab Mitte des Jahres 1843 von Schlossers Schüler Georg Ludwig Kriegk in populärer Form kompiliert und als "Weltgeschichte für das deutsche Volk" veröffentlicht (vgl. Stegmüller 2003, 199). Auch die von Stegmüller ermittelten Techniken der Popularisierung lassen sich nahtlos in den Katalog der von der Filmtheorie erarbeiteten Ergebnisse einfügen. Wie Sanders (ebd.) mit Bezug auf das filmische Medium ausführt, wird häufig mittels "the processes of proximation and updating" versucht, die Adaption eines literarischen Textes für seine Leser relevant zu machen: "[T]he 'movement of proximation' brings it closer to the audience's frame of reference in temporal, geographic, or social terms" (Sanders 2006, 21).30 Als Beispiel nennt Sanders (2006, 20) Baz Luhrmanns Hollywood Produktion William Shakespeare's Romeo and Juliet aus dem Jahr 1996: [U]pdating Shakespeare's early modern Veronese tragedy to a contemporary North American setting, Luhrmann retains the playtext's sense of urban gang feuding but accords it a troublingly immediate and topical resonance. Famously, the much mentioned swords and rapiers of Shakespeare's playscript become in Luhrmann's vividly realized Verona Beach the engraved monikers for the modern era's weapon of choice, the handgun. Gereon Blaseio (2005, 247) nennt konkret "das Aufgreifen und die Kombination gesellschaftlich virulenter Themen" im Zuge der Popularisierung. Auch die Ausführungen von Robert Stam (2005, 42), der ebenfalls Adaptionen für das Medium Film untersucht, lassen erkennen, dass ein Text ein updating erfahren kann, indem einige seiner Themenbereiche besonders betont bzw. in verstärkter Form präsentiert werden: At times, the adapter innovates by actualizing the adaptation, making it more 'in synch' with contemporary discourses. [...] Many revisionist adaptations of Victorian novels [...] 'de repress' them in sexual and political terms; a feminist and sexual liberationist dynamic releases the sublimated libidiousness and the latent feminist spirit of the novels and of the characters, or even of the author, in a kind of anachronistic therapy or adaptational rescue operation. Häufig werden bei einer popularisierenden Adaption auch diejenigen Elemente besonders hervorgehoben, die sich zuvor schon als die populärsten erwiesen haben. Stam (2005, 34) nennt als Beispiel Adaptionen von Daniel Defoes Robinson Crusoe: Most film versions of Robinson Crusoe [...] skip over the early chapters in order to rush to what they see as the 'core' elements of the story: the shipwreck, the island, and the encounter with Friday.
30 Beachtenswert ist, dass hier von einem 'Näherbringen' des Textes an das Referenzsystem seiner Rezipienten die Rede ist, es wird keineswegs gefordert, dass sich der Inhalt des Textes mit den sozialen Erfahrungen des Rezipienten decken muss. In Kapitel 2.2. dieser Arbeit wurde bereits festgestellt, dass ein Text die Alltagserfahrungen des Rezipienten nicht zwingend spiegeln muss, um sich für ihn als relevant zu erweisen. 45
Das Hervorheben und Betonen bestimmter Textelemente bedingt die bewusste Streichung anderer Textpassagen. Dies geht in filmischen wie in schriftlichen Medien häufig einher mit einer Reduktion der Anzahl der Charaktere, wie Genette (1993, 344) am Beispiel der von Charles und Mary Lamb angefertigten Tales from Shakespear zeigt: "Die Notwendigkeit, die Handlung zu konzentrieren, führt zur Beseitigung einiger Nebenrollen, die entweder nützlich sind wie Rodrigo in Othello oder pittoresk wie die Amme Julias." Zu diesem wenig überraschenden Ergebnis gelangt wiederum auch Dagmar Stegmüller (2003, 205): "Die schwindelerregende Zahl von Akteuren [...] wird zurechtgestutzt auf die für den Fortgang der Handlung entscheidenden Personen." Darüberhinaus wird die Vorlage, wie Stam (2005, 34) darlegt, zum Zwecke der Adaption zumeist um Materialien gekürzt, die nicht direkt mit der Handlung des Textes verknüpft sind und den Fortgang der Erzählung aufhalten – "the literary critical commentaries in Don Quixote or Tom Jones, the intercalary essay chapters in The Grapes of Wrath, the meditative portions of Moby Dick". Mit Bezug auf das schriftliche Medium kommt Genette (1993, 316), der zunächst schriftliche Adaptionen des Robinson Crusoe Stoffes für Kinder als Beispiel diskutiert, zu einem ähnlichen Ergebnis. Er konstatiert "eine Weglassung der ersten Abenteuer (vor dem Schiffbruch) und der letzten (nach dem Aufbruch) [...] und erst recht all dessen, was der zweite Teil hinzufügte." Daniel Defoes Robinson Crusoe stellt dabei keinen Einzelfall dar: Auch von anderen Romanen der Weltliteratur existieren gekürzte Versionen, die sich vornehmlich an ein junges Publikum richten: Don Quijote wird um seine Reden, Abschweifungen und zugetragenen Neuigkeiten erleichtert, Walter Scott oder Fenimore Cooper um ihre historischen Details, Jules Verne um seinen beschreibenden und didaktischen Schmus; allenthalben auf ihr erzählerisches Gerüst reduzierte Werke, auf eine Abfolge oder Verkettung von 'Abenteuern' (Genette 1993, 317). Solche Gewichtungen und die damit verbundenen Kürzungen stützen sich auf das zuvor beobachtete Leseverhalten des Publikums: Selbst in der Gesamtausgabe gehen viele Leser rasch über die prä und postinsularen Abenteuer des Helden hinweg. Und diese alles andere denn grundlose spontane Untreue beieinträchtigt auch die "Rezeption" so mancher anderer Werke: Wie viele Leser von Le Rouge (Rot und Schwarz) oder der Chatreuse (Die Kartause von Parma) [...] bringen dem übrigen Werk soviel Aufmerksamkeit entgegen wie den 'Episoden' um Madame de Fervacques oder um Fausta? Und wie viele lesen die Recherche (Suche nach der verlorenen Zeit) gewissenhaft und kontinuierlich? (Genette 1993, 316).31
31 Neben seinen Ausführungen über Adaptionen weltliterarischer Stoffe für Kinder und Jugendliche nennt 46
Anhand der von ihr untersuchten Texte gelangt Dagmar Stegmüller (2003, 206) zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie erkennt eine Erleichterung der von ihr analysierten Erzählung um "Details, die nicht ins Geschehen zurückführen, die eher den Wegesrand säumen". Zudem konstatiert sie die Streichung einzelner Kapitel, "weil sie zuviel voraussetzen und deshalb zuviel Erklärung beanspruchten" (Stegmüller 2003, 207). In der Absicht, dem Rezipienten einer popularisierenden Adaption einen Zugang dazu unabhängig von der Höhe seines kulturellen Kapitals zu ermöglichen, verfolgen die Produzenten solcher Adaptionen zumeist auch das Ziel, diese Stoffe leicht verständlich darzubieten (vgl. Sanders 2006, 19). Wie Michael Pointer (1996, 4) betont, ist dies im Fall des filmischen Mediums von besonderer Wichtigkeit: The form of a motion picture requires a story to be advanced in an easily comprehensible manner, for there is no opportunity to go back and reread a few pages, to return and savor again the delights of a particularly enjoyable passage, or to make onself more familiar with the development of the plot. Diese Notwendigkeit resultiert, wie Stam (2005, 43) formuliert, häufig in einem "aesthetic mainstreaming" der Vorlage: Most of the manuals [on screenwriting and adaptation] show a radical aversion to all forms of experimentation and modernism. They almost invariably recommend adapting the source along the lines of the dominant model of storytelling [...] The recycled, suburbanized Aristotelianism of the screenwriting manuals calls for three act structures, principal conflicts, coherent (and often sympathetic) characters, an inexorable narrative 'arc' and final catharsis or happy end.32 The schema is usually premised on combat between highly motivated, competitive characters [...]. Everything becomes subordinated to a teleology as relentlessly purposeful as the Fate of classical tragedy. [...] The goal seems to be to 'de literize' the text, as the novel is put through an adaptation machine which removes all authorial eccentricities or 'excesses'. Adaptation is seen as a kind of purge. In the name of mass audience legibility, the novel is 'cleansed' of moral ambiguity, narrative interruption, and reflexive meditation.
Genette (1993, 317) auch ein Beispiel für einen Text, der nicht speziell für ein junges Publikum adaptiert und gekürzt wurde. Genettes Formulierungen verdeutlichen, dass die Kürzungen durchaus mit der Absicht vorgenommen wurden, die Relevanz des Stoffes für das anvisierte Publikum zu verstärken: "Im 18. Jahrhundert fertigte Houdar de la Motte eine französische Fassung der Ilias in zwölf (von vierundzwanzig) Gesängen an, die nicht bloβ die Hälfte, sondern gut zwei Drittel des homerischen Textes weglieβ: redundante und ermüdende, dem klassischen Geschmack nicht recht entsprechende Kämpfe, und sich dadurch als recht weit von der epischen Haltung entfernt erwies: Verjagt man aus einem Epos die Schlachten und Wiederholungen, so zeigt man unfehlbar seine Abneigung gegen die Hauptsache seines Stoffes und seines Stils an. Aber nicht jede Epoche ist gezwungen, jede Gattung zu schätzen, und die Iliade en douze chants zeugt recht gut vom Geschmack dieser Epoche" (meine Hervorhebungen). 32 Vgl. dazu auch Bourdieu (1982, 64): "Woran sich das populäre Publikum in Film und Theaterstück delektiert, das sind logisch und chronologisch auf ein happy end hin angelegte Intrigen; worin es sich 'wiederfindet', sind die einfach gezeichneten Situationen und Charaktere – und nicht jene mehrdeutigen, symbolischen Figuren und Handlungen oder rätselhaften Probleme à la Das Theater und sein Double, einmal ganz zu schweigen von der irrealen Realität des mitleiderregenden 'Helden' Becketts oder den befremdlich banalen oder unerschütterlich absurden Konversationen eines Pinter." 47
Ähnlich konstatiert Stegmüller (2003, 206) eine "Vereindeutigung des Geschehens", die im Fall der von ihr untersuchten Texte mittels einer "Objektivierung des Sprachgebrauchs" vorgenommen wird: Personen etwa, die in der Vorlage mit einer Regelung 'nicht so zufrieden' schienen, sind jetzt unzufrieden. [...] Man wird kaum sagen können, dass jeder Konjunktiv in einen Indikativ verwandelt wird und jedes 'vielleicht' in ein 'jedenfalls' [...], aber der Tendenz nach weicht die sich annähernde Vorsicht der Gelehrtensprache einem dezidierten Ton (ebd., 206, Hervorhebungen im Original). Im Zuge dieser Vereindeutigung erfolgt auch eine Eliminierung dessen, was als unsicher gilt: "Die Forschung produziert hier keine Schwebezustände, sie kennt keinen Zwiespalt, keine Widersprüche. Auch wo sie nichts weiß, ist sie sicher" (ebd., 207). Wie Stams (2005, 43) weitere Ausführungen deutlich machen, wird bei popularisierenden Adaptionen zudem häufig darauf geachtet, den Text durch entsprechende Kürzungen bzw. Betonungen nicht nur relevanter und leichter verständlich für sein potentielles Publikum zu machen, sondern ihn auch aller Elemente zu entkleiden, die von eben diesem Publikum eventuell als anstößig empfunden werden könnten: Contemporary Hollywood films tend to be phobic toward any ideology regarded as 'extreme', whether coming from left or right. [...] Hollywood adaptations often 'correct' their sources by purging the source of the 'controversial' (for example, the lesbianism of The Color Purple) or the revolutionary (the socialism of The Grapes of Wrath) [...]. Das Vorhaben, die Relevanz eines Textes für sein anvisiertes Publikum zu verstärken bzw. ihn für sein Publikum leichter verständlich oder weniger anstößig zu machen, kann indes außer in Kürzungen bzw. Umgestaltungen auch in mehr oder weniger dezenten und mehr oder weniger umfangreichen Ergänzungen an der Vorlage resultieren. Stam (2005, 43) erkennt eine Ergänzung der Roman Vorlage im Dienste der Popularisierung in Steven Spielbergs The Color Purple: "The 'reconciliation scene' between Shug and her preacher father [...], non existent in the novel, nudges the film in a more patriarchal direction by making Shug less bisexual, less rebellious and independent." Ähnliches konstatiert Genette (1993, 344) für Adaptionen in Schriftform. Er spricht im Fall von Charles und Mary Lambs Tales from Shakespear von positive[n] Eingriffe[n], die schockierende oder überraschende Verhaltensweisen erklären sollen: hinter dem Ehrgeiz von Macbeth steckt seine Frau, und die Eifersucht Othellos ist einigermaβen begründet und durch die Unvorsichtigkeit Desdemonas entschuldigt. Was Adaptionen für das filmische Medium betrifft, so kann auch die Besetzungsliste in den Dienst der Popularisierung gestellt werden, wie Julie Sanders (2006, 21) am Beispiel des 48
Films Hamlet, bei dem Franko Zeffirelli Regie führte, erläutert: "[The casting] brought to bear a selfconscious act of intertextuality with the world of film action heroes, in particular the specific brand, represented by his Hamlet, Mel Gibson." Speziell im Fall von Popularisierungen durch Klassikerverfilmungen gesteht auch John Caughie (2000, 224) den Schauspielern eine bedeutsame Rolle zu, da über sie ebenfalls eine Art updating erfolgen kann: However much the classic serial may lovingly recreate the past with a profusion of detail, the body of the actor is stubborn: the furniture may be authentic nineteenth century, but the body of the actor and its gestures are our contemporary (meine Hervorhebung). Im Hinblick auf die Relevanz der Verfilmung für ihren Rezipienten ist im Zusammenhang mit den auftretenden Schauspielern zudem noch eine weitere Tatsache von Bedeutung, die Caughie (2000, 22) ebenfalls anspricht: Repetition – the fact that television is there, week in, week out, and actors appear repeatedly in different roles and with different functions – means that the television actor is more likely to carry a history with him. Bill Patterson, for example, moves in a single week between the impersonation of dramatic acting and the authority of documentary voice over. Or the celebrity actor who moves between commercials, game shows, and drama. Or Anita Dobson and Leslie Grantham who will always carry the memory of an earlier life in EastEnders. Television acting is layered with little histories which give no purchase to the theoretical divisions of identification and distance, and make watching the actor acting a complex and diverse process. Es ist davon auszugehen, dass diese 'little histories', die durch das Auftreten bekannter und populärer Schauspieler in neuen Rollen aktualisiert werden, auch dazu beitragen können, eine Verfilmung für ihre Rezipienten relevant zu machen. Diese Form der Relevanz könnte in Anlehnung an Fiskes Terminologie als 'diskursive Relevanz' bezeichnet werden. Etwas allgemeiner bezeichnet Gereon Blaseio (2005, 247) den "Rückgriff auf Stars" als Popularisierungsstrategie. Freilich werden Popularisierungsstrategien nicht in allen mainstream orientierten Hollywood Filmen in gleichem Ausmaß und in gleicher Intensität eingesetzt. Wie der Roman und Drehbuchautor Russell Banks (2001, 17) ausführt, spielt dabei auch die Höhe des Budgets eine Rolle: [S]omewhere around fourteen million dollars you have to put white hats on the good guys and black hats on the bad guys. It's practically an immutable law of filmmaking. Fourteen million dollars, adjusted to inflation, is the point where you're told by the person with the checkbook: no more shades of gray, no more contradictions, no more ambiguities (meine Hervorhebungen). Die Diskussion von Strategien, die den unterschiedlichen Medien zur Popularisierung eines Textes zur Verfügung stehen, zeigt zum einen, dass eine Vielzahl dieser Strategien als 49 medienübergreifend betrachtet werden können. Zum anderen lässt die Mannigfaltig und Unterschiedlichkeit der in diesem Kapitel angeführten Beispiele für Popularisierungsstrategien darauf schließen, dass das, was Gudrun Wolfschmidt (2002b, 10) für die weitaus besser erforschte Popularisierung der Naturwissenschaften postuliert, nämlich dass Popularisierung "stets vielschichtig" abgelaufen sei, auch für die Popularisierung von Kultur gilt.33 Oder, wie Andreas Daum (1998, 25) zusammenfasst: "Popularisierung – ein Singular, der eine Vielzahl von Prozessen begrifflich bündelt." Die Adaption eines Textes mit populärem Potential kann sich dahingehend popularisierend auswirken, dass durch sie ein literarischer Stoff einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird. Wie Clive Bloom (2002, 36) deutlich macht, kann eine solche Adaption zudem bewirken, dass ihr Publikum durch sie auch einen Zugang zum der Verfilmung zugrunde liegenden Originaltext findet: The two arts, or forms of expression, the picture and the written word in book form, react one on the other. Imagination, stimulated by the film, is yet not satisfied until its story is wholly absorbed. In a word, the film goer wishes also to read the book of the film, and the reader to see the picture. Da sich unter den in dieser Arbeit zu analysierenden Verfilmungen sowohl Produktionen für das Kino als auch solche für das Fernsehen finden, ist nun noch zu fragen, inwieweit Unterschiede zwischen diesen beiden Medien bei der Analyse von Popularisierungsprozessen mitzuberücksichtigen sind. Die Unterschiede zwischen Kino und Fernsehproduktionen hat John Ellis (1992[1982]) herausgearbeitet. Seinen Analysen zufolge hat das Fernsehen eigene ästhetische Formen entwickelt: Instead of the single, coherent text that is characteristic of entertainment cinema, broadcast TV offers relatively discrete segments: small sequential unities of images and sounds whose maximum duration seems to be about five minutes. These segments are organised into groups, which are either simply cumulative, like news broadcast items and advertisements, or have some kind of repetitive or sequential connection, like the groups of segments that make up the serial or series. Broadcast TV narration takes place across these segments (Ellis 1992[1982], 112). Die Notwendigkeit, eine Fernseherzählung in Segmente zu gliedern, hängt mit dem häuslichen Umfeld zusammen, in dem das Medium rezipiert wird: "Given this setting, and the multiple distractions that it can offer, broadcast TV cannot assume the same level of attention from its viewers that cinema can from its spectators" (Ellis 1992[1982], 115).34
33 Für die Dynamik des Verhältnisses zwischen hoher und populärer Kultur, die hier deutlich wird, spricht weiterhin, dass auch die Umkehrung von Popularisierung in kulturellen Praktiken beobachtet werden kann. "The working of Kitsch into art can indeed result in high quality works", bemerkt etwa Andreas Huyssen (1986, ix). Hügel (2002, 68) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff "Verkunstung". 34 Diese Beobachtung macht auch Constance Cox, die in den 1960er Jahren für eine Reihe von seriellen 50
Auch Programme, die verglichen mit Nachrichten, Werbung und Titelsequenz sehr kohärent wirken, können als Abfolge von Segmenten betrachtet werden: "This segmentalisation takes the form of a rapid alternation between scenes and a frequent return to habitual locations and situations rather than any sustained progression through sequential logic of events" (Ellis 1992[1982], 120). Daraus ergibt sich, dass die Konzentration des Zuschauers vom Fernsehen nicht im selben Maβ gefördert wird wie vom Kinofilm: "There is no surrounding darkness, no anonymity of the fellow viewers, no large image, no lack of movement amongst the spectators, no rapt attention. TV is not usually the only thing going on, sometimes it is not even the principal thing" (Ellis 1992[1982], 128).35 Nach Darstellung von Ellis hat dies zwei wichtige Konsequenzen: First, the role that sound plays in TV is extremely important [… and] stems from the fact that it radiates in all directions, whereas the view of the TV image is sometimes restricted. [...] Hence the importance of programme announcements and signature tunes and, to some extent, of music in various kinds of series. Sound holds attention more consistently than image, and provides a continuity that holds across momentary lapses of attention. The result is a slightly different balance between sound and image from that which is characteristic of cinema. Cinema is guaranteed a centred viewer by the physical arrangement of cinema seats and customs of film viewing. Sound therefore follows the image or diverges from it. The image is the central reference in cinema. But for TV, sound has a more centrally defining role. Sound carries the fiction or the documentary, the image has a more illustrative function (Ellis 1992[1982], 128f.). Die zweite wichtige Konsequenz, die die mangende Konzentration des Zuschauers auf das Fernsehbild hat, besteht in einer relativen Einfachheit bzw. Kargheit desselben: Contrasting with cinema's profusion (and sometimes excess) of detail, broadcast TV's image is stripped down, lacking in detail. [...] Being small, low definition, subject to attention that will not be sustained, the TV image becomes jealous of its meaning. It is unwilling to waste it on details and inessentials. So background and context tend to be sketched rather than brought forward (Ellis 1992[1982], 130). Aus dieser Entleertheit des Fernsehbildes leitet Ellis die Vorliebe des Mediums für "close ups of people, which are finely graded into types" ab:
Dickens Verfilmungen die Drehbücher verfasste, und schon damals erklärte: "One must bear in mind that viewers do not always sit down uninterrupted to watch, and if one is too mysterious they may become weary of the effort to follow a turtuous plot from weak to weak" (Zitiert nach Pointer 1996, 83f.). 35 Vgl. dazu Walter Nutz (1999, 317), der denselben Sachverhalt ex negativo formuliert: "Mit schnellen Filmschnitten kommt man den Konzentrationsschwierigkeiten der Zuschauer entgegen. Aus der Psychologie des Kindes weiβ man, dass es schnell von einem Spielzeug zum anderen wechselt, da das noch nicht ausgebildete Konzentrationsvermögen die Beharrlichkeit ein 'einziges' Problem tiefer zu ergründen, noch nicht kennt. Ähnlich verhält sich der heutige Rezipient. Auch beim Übergang von einer Filmdarbietung zur anderen bei einem einzigen Sender lässt die Regie oft den Abspann oder gar einen Teil des Filmabschlusses weg – nicht nur wegen der Angst, dass der Rezipient sofort einen anderen Sender anzappt, sondern auch darum, weil man voraussetzt, dass die meisten Zuschauer das Gesehene nicht reflektieren oder reflektieren wollen und gleich zum 'nächsten' greifen." 51
Close ups are regularly used in TV, to a much greater extent than in cinema. They even have their own generic name: talking heads. The effect is very different from the cinema close up. Whereas the cinema close up accentuates the difference between screen figure and any attainable human figure by drastically increasing its size, the broadcast TV close up produces a face that approximates to normal size. Instead of an effect of distance and unattainability, the TV close up generates an equality and even intimacy (Ellis 1992[1982], 131).36 Es spricht allerdings auch einiges dafür, die hier dargelegten Unterschiede nicht überzubewerten. Ellis selbst räumt ein: Within the context of the segment and series, broadcast TV can, at particular moments, adopt a form that corresponds much more closely to that of cinema. Broadcast TV can present a single work that has a high degree of internal coherence and patterns of repetition and innovation. Broadcast TV does use the model of the Hollywood film. It does so in two ways. First, it transmits films, which provide it with a convenient form of raw material. Second, it produces 'TV films' or 'special presentations' or 'single plays'. These are the area of broadcast TV which aims most directly towards cultural respectability (Ellis 1992[1982], 116). Heinz Ungureit (1992, 200) weist dezidiert auf die Tatsache hin, dass eine Vielzahl von Kino und Fernsehproduktionen problemlos auch für das Medium verwendbar sind, für das sie nicht in erster Linie konzipiert wurden: Steven Spielberg hat seinen ersten Film 'Duell' als movie for television gemacht. Er ist deshalb nicht schlechter fürs Kino als seine späteren 'Kinofilme', die wiederum auch im Fernsehen enormen Erfolg haben. Doris Dörrie hat 'Männer' als Fernsehspiel zur sofortigen Ausstrahlung im TV Programm realisiert. Es wurde ihr gröβter Kinoerfolg. Ingmar Bergmans 'Szenen einer Ehe' war nur fürs Fernsehen gedacht und gemacht. Mit dem Zusammenschnitt fürs Kino hatte er einen gröβeren Erfolg als mit all seinen 36 Kinofilmen vorher. Allerdings hat die Ausstrahlung von Kinofilmen im Fernsehen und umgekehrt durchaus einen Einfluss auf die Qualität von deren Rezeption, wie Knut Hickethier (1982, 117f.) zu bedenken gibt: In der Tat wird die Wirkung des K[inofilms] im Fernsehen durch die Verkleinerung auf dem Bildschirm, die Reduktion von Farbe, Helligkeitswerten, Musik gemindert. Der Kontrastumfang ist verringert, Grauwerte und Farbvaleurs stimmen häufig nicht, schlieβlich entspricht auch das Format des Fernsehbildes nicht den unterschiedlichen Filmformaten. Während die Vorführung im Kino durch die völlige Konzentration des Zuschauers auf das übergroβe Bild im sonst abgedunkelten Kinoumraum [sic] die
36 Die hier diskutierten Unterschiede in der Rezeptionsweise von Kino und Fernsehproduktionen spiegeln sich nach Ansicht von Ellis auch darin nieder, dass im englischen Sprachgebrauch unterschiedliche Termini für die Bezeichnung des Publikums von Kino und Fernsehen verwendet werden: "TV's regime of vision is less intense than cinema's: it is a regime of the glance rather than the gaze. [...] The very terms we habitually use to designate the person who watches TV or the cinema screen tend to indicate this difference. The cinema looker is a spectator: caught by the projection yet separate from its illusion. The TV looker is a viewer, casting a lazy eye over proceedings, keeping an eye on events, or, as the slightly archaic designation had it, 'looking in'" (Ellis 1992[1982], 137).
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Filmwirkung intensiver werden lässt, wird diese im Fernsehen eher gemindert. Der Zuschauer nimmt den Film, der eingebettet ist in einem die Wirkung in der Regel nivellierenden Programmzusammenhang, zumeist beiläufiger wahr. Die Filmwahrnehmung wird nur selten zum Erlebnis. Dies ist nicht nur negativ zu sehen: verhält sich doch der Zuschauer dem Film im Fernsehen gegenüber souveräner, oft auch toleranter, was die filmische Benutzung nicht konventioneller Erzählmuster angeht. Das gewichtigste Argument, die Bedeutung der Unterschiede zwischen den Medien Kino und Fernsehen nicht zu hoch zu veranschlagen, liefert Heinz Ungureit (1992, 197). Er zitiert die Äuβerungen zweier "respektable[r] Drehbuchautoren (und Regisseure)", die deutlich machen, dass auf der Produktionsseite diese Unterschiede keineswegs immer berücksichtigt, ja zuweilen nicht einmal reflektiert werden. Diese beiden Filmschaffenden sagten in einem Autoren Seminar dies: 'dass es sich immer wieder erwiesen hat, dass Kino in der sehr radikalen Abgrenzung vom Fernsehen etwas ist, was mit Genre zu tun hat' (Hans Christoph Blumenberg); 'wobei ich die Unterscheidung zwischen von Fernsehfilmen, Kino und anderen Filmen nicht ausmachen kann. Es ist mir bisher auch nicht gelungen, jemanden zu finden, der mir diesen Unterschied erklären könnte' (Eberhard Fechner). Die Unterschiede zwischen beiden Medien sollen im Analyseteil dieser Arbeit mitbedacht und dort thematisiert werden, wo sie sich auf die Popularisierung des jeweils zu besprechenden Textes auswirken. Die wichtigste Konsequenz der hier dargelegten Beobachtungen für die Analyse von Popularisierungsprozessen scheint darin zu liegen, dass im Fall von Popularisierungen für das Medium Fernsehen aufgrund der unterschiedlichen Rezeptionsvoraussetzungen im Vergleich zum Kino möglicherweise mit einer noch gröβeren Vereinfachung und Vereindeutigung des Geschehens zu rechnen ist, als dies beim Kinofilm der Fall ist, unterstützt durch häufige Szenenwechsel, die sich aus der Segmentstruktur des Fernsehens ergeben und die der bei der Fernsehrezeption häufig geringeren Aufmerksamkeit und Konzentration des Zuschauers entgegenkommen.
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Überblick Popularisierung: Simon (1999, 9): "[H]ow a story is presented to a reader determines at least in part how the reader will respond to it." → Unterstützung von Popularisierungsstrategien durch popular culture Marketingtechniken. Popularisierungsstrategien: • 'Proximation' und 'Updating': "[T]he 'movement of proximation' brings [the text] closer to the audience's frame of reference in temporal, geographic, or social terms" (Sanders 2006, 21). → Übertragung der Handlung in ein zeitgenössisches Setting → Betonung bestimmter Elemente des Originaltextes Elemente, die sich mit aktuellen Diskursen in Einklang bringen lassen Elemente, die sich zuvor schon als populär erwiesen haben und Streichung von Elementen, die diese Kriterien nicht erfüllen. • Streichung von Elementen, die nicht direkt mit der Handlung verknüpft sind, den Fortgang der Erzählung aufhalten oder zuviel voraussetzen • Reduktion der Anzahl an Charakteren • 'aesthetic mainstreaming' der Vorlage: Vermeidung von Experimentellem und Modernistischem, De Literarisierung des Textes, Bildung eines 'inexorable narrative arch' • Vereindeutigung des Geschehens: → 'Principal conflicts' → Eliminierung von Widersprüchlichem → Kohärente Gestaltung der Charaktere → Schlussendliche Katharsis oder Happy End • Vermeidung von Anstöβigem • Ergänzung von Elementen, die die genannten Strategien unterstützen • Gezielter Einsatz populärer Schauspieler Abb. 2
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3 Charles Dickens: Popularität und Popularisierung von 1836 bis in die 1990er Jahre 3.1 Dickens' Popularität bei seinen zeitgenössischen Lesern am Beispiel der Pickwick Papers 3.1.1 Ökonomische und soziologische Voraussetzungen für Dickens' Popularität Im vorausgegangenen Kapitel dieser Arbeit wurde unter anderem auch die Notwendigkeit betont, die Produkte der Kulturindustrie innerhalb des Feldes ihrer wirtschaftlichen Existenzbedingungen zu verorten. Das Beispiel Dickens verdeutlicht überdies, dass popular culture Phänomene, sollen sie fruchtbar analysiert werden, nicht nur vor dem Hintergrund ihrer ökonomischen, sondern auch ihrer soziologischen Existenzbedingungen betrachtet werden müssen. Dickens' kommerzieller Erfolg als Schriftsteller wäre kaum möglich gewesen ohne das ungefähr gleichzeitige Aufkommen eines Massenpublikums für Literatur, dessen Entstehung Richard D. Altick (1957, 3) wie folgt erläutert: "Far from being an isolated phenomenon, it was the resultant of many forces, most of which – political, religious, economic, technological – seem at first glance to have little bearing on the growth of the reading habit." Den Beginn dieses Zeitalters populärer Literatur legt Altick in die 1830er Jahre – bezeichnenderweise also in eben jene Dekade, in der Dickens mit seinen ersten Romanen populäre Erfolge erzielte. "In preceding centuries, some handworkers and some members of the lower middle class had been readers; but not until the nineteenth century did the appetite for print permeate both classes to the extent that it became a major social phenomenon" (Altick 1957, 7) Die Notwendigkeit, auch für die Arbeiterklasse eine grundlegende Schulbildung vorzusehen, wurde erst in den 1790er Jahren erkannt. Die Zahl der Analphabeten ging daraufhin im Lauf des 19. Jahrhunderts immer weiter zurück (vgl. Altick 1957, 141 und 172). Im Zusammenhang mit dem Aufkommen von Leihbibliotheken schon während des 18. Jahrhunderts sowie dem Genre, das sich für diese schnell als das einträglichste erweisen sollte, nämlich dem des Romans, spricht Altick (1957, 63) von einer Literatur Demokratisierung, die im 19. Jahrhundert zu ihrer vollen Blüte gelangte: "Never before in English society had so many people read so much" (Altick 1957, 5). Auch für Barbara und J.L. Hammond (1962, 314) sind die 1830er und 1840er Jahre durch das Sich Ausbreiten einer 'Leseleidenschaft' ("passion for reading") gekennzeichnet. Wie Altick (1957, 5) betont, revolutionierte diese Literatur Demokratisierung die viktorianische Kultur in einem beträchlichen Ausmaβ: "No longer were books written chiefly for the comfortable few; more and more, as the century progressed, it was the ill educated mass audience with pennies in its pocket that called the tune to which writers and editors danced." Dass die gerade entstehenden Lesebedürfnisse der Arbeiterklasse zufrieden gestellt werden konnten, wurde allerdings erst durch eine Reihe von ökonomischen Entwicklungen 55 ermöglicht: The steam press meant that thousands of copies could be produced, and the railways created the means of wide distribution. These factors, combined with developments in the cheap production of paper and government legislation which lowered paper costs and reduced tax on advertising revenue, created the popular press and mass produced journalism (Giddings 1983b, 11).37 Es kann also festgehalten werden, dass erst kurz bevor Dickens seine schriftstellerische Tätigkeit aufnahm, durch die Möglichkeit der kostengünstigen Papierherstellung und den allmählichen Rückgang des Analphabetismus innerhalb der Arbeiterklasse die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für den Massenerfolg von Literatur geschaffen wurden. Dickens verstand es meisterhaft, diese Voraussetzungen für seine Zwecke zu nutzen – wie Axton (1976, 27) hervorhebt: "He alone was capable of speaking authoritatively to a mass audience through the first technological developments of modern mass communications: the machine driven press, cheap pulp paper, and rapid general distribution of printed matter." Auch Q.D. Leavis (1932, 152) betont Dickens' Bedeutung für die Entwicklung des Romangenres zum Massenmedium: The turn of those who early in the century were [...] deprived of the novels of fashion came with Dickens and periodical publication – a form in which Pierce Egan's Tom and Jerry swept the town in 1821, causing Pickwick to be written. The instalments in sum only reduced the price of the entire novel by a third, but it meant an immediate outlay of only a shilling and a half; Pickwick sold 40,000 copies a number, and for twenty five years novelists published in paper covered parts.
3.1.2 Dickens‘ klassenübergreifende Popularität War das Echo auf die ersten drei instalments der Pickwick Papers noch recht verhalten (vgl. Ford 1955, 5) – nach Angaben von Louis James (1963, 47) wurden pro Folge lediglich etwa 400 Exemplare abgesetzt – begann sich das Blatt ab der vierten Fortsetzung zu wenden: "[W]ith the appearance of Sam Weller in the fourth number, [this novel] caught the public imagination. By the fifteenth number it was selling 40,000 copies a week" (James 1963, 47). Die Pickwick Papers gerieten, wie George H. Ford (1955, 6) berichtet, zum "most sensational triumph in nineteenth century publishing" – "[m]ore than Childe Harold or Waverley, more than Adam Bede or The Heir of Redclyffe in later years." 1837 schrieb die Schriftstellerin
37 Vgl. dazu auch Alice Jenkins und Juliet John (2000b, 2f.): "Developments in the publishing trade in the 1820s and 1830s meant that books and newspapers were expanding their readership, moving further down the social ladder in the early Victorian period than ever before. Until 1830, the cheap fiction market had largely been left to small and disreputable publishers such as the Minerva Press, but in June 1829 when Tom Cadell issued the Author's Edition of the Waverley novels in five shilling volumes, 'he inaugurated the vogue of inexpensive recent fiction imprints'. In 1831, Colburn and Bentley's Standard Novels were published at six shillings each. These developments began a sharp fall in book prices, leading to a broader readership, a trend which continued until 1850." 56
Mary Russell Mitford an eine Freundin in Irland, die, was die Verfasserin des Briefes sehr überraschte, noch nie etwas von Mr. Pickwick gehört hatte: I did not think there had been a place where English is spoken to which 'Boz' had not perpetrated. All the boys and girls talk his fun – the boys in the streets; and yet those who are of the highest taste like it the most. Sir Benjamin Brodie [the eminent surgeon] takes it to read in his carriage, between patient and patient; the Lord [Chief Justice] Denman studies Pickwick on the bench while the jury are deliberating. Do take some means to borrow the Pickwick Papers. It seems like not having heard of Hogarth, whom he resembles greatly, except that he takes a far more cheerful view, a Shakespearean view, of humanity (z.n. Collins 1974b, 7). Diese Charakterisierung der Pickwick Leserschaft verdeutlicht die klassenübergreifende Rezeption des Romans. Dickens avancierte so zum Lieblingsautor der Königin Victoria und des Prince of Wales (Collins 1974b, 10), und selbst am anderen Ende der sozialen Skala ließ man sich von der "Bozmania" oder "Boz i ana" (Roberts 1999, 502) anstecken. So schrieb G.H. Lewes in The ational Magazine: Even the common people, both in town and country, are equally intense in their admiration. Frequently, we have seen the butcher boy, with his tray on his shoulder, reading with the greatest avidity the last 'Pickwick'; the footman, (whose fopperies are so inimitably laid bare,) the maidservant, the chimney sweep, all classes, in fact, read 'Boz' (Z.n. James 1963, 47). Charles Buller betonte 1837 in der Juli Ausgabe der Zeitschrift London and Westminster das Außergewöhnliche an Dickens' Popularität, das für ihn darin bestand, dass sich Dickens' Leserschaft einerseits aus "persons of the most refined taste" und andererseits aus der "great mass of the reading public" zusammensetzte (z.n. Payne 2005, 37). Peter Ackroyd (1990, 208) schließlich berichtet davon, wie einer der ersten Dickens Biographen zu der Zeit, als die Pickwick Papers veröffentlicht wurden, bei einem Schlosser in Liverpool folgende Szene erlebte: 'I found him reading Pickwick ... to an audience of twenty persons, literally, men, women and children.' It was hired by them all for twopence a day from a circulating library, because they could not afford a shilling for the monthly number, and the observer never forgot how these humble people, who themselves could not read, laughed with Sam Weller and cried with 'ready tears' at the death of the poor debtor in the Fleet Prison. This was the audience which Charles Dickens had found – not only the judges and the doctors, but the labouring poor.38 Auch die folgenden Romane wurden klassenübergreifend rezipiert. Dickens' Beliebtheit innerhalb der Arbeiterklasse gründete sich dabei zunehmend nicht allein auf den Unterhaltungswert seiner Texte, sondern auch auf die Tatsache, dass er in seinem Werk –
38 Auf die Tatsache, dass Dickens' Texte auch von einem lower class Publikum rezipiert wurden, obwohl Dickens keineswegs als "'proletarian' writer" bezeichnet werden kann, weist auch George Orwell (1961b, 32) hin. 57 bereits in den frühen Romanen Oliver Twist und icholas ickleby – wiederholt für soziale Gerechtigkeit eintrat, wie Adam Roberts (1999, 503) ausführt. Dennoch bedarf die Behauptung, Dickens sei von allen Bevölkerungsschichten rezipiert worden, einer Relativierung, wie George H. Ford betont: One of the commonest errors in any discussion of Dickens is the unqualified assumption that because some butcher boys and workingmen and domestics were observed to be reading Pickwick, therefore all butcher boys and workingmen and domestics were readers of Pickwick. The measure which Dickens received was an extremely lavish one but not a full one. There must have been many thousands of his contemporaries who did not know his writings and some to whom he was entirely unknown. As late as 1857, a visitor to Hawthornden was horrified to discover that no one on the estate, neither servant nor inmates, had ever so much as heard the name of Dickens (Ford 1955, 78). Nach Ansicht von Humphrey House (1941, 152) gehörte Dickens' hauptsächliches Publikum der Mittelschicht an: "His mood and idiom were those of the class from which he came, and his morality throve upon class distinctions even when it claimed to supersede them."39 Zudem waren zumindest Dickens' frühe Romane erkennbar für ein Mittelklasse Publikum konzipiert. Wie James M. Brown (1982, 38) darlegt, nahm Dickens in seinem Frühwerk nicht nur auf die Moralvorstellungen der Mittelklasse Rücksicht,40 seine frühen Romane reflektieren zudem a comparatively untroubled middle class optimism: a belief in progress, in the direction in which the system was moving (though changes might be necessary to remove certain local abuses); an impatience with tradition; a contempt for those who idealise the Middle Ages; above all a critical opposition to the aristocracy (Brown 1982, 42). Kritik an Wertvorstellungen und Lebensweisen der viktorianischen Mittelklasse ist erst im Spätwerk des Autors erkennbar (Brown 1982, 41).41 J.L. und Barbara Hammond (1962[1930], 321f.) geben allerdings zu bedenken, dass sich die literarischen Interessen der middle und lower class gar nicht so sehr voneinander unterschieden: Popular taste followed the taste of other classes. Scott made mediaeval chivalry romantic and fascinating to the educated; the uneducated wanted also to have barons
39 Vgl. dazu auch Amy Cruse (1962[1935], 222 und 260). 40 Vgl. dazu auch House (1941, 215): "There is one such modification in Dickens which stands out above any other his reticence about what he thought might be offensive. In the preface that he later added to Oliver Twist he said that he had aimed to describe the dregs of life 'so long as their speech did not offend the ear'. And he applied this principle to many things besides the conversations of Sikes and Nancy; everything was written with an eye on decency, and he himself worked by the rule he mocked at in Podsnap, that there should be nothing in his books unfit for a Young Person." 41 Auch Louis James (1963, 60) diskutiert Dickens' Rücksichtnahme auf Moral und auch thematische Interessen der Mittelklasse. Er bemerkt bezüglich Dickens' zweitem Roman Oliver Twist, der Roman sei zumindest bei der "lower class press" nicht auf nennenswertes Interesse gestoßen, "probably in part because the theme of a small boy of respectable parentage being victimized by the London underworld was too middle class to appeal to its readers". 58
and castles and monasteries brought into the monotony and the gloom of their daily life. [...] A crude imaginative tale, like a crude imaginative play, helped to take them out of their world, and thus satisfied an instinct for which mankind has needed satisfaction in all ages, an instinct satisfied sometimes by noble literature, sometimes by coarse or violent literature. The workman who liked to read about the wicked marquis and the noble lady had the same taste as the middle classes, who enjoyed the books of which Sir George Trevelyan gives an entertaining account in his Life of Macaulay. [...] All classes wanted exciting and sentimental literature, and writers who could supply it found readers everywhere. The spread of popular fiction may, indeed, be counted among the civilising influences of the time. Ford (1955, 78) nennt einen soziologischen Faktor, der die Verbreitung von Dickens' Texten innerhalb der Unterschicht zumindest gehemmt haben dürfte. Er gibt zu bedenken, dass um 1850 immer noch etwa ein Viertel der englischen und walisischen Bevölkerung des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. "[T]he real explosion in literacy was not to come until after the establishment of compulsory education in 1871" – also erst ein Jahr nach Dickens' Tod – bemerkt auch Rosemarie C. Sultan (1999, 496). Trotz dieser Einschränkungen kann, wie Ford (1955, 79) betont, die folgende Tatsache nicht bestritten werden: "[Dickens's] works penetrated every stratum of the reading public".42 E.W.F. Tomlin (1969b, 238) betont den innovativen Charakter der klassenübergreifenden Rezeption von Dickens' Romanen: "With the novels of Dickens, a new kind of audience was brought into being, at once varied and far flung, taking in both the cultivated and the underprivileged." Auch mit den von ihm herausgegebenen Zeitschriften Household Worlds und All the Year Round erreichte Dickens "ein Lesepublikum, das über die Mittelklasse hinausging und Teile der Arbeiterschaft umfasste" (Maack 1991, 41). Nicht alle fünfzehn bis zu seinem Tod im Jahr 1870 erschienenen Romane erfreuten sich gleicher Beliebtheit. In der Forschung wird zumeist betont, vor allem seine späteren Romane seien weniger populär gewesen als die früheren. So schreibt etwa Humphry House (1941, 40), Dickens' Popularität sei nie größer gewesen als in den ersten Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit43, was J.B. Priestley (1969, 22) wie folgt begründet: "[T]he whole scheme, tone, symbolism of his later novels defied the broader popular taste of his time". "[C]ontemporary readers of his later works longed for the exuberant delights they had savoured in Pickwick", bemerkt Paul Schlicke (1985, 228), und Philip Collins (1970, 155) gibt zu bedenken: "[H]is later work offended more people." Ford allerdings konstatiert schon für die frühen Romane unterschiedliche Beliebtheitsgrade. Bezüglich Oliver Twist merkt er
42 Vgl. dazu auch Kent (1872, 36) und Cruse (1962[1935], 154). 43 Vgl. dazu allerdings Collins (1970, 6): "When, in his [Dickens's] later years, he was receiving harder knocks from his reviewers, he was able (with complacency) to proclaim that he had never had so many readers." 59 an: It is evident that of the elements constituting the Dickensian formula, his appeal to sense of fear (however impressive as an indictment of versatility) was less universally satisfying to his early readers than his humor and pathos […]. icholas ickleby, with its more Pickwickian vein, helped to smooth out some of the differences, and then, after the brief setback of the opening numbers of Master Humphrey's Clock, came the overwhelmingly triumphant reception of The Old Curiosity Shop (1840), a novel in which pathos predominates. No such celebrity greeted Barnaby Rudge (1841), but the numbers sold moderately well.44 [...] The reception of Martin Chuzzlewit (1843 1844) was a different matter. Here, for the first time since the early numbers of Pickwick, Dickens encountered serious resistance from the novel reading public and experienced his first real taste of failure (Ford 1955, 42f.). Aus diesen Beobachtungen schlieβt Ford (ebd.): "[T]he extraordinary relationship between Dickens and his public was a more tempestuous affair than is always recognized."45 Dennoch bemerkt K.J. Fielding (1970, 100): "The continuity between Dickens and his public was never broken." Ob Dickens nun tatsächlich als der beliebteste Autor seiner Zeit betrachtet werden kann, ist ebenfalls nicht unumstritten. So bemerkt Margaret Dalziel (1957, 36): "The Bookseller in 1868 stated that Reynolds had written more and sold in far greater numbers than Dickens, and in an obituary notice after his death in 1879 the same journal described him as 'the most popular writer of our time'."46 Zumindest dann, wenn man von einer popular culture Definition ausgeht, die sich im wesentlichen auf die quantitative Dimension des Begriffes popular stützt, muss also Reynolds tatsächlich die größere Popularität zugestanden werden.47 Trotz dieser leichten Abstriche kann Dickens' nahezu ungebrochene, klassenübergreifende Popularität wohl als höchst außergewöhnlich bezeichnet werden. So bemerkt etwa auch Rosemarie C. Sultan (1999, 497): Thackeray might have possessed more cachet amongst the upper classes, and there may have been sensation novels that sold more copies amongst the working classes, but no other writer commanded so widely defined and so large a general readership. Diese außergewöhnliche Popularität Dickens' zu seinen Lebzeiten mag vor dem Hintergrund, dass er im Laufe seines Gesamtwerks nahezu alle Teile seiner Leserschaft zuweilen der Lächerlichkeit preisgab oder gar offen angriff, erstaunlich erscheinen. Wie bereits gezeigt
44 Michael Slater (2004, 22) bezeichnet den in Dickens' Magazin Master Humphrey's Clock in Fortsetzungen veröffentlichten historischen Roman Barnaby Rudge als "bis dato unpopulärste[n] Roman von Dickens, nach dessen Veröffentlichung die Publikation von Master Humphrey's Clock eingestellt wurde." 45 Zu den unterschiedlichen Verkaufszahlen der einzelnen Dickens Romane bzw. deren Fortsetzungen vgl. Collins (1970, 6). 46 Vgl. dazu auch Ford (1955, 78). 47 Allerdings nahm Reynolds Karriere ihren Anfang "completely in Dickens's shadow" (Sultan 1999, 497), da sich seine Popularität zunächst auf von ihm verfasste schriftliche Adaptionen von Dickens' Romanen gründete. 60 wurde, zielten seine Seitenhiebe in den früheren Romanen zumeist auf die Aristokratie, in den späteren auch auf die Mittelklasse. Auch die Unterschicht erschien in Dickens' Werk nicht immer in einem uneingeschränkt positiven Licht. So konstatiert etwa James M. Brown (1982, 49): The dignity of working class characters is reduced or denied by their being presented as comic figures of fun, or childlike innocents (often at the same time). As a result the good workers come across as a very short distance removed from half wits. Mr Bagnet, Mr Boffin, Joe Gargery etc. – all innocents abroad in a corrupt world where they are terribly vulnerable. Dass diese kritischen Züge in Dickens' Werk, die sich mal gegen diese, mal gegen jene Teile seiner Leserschaft richteten, der Beliebtheit des Autors offenbar keinen Abbruch tun konnten, betont George Orwell (1961b, 32) – nicht ohne eine gewisse Verwunderung: "[T]he very people he attacked have swallowed him so completely that he has become a national institution himself."
3.1.3 Zur Entstehung der Pickwick Papers Charles Dickens' Pickwick Papers werden gemeinhin als erster der fünfzehn Romane des Autors betrachtet, obgleich der in den Jahren 1836 und 1837 in neunzehn Fortsetzungen veröffentlichte Text ursprünglich als Serie von sketches konzipiert war. Die Idee zu einer solchen Reihe stammte von dem Zeichner und Karikaturisten Robert Seymour, dessen Zeichungen auch den hauptsächlichen Inhalt der einzelnen Veröffentlichungen bilden sollten. Die beigefügten Texte sollten lediglich ergänzenden bzw. erläuternden Charakters sein. Die Aufgabe, diese Texte zu verfassen, trugen die Verleger Chapman & Hall Dickens an, der sich am 18. Februar 1836 an die Arbeit machte (vgl. Ackroyd 1990, 189). Im Mittelpunkt der Serie sollten die Abenteuer des Pickwick Club rund um den gutmütigen, beleibten Mr. Pickwick stehen: All businessmen or the sons of businessmen, all pretenders to some aristocratic accomplishment they patently do not possess, the club members are led into disaster or absurdity when they are called upon to perform the functions they profess. Mr. Snodgrass, a poetaster and would be man of feeling, embroils the Pickwickians in the fiasco of Mrs. Hunter’s literary fete champetre; Mr. Tupman, a beau manqué cannot win the hand of a desperate old maid; Mr. Winkle, posing as a sporting blood, can neither sit a horse nor handle a gun, and so leads his companions into innumerable comic difficulties afield; and Mr. Pickwick, an untutored amateur, makes himself ridiculous with his scientific pretensions, notably his inability to decipher Bill Stumps's marks on a paving stone (Axton 1965b, 671). Noch vor Veröffentlichung des zweiten instalment verübte Robert Seymour Suizid. Dickens' Einfluss auf das Gesamtprojekt wurde nun wesentlich gröβer. Dies schlug sich zunächst darin 61 nieder, dass er den als Nachfolger von Seymour designierten jungen Künstler R.W. Buss, der das dritte instalment illustrierte, umgehend wieder von seinen Pflichten entband und stattdessen einen anderen, ebenfalls jungen, Künstler mit dieser Aufgabe betraute – Hablot Knight Brown, "the illustrator who more than anyone else came to be associated with his work" (Ackroyd 1990, 194), und der später auch unter dem Pseudonym 'Phiz' bekannt wurde. Nachdem Dickens die Federführung über das Projekt übertragen worden war, änderte sich auch das quantitative Verhältnis von Text und Illustration: Hatten die ersten beiden Folgen noch aus vier Illustrationen und 24 Seiten Text bestanden, so beinhalteten die instalments ab Folge drei jeweils nur zwei Illustrationen und 32 Seiten Text. Zudem wird das Werk ab diesem Zeitpunkt zunehmend kohärenter. Im vierten instalment führte Dickens Samuel Weller in den Text ein, der vor allem den Lesern unter Dickens' Publikum, die der working class angehörten, als Identifikationsfigur diente. Zusätzlich entwickelt Dickens einen Handlungsstrang, der sich über mehrere Fortsetzungen erstreckt, somit den ursprünglichen episodischen Charakter des Werks konterkariert und dem Text romanhafte Züge angedeihen lässt. Dies erreicht Dickens mit der Handlung um Mr. Pickwicks Zimmerwirtin Mrs. Bardell, die dessen Ankündigung, Sam Weller als man servant anzustellen, als Heiratsantrag missversteht und Mr. Pickwick daraufhin mit der Begründung, er habe sein Heiratsversprechen gebrochen, vor Gericht bringt. Ähnliches gilt für Mr. Winkles Werben um Arabella Allen, Mr. Pickwicks diesbezügliche tatkräftige Unterstützung und die Gefahren, die dem Pickwick Club durch die Einmischungen von Arabellas Bruder, Benjamin Allen, entstehen – ein Handlungsstrang, der in den späteren instalments des Romans einen beträchtlichen Raum einnimmt. Gleichzeitig werden die interpolated tales, die Dickens in den ersten Folgen an zahlreichen Stellen einfügt und die mit der Handlung allenfalls lose verknüpft sind, in der zweiten Hälfte des Romans deutlich seltener.48
48 Vgl. dazu Mary Colwell (1967, 104): "The second half of the novel contains only three interpolated stories, as opposed to six in the first half, because the function that they were originally intended to perform, that of commentary and variety, is replaced by a new element – Samuel Weller. Sam is a living commentary on the action at hand and his is the voice of the perpetual observer. The earlier interpolated stories were told by minor characters who appeared only to tell their tale and then vanished. [...] Sam, on the other hand, is a major character and his stories are usually quite closely related to the main plot." Zur Funktion dieser interpolated tales vgl. auch Axton (1965b, 674), Patten (1967), Cowell (1967, 102ff.) und Levy/Ruff (1967).
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3.1.4 Die Produzierbarkeit der Pickwick Papers Der kommerzielle Erfolg der Pickwick Papers lässt sich mit Hilfe des zuvor entwickelten popular culture Theoriegerüsts erklären: Eine Analyse von Dickens' erstem Roman zeigt, das dieser nahezu alle Charakteristika aufweist, die Fiske unter seinem Postulat der 'Produzierbarkeit' vereint. Die von Fiske geforderte 'Offenkundigkeit' im Sinne einer voraussetzungslosen Verständlichkeit, die seiner Darstellung zufolge einem potentiell populären Text eignen muss, wurde bereits zur Zeit der seriellen Erstveröffentlichung der Pickwick Papers in mehreren Rezensionen betont. Dabei bezogen sich einige Rezensenten auf die Handlung einzelner Szenen des Romans, wie etwa John Forster (1971[1837], 37): The truth and power with which it [the reader's exposure to the Fleet Prison in The Pickwick Papers] is made are beyond all praise – so certain, so penetrating, and so deeply aimed, and yet, at the same time, so obvious and familiar, are the materials employed. Andere betonten die 'Offenkundigkeit' der Charaktere: "They [Dickens's characters] are all as familiar to the public as they are intelligible at first sight" (Court Magazine 1837, 34f.). Fiskes Kriterium der 'Exzessivität' im Sinne von in groβer Menge auftretenden Plakativitäten, Übertreibungen und Überzeichnungen lässt sich gleich auf mehreren Ebenen ausmachen. Mitunter ist es der Erzähler, der das Geschehen durch gezielt eingesetzte Hyperbeln mit zuweilen leicht ironischer Grundierung aufzuwerten sucht, so etwa gleich zu Beginn des Romans in seiner Schilderung von Mr. Pickwicks Start in einen neuen Tag: That punctual servant of all work, the sun, had just risen and begun to strike a light on the morning of the thirteenth of May, one thousand eight hundred and twenty seven, when Mr. Samuel Pickwick, burst like another sun from his slumbers, threw open his chamber window, and looked out upon the world beneath (PP, 28, meine Hervorhebung). In anderen Fällen sind es die Figuren, die sich einer pompösen, den jeweiligen Situationen, in denen sie sich wiederfinden, stets leicht unangemessenen Verhaltensweise bedienen. Diese Technik der Figurencharakterisierung lässt sich gleich an mehreren Charakteren beobachten, allen voran an Mr. Pickwick: Taking a man's night cap from his brow by violent means and adjusting it on the head of an unknown gentleman of dirty exterior, however ingenious a witticism in itself, is unquestionably one of those which come under the denomination of practical jokes. Viewing the matter precisely in this light, Mr. Pickwick, without the slightest intimation of his purpose, sprang vigorously out of bed, […] struck the Zephyr so smart a blow in the chest as to deprive him of a considerable portion of the commodity which sometimes bears his name, and then, recapturing his night cap, boldly placed himself in an attitude of defence (PP, 632f.). 63
Ähnlich verhalten sich auch die Figuren Mr. Snodgrass (vgl. PP, 209), Mr. Pott, der Herausgeber der Eatansville Gazette, der Mr. Winkle unlautere Absichten in Bezug auf seine Ehefrau unterstellt (vgl. PP, 270), und auch Benjamin Allens Verhalten weist eine gewisse exzessive Pomposität auf, als er erfährt, dass seine Schwester Arabella entgegen seinen Wünschen Mr. Winkle zu ehelichen beabsichtigt (vgl. PP, 731). Der Eindruck der Exzessivität wird zudem dadurch verstärkt, dass es innerhalb des Romans regelmäβig tatsächlich oder zumindest beinahe zu Tätlichkeiten zwischen unterschiedlichen Charakteren kommt – zumeist wegen Nichtigkeiten. Dabei macht es kaum einen Unterschied, welcher sozialen Schicht diese Charaktere entstammen. So ist Mr. Pickwick bereits im zweiten Kapitel Zielscheibe des tätlichen Angriffs eines Droschkenkutschers (vgl. PP, 30), bevor er dann im dritten Kapitel Mr. Pickwick selbst handgreiflich (vgl. PP, 68). In Kapitel 52 kommt es zu einer Begegnung zwischen Mr. Weller senior und Reverend Stiggins, die ebenfalls in Tätlichkeiten endet.49 Ein gewisses Maβ an Exzessivität eingeschrieben ist stets auch dem Stilmittel der Slapstick Komik. Somit ist es kaum verwunderlich, dass sich Slapstick Einlagen in groβer Zahl in den Pickwick Papers finden, so etwa in der folgenden Szene, in deren Zentrum Mr. Winkle steht: Mr. Winkle smiled feebly over his blue neckerchief in acknowledgement of the compliment, and got himself so mysteriously entangled with his gun, in his modest confusion, that if the piece had been loaded, he must inevitably have shot himself dead upon the spot. 'You mustn't handle your piece in that 'ere way when you come to have the charge in it, sir,' said the tall gamekeeper gruffly, 'or I'm damned if you won't make cold meat of some on us.' Mr. Winkle, thus admonished, abruptly altered its position, and in so doing contrived to bring the barrel into pretty sharp contact with Mr. Weller's head. 'Hallo!' said Sam, picking up his hat, which had been knocked off, and rubbing his temple. 'Hallo, sir! If you comes it this vay, you'll fill one o'them bags, and something to spare, at one fire' (PP, 282f.). Ein weiteres Beispiel bietet die folgende Szene aus Kapitel 39. Hier spricht Mr. Pickwick, auf Sam Wellers Schultern stehend, über einen Gartenzaun hinweg Arabella Allen an, die Herzensdame seines Freundes Mr. Winkle: 'Indeed, Mr. Pickwick, I am very much obliged to you for your kindness and consideration,' replied Arabella, drying her tears with her handkerchief. She would probably have said much more had not Mr. Pickwick's head disappeared with great swiftness in consequence of a false step on Sam's shoulder, which brought him suddenly to the ground (PP, 605).50
49 Für weitere ähnliche Beispiele vgl. PP, 160, 729, 785 und 786. 50 Für weitere Slapstick Einlagen vgl. PP, 111f., 145, 252f., 291, 454, 457. 64
Die von Fiske konstatierte Häufigkeit von Klischeehaftem in populären Texten mag mit dem Bemühen zusammenhängen, dem Konsumenten die Rezeption zu erleichtern, indem auf das zurückgegriffen wird, was als ihm bekannt und vertraut vorausgesetzt werden kann. Auch Dickens macht innerhalb der Pickwick Papers von zahlreichen Klischees Gebrauch, vornehmlich im Zusammenhang mit seinen weiblichen Figuren. So bedient Mrs. Budger das Klischee der wohlhabenden Witwe, "whose rich dress and profusion of ornament bespoke her a most desirable addition to a limited income" (PP, 44), und die somit eine 'gute Partie' darstellt. Miss Wardle erscheint dagegen als eine von sexuellem Neid beseelte alte Jungfer: "'How dear Emily is flirting with the strange gentleman,' whispered the spinster aunt, with true spinster aunt like envy, to her brother, Mr. Wardle" (PP, 78, meine Hervorhebung). Mrs. Bardell hingegen, jene Witwe, die annimmt, Mr. Pickwick hege ihr gegenüber Heiratsabsichten, erfüllt das Klischee des behäbigen, treusorgenden Heimchens am Herd. Der Erzähler beschreibt sie als "a comely woman of bustling manners and agreeable appearance, with a natural genius for cooking improved by study and long practice into an exquisite talent" (PP, 181). Gelegentlich scheint auch in den interpolated tales, die Dickens vornehmlich in der ersten Hälfte der Pickwick Papers der eigentlichen Handlung beifügt, Klischeehaftes auf, so etwa in "The Stroller’s Take" aus dem dritten Kapitel: "The man of whom I speak was a low pantomime actor and, like many people of his class, an habitual drunkard" (PP, 59, meine Hervorhebung). Als weitere Kennzeichen eines produzierbaren Textes bezeichnet Fiske Widersprüchlichkeit, Komplexität und Polysemie – Merkmale, die einem Text die Fähigkeit verleihen, eine Vielzahl von Bedeutungen und Arten von Vergnügen zu produzieren. Zu dieser Komplexität in Fiskes Sinn trägt bereits die episodische Struktur des Textes mit ihren häufigen Orts und Szenenwechseln bei: "Pickwick is a quintessential 'road' narrative: the Pickwickians travel across the countryside getting into, and out of, scrapes, finding temporary havens that often, by their own ineptitude, they break up" (Patten 2001, 24). Zudem ist Dickens' Bemühen erkennbar, Rezipienten aus unterschiedlichen sozialen Schichten zu bedienen. Wird der Roman von Szenen mit komischem Potential dominiert, so ist diese Komik auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln. Die bereits angesprochenen Slapstick Elemente bieten schlichtweg Unterhaltung, die rhetorischen Eskapaden Sam Wellers mit ihrem zuweilen recht brutalen Humor51 sind, so wie die zunehmende Prominenz der Figur als
51 Vgl. die folgenden Beispiele: "'It's over and can't be helped, and that's one consolation, as they always says in Turkey, ven they cuts the wrong man's head off' […] 'Business first, pleasure arterwards, as King Richard the Third said wen he stabbed t'other king in the Tower, 65 solcher innerhalb der Romanhandlung52, als Zugeständnis an das zunehmende Interesse der lower class an Dickens' Roman zu betrachten. Im Fall von Dickens' Persiflage auf verschiedene Wissenschaften ist der Humor jedoch deutlich subtiler und somit wohl eher auf ein gebildeteres Publikum gemünzt, so etwa in der folgenden Passage, die sich mit Mr. Pickwicks Fund eines Steines mit geheimnisvoller Aufschrift beschäftigt: It appears from the Transactions of the club, then, that Mr. Pickwick lectured upon the discovery at a General Club Meeting […] and entered into a variety of ingenious erudite speculations on the meaning of the inscription […] and that Mr. Pickwick himself wrote a Pamphlet, containing ninety six pages of very small print and twenty seven different readings of the inscription […]. That Mr. Pickwick was elected an honorary member of seventeen native and foreign societies for making the discovery; that none of the seventeen could make anything of it; but that all the seventeen agreed it was very extraordinary (PP, 168f.). Eine ähnliche Passage findet sich am Ende des 39. Kapitels. Hier veranlasst die Laterne, mit der Mr. Pickwick ein Rendezvous zwischen Mr. Winkle und Arabella Arden beleuchtet, einen Wissenschaftler, eine Abhandlung über diese Lichterscheinung zu verfassen: As to the scientific gentleman, he demonstrated, in a masterly treatise, that these wonderful lights were the effect of electricity, and clearly proved the same by detailing how a flash of light danced before his eyes when he put his head out of the gate, and how he received a shock which stunned him for a quarter of an hour afterwards; which demonstration delighted all the Scientific Associations beyond measure, and caused him to be considered a light of science ever afterwards (PP, 609). Von ähnlicher Qualität sind Dickens' Seitenhiebe auf die ihm wohlvertraute juristische Profession in den Gerichtsszenen des Romans (vgl. besonders Kapitel 20 und 34). Neben den zahlreichen komischen Szenen findet sich vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit den Romanzen um Arabella Allen und Mr. Winkle sowie Sam Weller und Mary verstärkt Amouröses. Zur thematischen Vielfalt tragen zudem vornehmlich im ersten Teil die interpolated tales bei. Solcherlei Vielfalt und Komplexität im Sinne Fiskes attestierte die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten auch Dickens' Werk in seiner Gesamtheit. Susan R. Horton (1981, 14) bemerkt: "Dickens had about as many styles as he had children, and he switched from one style to another – from melodrama to naturalistic description; from afore he smothered the babbies.' […] 'Werry sorry to 'casion any personal inconvenience, ma'm, as the house breaker said to the old lady when he put her on the fire.' […] '"Now we look compact and comfortable", as the father said ven he cut his little boy's head off, to cure him o' squintin.' […] '"I only assisted natur', ma'am"; as the doctor said to the boy's mother arter he'd bled him to death'" (PP, 352, 378, 399, 425, 718). 52 Vgl. James (1963, 52): "Weller had become the idol of the lower classes". In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass in einer Adaption des Romans speziell für ein working class Publikum Sam Weller Mr. Pickwick aus der Rolle des Romanhelden verdrängt, um diese selbst einzunehmen (vgl. Abschnitt 3.2.). 66 rhetorical preachment to comic high jinks – about as often as he clipped his pen in his inkwell." Ebenso betont Philip Collins (1974b, 11) die Fähigkeit von Dickens' Texten, eine Vielzahl von unterschiedlichen Vergnügungen zu produzieren: Dickens offered a winning combination of ingredients [...]. He offered many popular, and very few unpopular, literary satisfactions: humour, pathos, love interest, tenderness, topical satire, a high moral tone, mystery, violence. [...] Certainly much of his art yielded a rich, comprehensible and welcome meaning to a first reading by an uninstructed and unsophisticated mind. Deeper and more complex effects were indeed discernible by further and more searching readings: but [...] Dickens offered immediately a great deal to everybody, however limited their literacy and subtlety. Auch J.B. Priesley (1969, 17) befindet bezüglich Dickens' Romanen: "They were the great family entertainment, with something for everybody – an exciting story for Papa, fun for the boys, sentiment for Mama and the girls." Die von Fiske postulierte textuelle Armut und Unvollständigkeit zeichnet seiner Darstellung zufolge besonders seriell dargebotene Texte aus. Die serielle Darreichung "enables it [the individual text] to fit easily with the routines of everyday life" (Fiske 1989b, 125) und erleichtert somit die Integration eines Textes ins Alltagsleben seiner Konsumenten.53 Entsprechend sieht Deborah Vlock (1998, 3) – neben der Bedeutung der thematischen Anleihen des Autors beim populären Theater seiner Zeit – in der seriellen Publikationsweise eine weitere Erklärung dafür, dass Dickens' Romane durchaus die von Fiske (1989b, 126) für populäre Texte als charakteristisch betrachteten "leaky boundaries" aufweisen. Vlock resümiert: "[T]he Victorian novel did not really resemble the discrete textual unit we receive it as today, the self contained package Miller imagines as privately and personally consumed, but was loose and fluid – particularly when published serially" (ebd., meine Hervorhebung). Noch deutlicher formuliert Jennifer Hayward (1997, 30): Serialized novels [...] appeared over months or years and could thus parallel the seasons, political changes, and passage of time that affected readers' own lives. What is more, parts were often written at the last minute, just before they appeared in print, and could therefore shift to reflect the external world. Im Bezug auf die Pickwick Papers bedeutet dies konkret: The individual numbers chronicle the time of year in which each was published, so that June, 1836, brings forth a cricket match, the January number of 1837 celebrated the festival of Christmas, the February number tells of ice skating, and so on through the calendar. […] By December, 1836, the fiction of a posthumous history has all but disappeared, and the readers can count ahead on their own calenders to await an important event of the
53 Inwieweit sich die serielle Publikationsweise im Fall von Dickens' Romanen auf deren inhaltliche Gestaltung auswirkte, hat Archibald Coolidge Jr. (1967) eingehend untersucht. 67
contemporary season (Bevington 1961, 219 und 225). Auf Ähnlichkeiten zwischen der Rezeptionsweise der einzelnen Dickens instalments im 19. Jahrhundert und der Art und Weise, wie heutige soap operas rezipiert werden, ist in der Dickens Forschung vielfach hingewiesen worden (vgl. etwa Hayward 1997). Die zuvor zitierten Anekdoten, die über Leser Reaktionen auf einzelne instalments von The Pickwick Papers und The Old Curiosity Shop Aufschluss geben, sprechen dafür, dass das, was Elayne Rapping (2002, 47) für das soap opera Genre konstatiert, im 19. Jahrhundert in ganz ähnlicher Weise auch auf Dickens' Romane zuzutreffen schien: "[W]hen we watch and discuss our soap opera, we [...] share a common community and a set of friends and neighbors about whom we care deeply, even as we laugh at their often ridiculously implausible lives." Die durch die serielle Veröffentlichung zumindest zeitweilig – bis zum Erscheinen des nächsten instalments – gegebene Unvollständigkeit des Textes wird durch die von Gerhard Haefner so bezeichneten 'spannungserzeugenden Leerstellen auf Handlungsebene' oder cliffhangers, noch betont. Für diese Leerstellentechnik merkt Haefner signifikanterweise an, dass bereits der Fortsetzungsroman im 19. Jahrhundert diese Technik "virtuos gehandhabt" habe. "Dabei ist aufschlussreich, dass das Lesepublikum den in Fortsetzungen gelesenen Roman für besser hielt als den gleichen Text in Buchform" (Haefner 1981, 220Fn2). Ein Vergleich der einzelnen Enden der jeweiligen instalments zeigt, dass Dickens' Leerstellentechnik im Verlauf des Romans zunehmend ausreifte. Das Ende des zweiten Kapitels, das das erste instalment beschlieβt, wirkt noch vergleichsweise uninspiriert. Zwar wird darauf hingewiesen, dass eine überraschende und wahrscheinlich unangenehme Begegnung zwischen Doctor Slammer und Mr. Tupman bevorsteht, diese Andeutung bleibt aber eher implizit und wird vom Erzähler nicht forciert: "'It will give me great pleasure, I am sure [to be introduced to Mr. Pickwick und Mr. Tupman]' replied Doctor Slammer, little suspecting who Mr. Tupman was" (PP, 56). Insgesamt endet das instalment wenig spannungsträchtig: "By this time they had reached the road. Cordial farewells were exchanged, and the party separated. Doctor Slammer and his friends repaired to the barracks, and Mr. Winkle, accompanied by his friend Mr. Snodgrass, returned to their inn" (ebd). Am Ende der dritten Folge versucht Dickens dann mittels eines Hinweises des Erzählers schon etwas dezidierter, die Spannung des Lesers auf den Fortgang der Handlung zu steigern: The scene of that afternoon was repeated that evening, and on the three afternoons and evenings next ensuing. On the fourth, the host was in high spirits, for he had 68
satisfied himself that there was no ground for the charge against Mr. Tupman. So was Mr. Tupman, for Mr. Jingle had told him that his affair would soon be brought to a crisis. So was Mr. Pickwick, for he was seldom otherwise. So was not Mr. Snodgrass, for he had grown jealous of Mr. Tupman. So was the old lady, for she had been winning at whist. So were Mr. Jingle and Miss Wardle, for reasons of sufficient importance in this eventful history to be narrated in another chapter (PP, 136). Als Abschluss des neunten instalment, unmittelbar vor Beginn des Prozesses um Mr. Pickwicks Bruch seines vermeintlichen Heiratsversprechens an Mrs. Bardell, gelingt es Dickens' Erzähler dann noch besser, das Interesse des Lesers auf das weitere Geschehen zu konzentrieren: Mr. Weller went his way back to the George and Vulture, and faithfully recounted to his master such indication of the sharp practice of Dodson and Fogg as he had contrived to pick up in his visit to Mrs. Bardell's. An interview with Mr. Perker, next day, more than confirmed Mr. Weller's statement; and Mr. Pickwick was fain to prepare for his Christmas visit to Dingley Dell with the pleasant anticipation that some two or three months afterwards, an action brought against him for damages sustained by reason of a breach of promise of marriage would be publicly tried in the Court of Common Pleas, the plaintiff having all the advantages derivable not only from the force of circumstances but from the sharp practice of Dodson and Fogg to boot (PP, 402f.). Auch der Aussparungstechnik, die dazu führt, dass ein Geschehen nicht beschrieben, sondern "durch die Art seiner Präsentation der Imagination oder der Entdeckungsfähigkeit des Lesers anheimge[ge]ben" (Haefner 1981, 222) wird, bedient sich Dickens in den Pickwick Papers an unterschiedlichen Stellen, etwa gegen Ende des zehnten Kapitels: Shall we tell the lamentations that ensued when Miss Wardle found herself deserted by the faithless Jingle? Shall we extract Mr. Pickwick's masterly description of that heart rending scene? His note book, blotted with the tears of sympathizing humanity, lies open before us; one word and it is in the printer's hands. But no! We will be resolute! We will not wring the public bosom with the delineation of such suffering! (PP, 161). Der Roman bestätigt zudem Haefners Einschätzung, dass die Aussparungstechnik häufig im Zusammenhang mit 'Liebesszenen' bzw. Szenen mit amouröser Thematik Anwendung findet, vgl. dazu die beiden folgenden Szenen, die Sam Wellers Beziehung zu Mary zum Inhalt haben: Sam made no verbal answer to this complaint ['Lauk, Mr. Weller,' said Mary, 'how you do frighten one!'] nor can we precisely say what reply he did make. We merely know that after a short pause Mary said, 'Lor', do adun, Mr. Weller!' and that his hat had fallen off a few moments before – from both of which tokens we should be disposed to infer that one kiss or more had passed between the parties. […] Mr. Weller drew the household beauty closer to him and entered upon a whispering conversation, which had not proceeded far when she turned her face round and condescended to look at him again. When they parted, it was somehow or other indispensably necessary for her to go to her room and arrange the cap and curls before 69
she could think of presenting herself to her mistress; which preparatory ceremony she went off to perform, bestowing many nods and smiles on Sam over the banisters as she tripped upstairs (PP, 597 und 790).54 Auch für die Technik der 'doppelten Lesart' finden sich im Text zahlreiche Beispiele. Die doppelte Lesart entsteht zumeist dadurch, dass Dickens' Erzähler durch einen ironischen Kommentar eine unmittelbar zuvor getätigte Äuβerung einer Figur konterkariert, wodurch Komik entsteht: 'To see how dreadful she takes on, going moping about, and taking no pleasure in nothing except when her friend comes in, out of charity, to sit with her and make her comfortable,' resumed Mrs. Cluppins, glancing at the tin saucepan and the Dutch oven; 'it’s shocking!' (PP, 400). Die Komik entsteht hier dadurch, dass der Erzählerkommentar, "glancing at the tin saucepan and the Dutch oven", auf Mrs. Cluppins Äuβerung "out of charity" rückbezogen wird. Dadurch wird deutlich, dass Mrs. Cluppins Motive für ihren Besuch alles andere als karitativer Natur sind, was neben der wörtlichen eine zweite Lesart ergibt. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn in den folgenden Beispielen die hervorgehobenen Erzählerkommentare zu den ihnen unmittelbar vorausgegangenen Äuβerungen der Figuren in Beziehung gesetzt werden: 'It's all vanity,' said Mr. Stiggins. 'Ah, so it is,' said Mrs. Weller, setting her cap to rights. […] 'The plaintiff, gentlemen,' continued Sergeant Buzfuz in a soft and melancholy voice, 'the plaintiff is a widow; yes, gentlemen, a widow. The late Mr. Bardell, after enjoying for many years the esteem and confidence of his sovereign, as one of the guardians of his royal revenues, glided almost imperceptibly from the world to seek elsewhere for that repose and peace which a custom house can never afford. At this pathetic description of the decease of Mr. Bardell, who had been knocked on the head with a quartpot in a public house cellar, the learned serjeant's voice faltered, and he proceeded with emotion […] (PP, 407 und 516, meine Hervorhebungen).
3.1.5 Leseransprache Desweiteren ist festzustellen, dass Dickens' Erzähler den Leser häufig – direkt und indirekt – anspricht, was nach Gerhard Haefner ein weiteres Kennzeichen potenziell populärer Texte ausmacht. Ein Beispiel für eine indirekte Leseransprache, die eine Antwort auf vorhersehbare Leserreaktionen bietet, findet sich im 36. Kapitel: "It is not unlikely that the inquiry be made where Mr. Weller was all this time. We will state where he was in the next chapter" (PP, 563). Die Technik der indirekten Leseransprache, die darin besteht, dass der Erzähler an die Lebenserfahrung des Lesers appelliert, kommt in den Pickwick Papers allerdings ungleich
54 Für ein weiteres, ähnliches Beispiel vgl. PP (460). 70 häufiger zum Einsatz. Als Beispiele lassen sich die folgenden Textstellen aus unterschiedlichen Kapiteln anführen: There is no month in the whole year in which nature wears a more beautiful appearance than in the month of August. […] Orchards and cornfields ring with the hum of labour; trees bend beneath the thick clusters of rich fruit, which bow their branches to the ground; and the corn, piled in graceful sheaves or waving in every light breath that sweeps above it, as if it wooed the sickle, tinges the landscape with a golden hue. A mellow softness appears to hang over the whole earth; the influence of the season seems to extend itself to the very wagon, whose slow motion across the well reaped field is perceptible only to the eye, but strikes with no harsh sound upon the ear. […] Happy, happy Christmas, that can win us back to the delusions of our childish days, that can recall to the old man the pleasures of his youth, that can transport the sailor and the traveler, thousands of miles away, back to his own fireside and his quiet home! (PP, 240f., 415). Diese beiden Textpassagen knüpfen an die Lebenserfahrung des Lesers an, indem eine Aktivierung der Assoziationen stattfindet, die der Leser mit einer bestimmten Jahreszeit bzw. einem bestimmten Festtag verbindet. Daneben wird der Leser häufig auch vom Erzähler in der zweiten Person Singular und Plural direkt angesprochen, etwa in den folgenden Textauszügen: When you have parted with a man at two o’clock in the morning on terms of the utmost good fellowship, and he meets you again, at half past nine, and greets you as a serpent, it is not unreasonable to conclude that something of an unpleasant nature has occurred meanwhile. […] But bless our editorial heart, what a long chapter we have been betrayed into! We had quite forgotten all such petty restrictions as chapters we solemnly declare. So here goes, to give the goblin a fair start in a new one! A clear stage and no favour for the goblins, ladies and gentleman, if you please (PP, 270 und 437). Noch häufiger finden sich indes Textstellen, in denen die Leser in der dritten Person Singular als "the reader" bzw. in der dritten Person Plural als "the readers" angesprochen werden (vgl. PP, 413, 419., 491). Dass gerade Dickens sich zeit seiner schriftstellerischen Karriere um ein enges Autor Leser Verhältnis bemühte, ist in der Forschung häufig betont worden. William Axton (1976, 45) beschreibt Dickens als einen Autor, "who failed to maintain narrative anonymity, invisibility, and objectivity, and who injected his own personality and reactions into the narration, with results fatal to believability and aesthetic distance."55 Laut Ford (1955, 159)
55 Mit Bezug auf Dickens' autobiographischen Roman David Copperfield bemerkt Janet H. Brown (1972, 199) entsprechend: "The more closely we approach the peculiar balance of narrator and narration in David Copperfield, the clearer becomes the fact that Dickens meant the novel to exist independently, as a work of fiction [...]. Yet at the same time, inherent in the abiding presence of David, recollecting his history, is the satisfaction of one of the most widely acknowledged of Dickens' own wishes as a novelist: the wish to be present to his audience while he tells the story." 71 wird der Leser von Dickens' Romanen weitaus häufiger direkt angesprochen als der Rezipient der Romane von William Makepeace Thackeray oder George Eliot. David Paroissien (1983, 35) bemerkt bezüglich des engen Verhältnisses zwischen Autor und Publikum, das für Maack (1991, 57) schon in Dickens' Sketches by Boz erkennbar ist, Dickens habe seine Romane als Akte der persönlichen Kommunikation mit seinen Lesern betrachtet. James (1963, 53) äuβert: "Dickens took his readers into his confidence, and communicated his feelings and attitudes in his personal tone." Und Priestley (1969, 20f.) befindet: His popularity made him feel deeply responsible. 'The Inimitable' must not take a wrong turning. He was now so striking and powerful a public figure that, increasingly, it was as if he were almost writing his novels in public. [...] He felt he belonged to his readers. If they wanted to know something about him, he felt he ought to tell them, which explains why he insisted, against all sensible advice, upon making a public statement about his separation from his wife. Als Ausdruck dieser engen Beziehung zwischen Dickens und seiner Leserschaft wertet auch Maack (1991, 42) die Tatsache, dass Dickens "die Entscheidung, sich von seiner Frau zu trennen, auf dem Titelblatt von Household Words am 12.6.1958 ankündigte und erläuterte." Tomlin (1969b, 238) sieht in diesem Verhältnis zwischen Dickens und seinem Publikum "a relationship unlike that of any other writer: a relationship which, established when he was in his middle twenties, grew in intimacy for more than thirty years."56
3.1.6 Tertiäre Texte Die textuelle Armut und Unvollständigkeit eines Textes begünstigt nach Fiske die Entstehung von tertiären Texten, in deren Existenz sich wiederum der von Konsumenten betriebene produktive Umgang mit den Produkten der Kulturindustrie manifestiert. Wie in Abschnitt 2.2. dieser Arbeit gezeigt wurde, können sich solche Texte sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form Ausdruck verschaffen, sie können aber auch ausschlieβlich in der Fantasie des Lesers verbleiben. Das Vorhandensein von schriftlichen und mündlichen tertiären Texten im Bezug auf Dickens ist verschiedentlich bemerkt worden, von Dickens' Zeitgenossen ebenso wie in der späteren Forschung. So spricht die bereits zitierte Schriftstellerin Mary
56 William Axton (1976, 45f.) betrachtet ein enges Verhältnis zwischen Erzähler bzw. Autor und Leser als charakteristisch für seriell veröffentlichte Texte: "In particular, weekly or monthly serialization, together with the Victorian custom of reading serial parts aloud to a circle of family or friends, generated an intimacy between writer and audience that has been matched only by the ancient bards and that fundamentally altered the relationship between them by making the experience of the fiction no longer a private, individual one but instead a public, social event in which the speaking voice of the narrator assumes paramount importance.” Laut Tomlin (1969b, 238) wurde dieses enge Verhältnis durch die von Dickens herausgegebenen Magazine noch gestärkt: "In Household Words and its successor All the Year Round, which maintained a steady circulation of 100,000 and must have enjoyed a readership thrice that number, Dickens, as master in his own house, could communicate his ideas on a great variety of subjects [...], but always with that 'brightness' of approach which made his readers look upon him as a personal friend, as well as champion of public causes." 72
Russell Mitford im Zusammenhang mit den Pickwick Papers mündliche Tertiärtexte an, wenn sie konstatiert: "All the boys and girls talk his [Boz‘] fun" (z.n. Collins 1974b, 7). Ähnlich bemerkt Jennifer Hayward (1997, 52f.) bezüglich Our Mutual Friend: "[M]ost readers of the novel discussed each part with others, collaboratively reinterpreting and predicting future plot twists." Wie Gueric DeBona (2000, 108) ausführt, entstanden kurz nach der Veröffentlichung der Romane Dombey and Son und David Copperfield populäre Lieder mit Titeln wie 'Dora and Agnes' und 'Florence', die sich ebenfalls als eine Form von tertiären Texten betrachten lassen. Axton (1976, 31 und 46) nennt eine weitere tertiäre Textsorte, die sich aus dem seriellen Veröffentlichungsmodus ergab: [T]he extensive period of time required for serialization – between twelve and nineteen months – made the subscribers to some extent participants in the creative process, speculating about future events, advising the author directly or indirectly concerning the story and characters. Annegret Maack (1991, 29) macht auch deutlich, dass Dickens sich bei der Planung der weiteren Fortsetzungen seiner Romane durchaus an solchen von seinen Lesern verfassten tertiären Texten orientierte. Dies wurde dadurch erleichtert, dass bei Druckbeginn der Autor meist wenige Nummern fertiggestellt hatte [...]. Dass Dickens auf Leserbriefe reagierte, bewirkte z.B. in Dombey and Son Änderungen: Entgegen der ursprünglichen Absicht zeigt Dickens nicht Walter Gays moralischen Abstieg und schildert auch nicht, dass Edith Dombey der Verführung Carkers erliegt. Er korrigierte in David Copperfield das Charakterbild der Zwergin Miss Mowcher, als sich eine Leserin in dieser Figur verunglimpft glaubte. [...] Auf die sinkende Nachfrage bei Martin Chuzzlewit reagierte Dickens dadurch, dass er Martin und Mark Tapley in der sechsten Nummer nach Amerika reisen ließ.57 Es wurde im vorausgegangenen Kapitel dieser Arbeit bereits angemerkt, dass die Produzenten populärer Fernsehserien im 20. und 21. Jahrhundert ganz ähnlich verfahren. Robert Giddings (1983b, 14) betont zudem, dass Dickens in ganz ähnlicher Weise wie
57 Vgl. auch John Butt und Kathleen Tillotson (1957, 16), die Dickens als "peculiarly susceptible to the influence of his readers" charakterisieren. Das System der seriellen Veröffentlichung habe für den Autor generell ein größeres Publikum bedeutet, "but also a public more delicately responsive, who made their views known during the progress of a novel both by writing to him and by reducing or increasing their purchases. Through serial publication an author could recover something of the intimate relationship between story teller and audience which existed in the ages of the sagas and of Chaucer [...]." Auch Maack (1991,29) spricht von "eine[r] Intimität zwischen Autor und Leser, die der mündlichen Erzählsituation nahekam. Thackeray bezeichnete diesen Kontakt zwischen Autor und Publikum im Vorwort von Pendennis als intime Unterhaltung, 'a sort of confidential talk between reader and writer'. Dickens sprach häufig von dem ungewöhnlich engen Verhältnis zwischen seinen Lesern und sich, 'personally affectionate and like no other man's'. Dementsprechend verabschiedete er sich in der letzten Nummer von Dombey and Son von seinen Lesern und dankte ihnen für 'the unbound warmth and earnestness of their sympathy in every stage of the journey we have just concluded'. (Vorwort 1848)." Maack (ebd.) räumt allerdings auch ein, "dass Dickens Leserwünschen nicht entsprach, wenn dies seinen künstlerischen Absichten und der Anlage seiner Romane entgegenstand: So lässt er trotz aller Leserproteste Little Nell sterben." 73 heutige Fernsehproduzenten auf den kommerziellen Erfolg seiner Texte angewiesen war: In order to help publishers make ends meet, and to make a profit to share with the author – which could only be done provided the publishers were able to offer advertisers useful space to push their goods – Dickens had continually appeal to a wide readership. Es ist somit kaum verwunderlich, dass Dickens das kommerzielle Potential seiner Werke immer im Auge behielt. Dafür spricht etwa die Tatsache, dass Dickens eine Autorin, die einen Beitrag zu seiner Zeitschrift Household Words einreichte, darum bat, das Ende ihres Textes zu überarbeiten, so that it would be less painful. [...] 'You write to be read, of course.' Unless the story is revised, he [Dickens] said, 'it will throw off numbers of persons who would otherwise read it, and who (as it stands) will be deterred by hearsay from so doing.' In revising his own novels, Dickens reasoned in the same way (Ford 1955, 30).58 Nach Einschätzung von Jennifer Hayward (1997, 44) betrachtete Dickens, der in einem seiner Briefe mit Bezug auf die Entstehung der Pickwick Papers bezeichnenderweise selbst von einer "machinery" spricht, seine Texte einerseits als "commodities, products marketed so as to reach the widest possible audience and make the highest possible profit. On the other hand, the author believed strongly in the artistic worth of serial fiction as well as its power to positively affect both individual and social behaviour." Auch Giddings (1983b, 15) veranschaulicht, wie Dickens' Schaffen ständig zwischen seinen künstlerischen Absichten und kommerziellen Erwägungen oszillierte: He had to write what the public wanted to read. He had to cast his fictions in particular forms and within certain conventions. His correspondence and other biographical evidence will show his constant battle to write honestly and creatively within the best possible terms to be negotiated between these various requirements, as well as his understandable attempts to get the best price for his efforts.59
58 Vgl. dazu auch Coolidge (1967, 4f.): "Part of the time [...], he [Dickens] saw himself as a prophet to whom the world of his fiction was revealed in existence. Yet he wrote Collins once that to interest people in something bad a writer had to picture a girl victimized by it. He wrote about his work in Dombey and Son as a soup to which he was adding ingredients of character and plot. In addition, in letters to many authors who were submitting manuscripts to his periodicals he advised them to be dramatic, vivid, etc. In short, at other times, Dickens saw himself as the active constructor of literary devices to inject ideas into people's heads and to entertain. As the letter about showing something bad reveals, however, the construction and carpentry are included in the prophecy. Dickens knew he was a carpenter so he might be a prophet." Auch Paroissien (1983, 35) bemerkt: "In several letters, he [Dickens] acknowledged his perceptions of the duties of the 'Editor of a periodical of large circulation' [...], and discussed the conflicts that arose between an editor and an author. A work may well have artistic integrity, Dickens thought, and be the product of an accomplished writer who is a good man or woman, but it may nevertheless contain passages or scenes requiring cutting or modification, if the editor were to pass them as suitable to a mass of readers." 59 Wie David Payne (2005, 37) zeigt, erregte diese Vorgehensweise, die Dickens bei der Anfertigung seiner Texte an den Tag legte, schon bald den Verdacht zeitgenössischer Rezensenten, er verletze damit "some vague but fundamental distinction between art and commerce. The Weekly Dispatch put the matter plainly in September: 'we must protest against publishing a long story, bit by bit, in a Magazine, and then reprinting the whole in the shape of a novel.' In the same month, Bell's Weekly was warning that Pickwick was 'already exhausted,' and Bell's Life sniping at the announcement for icholas ickleby, '[n]othing like striking while "the 74
Besonders einer von Dickens' Romanen ermöglichte es gerade aufgrund seiner – wenngleich unbeabsichtigten – textuellen Armut und Unvollständigkeit seinen Konsumenten, eine aktive Rolle bei der Rezeption einzunehmen, wodurch eine Vielzahl von tertiären Texten entstand. Es handelt sich hierbei um Dickens' letzten, durch seinen relativ plötzlichen Tod unvollendet gebliebenen Roman The Mystery of Edwin Drood aus dem Jahr 1870. "Dickens's unfinished mystery has provided a Do It Yourself kit on which the imagination of would be authors and solvers has been unleashed", bemerkt Gordon Philo (1999, 389). Dass Leser der unterschiedlichsten Provenienz – "[a]uthors, scholars and armchair detectives" (Jacobson 1986, 3) – diese aktive Rolle nur allzugern einnahmen, beweist die Vielzahl und Vielfältigkeit von tertiären Texten, die über viele Jahrzehnte hinweg rund um Dickens' Romanfragment entstanden ist. Paul Schlicke (1999e, 395) spricht von einer "veritable industry of mystery solving [...], as readers attempted to guess how the story would have proceeded had Dickens lived." Wie Philo (1999, 389) darlegt, entstanden die ersten Tertiärtexte sogleich nach dem posthumen Erscheinen der letzten instalments: "Speculation about the ending of Drood began immediately after Dickens's death, and has continued ever since." Diese tertiären Texte nahmen nach Philo (ebd.) vornehmlich zwei Formen an: "'continuations', which are fictional completions, and argued cases, usually called 'solutions'." Schlicke (1999e, 395) diskutiert darüberhinaus eine recht ungewöhnliche und spezifische Art von tertiärem Text im Zusammenhang mit Dickens' letztem Roman, in der sich aber die aktive Beschäftigung mit dem Roman zumindest auf seiten einiger seiner Leser manifestiert. Schlicke spricht vom Aufkommen einer Welle von "mock trials of Jasper" zu Beginn des 20. Jahrhunderts, "most famously one in London in 1914 which lasted four and a half hours, ending only when George Bernard Shaw as jury foreman returned a verdict of 'Not Proven' without first consulting his fellow jurors." Sylvère Monod (1970, 116) nennt eine weitere 'Gerichtsverhandlung' dieser Art, die wenig später in Philadelphia stattfand. Aufgrund einer solch intensiven aktiven Beschäftigung einer doch recht großen Zahl an Lesern mit dem Roman, die sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Tertiärtexte Ausdruck verschaffte, muss diesem letzten Roman von Dickens innerhalb Fiskes System ein recht hoher Grad an Popularität zugestanden werden.
iron is hot"; but even iron may be worn out.'" 75
3.1.7 Spin off Produkte Nach Fiske (1989b, 174) lässt sich der Vorgang der Integration eines Kulturproduktes in das Alltagsleben seiner Rezipienten mit Hilfe von 'spin off' Produkten intensivieren, wodurch diesen wiederum popularisierende Funktion zukommt. Gleichzeitig ist ihre Existenz aber auch als Zeugnis der enormen Popularität eines Produktes der Kulturindustrie zu werten. Die ersten Dickens bezogenen "spin off products" bzw. Marketingprodukte entstanden bereits als Reaktion auf den enormen kommerziellen Erfolg der Pickwick Papers. "One met Pickwick everywhere", berichtet James (1963, 47). "[O]ne rode in 'Boz' cabs, wore Pickwick coats and hats and smoked Pickwick cigars." Collins (1970, 8) ergänzt: "Consumer goods, from chintzes to cigars, were given 'Pickwick' and 'Weller' brand names; the music shops were soon full of 'Pickwick Quadrilles', 'Artful Dodger Galops', ballads such as 'Nelly Gently sleeps', 'Dolly Varden', and 'God Bless Us Everyone'." Die Dickens bezogenen Marketing Produkte waren so vielfältig, dass Priestley (1969, 168) von einer regelrechten Dickens Industrie60 spricht: "As the popularity of the novels increased, many of the characters assumed a life of their own, and a 'Dickens Industry' sprang up. Music, stained glass, stauettes, china, table linen, clothes – the familiar figures were to be found reproduced everywhere." "Dickens both exploited and was exploited by a burgeoning consumer economy", schließt Jan Clayton (2003, 152) aus der Existenz von Little Nell Zigarren, Pickwick Schnupftaback, Gamp Regenschirmen, einer Vielzahl von anderen Produkten, die mit Namen aus Dickens' Oeuvre versehen waren, sowie einer nach dem Roman Our Mutual Friend benannten Taverne.61 Diese Form der Vermarktung setzte sich auch nach Dickens' Tod fort. Andrew Sanders (2003, 180) konstatiert a surprising range of porcelain representations of the novelist and his characters designed for domestic display. These range from spill jars and jugs with Dickens's profile in high relief to somewhat more refined busts in Parian china, the smallest being 20cm in height, the largest 48cm. One such model was issued to the public within a month of the novelist's death. Dickens was also commemorated by a variety of china figures representing his most popular characters [...]. Auch die Grundlagen für einen bis heute andauernden, zunehmend kommerziellere Formen annehmenden Dickens Tourismus wurden früh gelegt. Wie Thelma Groves und Tony Williams (2004, 130) darlegen, besichtigten schon zu Beginn von Dickens' schriftstellerischem Erfolg "seine Leser gerne jene Orte, die in seinen Büchern genannt
60 Vgl. dazu auch Schlicke (1985, 33). 61 Die Praxis, den Erfolg von Romanen mittels "spin off products" auszunutzen, wurde in späteren Jahrzehnten dann auch auf andere Autoren und Texte ausgeweitet. Amy Cruse (1962[1935], 323) spricht im Zusammenhang mit Wilkie Collins' populärem Roman von "Woman in White cloaks and bonnets, Woman in White waltzes and quadrilles." 76 werden oder mit seinem Leben in Verbindung stehen. Dieses Interesse besteht immer noch."62 House (1941, 13) erläutert die kommerziellen touristischen Aktivitäten, die sich um Dickens' 100. Geburtstag im Jahre 1912 rankten: Thos. Cook & Son ran a 'Whole day drive in Dickens' London' every Thursday during the summer: 'Inclusive Fare, Providing Table d'Hote Luncheon at City Restaurant, Tea at Hampstead, all Admission Fees and Gratuities, and Services of Guide Lecturer throughout, 15s., 3.60 Pounds,' and a day tour to Canterbury and Rochester for a guinea. Even now, various branches of the Dickens Fellowship organize 'Rambles' every season. [...] Inns, churches, old houses like Mrs. Clennam's and the curiosity shop, the Inns of Court, Rochester Castle, Tellson's Bank – these are the usual objects of the indefatigable tourist and sightseer. Heute existieren "Reiseführer über Dickens' London und beachtliche Abschnitte in Büchern über das 'Literarische London', sowie professionell geführte Rundgänge, um Dickens' London zu erkunden" (Groves/Williams 2004, 137).
3.1.8 Relevanz Wie in Abschnitt 2.2. gezeigt wurde, muss ein Text, um zu popular culture werden zu können, auch das Kriterium der Relevanz für sein Publikum erfüllen. Einzelne Dickens Forscher haben sich in der Vergangenheit immer wieder Gedanken darüber gemacht, worin die Relevanz von Dickens' Texten für sein zeitgenössisches Publikum bestanden haben könnte – sowohl im Bezug auf einzelne Texte, als auch auf Dickens' Gesamtwerk. Ihre Ergebnisse lassen sich zumeist auf der Achse der 'Ähnlichkeit' im Bereich der 'repräsentionalen Relevanz' ansiedeln. So betont Arthur Locker (1870, 41) die repräsentionale Relevanz der Pickwick Papers und der darin auftretenden Figuren für Angehörige seiner Generation. Diese repräsentionale Relevanz ergibt sich für ihn aus der Ähnlichkeit einiger Figuren aus Dickens' Oeuvre mit Personen aus seinem sozialen Umfeld: As for Mr Weller the elder, I have sat by his side many a time a top of the old Rocket or Regulator coach bound for Portsmouth. I have seen him exchange the mystical salutation of the whip with Tom Smart with his fast trotting mare; I have actually beheld Tom Smart imbibing rum and milk at a little inn in Petersfield, and, being a modest schoolboy, thought him very impertinent when he chucked the barmaid under
62 Willis Hall persifliert in seinem bereits erwähnten Kinderroman Henry Hollins and the Dinosaur am Beispiel des fiktiven Staplewood das Bestreben zahlreicher britischer Ortschaften, aus jeder noch so geringfügigen biographischen Verbindung mit Dickens Kapital zu schlagen: "As a matter of fact, there were some doubting citizens of Staplewood who would tell you that Mr Dickens' stay at the Pig and Bucket had been no more than an overnight one. And that his only contribution to English literature during his brief visit had been an uncomplimentary jotting in the Pig and Bucket vistors' book: 'Very hard peas and similar bed.' Nevertheless, nobody could deny that Charles Dickens had spent some time in Staplewood, no matter how short" (Hall 1977, 13f.)
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the chin. Peter Ackroyd (1990, 338) erörtert, worin für zeitgenössische Leser die Relevanz der Handlung rund um Little Nell in Dickens' Roman The Old Curiosity Shop bestanden haben könnte: Dickens was lamenting the death of a child when the deaths of children in ordinary life were quite familiar; in 1839, for example, almost half of the funerals in London were conducted for children under the age of ten, carried off by sickness or malnutrition. There was of course also the contemporary trade of child prostitution. When we first see Little Nell, this 'pretty little girl' is wandering lost through the streets of London, and as Master Humphrey watches over the house in which she lives he is filled with thoughts 'of all possible harm that might happen to the child' – no one in 1841 would have had the least doubt that one of her possible fates was that of being forced 'upon the streets'. Ähnlich verortet Paul Davis die Relevanz des Christmas Carol bei Dickens' zeitgenössischen Lesern auf der Achse der Ähnlichkeit im Bereich der 'repräsentionalen Relevanz'. Paul Davis (1990, 40) führt die sogleich nach ihrem Erscheinen einsetzende große Popularität dieser ersten Weihnachtsgeschichte aus Dickens' Feder auf deren Verankerung in der Gegenwart zurück: "For the Victorians, the heart of the story was in Christmas Present. They read the Carol as 'a tale of the times'." Wie Davis (1990, 43) ausführt, gingen der Veröffentlichung der Geschichte heftige sozialpolitische Debatten voraus, auf die Dickens mit seiner Geschichte reagierte: The severe trade recession of the mid forties, the Chartist agitation, and the continuing debate over social issues in Parliament and the press made the plight of the poor an especially topical issue in 1843. At the center of this heightened consciousness were the reports of the parliamentary commissioners investigating the employment of women and children in mines and factories that appeared in 1842 and 1843. These reports, graphically illustrated with pictures of the oppressive conditions suffered by the workers [...], shocked their Victorian readers, spurred a movement for factory reforms, and prompted a literature of social concern. [... I]t is clear that his [Dickens's] response to the parliamentary report was an important factor in making his Christmas story a tale for the times. Wie Davis (1990, 44) deutlich macht, präsentierte Dickens in seiner Weihnachtsgeschichte ein realistisches Bild der Lebensumstände zumindest eines Teils seines Publikums: The countryside that Scrooge discovers in Christmas Present lacks the mythic coloring of the countryside in Christmas Past. The miners, lighthouse keepers, and mariners represent a contemporary rural England, hard working in narrow circumstances. In the city, the Cratchit family's discussion about Peter going out to work and Martha's excuse for arriving late to Christmas dinner – that she had been working on Christmas Eve as milliner's apprentice – call up the images of the working children of the parliamentary reports. Auch Collins (1974b, 10f.) macht für die Popularität von Dickens' Gesamtwerk das 78
Bemühen des Autors verantwortlich, seine Charaktere möglichst nah an der Alltagserfahrung seiner Leser anzusiedeln: "[H]e is typically concerned, not with superior persons, but with characters of ordinary status and ambitions (however extraordinary they may be in their personal idiosyncracies)." Was die viel zitierte, vermeintliche 'Überlebensgröße' der Dickens'schen Figuren anbelangt, die auch in diesem Zitat anklingt, bemerkt Priestley (1969, 26) am Beispiel der Micawbers aus David Copperfield: "As characters they are larger and droller than life, yet cannot be entirely disconnected from it, which explains why the names of many of his comic characters soon became, like his own magazine, Household Words." Wie in Abschnitt 2.2. dieser Arbeit dargelegt wurde, besteht eine für die Entstehung von popular culture notwendige Bedingung darin, dass ein Konsument ein von der Kulturindustrie bereitgestelltes Produkt in sein Alltagsleben integriert. Lässt sich eine solche Integration des kulturindustriellen Produktes in das Alltagsleben seiner Rezipienten nachweisen, ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Konsumenten dieses Produktes durch dessen aktiven Gebrauch popular culture haben entstehen lassen. Eine Integration von Dickens' Texten in das Alltagsleben seiner Leser wurde immer wieder festgestellt. Bereits 1906 schrieb G.K. Chesterton (1975[1906], 72) mit Bezug auf die Pickwick Papers: The Dickens novel was popular not because it was an unreal world, but because it was a real world; a world in which the soul could live. The modern 'shocker' at its very best is an interlude in life. But in the days when Dickens's work was coming out in serial, people talked as if real life were itself the interlude between one issue of 'Pickwick' and another. J.B. Priestley (1969, 17f.) betont die aktive Rolle, die Dickens' Romane ihren Lesern zuwiesen: There is something largely passive now in our mass entertainment that was fiercely active when Dickens was writing. […] Dickens's readers pounced on those fortnightly or monthly parts in which so many of his novels came out, then hurried away, gloating over them, ready to live intensely again with the characters found in them. [...] There is an old story that when Dombey and Son was coming out in parts, a horseman galloped through a village, late at night, shouting 'Carker's dead!' That suggests popularity and public entertainment of a sort that no novelist has reached since Dickens (Hervorhebung im Original). Zusammenfassend lässt sich die Einschätzung von Deborah Vlock (1998, 11) zitieren: "His [Dickens's] characters and plots filled Victorian imaginations. People read him with a strong faith in his truth and originality, and a simultaneous conviction that they personally knew his characters."
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3.1.9 Marketingstrategien der Verleger Zu Dickens' groβem Erfolg dürfte auch die Tatsache beigetragen haben, dass seine Verleger schnell Strategien entwickelten, ihren Erfolgsautor so gewinnbringend wie möglich zu vermarkten. Es handelt sich hierbei um Veröffentlichungs und Werbestrategien, von denen bis heute bei der Vermarktung von popular culture Produkten in kaum abgeänderter Form Gebrauch gemacht wird: Sobald das letzte instalment der Pickwick Papers im November 1837 auf dem Markt war, begannen Dickens' Verleger Chapman and Hall seine Sketches by Boz, die bereits 1836 in Buchform erschienen waren, erneut zu veröffentlichen – und zwar diesmal ebenfalls in monatlichen Fotsetzungen, deren letzte im Juni 1839 auf den Markt kam. Als dann, nach Erscheinen der letzten Folge des in der Zeitschrift Bentley's Miscellany zwischen Februar 1837 und April 1839 veröffentlichten zweiten Romans Oliver Twist, der Text erstmals als komplettes Buch erschien, ersetzte man auf dem Cover der Veröffentlichung nicht nur Dickens' Pseudonym Boz durch seinen wirklichen Namen, sondern fügte diesem noch den Zusatz bei: 'Author of The Pickwick Papers.' Die Ähnlichkeiten dieser Strategien zu Praktiken der gegenwärtigen Kultur Industrie, die nach dem kommerziellen 'Durchbruch' eines Kulturschaffenden schnell für Neuveröffentlichungen von dessen vorausgegangenen Werken sorgt – häufig mit verkaufsfördernden Zusätzen, die dem auf dem Cover der ersten Oliver Twist Buchausgabe frappierend ähneln – müssen hier wohl nicht näher erläutert zu werden (vgl. dazu Dunn 1993, 22).
3.2 Frühe Popularisierungen 3.2.1 Adaptionen von Dickens' Romanen in Schriftform63 Zumindest Dickens' Publikum aus den unteren Gesellschaftsschichten rezipierte seine Werke häufig nicht in der Form, in der sie von ihm geschrieben wurden.64 Bereits 1837, als die Popularität der Pickwick Papers ihren Höhepunkt erreicht hatte, begannen erste Adaptionen des Textes in Schriftform zu erscheinen, die sich gezielt an Leser aus der Arbeiterklasse richteten, und die sich als die ersten Popularisierungen von Dickens' Roman betrachten lassen
63 Die folgende Überblicksdarstellung ist James (1963) verpflichtet. 64 Obwohl für John Butt und Kathleen Tillotson (1957, 13) bereits in Dickens' erstem Roman The Pickwick Papers das Bemühen des Autors, eine große Anzahl von Lesern zu erreichen, erkennbar ist – "by cutting the price to suit their pockets. The method chosen was to publish in 'what was then a very unusual form, at less than one third of the price of the whole of an ordinary novel, and in shilling Monthly Parts'." Zu Beginn von Dickens' Karriere als Schriftsteller, wie Butt/Tillotson (ebd.) ebenfalls darlegen, herrschten ansonsten noch eher die Veröffentlichungsmodalitäten des 19. Jahrhunderts vor: "In the eighteenth century, novels had appeared in five volumes, or even in as many as seven; but by the time of Scott and Jane Austen the usual number was three or four. The prices varied: it was not uncommon to charge as much as half a guinea a volume, which made novelreading exceedingly expensive to those who did not belong to a circulating library." 80
In diesem Zeitraum veröffentlichte der Herausgeber Edward Lloyd die erste Folge von "The Posthumous otes of the Pickwick Club, edited by 'Bos'." 'Bos' adaptierte Dickens' Erstlingserfolg sorgfältig den Bedürfnissen und dem Verständnishorizont seines Publikums entsprechend,65 und war ganz offensichtlich darum bemüht, seinem Publikum die Rezeption durch Streichung bzw. Umgestaltung der Elemente, die auf seiten der Leser möglicherweise zuviel vorausgesetzt hätten, zu erleichtern: "The whole level of the comedy is altered. In the breach of promise case, all legal subtlety is removed, and Pickwick is tried for assault. For comic restraint physical slapstick is substituted wherever possible. Physical chastisement is inflicted on Shirk, and on Quizzgig and Fidge (Dodson and Fogg)" (James 1963, 51f.). Auch die repräsentionale Relevanz des Stoffes für seine Zielgruppe suchte 'Bos' herzustellen bzw. zu verstärken, und zwar über die Achse der 'Ähnlichkeit': Pickwick was seen as he would have actually appeared to a working class person, not as a high intentioned innocent, a Quixote to Weller's Sancho Panza, but as an odd, economically pompous old gentleman. He is treated as this audience would have treated him. In the course of the first volume alone, he is ducked eight times, generally in filthy water, and once, in a duel with Squib, the editor of The Guzzelton Mercury, he is shot in the buttocks. [...] As might be expected, Samuel Weller is the true hero. Dickens had balanced this character, so that while his native resourcefulness and wit endeared him to the lower class reader, his devoted service to his master made him approved by those who had servants himself [sic]. With 'Bos' this balance is lost. On one occasion, Pickwick finds Sam on the stage during a play and demands his immediate withdrawal; Sam insists on finishing his part – he is in command, and he must have his glory (James 1963, 51f.). Die Version der Pickwick Papers, die 'Bos' der lower class offerierte, war keineswegs die einzige schriftliche Adaption des Romans, den James (1963, 47) als den meistplagiierten seiner Zeit apostrophiert, und der sich seiner Darstellung zufolge aufgrund der mit hohem Wiedererkennungswert versehenen Hauptfigur einerseits und der episodischen Struktur andererseits den Zwecken des Plagiats geradezu empfahl (vgl. James 1999, 457).66 So
65 Diese Form der Popularisierung von literarischen Texten wurde, wenngleich in wohl geringerem Umfang, bereits im 18. Jahrhundert praktiziert. F.R. Leavis (1932, 134f.) diskutiert ein früheres Beispiel, wenn er von der immensen Popularität Sternes berichtet, "which elicited one volume of Tristram Shandy after another [...A] whole public that clamoured for more and more parts of Tristram Shandy is now almost inconceivable. But it did not last long. A proof of what happened to that public lies in a little volume entitled 'The BEAUTIES of STERNE; including all his Pathetic Tales, and most distinguished OBSERVATIONS on LIFE. Selected for the Heart of [135] Sensibility.' [...] This one sided version of Sterne was so popular that by 1782 it had reached a fourth edition, and it proves how much easier it was found to read Sterne for the wrong reasons than for the right ones – that is, to make a partial instead of a complete reponse." 66 Solche Plagiate verdanken ihre Existenz vor allem auch einer unzureichenden Copyright Regelung: "Plagiarisms were first made to avoid prosecution. By the 1809 Copyright Act, an author's works were protected for twenty eight years. [...] The author, however, had little redress against plagiarism" (James 1963, 45). Ganz abgesehen davon schien Dickens selbst das popularisierende Potential solcher Plagiate bzw. Adaptionen seiner Stoffe schnell erkannt zu haben. J.L. und Barbara Hammond (1962[1930], 322Fn2) berichten jedenfalls: "A 81 verfasste etwa G.W.M Reynolds eine weitere erfolgreiche Adaption mit dem Titel Pickwick Abroad: or the Tour in France. Der Erfolg dieses Textes von Reynolds führte wiederum dazu, dass 'Bos' ein weiteres Plagiat unter dem Titel Mr. Pickwick in America verfasste. Auch Reynolds ließ die Pickwick Figur noch mehrere Male auferstehen, etwa in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift The Teetotaller, für die er die "Notes Pickwickianae" sowie die Fortsetzungsgeschichte Pickwick Married schrieb (James 1963, 57). Während sich die von Edward Lloyd publizierten Plagiate an eine Leserschraft richteten, die aufgrund von mangelnder Bildung das Original kaum hätten rezipieren können, wandte sich Reynolds nach Einschätzung von James (1999, 459) mit seinen Veröffentlichungen jedoch an ein gebildeteres Publikum. Im Jahr 1852 schließlich erschien mit Edward Viles' Marmaduke Midge, the Pickwickian Legatee erneut eine Adapation der Pickwick Papers. Der Held dieser Erzählung ist allerdings nicht Mr. Pickwick selbst, sondern ein Cousin von ihm. "Pickwick, of course, never appears, but even at this distance of time from the publication of The Pickwick Papers, his name was considered sufficient to raise the sales of a work" (ebd.). James diskutiert auch die Texte von Autoren, die Dickens nicht so sehr plagiierten, sondern sich eher von ihm inspiriert zeigten: "If there were a number of works plagiarizing the characters of Dickens's work, there were yet more who adopted the idea of a club holding together a group of varied characters on travelling adventures" (James 1963, 58). Zu diesen Veröffentlichungen gehören etwa die von einem anonymen Autor verfassten Posthumous Papers of the Cadgers' Club, Major Rudbank at Home and Abroad sowie Pierce Egans The Pilgrims of the Thames in Search of the ational. Auch die folgenden Romane von Dickens wurden für die lower class Leserschaft adaptiert. Oliver Twiss, wiederum von 'Bos' verfasst, ran to more than twice the length of Dickens's novel. As might be expected with a story more organically constructed, the plagiarism followed the original more closely than did The Penny Pickwick. All the main characters reappear: Fagin (called Solomons), Nancy (Polly), Bumble (Theophilus Mumble), and the others. They are overdrawn with melodramatic crudity (James 1963, 60). Eine weitere Oliver Twist Adaption, die ebenfalls den Titel Oliver Twiss trug, wurde von 'Poz' verfasst. Zu dem Zeitpunkt, als Dickens' Verleger Chapman and Hall das Erscheinen von icholas ickleby ankündigten, hatte sich das Nebeneinander Existieren von Original und
great deal of spurious Dickens was produced at this time. Dickens was said to have threatened an injunction at first, but to have admitted afterwards that they were a good advertisement for him." 82
Adaption schon so etabliert, dass sich Merkwürdiges ereignete: Laut James (1963, 63) sprechen alle Anzeichen dafür, dass die erste Folge von Dickens' drittem Roman The Life and Adventures of icholas ickleby, Containing the Fortunes, Misfortunes, Uprising, Downfallings and Complete Career of the ickleby Family am selben Tag erschien wie die erste Folge von 'Bos'' Adaption ickolberry ikollas, Containing the Adventures, Mis Adventures, Chances, Mis Chances, Fortunes, Mis Fortunes, Mysteries and Mis cellenanious Manoeuvres of the Family of ikollas. Dies hatte zur Folge, dass 'Bos' zu Beginn seiner Adaption nicht so recht wusste, was er da eigentlich imitierte: [H]e was in some straits to conceal what he denied in the opening paragraph – 'we are not ... in want of a hero'. He reproduced his proclamation against dishonest plagiarism, and filled two pages with an extraordinary description of Nicklebery Hall, which he placed near Harrogate in Yorkshire. [...] Only at the end of the second number did he begin to bring his story round to his original with the appearance of 'The New London Limited Hot Baked Flourry Potatoe [sic] Conveyance and Delivery Company!!!' Once the unfortunate husband's twins have been identified as Nickelas and Flora Nickelbery, the story continues as the closest of the Dickens plagiarisms up to his date (James 1963, 63f.). John Williams schrieb wenig später eine Fortsetzung zu icholas ickleby: "Scenes from the Life of ickleby Married, 'Edited by "Guess"', with illustrations by 'Quiz' [...] takes up the story of Nicholas where Dickens left off" (James 1963, 67). Ähnlich wie die von Reynolds verfassten Adaptionen war jedoch auch dieser Text eher an ein der Mittel denn der Arbeiterklasse entstammendes Publikum gerichtet (James 1999, 459f.). 1840 veröffentlichte Lloyd eine Adaption von Master Humphrey's Clock unter dem Titel Master Humphries' [sic!] Clock, ebenfalls von 'Bos' verfasst, allerdings vermutet James (1963, 64) in diesem Fall hinter dem Pseudonym einen anderen Autor. Von G.W.M. Reynolds erschien 1842 Master Timothy's Book Case. Überliefert sind ferner Adaptionen von Barnaby Rudge unter dem Titel Barnaby Fudge, geschrieben wiederum von 'Bos' und von Martin Chuzzlewit – 'Bos' entschied sich in diesem Fall für den Titel Life and Adventures of Martin Puzzlewhit. Zur Popularisierung der Romane The Old Curiosity Shop und Barnaby Rudge mögen auch die abgekürzten Versionen beigetragen haben, die Henry Hewitt angefertigt hatte, und die unter den jeweiligen Originaltiteln 1841 in Parley's Penny Library; or, Treasury of Knowledge erschienen (James 1963, 65). Aus Dombey and Son schließlich wurde in Renton Nicholsons Adaption 1847 Dombey and Daughter. Von diesen späteren Adaptionen waren zunehmend weniger auf die unteren Gesellschaftsschichten abgestimmt, da die Autoren, die sich mit ihren Veröffentlichungen an die Arbeiterklasse richteten, allmählich dazu übergegangen waren, ihre eigene Literatur zu verfassen. Viele dieser Texte 83 wurden jedoch zu einem für die lower class erschwinglichen Preis angeboten (vgl. James 1963, 66f.). Zu den häufig adaptierten Werken von Dickens gehört auch, wie James (1963, 70) darlegt, A Christmas Carol. Zwei der zahlreichen Adaptionen dieses ersten von Dickens' Christmas Books zielten wiederum auf die unteren Gesellschaftsschichten: Henry Hewitts A Christmas Ghost Story (1844), dessen zweite Hälfte aufgrund eines entsprechenden Gerichtsbeschlusses nicht erscheinen durfte, und das 1846 erschienene The Christmas Log, dessen Autor nicht bekannt ist, das aber wiederum von Edward Lloyd verlegt wurde. Insgesamt begann jedoch spätestens ab Mitte der 1840er Jahre die Zahl der Adaptionen in Schriftform zurückzugehen. Zu dem Zeitpunkt, als Dickens Dombey and Son veröffentlichte, hatte sie bereits deutlich abgenommen. Diese Entwicklung führt James (1999, 460) vor allem auf generelle Veränderungen innerhalb des Literaturbetriebs zurückführt: "The first flood of imitative works had been produced to fill a dearth of literature demanded by a rapidly increasing mass reading public. By the 1840s this was being supplied by a new generation of popular writers." Im Zusammenhang mit diesen frühen Dickens Adaptionen sowie mit dem Verleger Edward Lloyd und dem Autor G.W.M. Reynolds, die er als Protagonisten auf diesem Gebiet betrachtet, betont James (1999, 460) wiederum Dickens' Bedeutung als mass culture Pionier: "Through them, if indirectly, Dickens played a part in developing genres of reading that were to be the basis of today's mass literature." Schriftliche Adaptionen von Dickens' Texten gab es indes auch noch in späteren Jahrzehnten. Wie Gillian Avery (1999, 92) darlegt, wurden ab der Wende zum 20. Jahrhundert vor allem Nacherzählungen der Romane für Kinder populär. Dabei ist auch in diesem Fall auf seiten der jeweiligen Autoren das Bemühen erkennbar, die repräsentionale Relevanz der erzählten Stoffe für ihr Zielpublikum zu erhöhen, indem sie den Fokus auf die Kinder in Dickens' Texten richteten, auch in Fällen, in denen diese innerhalb von Dickens' Originaltexten nicht die Hauptrollen einnahmen: The most general approach was through the child characters; David Copperfield was always the most popular [...]. Some books featured minor juveniles as well as the standard principals; Lucy Weldon's Child Characters from Dickens (1905) [...] included children from the Christmas stories; Samuel McChord Crothers's The Children of Dickens (1925), illustrated by Jessie Wilcox Smith, takes in the Jellyby children, the Infant phenomenon, the Kenwigs, Todgers' boy Bailey, Sissy Jupe, young Wilkins Micawber, and Joe the Fat Boy. Kate Dickinson Sweetser's Ten Boys from Dickens and Ten Girls from Dickens (1925) also included less obvious characters such as 'Deputy' from Drood, Kit Nubbles and the Marchioness from The Old Curiosity Shop, and Tilly Slowboy (CH) (Avery 1999, 92f.). 84
Daneben lässt sich in einigen Fällen die Absicht der Autoren erkennen, dem jugendlichen Publikum die Rezeption durch Streichung von Elementen, die auf seiten des Lesers zuviel voraussetzen würden, die als anstößig bzw. als für Kinder ungeeignet betrachtet werden könnten oder nicht direkt mit der Handlung des Textes verknüpft sind und den Fortgang der Erzählung aufhalten würden, zu erleichtern. Die Autorin Annie Douglas Severance etwa erklärte in der Einführung zu ihren verkürzten Versionen von David Copperfield und Oliver Twist, die im Jahr 1905 unter dem Titel The Child's Dickens erschienen, sie habe ihre beiden Vorlagen durch Entfernen von Anstöβigem und Abschweifendem vereinfacht (vgl. Avery 1999, 92). In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts sieht Avery (1999, 93) die Zahl der Dickens Nacherzählungen zwar zurückgehen, nennt aber eine Ausnahme: "Edward Blishen's Stand up, Mr Dickens (1995) [...] attempts to give the flavour of five novels in the style of a reading by Dickens himself." Michael Slater (1970, 136) diskutiert eine weitere aus dem 20. Jahrhundert stammende Adaption in Schriftform eines Dickens Romans für ein erwachsenes Publikum, nämlich Robert Graves' provokant mit The Real David Copperfield überschriebenes Werk aus dem Jahr 1933: Convinced that hardly anyone except 'the great backward of the depressed provinces and semi residential suburbs' now read Dickens, Graves set himself, he said in a foreword, to rewrite Copperfield 'for the ordinary reader' [...]. For Dickens' 'diluted style' Graves substituted what he felt to be a more acceptable, plainer way of writing and 'tightened up and sorted out' the plot. Neben diesen Änderungen, die wohl mit der Absicht vorgenommen wurden, dem Leser die Rezeption zu erleichtern, bemühte sich auch dieser Autor darum, die repräsentionale Relevanz des Stoffes für sein Publikum zu verstärken: David was made a rather sexier character ('I would have my supper, undress and then quietly get into a warm bed with a half asleep Dora...') and was given a passionate last scene with Emily, his real love all along, before her departure for Australia and suicide (for she hopelessly reciprocated David's love and ran away with his hero only to hurt him) (Slater 1970, 136f.). Obgleich Dickens heute ungleich häufiger für nicht schriftliche Medien adaptiert wird, erscheinen vereinzelt doch auch zeitgenössische Popularisierungen in Schriftform. Eine solche Adaption des Romans David Copperfield aus dem Jahr 2007 wird in einem späteren Kapitel dieser Arbeit auf die darin verwendeten Popularisierungsstrategien hin analysiert werden.
85
3.2.2 Dickens' public readings Im vorausgegangenen Abschnitt sind bereits erste Dickens Popularisierungen, als die sich die Adaptionen seiner Texte für ein Publikum aus den unteren Gesellschaftsschichten betrachten lassen, diskutiert worden. Angesichts der Tatsache, dass Dickens das popularisierende Potential solcher Adaptionen offensichtlich schnell erkannte (vgl. Hammond/Hammond (1962[1930], 322Fn2)), ist es nicht verwunderlich, dass er wenige Jahre später selbst als Adapteur seiner eigenen Texte tätig wurde. "Dickens much liked to be liked", schreibt Philip Collins (1974a, 183), and not just by the few. Since 1836, it had been superabundantly evident that he had more of the literary talents requisite for widespread popularity than any author since Shakespeare; now he showed in the public readings that, miraculously, he also had, more abundantly than any other English writer of comparable importance, the second set of talents needed for platform popularity. Im Jahr 1853 las Dickens erstmals öffentlich aus seinen Texten vor. Waren seine Texte in ihrer schriftlichen Form bei den unteren Gesellschaftsschichten noch in einer von Dickens eher unbeabsichtigten Weise populär geworden, so legte Dickens bei der Planung seiner Lesungen von Anfang an Wert darauf, mit diesen Veranstaltungen ein wiederum möglichst großes und aus allen unterschiedlichen Schichten stammendes Publikum zu erreichen. So legte er fest, dass die dritte seiner für den 27., 29., und 30. Dezember 1853 in der Town Hall in Birmingham geplanten Lesungen von Auszügen aus seinen Weihnachtsbüchern weitgehend für Besucher aus der Arbeiterklasse reserviert sein sollte.67 Wie Collins (2004, 107) betont, war Dickens die Anwesenheit von Vertretern der höheren Schichten jedoch nicht minder wichtig, weshalb er üblicherweise nicht in Theatern auftrat, da diese "für viele ehrbare Familien tabu waren, sondern in städtischen oder institutionellen Sälen." Bei der Auswahl der vorzutragenden Texte und ihren anschließenden Umgestaltungen in vortragsfähige Manuskripte richtete Dickens sein Augenmerk auf die Elemente seines Gesamtwerks, die sich zuvor schon als die populärsten erwiesen hatten. Wie Collins (1974a, 186) darlegt, stammen weniger als die Hälfte der 21 Lesungen, die Dickens im Lauf der fast siebzehn Jahre, während derer er Lesungen veranstaltete, auf die Bühne brachte, aus seinen Romanen. "Most came from the Christmas books and stories; there are several reasons for this, the most obvious being that these shorter narratives were easily adaptable into coherent readings of an appropriate length" (ebd.). Kent listet außerdem Lesungen, die den Romanen
67 Vgl. Kent (1872, 42): "[H]e repeated the 'Carol' to another densely packed throng of listeners, mainly composed, this time, according to his own express stipulation, of workpeople. So delighted were these unsophisticated hearers with their entertainer – himself so long familiarly known to them, but then for the first time seen and heard – that, at the end of the Reading, they greeted him with repeated rounds of cheering." 86
The Pickwick Papers, Oliver Twist, Dombey and Son und David Copperfield entstammen. Philip Collins (1974a, 192) und David Ponting (1983, 120) weisen dezidiert darauf hin, dass Dickens' Lesungs Repertoire alle Romane, die nach David Copperfield erschienen waren, ausschloss.68 "From the novels", so Collins (1999b, 486) he usually selected an episode ("The Trial from Pickwick") or short swathe of the action ("The Story of Little Dombey", "Nicholas Nickleby at the Yorkshire School"), eliminating irrelevant characters and developments, coalescing characters, and sometimes raiding the novel for choice phrases and speeches. Schon Charles Kent (1872, 21) betonte, dass Dickens, wenn es um die Bearbeitung seiner Texte für die Lesungen ging, stets größte Sorgfalt walten ließ – eine Tatsache, in der Kent auch eine Erklärung für den anhaltenden Erfolg von Dickens' public readings sieht. It was not by any means that, having written a story years previously, he had, in his new capacity as a reciter, merely to select two or three chapters from it, and read them off with an air of animation. Virtually, the fragmentary portions thus taken from his larger works were re written by him, with countless elisions and eliminations after having been selected. Reprinted in their new shape, each as 'A Reading,' they were then touched and retouched by their author, pen in hand, until, at the end of a long succession of revisions, the pages came to be cobwebbed over with a wonderfully intricate network of blots and lines in the way of correction or of obliteration (ebd., 23). Collins (1974a, 190) macht deutlich, wie Dickens, der schon bei der Abfassung seiner Romane die Interessen seiner Leserschaft zu berücksichtigen suchte, auch bei der Gestaltung seiner Lesungstexte stets die Bedürfnisse seines Publikums im Blick behielt, auch wenn das gelegentlich zu Lasten der Kohärenz des resultierenden Lesungstextes ging: The closing episode of Sikes and ancy – added in manuscript after the trial performance – is a striking example of Dickens' skill in selecting and dramatizing. Only eight hundred words long, it draws upon chapters in the novel over ten times that length. But his task in devising this reading was relatively simple, for it derived from five climactic and contiguous chapters of the novel (xlv l, omitting chapter xlix), though reducing their length by about two thirds. David Copperfield set more formidable problems, and the reading lacks coherence: the Steerforth Emily Pegotty story holds together, but would have been dismal and have disappointed audiences who loved other things from the novel, so Dickens included those episodes about Dora and the Micawbers, though they have no relevance at all to the main plot of his reading. Am Beispiel der David Copperfield Lesung legt Collins (1974a, 190f.) auch dar, wie die textliche Umgestaltung der von Dickens ausgewählten Roman Inhalte vor sich ging: Dickens abbreviates: descriptive passages go, indications about who is speaking and how are jettisoned as unnecessary, bystanders and other irrelevant characters are
68 Vgl. Ponting (1983, 120): "Dickens stuck to the comic, the tragic and the absurd, believed that his best material for reading was David Copperfield and ignored all the dramatic possibilities of some of his later writings." 87
written out. [...] But there is no substantial rewriting. Apart from condensing, and adding the rare happy phrase and a few bridge passages, Dickens' [sic] alterations are of these minor kinds: improving the diction [...]; slightly thickening a speaker's characteristic idiom [...]; improving the rhythm of a phrase, for spoken delivery, and moving the punch line of a joke or comic phrase to the end of a sentence (pause for laughter); deleting phrases about stance, appearance, action, expression, which the recitalist could convey physically; ommitting local references which might puzzle provincial American audiences [...]. 'Is' becomes 'was then', in a reference to customary attire: and I suspect that some other changes were updatings, to align the readings to contemporary manners [...]. Possibly offensive, or incomprehensible, phrases were removed [...]. Another frequent kind of alteration: jokes are pointed up [...]. Or jokes are made [...]. Or jokes are thwacked home [...]. Or cases are made harder [...].69 Dickens bediente sich hier also einer Auswahl der Popularisierungsstrategien, die in Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit zusammengestellt wurden, etwa der Strategie des updatings, der Kürzung deskriptiver Passagen, der Streichung von Anstöβigem und Unverständlichem sowie der Betonung von Humoristischem. Zudem verzichtete Dickens bei seinen Lesungen generell darauf, sozialkritische Passagen aus seinen Romanen zu rezitieren (Collins 1974a, 192), wie auch Paul Davis (1990, 56) am Beispiel von Dickens' Umgestaltung seines A Christmas Carol zu Vortragszwecken darlegt.70 Dickens hatte diesen Text zunächst zu einer Lesung umgearbeitet, im Laufe der Jahre wurde der so entstandene neue Text noch weiter gekürzt, bis sein Vortrag schließlich nur noch anderthalb Stunden in Anspruch nahm: The cuts he made kept drama at the expense of narrative. [...] He also cut social comment and criticism, removing, for example, Scrooge's discussion of sabbath observance with the Spirit of Christmas Present and the revelation of the urchins Ignorance and Want. What remained most intact over the years were the sections describing the Cratchit family, especially their Christmas dinner, the centerpiece of the reading. Obwohl Dickens also sehr bemüht war, das populäre Potential seiner Texte noch zu erhöhen – laut Davis (1990, 53) sah er in seinen öffentlichen Lesungen eine Chance, auch ein Publikum zu erreichen, das des Lesens nicht mächtig war – und obwohl er bei der Umgestaltung seiner Texte zu vortragsfähigen Manuskripten Collins' soeben zitierten Ausführungen zufolge genau jene Techniken anwandte, die im vorausgegangenen Kapitel
69 Vgl. zu Dickens' Adaptionstechniken auch Ponting (1983, 116f.). 70 Solche Techniken brachten Dickens den folgenden Vorwurf des Schauspielers Emlyn Williams, der ab den späten 1940er Jahren selbst 30 Jahre lang mit Lesungen von Dickens' Texten auftrat (vgl. Pointer 1996, 75), ein: "To me, Dickens the actor – and without having seen him, let us grant that he was as extraordinarily gifted as he may well have been – Dickens the actor did not do full justice to Dickens the author, in the material he chose to perform: I am emboldened to give that opinion after a long and arduous search through the entire Dickens canon, for my own stage material. To me, Dickens the actor chose to ignore the richest and most exciting vein in the whole treasure cave: the descriptive writing. He neglected Dickens the man of literature" (Williams 1969, 192). 88 dieser Arbeit als Popularisierungsstrategien klassifiziert wurden, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden, dass Dickens mit seinen Lesungen ein wesentlich größeres Publikum erreichte als mit seinen seinen gedruckten Texten. Außer Frage steht, dass Dickens' Lesungen von unzähligen Menschen, mitunter mehr als 2000 pro Lesung, besucht wurden (vgl. Pointing 1983, 132 und 131). Densely packed from floor to ceiling, these audiences were habitually wont to hang in breathless expectation upon every inflection of the author reader's voice, upon every glance of his eye, – the words he was about to speak being so thoroughly well remembered by the majority before their utterance that, often, the rippling of a smile over a thousand faces simultaneously anticipated the laughter which an instant afterwards greeted the words themselves when they were articulated (Kent 1872, 19). Ähnlich wie Privatpersonen heute aus bereits erworbenen Tickets für zwischenzeitlich ausverkaufte Konzerte populärer Musiker Kapital schlagen können, indem sie diese Tickets im Internet zum Verkauf anbieten, konnten Viktorianer mit Eintrittskarten für Dickens Lesungen Gewinne von bis zu 2000 Prozent erzielen (vgl. Priestley 1969, 19). Zuweilen war das Interesse an den Lesungen nämlich so groβ, dass ganze Menschenmengen an den Eingängen abgewiesen werden mussten, da die jeweiligen Säle bereits voll besetzt waren (vgl. Kent 1872, 19). Der Großteil der Besucher dürfte zum Zeitpunkt der Lesungen mit Dickens' Werk bereits bestens vertraut gewesen sein: "Dickens knew that, when he read, the words spoken would be almost as well known to his audience as to himself. Those who now heard him previously would have read and re read them in the published versions of his novels" (Pointing 1983, 114, Hervorhebung im Original).71 Emlyn Williams (1969, 190) macht deutlich, inwieweit die Tatsache, dass Dickens den Inhalt seiner Romane bei seinem Publikum als bekannt voraussetzen konnte, sich auf die Adaptionsweise auswirkte: Mr Bob Sawyer embellished one side of the fire, and Mr Ben Allen embellished the other.' No need to describe Bob or to remind the audience what his job was or where he lived. Everybody knew. 'All this time I had gone on loving Dora more than ever.' Who was Dora? No need to explain. Everybody knew. Collins (1974a, 188) schlussfolgert: [O]ne of the major delights of Dickens' readings was the pleasure of recognition, most famously instanced by the audience's cheer, which became traditional, during The Trial from 'Pickwick'; when Serjeant Buzfus said, 'Call Sam Weller,' audiences almost
71 David Ponting (1983, 114f., Hervorhebung im Original) mutmaßt, dass gerade in der Vertrautheit von Dickens' Publikum mit seinen Texten zum Zeitpunkt der Lesungen für Dickens eine Herausforderung lag: "[O]ut of the descriptive passages and the published illustrations [in the novels], the private reader would have already conjured each character; and these mental images would be perfect, like the perfect 'sets' in radio plays. Now Dickens would have to provide a real, physical shape to each character, a distinctive body attitude, and, perhaps most difficult of all, he had to provide a voice, and convince them all that his was definite." 89
always applauded the mere mention of this character, who had not yet appeared in the reading. Dennoch wirkte sich nach Ansicht von Kent (1872, 21) Dickens' Erfolg mit seinen Lesungen durchaus auch auf seine Popularität aus: "It strengthened and extended his already widely diffused and intensely personal popularity." "[I]n his later years, the world knew him as much by his readings as by his books", urteilt Collins (1974a, 185). Zusammenfassend lässt sich Davis' (1990, 53) Einschätzung zitieren: "[N]othing did more for Dickens' popular image than his public readings."
3.3 Dickens' Popularität über seinen Tod hinaus und Beginn der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit seinem Werk Dass sich Dickens zu seinen Lebzeiten einer in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Popularität erfreute, wurde in den vorausgegangenen Abschnitten dieser Arbeit gezeigt. Wird die Frage untersucht, inwieweit sich diese Popularität nach Dickens' Tod im Jahr 1870 fortsetzte, ergibt sich zunächst ein uneinheitliches, wenn nicht gar widersprüchliches Bild. Etliche Forscher konstatieren in den Jahren nach Dickens' Tod ein Abnehmen der Popularität seiner Texte und führen dieses Phänomen auf die Kurzlebigkeit populärer Kultur zurück, die im zweiten Kapitel dieser Arbeit bereits diskutiert wurde. So spricht K.J. Fielding (1970, 94) vom Aufkommen einer jüngeren Generation "with different tastes, calmer opinions, a less vigorous sense of humour." Fielding zitiert in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Francis Phillimore, der im Jahr 1884 im Vorwort zu Dickens' Memento bemerkt hatte: After ... the doubtful justice and the elaborate candour of the 'Life' by Forster, had caused a certain revulsion of feeling ... the question was, How would young people relish Dickens? And the answer was divided. By many – rather fastidious than refined ... Dickens's pathos and his dramatic movement, his caricature and his comedy were all involved in a general and complete rejection, as something too strong and coarse and obvious for modern feeling. By others, divisions and distinctions were made ... and the swagger and grimace and effort of so much of [his] work were liberally acknowledged as accidental rather than essential (z.n. Fielding 1970, 94). Auch George H. Ford (1955, 180) erkennt einen 'Entthronisierungsprozess' des Autors spätestens um die Jahrhundertwende, den er auf ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zurückführt, die aber alle mit dem ephemeren Charakter populärer Kultur zu tun haben: There was a shift of taste; there was a development of new theories of the novel, and there was a recognition by English readers of fresh talents among the novelists of England, France, America, and Russia, a recognition stimulated partly because these talents were in accord with the shift of taste. "We do, however, know that, in the twelve years following his death in 1870, Dickens' 90 publishers sold a total of four and a quarter million volumes of his works", gibt William Axton (1976, 28) demgegenüber zu bedenken. Wie Sylvère Monod (1970, 101) darlegt, verkauften sich Dickens' Romane auch nach der Jahrhundertwende weiterhin gut. Allein die Verleger Chapman and Hall setzten in den ersten sechs Jahren des 20. Jahrhunderts zwei Millionen Exemplare von Dickens' Werken ab. George Gissing schrieb im Jahr 1902: "By the multitude he is read as he ever was, with delight in his strong characteristics, regardless of his prominent defects; the intelligent read him, in spite of a severity of criticism such as no other novelist has undergone and survived" (z.n. Monod 1970, 101). Andrew Sanders (2003, 176) sieht in der Tatsache, dass noch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ein Dickens bezogener Marketing Artikel erschien, ein weiteres Indiz für Dickens' fortdauernde Popularität: In the early years of the twentieth century the Royal Doulton factory issued a commemorative plate showing the head and shoulders of a beningly bearded Dickens against a background of London with St Paul's looming over the novelist's right shoulder. The rim of the plate shows the heads of eleven characters from Dickens's novels arranged in the manner of a wreath or a nimbus. With the exception of the head of Little Dorrit, all of the characters come from novels published in the first half of Dickens's writing career. [...] Most of the heads derive from the original illustrations to the novels by George Cruikshank and H.K. Browne ('Phiz'). [...] The Doulton plate can be seen as reflecting much of the popular perception of Dickens's art in the first half of the twentieth century. The fact that it remained in production for many years is not just a testimony to the author's continuing appeal to readers and collectors alike but also an indication of the understanding of the kind of novelist Dickens was. Die Qualität von Dickens' Popularität in den Jahren zwischen 1920 und 1940 hat Michael Slater (1970, 125) untersucht: On one thing all champions of Dickens in this period were agreed: he was still a great popular novelist. […] On 12 June 1920 John o'London's Weekly published an article 'Is Dickens still popular?' which set forth the results of a questionnaire extensively circulated among public librarians. This showed that his works were greatly in demand – of the 75 copies of novels held in Newcastle libraries 53 were in use on the day when the City Librarian compiled his statistics. [...] In 1931 the Mayor of Bath, speaking as Chairman of the Municipal Library, observed, 'We have difficulty in keeping pace with the demand for Dickens's works [...]. Publishers, too, bore witness to Dickens's popularity. He was, reported Dent's in 1928 [...], a best seller in their Everyman's Library series [...]. By 1935 Copperfield (helped by the M.G.M. film no doubt) was out selling all 900 titles in Everyman and all 300 titles in Collins Illustrated Classic series [...]. In the spring of 1931 readers of The Daily Telegraph debated in the correspondence columns the question of whether Dickens was still read and, on April 8th, a Mr Baxter wrote in to report the following question: '"You never seem to have a book by Dickens," I said to a second hand book dealer some little time ago. "Is he no longer popular?" "He is so popular," was the answer, "that as soon as I get in a copy of any 91
single one of his books it is snapped up"' (Hervorhebungen im Original). Ein weiteres Indiz für Dickens' anhaltende Popularität in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sieht Slater (1970, 128) auch in der Häufigkeit der Würdigungen, die Dickens zu dieser Zeit durch die britische Presse zuteil wurde: On the fiftieth anniversary of his death over 30 commemorative articles appeared in the national and local press [...] while the Pickwick Centenary called forth so many articles that it took six pages of The Dickensian to list them [...]. As for Christmas, it seems that few periodicals dared to let the season pass without some feature on 'The Spirit of Dickens' or (in more secular mood) 'The Very Dickens of a Christmas'. Zudem schien es noch in den 1930er Jahren für britische Zeitungen möglich gewesen zu sein, mit Hilfe von Dickens' Werk zusätzliche Leser zu gewinnen: The death of Dickens's last surviving child, Sir Henry Dickens, released for publication the life of Christ which Dickens had written for his children and which he had stipulated was not to be published until they were all dead. The Daily Mail bought it for serial publication at a cost of L 40,000 (more than L 1 per word [...]) and 'posters appeared in the tube stations and other prominent places of Dickens's head looking out from a crown of thorns.' Unhappily for the Mail, the Daily Express startled the public on 3 April 1934 with a revelation that, according to the biographer Thomas Wright, Dickens had had a mistress and this got the serialised Life of Our Lord off to a rather bad start (Slater 1970, 130). Auch für die 1940er und 1950er Jahre hält Philip Collins (1970, 152) fest: Dickens's world wide popularity, indeed, was fully maintained. 'DICKENS STILL GOING STRONG,' ran a headline in The Times (10 April 1958), reporting the completion of the New Oxford Illustrated Edition, with Pickwick and Copperfield 'neck and neck in the lead'; as Mr Wilson of Bumpus told The Times, Dickens was a 'most consistently steady seller and, if anything, doing better now than ever. Sets of Dickens are a bookseller's best stock' (Hervorhebungen im Original). Noch für das Jahr 1970, in dem Dickens' 100. Todestag begangen wurde, bemerkt Ford (1970, 227): "One hundred years after Dickens's death the remarkable phenomenon [...] is how he has contrived to hold the attention of a impressively vast body of readers." Bezüglich des gegenwärtigen Status von Dickens' Popularität führt Sanders (2003, 176) aus: [T]he immediate rapport that Dickens the writer had with his original audience seems to have been passed on from generation to generation. That special rapport is still effective at the beginning of the twenty first century. No other English novelist carries with him so much popular baggage. Trotz aller dieser Einschätzungen hat sich die Qualität von Dickens' Popularität seit seinem Tod doch gewandelt. Michael Slaters Zugeständnis (s.o.), dass die hohen Verkäufe des Romans David Copperfield in den 1930er Jahren sich zumindest teilweise der Verfilmung aus dem Jahr 1935 verdankten, macht deutlich, dass schon zu dieser Zeit Dickens' Romane ihren populären Status offensichtlich nicht mehr ausschließlich 'aus eigener Kraft' behaupten 92 konnten. So räumt etwa auch Collins (1970, 151) ein: "[Dickens's] enduring popularity has owned an incalculable amount to the ease and felicity with which his stories have proved translateable into several dramatic media." Das Medium Film nahm mit seinen Adaptionen von Dickens' Romanen, die mit Aufkommen dieses neuen Mediums um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert unverzüglich einsetzten, im Bezug auf die Popularisierung von Dickens' Texten eine immer größere Bedeutung ein. Zudem wurde Dickens' Popularität ab einem gewissen Zeitpunkt nach 1870 wohl mit anderen Maßstäben gemessen als zu seinen Lebzeiten. Ab den 1940er Jahren findet immer häufiger der Begriff popular classic im Zusammenhang mit Dickens Anwendung, der laut Clive Bloom (2002, 15) "an almost oxymoronic concept" darstellt – "a work still read as a type of a superior entertainment, alongside the canon of serious literature when a superior reading 'holiday' is required." Die im Fall von Dickens' Werken bereits festgestellte starke Präsenz in anderen Medien ist nach Darstellung von Bloom (2002, 27) maβgeblich dafür, einen Klassiker zum populären Klassiker werden zu lassen: "The popular 'classic' becomes so by uniting and holding the varied ideological positions of one class or group whilst appealing to other groups through other media (film or television series)." Entsprechend reiht Collins (1970, 148) Dickens für die Zeit der 1940er bis 1960er Jahre in eine sehr kleine Gruppe populärer Klassiker ein. Noch dezidierter formuliert Ford (1955, 227) für die 1950er Jahre: [L]ibrarians in England still report that Dickens is approached only by Scott in having the largest circulation of any 'classic' writer. Among those members of the general public who are prepared to read books from earlier times, Dickens has continued to hold a remarkable lead (meine Hervorhebungen). Und Anfang der 1960er Jahre resümierte auch Pearson (1962, xviii): "Dickens [...] has always held a uniquely priviledged position as a truly popular classic." Wie zuvor gezeigt wurde, spielt das Bildungswesen in Fällen, in denen ein Werk einen Kategoriewechsel erfährt und zum Klassiker wird, eine tragende Rolle (vgl. Abschnitt 2.1). Da kritische Diskurse "den Wert eines Kunstwerks mitproduzieren, den sie bloβ zu verzeichnen vorgeben" (Bourdieu 1999, 364), dürfte dem um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sich verstärkenden literaturwissenschaftlichen Interesse an Dickens' Werk eine beträchtliche Bedeutung für dessen Erreichen des Klassikerstatus zukommen. Wie K.J. Fielding (1970, 86) darlegt, wurde Dickens nach seinem Tod zunächst sowohl von den ihm nachfolgenden Schriftsteller Generationen als auch von der Literaturwissenschaft weitgehend ignoriert – eine Vernachlässigung, für die Fielding die drei folgenden Gründe anführt: First, there was a resentment felt on the part of some of the university educated, professional class at the criticisms they thought Dickens had directed against them; 93
this was then involved with a certain shrinking restraint by many who saw him as vulgar; and finally they were both allied with a plain demand for change – with that underlying tendency to the nature of fiction and its readers which leads the Novel to live up to its name and causes them constantly to ask for something new. "The somewhat doctored reminiscences of such friends and acquaintances" von Dickens wie Edmund Yates, Percy Fitzgerald and James Payn bildeten den Großteil dessen, was bis zum Ende des 19. Jahrhunderts an Literatur über Dickens verfasst wurde (vgl. Fielding 1970, 98). Fielding (1970, ebd.) hebt als gewissenhaftesten und repräsentativsten der frühen Dickens Forscher F.G. Kitton hervor, Verfasser zahlreicher Darstellungen zu Dickens' Leben und Werk, etwa einer Biographie, die im Jahr 1902 erschien, als auch der Werke Dickensiana (1886), The Minor Writings of Charles Dickens (1886), The ovels of Charles Dickens (1897), Charles Dickens by Pen and Pencil (1890) sowie Dickens and His Illustrators (1890). Als Höhepunkt der Dickens Kritik vor der Wende zum 20. Jahrhundert bezeichnet Fielding (1970, 99) George Gissings 1898 erschienene Monographie Charles Dickens: A Critical Study. Insgesamt gestaltete sich in den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende die Beschäftigung mit Dickens zumeist noch recht amateurhaft und unwissenschaftlich, wie etwa Sylvère Monods (1970, 101ff.) Ausführungen erkennen lassen. So bezeichnet er Gissings Veröffentlichung trotz ihrer Vorzüge als teilweise inakkurat. Auch der Dickens Monographie von G.K. Chesterton, den er ansonsten als bedeutendsten Dickens Forscher der Jahre zwischen 1900 und 1920 apostrophiert, bescheinigt er zahlreiche Fehler und Schwächen (Monod 1970, 111f.) Noch im Jahr 1941 urteilte House (1941, 11) über die Qualität der Dickens Forschung bis dato: 'Dickensian' scholarship [...] is in one sense or another largely historical. It is concerned to identify persons and places in the novels and stories, to discover 'originals'. The proper interest of such discoveries is only in their relevance either to Dickens's own biography or to the social history behind his novels: and in recent years nearly all the most valuable work has been biographical. Die substanzielle literaturwissenschaftliche Erforschung von Dickens' Werk setzte erst zu Beginn der 1940er Jahre mit den Studien von Edmund Wilson ("Dickens: The Two Scrooges", 1940), George Orwell ("Charles Dickens", 1940) und Humphrey House (The Dickens World, 1941) ein. Dieses zunächst zögerliche Heranreifen der Dickens bezogenen Literaturwissenschaft wird auch von der Geschichte der Dickens Fellowship reflektiert. Diese im Oktober 1902 gegründete Vereinigung konnte im Jahr 1905 bereits auf 6500 Mitglieder, etwa 25 britische Zweige sowie sieben weitere in Übersee (in den USA, Kanada, Australien und an der Goldküste) verweisen, vereinte zunächst aber noch größtenteils Mitglieder, die sich zwar 94 enthusiastisch, aber auch recht unkritisch mit Dickens' Leben und Werk auseinandersetzten (vgl. Sanders 2003, 185). Die von der Fellowship herausgegebene Zeitschrift The Dickensian wurde ebenfalls zunächst als "Magazine for Dickens Lovers" konzipiert, entwickelte sich jedoch über die Jahre hinweg zu einem "much respected vehicle for both scholarly investigation and critical debate" (ebd.).
3.4 Adaptionen von Dickens' Texten für Theater, Film und Fernsehen "Although we tend to think of Dickens primarily as a novelist, his books have from the beginning overstepped the bounds of print" (Petrie 1974/75, 185). Die folgenden Abschnitte werden einen Überblick über die Adaptionen von Dickens' Texten für Theater, Film und Fernsehen geben, die zwischen 1837 – dem Jahr der Erstveröffentlichung der Pickwick Papers – und den frühen 1990er Jahren entstanden sind. Das ist deshalb notwendig, da im Fall zahlreicher dieser Adaptionen der Versuch erkennbar ist, das populäre Potential mittels ähnlicher Strategien zu erhöhen, wie sie noch heute im Zuge von Popularisierungsprozessen Anwendung finden. Somit lassen sich etliche der im Folgenden jeweils kurz angesprochenen Adaptionen als Vorstufen zu späteren Popularisierungen betrachten. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war es zunächst das Medium Theater, das einen Beitrag zur (weiteren) Popularisierung von Dickens' Werken leistete. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen lag dann laut Philip H. Bolton (1987, 5f.) das Interesse der Theaterschaffenden an Dickens zeitweilig brach. Diese Jahre bezeichnet Bolton als eine Zeit der "technological diaspora, when Dickens's characters emigrated from the novels and the stages to the several new mimetic media of radio, the talking picture, and even early television" (ebd.). Das Theater verlor damit für die Dickens Popularisierung an Bedeutung, zumal mit den zum damaligen Zeitpunkt neuen Medien auch zahlenmäβig ein gröβeres Publikum erreicht werden konnte (vgl. Pointer 1996, 34). Allerdings scheint Boltons Formulierung vom 'zeitweiligen' Brachliegen des Interesses der Theaterschaffenden an Dickens zu implizieren, das dieses Interesse auch wieder aufflammte. Und in der Tat war Dickens' Werk punktuell auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Erfolg auf der Bühne beschieden. Allerdings dann vornehmlich mit Adaptionen für Genres, die vom Fernsehen nicht in der gleichen Weise bedient werden können wie von der Theaterbühne – etwa dem Musical und der Ein Mann Show.
95
3.4.1 Adaptionen für das Theater Dramatisierungen von Dickens' Romanen erschienen bereits auf den Spielplänen der Theater, noch ehe Dickens die jeweiligen letzten Fortsetzungen verfasst hatte. Das hatte zur Folge, dass Dramaturgen sich ihre eigenen Dramen Ausgänge einfallen ließen und diese auf die Bühne brachten (vgl. Collins 1974b, 8). Angesichts der Tatsache, dass Dickens' Werk eine Vielzahl von dramatischen Qualitäten aufweist, was auch von der Dickens Forschung immer wieder reflektiert wurde, scheint die Beliebtheit seiner Werke bei den Theaterschaffenden im 19. Jahrhundert kaum verwunderlich. Die diesbezüglich eindeutigste Einschätzung lieferte wohl Edmund Wilson (1941b, 3), der Dickens als "greatest dramatic writer [...] since Shakespeare" apostrophierte (meine Hervorhebung). Aber auch in jüngeren Darstellungen wird der dramatische bzw. theatralische Charakter von Dickens' Werk immer wieder betont. John Glavin (2001, 195) etwa führt aus: Through the middle third of the nineteenth century Dickens's most ambitious peers pushed fiction increasingly and impressively toward realism. Anyone who reads Thackeray, Charlotte (but not Emily) Brontë, Eliot, and Trollope feels that Dickens is in that company anomalous. In contrast to their increasingly naturalistic solidity, Dickens is, well, theatrical. Auch Richard J. Dunn (1993, 20) bezeichnet Dickens als "most dramatic novelist, unsurprising because of his life long love of theater, his activity in amateur theatricals, and his public readings." Die dramatischen Elemente in Dickens' Werk sieht Dunn (ebd.) in its visual and vocal sharpness. Readers 'see' as they 'hear' Dickens. The visual was reinforced by the illustrations that accompanied each monthly number (and that gave the cues for casting and set design for so many stage and screen versions of Dickens's novels). Annegret Maack (1991, 47) konstatiert das Vorhandensein zahlreicher "stagey scenes" in Dickens' Romanen, "die ohne große Änderungen auf einer Bühne aufgeführt werden könnten." Wie Deborah Vlock (1998, 10) darlegt, gab es zwischen den unterschiedlichen Textsorten im 19. Jahrhundert zahlreiche Übergänge – ein Befund, auf den auch Dickens’ häufig zitierte Aussage "Every writer of fiction, though he may not adapt the theatrical form, writes in effect for the stage" (z.n. Glavin 1999, 19) hindeutet: Novels and theatrical entertainments, novels and journalistic prose, novels and poetry constantly slipped in and out of mutual embrace. Henry Mayhew's London Labour and the London Poor influenced scores of novels and plays, no less than other novels and plays had shaped Mayhew's imagination. Poems like Robert Browning's The Ring and the Book and Elizabeth Barrett Browning's Aurora Leigh adopted novelistic gestures. And the contemporary stage provided material for novels, which they themselves generously reciprocated, so that the lines between theatre and prose 96
fiction were fluid, and novel reading was performed in the rich and ambiguous area in between. Laut J.B. Priestley (1969, 28) resultiert der theatralische Charakter von Dickens' Texten aus direkten Anleihen beim zeitgenössischen Melodrama: His hard hearted moneylenders and misers and his villanous aristocrats were borrowed from the theatre. His largescale and overworked pathos, as distinct from his natural touches of real pathos, came from the theatre: we can almost see the lights fading and hear the muted strings in the orchestra pit in his lingering death bed scenes. There was no gain here, only loss. But even the most tearful of the melodramas of the 1830s usually offered some comic relief, scenes dominated by the company's favourite comedians. Such scenes, however, were mostly written by hacks, certainly not by any humorist of genius. And now here, with comedy that had its roots in the theatre but was fruitfully and marvellously expanded by Dickens, there was no loss, all was sheer gain. Vlock (1998, 141 und 32) sieht Dickens’ Gesamtwerk vom Genre des Melodramas beeinflusst, beginnend mit den zum Teil ebenfalls für die Bühne adaptierten Sketches by Boz (vgl. Bolton 1987, 67ff.) bis hin zu den späten Romanen: The sketches often collapse the boundaries between 'real life' and the stage, using theatrical metaphors to describe ordinary people going about their daily business, as well as illustrating the importance of popular entertainments to middle and lower class family life in London. [...] [A]ll of the novels, even the late ones, rely on melodramatic codes. The stories he tells, from Oliver Twist's to Sidney Carton's, feature such elements as obscure births, long lost relations, unexpected fortunes, desolate orphan heroes, and threatened orphaness heroines – all standard melodrama devices. Even the psychologically richer characters in the late novels can be recognized as more sophisticated versions of theatrical types. In dieser starken Beeinflussung von Dickens durch das Melodrama des 19. Jahrhunderts, sieht Vlock (1998, 58) auch einen der Gründe für die klassenübergreifende Rezeption von Dickens' Texten72. Priestley und Vlock urteilen jedoch übereinstimmend, dass das von Dickens Geschaffene über das hinausging, was das Genre des Melodramas zu leisten imstande war, weshalb Priestley (1968, 28) als Beschreibung für Dickens' Werk den Begriff "super theatre" wählt. Vlock (1998, 28) führt aus: The idealistic young hero, the physically threatened heroine, the wicked patriarchal authority figure, all part and parcel of the standard melodramaric plot, live and work in icholas ickleby, and in virtually all of Dickens' novels. Yet they transcend the structures of gross melodrama. This has something to do with Dickens' brilliant critical eye and comic sensibility, his exquisite narrative abilities, his profound
72 Vgl. Vlock (1998, 58): "Victorian readers of any class could read the novels in theatrical context, participants in an elaborate cultural aesthetic compact, an all inclusive 'inside joke,' because people of all classes enjoyed virtually the same theatrical diet in the mid nineteenth century. If segments of the audience processed the experience differently from each other, they at least presumed the same semiotic language in assimilating what they saw on the stage.” 97
understanding of pathos. It may also be explained generically. In spite of that generic conflation characteristic of the nineteenth century, novels and plays did, of course, sustain generic integrities (Vlock 1998, 28). Robert Garis begründet seine Charakterisierung von Dickens' Werken als "theatrical art" (Garis 1965, 24) mit seiner Einschätzung, dass sich die darin auftretenden Figuren als performers charakterisieren lassen: Lady Dedlock gives performances of cold hauteur and self command for, among others, Mr. Tulkinghorn, who provides the appropriately expert audience for her 'act'. When she is alone Lady Dedlock is no less a performer than when she is in public, though her style is a different one, that of operatic anguish and torment. In fact all of the typically Dickensian characters can best be thought of as 'performing' their own personalities or the emotions characteristic of their 'roles'.73 Dass Dickens' Texte trotz aller ihrer dramatischen Qualitäten schwer zu adaptieren sind, wurde allerdings in der Forschung auch wiederholt betont. Bereits im Jahr 1849 schrieb ein anonymer Rezensent Dickens eine Eigenheit zu – [a] peculiarity attached to all writers like Charles Dickens, that, dramatic as their compositions are in themselves, so unsuited are they to stage representation. An assertion like this sounds, we have no doubt, rather paradoxical, but a few words will prove that in substance it is quite the contrary. When a work is written, embracing so wide a sphere of action, and bringing into display the different passions, feelings, and pursuits of so many persons, as must of necessity form the dramatis personae of such works as 'Nicholas Nickleby', 'Oliver Twist', and tales of like standard, the reader can very well follow the current; but far different is it when, condensed into a very narrow compass, such works are presented to an audience, akin to their prototypes only so far as costume and scenery extend (z.n. Bolton 1987, 34). Obgleich auch John Glavin (1999, 63) die Ansicht vertritt: "[T]he Dickens novel flees from adaptation", existieren, wie Philip H. Bolton (1987) ermittelt hat, Adaptionen von allen Dickens Romanen und nahezu von allen anderen von ihm verfassten bzw. co verfassten Texten – auch von den weniger bedeutenden und heute kaum mehr geläufigen, wie etwa "The Seven Poor Travellers" (vgl. Bolton 1987, 373) oder der von Dickens in Zusammenarbeit mit Wilkie Collins verfassten Novelle The Perils of Certain English Prisoners. Allerdings wurden nicht alle Texte im gleichen Umfang adaptiert, was angesichts der Tatsache, dass – wie zuvor gezeigt wurde – nicht alle Romane von Dickens bei seinem Publikum in gleichem Maße populär waren, kaum verwundern dürfte. Bolton (1987, 50) spricht bezüglich der Dramatisierung von Dickens' Texten für das zeitgenössische Theater im 19. Jahrhundert von zwei 'Wellen' – "the first when Boz first burst
73 Priestley (1969, 27) nennt als weiteres Beispiel Mr Squeers aus icholas ickleby an: "[H]e is a superb comedian playing a horrible schoolmaster. And as much might be said of many other characters, especially in the earlier novels. […] They deliberately overdo their characters, making them more and more preposterous but more and more laughable, to entertain us." Ähnlich attestiert Ana Laura Zambrano (1972, 151) der Figur Micawber aus David Copperfield "much of the flamboyance of a music hall comedian". 98 upon the scene; the second just after Charles Dickens had died." Wie Bolton (1987, 189) zeigt, begann ab Erscheinen des vierten Romans, The Old Curiosity Shop, das Interesse der Dramaturgen an Dickens nachzulassen, nachdem die Pickwick Papers, Oliver Twist und icholas ickleby in einer Vielzahl von unterschiedlichen Adaptionen auf den Bühnen zu sehen gewesen waren. Diese Entwicklung setzte sich mit Barnaby Rudge, Martin Chuzzlewit und auch A Christmas Carol fort. Zwar schienen die positive Reaktionen der Dramaturgen auf Dickens' zweite Weihnachtsgeschichte, "The Cricket on the Hearth", einen erneuten Aufschwung einzuläuten, dennoch konstatiert Bolton (1987, 306) ab Veröffentlichung von Dombey und Son das Einsetzen eines zweiten Abwärtstrends: For after "The Cricket on the Hearth" in 1845, which had reversed a downward trend by generating a new burst of theatrical enthusiasm for Dickens, in 1846 "The Battle of Life," and in 1848 "The Haunted Man" were both distinctly less frequently dramatized upon first appearance than the predecessor of each. Thus continued the downward trend in the growth of Dickens dramatizing industry – which was of course still basically expanding like a publicly owned corporation of no benefit to its nominal Chief Officer. But now it was expanding at a slower rate than before. Mit David Copperfield nahm das Interesse der Theaterschaffenden an Dickens vorübergehend wieder zu (Bolton 1987, 321), dennoch setzte sich der Abwärtstrend mit den darauffolgenden Romanen Bleak House, Hard Times, Little Dorrit, A Tale of Two Cities und Great Expectations fort. Our Mutual Friend brachte erneut einen leichten Aufschwung (Bolton 1987, 430), erst Dickens' Tod im Jahr 1870 jedoch vermochte der Industrie der Dickens Dramatisierungen wieder wirklichen Auftrieb zu geben: [A]lmost nothing restrained the dramatic adaptors, and the greatest burst of theatrical enthusiasm for Dickens occurred – greater even than in the first affection between the novelist and his adoring public during the late 1830s and early 1840s. Two nations – England and America – seemed publicly to mourn the passing of the prose bard, and to celebrate his imagination on their stages for about fifteen years until, during the middle 1880s, enthusiasm began to wane (Bolton 1987, 4). Adaptionen für das zeitgenössische Theater fungierten im 19. Jahrhundert als Gradmesser für die Popularität eines Autors und/oder seiner Werke (vgl. Bolton 1987, 38). Gleichzeitig trugen die so entstandenen Dramen – ähnlich wie heute Verfilmungen für Kino und Fernsehen – zur weiteren Popularisierung ihrer Originaltexte bzw. deren Autoren bei: "During the novelist's lifetimes, these plays helped to shape the audience to his books, helped to promote their sales, and both catalyzed and interfered" (Bolton 1987, 43). Einige Beobachtungen von Louis James bezüglich der Pickwick Papers veranschaulichen das dialektische Verhältnis zwischen der bereits vorhandenen Popularität von Dickens' Werk und deren weiterer Popularisierung: 99
[T]he Pickwickians invaded music hall and public house as well as the theatre […]. At 'Manders' [...] members formed 'The Pickwick Club', where they could listen to songs such as 'Sam Weller's Adventures', sung by Mr. J. Thomas. Here, however, names of the Pickwickians were used often merely as a selling tag. The Pickwick Songster (1839), or Lloyd's Pickwickian Songster (c. 1837), have little Dickensian in them other than the title. The name was used to denote something amusing [...] (James 1963, 49f.). Mr. Pickwicks Omnipräsenz in allen diesen von James genannten Bereichen zeugt einerseits von seiner enormen Popularität. In welch beträchtlichem Ausmaß schon diese frühen Adaptionen für Theater und Musical Hall allerdings zur weiteren Popularisierung von Dickens' Werk beitrugen, zeigt etwa das Titelbild der bereits 1838 herausgegebenen Veröffentlichung Mr. Pickwick's Collections of Songs. Das Cover dieser Veröffentlichung zierte ein Bild von Sam Weller –"not as portrayed by Hablot K. Browne, but as impersonated by Edmund Yates" (James 1963, 49). Die offensichtliche Effektivität solcher frühen Popularisierungen lässt sich zumindest teilweise dadurch erklären, dass sich schon aus diesen Bühnen Adaptionen einige der Popularisierungsstrategien rekonstruieren lassen, die in Abschnitt 2.3.2 dieser Arbeit benannt wurden. Paul Davis (1990, 9) bemerkt etwa in Bezug auf The Christmas Carol, dass Adapteure Dickens' Plots häufig um bestimmte Elemente anreicherten, etwa zusätzliche Charaktere, um damit die Melodramatik des Stoffes zu verstärken und ihn so den Bühnenkonventionen seiner Zeit anzupassen. Davis diskutiert exemplarisch C.Z. Barnetts Adaption, die den Titel A Christmas Carol; or, the Miser’s Warning! trug, und für die Barnett etwa die Figur des 'Dark Sam' erfand, "who tries to ruin Cratchit's Christmas by stealing his wages" (ebd.). Barnett nahm indes noch weitere gezielte Änderungen an seiner Vorlage vor, wie Davis (1990, 47) darlegt: Cratchit's character, for example, is expanded with cockney wit. [...] In Dickens' original, such cockney wit belongs to Scrooge or to the narrator. Giving it to Bob allies him to some popular stage figures of the day, but it considerably changes his character. Darüberhinaus war Barnett offensichtlich darum bemüht, die potentielle repräsentionale Relevanz seiner Adaption für sein Publikum aus den unteren Gesellschaftsschichten über die Achse der 'Ähnlichkeit' durch Hinzufügung von Szenen, die sich in deren Milieu abspielten, zu verstärken (ebd.). Auch scheinen schon im 19. Jahrhundert bestimmte Schauspieler zu Popularisierungszwecken herangezogen worden zu sein. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Strategien ausmachen: Die erste bestand darin, Rollen in Dickens Adaptionen mit Schauspielern zu besetzen, die bereits in anderen Produktionen desselben 100 oder eines anderen Werkes von Dickens erfolgreich auf der Bühne gestanden hatten. Wie Jeffrey Richards (1997, 329) Ausführungen erkennen lassen, wurden durch die mehrfache Besetzung bestimmter Rollen mit denselben Schauspielern diese schnell mit den entsprechenden Charakteren aus Dickens' Werk identifiziert: W. J. Hammond mit der Rolle des Sam Weller oder John Martin Harvey mit der des Sydney Carton. Auch der Name der Schauspielerin Jennie Lee war alsbald untrennbar mit ihrer Rolle des 'crossing sweeper' Jo aus Bleak House verbunden. Daneben fanden sich häufig die Namen von Schauspielern auf den Besetzungslisten, die bereits in anderen Rollen aus Dickens' Werk brilliert hatten. Die zweite Strategie bestand darin, Rollen mit Schauspielern zu besetzen, die sich bereits – unabhängig von Dickens – in anderen Rollen einen Namen gemacht hatten. Auch von dieser – wohl noch effektiveren Strategie – wurde im 19. Jahrhundert mitunter Gebrauch gemacht: Sir Henry Irving during his long and illustrious career played Nicholas Nickleby, David Copperfield, Bill Sikes, Alfred Jingle, John Peerybingle and Mr Dombey. [...] His great rival Sir Herbert Tree doubled the roles of Micawber and Peggotty in his production of David Copperfield and also played Fagin and John Jasper (Richards 1997, 328). In einer in New York aufgeführten Oliver Twist Adaption wurde die Rolle der Nancy mit der Schauspielerin Charlotte Cushman besetzt: "[S]he who had nurtured earlier fame popularizing Walter Scott now lent some of that fame to Charles Dickens" (Bolton 1987, 105). Obgleich Dickens es kaum gutheißen konnte, dass Dramaturgen seine Romane noch vor deren Fertigstellung und mit von ihm nicht autorisierten Ausgängen auf die Bühne brachten – diese Vorgehensweise parodierte und kritisierte er etwa in icholas ickleby74 aufs Heftigste – war er sich der popularisierenden Wirkung solcher Adaptionen durchaus bewusst: Dickens was far from averse to exploiting popular theater as another avenue for reaching the widest possible audience with his works – an audience, as he was aware, at least in part shut out by illiteracy from enjoying his stories in print – and he regularly worked with theatrical managers in bringing his Christmas books to the stage during the holiday season. [...] A case could be made to show that Dickens had
74 Vgl. , 598: "[Y]ou take the uncompleted books of living authors, fresh from their hands, wet from the press, cut, hack, and carve them to the powers and capacities of your actors, and the capability of your theatres, finish unfinished works, hastily and crudely vamp up ideas not yet worked out by their original projector, but which have doubtless cost him many thoughtful days and sleepless nights; by a comparison of incidents and dialogue, down to the very last word he may have written a fortnight before, do your utmost to anticipate his plot – all this without his permission, and against his will; and then, to crown the whole proceeding, publish in some mean pamphlet, an unmeaning farrago of garbled extracts from his work, to which you put your name as author, with the honourable distinction annexed, of having perpetrated a hundred other outrages of the same description. Now, show me the distinction between such pilfering as this, and picking a man's pocket in the street." 101
at least one eye cocked on possible dramatic adaptation of his Christmas stories during the period of their composition, much in the manner of many modern novelists who seem to have from the start a view of the potential translation of the work to celluloid (Axton 1976, 29).75 Vor allem in späteren Jahrzehnten unternahm Dickens nichtsdestotrotz zuweilen gerichtliche Schritte, um die Aufführung von Adaptionen seiner Texte zu unterbinden (vgl. Bolton 1987, 413). Solche Interventionen trugen nach Bolton (ebd.) dazu bei, dass die Anzahl der Dickens Dramatisierungen im Laufe von Dickens' Karriere stetig abnahm. Als weiteren Faktor nennt Bolton "a declining obvious theatrical appeal in his narrative manner, which evolved in a direction of increasing independence of stage techniques, with its occasional first person narration, and sometimes highly complex time scheme" (ebd.). Dennoch boten, wie Bolton (1987, 395) einräumt, auch Dickens' spätere Romane ausreichend dramatisches Potential – wie etwa der Erfolg des auf A Tale of Two Cities basierenden Dramas The Only Way zeigt. Einen dritten Faktor für den Rückgang der Anzahl von Dickens Adaptionen auf den Bühnen des fortschreitenden 19. Jahrhunderts sieht Bolton (1987, 413) in einer möglichen Übersättigung des Marktes durch bereits existierende Adaptionen sowie ab den 1850er Jahren durch Dickens' Lesungen: "After all, why should a theatre goer pay good money for a pale imitation when he could have the original Dickens on the stage before him?" Nachdem Mitte der 1880er Jahre die durch Dickens' Tod ausgelöste zweite große Welle an Dickens Dramatisierungen für das Theater verebbt war, setzte spätestens zwischen den beiden Weltkriegen im frühen 20. Jahrhundert eine Periode ein, "when interest in staging Dickens had all but died away among professional managers and actors" (Bolton 1987, 6). Das Interesse der Theaterschaffenden an Dickens sieht Bolton (ebd.) allerdings im späteren Verlauf des 20. Jahrhundert, ab etwa den 1960er Jahren, wieder aufflammen: A Christmas Carol has become much more an international theatrical institution during the holidays than it ever was in Dickens's time; and stagings of Great Expectations, icholas ickleby, and Oliver Twist have had great vogue. Seit dieser Zeit erzielten vor allem zwei Dickens Adaptionen – zumindest nach quantitativen Maßstäben – populäre Erfolge, nämlich Lionel Barts am 1. Juli 1960 im Londoner New Theatre uraufgeführte Musical Oliver!, und die von der Royal Shakespeare Company produzierte Adaption von icholas ickleby, für die David Edgar verantwortlich zeichnete. Bolton (1987, 107) betont die außergewöhnliche Popularität des Musicals Oliver!: Bart's play has been enormously successful by any quantitative measure; starting apparently in 1960 at the New Theatre in London, it has been performed very widely throughout England and the United States. At the very least five dozen British
75 Vgl. dazu auch Davis (1990, 11). 102
productions of this play have appeared in various theatrical records to date. It has several times been very successful in New York City – including a run of 774 performances in 1963 at the Imperial. It has played in California, Louisiana, Michigan, and Ohio. It has played in Melbourne and Sydney, Australia. The play remains popular in what are known as "Dinner Theatres" in the United States, and is running in Washington, D.C., as I write (in May 1985). Weitere, weniger erfolgreiche Musical Adaptionen von anderen Romanen schlossen sich an: Am 4. Juli 1963 wurde Pickwick in London uraufgeführt und war dort 20 Monate lang zu sehen, gefolgt von Two Cities im Jahr 1969, Hard Times im Jahr 1973 und Great Expectations im Jahr 1975 (vgl. Richards 1997, 346). Obwohl die letzteren drei Adaptionen nur eine recht kurze Laufzeit hatten, setzte sich in den 1990er Jahren der Trend zur 'Musikalisierung' von Dickens fort. Richards (1997, 347) nennt "large scale revivals of Oliver!, Pickwick und Scrooge", letztgenanntes basierend auf einer für das Kino hergestellten Musical Produktion aus dem Jahr 1970. Hinzu kam eine Adaption von The Mystery of Edwin Drood, "constructed as a musical hall evening" (Richards 1997, ebd.), und eine neue Musical Version von Great Expectations. Daneben inspirierte Lionel Barts Oliver! auch eine Filmproduktion, bei der Carol Reed Regie führte und die im Jahr 1968 in die Kinos kam. Diese Version erwies sich ebenfalls als kommerziell sehr erfolgreich und wurde obendrein mit sechs Oscars ausgezeichnet, "including Best Picture", wie Michael Pointer (1996, 85) hervorhebt. Innerhalb dieser Musical Adaptionen von Dickens' Romanen ist eine Popularisierungsstrategie erkennbar, die in einem generellen 'Aufhellen' der Atmosphäre des zu verfilmenden Stoffes besteht und sich als 'Popularisierung durch jollification' beschreiben ließe. Nach Einschätzung von Richards (1997, 347) ist allen diesen ab den späten 1960er Jahren entstandenen Musical Versionen eines gemeinsam: "Dickens [...] is sanitized and jollified, and is forever characterized by troupes of well scrubbed, well drilled cockney urchins dancing up and down picture postcard streets". Bereits in Kapitel 2.4.2. dieser Arbeit wurde deutlich, dass vor allem bei Hollywood Verfilmungen auf kohärente und häufig auch sympathische Charaktere Wert gelegt wird. Pointer (1996, 85) macht am Beispiel von Carol Reeds Oliver! Verfilmung aus dem Jahr 1968 deutlich, dass im Zuge einer solchen Popularisierung mittels jollification gerade an den Charakteren gravierende Veränderungen vorgenommen werden: [F]undamental changes were made to nearly all the principal characters. Soft faced Mark Lester was clearly the opposite of a workhouse boy. Apple cheeked Jack Wild as the Artful Dodger had obviously never roughed it for years. Fat, jovial Harry Secombe was the antithesis of the oily Bumble, and Shani Wallis as Nancy looked more like the girl next door than an ill used whore. The despicable Fagin was turned 103
into a picaresque old rogue who was allowed to escape to further villainy, scampering off down the road at the end in a Chaplinesque image of which director Carol Reed should have been ashamed.76 Richards' (1997, 346) Ausführungen wiederum lassen erkennen, dass im Falle einer solchen Popularisierung durch jollification bei der Herstellung von repräsentionaler Relevanz auch die Achse der Differenz eine bedeutende Rolle spielt. Wie Richards deutlich macht, suchten die Produzenten dieser Musical Versionen von Dickens' Romanen, indem sie stets deren unterhaltsame Aspekte betonten, an allgemein vorherrschende Vorstellungen von der viktorischen Epoche anzuknüpfen. Wie Richards darlegt, betrachtete das Publikum der 1960er Jahre die viktorianische Zeit als "utterly remote, a picturesque Christmas card/chocolate box/olde worlde fantasy land full of kitsch bric à brac." Über die für das Kino angefertigte Musical Adaption Scrooge aus dem Jahr 1970 etwa urteilte die Zeitschrift Hollywood Reporter: "Dickens' England, of poverty and cruelty, had been cleansed so it becomes the England of the traditional Christmas card" (z.n. Zambrano 1972, 315). Der zweite große populäre Theater Erfolg für Dickens im späteren 20. Jahrhundert – nach Lionel Barts Oliver! – folgte im Jahr 1980 mit David Edgars Adaption von icholas ickleby für die Royal Shakespeare Company, die im Juni 1980 im Aldwych Theatre in London uraufgeführt wurde. The play, which ran for eight and a half hours, was performed over two successive nights. Despite the positively Wagnerian demands it made on its audiences, it proved to be one of the greatest triumphs brought off by the Royal Shakespeare Company in its prime. The production's genius lay in the originality and inventiveness of its staging. [...] This new version kept far more of Dickens's text than any earlier stage version. Rather than eliminating much of the descriptive passages, it divided them up, sharing them between actors who were required to move in and out of character as much as they doubled up in minor parts. The directors determined that 'the whole company should be regarded as the story teller of the whole tale'. [...] The play was transported triumphantly to New York in 1981 and on its revival in Great Britain was broadcast on Channel 4 in November 1982 (Sanders 2003). Die Elemente der Aufführung, die Sanders hier hervorhebt – die mehr als achtstündige Länge des Unterfangens, die "Wagnerian demands" an das Publikum, das Beibehalten von deskriptiven Passagen77 – lassen ein eher geringes populäres Potential vermuten. Dennoch
76 Wie Ana Laura Zambrano (1972, 306f.) darlegt, orientierte sich Reed in der Auswahl und Gewichtung der Szenen durchaus an David Leans exakt zwanzig Jahre zuvor erschienener Oliver Twist Verfilmung, die auch Dickens' Sozialkritik nicht ausgespart hatte, allerdings ging Reed dabei "with a lighter hand" vor: “[T]he burst of sound Oliver hears as he enters London for the first time, the mincing, leering cajolery of Fagin, the abrupt shift from the gloomy bleakness of the slums to the spaciousness of the Brownlow home were all retained in the musical but merged with a view of a world not inhabited by the ominous shadows of Lean's version, but by the lights and shadows of a city alive with movement and good humour.”
77 Vgl. dazu auch Leon Rubin (1981, 32): "One of the first things that [director] Trevor [Nunn] had insisted on 104 geriet Edgars Adaption laut Pointer (1996, 94) zu einem "tumultuous success". Mittels einer genaueren Analyse der Produktion lässt sich deren Erfolg durchaus erklären, obgleich keine Angaben dazu gemacht werden können, ob bzw. in welchem Umfang Publikum aus unteren sozialen Schichten die Aufführungen besuchte. Die repräsentionale Relevanz der Produktion für ihr Publikum scheint in diesem Fall durch eine Symbiose aus 'Ähnlichkeit' und 'Differenz' entstanden zu sein: Obgleich die beteiligten Schauspieler der Royal Shakespeare Company zur Einstimmung in den gemeinsamen Erarbeitungsprozesses intensive Recherchen bezüglich der unterschiedlichsten Aspekte des Londons der 1830 Jahre und der Biographie von Dickens (vgl. Rubin 1981, 22) betrieben und obgleich Regisseur Trevor Nunn auf ein Bühnenbild Wert legte, das das Original Setting des Romans reflektieren sollte, sowie auf eine musikalische Begleitung, die ebenfalls die viktorianische Ära beschwören sollte (vgl. Rubin 1981, 120 und 163), scheint Dickens' Vorlage zum Zweck der Verstärkung der repräsentionalen Relevanz für ein zeitgenössisches Publikum doch zumindest teilweise einem updating unterzogen worden zu sein. Die Handlung des Romans wurde zumindest in einigen Aspekten durch Streichung bzw. Umgestaltung von historischen Details, die für das Publikum aus den gerade beginnenden 1980er Jahren schwer nachzuvollziehen gewesen wären, sowie von Elementen, die sich mit aktuellen Diskursen kaum in Einklang hätten bringen lassen, behutsam modernisiert. So wurde etwa bei der Gestaltung der weiblichen Rollen, vor allem der Rolle der Kate Nickleby, durchaus den Vorstellungen des zeitgenössischen Publikums Rechnung getragen, worin, wie Leon Rubin (1981, 57) darlegt, eine der größten Herausforderungen für David Edgar, den Verfasser des Skripts, bestand: Dickens, for all his brilliant insights, was still a man of his time, and does not allow his heroines much development. Many heroines of the period are sketchy, weak characters constantly rescued and protected by men. They do not often enough articulate their resistance to the evils they oppose, and are seldom shown in dynamic confrontation with them. One of David Edgar's most difficult jobs was to build up the Kate character, subtly bringing together Dickens's attitude with those of our own time. Wie Rubin (1981, 103) weiter ausführt, kam man diesem Ziel durch Besetzung der Rolle mit der Schauspielerin Susan Littler, obgleich diese nicht die erste Wahl gewesen sei, um einiges näher: She was dark and not as delicate as Emily Richard, the original choice, but with a wonderful sense of humour and irony: a good match for Roger Rees [, who played Nicholas], but not at all what Dickens might have imagined. Susan is a very was that an entire novel should be adapted. Unlike these earlier Dickens adaptations we wanted to include the 'undramatic' passages – the narrative episodes, the moral digressions. All the discussion and work so far suggested that these were the areas that showed the real Dickens at work – the forgotten Dickens." 105
experienced actress with a particular quality of strength and determination, that would we hoped help to solve the problem of the ineffective heroine conceived by Dickens. Laut Rubin (1981, 138) wurden auch rund um die Figur des Walter Bray mit Rücksicht auf das zeitgenössische Publikum Veränderungen an der Vorlage vorgenommen: In the novel, Bray lives in a debtor's house, and is looked after by a servant. However, we felt that as far as a contemporary audience was concerned, this would blur the picture of total poverty that was needed to convey the full extent of his and Madeline's plight. Similarly, we felt they actually needed to be seen in the prison, rather than a debtor's house. Zumindest in einem Fall ließ sich eine Bezugnahme auf aktuelle Geschehnisse gar mit der Verankerung des Stoffes in seiner Entstehungszeit verbinden: During the research we had discovered that one of the political topics of the 1830s was the threat of a Russian invasion of Afghanistan. The Russian tanks rolled in there whilst we were rehearsing in Stratford. David Edgar added a few references to that when allowing full vent to Sir Matthew's expansive declaration of patriotism (Rubin 1981, 109). Wie Larry James Gianakos Ausführungen bezüglich einer Aufzeichnung der Produktion, die in den USA an vier aufeinanderfolgenden Abenden ausgestrahlt wurde, erkennen lassen, ermöglichte es die behutsame Aktualisierung des Stoffes, dass sich die Produktion nahtlos in die amerikanische Fernsehlandschaft der frühen 1980er Jahre einfügte: American television's current preoccupation with wealth and its acquisition gave this showing of icholas ickleby, what with its throbbing concern for the poor, a certain revolutionary splendor. Odd that in the Age of the Plutocrat, a foreign dramatization of a one hundred and forty five year old novel should so lucidly drive the cry of the indigent home (z.n. Pointer 1996, 95f.). Darüberhinaus fanden sich auch auf der Besetzungsliste dieser Produktion die Namen einiger Schauspieler, die zuvor schon in anderen Kontexten und Medien eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten (vgl. Rubin 1981, 22 und 103). Zur Popularisierung des Stoffes mag überdies die Herausarbeitung und Darstellung der situationskomischen Szenen aus Dickens' Roman beigetragen haben, immerhin hat sich Situationskomik auch in anderen Medien, vor allem im Medium des Fernsehens, als höchst populäre Form der Unterhaltung erwiesen. Rubin (1981, 111f.) nennt als Beispiel für das bewusste Aufgreifen und Ausarbeiten von Situationskomischem seitens des Ensembles jene Szene, in der Nicholas von der in ihn verliebten Fanny Squeers zum Tee eingeladen wird und diese Gelegenheit nutzt, um mit Fanny Squeers' bester Freundin Tilda Price in Anwesenheit von deren Verlobten John Browdie zu flirten. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Länge und Vielfältigkeit der Produktion ihr einen hohen Grad an Produzierbarkeit verliehen haben. Rubin (1981, 185) beschreibt die 106
Produktion als "so big, so rich, so diverse in its achievements that it is open to many points of view" und macht damit deutlich, dass einige der Teilkriterien, die laut Fiske die Produzierbarkeit eines Textes ausmachen, nämlich das Kriterium der Komplexität, das der Polysemie als auch das der Fähigkeit, eine Vielzahl von Bedeutungen und Arten von Vergnügen zu produzieren, erfüllt gewesen sein dürften. Dafür spricht auch Paul Schlickes (1985, 49) Betonung der "exuberance, variety, comedy and pathos" des Stückes. Der Regisseur Trevor Nunn bediente sich zudem einer Strategie, die dazu beitrug, die Grenzen des von ihm präsentierten Textes fließend zu gestalten, um es somit dem Dargebotenen zu ermöglichen, in die Lebenswelt der Rezipienten 'hineinzufließen'. Rubin (1981, 168) führt aus: As part of Trevor's concept of direct physical contact from the set to the audience, he [...] asked the company to go out in costume and greet the audience and talk with them before the performance and during the intervals. The idea was to create from the onset a feeling of association between actors and audience by inviting the public to become a part of all that would take place. With the band playing themes from the show on stage, the acting company were to mingle with the public arriving in the auditorium and strike up conversations, not in character but simply as themselves. Rubins weitere Ausführungen lassen erkennen, dass das Publikum die aktive Rolle, die ihm der produzierbare Text antrug, durchaus ausfüllte. Rubin (1981, 174) schreibt über eine der ersten öffentlichen Aufführungen der Produktion: Clearly, something very special was taking place between actors and audience from their first meeting before the show to the curtain call at the end. The audience were sharing the process of storytelling and felt that at the end of the marathon day's performance they too had been involved. They were in some way applauding themselves. Die Produktion brachte zudem eine Flut von Tertiärtexten hervor in Gestalt von Briefen, die an die unterschiedlichsten Abteilungen der Royal Shakespeare Company gerichtet waren: From the first previews onwards letters flooded into the theatre – to the directors, members of the company, even one to the stage management. [...] By the end of the run there were more letters from the public than any of us had ever seen before about a single production (Rubin 1981, 178 und 180). Der inhaltliche Tenor dieser Briefe legt den Schluss nahe, dass die beabsichtigte Verknüpfung der Darbietung mit der Lebenswelt ihres Publikums erfolgreich verlaufen und somit eines der wichtigsten Kriterien Fiskes für die Entstehung von popular culture erfüllt war: "Many poured out thanks for the pleasure they had received and some even claimed that the production had moved them deeply and changed their lives in some way" (Rubin 1981, 178). Die Bühnengeschichte von Dickens' Werken im 20. und frühen 21. Jahrhundert 107 beinhaltet auch zahlreiche Versuche verschiedener Schauspieler, als 'Alleinunterhalter' mit Inhalten aus Dickens' Werken die Theaterhäuser zu füllen – zum Teil mit Programmen, die die von Dickens selbst begründete Tradition der 'Public Readings' wieder aufleben lassen sollten. Wie Jeffrey Richards (1997, 328f.) darlegt, war ab dem Jahr 1896 der Schauspieler Bransby Williams mit "character sketches from Dickens" in vielen britischen Music Halls zu sehen, unter anderem als Jingle, Chadband, Quilp, Sydney Carton und Gradfather Trent, später auch als Daniel Peggotty, Newman Noggs, Barnaby Rudge, Fagin und Uriah Heep. Williams dehnte seine Tourneen auch auf die USA, Kanada, Australien und Neuseeland aus und wurde mit dem Attribut "The Dickens Man" versehen (vgl. Richards 1997, 329). Richards (ebd.) beschreibt Williams' Aufführungsstil als "virtuoso quick change act", dessen Erfolg auf der sofortigen Wiedererkennung liebgewonnener Charakter durch das Publikum basierte – worauf sich ja auch Jahre zuvor der Erfolg von Dickens' Lesungen gegründet hatte (vgl. Abschnitt 3.2.2). An den Erfolg dieser von Dickens zu seinen Lebzeiten selbst durchgeführten Lesungen anzuknüpfen, suchte indes ab den frühen 1950er Jahren der Schauspieler Emlyn Williams: With an identical desk and makeup to resemble Dickens, it was as close a reversion to the author's original intentions as was practical, and was the foreruner of a number of remarkable solo performances by other famous actors. It also proved to be a great triumph in Emlyn Williams's acting career, and he continued to present the Dickens readings for more than 30 years (Pointer 1996, 75). Collins (1970, 150f.) betont den popularisierenden Charakter dieser Darbietungen bzw. ihrer Reproduktionen: "Broadcast, televised and available on L.P.s, as well as to be seen in theatres all over the world, his performance must have amplified the delights familiar to readers of Dickens, and brought many new readers to his works." Wie Sanders (2003, 192) ausführt, gibt es bis heute Schauspieler, die ihre Karrieren auf Imitationen von Dickens' Lesungen oder auf Darstellungen bestimmter Charaktere gründen: In the closing years of the twentieth century both Simon Callow (who starred in a one man show scripted by Dickens's biographer, Peter Ackroyd) and Miriam Margolyes (who concentrated on Dickens's women) succeeded in opening up fresh and illuminating dramatic investigations of the way in which Dickens's characters bore on the life of their creator. Insgesamt lässt sich feststellen, dass den Bühnen Adaptionen von Dickens' Werken innerhalb der Geschichte der Dickens Popularisierung eine beträchtliche Bedeutung zukommt. Ihre Funktion lag häufig nicht nur darin, dass sie mittels eines Synergieeffekts (Bolton 1987, 322) 108
Adaptionen für andere Medien stimulierten,78 sondern auch darin, dass sich die Produzenten von Adaptionen für andere Medien mitunter unmittelbar an vorausgegangenen Bühnen Dramatisierungen orientierten. Dies zeigen etwa die unter dem Titel Scrooge in Großbritannien und USA gleichermaßen erfolgreichen Adaptionen von A Christmas Carol aus den Jahren 1913 und 1935, in denen Seymour Hicks die Titelrolle übernahm, der die Rolle des Scrooge seit der Jahrhundertwende immer wieder auf der Bühne gespielt hatte. Pointer macht deutlich, dass beide Verfilmungen deutliche Anklänge an die von Hicks verwendeten Bühnen Adaptionen erkennen lieβen. Die Verfilmung aus dem Jahr 1913 zeigte sich von der Inszenierung einer Adaption des Stoffes inspiriert, die zur Zeit der Entstehung der Verfilmung im Londoner Coliseum Theatre zu sehen war. Darauf wurde im Vorspann des Films mit den Worten "[a]s played by Seymour Hicks for over 2000 performances" auch explizit hingewiesen (vgl. Pointer 1996, 34). Auch für die 1935 entstandene Verfilmung hält Pointer fest, dass sie eher auf der von Hicks verwendeten Bühnenadaption basierte als auf Dickens' Originaltext: Consequently, the emphasis of the production is on the angry, mean Scrooge that Hicks personified in the British public's mind, rather than on the methods of Scrooge's transformation and the equally important circumstances of Scrooge's nephew Fred and the multitudinous Cratchit family (Pointer 1996, 61).
3.4.2 Adaptionen für Film und Fernsehen Wie Michael Pointer (1996, 7) betont, war Dickens im Jahr 1897 einer der ersten Autoren, deren Werke für das neue Medium adaptiert wurden. Während der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, "the time of the first silent films, a time of germinating technological possibility for the drama" (Bolton 1987, 5), wurde, wie Bolton (ebd.) feststellt, kein Romanautor häufiger verfilmt als Dickens. "The cinema took to Dickens immediately, and from the early days of silent cinema both in Britain and America there were Dickens films", ergänzt Richards (1997, 329). Es kann als Konsens innerhalb der Dickens Forschung betrachtet werden, dass diese Begeisterung des neuen Mediums im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kein Zufall war, sondern sich aus bestimmten Qualitäten von Dickens' Oeuvre speiste. "[T]here is a more striking affinity between Dickensian modes of narration and film's developed techniques of story telling (including editing, camerawork, and designs) than exists between film and any other author", erkennt Joss Marsh (2001. 205). Julian Moynahan
78 Laut Michael Pointer (1996, 66) verdankt sich etwa die Existenz von David Leans Film Great Expectations allein der Tatsache, dass Lean, der den Roman zuvor nicht kannte, im Jahr 1939 einer Aufführung von Alec Guinness' Bühnenadaption beiwohnte. "Lean later acknowledged that had he not seen the play, he would not have made the film. On such a slender chance rested the origin of one of the great film classics". 109
(1981, 143) ergänzt: One often hears that Dickens is the most 'cinematic' of the classic English novelists, and by that a number of different things appear to be meant. There are the stunning atmospheric effects and the broadly environmental ones, from the evocation of London fog opening Bleak House (1853) to the description of the lowered upon, storm threatened churchyard, salt marsh, and distant river rendered in Great Expectations (1860), Chapter 1, which any ambitious cinematographer or director would be challenged to transfer to film. Then there is the intense dwelling on physical detail, the constant use of what has to be called visual metaphor, and Dickens's interest in conveying a complex of thematic meaning through such devices. There is a kind of Dickensian dumb show through which entire sequences and levels of dramatic and thematic implication are presented without any recourse to words, except of course those necessary words which merely describe the scene or action without adding either dialogue or discursive analysis.79 Graham Petrie (1974/75, 186) betrachtet Dickens' Romane als geprägt von dessen "strong visual imagination", was David Paroissien (1978, 72) näher erläutert: Dickens believed that the aim of fiction was to make one's audience feel, hear, and see; and that the presentation of people and places through 'pictures,' 'images on the brain,' was far more effective than the discursive reporting of Collins' narrator. Commenting on his own art, Dickens confided to John Forster how he created his fictive world: "'I don't invent it – really do not – but see it, and write it down.'' Good writing, as Herbert Read reminds us, is 'VISUAL:' on these grounds novel and film unite (meine Hervorhebung). Auch Sergei Eisenstein (1949, 208f.) betont in seinem berühmten Essay "Dickens, Griffith, and the Film Today" die optischen Qualitäten von Dickens' Werk und weist zudem auf Ähnlichkeiten zwischen den Charakteren in Dickens' Oeuvre und gängigen Leinwand Charakteren hin: The characters of Dickens are rounded with means as plastic and slightly exaggerated as are the screen heroes of today. The screen's heroes are engraved on the senses of the spectator with clearly visible traits, its villains are remembered by certain facial expressions, and all are saturated in the peculiar, slightly unnatural radiant gleam thrown over them by the screen. It is absolutely thus that Dickens draws his characters – this is the faultlessly plastically grasped and pitilessly sharply sketched gallery of immortal Pickwicks, Dombeys, Fagins, Tackletons, and others. Aufgrund solcher Ähnlichkeiten zwischen Dickens' Werk und dem neuen Medium Film gelangte Eisenstein zu dem Schluss, Dickens habe eine Vielzahl der von Filmpionier D.W. Griffith verwendeten Techniken unmittelbar beeinflusst, so etwa Griffiths Techniken der Figurenzeichnung (vgl. Eisenstein 1949, 222), des close up (vgl. ebd., 198ff.) und der Montage (vgl. ebd., 205ff.) und damit das neue Medium formativ geprägt. Diese These ist
79 Weitere filmische Szenen in Dickens' Romanen listet Ana Laura Zambrano (1972, 347ff.). Ihren Ausführungen zufolge findet sich in Dickens' Oeuvre eine Vielzahl von Szenen "whose techniques parallel and rival those of the boldest contemporary film makers" (Zambrano 1972, 350). 110 allerdings umstritten. Obgleich Graham Petrie (1974/75, 190f.) den Einfluss von Dickens auf Griffith anerkennt, sieht er das Medium Film eher von den Bühnentechniken des 19. Jahrhunderts geprägt und liefert damit auch eine Erklärung für die starken Ähnlichkeiten zwischen eben diesem Medium und Dickens' Werk. Crosscutting from one scene of action to another, parallel action within the confines of the stage, fades, dissolves, special lightning effects, spectacular settings and even movements of stage and set that changed the angle of vision and gave an effect later to be achieved by film editing or camera tracking and tilting – all these are to be found in stage productions of the Victorian period. [...] All this raises some doubt as to whether Dickens was the vitally formative influence on the development of film structure that Eisenstein and Griffith claimed he was. It seems more likely that both directors used the genuinely cinematic elements in Dickens's fiction to create a respectable literary precedent and to provide a theoretical justification for techniques that Griffith probably absorbed largely unconsciously from his own early experiences as an actor and playwright and that Eisenstein in turn inherited from Griffith (Petrie 1974/75, 189f.). Margaret Montalbano (2004, 385) betont die von Anfang an enge Beziehung zwischen den beiden Medien Literatur und Film und macht deutlich, inwieweit sich das Medium Film seit seinen Anfängen zur Popularisierung des Mediums Literatur geradezu empfahl: Since its inception, cinema has enjoyed a close relationship with literature, exploiting it primarily for financial gain. Early films were often based on condensed adaptations of popular fiction or stage plays; and if the novel provided both topic and audience for the film, the film could in turn be used to create a larger audience for the written work. In Montalbanos hier wiedergegebenen Ausführungen klingt schon an, wie sich die Verfilmung von Literatur in der Frühzeit des Mediums Film gestaltete. Filmemacher, die aus einem Dickens Roman einen damals üblichen Zehn Minuten Film machen wollten, folgten dem von F. Dubrez Fawcett (1952, 193) später rekonstruierten Rezept: Take the title of a Dickens story; work some of the best known incidents into a beginning, a middle and an end: then dress up the players to look like the pictures in the novels. The lettering on the screen would do the rest, and the audience could fill any blanks from their own stores of Dickensian knowledge. "In such a production film was conceived as little more than a means of illustration, and was totally subservient to the text of the novel", bemerkt Zambrano (1972, 237). Eine solche Adaptionsweise, die zumindest in der Auswahl bekannter und beliebter Episoden aus Dickens' Romanen an dessen eigene Adaption seiner Texte für seine öffentlichen Lesungen erinnert, ist auch in den vier Produktionen, mit denen nach Darstellung von Pointer (1996, 7) die Geschichte der Dickens Adaptionen für das Medium Film beginnt, erkennbar. Den Anfang machte im Jahr 1897 der Film Death of ancy Sykes, "a depiction of the brutal incident in the novel Oliver Twist where Bill Sikes kills his woman partner, believing she has 111 betrayed him." Im darauffolgenden Jahr produzierte der Brite R.W. Paul den Film Mr. Bundle the Beadle, der nur etwa 45 Sekunden dauerte und Mr. Bundles Werben um die workhouse Vorsteherin zum Inhalt hatte. "This demonstrated Paul's confidence that the public would be familiar enough with the story of Oliver Twist to recognize Bumble's name or know enough about workhouses to understand what a beadle was", bemerkt Pointer (1996, 8). 1901 folgten die ebenfalls von R.W. Paul produzierten Filme Mr. Pickwick's Christmas at Wardles und Scrooge; or Marley's Ghost. "Mr. Pickwick's Christmas at Wardles was only 140 feet long (approximately 1 1/2 minutes), about the average length for Paul's pictures at that time. Scrooge was an altogether more ambitious undertaking" (Pointer 1996, 8). Alle diese frühen Dickens Filme weitverbreitete Kenntnisse der populärsten Werke von Dickens voraus (vgl. Pointer 1996, 16). Dass solche Kenntnisse schon bald nicht mehr ohne Weiteres vorausgesetzt werden konnten und den in kurzen, regelmäßigen Abständen auftretenden Dickens Verfilmungen damit zunehmend popularisierende Funktion zukam, verdeutlicht ein im Jahr 1921 in der Times veröffentlichter Artikel über die Dickens Verfilmungen von Thomas Bentley: [A] new public which does not read Dickens has been given an opportunity of making the acquaintance of Barnaby Rudge, of David Copperfield, of Micawber, of Quilp, of Little Nell and her grandfather, and of scores of others who are not of an age but for all time (z.n. Pointer 1996, 45). Sowohl Zambrano als auch Richards schreiben Dickens' kontinuierliche Präsenz auf den Bildschirmen der 'Produzierbarkeit' seiner Texte zu. Beide betonen die Polysemie der Dickens'schen Texte sowie deren Fähigkeit, eine Vielzahl von Bedeutungen und Arten von Vergnügen zu generieren. Zambrano (1972, 333) spricht von "multileveled thematic strands in every Dickens novel which hold universal and timeless appeal". Richards (1997, 349) führt aus: [T]he multi faceted nature of Dickens […] makes him susceptible of wholly different interpretations and ensures that he remains, like Shakespeare, completely relevant to and in tune with the moods, needs and mindsets of the nation. Whatever the circumstances, he is likely to remain 'Dickens – our contemporary'. Der hohe Grad an Produzierbarkeit in Dickens' Texten ermöglicht es Adapteuren, zu Zwecken des updatings bzw. der Herstellung oder Verstärkung der Relevanz jeweils unterschiedliche Elemente des Originaltextes zu akzentuieren bzw. zu vernachlässigen oder gar komplett zu streichen, so dass, wie Michael Pointer (1996, 111) ausführt, herausragende Filmversionen von Dickens' Texten nicht nur die Epochen, in der die jeweiligen Handlungen situiert sind, reflektieren, sondern auch die Äras, während derer sie entstanden sind: There is charm and innocence in the films made before the Second World War that 112
disappears thereafter. Postwar social changes are similarly noticeable, while the reckless abandon of the 1960s and 1970s was marked by a distinct leaning towards escapism. The money grubbing 1980s brought forth due acknowledgment of ruthless men of business and their crooked counterparts. Dickens, it seems, is adaptable to all eras. Ein weiterer Grund für Dickens' anhaltende Beliebtheit bei Filmschaffenden dürfte zudem in der Tatsache liegen, dass seine Texte für einen Großteil der Bevölkerung Großbritanniens und Amerikas schon von vornherein eine Form von nicht repräsentionaler Relevanz aufweisen, die sich mit dem von Fiske eingeführten Begriff der 'diskursiven Relevanz' benennen ließe. George Orwell (1961b, 73f.) führt aus, worin diese Relevanz besteht und woraus sie sich herleitet: He [Dickens] happens to be one of those 'great authors' who are ladled down everybody's throat in childhood. At the time this causes rebellion and vomiting, but it may have different after effects in later life. For instance, nearly everyone feels a sneaking affection for the patriotic poems that he learned as a child, 'Ye Mariners of England', the 'Charge of the Light Brigade' and so forth. What one enjoys is not so much the poems themselves as the memories they call up. And with Dickens the same forces of associations are at work. Amanda Cross (1979, 140) bezeichnet solcherlei nostalgische Empfindungen als "daydream in reverse, like thinking we loved the books of our youth, when all we love is the thought of ourselves young, reading them". Das Beispiel der David Copperfield Verfilmung von George Cukor aus dem Jahr 1935 zeigt, dass Filmregisseure durchaus auch an diese Form der Relevanz, die sich aus Assoziationen mit der eigenen Kindheit und Jugend ergibt, anzuknüpfen versuchen. Guerric de Bona (2000, 120) diskutiert eine zu Beginn dieses Films eingefügte Anspielung auf A Christmas Carol, "a story which, by the 1930s, had become part of the seasonal American ritual, invoking primal images of family homecomings and acts of Christian charity." Diese Anspielung auf Dickens' wohl bekanntestes Werk nun vermochte nach Einschätzung von de Bona (ebd.) eben diese von Orwell diskutierte Form der Relevanz von Dickens' Texten für sein Publikum zu beschwören: Much of the Depression audience who saw the film were probably also engaged in another kind of nostalgic jouney – a return to a generalized idea of Dickens, who had been part of their upbringing and who seemed to represent a lost world inhabited by their ancestors. Neben dieser Form der diskursiven Relevanz, an die von Filmschaffenden nach Belieben angeknüpft werden kann, wurde schon in den frühen Dickens Adaptionen häufig durch die Betonung von Text Elementen, die sich mit aktuellen Diskursen in Einklang bringen ließen und Streichungen von anderen Bestandteilen der Texte, die sich mit aktuellen Diskursen nicht 113 mehr oder nur schwer in Einklang bringen ließen, ein updating vorgenommen – wohl in der Absicht, auch die repräsentionale Relevanz des Stoffes für sein Publikum zu verstärken. So konzentrierte sich David O. Selznick, Produzent des Films David Copperfield aus dem Jahr 1935, bei dem George Cukor Regie führte, auf Elemente, von denen er annahm, dass sie bei seinem Publikum auf Interesse stoβen würden: [T]hat selection omitted elements of predominantly Victorian concern. The novel deals not only with a fragmented self but with a fragmented family; it ends with a unified self in a unified family. The concern throughout is with self definition and the establishment of a family. The film's David is not a fragmented character and is not obsessed with familial stability. It ends as he begins to court Agnes (Madge Evans) and not ten years after they have established a secure family. In the novel, the ten year postmarital leap indicates the solidity of the family unit David has established. The film is not impelled to show such a development because it is not as centrally concerned with domestic stability as is the novel. Its family units are less chaotic, and the giddy response of Betsey Trotwood and Mr. Dick to David's and Agnes's courtship indicates that there is no doubt in their minds that the courtship will ripen into a secure and fruitful marriage. The sense of almost universal familial chaos is not nearly as strong in the film as it is in the novel. The families that remain unified do so under much less strain than their counterparts in the novel; the threats to domestic stability in the films [sic] are much less threatening, much more readily vanquished than those in the novel (Luhr 1981, 140f.) Wie de Bonas (2000, 110) Ausführungen erkennen lassen, verstärkte gerade die mit der Streichung der von Luhr aufgeführten Elemente einhergehende Konzentration auf die Titelfigur des Films, dass die repräsentionale Relevanz der Produktion für ihr Publikum über die Ebene der 'Ähnlichkeit' verstärkt wurde: Its hero is a man of high taste and simple virtue who falls undeservedly into the world of the poor and returns from that world to expose a vulgar financial manipulator. Such a hero was especially useful in the 1930s, when the gulf between the classes was quite visible, when the more prosperous sectors of the economy needed to develop a sort of noblesse oblige (DeBona 2000, 110). Die Verfilmung erwies sich somit als den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zur Zeit ihrer Entstehung überaus angemessen (vgl. DeBona 2000, 110), da sie dem Publikum während der Weltwirtschaftskrise gewissermaßen eine Fabel darüber offerierte, how the divisions of social class can be overcome through learning and generosity of feeling. If the American establishment was undergoing a process of self evaluation during the 1930s [...] Selznick and Cukor helped the process along by creating an imaginary world in which lowbrow and highbrow (or outsiders and insiders) could meet and sometimes even marry" (DeBona 2000, 120). Häufig nicht mit aktuellen Diskursen in Einklang bringen lässt sich die, wie Pointer (1996, 1) 114 hervorhebt, in fast allen von Dickens' Texten auf irgendeine Weise vorhandene Sozialkritik,80 da sie sich zumeist auf spezifisch viktorianische Missstände bezieht. Angesichts dessen ist es kaum verwunderlich, dass bestimmte Elemente der Sozialkritik aus Dickens' Werk zu bestimmten Zeiten dem Rotstift des Drehbuchautors zum Opfer fallen. Rachael Low (1950, 196f.) zitiert aus dem Kinematograph Monthly Film Report, in dem über Thomas Bentleys Verfilmung des Romans Hard Times aus dem Jahr 1915 zu lesen war: Some of the worst evils of Lancashire life prevalent in Dickens' time have now been remedied, and perhaps Mr. Bentley was right in toning down these elements of the story. At any rate, the sense of bitterness and indignation and biting satire left by the book has almost entirely disappeared in the film. Auch die von der Jesse L. Lasky Feature Play Company im Jahr 1916 produzierte Adaption von Oliver Twist "was pure melodrama, balancing the miseries of Oliver with those of Nancy and omitting as much social criticism as possible" (Zambrano 1972, 240). Nach Pointers (1996, 39) Ansicht dienten solche Streichungen nicht nur dem updating des Textes, sondern kamen auch generell den zu dieser Zeit vorhandenen Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums entgegen: [C]inemagoers were not concerned with seeing the realism of social inequality. There was a war on, and they went to movies to be entertained. As was the case with many adaptations from serious literature, the sense of moral indignation in the original work was still being diminished in the condensation, often to the point of exclusion.81 "[V]irtually all social comment and all the satire on the legal system have been excised, in favour of the melodramas of lawyer Tulkinghorn's investigations and his murder, of Lady Dedlock's exposure, flight and death", hält Jeffrey Richards (1997, 332) auch für Maurice Elveys Verfilmung des Romans Bleak House aus dem Jahr 1920 fest. Auch die 1938 erschienene Metro Goldwyn Mayer Verfilmung von A Christmas Carol "capitalized on the story's celebration of the familiar cheer and material aspects and material aspect of Christmas and by passed its serious social commentary" (Zambrano 1972, 262). Ebensowenig sind die sozialkritischen Züge des Romans Great Expectations in David Leans zum Klassiker avancierten Verfilmung aus dem Jahr 1946 wahrnehmbar (vgl. Zambrano 1972, 279 und Klein 1981, 11).
80 Vgl. Pointer (1996, 1): "[A]lmost everything he [Dickens] wrote revealed his awareness of the social conditions around him. Through the medium of his essays, stories, and novels, he was constantly drawing attention to appalling injustices and inadequacies of much of the social system of the times." 81 Laut Paul Davis (1990, 162) waren etliche Jahre später, während der Weltwirtschaftskrise, die Produzenten zahlreicher weiterer Dickens Verfilmungen auf ähnliche Weise darum bemüht, die eskapistischen Befürfnisse des Publikums zu bedienen. Davis beschreibt Joseph L. Mankiewiczs Adaption von A Christmas Carol als einen von mehreren "cinematic classics of the thirties that turned the novels of Dickens and other Victorians into romantic comedy. In MGM's David Copperfield (1935), J. Arthur Rank's A Tale of Two Cities (1935), Universal's Edwin Drood (1935) and Great Expectations (1934), and other films of the period, the studios raised Dickens' sentimental comedy to exorcise the misery of the Depression." 115
Wie bereits deutlich wurde, dient eine solche Ausklammerung der nicht mehr aktuellen Züge in Dickens' Werk nicht nur der Steigerung der Relevanz des Filmprodukts für sein potentielles Publikum, sondern auch der Steigerung von dessen Unterhaltungwert. Pointer (1996, 33) bezeichnet einen solchen Adaptionsmodus, der Dickens' Sozialkritik vernachlässigt oder komplett ausspart, als typical of the way the cinema extracted all possible attractiveness from Dickens and frequently glossed over or ignored completely the great social awareness that Dickens displayed in all his books. In so many of his works there are representations of prison scenes that appalled him, as well as frequent depictions of grinding poverty and abject misery. When such topics could not be avoided, the cinema often treated them in a romantic or 'genteel' way. They were problems to be simplified and disposed of quickly, being regarded as lacking in entertainment value. Die Akzentuierung einzelner und die Vernachlässigung bzw. Streichung anderer Elemente der Texte im Interesse des updatings der Vorlage ging schon in einigen der frühesten Dickens Verfilmungen mit einer Übertragung der Handlung in ein zeitgenössisches Setting einher. Für den von der United States Vitagraph Company produzierten Film The Modern Oliver Twist; or, the Life of a Pickpocket aus dem Jahr 1906 sowie für die 1917 erschienene Adaption von Dombey and Son, für die Eliot Stannard das Drehbuch verfasste, wurden zeitgenössische Settings verwendet (vgl. Pointer 1996, 16 und 41). Auch die Autoren der Verfilmung Oliver Twist Jr. aus dem Jahr 1921 versetzten Dickens' Handlung in ein zeitgenössisches, in diesem Fall amerikanisches Setting (Pointer 1996, 42). Die Geschichte der Dickens Verfilmungen verdeutlicht zudem, dass ein updating außer durch Streichung nicht aktueller Elemente der Vorlage und der Betonung anderer Elemente auch mittels der Ergänzung neuer Inhalte erreicht werden kann. So bedienten sich etwa die Autoren der Verfilmung Oliver Twist Jr. aus dem Jahr 1921 neben der bereits angesprochenen Übertragung der Handlung in ein zeitgenössisches Setting noch zusätzlich der Popularisierungsstrategie der Ergänzung, indem sie Oliver Twist während der letzten Szenen des Films in den Genuss einer Liebschaft mit einer Frau kommen lassen, die sich in Dickens' Roman nicht findet – wohl in der Annahme, dass romantische Liebe vom Zuschauer zu jeder Zeit als relevant empfunden würde. Pointer (1996, 42) zitiert aus dem Katalog des American Film Institute: "[D]uring a robbery attempt Oliver is shot and found on the ground by Ruth Norris, who befriends him. After learning his identity, he finds happiness with Ruth." Im Zusammenhang mit David O. Selznicks Verfilmung von David Copperfield aus dem Jahr 1935 spricht Zambrano (1972, 253) von der Ergänzung des Plots um "remarkably 'in tune' scenes". Wie Joss Marsh (2001, 211) in ihren Ausführungen zu David Leans Great 116
Expectations (1946) und Oliver Twist (1948) zeigt, konnte zum damaligen Zeitpunkt ein gewisser Grad an repräsentionaler Relevanz dieser beiden Stoffe für das intendierte Publikum schon aufgrund ihrer jeweiligen Hauptfiguren vorausgesetzt werden. Dickens' Pip und Oliver Twist waren – ähnlich wie de Bona dies für David Copperfield und die Zeit der Weltwirtschaftskrise postuliert – well chosen figures for the late 1940s: like millions of British children during the war, they struggled with hardship, hunger and separation from family; and like those children, for whom a new society was being built, they aspired to more prosperous futures. Im Fall der Verfilmung von Great Expectations erschien David Lean dieser somit bereits vorhandene Grad an Relevanz offenbar als nicht ausreichend. Dies bewog ihn zum einen dazu, die Atmosphäre seines Films im Vergleich zu der Atmosphäre des Romans deutlich aufzuhellen, wie Marsh (2001, 215) ausführt: Lean's Great Expectations is a brighter fable than Dickens's novel [...]. The post war atmosphere of austerity and celebration into which it was released made its luxuriance of ballroom and costume more innocent pleasures than Dickens would have them. Zum anderen versah Lean seinen Film mit einem neuen Ende, das von seiner Ehefrau Kay Walsh verfasst wurde (vgl. Marsh 2001, 215). Dickens hatte ursprünglich für den Ausklang seines Romans eine kurze Wiederbegegnung nach mehreren Jahren zwischen dem Junggesellen Pip und der nach Drummles Tod wiederverheirateten Estella vorgesehen, nach der sie allerdings wieder auseinandergehen würden. Auf Drängen seines Freundes Bulwer Lytton hin konzipierte Dickens jedoch eine zweite Schlussvariante, die sich in den meisten der heute erhältlichen Ausgaben des Romans findet (vgl. Moynahan 1981, 152). Diese Variante sieht eine erneute Begegnung zwischen Pip und der in diesem Fall nicht wiederverheirateten Estella in der von Satis House übriggebliebenen Ruine vor. Beide statten dieser Ruine nach mehr als zehn Jahren zufälligerweise zum gleichen Zeitpunkt einen Besuch ab. Pip nimmt Estella bei der Hand und verlässt mit ihr die Ruine. Ob es zu einer gemeinsamen Zukunft der beiden Figuren kommen wird, bleibt offen. David Leans Ehefrau Kay Walsh ließ sich nun ein drittes, hollywoodgerechtes Ende einfallen, das zwar auf Dickens' zweiter Variante basiert, diese aber auf signifikante Weise verändert und ergänzt. In dieser dritten Variante, mit der David Leans Filmadaption zu Ende geht, kehrt Pip zu Satis House zurück, welches keine Ruine ist, sondern sich im gleichen Zustand befindet, in dem Pip und der Zuschauer es zuletzt gesehen hatten. Pips Besuch findet auch nicht zeitversetzt erst viele Jahre später statt, wie in beiden von Dickens' Schlussversionen, sondern schließt unmittelbar an die vorausgegangenen Geschehnisse an. Pip trifft in Satis House auf Estella, 117 die von Bentley Drummle verlassen wurde, nachdem dieser von Mr. Jaggers über Estellas familiären Hintergrund informiert worden war. But before Pip can claim the prize that Americanized romantic movie tastes now dictate he win, he must remove another obstacle – Estella's entrapment in the 'dead house' of Miss Havisham, a logical development of a design latent in Dickens's text. He does so with Hollywood bravado: 'I have come back, Miss Havisham,' he shouts to its echoing shadows, 'I have come back ... to let in the sunlight' [...]. A dimly lit long shot (employing rim or outline only lighting) now shows us Estella seated rigidly in Miss Havisham's throne like chair. Then: Medium close shot PIP tears down a curtain. Medium shot ESTELLA suddenly backlit. Long shot PIP tearing down more curtains. Medium shot ESTELLA as light strikes her face and breast. 'Look at me,' Pip urges her; 'Come with me.' And, turning slowly to each other, as romantic music swells, the two run out of the desolate house, like children released from school: Medium long shot They turn to look back at the gate. GREAT EXPECTATIONS is superimposed over shot as they go out into the sunlight (Marsh 2001, 217). Marsh (2001, 217) sieht in dieser Gestaltung des Filmendes nicht nur ein Zugeständnis an den Geschmack des amerikanischen Kinogängers, sondern auch eine Annäherung an die Lebensumstände des Publikums zu dieser Zeit, kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges – eine Annäherung, die sich durchaus als updating betrachten lässt: Pip announcing his return to the Satis House shadows has more than a dash of the heroic serviceman of 1945 46, home from the front to tear down the blackout curtains and claim his bride, who (as in the fantasies of film noir, the dominant genre of the later forties) can be put back in her proper, submissive feminine place now that war work is over (Marsh 2001, 217). Auch Regisseur Delbert Mann bemühte sich im Jahr 1969 um ein updating des Romans David Copperfield, indem er die Romanvorlage ergänzte oder sie doch zumindest signifikant umgestaltete. Wie Zambrano (1972, 330) darlegt, lautete Manns Credo: "[A]ll adaptations should have contemporary relevance", und auch im Fall seiner David Copperfield Verfilmung war es die erklärte Absicht des Regisseurs, seine Vorlage "'relevant' for today's audience [...] in the contemporary age of anxiety" zu machen (Zambrano 1972, 321f.). Zu diesem Zweck entschloss sich Mann, David eine Existenzkrise durchleben zu lassen, als dieser auf seine Vergangenheit zurückblickt und die einander widersprechenden Empfindungen für seine Mutter, Dora und Steerforth miteinander in Einklang zu bringen sucht (vgl. Zambrano 1972, 322). Mann ergänzt hier seine Vorlage insofern, als es sich bei Davids Krise im Roman nicht so sehr um eine Identitätskrise handelt als vielmehr um eine der "emotional depression and deprivation" (Zambrano 1972, 322). 118
Neben diesen Streichungen und Hinzufügungen, die speziell dem updating der jeweiligen Vorlage dienen bzw. dazu, die repräsentionale Relevanz des jeweiligen Stoffes für sein Publikum herzustellen bzw. zu verstärken, weisen schon die frühesten Dickens Verfilmungen auch solche Streichungen auf, die auf allgemeinere Art dazu beitragen, dem Publikum die Rezeption zu erleichtern. In Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit wurde gezeigt, dass Elemente, die nicht direkt mit der Handlung des Textes verknüpft sind und somit den Fortgang der Erzählung aufhalten, aus Adaptionen häufig ausgespart werden. Als frühes Beispiel für das Auftreten dieser Popularisierungsstrategie lässt sich etwa die Adaption des Romans Bleak House aus dem Jahr 1920 anführen, bei der Maurice Elvey Regie führte. Pointer (1996, 42) schreibt über diese Adaption: The shrinking of the story to a film of about 80 minutes meant the elimination of all the digressions, subplots, and minor characters, and the reduction to a relative cipher. The case of Jarndyce and Jarndyce appears only as a name on a deed box, and the word Chancery is not mentioned. Desweiteren wurde in Abschnitt 2.3.2. erarbeitet, dass auch Bestandteile der Vorlage, die vom Zuschauer möglicherweise als anstößig empfunden werden könnten, häufig gestrichen bzw. gravierend verändert werden. Bereits in der ersten Dickens Verfilmung wurde – eben mit der Absicht, die Vorlage zu 'entschärfen' – eine einschneidende Veränderung des Stoffes vorgenommen. In der Oliver Twist Verfilmung Death of ancy Sykes [sic] aus dem Jahr 1897 wurde Nancy kurzerhand mit Bill Sikes verheiratet: "An unmarried woman cohabiting with a man was not an acceptable feature of the drama in those days, and for many years afterwards" (Pointer 1996, 7). Auf Elemente, die vom Zuschauer – in diesem Fall vor allem dem amerikanischen – als anstößig hätten empfunden werden können, wurde auch in der Verfilmung von Martin Chuzzlewit aus dem Jahr 1912 weitgehend verzichtet. Following closely behind his equally critical book American otes, this 1845 novel was a profound shock to the American press and public and antagonized them to an enormous extent. They felt betrayed by the young man they had lionized on his visit to their country only three years earlier (Pointer 1996, 28). Die amerikakritischen Passagen des Romans wurden die in der Verfilmung offennbar umgangen: "Judging from the sparse information available, the screenplay reduced the American interlude of the story" (ebd.). Auch Thomas Bentley nahm bei seiner Adaption von David Copperfield im Jahr 1913 Rücksicht auf seine "genteel audience", indem er, wie Zambrano (1972, 238 und Fn12) ausführt, den Handlungsstrang rund um Little Em'ly auf signifikante Weise umgestaltete: "After she is abandoned by Steerforth Little Em'ly tries to drown herself but she is rescued by a policeman and is taken to David's fome [sic] to recuperate. Later she is reunited with Daniel Peggotty, her father in the film." 119
Auch für die Popularisierungsstrategie der 'Vereindeutigung des Geschehens' findet sich unter den früheren Dickens Verfilmungen ein Beispiel. Wie Zambranos (1972, 294) Ausführungen erkennen lassen, nahm Alberto Cavalcanti, der 1947 bei der Adaption des Romans icholas ickleby Regie führte, im Interesse einer stromlinienförmigen Gestaltung der Handlung solche Vereindeutigungen vor. Diese Technik wirkte sich auch auf die Gestaltung der Figuren aus, insofern als in einigen Fällen bestimmte, maßgebliche Charakterzüge der verstärkt wurden: "Cavalcanti magnified the mannerisms of Dickens's characters, making Verisopht even more effeminate, Ralph Nickleby more of a villain, and Smike pathetically helpless." Schließlich scheint auch die Popularisierungsstrategie der jollification ihre Vorläufer in den früheren Dickens Verfilmungen zu haben. Als einen solchen Vorläufer lässt sich etwa David Leans bereits erwähnte Bemühung um eine 'Aufhellung' des Plots von Great Expectations in seiner Verfilmung betrachten. Bereits 12 Jahre zuvor, im Jahr 1934, war der Regisseur Stuart Walker, der denselben Roman für Universal Pictures verfilmte, ähnlich vorgegangen, indem er einige der Hauptcharaktere signifikant umgestaltete. "The most difficult scenes were those that concerned Estella and Miss Havisham, two apparently hard and bitter and disillusioned women. I had to try to make them sympathetic and understandable", begründete der Regisseur seine Eingriffe in Dickens' Text (z.n. Zambrano 1972, 247). Aus diesem Grund lässt er Miss Havisham in dieser Produktion groβmütterliche Züge angedeihen, "Estella becomes the typical sweetly charming heroine" (Zambrano 1972, 247). "Mr. Jaggers, that most astute of lawyers, is represented as the kind of fat, benevolent man to whom children in the early days of November confidently look for silver coins", bemerkte ein Journalist in einer Rezension für die Londoner Times (z.n. Zambrano 1972, 248). Die Geschichte der Dickens Verfilmungen zeigt außerdem, dass Dickens von Anfang an immer wieder durch die Besetzung einzelner Rollen mit bestimmten Schauspielern popularisiert wurde. Dabei lassen sich auch hier wieder – wie zuvor schon im Hinblick auf die Adaptionen für das Theater des 19. Jahrhunderts – beide Strategien der Popularisierung durch Schauspieler ausmachen – also sowohl die Popularisierung durch Schauspieler, die bereits in anderen Produktionen desselben oder eines anderen Werkes von Dickens – im selben oder in einem anderen Medium – erfolgreich gewesen waren, als auch die Popularisierung durch Schauspieler, die sich bereits unabhängig von Dickens in anderen Rollen einen Namen gemacht haben. "Studios relied on actors from their stable of players to fill stock roles", führt Zambrano (1972, 250) weiter aus. 120
Often certain types of roles became a trademark of a particular player. Edna May Oliver as gruff but lovable Betsy Trotwood in MGM's 'David Copperfield' (1935), also played gruff but lovable Miss Pross in 'A Tale of Two Cities,' and Elizabeth Allan and Fay Chaldecott, who appeared as Mrs. Copperfield and Little Em'ly as a child, were also seen in 'A Tale of Two Cities' in the respective roles of Lucie Manette and her daughter. Basil Rathbone, the suave, chillingly cold blooded Marquis St. Evrémonde, made a habit of appearing as a villain [...]. Laut Zambrano (1972, 249) legte vor allem David Selznick bei seinen Dickens Verfilmungen in den 1930er Jahren Wert darauf, seine Produktionen mit "well known actors in standard roles" zu besetzen. Auch von der zweiten Variante der Popularisierung durch Schauspieler wurde spätestens ab den 1920er Jahren mit Aufkommen des "star system" und der Ansicht, dass populäre Schauspieler ihrem Publikum jeden Stoff verkaufen konnten (vgl. Zambrano 1972, 242) regelmäßig Gebrauch gemacht wurde – obgleich nach Ansicht von Pointer (1996, 112) die in den meisten Romanen hohe Anzahl von Charakteren dem Star System in Hollywood beträchtliche Probleme bereitete – "for there are really very few starring roles – or too many starring roles." Dennoch wurden die Rollen in Dickens Adaptionen immer wieder mit bereits bekannten und populären Schauspielern besetzt. Wie Zambrano (1972, 242) hervorhebt, waren etwa die Schauspieler Jackie Coogan – "the child actor who shot to stardom in Chaplin's The Kid in 1920" (Pointer 1996, 45) – und Lon Chaney die hauptsächlichen Attraktionen der Oliver Twist Verfilmung aus dem Jahr 1922. Zambrano (1972, 242f.) zitiert in diesem Zusammenhang eine Rezension aus der ew York Times, die deutlich macht, inwieweit ein populärer Schauspieler schon in der Frühzeit des Mediums Film zur Popularisierung eines Stoffes beitragen konnte: "'Oliver Twist' [...] is at the Strand this week, and destined to keep the house full, if the crowds that packed the place yesterday mean anything. But whether it is Mr. Dickens or little Jackie Coogan that is drawing them is, of course, a question." Die Geschichte der Dickens Adaptionen für das Medium Film macht außerdem deutlich, dass Popularisierungen in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten können. So betonte etwa David Lean in seiner zweiten Dickens Verfilmung, für die er den Roman Oliver Twist ausgewählt hatte, Dickens' Sozialkritik, statt sie, wie er dies zuvor in seiner Verfilmung von Great Expectations getan hatte, auszublenden. Zambranos (1972, 280f.) Darstellung zufolge schuf Lean hier "a tale of caustic criticism. [...] In no sense are the characters or actions glamorized; on the contrary, through camera placement the squalor of nineteenth century London is dramatically emphasized." In einem Artikel in der ew York Times betonte auch der Journalist Bosley Crowther die Konzentration des Films auf die sozialen 121
Ungerechtigkeiten im England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: "All [the characters] are themselves really victims of the great cycle of social inequity, brought on by the Industrial Revolution, in which the poor and the underprivileged were much oppressed" (z.n. Zambrano 1972, 288). Es ist signifikant, dass Lean zum Zweck dieser Verfilmung auf einige Elemente des Originaltextes, die zur Zeit des Nachkriegskinos sicherlich populäres Potential aufwiesen, verzichtete, etwa auf den Handlungsstrang um Rose Maylie (vgl. Zambrano 1972, 286). Dennoch wurde der Film zu einem Erfolg, wozu möglicherweise auch die Marketingmaßnahmen seitens der Rank Corporation, der der Vertrieb des Films oblag, beigetragen haben könnten (vgl. Zambrano 1972, 292). In der Verfilmung von A Christmas Carol aus dem Jahr 1952, für die Noel Langley das Drehbuch verfasste und bei der Brian Desmond Hurst Regie führte, scheint die Popularisierung ebenfalls recht schwach ausgeprägt zu sein. Wie Lester J. Keysers (1981, 121) Ausführungen erkennen lassen, verzichteten Regisseur und Drehbuchautor auf ein updating. Wie Keyser (ebd.) darlegt, handelt es sich um eine textgetreue Adaption, "mesmerized by Victoriana" (ebd., 123), die auf Langleys extensiven Recherchen bezüglich des Autors und seiner Epoche basierte (ebd.). Dickens' Sozialkritik wurde in diesem Fall nicht nur nicht vernachlässigt oder ganz gestrichen, sondern sogar besonders hervorgehoben: Hurst is similarly faithful and emphatic in regard to Dickens's economic and social theorizing. The specter of the poor laws, the work houses, and the prisons becomes one of the dominant motifs in the film. Scrooge's harsh prescriptions echo and reverberate on the soundtrack at the very moment he gains new insights into the need for humanity (Keyser 1981, 126). Obwohl das Auftreten bzw. Nicht Auftreten von Popularisierungsstrategien allein noch keine definitiven Vorhersagen über den kommerziellen Erfolg einer Adaption zulässt, wurde der Film zu einem kommerziellen Misserfolg, "and A Christmas Carol seems condemned to yearly reruns on television late on Christmas evening when few are watching" (Keyser 1981, 131). Obwohl Dickens' Romane bis zum heutigen Tag regelmäßig für das Kino adaptiert werden, wird in der Forschung immer wieder behauptet, das Fernsehen stelle das für Dickens Verfilmungen geeignetere Medium dar. So bezeichnet etwa Pointer (1996, 76) das Fernsehen als "the most satisfactory medium of dramatization for many of Dickens' works." Für Richards (1997, 348) ergibt sich diese besondere Eignung des Mediums Fernsehen für die Adaption von Dickens Texten aus der Tatsache, dass dieses Medium die Möglichkeit bietet, nicht nur Dickens' Inhalte, sondern auch dessen serielle Publikationsweise zu adaptieren: "Television is perfectly placed to adopt the serial form that Dickens originally 122 used and to give far more time to the unfolding of the narrative than cinema can normally allow." Dementsprechend war das britische Fernsehen auch noch kaum ein Jahr alt, als im Jahr 1936 die erste Dickens Adaption über die Bildschirme lief: Conductor and composer Albert Coates had written an opera entitled Mr. Pickwick and one week before its first performance at Covent Garden, the London Television Program of the BBC, brodacasting from Alexandra Palace, transmitted a 25 minute program of extracts from the opera on Friday, November 13, 1936 (Pointer 1996, 73). Eine weitere BBC Produktion unter dem Titel Characters from Bleak House folgte im November 1937: "Billed as a 10 minute talk by Hugh Miller, it sounds more suited to radio than TV", kommentiert Pointer (1996, 74). Die erste wirkliche Dramatisierung, Bardell Against Pickwick, wurde im Juli 1938 gesendet. Mit Beginn des zweiten Weltkriegs wurde der Sendebetrieb des britischen Fernsehens vorübergehend eingestellt, so dass erst 1946 wieder eine Dickens Verfilmung auf den Fernsehbildschirmen zu sehen war. Hierbei handelte es sich um eine Neuauflage der Produktion aus dem Jahr 1938, in der vier Schauspieler jeweils dieselbe Rolle übernahmen wie acht Jahre zuvor (vgl. Pointer 1996, 74). Die erste serielle Verfilmung eines Dickens Roman lief im Jahr 1952 über die Fernsehbildschirme. Es handelte sich hierbei um eine Adaption von Dickens' erstem Roman The Pickwick Papers in sieben Folgen von jeweils 30 Minuten Länge, die samstagabends zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurden (Pointer 1996, 76). Seinen 'Durchbruch' im zur damaligen Zeit immer noch recht jungen Medium Fernsehen erreichte Dickens laut Richards (1997, 345) wenig später mit Aufkommen der "BBC Sunday teatime serial, which became the flagship of Dickens production in the 1950s and 1960s." "Most of these early television dramatizations suggested that Dickens's fiction was little more than diversion and entertainment, and best suited to children" (Sanders 2003, 203). Auch Richards (1997, 345) betont, dass auf dem sonntäglichen Sendeplatz vor allem "Dickens the family entertainer rather than Dickens the social critic" präsentiert wurde: "Sunday teatime was no place for Hard Times, Little Dorrit or Bleak House" (ebd.). Dies änderte sich jedoch ab den 1970er Jahren: "The old taste for a benign or predominantly comic Dickens was steadily superseded by a newfound relish for a darker, more expansive, more demanding, and more cerebral novelist" (Sanders 2003, 203). Somit erblickten auch Adaptionen der späteren Romane von Dickens das Licht des Fernseh Bildschirms: 1976 adaptierte die BBC Our Mutual Friend, 1977 sendete Granada TV eine Produktion von Hard Times. 1987 folgte eine BBC Produktion von Bleak House, 1998 adaptierte die BBC erneut Our Mutual Friend (vgl. zu diesen Produktionen Sanders 2003, 204f.), während weiterhin jede Generation von Fernsehzuschauern in den Genuss immer neuer Adaptionen der Romane David Copperfield, 123
Great Expectations, Oliver Twist, icholas ickleby und A Tale of Two Cities kam (vgl. Richards 1997, 345). Mit allen diesen Produktionen demonstrierte nach Sanders (2003, 205) das Medium Fernsehen, dass es bei der Adaption narrativer Texte über das hinauszugehen vermochte, was Bühne und Kino zu leisten imstande waren: "Above all, it returned to the tensions and the suspense of serialization". Die serielle Adaption von Dickens' Romanen für das Medium Fernsehen erfordert eine Vielzahl derselben Popularisierungsstrategien, derer sich auch die Produzenten von Kinofilmen bedienen. So lässt sich etwa aus Richards' (1997, 347) Ausführungen der wenig überraschende Befund ableiten, dass auch Fernsehschaffende häufig die Elemente der Vorlage betonen, bei denen sie davon ausgehen, dass sie sich für das zeitgenössische Fernsehpublikum als relevant erweisen werden. Richards diskutiert die Adaption von Hard Times für den britischen Fernsehsender Granada aus dem Jahr 1977 sowie die BBC Verfilmungen von Our Mutual Friend (1976), Bleak House (1985), Martin Chuzzlewit und Hard Times (beide 1994). Wie sich aus Richards Ausführungen ergibt, wurden mit Hilfe der für ein zeitgenössisches Publikum noch relevanten Elemente der jeweiligen Romane Bezüge zu aktuellen Missständen hergestellt. Alle diese Verfilmungen attackierten nach Richards (1997, 347) "with blazing sincerity and visual power [...] poverty, exploitation, heartless bureaucracy, inefficient judiciary, sleaze and selfishness." Auch wird im Medium Fernsehen, wie dies zuvor schon für Bühnen und Film Adaptionen festgestellt wurde, häufig mit Hilfe von Schauspielern popularisiert (vgl. Pointer 1996, 76, 79f., 84, 91f., 94, 110). Obgleich sich das Medium Fernsehen also bei der Verfilmung literarischer Texte derselben Popularisierungsstrategien bedient, die auch bei Kino Verfilmungen Anwendung finden, ist davon auszugehen, dass diese Strategien innerhalb dieser beiden Medien in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen zu beobachten sind. Im Falle einer mehrteiligen Adaption für das Medium Fernsehen muss weniger intensiv Gebrauch von der Popularisierungsstrategie der Kürzung gemacht werden, dafür kommt der Strategie der Ergänzung bei Verfilmungen fürs Fernsehen eine größere Bedeutung zu als bei Kino Verfilmungen. So bezeichnete es die Drehbuchautorin Constance Cox in den 1960er Jahren als eine der Regeln für das Adaptieren von Romanen in serieller Form, dass die Hauptfiguren möglichst in jeder Folge der Verfilmung erscheinen sollten. Dies bereitete ihr bei ihrer Arbeit an Drehbüchern für Verfilmungen einiger von Dickens' Romanen im Auftrag der BBC mitunter Probleme: "Dickens has a habit of leaving important characters out of the story for quite a time, when he follows the adventures of another set" (z.n. Pointer 1996, 84). Die folgenden Fallstudien aus den 1990er Jahren sollen genauer über den Einsatz von 124
Popularisierungsstrategien in unterschiedlichen Medien Aufschluss geben.
125
4 Case Studies: Popularisierungen seit den 1990er Jahren 4.1 Einführung In diesem Kapitel werden einige ausgewählte Adaptionen von Dickens' Werk und Biographie aus dem Zeitraum zwischen 1994 und heute auf ihr populäres Potential hin untersucht. Die Zusammenstellung des Korpus wurde bereits im Einleitungskapitel begründet und beinhaltet die BBC Verfilmung von Martin Chuzzlewit aus dem Jahr 1994, eine Kino Verfilmung von Great Expectations aus dem Jahr 1998 sowie eine ein Jahr später entstandene BBC Verfilmung desselben Romans. Daran schlieβen sich Besprechungen zweier Verfilmungen des Romans icholas ickleby an – einmal für den Privatsender ITV (2000), einmal für das Medium Kino (2002). Hinzu kommen eine Analyse der Kino Verfilmung von Oliver Twist aus dem Jahr 2005, der BBC Verfilmung des Romans Bleak House aus demselben Jahr sowie einer Adaption in Schriftform des Romans David Copperfield. Anschlieβend wird die innerhalb mehrerer Medien erfolgte Popularisierung von Peter Ackroyds 1990 erstmals erschienener Dickens Biographie untersucht. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Besprechung des 2007 in Chatham, Groβbritannien eröffneten Themenparks Dickens World unter besonderer Berücksichtigung der Frage, auf welche Weise diese Einrichtung zur Popularisierung des Autors und seines Werkes beiträgt. Um vor allem das populäre Potential der Adaptionen von Dickens' Romanen für Kino und Fernsehen richtig einschätzen zu können, müssen zunächst einige Entwicklungen in der Kino und Fernsehlandschaft der 1980er Jahre und 1990er Jahre, vor deren Hintergrund die zu analysierenden Produkte zu betrachten sind, dargestellt werden.
4.1.1 Das Kostümdrama im Kino Die Mehrzahl der zu besprechenden Adaptionen sind dem Genre des costume drama zuzurechnen. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass dieses Genre sowohl im Kino als auch im Fernsehen in den 1980er Jahren eine Blüte erlebte, stellt die Entstehung einer Heritage Industry in Groβbritannien zu Beginn desselben Jahrzehnts dar. Dabei handelt es sich um eine Industrie, die sich nach Andrew Higson (2003, 1) folgende Aufgabe gestellt hat: "[A] potent marketing of the past as part of the new enterprise culture, a commodification of museum culture." Nach Darstellung von Robert Hewison (1991, 23) muss diese Hinwendung zur Vergangenheit vor dem Hintergrund um sich greifender Unzufriedenheit und wirtschaftlichem Rückgang betrachtet werden. Ähnlich sehen Robert Giddings und Keith Selby (2001, 124) die Gründe für den Heritage Boom in "insecurity about the present, the undermining of national identity as a consequence of the European union, economic decline 126
[and] the craze for devolution." Den Beginn des Aufschwungs des Kostümdramas in Groβbritannien datiert Higson (2003, 15) auf das Jahr 1981, "when Brideshead Revisited on television and Chariots of Fire at the cinema caught the imagination of audiences, critics and the judges at various awards ceremonies." Das Kernpublikum dieser Filme charakterisiert Higson (2003, 5) als "middle class, and significantly older than the mainstream film audience, and they [the films] appeal to a film culture which is closely allied to educational discourses, English literary culture, and the canons of good taste." Der Heritage Film ist zudem besonders auf die Bedürfnisse seiner weiblichen Zuschauer abgestimmt: The connection with the classic woman's picture and a female point of view is important. As we shall see, the female audience is crucial to most of these costume films, even in their titles: Amy Foster, (Dora) Carrington, December Bride, Elizabeth, Emma, The Governess, Jane Eyre, Lady Jane, Little Dorrit, Mary Reilly, Mrs Brown, Mrs Dalloway, Moll Flanders, Tess, The Wicked Lady (Higson 2003, 23). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, wo zwischen hoher und populärer Kultur das Genre des Heritage Films anzusiedeln ist. Nach Darstellung von Higson lässt sich die heutige internationale Filmproduktion in drei Kategorien unterteilen: At one extreme is the mainstream studio film, produced primarily by the Hollywood majors, with big budgets and big stars, and addressed to what the industry likes to think of as its core 15 to 24 year old cinemagoing audience. At the other extreme is the low budget, specialized or art house film, produced by small independent companies, addressed to what the film trade perceives as niche audiences. In between, and drawing on both, there is the crossover film. […] Such films are driven by both the commercialism and the market imperative of the mainstream studio film and the cultural imperative and artistic values of the specialized film. Their budgets fall between the two stools too, and they frequently draw on funding sources associated with both sectors. And crucially, they are designed to be distributed on both the low budget, often subsidized, art house circuit and the mainstream, multiplex circuits, and to appeal to their different audiences (Higson 2003, 89 und 91). Als solche Crossover Produktionen lassen sich auch Heritage Filme beschreiben. Das bedeutet, sie müssen nicht nur ihr Mittelklasse Kernpublikum ansprechen, sondern auch andere Kinogänger. Hier ist vor allem die Gruppe der 15 bis 24 jährigen männlichen Kinobesucher zu nennen, die den Kern des Mainstreams bilden (vgl. Higson 2003, 104). Die Mainstream Kompatibilität des Heritage Crossover Films gewann in den 1990er Jahren zunehmend an Bedeutung. Dies hatte zur Folge, dass sich dessen Form zu verändern begann: As the conventions of the English costume drama became increasingly familiar, and as the marketability of the films became more readily accepted, so filmmakers could begin to innovate. In particular, in the bid to reach wider audiences, producers often felt they could relax the fetishistic concern for getting the period details 'right' and 127
address the film more obviously to contemporary sensibilities (Higson 2003, 43). Higson nennt als Beispiele für Heritage Filme aus den späten 1990er Jahren, die explizit darauf abgestimmt waren, ein mainstream Publikum zu erreichen, eine Adaption von Jane Austen's Mansfield Park aus dem Jahr 1999 und beschreibt sie als "self conscious attempt to modernize the heritage film, and specifically Jane Austen, by packaging costume drama and literary culture for a more youthful and less reverential audience" (Higson 2003, 57), sowie den Film Elizabeth aus dem Jahr 1998: [While m]any of the [heritage] films are slow paced, character based films, […] Elizabeth, made on a higher budget and intended to reach wider audiences than most, is much closer to a fast paced action thriller (Higson 2003, 37). Auch die Vermarktungsstrategien, die für solcherlei Filme verwendet wurden, näherten sich dem Marketing von Mainstream Produktionen zunehmend an: the majors [major production companies] bought into this particular niche, actively engineered the crossover film as an entity rather than a possibility, and developed increasingly costly ways of marketing it. […] As audience figures seemed to confirm the potential profitability of the 'British' costume drama, so production and marketing budgets went up (Higson 2003, 142). Eine Grundvoraussetzung für den kommerziellen Erfolg von Crossover Heritage Filmen sieht Higson (2003, 261) indes in ihrer produzierbaren Gestaltung: [T]o open up a film to a range of readings is more profitable than closing it down to one particular reading. There's certainly a great openness about the films I've discussed in this book, and there's no denying that they are a relatively eclectic group, drawing on several different generic categories and incorporating a range of attractions. The attractions of heritage by no means exhaust the appeal of films such as Howards End and Elizabeth. In the case of Elizabeth, for instance, for some audiences and reviewers, the feminist potential of the eponymous character was more important. For others, the narrative energy and complexity of the conspiracy thriller appealed. For yet others, it was the eclectic visual style that held the attention. What […] I've called the heritage film, others have seen as romantic comedies, woman's pictures, queer dramas, middle brow classics. Die in diesem Abschnitt skizzierten Veränderungen auf dem Sektor des Heritage Crossover Films bewirkten, dass einigen der mit hohen Budgets ausgestatteten Produktionen tatsächlich kommerzieller Erfolg beschieden war: Shakespeare in Love, The English Patient, and Braveheart (1995) (which cost more than twice as much as the other two films) all grossed more than $200 million worldwide, a figure which no more than 200 films have ever achieved (Higson 2003, 123).
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4.1.2 Das Kostümdrama im britischen Fernsehen Wie Robert Giddings und Keith Selby (2001, 1) anmerken, reicht die Tradition der mehrteiligen Klassikerverfilmung innerhalb der BBC viele Jahrzehnte zurück: The prototype of the BBC classic serial, upon which all subsequent classic serial adaptations and dramatizations have been to a greater and lesser extent based, was put together in the early days of radio drama between the wars. The genre emerged in the context of the BBC monopoly which enabled John Reith to initiate public service broadcasting – the Reithian trinity of Information, Education and Entertainment. The classic serial as we know it today is part of that Reithian legacy, of that extraordinary endeavour to use radio broadcasting not only for our amusement but also for our betterment. Reith is on record as wanting to use the wireless to 'part the clouds of ignorance'. Im BBC Fernsehen schlug die Geburtsstunde des classic serial im Jahr 1951. Den Auftakt machte in jenem Jahr eine sechsteilige Verfilmung von Anthony Trollopes The Warden, der sich ein Jahr später eine Adaption von Jane Austens Pride and Prejudice anschloss. Über mehrere Jahrzehnte hinweg war hier der Popularisierungsaspekt nicht sonderlich prominent: Die classic serals waren klar dem Bildungsauftrag der BBC verpflichtet, der zumindest ideologisch gepflegten Aversion gegen Kommerz sowie der "cultural hostility to the frivolities of 'mere' entertainment and the fantasies of the 'dream factory'" (Caughie 2000, 29). Als Sendeanstalt mit einer ganz ähnlichen Mission versteht sich im Übrigen auch der seit 1980 bestehende Fernsehsender 'Channel Four' (Caughie 2000, 190). Dennoch ist bereits seit dem Jahr 1955, dem Jahr der Einrichtung des 'Independent Television' (ITV), auch die BBC keineswegs unabhängig vom Publikumsgeschmack: The arrival of Independent Television in 1955, the end of the monopoly and the introduction of competition did indeed shift the BBC in a number of very material ways. The audience was pursued much more vigorously, new programme formats were developed, programmes were bought in from the United States, and audience research grew in importance (Caughie 2000, 50).82 Diese Entwicklungen wirkten sich auch auf das Genre des television drama aus, als dessen Teilbereich John Caughie Verfilmungen von Klassikern diskutiert und das er als "the respectable end of television" (Caughie 2000, 2), als "art television" (Caughie 2000, 127) bzw. "quality television" (Caughie 2000, 203) betrachtet: In this new competitive context, drama could no longer maintain its secure place as an automatically self justifying cultural good, but had to be seen also as a
82 Vgl. dazu auch Giddings/Selby (2001, 80): "Before the arrival of the commercial channel, the BBC had enjoyed the monopoly which Lord Reith had considered essential to good broadcasting. Then it faced competition with ITV. For a while ratings seemed of little account, but in due course it became an accepted principle that the BBC really should not simply expect its licence fee without demonstrably having striven to provide a service which the public supported. The competition for ratings was then pursued in earnest."
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way of reaching and attracting an audience. The BBC had to respond very directly, in a way which Reith and his successors had resisted, to the demands of public taste as they found it rather than as they thought it ought to be (Caughie 2000, 51). Zwar wurden im Jahre 1962 Fernsehschaffende wiederum dazu ermutigt, ihre Programme innovativ und kontrovers zu gestalten, "to 'push the boat out' and take audiences where they had not been before" (Caughie 2000, 128), dennoch sind die Autoren von Fernsehdramen nach wie vor gewissen Zwängen unterlegen: The distinctive constraint which faces the author or writer in television drama, [...] is the power which is conferred on the viewer by his or her ease of access to the control button: the ability to switch on or switch off or switch over. It is in this sense that television drama as 'art television' involves a complex negotiation between art and the popular, a negotiation which is always a negotiation with a viewer who can find something else on another channel without even leaving his seat" (Caughie 2000, 128f., meine Hervorhebung). Das Genre der Klassikerverfilmung der BBC im Besonderen – "seen as characteristic of British media high culture" (Giddings/Selby 2001, 82) – konnte diesen Anfechtungen indes lange Zeit standhalten. Eine verstärkte Orientierung der Klassikerverfilmung in Richtung Mainstream lässt sich erst ab Mitte der 1990er Jahre feststellen: "[R]ecent heritage films attempt to go beyond the category in both content and marketing" (Voigts Virchow 2004b, 15). Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die Verfilmung von Pride und Prejudice, deren Drehbuch Andrew Davies verfasste und deren einzelne Folgen im Herbst 1995 über durchschnittlich 10 Millionen britische Bildschirme liefen (vgl. Giddings/Selby 2001, 124). Die Idee zu dieser Adaption stammte von der Produzentin Sue Birtwistle, die sich bereits neun Jahre zuvor damit an Davies gewandt hatte: "I know what I'd like to do: Pride and Prejudice and make it look like a fresh, lively story about real people. And make it clear that, though it's about many things, it's principally about sex and it's about money: those are the driving motives of the plot" (Giddings/Selby 2001, 104). Während Andrew Davies in seinem Drehbuch diese beiden, für ein Publikum des ausgehenden 20. Jahrhunderts ohne Zweifel relevanten Themen betonte, bediente er sich noch zahlreicher weiterer Popularisierungsstrategien, die die Relevanz des Stoffes für sein Zielpublikum erhöhen sollten. Er betonte die romantische Thematik seiner Vorlage, unter anderem, indem er sie mit einer Heiratsszene – "definitely required in television drama" (Giddings/Selby 2001, 111) – enden lieβ, die sich nicht in Jane Austens Roman findet. Zudem verstärkte er die Komik seines Stoffes: "He sees the novel as much [as] a comedy as a love story, and many of the gags actually come off the pages, but he added a few laughs along the way just for good measure" (Giddings/Selby 2001, 111). Wie die Heritage Kinofilme der 1980er und 1990er 130
Jahre ist auch diese Produktion auf die Bedürfnisse vor allem ihres weiblichen Publikums abgestimmt: There is much more emphasis on the female experience. The sexual and social opportunities of all the Bennett girls, not just Jane and Elizabeth, are explored as never previously. Darcy's dark, brooding sexual magnetism is more fully suggested than ever before. The actual pool where he was famously filmed taking a dip and wrapping his body in a towel which revealed his masculinity has become an object of tourist pilgrimage. The sorrowful destiny of Charlotte Lucas and the likely fate of Kate and Mary Bennett is more sympathetically revealed than in the last adaptation (Giddings/Selby 2001, 121). Zudem war die BBC im Vorfeld und während der Ausstrahlung der Produktion darum bemüht, durch gezieltes Marketing die Aufmerksamkeit der Fernsehzuschauer darauf zu richten: [P]re publicity, orchestrated media public relations, articles in Radio Times about the cuisine featured in the series and so on, all constituted an important element in this production […]. The CD of Carl Davis's Pride and Prejudice music was available in shops even before the series had run its course (Giddings/Selby 2001, 116). Giddings und Selby (2001, 117) sprechen auβerdem von zahlreichen spin off Produkten, die nach Ende der Ausstrahlung auf dem Markt erschienen. Dies alles hatte eine unmittelbare Hinwendung zu Jane Austens Originaltext zur Folge: "In 1995 alone, television directly accounted for the sale of 177,00 copies of Jane Austen's Pride and Prejudice" (Bloom 2002, 41). Auch in anderer Hinsicht verfehlten die diversen Popularisierungs und Marketingstrategien sowie die sie begleitenden Produkte ihre Wirkung nicht: Elizabeth Bennett and Mr Darcy had been so completely absorbed into our popular culture that by August 1998 BBC Television was able successfully to use clips from the serial, with suitably dubbed dialogue, as part of their public advertising campaign for television licence renewal (Giddings/Selby 2001, 123). Dieser Trend zu verstärkter Popularisierung und Orientierung in Richtung Mainstream setzte sich in etlichen der nachfolgenden Kostümdramen fort. Wie Giddings' und Selbys (2001, 140) Ausführungen erkennen lassen, stand zunehmend die Frage im Vordergrund, wie die Relevanz des jeweiligen literarischen Stoffes für ein zeitgenössisches Publikum verstärkt werden könnte: Originally the ambition was faithfully to serve the cause of the literary original. This was promulgated in the late 1930s, when the Corporation's radio drama were actually putting the genre together. But today there are often signs of a desire to somehow, at the same time as dealing with a classic, (by definition, something preserved from the past) to create a product of modern times. […] As the decade progressed, and more and more classic novels were transformed into costume dramas, we began more frequently to hear that 'so and so' had been dramatised 'for the 1990s'. 131
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Ankündigung von Roger Mitchell, der im Hinblick auf die 1995er Verfilmung von Jane Austens Roman Persuasion zu Protokoll gab: "'I'm trying to trash the hotel room of the BBC classic'" (z.n. Higson 2004, 43). Bezüglich der Adaption von Daniel Defoes Moll Flanders aus dem Jahr 1996, für die ebenfalls Andrew Davies das Drehbuch verfasste, bemerken Giddings und Selby (2001, 131): Its overt sexiness made it much talked about. Ice was used to enable Alex Kingston's nipples to stand out during filming. It is said to have 17 sex scenes. It was also popular in the USA. When screened on American Public Service Broadcasting it earned the channel its highest ratings ever – 4 600 000. In the UK it attracted an average audience of 13 million, 3 million more than Pride and Prejudice. This was an effect which surpassed its cause. Einer ähnlichen Aktualisierung wurde auch Henry Fieldings Tom Jones für die BBC Verfilmung aus dem Jahr 1997 unterzogen: Inevitably, Tom Jones was predictably bruited as a 'romp' and given the full 'Lock up your daughters! Here comes Tom Jones' treatment on the cover of Radio Times. Reluctant viewers were encouraged to expect something spicy. They described Fielding's comic epic rather recklessly as ‘an 18th century rake's progress' where 'the comic depiction of human nature is free of the usual restraints of period drama.' Tom Jones (former rockband drummer Max Beeseley) we are told is 'in love' with 'genteel' Sophia (Samantha Moton) but 'in lust' with 'the more down to earth' Molly Seagrim (Rachel Scorgie) (Giddings/Selby 2001, 154). Auch der Trend zur gezielten Vermarktung der jeweiligen Produkte mittels Marketing und spin off Produkten setzte sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre fort: Drama productions are launched with a greater awareness of the importance of publicity and marketing, together with quite an array of additional merchandise: videos of the production, television tie in paperbacks, books on how the production was made, cassettes and CDs of the soundtrack, travelling exhibitions of the costumes and so on (Giddings/Selby 2001, 119). Ein Indiz bezüglich der Mainstream Orientierung einer Klassikerverfilmung liefert spätestens seit Mitte der 1990er Jahre auch das Programm, in dem sie erstmals ausgestrahlt wird. Für BBC1 postulierte der in den Jahren 1996 und 1997 erarbeitete Marketing Plan der BBC Breitenwirksamkeit und legte fest: "[I]t should be perceived as entertaining, engaging, trustworthy, authoritative, contemporary, warm, welcoming, elegant and so on" (Born 2004, 259). Im Bezug auf das Genre des Kostümdramas heiβt dies konkret: "[I]t is supposed to be popular, not just worthy" (Giddings/Selby 2001, 172) – zumindest dann, wenn eine Ausstrahlung auf BBC1 anvisiert wird. Dem zweiten Programm der BBC gedachte man einen leicht anderen Zuschnitt zu: "'My BBC2' [...] should be perceived as topical and relevant, diverse, playful, modern, challenging, surprising, able to take risks, a channel of ideas" (ebd.). Für BBC2 galten auch im Hinblick auf Einschaltquoten für das Genre des 132
Television Drama leicht andere Maßstäbe: "BBC2 will continue to commission some drama which ... will only achieve relatively low audiences. As a general guide, however, we would expect [peak time drama] to meet or exceed the channel's average audience share of 11%" (Born 2004, 311). Bestimmte Merkmale sollten allerdings beiden BBC Programmen gemeinsam sein: Beide sollten in ihrer Gestaltung "accessible, innovative, intelligent and stylish" sein (Born 2004, 259, meine Hervorhebung). Avantgardistisches scheint innerhalb der BBC wenn überhaupt nur in sehr moderater Form Platz zu haben (vgl. Caughie 2000, 130 und 163).83 Die ab Mitte der 1990er Jahre zu beobachtende verstärkte Mainstream Orientierung des Genres der Klassikerverfilmung hängt auch damit zusammen, dass die BBC zur Realisierung ihrer Projekte zunehmend auf finanzielle Unterstützung aus anderen Quellen angewiesen war und bis heute ist: [I]t is now common for the Corporation to secure at pre production stage co production funding from overseas – usually the USA – to underwrite budget costs. This is especially the case with drama productions, one off plays and costume dramas especially. Consequently, the BBC is no longer able to embark on drama production in a spirit of free market aesthetic or cultural do gooding. In drama productions today there has to be a built in awareness of wide audience appeal over a wide international cultural range. Television drama productions are part of an international cultural commodity market. Drama series have perforce to bear American audiences in mind (Giddings/Selby 2001, 118f.). So wurden die im Folgenden analysierten Fernsehverfilmungen allesamt von der amerikanischen Firma WGBH Boston co produziert, werden aber in den USA – obgleich es sich um dieselben Produktionen handelt – deutlich weniger mainstream orientiert präsentiert: Sie werden auf dem Sender PBS, der tendenziell eher von einem mit höherem kulturellen Kapital ausgestatteten Publikum genutzt wird, als Teil der Masterpiece Theatre Serie ausgestrahlt. Diese Serie existiert seit Januar 1971 und versteht sich explizit als 'Anthologie'. Dementsprechend werden die einzelnen Verfilmungen um kurze Einführungen und Nachworte ergänzt, die Hintergrundwissen über Autor und Werk des der Verfilmung zugrunde liegenden Textes vermitteln sollen. Diese Einführungen und Nachworte, die sich auch auf den amerikanischen DVD Ausgaben der Verfilmungen finden, wurden bis 1992 von dem amerikanischen Journalisten Alistair Cooke gesprochen, zwischen 1992 und 2004 von
83 Dies gilt nicht nur für die BBC, sondern auch für Channel Four, obgleich die Einrichtung dieses Senders, wie John Caughie (2000, 183) darlegt, der britischen Fernsehlandschaft durchaus neue Impulse gab, und obwohl es Anfang der 1980er Jahre für kurze Zeit den Anschein hatte, als böte dieser vierte britische Fernsehsender "the possibility of alternative forms of television, the space for a kind of avant garde which would never have mass appeal or international success, but which would be precisely a workshop in which ideas could be tested and new ways of making drama could be tried (Caughie 2000, 201).
133 dem Schriftsteller und Pulitzer Preisträger Russell Baker. Eine leichte Öffnung der Serie zum Mainstream mag in der Tatsache gesehen werden, dass – nachdem ab 2004 die Serie vorübergehend ohne Moderator ausgestrahlt wurde – Anfang 2008 der aus populären Genres bekannten Schauspielerin Gillian Anderson die Aufgabe übertragen wurde, in die jeweiligen Verfilmungen einzuführen. Bereits 2005 hatte die BBC in der Verfilmung von Bleak House die Rolle der Lady Dedlock zu Popularisierungszwecken mit Gillian Anderson besetzt.
4.1.3 Die Relevanz der Klassikerverfilmung für ein zeitgenössisches Publikum John Caughies Ausführungen legen nahe, dass die Relevanz einer Klassikerverfilmung – ob nun in Kino oder Fernsehen – für ihren Rezipienten mittels einer Symbiose aus Elementen, die auf der Achse der 'Ähnlichkeit' anzusiedeln sind, mit anderen Elementen von der Achse der 'Differenz' entstehen kann. Wie sich aus John Caughies (2000, 215) Erörterungen ableiten lässt, scheint die Relevanz einer Klassikerverfilmung für ihren Rezipienten durch "the pleasure in detail, [...] the observation of everyday manners and the ornamental" zu entstehen – Elemente, die sich Fiskes Kriterium der 'Differenz' zuordnen lassen. Besonders die Kleidung der Schauspieler und die Ausstattung des Settings spielen hierbei eine bedeutende Rolle: The detail which makes the past different from us has been absorbed and dissolved into a generality of style designed to give us the patina of pastness without its materiality: '1810s ness' or '1890s ness' communicated by the attributes of fashion (Caughie 2000, 217). Betont und hervorgehoben werden jedoch auch in solchen Verfilmungen "human continuities and lingering generalities of tone and style [...] without the formal distance and the historical particularity which might enable us to experience difference and change" (Caughie 2000, 211) – eine Taktik, die ganz erheblich dazu beiträgt, das in der Verfilmung Dargestellte für den Zuschauer relevant zu machen, allerdings auf Fiskes Achse der 'Ähnlichkeit'. "History becomes the present in costume", wie Caughie (ebd.) es formuliert. Dass die Integration einer solchen Klassikerverfilmung in das Alltagsleben ihrer Rezipienten überaus erfolgreich verlaufen kann, verdeutlicht die Tatsache, dass die Zeitschrift Radio Times im Jahr 1995, eine Woche bevor die entsprechende Folge von Pride and Prejudice über die Bildschirme lief, dem großen Interesse der Bevölkerung an der Verfilmung Rechnung tragend eine Fotografie des Hochzeitspaares Elizabeth Bennett und Mr. Darcy als Coverfoto veröffentlichte, diese fiktionale Hochzeit mit der Überschrift 'The Wedding of the Year' anpries (Caughie 2000, 215) und sie damit gleichsam als real existierendes Ereignis verkleidete. 134
4.2 Case Studies Robert Giddings und Keith Selby (2001, 120) erkennen auf der Höhe des Heritage Boom und zur Blütezeit der classic serial eine vorübergehende Abwendung von Dickens zumindest auf seiten der Fernsehschaffenden. Für diese Abwendung machen sie die intendierte Abstimmung des classic serial vornehmlich auf ein weibliches Publikum verantwortlich: There was a move away from Dickens, who appeals strongly to the male perspective and constantly presents two female character types – either pliable and saintly heroines, (Nell, Dora, Amy, Esther) or over powering older types (Betsy, Mrs Clenman, Mrs Joe). Diese Dickens Flaute betrachten sie allerdings in der Tat nur als vorübergehende Erscheinung: Charles Dickens, original stalwart of the tradition – who provided much lively raw material from the earliest days of broadcasting – after a brief eclipse, seems to be in for something of a revival at a period of immense technical and economic media advancement (Giddings/Selby 2001, 188f.). Der erneute Aufschwung begann im März 1998, als auf BBC2 eine neue vierteilige Verfilmung von Our Mutual Friend zu sehen war. In dieser Verfilming sowie in neuen Adaptionen von Great Expectations (BBC, 1999), David Copperfield (BBC, 1999) und Oliver Twist (ITV, 1999) manifestierte sich nach Darstellung von Carolin Held (2004, 114) ein Mini Boom von Dickens Adaptionen für das Fernsehen. Unmittelbar vor der richtungsweisenden Pride and Prejudice Verfilmung aus dem Jahr 1995 hatte die BBC noch neue Adaptionen von zwei unterschiedlichen Dickens Romanen gezeigt: Im November und Dezember 1994 war eine mehrteilige Adaption von Martin Chuzzlewit auf BBC1 zu sehen, am Weihnachtstag desselben Jahres dann eine Verfilmung von Hard Times in Spielfilmlänge auf BBC2. Die erstgenannte dieser beiden Produktionen soll nun als erste Fallstudie innerhalb dieses Kapitels analysiert werden. Zunächst sollen jedoch kurz einige Popularisierungsstrategien diskutiert werden, die – sofern nicht anders angegeben – im Fall aller der im Folgenden zu besprechenden Roman Adaptionen zu beobachten sind. Hier ist zunächst die Kürzung der Handlung um ihre Details zu nennen. Um Dickens' in den meisten Fällen lange Romane auf Spielfilmlänge bzw. die Länge einer mehrteiligen Klassikerverfilmung (die, wie die folgenden Beispiele zeigen, freilich zwischen drei und fünfzehn Stunden variieren kann) zu kürzen, müssen Nebenhandlungen und Nebenfiguren entfallen. In allen hier zu analysierenden Fällen ist eine deutliche Konzentration auf bestimmte, für ein zeitgenössisches Publikum relevante Themenbereiche zu erkennen. Welche dies sind, wird im Folgenden jeweils innerhalb der entsprechenden case study diskutiert. 135
Hinzu kommen sprachliche Veränderungen am Originaltext. Zwar wird im Fall aller hier diskutierten Kostümdramen versucht, die viktorianische Diktion beizubehalten, dennoch weisen die Produktionen Vereinfachungen sowohl der Syntax als auch der Lexik auf. So wird etwa Martin Chuzzlewit seniors umständlicher und langwieriger Vortrag über die Gier seiner Verwandten (vgl. MC, 47ff.) Pecksniff gegenüber in der BBC Verfilmung von Martin Chuzzlewit auf die kurze Formel gebracht: "[My money] has brought me nothing but misery. It has poisened every tie of family or friendship. No one loves me for myself; only for what they hope to get out of me." Und während die Magd Hortense den Rechtsanwalt Tulkinghorn im Roman Bleak House bittet: "You will do me the kindness to remember, sir, that I am not at present placed" (BH, 364, meine Hervorhebung), so formuliert sie in der Verfilmung: "You will remember, sir, that I am not at present employed" (BH, Episode 5, 1:43 1:47). Die sprachlichen Veränderungen schlieβen ein, dass die Dialekte und Akzente einzelner Figuren in den entsprechenden Verfilmungen nur noch in Ansätzen wahrnehmbar sind. So ist etwa der starke Yorkshire Akzent des John Browdie aus icholas ickleby in den Verfilmungen kaum noh hörbar. Wie George H. Ford (1987, 322f.) am Beispiel einer Verfilmung von Dickens' Roman Hard Times aus dem Jahr 1978 erläutert, werden solche Veränderungen an der Sprache eines Romans zum Zwecke der Adaption nicht zuletzt mit Rücksicht auf das amerikanische Publikum vorgenommen. Abschlieβend ist die Strategie der Popularisierung durch Schauspieler zu nennen. Die Technik, über den Einsatz bekannter und populärer Schauspieler diskursive Relevanz zu erzeugen, ist innerhalb des hier zu analysierenden Korpus zunächst an der den Kino Verfilmungen von Great Expectations (Regie: Alfonso Cuarón) und icholas ickleby (Regie: Douglas McGrath) zu beobachten. Im Fall der Verfilmung von Great Expectations hat die Besetzung der Rolle der Estella mit Gwyneth Paltrow auch Auswirkungen auf die Charakterisierung der Figur (vgl. Abschnitt 4.2.2.). Im Fall der icholas ickleby Verfilmung ist neben der Tendenz zu "famous name casting" (Quinn 2003), das etwa die Schauspieler Anne Hathaway, Jamie Bell und Christopher Plummer einschlieβt, die Besetzung der Mrs. Crummles mit Dame Edna Everage besonders erwähnenswert. Bei dieser handelt es sich um eine Kunstfigur, die in den 1950er Jahren von dem australischen Komiker Barry Humphries erschaffen wurde, seither von diesem verkörpert wird, in unterschiedlichen Funktionen – etwa als Buchautorin, Talkshow Moderatorin und Schauspielerin – auftritt und somit in der gesamten englischsprachigen Welt auf einen hohen Bekanntheitsgrad verweisen kann. Kurz vor Veröffentlichung der ickleby Verfilmung etwa hatte Dame Edna Everage eine Gastrolle in der fünften Staffel der populären Fernsehserie Ally McBeal. "The character 136 shared Dame Edna's voice and style and was explicitely listed in the opening credits as being played by Dame Edna Everage (although Barry Humphries received a credit in the closing credits)" (Wikipedia n.d.3). Solche Zusammenhänge stellen ein gutes Beispiel für den Versuch dar, über einen Schauspieler durch Anknüpfung an andere populärkulturelle Produktionen bzw. Medien diskursive Relevanz für den Rezipienten herzustellen.84 In den letzten Jahren wird aber zunehmend auch bei der Produktion von Fernsehverfilmungen von dieser Strategie Gebrauch gemacht. Dies deutete sich schon im Jahr 2002 bei der BBC2 Verfilmung von Peter Ackroyds Dickens Biographie an und war 2005 bei Andrew Davies' Bleak House Verfilmung besonders auffällig: The cast has been assembled from different areas of the acting profession [...] 'We wanted to cast known faces from a variety of different backgrounds, all known to the audience that we are trying to attract,' says [producer Nigel] Stafford Clark. 'Getting Gillian Anderson was a huge coup for us […]. Gillian is a big star – The X Files has made her a household name [...]. It [the cast list] covers the whole spectrum – from really well established classical actors through to actors who people wouldn't necessary [sic] expect to see in a period drama (BBC Press Release 2005). Weitere Popularisierungsstrategien werden nun anhand der ausgewählten Produkte analysiert. An den Anfang der case studies wird jeweils eine kurze Verortung des Romans in Dickens' Oeuvre sowie eine Zusammenfassung des Inhalts gestellt. Dies ist notwendig, damit sich die darauffolgenden Einzelbeobachtungen sinnvoll einordnen lassen.
4.2.1 Martin Chuzzlewit (BBC, 1994) 4.2.1.1 Der Roman und seine Relevanz für das heutige Publikum Martin Chuzzlewit wurde in den Jahren 1843 und 44 verfasst und ist der sechste Roman in Dickens‘ Oeuvre. Dickens griff im Fall dieses Romans auf das bewährte Konzept der Veröffentlichung in 19 monatlichen Fortsetzungen zurück, das er bereits bei seinen vorausgegangenen Romanen The Pickwick Papers, icholas ickleby, Barnaby Rudge und The Old Curiosity Shop erfolgreich angewandt hatte. Der Titel des Werkes ist insofern zweideutig, als der Roman zwei Charaktere mit dem Namen Martin Chuzzlewit aufweist: Den jungen Martin Chuzzlewit, bei Einsetzen des Romans ca. 21 Jahre alt, und seinen Groβvater, der ebenfalls auf den Namen Martin
84 Die Besetzung der Rolle der Mrs. Crummles mit einem Transvestiten ist indes nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. In Dickens' Originaltext trägt diese Figur durchaus Züge, die sich als maskulin interpretieren lassen. Dickens' Erzähler berichtet über die erste Begegnung zwischen Nicholas und Mrs. Crummles: "The lady shook Nicholas by the hand as she addressed him in these terms; he saw it was a large one, but had not expected quite such an iron grip as that with which she honoured him" ( , 281). 137
Chuzzlewit hört. Der kränkelnde Chuzzlewit sen. hat die Waise Mary unter seine Fittiche genommen, die für seine Pflege eine regelmäβige finanzielle Zuwendung erhält. Martin junior verliebt sich in Mary gegen den Willen seines Groβvaters. Als er sich weigert, seine Beziehung zu Mary zu beenden, enterbt ihn Martin sen. Martin jun. begibt sich in das Haus des Cousins seines Groβvaters und vermeintlichen Architekten Seth Pecksniff, der regelmäβig junge Männer bei sich aufnimmt – angeblich, um sie ihn in Architektur zu unterrichten. Bei Pecksniff handelt es sich um einen geldgierigen, egozentrischen Hochstapler, der vorgibt, stets selbstlos zu handeln, in Wirklichkeit aber genau wie Martin seniors übrige Verwandschaft hinter dessen Erbe her ist und seine Schüler schamlos ausnutzt. Pecksniff hat die beiden kaum sympathischeren Töchter Mercy und Charity. Im Haus Pecksniffs trifft Martin jun. auf Tom Pinch, einen gutmütigen, leicht naiven 35 Jährigen, der seit Jahren als eine Mischung aus Hausdiener und Schüler bei Pecksniff residiert und diesem treu ergeben ist. Als Pecksniff auf Betreiben von Chuzzlewit sen. den jungen Martin Chuzzlewit vor die Tür setzt, fasst dieser den Entschluss, sich in Amerika als Architekt zu verdingen. Mark Tapley, der bislang in der Gaststätte Blue Dragon arbeitete, bietet Martin seine Dienste als dessen unbezahlter Diener an. In Amerika stecken sich beide mit Malaria an und entgehen nur knapp dem Tod. Durch dieses Erlebnis geläutert bereut Martin sein bis dato egoistisches Verhalten. Er und Mark beschlieβen, nach England zurückkehren. Martin will sich dort mit seinem Groβvater aussöhnen, hat allerdings nach wie vor nicht die Absicht, seine Verlobung mit Mary zu lösen. Zwischenzeitlich ist Martin senior zusammen mit Mary bei Pecksniff eingezogen und scheint sich dessen Plänen und Absichten völlig zu unterwerfen. Marys ständige Anwesenheit in Pecksniffs Haus bringt Tom Pinch in arge Bedrängnis. Tom hat sich schon bei seiner ersten Begegnung mit Mary in diese verliebt, noch bevor er Martin Chuzzlewit junior kannte, geschweige denn von dessen Verlobung mit ihr wusste. Seine Gefühle behält er jedoch für sich. Während Martin juniors Amerika Reise stirbt einer der geldgierigen Verwandten seines Groβvaters, Martin seniors Bruder Anthony, unter mysteriösen Umständen, was den Auftakt zu einer Art Kriminalhandlung innerhalb des Romans bildet. Seinem Sohn Jonas fällt das Erbe zu. Jonas gerät in die Fänge Montague Tiggs, Inhaber einer Versicherungsgesellschaft, der darauf aus ist, seinen Kunden mit leeren Versprechungen Geld abzuknöpfen. Als Jonas den Betrug wittert und aus dem Geschäft aussteigen will, erpresst Tigg ihn: Tigg will in Erfahrung gebracht haben, dass Jonas seinen Vater Anthony ermordet hat, um an dessen Erbe zu kommen. Jonas selbst glaubt, seinen Vater vergiftet zu haben und 138 kann sich somit Tigg nicht entziehen. Später wird Anthonys vorgeblich seniler Diener Chuffey die Sache jedoch richtig stellen: Jonas hatte sich tatsächlich von dem Apotheker Lewsome, der Spielschulden bei ihm hatte, Gift besorgt. Anthony war ihm jedoch auf die Schliche gekommen und hatte die tödliche Substanz beiseite geräumt. Die Ursache seines Todes war Gram über seinen ihn nach dem Leben trachtenden Sohn. Tigg fordert Jonas dazu auf, seinen Schwiegervater Pecksniff ebenfalls zu einer Investition zu überreden. Jonas, der sich nach einem gescheiterten Fluchtversuch nicht mehr zu helfen weiβ, ermordet Tigg schlieβlich. Als Mary Tom Pinch davon in Kenntnis setzt, dass sie von Pecksniff belästigt wurde, erkennt dieser den wahren Charakter seines vermeintlichen Gönners. Pecksniff belauscht die Unterredung zwischen Mary und Tom entlässt Tom umgehend. Tom macht sich auf den Weg nach London und gründet mit seiner Schwester Ruth einen Hausstand. Durch Vermittlung seines Freundes und ehemaligen Pecksniff Schülers John Westlock findet er eine Arbeitsstelle bei einem anonymen Arbeitgeber, der sich später als Martin Chuzzlewit sen. entpuppen wird. Der reumütige Martin junior wird bei seiner Rückkehr von seinem Groβvater durch dessen 'Sprachrohr' Pecksniff abgewiesen. Bald darauf beruft Martin sen. jedoch eine Familienkonferenz ein, bei der er bekannt gibt, Pecksniffs wahren Charakter durchschaut zu haben. Er gibt Mary und Martin seinen Segen, was jedoch auch bedeutet, dass Tom Pinchs Liebe zu Mary endgültig zur Unerfülltheit verdammt ist. Auch Ruth Pinch und John Westlock heiraten, ebenso wie Mark Tapley und Mrs. Lupin, die Wirtin des Blue Dragon. Jonas, als Mörder von Tigg entlarvt, kommt dem Gesetz zuvor und nimmt sich das Leben, Pecksniff, durch seine Investition bei Tigg mittellos geworden, wird zum Bettler. Martin Chuzzlewit sollte sich rasch als Dickens' bis dato am wenigsten erfolgreicher Roman erweisen – zumindest den Verkäufen der einzelnen Fortsetzungen nach zu urteilen: Wie Leslie Fiedler (1986, 19f.) ausführt, verkaufte sich das erste instalment 20.000 mal – von den einzelnen Fortsetzungen von Dickens' vorausgegangenem Roman The Old Curiosity Shop waren bis zu fünf Mal soviele Exemplare abgesetzt worden – "and the numbers did not increase even after Dickens had ventured into new territory by sending his hero off to America. [... Dickens] ended up writing – for the first time in his career – against rather than for or to his audience" (Hervorhebung im Original). Dennoch weist dieser Roman nach Ansicht von David Lodge, der das Drehbuch zur BBC Verfilmung aus dem Jahr 1994 schrieb, gerade für ein Publikum des 20. Jahrhunderts ein beachtliches Maβ an repräsentionaler Relevanz auf: 139
Martin Chuzzlewit was the first of his [Dickens's] novels to have a unifying moral theme which he himself specified. The theme is selfishness, and almost everything in the novel serves to underline the destructive effects of selfishness on individuals, on family life and on social life. In some sense that's a timeless message, I think, one could say that in modern Western society, which is so materialistic and individualistic, that it has particular relevance, but it had relevance for Dickens's own age too, I mean, he was in the early capitalistic period, we're in the late capitalistic period. I suppose the same message about selfishness and greed applies in both periods (BBC Education 1995). Als besonders bemerkenswert betrachtet Lodge in diesem Zusammenhang den Handlungsstrang rund um Montague Tiggs Versicherungsbetrug, dessen Relevanz für ein zeitgenössisches Publikum er zudem noch durch eine gezielte Ergänzung an Dickens' Text verstärkte: [T]here is some perhaps topical satire on corrupt business practices in the Montague Tigg insurance company swindle, and that certainly has relevance to our age and I enjoyed slipping in a line about Lloyd's which isn’t in the book (ebd.). David Lodges Adaption, die sich als Kostümdrama präsentiert, wurde ab dem 7. November 1994 in 6 Folgen auf BBC2 ausgestrahlt. Der 85 minütigen ersten Folge schlossen sich im wöchentlichen Rhythmus fünf weitere knapp 60 minütige Folgen an, bis am 12. Dezember 1994 die letzte Folge über die britischen Bildschirme lief.
4.2.1.2 Das populäre Potential der Verfilmung Zu Beginn der Verfilmung wird eine in der Forschung immer wieder betonte Schwäche des Romans ausgeglichen, die zudem auch wiederholt für den für Dickens' Verhältnisse schleppenden Verkauf der ersten Folgen des Werkes mitverantwortlich gemacht wird, nämlich der recht mühsame Einstieg: He [Dickens] opens with a mock pedantic satire on aristocratic genealogy – a peculiarly oblique beginning, which understandably failed to grip his original readership – and moves to a suspiciously gushing eulogy on the virtues of the Pecksniff family (Flint 2001, 36). Der Beginn der ersten Folge der Verfilmung bietet eben jene "initial tension", deren Fehlen im ersten Kapitel des Romans Barbara Hardy (1962, 111) bemängelt. Die Verfilmung beginnt mit tempo und handlungsreichen Szenen. Drehbuchautor David Lodge setzt eine Szene an den Anfang, die sich im Roman erst im 3. Kapitel abspielt, dort recht undramatisch erscheint und auch erst nach einer ausführlichen Beschreibung des Wirtshauses Blue Dragon einsetzt: An old gentleman and a young lady, travelling, unattended, in a rusty old chariot with post horses; coming nobody knew whence, and going nobody knew whither: had turned out of a high road, and driven unexpectedly to the Blue Dragon; and here was the old gentleman; who had taken this step by reason of his sudden illness in the 140
carriage, suffering the most horrible cramps and spasms, yet protesting and vowing in the very midst of his pain, that he wouldn't have a doctor sent for, and wouldn't take any remedies but those which the young lady administered from a small medicine chest, and wouldn't, in a word, do anything but terrify the landlady out of her five wits, and obstinately refuse compliance with every suggestion that was made to him (MC, 36). Die Dramatik dieser Szene aus dem Roman wird in der Verfilmung erheblich verstärkt. Gleich im Anschluss an den Vorspann ist eine Pferde Kutsche zu sehen, die in raschem Tempo durch die Landschaft fährt, untermalt von bedrohlich klingender Musik. Mary beugt sich aus einem der Fenster des Gefährts und ruft dem Kutscher in leicht panischem Tonfall zu: "Thomson, your master is unwell. We must stop at the very next village we come to." Dieser kurzen Anfangs Szene schlieβt sich eine Szene an, die dem zweiten Kapitel entnommen wurde, und die eine weitere Hauptfigur der Handlung vorstellt: Mr. Pecksniff, der sich in windigem Wetter auf dem Weg nach Hause befindet: The scared leaves only flew the faster for all this [...]. But the oddest feat they achieved was, to take advantage of the sudden opening of Mr Pecksniff’s front door, to dash wildly into his passage; whither the wind following close upon them, and finding the back door open, […] slammed the front door against Mr Pecksniff who was at that moment entering, with such violence, that in the twinkling of an eye he lay on his back at the bottom of the steps (MC, 20f.). Anders als der Roman beginnt die Verfilmung also mit zwei tempo und action reichen Szenen, deren zweite zudem durch Pecksniffs unsanftes Hinfallen eine Art slapstick Komik aufbietet. Die 'Kriminalgeschichte' mit Jonas Chuzzlewit im Zentrum bildet einen der Handlungsstränge mit populärem Potential, die in der Verfilmung betont werden. Zu diesem Zweck wird vor allem die Rolle des Apothekers Lewsome gestärkt, der Jonas Chuzzlewit das Gift zur Ermordung seines Vaters besorgt. Es finden sich in der Verfilmung zwei zusätzliche Szenen, die vom Drehbuchautor der Romanhandlung hinzugefügt wurden, und die beide auch eine Steigerung der dramatischen Spannung bewirken. Während Pecksniff mit seinen Töchtern Charity und Mercy in London weilt, werden diese von Jonas Chuzzlewit zu einem Spaziergang eingeladen, im Laufe dessen sie in Jonas Chuzzlewits Behausung Station machen (Kapitel 11). In der Verfilmung hat Lewsome an der Stelle innerhalb der zweiten Folge seinen ersten Auftritt, an der Jonas mit seinen Begleiterinnen gerade im Begriff ist, sein Haus zu betreten. Unterlegt von Musik, die die Bedrohlichkeit der Situation unterstreicht, wird Jonas von Lewsome aufgehalten, der plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht, und es beginnt folgender Dialog: Lewsome: "Chuzzlewit!" 141
Jonas (ärgerlich zischend): "What the devil do you want?" Lewsome: "I need to talk to you." Jonas: "But now you see I've got company." Lewsome: "When then?" Jonas: "Tomorrow. Tavern. Usual time. (Drohend:) Don’t forget to bring the money!" Lewsome: "That’s what I wanted…" (Jonas hat sich bereits abgewandt und mit seinen Begleiterinnen das Haus betreten.) Diese Begegnung zwischen Jonas und Lewsome ist nicht im Roman zu finden. Eine weitere zusätzliche Szene mit Lewsome als hauptsächlichem Akteur bietet die Verfilmung in der dritten Folge, während Anthony Chuzzlewits Beerdigung. Als der Trauerzug an einigen Passanten vorbeizieht, drängt Lewsome sich nach vorne und wendet sich an einen von ihnen: Lewsome: "Whose funeral is this?" Passant: "Old Anthony Chuzzlewit's." Lewsome (ungläubig): "Mr. Chuzzlewit? No!" Passant: "Yes. He died suddenly last Monday." Lewsome: "Suddenly?" Passant: "A stroke, they say. What? What’s the matter, man? You look pale as a ghost! (Lewsome bricht zusammen, sinkt ihm in die Arme.) Good Lord!" Diese Szene in der Verfilmung sorgt zudem für eine Vereindeutigung des Geschehens, da sie einen Zusammenhang zwischen der Nachricht von Anthony Chuzzlewits Tod und Lewsomes darauffolgender schwerer Krankheit herstellt. Dem Leser des Romans erschlieβt sich dieser Zusammenhang – wenn überhaupt – erst nach Lewsomes Geständnis, Jonas ein tödliches Medikament zur Verfügung gestellt zu haben (Kapitel 48). Zum Ausbau der Kriminalhandlung um Jonas Chuzzlewit und Lewsome trägt zudem die Tatsache bei, dass eine Szene aus Kapitel 25 des Romans in der Verfilmung an prominenterer Stelle platziert wird. Diese Szene gibt im Roman den ersten Hinweis auf eine mögliche Verstrickung Lewsomes in Jonas Chuzzlewits kriminelle Machenschaften. Die Szene findet sich in jenem Kapitel, das sich mit Mrs. Gamps 'Pflege' des kranken Lewsome befasst: Mrs Gamp became silent […] and fell into a heavy dose. She was awakened by the room ringing (as she fancied) with a name she knew: "Chuzzlewit!" The sound was so distinct and real, and so full of agonized entreaty, that Mrs Gamp jumped up in terror, and ran to the door. […] [O]nce again, in a tone more terrible than that which had vibrated in her slumbering ear, these words were shrieked out: "Chuzzlewit! Jonas! No!" Mrs Gamp dropped the cup she was in the act of raising to her lips, and turned round with a start that made the little teaboard leap. The cry had come from the bed (MC, 396). Diese Szene, die sich im Roman gegen Ende des 25. Kapitels abspielt, beschlieβt dort keine der Fortsetzungen (das zehnte instalment ist erst nach Kapitel 26 zu Ende.) Von den 142
Produzenten der Fernsehserie wird diese spannungsträchtige Szene dagegen als cliffhanger verwendet – mit ihr findet die 3. Folge der Verfilmung ihren Abschluss. Signifikanterweise wird auch für die zweite Folge ein Element der Kriminalhandlung rund um Jonas Chuzzlewit als cliffhanger genutzt, nämlich Antony Chuzzlewits Tod. Dieser ereignet sich im Roman im achten instalment zum Ende des ersten Kapitels. Betont werden auch die Romanze um die Figuren Ruth Pinch und John Westlock sowie die auf Gegenseitigkeit beruhende Romanze zwischen Mary und Martin junior und die einseitige um Mary und Tom Pinch. Ruth Pinchs und John Westlocks gegenseitige Zuneigung wird schon im Roman recht deutlich geschildert, immerhin findet seitens John Westlocks eine Liebeserklärung on stage statt (vgl. MC, 764) – wie die folgenden Fallstudien zeigen werden, ereignet sich solcherlei bei Dickens häufig off stage. Dennoch wird diese Romanze in der Verfilmung noch zusätzlich gestärkt. So wird dort gleich bei der ersten Begegnung zwischen John und Ruth deutlich, dass sich hier etwas anbahnt, das auf Gegenseitigkeit beruht: Unmittelbar nachdem Tom Pinch die beiden miteinander bekannt gemacht hat, setzt romantische Musik ein, die Gesichter der beiden Figuren erscheinen nacheinander in Groβaufnahme, beide lassen sich denkbar viel Zeit damit, sich nach ihrem Händedruck wieder voneinander zu lösen. Im Roman erscheint diese Szene weniger eindeutig, zumal Dickens die auch hier in Ansätzen vorhandene Romantik der Szene durch Komik verschleiert: "Mr John Westlock," said Tom. "My sister." […] John […] had been transfixed in silent admiration; and he held out his hand to Miss Pinch; who couldn't take it, however, by reason of the flour and paste upon her own. This, which might seem calculated to increase the general confusion and render matters worse, had in reality the best effect in the world, for neither of them could help laughing; and so they both found themselves on easy terms immediately (MC, 570). Auch die Beziehung zwischen Mary und Martin junior wird in der Verfilmung ausgebaut, etwa durch Hinzufügung einer kurzen Szene, die sich Martins Rückkehr aus Amerika anschlieβt. Während das Wiedersehen dieser beiden Figuren im Roman im Beisein Pecksniffs und Martin seniors im Haus Pecksniffs stattfindet (vgl. MC, 624), kommt es in der Verfilmung schon vor dieser Szene, in der Pecksniff Martin junior – vermeintlich im Sinne Martin seniors handelnd – des Hauses verweist, zur Wiedervereinigung des Liebespaares im Vorgarten des Hauses. Wohl in der Absicht, den Handlungsstrang rund um die Charaktere Mary/Martin/Tom Pinch dramatisch etwas aufzuwerten – "[t]he two pairs of lovers who come forward near the end" bezeichnet Albert J. Guerard (1976, 121) signifikanterweise als 143 wenig interessant – richtet die Verfilmung das Augenmerk des Zuschauers jedoch besonders auf Tom Pinchs Gefühle für Mary, und zwar in einem wesentlich gröβeren Ausmaβ, als dies im Roman der Fall ist. So wird Tom Pinchs erste Begegnung mit Mary, von der der Leser des Romans erst in Retrospektive durch Toms Gespräch mit Martin erfährt (vgl. MC, 85f.), in der Verfilmung erkennbar ausgestaltet. Dieses erste Zusammentreffen zwischen Mary und Tom Pinch, das sich während dessen Orgelspiel in der Kirche ereignet, wird in der Verfilmung dramatisiert und an der entsprechenden Stelle in der Chronologie der ersten Folge eingefügt. Es handelt sich hierbei um eine Szene mit einer Länge von nahezu anderthalb Minuten: Der Zuschauer sieht Mary aus einem Haus treten und auf die Kirche zugehen, aus der Orgelspiel dringt. Während sie eintritt, zeigt die Kamera auf Tom Pinch, der an der Orgel sitzt und und sakrale Musik spielt. Als Mary in einer der Bänke Platz nimmt, erblickt Tom sie in einem Spiegel, der auf der Orgel steht. In diesem Moment geht sein Orgelspiel in einen romantischen Film Soundtrack über, sein Gesicht erscheint für mehrere Sekunden in Groβaufnahme auf dem Bildschirm, sein Blick wirkt verwirrt. Anschlieβend zeigt die Kamera Marys Gesicht in Groβaufnahme, die zunächst still vor sich hin lächelt, dann aber etwas ängstlich blickt. Im Roman ist von einem Traum Tom Pinchs die Rede, in dem es ihm gelingt, Mary ihrem Verlobten Martin abspenstig zu machen und mit ihr zu fliehen. Die Schilderung des Traumes schlieβt sich an jene Szene an, in der Pinch von der von Jonas verschmähten Charity dafür gelobt wird, dass er Jonas, als dieser ihn anpöbelte und ihm den Weg versperrte, vermeintlich niederstreckte. Im Roman beschränkt sich die Schilderung dieses Traumes jedoch auf einen einzigen Satz: "[H]e fell asleep at last, and dreamed – new source of waking uneasiness – that he had betrayed his trust, and run away with Mary Graham" (MC, 377). In der Verfilmung wird aus diesem Satz wiederum eine längere Szene von diesmal knapp zwei Minuten Länge: Um deutlich zu machen, dass es sich hier um einen Traum handelt, zeigt die Kamera zunächst den schlafenden, mit Nachtmütze bekleideten Tom Pinch. Daraufhin erscheint das Innere der Kirche auf dem Bildschirm, Mary und Martin senior gehen auf den Orgel spielenden Tom Pinch zu. Plötzlich erscheint Jonas Chuzzlewit, der Martin senior mit einem Stock anfällt. Tom wirft ihn zu Boden und weist ihn mit strengem Blick und ausgestrecktem Zeigefinger in seine Schranken. Während Jonas verschreckt auf allen Vieren das Weite sucht, geht Mary auf Tom zu, reicht ihm die Hand, führt seine Hand an ihren Mund, lächelt ihm zu. Anschlieβend zeigt die Kamera, wie beide in einer Kutsche davonfahren – an Martin vorbei, der mit einem Buch in der Hand am Wegesrand steht. Die Kamera zeigt zunächst Toms bestürztes Gesicht in Groβaufnahme, dann Martins ungläubigen 144
Gesichtsausdruck, ebenfalls in Groβaufnahme. Anschlieβend zeigt sie wieder auf Tom Pinch, der immer noch bestürzt von der Kutsche aus zu Martin zurückblickt. Die Szene endet mit einer erneuten Groβaufnahme des schlafenden Tom, der langsam zu sich kommt und sich – ganz offensichtlich über das Geträumte nachdenkend – im Bett aufrichtet.85 Im Verlauf der Verfilmung wird noch mehrmals an Toms Gefühle für Mary erinnert, am deutlichsten in der 6. Folge, als Martin senior seinem Enkel und Mary seinen Segen gibt. Anstatt bei dem sich daran anschlieβenden Kuss zwischen Mary und Martin zu verweilen, zeigt die Kamera erneut eine Groβaufnahme des Gesichts von Tom, der mit einer Mischung aus Betrübt und Verlegenheit im Blick vor sich hinstarrt. Betont werden auch die komischen Aspekte der Handlung. Die Aufgabe, für Komik zu sorgen, lastet in der Verfilmung auf den Schultern vor allem zweier Figuren: Seth Pecksniff und Augustus Moddle. Wie bereits erwähnt, zeigt die zweite Szene der ersten Folge einen Sturz Pecksniffs vor seiner Haustür. Dadurch wird Pecksniff neben seiner Funktion als einer der 'Bösewichte' der Handlung von Anfang an auch als eine Art slapstick Figur eingeführt. Auf diese zusätzliche Qualität der Figur Pecksniff wird im weiteren Verlauf der Verfilmung immer wieder zurückgegriffen – einerseits, indem (situations )komische Szenen mit Pecksniff im Mittelpunkt dezidiert beibehalten werden, andererseits, indem zusätzliche komische Szenen der Romanhandlung hinzugefügt werden. Eine situationskomische Szene findet sich im Roman im Anschluss an Pecksniffs Besuch bei Tom Pinchs Schwester Ruth, während dessen Pecksniff Ruth einen Brief von ihrem Bruder übergibt (Kapitel 9). Die Komik dieser Szene beruht auf einem Prinzip, das heute häufig in populären situation comedies Anwendung findet. Dieses Prinzip besteht darin, dass die Äuβerung einer Figur von einer auf diese Äuβerung folgenden Handlung umgehend konterkariert bzw. widerlegt wird. Die Szene aus dem Roman, die dieses Prinzip bemüht, wird nahezu wörtlich aus dem Roman übernommen und spielt sich in der ersten Folge der Verfilmung folgendermaβen ab: Pecksniff verlässt mit Charity und Mercy das Haus von Ruth Pinchs Arbeitgebern. Pecksniff: "A man of substance, clearly – substance and taste. We should be glad to make his acquaintance. Something may come of it." […] (Kamera zeigt auf ein Fenster im Obergeschoss des Hauses, das vom Hausherrn geöffnet wird). Hausherr: "Hey, you!" Pecksniff (zieht den Hut vor ihm): "Your servant, sir!" Hausherr: "Come off the grass!"
85 Nach Ansicht von Albert J. Guerard (1976, 185) steckt in Toms Traum, mit Mary durchzubrennen, der Stoff für einen komplett anderen Roman – "a whole implied, unwritten novel, in which the grotesque but truly deserving man wins the beautiful heroine – an unwritten novel which would undermine the conventional assumptions about how a romantic novel should end." 145
Pecksniff (wohlwollend lächelnd, leicht ungläubig): "I beg your pardon?" Hausherr: "I said: Come – off – the grass! You see the gravel, don't you? What do you think it's for?" Pecksniff: "We are unwilling to intrude, sir." Hausherr: "But you are intruding, sir. You are intruding on my lawn and my daughter’s education. Open the gate there! Show this party out!" (Pecksniff setzt seinen Hut wieder auf, geht vor sich hin summend und betont langsam davon). Die Komik dieser Szene entsteht wie folgt: Pecksniffs Erwartung, aus der Bekanntschaft zwischen ihm und dem Hausherrn könnte ihm ein Vorteil entstehen, womit sich auch sein höchst devotes Verhalten erklären lässt, wird von dem abweisenden Verhalten des Hausherrn, als es unmittelbar darauf tatsächlich zu einer Begegnung kommt, umgehend zunichte gemacht. Eine zusätzliche Szene, die sich nicht im Roman findet und in der Pecksniff für Komik sorgt, findet sich ebenfalls in der ersten Folge. Sie wird dort im Anschluss an Mrs Todgers' Dinnerparty aus Kapitel 9 eingefügt. Wie im Roman hat Pecksniff während dieser Party ein wenig zu tief ins Glas geschaut, worauf die zusätzliche Szene basiert, die am darauffolgenden Morgen spielt: Kamera auf Pecksniffs Bett, er selbst hat sich unter der Bettdecke verkrochen und ist somit nicht zu sehen. Charity und Mercy rütteln an der Bettdecke. Mercy: "Pa, Pa, wake up. Do you hear us, Pa?" Pecksniff (nach wie vor unter der Bettdecke versteckt, seine Stimme klingt dumpf darunter hervor): "No way. I’m indisposed." Mercy: "Pa, there is a letter come for you." Charity (beugt sich über die Bettdecke, in energisch klingendem Tonfall): "Special delivery!" Pecksniff taucht ruckartig, mit achtmütze auf dem Kopf, laut jammernd aus seinem Versteck auf, verzieht das Gesicht, greift sich an den Kopf. Pecksniff: "Give me the letter." (Er greift nach dem Brief, öffnet ihn, liest ihn murmelnd, wird plötzlich lauter): "...this morning!" Charity (erschrocken): "What is it, Pa?" Pecksniff (immer noch mit schmerzverzerrtem Gesicht, in larmoyantem Tonfall): "Fetch me a pint of coffee, hot and strong. Go!" Und schlieβlich verabschiedet sich Pecksniff in Folge 6 aus der Verfilmung ebenso slapstick haft, wie er in ihr auftauchte, nämlich mit einem Sturz. Während Pecksniff im Roman durch das Eintreten des Jungen Bailey nur fast stürzt (vgl. MC, 759), so geht Pecksniff in der Verfilmung tatsächlich erneut zu Boden.86 Die zweite Figur, der es in der Verfilmung obliegt, für Komik zu sorgen, heiβt
86 Vgl. zu den Slapstick Qualitäten der Figur auch Giddings/Selby (2001, 96): "On screen we have only Pecksniff's actions and words, the genius of Dickens's narrative prose is absent. The best that could be done to make Pecksniff comic is to deploy slapstick, knockabout and pratfalls." 146
Augustus Moddle – jener in Mercy Pecksniff verliebte junge Mann, der sich nicht damit abfinden kann, dass diese einen anderen Mann heiratet, der sich schlieβlich mit deren Schwester Charity verlobt, aber dennoch ständig in Tränen ausbricht und kurz vor seiner geplanten Hochzeit mit Charity das Weite sucht und diese allein zurücklässt. Wie diese kurze Schilderung erkennen lässt, bietet diese Figur schon im Roman reichlich komisches Potential, das aber erst in der Verfilmung durch leichte Änderungen und Hinzufügungen richtig zur Geltung kommt. So wird Moddles Rolle in der Verfilmung im Vergleich zur Romanvorlage deutlich erweitert. Während seine unglückliche Verliebtheit in Dickens' Originaltext erst in Retrospektive nach Mercys Heirat wirklich deutlich wird, so zeigt bereits die erste Folge der Verfilmung ein kurzes Zusammentreffen zwischen Moddle und Mercy, bei dem Mercy ihm im Vorbeigehen einen Blick zuwirft, was zur Folge hat, dass er ihr wie gebannt nachstarrt. Seine Rolle in der Verfilmung wird zudem dadurch aufgewertet, dass Mrs Todgers ihn bei dieser ersten Begegnung mit Namen anspricht – im Roman ist von ihm zunächst stets nur als "the youngest gentleman [of the commercial gentlemen]" die Rede (vgl. etwa MC, 189). Eine der komischen Szenen mit Moddle findet sich in der 4. Folge der Verfilmung. Sie schlieβt sich unmittelbar an Charity Pecksniffs Eintreffen in Mrs Todgers boarding house an. Charity sucht dort nach dem Zerwürfnis mit ihrem Vater über die Heirat ihrer Schwester mit Jonas Chuzzlewit Zuflucht. Moddle: "Mrs Todgers, did I dream, or did I see Miss Charity arriving earlier?" Mrs Todgers: "No, Mr Moddle, you weren't dreaming. Miss Charity has come to stay with me for a while." Moddle (enthusiastisch): "Oh, Mrs Todgers, do you think she would permit me to sit with her sometimes?" Mrs Todgers: "I don't see why not." Moddle: "It would be a comfort to me to contemplate her nose." (Groβaufnahme von Mrs Todgers Gesicht, das ausdrückt, dass sie mit dieser Aussage nicht so recht etwas anzufangen weiβ.) Mrs Todgers: "Her – nose?" Moddle: "Her profile in general, but particularly her nose. It's so like… (kämpft mit den Tränen, nimmt Mrs Todgers einen Lappen aus der Hand, fährt weinend fort): It's so like hers who is another's, Mrs Todgers (schneuzt sich in Mrs Todgers Lappen.) Mrs Todgers (streng): "Now, Mr Moddle, if you want Miss Charity to be civil to you, you are gonna have to stop acting like a waterpump and going on all the time about 'another's'." Zwar bediente sich der Drehbuchautor beim Verfassen dieser Szene einiger Zeilen aus einem im Roman stattfindenden Dialog zwischen Moddle und Mrs Todgers (vgl. MC, 480), stärkt aber deutlich die Komik seiner Vorlage, etwa durch Betonung von Moddles Weinerlichkeit und durch den waterpump Vergleich. Eine ähnliche Strategie verwendet der Drehbuchautor noch in einer weiteren Szene 147 mit Moddle. Sie findet sich im Roman in Kapitel 46 – Charity und Moddle trinken bei Mercy Tee, als deren Ehemann Jonas unerwartet hinzukommt. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen Charity und Jonas: "Charity! Charity!" remonstrated her sister [...] "Merry, my dear, I am much obliged to you for your advice," returned Miss Pecksniff […] "but I am not his slave –" "No, nor wouldn't have been if you could," interrupted Jonas. "We know all about it." […] "Beast!" cried Miss Pecksniff, sweeping past him. "Augustus! He is beneath your notice!" Augustus had been making some faint and sickly demonstration of shaking his fist. "Come away, child," screamed Miss Pecksniff, "I command you!" The scream was elicited from her by Augustus manifesting an intention to return and grapple with him (MC, 668). Der Drehbuchautor stärkt die Komik dieser Szene, indem er Moddles halbherzige Versuche, sich in den Disput einzumischen ("some faint and sickly demonstration of shaking his fist") komplett streicht. Stattdessen lässt er diesen – gänzlich passiv – sehnsüchtig auf Mercy starren, während Charity äuβert: "Augustus, I forbild you to retaliate. Let us go before the provocation is too much for your manly pride". Eine Betonung der komischen Elemente der Handlung bewirkt unter anderem, dass sich die Klassikerverfilmung in diesem Punkt dem populärkulturellen Genre der soap opera annähert. Zumindest in Groβbritannien wird im Fall dieses Genres gerne auf Komisches zurückgegriffen: Both UK and Australian soap operas feature comedy elements, often by way of affectionate comic stereotypes such as the gossip or the grumpy old man, presented as a sort of comic foil to the emotional turmoil that surrounds them. This diverges from US soap operas where such comedy is rare (Bowles 2000, 121). Auf ein Mindestmaβ beschränkt hingegen wird ein nicht unbedeutender Teil des Romans, der aber für Zuschauer des 20. und 21. Jahrhunderts kaum noch Relevanz aufweisen dürfte. Es handelt sich hierbei um die insgesamt acht Romankapitel (von 54), die sich mit Martin juniors und Mark Tapleys Reise nach Amerika, ihrem Aufenthalt dort und ihrer Rückreise befassen. Diese zum gröβten Teil recht handlungsarmen Kapitel des Romans erfüllten vor allem den Zweck, Dickens nach seiner Amerika Reise im Jahr 1842 mit einem weiteren Ventil für seine Kritik an den Vereinigten Staaten zu versorgen, die er kurz zuvor schon in seinen American otes zum Ausdruck gebracht hatte. [Dickens] found America to be a land where the majority exerted a heinous tyranny over all ideas and conduct, where newspapers were slanderous and irresponsible, where slavery flourished and slaves were mistreated; it was a land of disgusting spitting, suspiciousness, dull conversation, personal dirtiness, low business ethics, materialism, ravenous feeding, political violence and lawlessness, and inordinate 148
inquisitiveness. All of these tendencies and qualities are emphasized and underlined in Chuzzlewit and attacked over and over again (Stone 1957, 469). Harry Stone (1957, 472) betrachtet die Amerika Kapitel des Romans insgesamt als wenig gelungen und macht darüberhinaus deutlich, dass schon Dickens' Zeitgenossen gewisse Hintergrund Informationen benötigten, um den Amerika Teil des Romans richtig verstehen und deuten zu können. Dieses Hintergrundwissen kann beim Fernsehzuschauer des 20. Jahrhunderts nicht vorausgesetzt werden. Auβerdem ist Dickens' Kritik an Amerika insofern überholt, als die von ihm betonten Missstände heute zum gröβten Teil als behoben betrachtet werden können – wird Amerika im späten 20. bzw. frühen 21. Jahrhundert von europäischer Seite kritisiert, dann nicht wegen exzessiven Ausspuckens, Unreinlichkeit oder Sklaverei. Ein weiterer Grund für die starke Kürzung der Amerika Kapitel könnte darin liegen, dass die Verfilmung – wie die meisten seit den 1990er Jahren entstandenen classic serials – von dem amerikanischen Sender WGBH Boston co produziert wurde und man es sich somit angelegentlich sein lassen musste, das amerikanische Publikum nicht zu verärgern. So wird der Amerika Teil des Romans kurz in zwei Briefen von Martin abgehandelt, die Mary in der 3. und 5. Folge der Verfilmung erhält. Der Zuschauer sieht zunächst nur Mary, die in die Briefe vertieft ist, während Martins Stimme deren Inhalt vorträgt. Schlieβlich geht der Vortrag in Visualierungen der beiden in dramatischer Hinsicht ergiebigsten Szenen der Amerika Kapitel über: Martins und Marks Erwerb eines Grundstücks in der Kolonie Eden im ersten Brief sowie im zweiten Brief ihre dortige Ankunft. Drehbuchator David Lodge erklärt zur starken Kürzung des Amerika Teils: [T]he fact that the American scenes in the novel are used a lot of the time to air Dickens's prejudices about America allowed us to say: "Let's ask ourselves what is actually essential about the American passages and to concentrate and focus just on […] the greedy illusion that you can buy a property and become rich in a very short time and the disillusion when you discover that you've been conned and bought a malarial swamp. So that's what we focused on, because in the end those seem to be the key moments in terms of Martin's spiritual education (BBC Education 1995). Nachdem bereits die signifikante Umgestaltung des Romananfangs in der Verfilmung diskutiert wurde, verdient noch die Gestaltung des Endes Aufmerksamkeit. Unter den an der Produktion Beteiligten herrschte Uneinigkeit darüber, wie die Verfilmung am sinnvollsten zu beschlieβen wäre: During the last week of Martin Chuzzlewit's transmission David Lodge published an article in The Independent in which he revealed something of the conflict of wills within the context of which the final version of the script was created. […] The script editor, Neil Denton, suggested to David Lodge ending the serial with a double wedding (Martin and Mary, and his friend John Westlock to Ruth, Tom Pinch's sister). This appealed greatly to Lodge's conception of the essential theatricality of 149
Dickens's work: 'The idea appealed to me as a background to the final credits and I developed it into a multiple wedding – incorporating the union of Mark Tapley and Mrs Lupin, and taking the liberty of marrying Mrs Todgers to Mr Jinkins at the same time' (Giddings/Selby 2001, 98f.). Nach Ansicht von Robert Giddings und Keith Selby (2001, 99) kommt dieser Schlussvariante ein recht hohes populäres Potential zu: It seems clear from this evidence that Lodge thinks that if Dickens were working today he would not just be writing television drama, but commercial television soap opera. [Director] Pedr James hated it. 'He felt it was a soft soapy, feel good ending that undermined the seriousness and pathos of the novel's conclusion.' After some debate and filming different variants of the conclusion, Pedr James's version was used. Pedr James' Variante lässt die Verfilmung mit einer Szene enden, die sich im Roman schon zu einem früheren Zeitpunkt abspielt – jene Szene, in der Ruth Pinch ihrem Bruder Tom offenbart, hinter das Geheimnis seines Verliebtseins in Mary gekommen zu sein (vgl. MC, 717f.): Ruth: "You love her, don't you?" (Sie beginnt zu weinen, nimmt seine Hände in ihre.) "Oh Tom, I feel so for you." Tom: "Calm, calm, this is no crying matter. By her own choice she is betrothed to Martin and was long before either of them knew of my existence. And do you think, even if she'd never seen him, she would have fallen in love with me?" Ruth: "Yes, she would have, of course she would have. It's so unfair." Tom: "You think of me, Ruth, and it is very natural that you should, as if I were a character in a book. And you make it a kind of poetical justice that I should by some impossible means or other come at last to marry the person that I love. But there is a higher justice than the poetical kind, my dear. I don't grieve the impossible." (Kamera verweilt einen Moment lang bei der Groβaufnahme von Tom Pinchs leicht wehmütig lächelndem Gesicht. Dann beginnt der Abspann.) Dieser Schlussvariante muss das geringere Popularitätspotential attestiert werden. Das Betonen der Dreieckskonstellation Martin junior/Mary/Tom mag im Verlauf der Verfilmung dazu beigetragen haben, die Romanze zwischen Martin und Mary aufzuwerten und interessanter zu gestalten – die Tatsache, dass dies am Ende der Verfilmung wieder aufgegriffen wird, lenkt im Verein mit Ruth Pinchs mitleidigen Tränen das Augenmerk des Zuschauers unweigerlich darauf, dass der Ausgang der Handlung kaum uneingeschränkt glücklich zu nennen ist, wie in der Forschung über den Roman mehrfach betont wird: "Tom Pinch, whom Dickens intended to be his most pathetically appealing character […] falls out of the multiple Happy Endings", konstatiert etwa Leslie A. Fiedler (1986, 19), und Jerry C. Beasley (1974, 86) ergänzt: At the end of the novel, Martin gains the reward of Mary Graham's hand in marriage, and Mark is wed to Mrs. Lupin. Ruth Pinch and John Westlook also marry. But Tom enjoys no such rewards, and it has sometimes been seen as a contradiction in this 150
novel that its chief exemplar of selflessness is left alone at the end. Dieses Dilemma zu lösen ist die von David Lodge favorisierte Schlussvariante zwar auch nicht imstande, aber immerhin verschleiert sie es, so dass der dem Ende von Dickens' Roman beigemischte Wermutstropfen in dieser Schluss Szene deutlich abgemildert wird. Diese zweite Schlussvariante spart den Dialog zwischen Tom Pinch und seiner Schwester Ruth komplett aus und bringt die Mehrfach Hochzeit vor die Kamera, die sich in Dickens' Originaltext offstage abspielt – die Mehrfach Hochzeit zwischen Martin und Mary, Ruth und John Westlock sowie Mark Tapley und Mrs. Ludin. Tom Pinch ist bei der Hochzeit zwar zugegen – ihm obliegt die Orgelbegleitung des Gottesdienstes – die Tatsache, dass seine unerfüllte Liebe zu Mary nicht wie in der ersten Schluss Variante thematisiert wird, lenkt jedoch zusammen mit seinem zufrieden lächelnden Gesichtsausdruck den Zuschauer von der Erkenntnis ab, dass er trotz seiner charakterlichen Qualitäten am Ende leer ausgeht.
4.2.1.3 Resümee Obgleich sie im zweiten Programm der BBC2 ausgestrahlt wurde, das, wie gezeigt wurde, in seiner Programmgestaltung insgesamt eine geringere Orienterung am Mainstream pflegt als das erste, ist anhand dieser Verfilmung ist bereits eine – wenngleich noch vergleichweise zögerliche – Öffnung des Genres der Klassikerverfilmung gegenüber populärkulturellen Elementen zu erkennen. Durch leichte sprachliche Vereinfachungen, einen deutlich temporeicheren Einstieg, punktuelle Spannungssteigerungen sowie gezielte Vereindeutigungen des Geschehens wird dem Zuschauer die Rezeption erleichtert, durch die Betonung bestimmter, für ein Publikum des späten 20. Jahrhunderts relevanter Handlungsstränge nähert sich die Produktion streckenweise zeitgenössischen populärkulturellen Genres wie etwa dem Thriller, der romantic comedy oder der soap opera87 an. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die geschilderte Kontroverse um das Ende der Verfilmung. Während eine Version des Endes mit populärem Potential bereits abgedreht worden war, konnte sich diese Version letztendlich zu diesem Zeitpunkt nicht durchsetzen. Bereits ein knappes Jahr später betrachtete Andrew Davies hingegen eine von ihm der Romanhandlung hinzugefügte Schlussszene, die eine Heirat zum Inhalt hat, als essentiell für seine Pride and Prejudice Verfilmung (vgl. Abschnitt 4.1.2.). In den darauffolgenden Jahren etablierten sich dann auch für Adaptionen von Dickens' Romanen
87 Der Einfluss des soap opera Genres auf andere Gattungen sollte nicht zu gering veranschlagt werden. So findet Scott McCracken (1998, 176) etwa auch in populärer Literatur Elemente dieses Genres, etwa in Terry McMillans Roman Waiting to Exhale, "[which] follows the structure of a television soap opera." 151
Heiratsszenen als akzeptierte Formen der Schlussgebung, wie einige der folgenden Fallstudien zeigen werden.
4.2.2 Great Expectations (Alfonso Cuarón, 1998) 4.2.2.1 Der Roman und seine Relevanz für das heutige Publikum Great Expectations gehört als 13. von Dickens' insgesamt fünfzehn Romanen dessen Spätwerk an. Im Unterschied zu Martin Chuzzlewit und zahlreichen anderen Romanen aus Dickens' Oeuvre wurde der Roman nicht in monatlichen, separaten Fortsetzungen erstveröffentlicht, sondern in wöchentlichen instalments, die in der von Dickens herausgegebenen Zeitschrift All the Year Round erschienen. Mit knapp 500 Seiten zählt der Roman zu Dickens' kürzeren Roman Veröffentlichungen. Great Expectations war zudem nach David Copperfield der zweite Roman, der vollständig in der ersten Person Singular erzählt wurde. Im Zentrum des Romans steht der Waisenjunge Philip Pirrip, kurz: Pip, der bei seiner übellaunigen Schwester und deren Ehemann, dem Schmied Joe Gargery, aufwächst. Mit Joe verbindet ihn von Kind auf eine innige Freundschaft. Für Dickens' Verhältnisse ungewöhnlich beginnt der Roman in medias res mit einer temporeichen und spannungsgeladenen Szene: Pip macht auf einem Friedhof die Bekanntschaft des entflohenen Häftlings Magwitch, der ihn bedroht und von ihm fordert, ihm Essbares zu besorgen. Kurz darauf wird der Häftling festgenommen. Pip wird wenig später von der wohlhabenden Miss Havisham als Spielgefährte für deren Ziehkind Estella engagiert. Miss Havisham wurde einst an ihrem Hochzeitstag von ihrem Verlobten am Altar stehengelassen, und fristet seither, immer noch mit ihrem Hochzeitskleid bekleidet, in ihrem Wohnsitz Satis House ein verbittertes Dasein zwischen den längst verdorbenen Resten ihres geplanten Hochzeitsfests. Deshalb erzieht sie Estella zu Stolz und Hochmut, so dass diese sich stellvertrend für sie an der Männerwelt rächen kann. Pips Bekanntschaft mit der hochmütigen Estella hat zur Folge, dass ihn das Leben bei seinen Zieheltern und als Lehrling von Joe nicht mehr zufriedenstellt und er nach Höherem strebt. Schlieβlich überbringt ihm der Londoner Anwalt Mr. Jaggers die Botschaft von seinen titelgebenden Great Expectations: Ein anonymer Wohltäter stellt ihm die finanziellen Mittel zur Verfügung, die zu einer Ausbildung zum gentleman und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg notwendig sind. Da Pip zuvor schon in Miss Havishams Räumen auf Jaggers traf, geht er davon aus, bei seinem anonymen Wohltäter handele es sich um Miss Havisham, die ihn mit Estella auf eine soziale Stufe bringen will, so dass beide schlieβlich würden heiraten können. Pip beginnt seine Erziehung zum gentleman und bewegt 152 sich nun in denselben Kreisen wie Estella, die allerdings auch von anderen Männern umworben wird, neben anderen von Bentley Drummle, den sie schlieβlich heiratet. Pips veränderte Lebensumstände haben negative Auswirkungen auf seinen Charakter: Als Joe ihn in London besucht, um ihm die Nachricht vom Tod seiner Ehefrau zu überbringen, zeigt sich Pip peinlich berührt von Joes Ungeschliffenheit, was diesem nicht verborgen bleibt. Wenig später wird Pip des nachts von Abel Magwitch aufgesucht, jenem entflohenen Häftling aus seiner Kindheit, der aus der Gefangenschaft entflohen ist. Pip erfährt mit Entsetzen, dass es sich bei Magwitch um seinen anonymen Wohltäter handelt. Dennoch fühlt er sich diesem verpflichtet, verbirgt ihn vor dem Gesetz und bereitet mit ihm seine Flucht aus England vor: Magwitch soll zunächst ein Schiff nach Hamburg nehmen, kann aber, da er gesucht wird, dieses nicht im Hafen besteigen. So versuchen sie, dem Schiff nachzurudern, nachdem es den Hafen bereits verlassen hat. Sie werden jedoch von einem anderen Boot aufgehalten, in dem sich Magwitchs Widersacher Compeyson befindet – einst Miss Havishams Bräutigam. Es kommt zu einem erbitterten Kampf zwischen beiden. Compeyson ertrinkt schlieβlich im Wasser, Magwitch erleidet eine Verletzung an der Brust, wird festgenommen und in Ketten gelegt. Die Beziehung zwischen ihm und Pip, der den Verletzten regelmäβig besucht, wird intensiver. Kurz vor seinem Tod bringt Pip in Erfahrung, dass es sich bei Magwitch um Estellas Vater handelt. Beendet hatte Dickens seinen Roman ursprünglich mit einer zufälligen Wiederbegegnung zwischen Pip und Estella in London. Estellas Ehemann Bentley Drummle, von dem sie aufgrund seiner Gewalttätigkeit getrennt gelebt hatte, ist zwischenzeitlich verstorben. Estella ist wieder verheiratet: I was in England again – in London, and walking along Picadilly with little Pip [Biddy and Joe's son] – when a servant came running after me to ask would I step back to a lady in a carriage who wished to speak to me. It was a little pony carriage, which the lady was driving; and the lady and I looked sadly enough on one another. 'I am greatly changed, I know; but I thought you would like to shake hands with Estella too, Pip. Lift up that pretty child and let me kiss it!' (She supposed the child, I think, to be my child.) I was very glad afterwards to have had the interview; for, in her face and in her voice, and in her touch, she gave me the assurance, that suffering had been stronger than Miss Havisham's teaching, and given her a heart to understand what my heart used to be (GE, 509). Sir Edward Bulwer Lytton, selbst Autor und Freund von Dickens, betrachtete nach Lektüre des Manuskripts das Ende als zu enttäuschend für den Leser. Dickens' fertigte daraufhin eine zweite Schlussvariante an, die alle Ausgaben des Romans, die zu Dickens' Lebzeiten erschienen, beschloss (vgl. GE, 508). Diese zweite Schlussvariante sieht vor, dass Estella und 153
Pip beide nach jahrelanger Abwesenheit zur gleichen Zeit dem inzwischen zur Ruine verkommenen 'Satis House' einen Besuch abstatten. Zwar gesteht Estella Pip zunächst, in letzter Zeit häufig an ihn gedacht zu haben, dennoch spricht sie von Abschied: "I little thought," said Estella, "that I should take leave of you in taking leave of this spot. I am very glad to do so." "Glad to part again, Estella? To me, parting is a painful thing. To me, remembrance of our last parting has been ever mournful and painful." "But you said to me," returned Estella, very earnestly, "'God bless you, God forgive you!' And if you could say that to me then, you will not hesitate to say that to me now […]. Be as considerate and good to me as you were, and tell me we are friends." "We are friends," said I, rising and bending over her, as she rose from the bench. "And will continue friends apart," said Estella. I took her hand in mine, and we went out of the ruined place; and, as the morning mists had risen long ago when I first left the forge, so, the evening mists were rising now, and in all the broad expanse of tranquil light they showed to me, I saw the shadow of no parting from her (GE, 484). Während für das von Dickens zuvor verfasste 'erste' Romanende gilt: "[T]he first ending hints at no further relationship for Pip and Estella" (Hartog 1982, 254), so ist diese zweite Schlussvariante bestenfalls als zweideutig zu bezeichnen. Lyn Pykett (2002, 170f.) betrachtet Pips Reaktion auf Estellas Äußerungen als Teil einer Serie von Missverständnissen zwischen diesen beiden Figuren, die sich durch den gesamten Roman zieht: Throughout the novel Pip constantly misinterprets what Estella says. Even in the final chapter, when Estella takes her farewell of Pip by affirming her hope that they 'will continue friends' apart, Pip reports his response thus: 'I saw no shadow of another parting from her'. Whose words should the reader privilege here, and how is he or she to construe them?88 Zudem bemerkt Meckier (1993, 32) bezüglich dieses von Dickens überarbeiteten Romanendes: "[M]any assessments of the novel find her [Estella's] change of heart abrupt and unconvincing".89 Auf der Homepage zu der Hollywood Verfilmung des Romans aus dem Jahr 1998 betont der Produzent des Unternehmens, Art Linson, die Handlungselemente des Romans, die seiner Ansicht nach auch für ein zeitgenössisches Publikum relevant sind: "I realized that the story had some wonderful and timeless themes about coincidence, wanting things you can't have, and trying to obtain respect. All these elements provided the potential to turn a classic into a modern tale" (Great Expectations homepage 1998). Diese 'modern tale', geschaffen von Alfonso Cuarón (Regie), Mitch Glazer (Drehbuch) und eben Art Linson (Produktion)
88 Ein Missverständnis sieht auch Hilary Schor (1996, 555) hier vorliegen: "To the very end, Estella says one thing and Pip hears another." Curt Hartog (1982, 254) und Jerome Meckier (1993, 34f. und 44) sehen in dieser zweiten Schlussvariante ebenfalls kein konventionelles happy ending. 89 Für eine weiterführende Diskussion der beiden Schlussvarianten vgl. Rosenberg (1981) und Meckier (1993). 154 war ab dem 30. Januar 1998 in den USA und in Kanada im Kino zu sehen, ab dem 17. April 1998 dann auch in Groβbritannien.
4.2.2.2 Das populäre Potential der Verfilmung Linson, Glazer und Cuarón versuchen die repräsentionale Relevanz von Dickens' Romanhandlung für ein zeitgenössisches Publikum auf der Achse der 'Ähnlichkeit' zu verstärken, indem sie sie aus dem viktorianischen England in ein zeitgenössisches, amerikanisches Setting verlegen. Pip – der in der Verfilmung Finnegan Bell, kurz: Finn, heißt – wächst in der Verfilmung an der Golfküste Floridas auf, sein Erwachsenwerden vollzieht sich nicht wie im Roman in London, sondern in New York: [T]he sterile and decaying Satis House becomes the overgrown and unkempt (but lushly green) former plantation Paradiso Perduto; the eccentric and isolated Miss Havisham becomes the cocktail swilling Miss Dinsmoor (Anne Bancroft); and blacksmith Joe Gargery, Pip's friend and adoptive father, becomes fisherman and handyman Joe Coleman (Chris Cooper) (Johnson 2005, 62). Der erwachsene Finn kommentiert als Ich Erzähler an einigen Stellen das Geschehen rückblickend und erhöht das populäre Potential der Verfilmung, indem er den Zuschauer häufig direkt und indirekt anspricht und in beiden Fällen an dessen Lebenserfahrung appelliert. So äuβert er gleich zu Beginn der Verfilmung: "There either is or is not a way things are. The colour of the day, the way it felt to be a child. The feeling of salt water on your sun burnt legs." In einer späteren Szene fordert der Ich Erzähler Finn den Zuschauer noch nachdrücklicher dazu auf, eigene Kindheits bzw. Jugenderinnerungen zu aktivieren. Im Anschluss an die Szene, in der die junge Estella den gleichaltrigen Finn zum ersten Mal recht unvermittelt küsst, formuliert er: "You remember it. You remember how it felt." Die Gründe für die Tatsache, dass die meisten Figuren mit anderen Namen bedacht wurden – lediglich Estella behält ihren Namen in der Verfilmung – erklärt Drehbuchautor Mitch Glazer wie folgt: "'Dickens' "Magwitch" and "Miss Havisham" seemed too spectacular, almost untouchable to my ear. [...] I thought a modern equivalent would give us more freedom'" (Great Expectations homepage 1998). Die Rolle von Pips Schwester, die in der Verfilmung Maggie heißt, erfährt ebenfalls ein updating. Aus dem Roman übernommen wird ihre Unzufriedenheit mit ihrem Schicksal. Bereits in einer der ersten Szenen der Verfilmung, als Finn sich auf dem Heimweg von seiner ersten Begegnung mit dem Häftling befindet und unterwegs auf Joe trifft, warnt ihn dieser: "Hey, listen, Maggie's on a kinda rant today, so you be careful, OK?" Maggie wird nicht wie im Roman von einer bösartigen Orlick Figur niedergestreckt und zum Pflegefall gemacht, 155 sondern brennt gleich im Anschluss an Finns ersten Besuch bei Miss Dinsmoor – ganz im Stil einer Mainstream orientierten Hollywood Produktion – mit einem Liebhaber durch und verschwindet somit komplett von der Bildfläche. Die Übertragung der Handlung in die Gegenwart bewirkt auch eine – mitunter recht drastische – Aktualisierung der Sprache, die so im Kostümdrama bzw. Heritage Crossover Film nicht denkbar wäre, auch nicht in Produktionen dieses Genres, die sich eher am Mainstream orientieren. Ein Textauszug aus der Szene, in der sich Finns erste Begegnung mit seinem zukünftigen Wohltäter abspielt, der in der Verfilmung Arthur Lustig heißt, soll dies exemplarisch veranschaulichen: Lustig (taucht aus dem Wasser auf, packt Finn, hält ihm den Mund zu): "What's your name?" [...] "Fuck! Do you know what bolt cutters are? You know what they are or you don't know what they are? […] Listen, I know your name, I know where you live, I can find you and I'll gut you like a fish. I'll pull out your fucking insides, I'll make you eat them. Do you hear me? I'll make you fucking eat them. You be here tomorrow morning at dawn with bolt cutters and any kind of food or I'm gonna kill you for sure. You got me? I'll fucking kill you if you tell anyone – anyone! Finn: "They are dead!" Lustig: "You tell anyone, the last sound you hear will be your own scream. All right. Go." Besonders durch den häufigen Gebrauch des Wortes fuck, aber auch in anderen Formulierungen des Häftlings ("the last sound you hear will be your own scream") wird hier deutlich über die bereits diskutierten, in Klassikerverfilmungen üblichen sprachlichen Veränderungen hinausgegangen. Thematisch bildet die Beziehung zwischen Estella und Finn den hauptsächlichen Handlungsstrang des Films. Diese Beziehung erfährt in der Verfilmung – ganz im Stil einer Hollywood Mainstream Produktion – eine 'Sexualisierung'. Zu diesem "erotic update", wie Pamela Katz (2003, 96f.) es nennt, bemerkt Regisseur Alfonso Cuarón: "[I]t is impossible to make a contemporary film of a book about young people in love without sex" (ebd., Hervorhebung im Original). Diese 'Sexualisierung' zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film, beginnend mit der ersten Begegnung zwischen Finn und Estella. So wird die Kuss Szene zwischen Pip und Estella, die sich im Roman Pips erstem Zusammentreffen mit Herbert Pocket ("the pale young gentleman", (GE, 90)) anschließt, in der Verfilmung auf signifikante Weise umgestaltet. Während Estella Pip im Roman einen keuschen Kuss auf die Wange gewährt (vgl. GE, 93), lässt die frühreife Estella der Verfilmung ihn an gleicher Stelle in den Genuss eines Zungenkusses kommen. Zudem fügte Drehbuchautor Mitch Glazer der Handlung etliche Szenen mit sexuellen Inhalten hinzu. Michael K. Johnson (2005, 71) fasst eine dieser Szenen zusammen: 156
As teenagers, Finn brings Estella to his bedroom to show her his portraits. In what at first seems like a realization of Pip's fantasy, Estella stands in front of a painting of herself. Pleased with the image, she steps forward – as if stepping out of the painting – and moves toward Finn, who is sitting on the bed. She rubs her knee against his hand, and Finn strokes her leg, and then places his hand between her legs to masturbate her through her underwear. The pleasure in the scene belongs to Estella, who initiates the sexual contact, remains in control of the activity, and chooses when to end it by kissing Finn and announcing, "I'm late. What time is it?" In einer weiteren Szene kommt es dann tatsächlich zum Beischlaf zwischen Finn und Estella: Kurz vor Estellas Hochzeit mit ihrem Verlobten Walter und vor Finns Vernissage, die seinen endgültigen Durchbruch als Künstler mit sich bringt, entführt Finn Estella gleichsam vor den Augen Walters aus einem Lokal. In Finns Hotelzimmer fordert Estella ihn dann mit den Worten "I want you inside me" zum Sex auf. Auch jene Szene, in der Estella Finn kurz nach dessen Ankunft in New York in dessen Hotelzimmer Modell steht, ist stark sexuell aufgeladen, wie Pamela Katz (2003, 98) festhält: In this scene, the characters touch each other, without actually touching. Sex without sex. Desire without contact. Communication without words. [...] And although Estella is obviously flirting with Finn, and driving him crazy with desire, she is also giving him the opportunity, for once, to control the situation. He is the artist, she is the subject: this is the first time she lets him, so to speak, be on top. He can finally do what he wants with her body. She can make love to him without admitting it. [...] This painting scene, in fact, is far more sensual than the film's actual (and obligatory) sex scene. Die einzigen weiteren Handlungselemente, die in der Adaption größeren Raum einnehmen, sind Rückkehr und Tod des Kriminellen Arthur Lustig. Der Handlungsstrang rund um diese beiden Themen ist in der Verfilmung trotz des updatings, das er erfährt, zumindest atmosphärisch der Romanvorlage stark verpflichtet, wozu nach Ansicht von Janet Maslin (1998, 10) Robert de Niros Verkörperung der Rolle erheblich beiträgt. Maslin bezeichnet de Niros Auftritt als "the most successfully Dickensian performance in the movie". Arthur Lustig ist wie sein Gegenstück im Roman auf der Flucht vor dem Gesetz. Aus dem früheren Gefährten Magwitchs, Compeyson, werden im Fall von Lustig ehemalige Mafia Komplizen, vor denen Lustig Unterschlupf bei Finn sucht. Dieser ist durch Lustigs Erscheinen ebenso unangenehm berührt wie Pip durch das Auftauchen von Magwitch, im Laufe seiner Bekanntschaft mit ihm verändert sich seine Einstellung diesem gegenüber aber ebenso wie sich Pips Einstellung gegenüber Magwitch ändert. In der Verfilmung beschränkt sich diese Bekanntschaft freilich nur auf wenige Stunden – Lustig wird auf der Flucht von einem seiner ehemaligen Kumpanen niedergestochen und stirbt in Finns Armen. Regisseur und Drehbuchautor machen sich zum einen das Potential zur Erzeugung von dramatischer 157
Spannung, das diese Szenen bereits im Roman aufweisen, zunutze. Zum anderen wird durch die Anspielung auf andere Filmgenres offensichtlich versucht, diskursive Relevanz herzustellen. Pamela Katz (2003, 96) beschreibt die Szenenfolge, die zum Tod Arthur Lustigs führt, signifikanterweise mit "Great Expectations meets GoodFellas" und stellt damit einen Bezug her zu dem gleichnamigen Mafia Filmdrama von Martin Scorsese aus dem Jahr 1990. Seine Absicht, einen Teil von Dickens' Sozialkritik – vor allem dessen Behandlung des Klassenkonflikts im Roman – in der Verfilmung in aktualisierter Form zu berücksichtigen, musste Alfonso Cuarón signifikanterweise aufgeben. Dazu äußerte er Katz (2003, 97 und 99) gegenüber: I knew that if I had my way, I would have made a film of this novel in a more picaresque way, without focusing so much on the romance. It could have been more like Candide, a "comning of age in society" story. But I felt that this script still had the potential to include this aspect. For example, I loved the world of the Gulf fishermen, and I had many ideas about how to elaborate on Finn's and Joe's lower class world. [...] I had an idea for a sequence about the fishermen in Florida. At that time, they were going broke and working at McDonald's. But no one was interested in this class element except me. Die meisten anderen Themen und Figuren des Romans entfallen ersatzlos. Die Verfilmung bietet keinerlei Äquivalente für die Figuren Pumblechook, Wopsle, Biddy, Orlick, Trabb, die Pocket Familie oder Wemmick. Auf jegliche Verbindung zwischen der Handlung um Magwitch/Lustig und dem Estella Plot wird verzichtet – Estella ist in dieser Adaption nicht die Tochter von Arthur Lustig. Als Beispiel für die Strategie der Vereindeutigung des Geschehens lässt sich die bereits diskutierte Sexualisierung der Beziehung zwischen Pip/Finn und Estelle betrachten. Ein weiteres Beispiel bietet die Tatsache, dass Miss Havisham Dinsmoors merkwürdiges Gebahren in der Verfilmung vereindeutigt wird. Beschreibt der Ich Erzähler Pip im Roman Miss Havisham lediglich als "strange" – "the strangest lady I have ever seen, or shall ever see" (GE, 57) – so charakterisiert Finn Miss Dinsmoor in der Verfilmung von Anfang an als "crazy". An der Stelle innerhalb der Verfilmung, an der der junge Finn ihr erstmals seine Aufwartung macht, äußert der erwachsene Finn, der wie im Roman als Ich Erzähler fungiert, in voice over: "Old Miss Dinsmoor hadn't been seen in years. I'd heard that she was crazy. [...] But nobody knew how crazy". Zudem wird Miss Dinsmoors Verrücktheit mit zusätzlicher Motivation versehen. Kurz nach Estellas Abreise nach Paris erklärt sie Finn: 26 years ago, I trusted. I saved myself. I was a virgin. It's funny, hmm? Those were the times. That's how I was raised. What kind of creature takes such a thing? Such a gift? A trust? Who does this? Takes advantage of a 42 year old woman? What kind of creature leaves this woman waiting like a fool. A man, a man 158
does this. So men must pay. Am I right? Angesichts der Tatsache, dass die Handlung von Dickens' Roman in die Gegenwart verlegt wurde, ist es wenig überraschend, dass nicht nur das Setting aktualisiert wird, sondern auch die Hauptfiguren Pip/Finn und Estella. Wie Pamela Katz (2003, 97) bemerkt: [S]creen heroes require the free choice feature in their make up, or they self destruct. [...] [The director Alfonso Cuaron's] first step was making Pip into a credible contemporary character. [...] Finn would become an artist, replacing the arbitrary wealth of the nineteenth century with the twentieth century equivalent: celebrity success.90 Da, wie in Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit deutlich wurde, für eine Mainstream Produktion kohärente und zumeist auch sympathische Charaktere vonnöten sind, wird Pips Snobismus, der im Roman eine Folgeerscheinung seiner groβen Erwartungen darstellt, entschärft. Am deutlichsten wird diese Arroganz in jener Szene, in der Joe Pip im Londoner Barnard's Inn aufsucht. Pips Arroganz wird besonders deutlich, wenn er als Ich Erzähler von den Empfindungen berichtet, die die Ankündigung von Joes Besuch in ihm auslöste: Let me confess exactly, with what feelings I looked forward to Joe's coming. Not with pleasure, though I was bound to him by so many ties; no; with considerable disturbance, some mortification, and a keen sense of incongruity. If I could have kept him away by paying money, I certainly would have paid money. [...] As the time approached I should have liked to run away (GE 218f.). Diese Szene wird in der Verfilmung in aktualisierter Form berücksichtigt: Joe surprises Finn by coming to his one man show in New York. At first unforgivingly snide to Joe (who appears in a cheap, rented tuxedo), Finn is then pained by his own cruelty toward the kind man who raised him. All this is communicated in silence, Finn's remorse, Joe's eternal understanding, the disastrous wardrobe (Katz 2003, 101). Die Szene tut Finns Sympathieträger Qualitäten aus zwei Gründen keinen Abbruch: Erstens zeigt er, wie Katz betont, sofort Reue. Zweitens wird er als von der Situation schlichtweg überfordert dargestellt: Die hier analysierte Szene schließt sich unmittelbar an eine Szene an, in der Finn und Estella miteinander schlafen und in der sie ihm verspricht, zu seiner Vernissage zu erscheinen, weshalb er bei seiner Ankunft im Ausstellungsraum mehrmals nach Estella fragt und sich ständig nervös nach ihr umsieht. Somit ist es durchaus nachvollziehbar, dass ihn Joes Überraschungsbesuch überfordert, zumal sich dieser in der Tat denkbar ungeschliffen und für den aufstrebenden jungen Künstler Finn durchaus blamabel
90 Trotz dieser Vorkehrungen des Regisseurs wurde der Hauptfigur Finn verschiedentlich Passivität vorgeworfen. Zum einen vom Darsteller dieser Rolle, Ethan Hawke, selbst (vgl. Katz 2003, 97), zum anderen von der Journalistin Janet Maslin (1998, 10), die den Film für die ew York Times besprach und in ihrer Rezension anmerkte: "Mr. Hawke seldom registers anything more interesting than astonishment at Finn's good fortune." 159 verhält. "[I]t won't wash", urteilt John C. Tibbets (1999, 96) über diese Szene. "The movie is too intent on showing him [Finn] in a sympathetic light." Auch die Figur der Estella erfährt in Cuarons Verfilmung eine erhebliche Aktualisierung: Although Dickens's Estella is a counter in Havisham's game of revenge and acts (for the most part) according to her adopted mother's wishes, Estella in the movie acts to achieve her own ends – seemingly renewing her acquaintance with Finn to make her boy friend jealous enough to propose (Johnson 2005, 70).91 Und ebenfalls wie die männliche Hauptfigur Finn erscheint auch Estella in der Verfilmung deutlich sympathischer als im Roman. Im Fall dieser Figur hängt dies jedoch nicht allein damit zusammen, dass in einer Mainstream Produktion die Figuren eine kohärente und oft auch sympathische Charakterisierung aufweisen sollten, sondern ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Rolle mit Gwyneth Paltrow besetzt wurde. Diese Tatsache hatte schon zu Beginn der Dreharbeiten dahingehend Veränderungen am bereits fertigen Skript bewirkt, dass Cuarón Paltrows Präsenz in der Verfilmung verstärken musste, da das zuständige Studio das popularisierende Potential der Schauspielerin erkannte: [T]he studio did change its mind about the prominence of her role in the film. And they did so rather late in the game. Although shooting had already begun, a new demand was placed on Cuarón's shoulders: "More Gwyneth," because Paltrow's career had exploded near the beginning of the shoot. Her box office appeal was soaring to unprecedented heights, driven by the two seemingly disparate forces of the highbrow movie Emma and the Calvin Klein advertising campaign. [... T]he last minute demand [...] entailed much rewriting on the set, complicating an already difficult production. [...] From this point on, any spare moment had to be handed over to the assured box office draw of Paltrow. Thus Cuarón was compelled to transform the film into a vehicle for Gwyneth Paltrow long after the script had been conceived, and several scenes had already been shot. Despite the script's thin characterization of Estella, Cuarón used powerful images to enhance Paltrow's already compelling screen presence, and he and Glazer wrote several new scenes (Katz 2003, 99). Nach dem Ende der Dreharbeiten ergab sich allerdings ein neues Problem: The first audience previews revealed that "Estella was not sympathetic." Audiences didn't like her. When I suggested that Estella is not meant to be liked, Cuarón said: "Try saying that when Gwyneth Paltrow is playing the part!" (Katz 2003, 100). Die aus den Vorab Vorführungen gewonnene Erkenntnis, Estella erscheine in der Verfilmung
91 Pamela Katz (2003, 98) kritisiert indes die Tatsache, dass Estella in der Verfilmung keiner Beschäftigung nachgeht: "Despite her Donna Karan wardrobe, the film's Estella is hardly a modern woman at all. As a powerful woman of the 1990s, surely a profession would only have enhanced her attractiveness to men." Wie Katz (2003, ebd.) ausführt, sah die Originalfassung des Drehbuchs durchaus eine Beschäftigung für Estella vor – "[a]nd an intriguingly relevant one: an art restorer. But the studio felt that her profession was 'not necessary' for the story and, due to the demands of time, it fell to the cutting room floor."
160 als nicht ausreichend sypmathisch, bewirkte die Hinzufügung einer weiteren, nachträglich produzierten Dialog Szene zwischen Estella und Finn zum bereits fertig vorliegenden Film: the soon to be famous scene in the back of the taxi, when Estella is once more abandoning Finn. Here she tries to explain, in a short paragraph, why she is such a cold person. Why she is incapable of love.92 It sticks out. It doesn't belong, this attempt to sum up the psychology of a complex character in four lines of dialogue. It's the nadir of the no win game. […] Confident that Estella's character had already been very well drawn, Cuarón originally shot the scene in silence. Estella departs in a taxi, leaving a forlorn Finn on the cold, rainy, and dark streets of New York. But previews showed that people did not understand her, and demanded an explanation. "Understanding why she is 'like that' was said to make her more sympathetic," Cuarón relates, because if the audience doesn't "like Estella," there goes the box office potential (Katz 2003, 100, Hervorhebungen im Original). Was die Gestaltung des Endes angeht, so widersteht Cuarón der Versuchung, seine Verfilmung mit einem 'klassischen', mainstream gerechten happy ending zu versehen. Seine Schlussfassung ist bemüht, die Ambiguität von Dickens' überarbeiteter Schlussvariante beizubehalten und bedient sich zudem an einigen Stellen derselben Formulierungen. Finn trifft im Garten von Paradiso Perduto, das nach dem Tod von Miss Dinsmoor einige Jahre zuvor nun abgerissen werden soll, auf Estella und ihre kleine Tochter, die der jungen Estella verblüffend ähnlich sieht: Finn: "Have you been here often?" Estella: "No." Finn: "No. Me neither." Estella: "So you're doing great. I hear all about you." Finn: "I'm doing all right." Estella: "Yeah. Things have been different for me. For a long time I kept..." Finn: "What?" Estella: "I think about you. A lot lately." Finn: "I'm glad." Estella: "Can you ever forgive me?" Kamera auf Finn, der sie lange anblickt. Finn: "Don't you know me at all?" Estella lächelt, schließt die tränenerfüllten Augen. Ich Erzähler Finn in voice over: "She did know me, and I knew her. I always had, from the first instant. And the rest of it – it didn't matter. It was past. It was as if it had never been." (Kamera auf Finn und
92 Estella formuliert ihre Erklärung Finn gegenüber in der Verfilmung wie folgt: "Let's say there was a little girl, and from the time she could understand she was taught to fear... (unterdrückt ein Schluchzen). Let's say she was taught to fear daylight. She was taught that it was her enemy, that it would hurt her. And then one sunny day you ask her to go outside and play, and she won't. You can't be angry at her, can you?" Finn (in beschwichtigendem Tonfall): "I knew that little girl, and I saw the light in her eyes. And no matter what you say or do, that's still what I see." Estella (sich ihm zuwendend): "We are who we are. People don't change."
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Estella, die beide mit dem Blick aufs Meer gerichtet nebeneinander stehen. Finn greift zögerlich nach Estellas Hand.) "There was just my memory of it." (Finn richtet den Blick auf Estella, die aber dem Meer zugewandt bleibt. Schließlich blickt auch Pip wieder aufs Meer hinaus. Ende. Zwar spricht Estella hier nicht wie in Dickens' überarbeitetem Ende von Abschied, es findet aber auch keine Vereinigung von Estella und Finn statt: Auf physischen Kontakt zwischen Finn und Estella wird nahezu gänzlich verzichtet – abgesehen vom zögerlichen, keuschen Händchenhalten. Wie Pamela Katz (2003, 100) ausführt, stört zudem die von Regisseur und Drehbuchautor der Romanhandlung bewusst hinzugefügte Gegenwart von Estellas kleiner Tochter die Romantik des Endes: What's with the kid? I mean, how romantic is that? Now we know she had sex with someone else besides Finn! And besides, stepchildren are messy. Mothers are messy. Cuarón was pressured [by the studio] to lose the little girl, and to film Finn and Estella running into each other's arms, kissing romantically without a care in the world, and in close up, please! But with his instinctive and fierce attachment to the real ending of the book, Cuarón fought for his version, and, for once, prevailed (Hervorhebung im Original).
4.2.2.3 Resümee Trotz aller kommerziellen Zwänge, denen die Verfilmung als Hollywood Mainstream Produktion unterlag, ist neben der Gestaltung des Endes noch an anderen Stellen das Bemühen von Regisseur und Drehbuchautor erkennbar, die literarische Vorlage nicht bis zur Unkenntlichkeit zu verfremden – auch wenn dieses in zumindest einem Fall der Aktualisierung des Stoffes zuwiderläuft. Wie Pip im Roman geht Finn in der Verfilmung davon aus, dass Miss Dinsmoor nicht nur für seinen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg verantwortlich ist, sondern auch die Absicht hegt, ihn mit Estella zusammenzuführen. Der Ich Erzähler berichtet: The next week I received a postcard from Miss Dinsmoor. It was of a sandy beach with palm trees. It said, "How's my little mouse doing?" What were her plans for me? Why was she protecting and promoting me? What could her reason be, if not to make me equal with Estella? Im Kontext der ins ausgehende 20. Jahrhundert versetzten Handlung und vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Estella in der Adaption als wesentlich unabhängiger von ihrer Ziehmutter dargestellt wird als im Roman, nimmt sich Finns Annahme, Miss Dinsmoor könne oder wolle auf Estellas Heiratsabsichten Einfluss nehmen, recht anachronistisch aus. Dieses Anliegen Cuaróns, die Handlung bei allem Bemühen um Aktualisierung nicht unkenntlich zu machen, lässt sich mit seiner langjährigen Verbundenheit mit dem Roman erklären: "He loved the book, and now knew Lean's film by heart. [...] In Mexico, Great 162
Expectations is not required reading in school. [...] Cuaron had read it many times, but just for pleasure" (Katz 2003, 95, Hervorhebung im Original). Ansonsten ist das populäre Potential dieser Verfilmung recht hoch einzustufen: Durch das Verlegen der Handlung in ein zeitgenössisches Setting, die Aktualisierung der Sprache, die Hervorhebung der für ein zeitgenössisches Publikum relevanten Handlungsstränge, insbesondere der Liebesgeschichte, die Aktualisierung bzw. 'Sympathisierung' der Charaktere sowie zahlreichen Vereindeutigungen wird versucht, repräsentionale Relevanz auf der Achse der 'similarity' herzustellen bzw. dem Zuschauer die Rezeption zu erleichtern. Die Besetzung der weiblichen Hauptrolle mit dem zum damaligen Zeitpunkt aufstrebenden Filmstar Gwyneth Paltrow, der Drehbuchautor und Regisseur beachtliche Teile des Drehbuchs unterzuordnen hatten, dient der Erzeugung von diskursiver Relevanz. Dennoch war der Produktion kein kommerzieller Erfolg beschieden: "[I]t failed to make any impact at the box office" (BBC News 2004b).
4.2.3 Great Expectations (BBC, 1999) 4.2.3.1 Das populäre Potential der Verfilmung Innerhalb dieses zweiteiligen Kostümdramas, das am 12. und 13. April 1999 auf BBC2 erstmals ausgestrahlt wurde, lassen sich zwei Themenbereiche isolieren, die inhaltliche Gemeinsamkeiten mit populärkulturellen Genres aufweisen und eine besondere Betonung erhalten. Bei dem ersten dieser Themenbereiche handelt es sich – wenig überraschend – um die Liebesgeschichte zwischen Pip und Estella. Eine Vielzahl der Szenen mit Pip und Estella wird in der Verfilmung beibehalten, wie im Verlauf dieser Fallstudie noch deutlich werden wird, wenn die Veränderungen diskutiert werden, die das Drehbuch an der Charakterisierung der Estella Figur vornimmt. Während im Roman Pip Estella nach jener Szene, in der sie ihm ihre bevorstehende Heirat ankündigt, bis zur Schlussszene des Romans nicht mehr begegnet, wird ihre Präsenz im zweiten Teil der Verfilmung durch eine zusätzliche Szene ausgebaut. Nachdem Pip das Geheimnis um Estellas Herkunft entschlüsselt hat, versucht er, der inzwischen verheirateten Estella einen Besuch abzustatten, wird allerdings in Estellas Auftrag an der Tür von ihrer Haushälterin abgewiesen. Diese Szene hat im Roman keine Entsprechung: Haushälterin: "I'm afraid Mrs. Drummle doesn't wish to receive visitors at the moment. Pip: "But you told her my name?" Haushälterin: "Yes, sir." Während die Haushälterin die Tür schließt, wendet Pip sich ab und geht davon. 163
Plötzlich erscheint Estella an einem der Fenster im Erdgeschoss. Pip hält inne, Estella blickt ihn mit Tränen in den Augen traurig an, wendet sich dann ab und verschwindet im Inneren des Hauses. Pip bleibt einen Moment lang nachdenklich stehen, geht dann seiner Wege (2. Folge). Noch ein anderer Handlungsstrang wird in der Verfilmung verstärkt, der thematische Ähnlichkeiten mit Handlungselementen in populärkulturellen Fernsehproduktionen – vornehmlich der soap opera – aufweist, und von dem somit wohl ebenfalls davon ausgegangen wurde, dass er sich für ein zeitgenössisches Publikum als repräsentional relevant erweisen würde. Hierbei handelt es sich um die Entschlüsselung des Geheimnisses von Estellas Herkunft.93 Magwitch selbst gibt in einer Unterhaltung mit Pip in der Verfilmung schon relativ früh einen Hinweis darauf, dass es sich bei ihm um Estellas Vater handeln könnte: "I say this to you as someone who lost a child once" (2. Folge). Zudem wird die Rolle von Estellas Mutter Molly ausgeweitet, indem die Handlung um mehrere, wenngleich kurze, Szenen ergänzt wird, die sich im Roman nicht finden. So sucht Molly im Anschluss an das Abendessen, zu dem Mr. Jaggers Pip, Herbert Pocket, Bentley Drummle und Startop gebeten hat, das Gespräch mit Pip, indem sie ihn fragt: "Pardon me, sir, I understand you are acquainted with Satis House?", worauf Pip antwortet: "Yes. And with Miss Havisham. Although I'd like to consider myself more than merely acquainted" (1. Folge). Dieser kurze Dialog deutet bereits darauf hin, dass eine Verbindung zwischen Molly und den Bewohnern von Satis House bestehen könnte. Dieser Eindruck verstärkt sich in jener Szene, in der Pip Jaggers erneut zum Abendessen aufsucht, diesmal in Begleitung von Wemmick. Im Roman berichtet der Ich Erzähler, wie er bei dieser Gelegenheit Molly anhand ihrer Hände als Estellas Mutter identifiziert: "[H]er hands were Estella's hands, and her eyes were Estella's eyes" (GE, 391). In der Verfilmung wird Mollys Rolle innerhalb dieser Szene dahingehend ausgeweitet, dass hier der Fokus nicht wie in der Romanvorlage auf Pip liegt, der eine Entdeckung macht, sondern Molly selbst durch ihr Verhalten verrät, dass zwischen ihr und Estella eine Verbindung besteht: (Jaggers, Pip und Wemmick sitzen am Tisch, Molly füllt mit einer Kelle Suppe in Teller.) Jaggers: "So, Pip. Our friend Drummle has played his cards." Pip: "Yes. Estella has now married him." Jaggers: "And was on honeymoon in Paris. Molly, Molly, how slow you are today. (Kamera auf Molly.) So, here is to Mrs. Bentley Drummle." Molly lässt Geschirr fallen.
93 Im Wikipedia Eintrag zum Genre soap opera wird die Wichtigkeit solcher Handlungsstränge, die dergleichen familiäre Belange zum Inhalt haben, betont: "In soap opera storylines, previously unknown children, siblings, and twins (including the evil variety) of established characters often emerge to upset and reinvigorate the set of relationships examined by the series" (Wikipedia n.d.). 164
Molly: "I'm verry sorry, Master. I'll go..." Jaggers: "See to it afterwards. Go." (Molly verlässt den Raum.) (2. Folge). Dass Molly innerhalb der Handlung eine nicht unbedeutende Rolle zukommt, deutet sich zudem bereits zu Beginn des zweiten Teils der Verfilmung an. Pips erste Begegnung mit Estella in London, mit der der zweite Teil einsetzt, spielt sich vor der Kulisse eines geschäftigen Londoner Vormittags ab. Die zweite Folge der Verfilmung zeigt Pip, wie er durch dieses geschäftige London hetzt, um Estella, die mitsamt ihrem Gepäck der Kutsche entstiegen ist und auf ihn wartet, nicht zu verpassen. Während dieser Szenenfolge erscheint zweimal jeweils eine Großaufnahme von Molly, die offensichtlich in London Besorgungen macht. Neben der Betonung dieser beiden Handlungsstränge werden auch in der vorliegenden Verfilmung starke Vereindeutigungen des Geschehens vorgenommen. Dies wird dadurch unterstützt, dass Pip hier nicht wie in der zuvor diskutierten Adaption von Alfonso Cuarón als Ich Erzähler fungiert. Die Ich Erzählung des Romans wird in der Verfilmung aus heterodiegetischer Perspektive dargestellt. Dies hat folgende Konsequenz: Ist es für den Ich Erzähler des Romans ein Leichtes, Aufschluss über seine Gedanken und Gefühle zu geben, ohne diese jemand anderem mitteilen zu müssen als dem Leser, so wird die Hauptfigur Pip in der Verfilmung vor allem durch den Wechsel der Erzählperspektive in einigen Fällen regelrecht dazu gezwungen, gegenüber dritten Personen laut auszusprechen, was im Roman lediglich als Teil seiner Gedankengänge ausgewiesen wird. Während Pip im Roman lediglich dem Leser mitteilt: "[I] had a strong conviction on me that I should never like Joe's trade" (GE, 106), so gibt ihm Miss Havisham in der Verfilmung während eines Besuchs die Gelegenheit, seiner diesbezüglichen Unzufriedenheit Luft zu machen. Ein Gespräch zwischen Pip und Miss Havisham, das ansonsten nahezu wörtlich aus dem Roman übernommen wird (vgl. GE, 116), wird in der Verfilmung um folgenden Dialog ergänzt: Miss Havisham: "Do you like your trade? So you object to the black and the soot after all?" Pip: "I hate it. And I want no more of any of it." Miss Havisham: "But you are bound, Pip." Pip: "Yes. (Pause.) Goodbye" (1. Folge). Auch seine fixe Idee, seine vermeintliche Wohltäterin Miss Havisham habe ihn als Lebenspartner für Estella auserkoren, teilt Pip im Roman lediglich dem Leser mit. Während eines Gesprächs mit Jaggers kurz nach Erreichen seiner Volljährigkeit versucht er zwar, Jaggers diesbezügliche Informationen zu entlocken, äußert sich dabei jedoch recht vage. Er bittet ihn zunächst um eine Auskunft darüber, wie lange es noch dauern würde, bis sich sein 165
Wohltäter bzw. seine Wohltäterin zu erkennen gäbe: "When that person discloses," said Mr. Jaggers, straightening himself, "you and that person will settle your own affairs. When that person discloses, my part in that business will cease and determine. When that person discloses, it will not be necessary for me to know anything about it. And that's all I have got to say." We looked at one another until I withdrew my eyes, and looked thoughtfully at the floor. From this last speech I derived that Miss Havisham, for some reason or no reason, had not taken him into her confidence as to her designing me for Estella […]. "If that is all you have to say, sir," I remarked, "there can be nothing left for me to say." He nodded assent (GE, 289f.). In der Adaption wird Pip gegenüber Jaggers deutlicher: Mr Jaggers: "When that person discloses, you and that person will settle your own affairs. I am the mere agent. And when that person discloses, my part in this business will cease." Pip: "And in this business, am I designed for Estella?" Mr Jaggers: "I have nothing else to say" (2. Folge). Von den Heiratsabsichten, die Pip Biddy gegenüber hegt, nachdem er Estella für sich verloren glaubt, erfährt Biddy selbst im Roman nichts, wieder ist es lediglich der Leser, dem sich Pip mitteilt (vgl. GE, 472f.). Im Roman erhält Pip keine Gelegenheit, Biddy den geplanten Heiratsantrag zu machen. Als er bei Joes Schmiede ankommt, trifft er Joe und Biddy zusammen an. Von Biddy erfährt er, dass sie und Joe soeben geheiratet haben (vgl. GE, 478). In der Verfilmung erfährt der Zuschauer von Pips Heiratsabsichten erst, als er Biddy gegenüber steht, um seinen Antrag loszuwerden: Pip (in pathetischem Tonfall): "I think you once liked me very well. And even when my heart strayed away from you, it was quieter and better with you than it has ever been since." Biddy (entsetzt): "Pip..." Pip: "And if you could like me only half as well once more, if you could take me with all the disappointments on my head, I should hope I am a little worthier of you now than I was. So, please Biddy, tell me if you will go through the world with me. Make it a better world for me, as I will try to make it a better world for you." Joe betritt mit einem Blumenstrauß in der Hand den Raum, Pip und Biddy wenden sich ihm zu. […] Joe: "Our wedding day. Biddy has agreed to marry me. Astonishing." ahaufnahme von Pips Gesicht, in dem sich zunächst Fassungslosigkeit und Enttäuschung abzeichnen. Biddy: "It's to be a simple ceremony. Joe had been saving for it, but there were more urgent expenses to be attended to." Erneute ahaufnahme von Pips fassungslosem und enttäuschtem Gesicht, in dem sich nach Biddys letzten Worten jedoch auch Rührung bemerkbar zu machen 166
beginnt, die schließlich die Oberhand gewinnt. Pip: "You shall make each other as happy as you deserve to be. You are the best people in the world." (Geht auf Biddy und Joe zu, umarmt beide) (2. Folge). Besonders dieses letzte Beispiel macht eines deutlich: Die Tatsache, dass Pip in der Verfilmung einiges von dem, was er im Roman in seiner Funktion als Ich Erzähler nur dem Leser mitteilt, gegenüber anderen Personen artikulieren muss, trägt erheblich zur Steigerung der Dramatik der jeweiligen Szenen bei. Darauf, dass es durchaus in der Absicht der Produzenten der Verfilmung lag, die Dramatik einzelner Szenen zu verstärken, deutet auch die Gestaltung jener Szene hin, in der Pip und Herbert Pocket einander als Kinder zum ersten Mal begegnen, und die in einer Prügelei endet (vgl. GE, 90ff.). Im Roman erfährt Pip erst nach vielen Jahren, dass Estella diese Prügelei beobachtete. Bei einem ihrer späteren Zusammenkünfte mit Pip in London erwähnt sie beiläufig: "I must have been a singular little creature to hide and see that fight that day: but I did, and I enjoyed it very much" (GE, 236). In der Adaption wird Pip dadurch zusätzlich angespornt, auf Herbert Pocket loszugehen, nachdem dieser ihn zum Kampf herausgefordert hat, dass Estella an einem der Fenster des Hauses erscheint. Pips Gesicht, das auf Estella gerichtet ist, erscheint in Großaufnahme. Die Aggressivität, mit der er sich gleich darauf auf Herbert Pocket stürzt, lässt kaum einen anderen Schluss zu, als dass er Estella damit imponieren möchte. Auch die dramatische Spannung einiger Szenen wird in der Verfilmung erkennbar verstärkt. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist die Szene, die Magwitchs Rückkehr behandelt. Magwitchs Ankunft bei Pip spielt sich im Roman recht gemächlich ab: "There is some one down there, is there not?" I called out, looking down. "Yes," said a voice from the darkness beneath. […] "Do you wish to come in?" "Yes," he replied; "I wish to come in, Master." I had asked him the question inhospitably enough, for I resented the sort of bright and gratified recognition that still shone in his face. [...] I saw him next moment, once more holding out both his hands to me. "What do you mean?" said I, half suspecting him to be mad. [...] "There's no one nigh," said he, looking over his shoulder, "is there?" "Why do you, a stranger coming into my rooms at this time of night, ask that question?" said I. "You're a game one," he returned, shaking his head at me with a deliberate affection, at once most unintelligible and most exasperating; "I'm glad you've grow'd up, a game one! But don't catch hold of me. You'd be sorry arterwards to have done it." I relinquished the intention he had detected, for I knew him! (GE 314f.). 167
Sind hier im Text durchaus gewisse Anzeichen einer Nervosität seitens Pip vorhanden, so bleibt er dennoch stets Herr der Situation, während sich Magwitch denkbar höflich verhält. In der Verfilmung wird Magwitchs Rückkehr wesentlich bedrohlicher dargestellt. Pip öffnet Magwitch keineswegs freiwillig die Tür, dieser steht vielmehr plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm. Die dramatische Spannung, die diese Szene erzeugt, wird von entsprechender Musik untermalt: Pip (panisch, während Magwitch langsam und mit finsterem Gesichtsausdruck auf ihn zugeht): "Who are you? (Schreiend:) Watchman!" Magwitch (hält ihm den Mund zu, Pip heult auf): "I was sent for life. You understand? It's death to come back. If took, I should of a certainty be hanged. Do you understand? Huh? ( immt die Hand von Pips Mund.) Pip (sich fassend): "I understand. I understand your desperation." Magwitch: "Pip, then you understand what I risked for you. Huh?" Pip: "Me? Me? What are you to me?" Magwitch: "You're the child that acted noble to me. And I have never forgot [sic] it, Pip." Pip (sich aufrichtend, ihn erkennend, dennoch leicht ungläubig): "You?" (2. Folge). Ähnlich wie in der Cuarón Verfilmung ist auch in der vorliegenden BBC Verfilmung erkennbar, dass gegenüber der Romanvorlage signifikante Änderungen an der Charakterisierung einzelner Figuren vorgenommen wurden. Dies betrifft in diesem Fall insbesondere die Figuren Pip, Joe und Estella. Gemäβ dem Postulat, dass die Protagonisten mehrheitsfähiger Filmproduktionen sich kohärent und möglichst auch sympathisch durch die Handlung bewegen sollten, erscheint die Hauptfigur Pip auch hier sympathischer als im Roman, da die Arroganz, die sich im Roman als Folge seines wirtschaftlichen Aufstiegs einstellt, heruntergespielt wird. Dies wird vor allem dadurch erreicht, dass jene Szene, in der Joe Pip in London aufsucht, um ihm die Nachricht vom Tod von dessen Mutter zu überbringen, komplett entfällt, während sie in der Verfilmung von Cuarón noch umgesetzt worden war. Was Joe anbelangt, so wird er vom Ich Erzähler Pip im Roman als "mild, good natured, sweet tempered, easy going, foolish, dear fellow" (GE, 8) charakterisiert. "I always treated him as a larger species of child, and as no more than my equal" (GE, 9).94 In der Verfilmung wird Joes Gutmütigkeit zwar beibehalten, statt kindlich und tollpatschig erscheint er jedoch zuweilen recht energisch und zupackend – wohl in der Annahme, dass sich ein allzu naiver und kindlicher Joe für ein zeitgenössisches Publikum nicht als Sympathieträger eignen würde. So wird auf Äußerungen oder Verhaltensweisen Joes, die ihn als allzu kindlich oder
94 Auch in der Forschung zum Roman wird Joes Kindlichkeit wiederholt betont (vgl. Ginsbury 1984, 15 und Stange 1990, 67). 168 einfältig erscheinen lassen könnten, verzichtet – etwa in jener Szene, in der Joe und Pip bei Miss Havisham vorsprechen, und in der sich Pip zum ersten Mal durch Joes Auftreten blamiert fühlt: "It was very aggravating; but, throughout the interview Joe persisted in addressing Me instead of Miss Havisham" (GE, 100). Diese Ungeschliffenheit Joes wird in der Verfilmung ausgeglichen. Zwar wendet sich Joe im Begriff, auf eine Frage von Miss Havisham zu antworten, an einer Stelle an Pip, bemerkt seinen Fehler aber sofort selbst und korrigiert ihn. In anderen Szenen der Verfilmung ist Joes Tonfall wesentlich energischer als der Roman vermuten ließe. Dies betrifft etwa jene Szene, in der Pip darüber nachdenkt, Miss Havisham einen Besuch abzustatten, nachdem er mehrere Jahre als Joes Lehrling zugebracht hat: "You see, Pip," Joe pursued […] "Miss Havisham done the handsome thing by you. When Miss Havisham done the handsome thing by you, she called me back to say to me that were all." "Yes, Joe. I heard her." "ALL," Joe repeated, very emphatically. "Yes, Joe, I tell you, I heard her." [...] In brief, Joe thought that if I thought well of it, he thought well of it. But, he was particular in stipulating that if I were not received with cordiality, or if I were not encouraged to repeat my visit as a visit which had no ulterior object but was simply one of gratitude for a favour received, then this experimental trip should have no successor. By these conditions I promised to abide (GE, 110ff.). In der Verfilmung erscheint Joe an dieser Stelle wesentlich weniger geduldig als im Originaltext: Joe (bei der Arbeit, erregt, mit lauter Stimme): "Miss Havisham done the handsome thing by you, Pip. And when Miss Havisham done the handsome thing by you, she said that that were all!" Pip (ebenfalls erregt): "But Joe..." Joe: "All, Pip." Pip: "Since the day of my being bound, I never thanked Miss Havisham or asked after her or shown that I remember her. And today is her birthday, Joe! The day on which..." Joe (hält bei der Arbeit inne, richtet sich auf, atmet tief durch): "Very well, then. But no more trips after this one!" (1. Folge). Was Estella anbelangt, so ergibt sich ein komplexeres Bild. An ihr werden in zweierlei Hinsicht Veränderungen vorgenommen. Während Lyn Pykett (2002, 170) die Estella, die dem Leser im Roman begegnet, als "elusive character, apparently lacking autonomy" beschreibt, werden in der Verfilmung sowohl die kindliche als auch die erwachsene Estella als wesentlich unabhängiger vom Willen Miss Havishams dargestellt als im Roman. Dies zeigt besonders deutlich eine Szene in der Verfilmung, die auf der folgenden Szene im 169
Roman basiert. Pip berichtet von dem Lied Old Clem, das Joe ihm einst beibrachte, und das er während einem seiner Besuche bei Miss Havisham auf deren Aufforderung hin, ihr etwas vorzusingen, anstimmt: "After that, it became customary with us to have it as we moved about, and Estella would often join in" (GE, 95f.). Das Drehbuch der Verfilmung gesteht Estella im Zusammenhang eine wesentlich aktivere Rolle zu als der Roman. Dies beginnt damit, dass sie Pip dazu auffordert, das Lied vor Miss Havisham darzubieten, um sich über ihn lustig machen zu können, nachdem sie es ihn bei einem seiner früheren Besuche vor sich hinsingen hat hören. Auf Miss Havishams Aufforderung, in den Gesang miteinzustimmen, reagiert sie wie folgt: Estella (singt zunächst mit, dann): "But I'm not supposed to join in, neither of us! I thought we were supposed to laugh! I don't understand this! (Steht auf, zu Pip:) It is a blacksmith's church! It is a song to use for hammering with your coarse, clumsy hands!" (Verlässt rennend den Raum, knallt mit der Tür) (1. Folge). Estellas Selbstbestimmtheit als Erwachsene in der Verfilmung zeigt sich schon darin, dass sie anders im Roman in der Verfilmung Pip gegenüber nur einziges Mal andeutet, unter Anleitung von Miss Havisham zu handeln. Diese Unabhängigkeit Estellas wird dadurch besonders offensichtlich, dass die Szene aus dem Roman, in der Estella und Miss Havisham aneinander geraten (vgl. GE, 303ff.), in der Verfilmung nicht nur bewusst beibehalten wird, sondern noch zusätzlich mit der Szene kombiniert wird, in der Estella Pip von ihrem Entschluss in Kenntnis setzt, Bentley Drummle zu ehelichen. Auch im Roman betont Estella, dass sie diesen Entschluss eigenständig gefasst hat. Sie äußert Pip gegenüber: "Why do you injuriously introduce the name of my mother by adoption? It is my own act. [...] As to leading me into what you call this fatal step, Miss Havisham would have had me wait, and not marry yet; but I am tired of the life I have led, which has very few charms for me, and I am willing enough to change it" (GE, 364). Im Roman finden sich jedoch keinerlei Anzeichen dafür, dass Miss Havisham Estellas Entschluss missbilligen würde – im Gegenteil, Pip macht im Anschluss an Estellas Ankündigung ihrer bevorstehenden Heirat eine Beobachtung, die nahelegt, dass Miss Havisham diese Entscheidung Estellas als willkommene Möglichkeit begreift, ihn erneut zu demütigen: "When I raised my face again, there was such a ghastly look upon Miss Havisham's, that it impressed me, even in my passionate hurry and grief" (GE, 363). In der Verfilmung hingegen wird Miss Havisham von Estellas Offenbarung ebenso überrascht wie Pip: Pip: "I've just seen Drummle." Estella: "I'm going to marry him." Miss Havisham: "And not tell me? And not inform me? You ingrate!" Estella: "I planned to, presently. It is the reason for this visit. But it is my own act, and 170
that is something long overdue" (2. Folge). Dass Estella hier wesentlich weniger fremdbestimmt erscheint als im Roman könnte damit zusammenhängen, dass eine selbstbestimmte Estella wesentlich besser mit dem zur Entstehungszeit der Verfilmung vorherrschenden Frauenbild in Einklang gebracht werden kann. In diesem Zusammenhang mag auch die Tatsache eine Rolle spielen, dass die Produzenten des Kostümdramas britischer Machart, wie bereits gezeigt wurde, den Bedürfnissen ihres weiblichen Publikum zumeist besondere Aufmerksamkeit widmen. Allerdings wird die erwachsene Estella in der Verfilmung nicht nur als im Vergleich zur Romanvorlage unabhängiger dargestellt, sondern, ebenso wie der männliche Protagonist Pip, auch als sympathischer und – im wahrsten Sinne des Wortes – liebenswürdiger. In jener Szene, in der sie Pip gegenüber ihre Heirat mit Drummle ankündigt, zeigt sie schon im Roman leichte Anzeichen von Mitgefühl. Wie der Ich Erzähler Pip darlegt, macht sie diese Ankündigung "in a gentler voice" (GE, 363). Zudem lassen einige ihrer sich dieser Ankündigung anschließenden Äußerungen durchaus das Bemühen erkennen, Pip zu trösten: "O Estella!" I answered, as my bitter tears fell fast on her hand, do what I would to restrain them; "even if I remained in England and could hold my head up with the rest, how could I see you Drummle's wife!" "Nonsense," she returned, "nonsense. This will pass in no time." "Never, Estella!" "You will get me out of your thoughts in a week" (GE, 364). In der entsprechenden Film Szene betont Estella noch deutlicher ihre Meinung, ihre Entscheidung für Bentley Drummle sei zu Pips Bestem. Zudem wird ihre vorgebliche Gefühllosigkeit bis zu einem gewissen Grad dadurch konterkariert, dass nicht nur Pip die Tränen in den Augen stehen, sondern auch ihr: Pip: "And so the man who loves you is to be rejected by you." Estella: "The man who loves me will no longer be disappointed by me, tormented by me!" Pip: "I will always be tormented by you!" Estella: "Nonsense. It will pass in a week." Pip (lauter werdend): "To the last hour of my life." Estella (beginnt zu weinen, während Pip auf sie zustürzt, um sie zu umarmen): "No, I cannot comprehend! (Sich fassend, wieder mit ruhigerer Stimme) I cannot comprehend. I have a heart to be stabbed in or shot in, Pip, nothing more. I did try to warn you of this" (2. Folge). In diesem Zusammenhang lässt sich auch noch einmal die bereits zitierte, der Verfilmung von Drehbuchautor Tony Marchant hinzugefügte Szene nennen, in der Pip Estella nach ihrer Heirat noch einmal aufsucht, und sie ihn zwar nicht einlässt, aber mit betrübter Miene am Fenster erscheint und ihm nachblickt. Auch diese Szene trägt dazu bei, Estella mitfühlender 171 und sympathischer erscheinen zu lassen als in der Verfilmung. Die Szene, die diese Verfilmung beschlieβt, basiert, wie das Ende der Cuarón Verfilmung, auf Dickens' überarbeitetem Romanende. Nach Auskunft von Russell Baker, der im amerikanischen Fernsehen jeweils eine kurze Einführung in die beiden Teile der Verfilmung gab und auch nach Ende der zweiten Folge noch einmal das Wort an die Zuschauer richtete, sollte die Ambiguität dieses zweiten Endes in der Verfilmung dezidiert beibehalten werden (vgl. Ende der 2. Folge auf der amerikanischen DVD Ausgabe). Das Ende der Adaption weist zwar durchaus eine gewisse Ambiguität auf, die zudem dadurch unterstrichen wird, dass die entsprechende Szene im Hauptmenü der DVD Ausgabe mit dem Titel "Happily Ever After?" überschrieben wurde. Dennoch wurden bei der Konzeption des Filmausgangs signifikante Veränderungen an Dickens' Text vorgenommen. Diese Eingriffe bewirken, dass man insgesamt hier doch von einer 'Romantisierung' des Endes sprechen kann, die durch Estellas bereits diskutierte gesteigerte Liebenswürdigkeit im zweiten Teil der Verfilmung vorbereitet und motiviert wird, und die insgesamt weniger zweideutig anmutet als die von Alfonso Cuarón verwendete Fassung. Außerdem wird das Geschehen dahingehend vereindeutigt, dass das neuerliche Zusammentreffen zwischen Pip und Estella besser motiviert wird als im Roman und somit glaubhafter und überzeugender wirkt. Estella stattet dem zur Ruine verfallenen Satis House nicht wie im Roman einen letzten Besuch ab, sondern hat sich in der Verfilmung in dem keinesfalls ruinenhaften Gebäude häuslich niedergelassen, das sie nach dem Ableben von Miss Havisham erbte. Dort sucht Pip sie auf:95 Pip: "Tell me you are as unhappy as I have been, Estella. Tell me that Drummle made you suffer and you are suffering still. (Estella läuft eine Träne über die Wange.) Tell me!" Melodramatische Musik setzt ein, Estella beginnt zu schluchzen, Pip nimmt sie in die Arme, sie verbirgt ihr Gesicht an seiner Schulter. Pip: "Now you know what my heart has been." Sie küssen einander, bis Estella sich von Pip losmacht. Estella: "We cannot do this." Pip: "No. I should go." Estella: "Go where? Do we have to part again simply because we cannot act on our love for each other? Do we have to be deprived of our company, too?" Szenenwechsel. Pip und Estella sitzen am Tisch und spielen Karten.
95 Durch die hier zu beobachtende stärkere Motivierung des erneuten Zusammentreffens zwischen Pip und Estella wird eine Schwäche des überarbeiteten Romanendes behoben, auf die Edgar Rosenberg (1981, 106) hingewiesen hat: "The meeting in Picadilly [which constitutes the first ending] is always called an accident. On empirical grounds alone [...] the Picadilly meeting is of course no such thing. You are much more likely, after an eight years' absence, to run into an old chum at a time and in a place entirely disconnected from local associations in the past than to collide with him, as Pip collides with Estella – of all places and all nights – in the very spot from which, after years of childhood togetherness, they have both been separated for years, in the very nick of time, on the eve of Estella's last visit."
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Pip (lächelnd): "Is that a knave or a Jack? For I wouldn't wish to be laughed at." Estella: "Call it what you will." Pip: "I shall." Estella: "When you visit next, you should send word of your intent to come, otherwise I may be out, or simply too busy." Pip: "It's impossible to say when I shall next be here. I have to work for a living." Die Kamera entfernt sich von Estella und Pip, die weiterhin Karten spielen. ach einer Weile, nachdem weitere Karten gelegt wurden, lachen beide entspannt und befreit (2. Folge). Während es im Roman in der Tat als Missverständnis seitens Pip interpretiert werden kann, wenn er aus Estellas Worten: "And will continue friends apart" (GE, 484) schließt: "I saw the shadow of no parting from her" (ebd.), so findet hier immerhin ein Kuss zwischen Estella und Pip statt, Estella spricht zudem gar gegenseitiger Liebe, und auch die beiderseitige Koketterie beim gemeinsamen Kartenspiel, das die Szene beschließt, scheint darauf hinzudeuten, dass sich zwischen Estella und Pip nun doch etwas anbahnen könnte. Trotz dieser hier analysierten Maβnahmen, die das populäre Potential der Verfilmung erhöhen, ist anzumerken, dass zum vollständigen Verständnis der Verfilmung eine relativ genaue Kenntnis des Romans und seines zeitgeschichtlichen Hintergrunds notwendig ist. Durch einige der Straffungen, die nötig waren, um den Stoff des ca. 500 seitigen Romans auf eine Filmlänge von etwa drei Stunden zu kürzen, sind im Fall der vorliegenden Verfilmung Leerstellen entstanden, die nicht durch dem Drehbuch hinzugefügte erklärende Szenen ausgeglichen werden. Vielmehr muss der Zuschauer sie aus seiner Kenntnis des Romaninhalts ausfüllen, um die Handlung der Verfilmung richtig deuten zu können.96 Hierfür seien einige Beispiele angeführt. In der Verfilmung begegnet Pip dem Anwalt Jaggers nicht wie im Roman während einer seiner Besuche bei Miss Havisham (vgl. GE, 83), sondern trifft ihn zum ersten Mal, als Jaggers ihn und Joe aufsucht, um Pip die Botschaft von seinen great expectations zu überbringen (vgl. 1. Folge). Als Pip daraufhin Miss Havisham einen Besuch abstattet, um sich von ihr zu verabschieden und sich zumindest indirekt dafür zu bedanken, dass sie ihm – wie er annimmt – zu diesen great expectations verholfen hat, äußert sie mit der nahezu selben Wortwahl wie im Roman: "I've seen Jaggers. I know all about it" (1. Folge). Diese en passant eingestreute Bemerkung ist der einzige Hinweis darauf, dass zwischen Jaggers und Miss Havisham eine Verbindung besteht. Pips felsenfeste Überzeugung, dass es sich bei Miss Havisham um seine geheime Wohltäterin handelt, ist somit für den Zuschauer der Verfilmung weniger leicht nachvollziehbar – es sei denn, er nimmt an dieser Stelle eine Ergänzung aus seiner Kenntnis des Romans vor. Ein weiteres
96 Diese Leerstellen sind auch nicht mit denjenigen vergleichbar, die in einem früheren Kapitel der vorliegenden Arbeit als charakteristisch für Texte mit populärem Potential bezeichnet wurden. 173
Beispiel findet sich in der filmischen Umsetzung der Wahnvorstellung, von der der überreizte Pip am Ende seines ersten Besuches bei Miss Havisham heimgesucht wird: I turned my eyes – a little dimmed by looking up at the frosty light – towards a great wooden beam in a low nook of the building near me on my right hand, and I saw a figure hanging there by the neck. A figure all in yellow white, with but one shoe to the feet; and it hung so, [sic] that I could see that the faded trimmings of the dress were like earthy paper, and that the face was Miss Havisham's, with a movement going over the whole countenance as if she were trying to call to me. In the terror of seeing the figure, and in the terror of being certain that it had not been there a moment before, I at first ran from it, and then ran towards it. And my terror was greatest of all, when I found no figure there (GE, 64). Bei der Verfilmung dieser Szene wurde auf jegliche Art von Verfremdung komplett verzichtet (1. Folge). Somit besteht im Falle des des Romans unkundigen Zuschauers zumindest die Möglichkeit, dass er Miss Havisham tatsächlich für tot hält – zumal Pip, als er vor der am Strick hängenden Miss Havisham davonrennt, der wirklichen Estella in die Arme läuft. Auch spezifisch viktorianische Elemente, die in den übrigen hier diskutierten Adaptionen tendenziell eher entfallen, wurden in dieser Adaption weder verdeutlicht noch ausgespart. Auch in sprachlicher Hinsicht wird weniger vereinfacht bzw. aktualisiert als in den meisten der übrigen Beispiele. So wird die Tatsache, dass Magwitchs Besitztümer laut viktorianischer Gesetzgebung nach dessen Rückkehr und Tod vom britischen Staat eingezogen würden, in der Verfilmung mit derselben Formulierung wie im Roman umschrieben: "[B]eing convicted, his possessions would be forfeited to the Crown" (GE, 447). Auch Pips Äußerung gegenüber Drummle, nachdem dieser bei einer Versammlung der Vereinigung finches of the grove einen Toast auf Estella ausgesprochen hat, "I made him the reply that I believed he knew where I was to be found" (GE, 309), wird wörtlich übernommen und lediglich von der indirekten in die direkte Rede übertragen (vgl. 2. Folge).97 Die vorliegende Verfilmung hebt sich auch dadurch von der Mehrzahl der hier analysierten Adaptionen ab, dass sie die situationskomischen Szenen des Romans nahezu vollständig ausspart. Wie Robert Giddings (n.d.1) bemerkt: "[N]o fun with bread and butter at the table, no Trabbs's Boy, no Joe in London, no Wopsle's Hamlet." Pumblechook, den Julian Moynahan (1990, 82) als "parody patron, [whose] comic chastisement is one of the most satisfying things in the book" bezeichnet und der sicher eine der komischsten Figuren des Romans darstellt, taucht zwar auch in der Verfilmung auf, jene Szenen, in denen er Pip mit Rechenaufgaben quält (GE, 53ff.) und sich als Pips "earliest patron and the founder of [his] fortunes" (GE, 231) aufspielt, entfallen jedoch. Dadurch gerät auch Pumblechook zu
97 Dass es sich bei dieser Äußerung um eine Herausforderung zu einem Duell handelt, wird von der Herausgeberin der Penguin Ausgabe des Romans in einer Fußnote erläutert (vgl. GE, 501). 174 einer recht blässlichen und nichtssagenden Figur.
4.2.3.2 Resümee Wie aus der Analyse bereits deutlich geworden sein dürfte, ist das populäre Potential der BBC Verfilmung von Great Expectations auf jeden Fall geringer zu veranschlagen als das der zuvor diskutierten Verfilmung von Alfonso Cuarón. Zwar werden wiederum für ein zeitgenössisches Publikum relevante Themenbereiche betont, nämlich erneut die Liebesgeschichte zwischen Pip und Estella sowie die Entschlüsselung des Geheimnisses um Estellas Herkunft. Zudem wird das Geschehen zur Erleichterung der Rezeption an einigen Stellen vereindeutigt, sowie die Dramatik bestimmter Szenen verstärkt und auch mitunter die Spannung erhöht. Auch werden die Charakterisierungen einiger Figuren aktualisiert, bzw. wird im Fall der beiden Hauptfiguren deren Sympathieträger Potential verstärkt. Das Ende der Verfilmung ist zudem stärker 'romantisiert' als die von Alfonso Cuarón verwendete Schlussvariante. Daneben weist die Verfilmung aber auch Elemente auf, dank derer sie sich, was das populäre Potential anbelangt, von der Mehrzahl der übrigen hier diskutierten Verfilmungen abhebt: Die angesprochenen Leerstellen, die der Zuschauer aus seiner Kenntnis des Romaninhalts füllen muss sowie die Beibehaltung einzelner Details, deren Rezeption nur dem Kenner des Romans einen Genuss bereiten dürften. Zudem ist in diesem Zusammenhang die Aussparung der komischen und humoristischen Elemente des Romans signifikant. Solche Elemente werden in den meisten der übrigen hier noch zu diskutierenden Verfilmungen tendenziell eher verstärkt als vernachlässigt. Aufgrund dieser Elemente ist das populäre Potential dieser Verfilmung auch als geringer einzustufen als das der zuvor diskutierten BBC Verfilmung des Romans Martin Chuzzlewit. Der seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachtende Trend von Klassikerverfilmungen in Richtung Mainstream setzte sich also mit dieser Verfilmung nur bedingt fort, was sich auch daran erkennen lässt, dass die Adaption auf BBC2 ausgestrahlt wurde, für das hinsichtlich der zu erreichenden Einschaltquoten andere Maβstäbe gelten als für das erste Programm der BBC (vgl. Abschnitt 4.1.2.).
175
4.2.4 icholas ickleby (ITV, 2001) Bei dieser Adaption handelt es sich um eine Fernsehproduktion mit einer Länge von ca. 3 Stunden und 20 Minuten, die im April 2001 in zwei Teilen auf dem britischen Privatsender ITV ausgestrahlt wurde. Vom Genre her betrachtet ist diese Adaption also von den bereits diskutierten Produktionen mit der BBC Verfilmung von Great Expectations vergleichbar. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die vorliegende Produktion für einen Privat Sender hergestellt wurde, für den Einschaltquoten eine gröβere Bedeutung haben als für die öffentlich rechtliche Sendeanstalt BBC (vgl. Abschnitt 4.1.2.)
4.2.4.1 Entstehung und Inhalt des Romans und dessen Relevanz für ein heutiges Publikum icholas ickleby war nach The Pickwick Papers und Oliver Twist Dickens' dritter Roman. Wie zuvor schon The Pickwick Papers wurde er in 19 monatlichen Fortsetzungen veröffentlicht, deren erste im März 1838 erschien. Das letzte instalment kam im September 1839 auf den Markt. Wie schon im Fall des Vorgänger Romans Oliver Twist beabsichtigte Dickens, mit seiner neuen Veröffentlichung einen gesellschaftlichen Missstand anzuprangern. Sein Unmut richtete sich gegen die sogenannten Yorkshire Schools, die Eltern die Möglichkeit boten, uneheliche oder aus anderen Gründen ungewollte Kinder abzuschieben. In vielen solcher Yorkshire Schools wurden die Kinder dann physisch und psychisch misshandelt, eine fundierte Ausbildung wurde ihnen vorenthalten. Im Mittelpunkt der Handlung des Romans stehen der 19jährige Nicholas Nickleby und seine jüngere Schwester Kate, die zusammen mit ihrer Mutter nach dem Tod des Vaters mittellos zurückbleiben. Gemeinsam bitten sie Ralph Nickleby, den Bruder des Vaters, um Hilfe. Ralph Nickleby, der aufgrund unseriöser Geschäfte über ein beachtliches Vermögen verfügt, verschafft Nicholas eine Stelle als Hilfslehrer in einem Internat mit dem Namen Dotheboys Hall. Kate erhält eine Anstellung als Näherin im Etablissment der Madame Mantalini. Das Ehepaar Squeers entpuppt sich im Umgang mit den seiner Obhut überlassenen Schülern als äuβerst brutal. Squeers' unattraktive Tochter Fanny macht Nicholas Avancen und lädt ihn zusammen mit ihrer Freundin Tilda und deren Verlobten John Browdie zum Tee ein. Es kommt zum Eklat, als Nicholas vor aller Augen heftig mit Tilda flirtet. Nicholas fällt es zunehmend schwerer mitanzusehen, wie die Kinder misshandelt werden. Schlieβlich greift er ein und schlägt Squeers zu Boden, als dieser auf den körperlich und geistig unterentwickelten Smike losgeht, mit dem sich Nicholas zögerlich angefreundet hat. Nicholas und Smike ergreifen die Flucht und treffen auf das wandernde Schauspielensemble der Familie Crummles. Mr. Crummles bietet beiden eine Beschäftigung an. Nicholas gibt in einer 176
Produktion von Romeo and Juliet daraufhin den Romeo, Smike übernimmt die Rolle des Apothekers. Zwischenzeitlich gerät Kate in den Fängen ihres Onkels in groβe Bedrängnis: Ralph Nickleby, unter anderem als Wucherer tätigt, benützt sie als Köder für potentielle Kunden. So sieht sich Kate den Zudringlichkeiten Sir Mulberry Hawks und Lord Frederick Verisophts ausgesetzt. Newman Noggs, Ralphs Sekretär, setzt Nicholas schriftlich von diesen Vorgängen in Kenntnis, woraufhin dieser zusammen mit Smike kurzerhand sein Engagement bei der Crummles Familie kündigt und nach London reist. Dort stellt er seinen Onkel zur Rede, wenig später entzweien sich Hawk und Verisopht und es kommt zu einem Duell, bei dem Verisopht unterliegt. Nicholas findet eine Anstellung bei den groβzügigen Cheeryble Brothers. Deren Neffe Frank wirft ein Auge auf Kate Nickleby, während sich Nicholas in Madeline Bray verliebt, deren Vater Ralph Nickleby einen beträchtlichen Geldbetrag schuldet. Ralph bietet Madeline an, ihrem Vater die Schuld unter der Bedingung zu erlassen, dass sie den greisen, widerwärtigen Arthur Gride heiratet. Madeline fügt sich in ihr Schicksal, Nicholas versucht erfolglos, bei Gride zu intervenieren. Am Tag der geplanten Hochzeit erscheint er mit Kate vor Ort, um einen letzten Versuch zu unternehmen, die Heirat zu verhindern. Der Zufall eilt ihm zu Hilfe: Bevor die Heirat vollzogen werden kann, stirbt Madelines Vater. Nicholas vertraut die daraufhin psychisch angeschlagene Madeline der Obhut seiner Schwester und seiner Mutter an. Zwischenzeitlich kidnappt Squeers Smike, der jedoch befreit wird und sich in Nicholas' Obhut zurückbegibt. Allerdings stirbt er wenig später an Tuberkulose. Ralph Nickleby erleidet groβe finanzielle Verluste und erfährt, dass es sich bei Smike um seinen Sohn handelte. Er erkennt sein Versagen und erhängt sich. Nicholas und Madeline heiraten, ebenso Kate und Frank. Robert Giddings (n.d.4) betont die fortdauernde Attraktivität dieses Stoffes für Filmschaffende: Even though much of its contemporary relevance is lost today, icholas ickleby obviously tempted filmmakers from the very beginning, has several times been serialized on British television and brilliantly dramatized for the stage by David Edgar for the Royal Shakespeare Company in 1982. Giddings (ebd.) sucht nach Gründen für dieses beständige Interesse an der Handlung des Romans und betont die Relevanz, den der Plot auch für ein zeitgenössisches Publikum aufweist – auch wenn er seit seinem Erscheinen einiges an Aktualität eingebüßt haben mag: Dickens's writing [...] was [...] firmly rooted in realities. But those realities have now gone. Such institutions have disappeared long ago, and yet the scenes at Dotheboys Hall continue to make an impact upon the imagination because they have passed beyond the factual reforming propaganda originally intended and into the realms of the archetypal and mythological, symbolically representing for all time the 177
barbaric authoritarian treatment of the young and helpless. Als weiteres Beispiel für die Universalität einiger der Themen des Romans nennt Giddings (ebd.) einen der Handlungsstränge rund um die Figur Kate Nickleby: [T]here's the way in which Ralph tries to 'help' Kate Nickleby. In the novel he suggests that Kate seeks employment with Mrs. Mantalini, the milliner. The real meaning of this, that Dickens's readers would understand immediately, is probably lost to modern readers. Milliners shops were notoriously where gentlemen picked up prostitutes [sic]. Milliners apprentices frequently supplemented their modest income with this additional trade. [...] An audience today may not specifically apprehend the real villainy in Uncle Ralph's proposal for his young fourteen year old niece, but they will respond with disgust at Sir Mulberry Hawk's vile and suggestive behaviour.
4.2.4.2 Das populäre Potential der Verfilmung Ähnlich wie dies bereits für den Roman Martin Chuzzlewit festgestellt wurde, beginnt auch icholas ickleby recht ausholend. An den Anfang dieses Romans setzt Dickens ein handlungsarmes Kapitel, das das Schicksal der Nickleby Familie über mehrere Generationen hinweg nachzeichnet, das darauffolgende zweite Kapitel hat einige geschäftliche Aktivitäten Ralph Nicklebys zum Inhalt. Für die Verfilmung wurde wiederum ein Einstieg in medias res gewählt: Die Handlung setzt mit der Beerdigung von Nicholas Nickleby senior ein, womit die Kalamitäten seiner Frau und seiner Kinder, die gewissermaβen das Thema des Romans bilden, ihren Anfang nehmen. Auf jegliche Art von Vorgeschichte wird verzichtet. Temporeich gestaltet sich die Verfilmung auch in ihrem weiteren Verlauf, und zwar in deutlich stärkerer Ausprägung als die zuvor diskutierten Fernsehverfilmungen von Martin Chuzzlewit und Great Expectations. "The direction [...] swept things along. Scene followed scene, and sequences flashed by as the drama was taken at a good rattling pace", bemerkt Giddings (n.d.3) in seiner Rezension der Verfilmung. Wie bereits dargelegt wurde, wirkt sich ein häufiger Szenenwechsel sowie ein rasches Alternieren zwischen einzelnen Handlungssträngen für den Zuschauer insofern rezeptionserleichternd aus, als sie es ihm ersparen, seine Konzentration über eine längere Zeitspanne hinweg auf einen einzelnen Gegenstand zu richten. Zudem beugt das schnelle Tempo, das durch die rasche Szenenfolge entsteht, dem Aufkommen von Langeweile vor. Betont werden in dieser Adaption die Romanzen, die Entschlüsselung des Geheimnisses um Smikes Herkunft, zudem die komischen Elemente der Handlung. Der Handlungsstrang rund um Madeline und Nicholas nimmt auch in dieser Verfilmung einen beachtlichen Raum ein und wird durch zusätzliche Szenen erweitert. Dickens' Erzähler deutet wiederholte Begegnungen zwischen Nicholas und Madeline nach dem ersten 178
Zusammentreffen im General Agency Office lediglich an: Nicholas, absorbed in the one engrossing subject of interest which had recently opened upon him, occupied his leisure hours with thoughts of Madeline Bray, and, in execution of the commissions which the anxiety of Brother Charles in her behalf imposed upon him, saw her again and again, and each time with greater danger to his peace of mind ( , 601). Drehbuchautor Martyn Edward Hesford baut eine dieser Zusammenkünfte zu einer zusätzlichen Szene aus: Nicholas: "May I walk with you, Madeline?" Madeline: "Yes. (Lächelt etwas verlegen.) I'd like that very much." ( icholas lächelt zurück, sie machen sich auf den Weg.) Madeline: "Nicholas, when you acted on the stage, what parts did you play?" Nicholas: "Romantic." (Madeline lächelt vor sich hin.) "Do you find that amusing?" Madeline: "No, I should like to have seen it." Nicholas: "Then you shall. (Beginnt zu rezitieren): Soft, what light through yonder window breaks. It is the east, and Madeline is the sun." Madeline strahlt ihn an, berührt ihn schlieβlich am Arm. Nicholas: "She laughs. Oh, laugh again, bright angel." (Beide gehen Arm in Arm weiter.) An diesem Dialog lässt sich eine leichte sprachliche Aktualisierung daran erkennen, dass Nicholas und Madeline einander hier beim Vornamen nennen und sich nicht wie im Roman mit 'sir' bzw. 'ma'am' anreden. Während Hesford in vielen der übrigen, auf Vorlagen aus dem Roman basierenden Szenen der Verfilmung das Bemühen erkennen lässt, die viktorianische Diktion beizubehalten, wäre dieser Dialog sprachlich auch ohne Weiteres in einer zeitgenössichen, mainstream orientierten Film oder Fernsehproduktionen mit zeitgenössischem Setting vorstellbar.98 Auβerdem kommt es in der Verfilmung, nachdem Madelines Heirat mit Arthur Gride vereitelt wurde, zu einer 'offiziellen' Liebeserklärung zwischen Madeline und Nicholas, die sich nicht im Roman findet: Madeline: "I told you once, if circumstances were different... Well, they are different now, Nicholas." Nicholas: "Not for me. I have nothing I can offer you." Madeline: "Except yourself." Nicholas: "I don't know what to say." Madeline: "Say you feel the same?" Nicholas: "I do. I love you." Madeline: "I love you, Nicholas Nickleby." (Sie küssen einander.) Beachtenswert ist, dass sich in diesen Dialog Aktualität einschleicht, indem die
98 Besonders Madelines Antwort "I'd like that very much", als Nicholas ihr seine Begleitung anträgt, erinnert an zeitgenössische, populäre Filmproduktionen. In der im Jahr 1999 erschienenen Hollywood Komödie Three to Tango äuβert Neve Campbell Matthew Perry gegenüber beim gemeinsamen Anschauen eines Filmes: "You know there is this thing I've noticed: In the movies whenever a guy asks a girl out, she always says: 'I'd like that.' I’ve never heard anyone say that in real life ever." 179
Liebeserklärung von Madeline ausgeht, was in einem viktorianischen Kontext kaum denkbar gewesen wäre.99 Smikes Zuneigung zu Kate wird in der Verfilmung ebenfalls durch eine zusätzliche Szene verdeutlicht: Smike sitzt in Gegenwart von Kate und Mrs. Nickleby Modell für Miss La Creevy. In den Dialog werden Äuβerungen von Mrs. Nickleby und Kate aus einem früheren Kapitel eingeflochten (vgl. , 426): Mrs. Nickleby: "You're from Yorkshire, I understand, Mr. Smike." Smike: "Yes, ma'am." Mrs. Nickleby: "Have you ever dined with the Grimbles at Grimbles Hall?" […] Kate (lächelt nachsichtig): "My dear mother, do you suppose Smike, living at Dotheboys Hall is likely to receive many invitations from the nobility?" (Die Kamera folgt Smikes Blick, der sich auf Kate richtet, und zeigt ihr Gesicht in Groβaufnahme. Gleichzeitig setzen dieselben romantischen Klänge ein, die auch zur Untermalung der Begegnungen zwischen icholas und Madeline verwendet werden.) Miss La Creevy (zu Smike): "Head up, dear." Mrs. Nickleby: "Don't see why not." Miss La Creevy (zu Smike): "Head down a little." Mrs. Nickleby: "When I went to school I always went at least twice a year to the Toolies at Taunton Vale and they were a great deal richer than the Grimbles at Grimble Hall." (Während dieses Satzes von Mrs. ickleby folgt die Kamera erneut Smikes auf Kate gerichteten Blick, ihr Gesicht erscheint wiederum in Groβaufnahme, sie lächelt Smike zu. Gleichzeitig wird die romantische Musik lauter, Mrs. icklebys Stimme rückt dadurch in den Hintergrund. Danach richtet sich die Kamera wieder auf Smike, der leicht verwirrt wirkt.) Miss La Creevy (zu Smike): "Head to the side, my dear." Und auch Smikes Eifersucht auf Frank Cheeryble wird betont. Zwar deutet Dickens' Erzähler im Roman an mehreren Stellen an, dass Smike romantische Gefühle für Kate hegt, diese Hinweise sind jedoch vor dem Hintergrund der zahlreichen anderen Ereignisse leicht zu übersehen (vgl. etwa . 486f.). Die folgende Szene spielt sich im Vorgarten des Hauses ab, in dem Mrs. Nickleby und Kate wohnen: Frank: "I don't suppose you'd like to join me for a walk, Miss Nickleby." Mrs. Nickleby: "I'll watch over Madeline, my dear." Kate: "Yes, Mr. Cheeryble, I would." Frank (erfreut): "You would? Good." (Reicht ihr den Arm, sie gehen Arm in Arm davon.) Kate: "I haven't had much time to explore here..." (Kates Stimme wird im Davongehen zunehmend leiser, die Kamera richtet sich auf ein offenes Fenster des Hauses, an dem Smike zu sehen ist, der den beiden betrübt nachsieht, dann noch einmal auf das davongehende Paar, schlieβlich wieder auf Smike, der mit traurigem Blick das
99 Vgl. hierzu etwa Helena Mitchies (1996, 97) Ausführungen bezüglich der "strictures of normative Victorian femininity: young women were not supposed to feel desire for men before they were proposed to – in some accounts, perhaps not even until they were married."
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Fenster schlieβt und sich abwendet.) Zusätzlich wird in dieser Adaption der Entschlüsselung des Geheimnisses um Smikes Herkunft viel Raum gewidmet. In der Verfilmung kommt Smikes Vorleben deutlich häufiger zur Sprache als im Roman, so etwa im folgenden Dialog zwischen Nicholas und Smike: Nicholas: "Do you remember your first day in Yorkshire?" Was it Mr. Squeers who first brought you to the school?" Smike: "No – no. Another man." Nicholas: "It's important if we're to find out who you really are." Smike: "I remember a room – a lonely room – where I slept." Eine ähnliche Unterhaltung führt Smike mit Kate: Kate: "Do you remember much about your family, Smike?" Smike: "No – except the man that took me – to the school. He – brought me – from London." Die Rolle ebendieses Mannes, Mr. Brooker, wird in der Verfilmung erweitert – ähnlich wie in der zuvor analysierten BBC Verfilmung von Great Expectations die Rolle von Estellas Mutter Molly. Brooker taucht in der Verfilmung häufiger auf als im Roman und hat hier seinen ersten Auftritt wesentlich früher als in Dickens' Originaltext, wo der Leser erst gegen Ende in Retrospektive von einem Besuch Brookers in Yorkshire erfährt: I have been away nearly eight years. Directly I came home again I travelled down into Yorkshire, and skulking in the village of an evening time, made inquiries about the boys at the school, and found that this one [Smike], whom I had placed there, had run away with a young man bearing the name of his own father ( , 739). In der Verfilmung wird die Szene, die hier beschrieben wird, an passender Stelle in die Chronologie eingefügt: Unmittelbar nach Smikes und Nicholas' Flucht aus Dotheboys Hall wird die Figur Brooker eingeführt. Brooker befragt Fanny Squeers im Garten von Dotheboys Hall: Brooker: "I've come about a boy." Fanny: "Which boy? Our place is full of boys." Brooker: "Smike. He's called Smike." Fanny (ängstlich): "Mother…" Brooker: "Is he here?" Fanny: "No. He ran away." Brooker (drohend): "Where did he go?" Fanny (panisch): "Mother!" (Rennt davon, als sie sich umblickt, ist Brooker verschwunden.) Von dieser Szene an erscheint Brooker regelmäβig in der Verfilmung. Kurze, zumeist textlose Szenen zeigen ihn in den Straβen von London und erinnern daran, dass das Geheimnis um Smikes Herkunft nach wie ungelöst ist. Brookers Begegnung mit Ralph Nickleby, während der er diesen mit Verweis auf das von ihm gehütete Geheimnis um Geld 181 anbettelt (vgl. , 593ff.), fügt sich aufgrund der Tatsache, dass der Rezipient der Verfilmung anders als der Leser des Romans mit dieser Figur bereits vertraut ist, nahtlos in diese Reihe von Szenen ein. Die Dramatik dieser Szene, die sich im Roman recht langwierig gestaltet, wird zudem in der Verfilmung durch Beschränkung auf das Wesentliche erheblich verstärkt und unterstützt in dieser zugespitzten Form den Handlungsstrang ebenfalls wesentlich: Brooker: "I possess a hold of you, Nickleby. A secret. I took advantage of my position with you. What assistance could you render me if I tell you? You have money at your side, I have hunger and thirst at mine. You can drive an easy bargain." Ralph: "I will give you nothing." Brooker: "If I die, my secret dies with me. Let me tell you what you've lost by my great crime." Ralph: "You are welcome to all you know. I’m threatened every day by one man or another and I do not grow the poorer for it. Goodnight." Brooker: "Your family! Are those of the name Nickleby not dear to you?" Ralph: "They are not! I will not part with a half penny, nor would I to save you from rotting, Mr. Brooker." Auch die humoristischen Aspekte des Plots, der auf dem Cover der für den US amerikanischen Markt hergestellten DVD Ausgabe immerhin als "a comic, brutal and passionate tale of greed and love in Victorian England" (meine Hervorhebung) ausgewiesen wird, werden in der Verfilmung akzentuiert. So ist Drehbuchator Martyn Edward Hesford erkennbar darum bemüht, einige Highlights aus Mrs. Nicklebys verbalen Ergüssen in der Verfilmung aufzugreifen, wie etwa das folgende Gespräch zwischen Ralph Nickleby, Kate und Mrs. Nickleby: Ralph: "I have found a situation for your daughter, ma'am." Mrs. Nickleby: "Didn't I say, Kate, depend upon it, I said, now that your uncle has provided for Nicholas he will not rest until he has done at least the same for you. (Ralph ickleby holt Luft, will fortfahren.) Kate, my dear, why don't you thank your uncle?" Ralph: "Let me proceeed, ma'am, I pray." Mrs. Nickleby: "Kate, my love, let your uncle proceed, I pray." Kate (nachsichtig): "I am most anxious that he should, mama." Ralph: "I would be obliged." Mrs. Nickleby: "Likewise." Ein weiteres Beispiel findet sich nach der verhinderten Heirat von Madeline Bray und Arthur Gride: Mrs. Nickleby: "But why is such a great fuss made because Miss Madeline is going to marry somebody older than herself. Your papa was older than I – four and a half years older!" Kate: "I don't think you quite understand, mama." Mrs. Nickleby: "I understand perfectly, Kate." 182
Im Fall der meisten humoristischen Einlagen in der Verfilmung ist indes eine deutliche Tendenz zu einer sehr plakativen Verstärkung von Dickens' Komik zu konstatieren, die an die Slapstick Einlagen rund um die Pecksniff Figur aus der bereits analysierten BBC Verfilmung von Martin Chuzzlewit erinnern. Dies gilt etwa für die Szenen des Mantalini Ehepaares, deren larger than life performance aber noch als Dickensian betrachtet werden werden kann. In der Szene der Verfilmung, die Fanny Squeers' Teegesellschaft behandelt, weicht Dickens' eher unterschwelliger Humor jedoch einer recht derben Komik: Mr Browdie was not a gentleman of great conversational powers, so he grinned twice more, and having now bestowed his customary mark of recognition on every person in company, grinned at nothing in particular and helped himself to food. "Old woman awa', bean't she?" said Mr Browdie, with his mouth full. Miss Squeers nodded assent. Mr Browdie gave a grin of special width, as if he thought that really was something to laugh at, and went to work at the bread and butter with increased vigour ( , 115). In der Verfilmung wird die Komik durch eine recht platte Vereindeutigung von John Browdies mangelnder sozialer Kompetenz verstärkt: (Kamera auf John, der mit icholas, Fanny und Tilda am Tisch sitzt und laut schmatzend eine Scheibe Brot isst.) Tilda (peinlich berührt): "Well, John." John (mit vollem Mund): "Well what?" Tilda (ärgerlich): "Your mouth!" Fanny: "It's jumping, sir." Tilda (versetzt John unter dem Tisch einen Fuβtritt): "Manners!" Fanny: "In front of Mr. Nickleby too!" John Browdie (rülpst laut): "Well, I don’t suppose he's bothered." Diese Trivialisierung von Dickens' Humor steht im Einklang mit der starken Vereindeutigung, die die Verfilmung in ihrer Gesamtheit aufweist. Eine Vereindeutigung des Geschehens ist beispielsweise in jener Szene zu beobachten, in der Kate Nickleby sich im Haus ihres Onkels erstmals gegen Sir Mulberry Hawks Zudringlichkeiten zur Wehr setzen muss. Die Szene erhält dadurch eine Art Albtraum Charakter, dass im Anschluss an Hawks Wette die versammelte Männerriege durch lautes Gröhlen und Auf den Tisch Klopfen Kate anzufeuern versucht. Dies wiederholt sich, als Kate nach Hawks Übergriffen das Haus fluchtartig verlässt, ihr die anwesenden Herren folgen, sich an dem oberen Ende der Treppe postieren und ihr höhnhisch hinterher johlen. Zudem kommt es im Roman zwar zu physischem Kontakt zwischen Hawk und Kate, jedoch nicht zu sexuellen Handlungen: Kate hastily rose; but as she rose, Sir Mulberry caught her dress, and forcibly detained her. [… H]e leant over, as if to replace her in her chair; but the young lady making a violent effort to disengage herself, he lost his balance, and measured his length upon the ground ( , 237). 183
In der Verfilmung hingegen fasst Hawk ihr zwischen die Beine, drückt sie auf einen Billardtisch nieder und küsst sie gewaltsam. Noch häufiger ist in der vorliegenden Verfilmung der Versuch zu erkennen, die Spannung einzelner Szenen zu erhöhen. Im Zusammenhang mit Smikes Fluchtversuch aus Dotheboys Hall (vgl. Kapitel 13) wird dies etwa dadurch erreicht, dass sich Szenen, die den gehbehinderten Smike dabei zeigen, wie er sich äuβerst mühsam und verzweifelt, von dramatischer Musik begleitet, vorankämpft, mit anderen abwechseln, die den rachedurstigen Mr. Squeers auf der Suche nach ihm zeigen. Auch im Zusammenhang mit der geplanten Hochzeit von Madeline Bray und Arthur Gride ist eine Steigerung der Spannung zu beobachten, indem betont wird, dass es sich bei der Angelegenheit um einen Wettlauf mit der Zeit handelt. Im Roman endet Nicholas' letztes Gespräch am Tag vor der geplanten Hochzeit mit Madelines Worten: The time will come when to recall the memory of this one interview might drive me mad. Be sure to tell [the Cheeryble Brothers] that you left me calm and happy. And God be with you, sir, and my grateful heart and blessing! ( , 660). In der Verfilmung endet dasselbe Gespräch wie folgt: Nicholas: "At least wait until the brothers return." Madeline: "I can't." Nicholas: "Why not?" Madeline (zögernd): "I'm to be married tomorrow morning." Diesem Gespräch folgt zunächst eine Szene, in der gezeigt wird, wie Arthur Gride sich für die Hochzeit bereit macht, kurz vor der Hochzeit wechseln sich dann in rascher Folge Szenen ab, die Madeline im Brautkleid zeigen, wie sie eine Treppe hinunter zu dem Raum geht, in dem ihr Vater mit Arthur Gride und Ralph Nickleby auf sie warten, und solche, die Nicholas und Kate auf dem Weg zu demselben Ort zeigen. Da nicht klar ist, ob Kate und Nicholas rechtzeitig vor Vollzug der Eheschlieβung eintreffen werden, wird Spannung erzeugt. Auch im Zusammenhang mit Smikes Befreiung aus den Fängen von Squeers, nachdem dieser ihn aus der Obhut von Nicholas und seiner Familie entführt hatte, wird die Spannung gesteigert. Im Roman spielt sich diese Befreiung, die von John Browdie erledigt wird, recht unspektakulär ab. John Browdie lässt sich unter dem Vorwand, sich nicht wohlzufühlen und der Ruhe zu bedürfen, in Squeers' Zimmer einschlieβen, befreit Smike von seinen Fesseln und verhilft ihm somit zur Flucht. [John Browdie] glided downstairs, hauling Smike behind him; and placing himself close to the parlour door, to confront the first person that might come out, signed to him to make off. Having got so far, Smike needed no second bidding. Opening the house door gently, and casting a look of mingled gratitude and terror at his deliverer, he took the 184
direction which had been indicated to him, and sped away like the wind. The Yorkshireman remained on his post for a few minutes, but, finding that there was no pause in the conversation inside, crept back again unheard, and stood listening over the stair rail for a full hour. Everything remaining perfectly quiet, he got into Mr Squeer's bed once more, and drawing the clothes over his head, laughed till he was nearly smothered ( , 483f.). Die Szene wird dahingehend verändert, dass sich John Browdie und Tilda höchst vorsichtig am schlafenden Squeers vorbei zu Smike schleichen müssen, um Smike aus Squeers' Gemächern zu befreien. Auch im Fall der vorliegenden Verfilmung werden an einigen Figuren leichte Veränderungen vorgenommen, so etwa an der Figur Kate Nickleby eine leichte Aktualisierung: Kate, im Roman und auch in der noch zu besprechenden Verfilmung von Douglas McGrath ein recht fragiles Wesen, das im Verlauf des Romans häufig in Tränen ausbricht, wirkt in dieser Verfilmung wesentlich unerschrockener. Während Kate bei dem ersten Zusammentreffen ihrer Familie mit Ralph Nickleby im Roman zunächst gar nichts zu sagen hat (vgl. , 36ff.), legt ihr Drehbuchautor Martyn Edward Hesford in der Verfilmung einen Satz in den Mund, der im Roman von Mrs. Nickleby gesprochen wird, und den Kate ihrem Onkel gegenüber recht energisch äuβert: Ralph: "A man can't pay his debts, then he dies of a broken heart and his widow's a martyr." Kate (leicht konsterniert): "It was father's dying wish that we should come to London in the hope that you might help us, Uncle." Kurz darauf ist aus Kates Reaktion auf Nicholas' Äuβerung "Supposing there is some rich gentleman at the school and he takes a liking to me. Well, who knows? Maybe he'll get his father to appoint me as a travelling tutor" – "Yes, Nicholas" – herauszuhören, dass sie die Naivität dieser Hoffnung durchschaut. In einer späteren Szene der Verfilmung erhält Kate durch eine Strategie des Drehbuchautors gar die Möglichkeit, gegen Ralph Nickleby aufzubegehren. Wie Dickens' Erzähler mitteilt, hegt Ralph im Roman die folgende flüchtige Zukunftsvision: He thought of what his home might be if Kate were there; he placed her in the empty chair, looked upon her, heard her speak; he felt again upon his arm the gentle pressure of the trembling hand; he strewed his costly rooms with the hundred silent tokens of feminine presence and occupation ( , 384). In der Verfilmung gestaltet Hesford diese visionäre Vorstellung zu einem konkreten Angebot aus, das Ralph Nickleby seiner Nichte unterbreitet, und das diese ausschlägt: Ralph: "My home is a lonely one. If you would only consent to make it your home too, it would bring me so much comfort – a little light, to grant some of the sweet nature that I know you have." 185
Kate: "Never, Uncle!" Durch diese leichte Aktualisierung der Figur Kate wird diese wiederum, wie die Estella Figur in den zuvor diskutierten Verfilmungen von Great Expectations, deutlicher in die Nähe zeitgenössischer Vorstellungen von der Rolle der Frau gerückt, was sich auch hier als Zugeständnis an das vornehmlich weibliche Publikum des Genres Klassikerverfilmung betrachten lässt. Kohärenter als im Roman erscheinen die Figuren Smike, Ralph Nickleby sowie die Mitglieder der Familie Squeers. Im Fall der Figur Smike ist im Roman eine gewisse Widersprüchlichkeit zu beobachten: Smike wird als "lame" ( , 90), also körperlich behindert, und zusätzlich als geistig zurückgeblieben charakterisiert (vgl. , 148). Andererseits äußert sich diese Figur zuweilen überraschend reflektiert. So antwortet Smike etwa auf Nicholas' freundliche Ermahnung, "Be a man; you are nearly one by years, God help you": "By years! [...] Oh dear, dear, how many of them! How many of them since I was a little child, younger than any that are here now! Where are they all!" ( , 105). Außerdem ist Smike eine in Anbetracht der Umstände erstaunliche Eloquenz eigen, wie eine seiner Äußerungen gegenüber Nicholas aus Kapitel 20 zeigt: "I know you are unhappy, and have got into great trouble by bringing me away. I ought to have known that, and stopped behind – I would, indeed, if I had thought of it then. You – you – are not rich: you have not enough for yourself, and I should not be here. You grow," said the lad, laying his hand timidly on that of Nicholas, "you grow thinner every day; your cheek is paler, and your eye more sunk. Indeed I cannot bear to see you so, and think how I am burdening you. I tried to go away today, but the thought of your kind face drew me back. I could not leave you without a word" ( , 251). In der vorliegenden Verfilmung wird die Widersprüchlichkeit der Figur Smike dadurch weitgehend aufgehoben, dass ihre geistige Zurückgebliebenheit betont wird: Von seinem ersten Auftreten an und dann den gesamten Film hindurch ist Smikes Artikulation äuβerst mühsam und schleppend. Verzichtet wird auch auf die Mehrdimensionalität, die im Roman der Figur Ralph Nickleby eignet. Zwar steht Ralph Nickleby in Dickens' Roman klar auf der Seite der Bösewichter, dennoch gesteht Dickens ihm im Lauf der Handlung immer wieder auch humanere Züge zu, die zumeist im Umgang mit seiner Nichte Kate deutlich werden: "All through the novel Dickens has been tempted to allow Ralph to develop a heart. The usurer warms slightly in the presence of Kate (xix) and, less credibly, laments the loss of his son" (Meckier 1970, 145). Dickens' Erzähler berichtet an mehreren Stellen von den einander widersprechenden Empfindungen, die Ralph im Bezug auf Kate hegt, etwa in Kapitel 31: 186
Notwithstanding the deadly hatred which Ralph felt towards Nicholas, and the bitter contempt with which he sneered at poor Mrs Nickleby – notwithstanding the baseness with which he had behaved, and was then behaving, and would behave again if his interest prompted him, towards Kate herself – still there was, strange though it may seem, something humanizing and even gentle in his thoughts at that moment. ( , 383f.). In der ITV Adaption wird Ralphs Bösartigkeit betont – etwa in der Szene im Anschluss an die Dinnerparty in seinem Haus, während der Kate erstmals von Mulberry Hawk bedrängt wird. Ralph Nickleby antwortet hier auf Kates Frage "What have I done that you should subject me to this?" nicht wie im Roman und wie in McGraths Verfilmung mit den Worten "I didn't know it would be so", sondern reagiert überhaupt nicht. In einer späteren Szene der Verfilmung wird gezeigt, wie er auf den Straβen von London einen Bettler mit den Worten "Get out of my way" unsanft zur Seite schubst. Die Familie Squeers erscheint in der Verfilmung übertrieben widerwärtig: Mr. und Mrs Squeers sowie Fanny und Wackford junior werden hier in mehreren Szenen beim Essen gezeigt, wobei sie jeweils auf höchst unappetitliche Art und Weise Nahrungsmittel in sich hinein schlingen. Fanny Squeers ist zudem in dieser Adaption äuβerst übergewichtig, worauf Dickens' Erzähler im Roman keinerlei Hinweise liefert. Er beschreibt Fanny lediglich als unattraktiv ( , 107). Aus Mrs. Squeers wird in der Verfilmung eine Alkoholikerin, die in mehreren Szenen mit derFlasche in der Hand gezeigt wird, worauf sich im Roman ebenfalls keine Hinweise finden. Beachtung verdient wiederum auch das Ende der Verfilmung: Gelangte im Fall der zuvor analysierten BBC Verfilmung von Martin Chuzzlewit die Variante der Schlussszene, die eine Hochzeit vorsah, aus den genannten Gründen nicht zur Ausstrahlung, was zur Folge hatte, dass sich die Schlussvariante mit dem geringeren populären Potential durchsetzte, so endet die vorliegende Adaption dezidiert mit einer Umsetzung der Doppelhochzeit zwischen Madeline Bray und Nicholas sowie Kate und Frank Cheeryble, die im letzten Kapitel des Romans lediglich in einem kurzen Abschnitt abgehandelt wird: When her term of mourning had expired, Madeline gave her hand and fortune to Nicholas, and on the same day and at the same time Kate became Mrs Frank Cheeryble. It was expected that Tim Linkinwater and Miss LaCreevy would have made a third couple on the occasion, but they declined, and two or three weeks afterwards went out together one morning before breakfast, and coming back with merry faces, were found to have been quietly married that day ( , 774). In der Verfilmung wird dieser kurze Abschnitt zu einer vollständigen Hochzeitsszene ausgestaltet, die die Adaption beschlieβt. Die Kamera zeigt den Eingang einer Kirche, aus der ein Pfarrer tritt, gefolgt von den beiden Brautpaaren und der Hochzeitsgesellschaft, 187 namentlich den Gebrüdern Cheeryble, Mrs Nickleby und Miss LaCreevy. Nicholas spricht dazu den folgenden Epilog in voice over: And when her term of mourning had ended, I offered Madeline my hand. And on the same day and at the same time, amongst our family and friends, my dear sister Kate agreed to marry Mr. Frank Cheeryble. (Kamera auf Kate und Frank, die einander küssen, die Gebüder Cheeryble werfen Blumen.) The weddings were held near our family home at a little church in Devonshire. (Kamera auf Madeline und icholas, die einander ebenfalls küssen). The money from Madeline's inheritance was invested well (Kamera auf beide Brautpaare) in the firm of Cheeryble Brothers. Frank became a partner, and soon the business was known as 'Cheeryble and Nickleby'. (Kamera auf beide Brautpaare, die zu einer Pferdekutsche gehen, Kate wirft ihren Brautstrauβ Miss La Creevy zu, die ihn auffängt. Madeline wirft ihren Brautstrauβ Tim Linkinwater zu, der ihn ebenfalls fängt.) My future prospered, and I was able to buy the childhood home where we'd spend many tender years. (Kamera auf die beiden in der Kutsche davonfahrenden Brautpaare.) We all lived close to Smike's grave, and would often sit and remember our dear cousin. He was never forgotten. At last we could be truly happy (Kamera auf Smikes Grabstein).
4.2.4.3 Resümee Die vorliegende Adaption weist zahlreiche Popularisierungsstrategien auf. Neben der Verwendung einer schnellen Schnittechnik, die an populärkulturelle Produktionen wie die soap opera erinnert, werden mit den Romanzen um verschiedene Figuren, der Entschlüsselung um die Herkunft Smikes und der komischen Elemente der Handlung mehrere Handlungsstrange mit hohem populären Potential betont. Zudem ist die Tendenz zur Vereindeutigung des Geschehens, zur Steigerung der Spannung in zahlreichen Szenen sowie zu einer kohärenten Gestaltung der Charaktere erkennbar. Darüberhinaus endet die Adaption mainstream gerecht mit einer Hochzeitsszene. Insgesamt dürfte die Produktion, was ihr populäres Potential angeht, also über die BBC Verfilmung von Great Expectations hinausgehen, aber auch über die BBC Verfilmung von Martin Chuzzlewit. Im Falle der Adaption von Martin Chuzzlewit deutete sich der seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachtende Trend des Genres der Klassikerverfilmung hin zu verstärkter Mehrheitsfähigkeit zwar schon an, im direkten Vergleich zeigt sich jedoch vor allem, dass diese Verfilmung noch wesentlich weniger temporeich und insgesamt auch weniger stark vereindeutigt war – auch, was die Gestaltung der Charaktere anbelangt – zudem war dort noch bewusst die Entscheidung auf eine Schlussvariante mit relativ geringem populärem Potential gefallen. Das relativ hohe populärkulturelle Potential könnte auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Verfilmung für den britischen Privatsender ITV gedreht worden war. Dass auch das öffentlich rechtliche Fernsehen in Groβbritannien keineswegs unabhängig vom 188
Publikumsgeschmack ist, wurde bereits festgestellt, für das Pivatfernsehen dürften Einschaltquoten aber dennoch eine etwas gröβere Bedeutung haben (vgl. Abschnitt 4.1.2.).
4.2.5 icholas ickleby (Douglas McGrath, 2002) Diese 132 Minuten lange Kino Verfilmung entstand im Jahr 2002. Das Drehbuch stammt von dem amerikanischen Regisseur Douglas McGrath, der auch für Drehbuch und Regie der 1996 entstandenen Verfilmung von Jane Austens Emma verantwortlich zeichnete. Produziert wurde der Film von Jeffrey Sharp, Simon Channing Williams und John Hart. Die Verfilmung, bei deren Herstellung die Beteiligten laut McGrath mit einem "very economic budget" haushalten mussten, präsentiert sich als Kostümdrama, zur Erstellung der Kulissen und Kostüme wurden extensive Recherchen bezüglich des zeitgeschichtlichen Hintergrunds des Romans betrieben, wie Douglas McGrath in den special features der DVD Ausgabe am Beispiel der Gestaltung des Schlafsaals in Dotheboys Hall und der Kostüme der Schauspielfamilie Crummles erläutert. Die amerikanisch englische Co Produktion war ab dem 27. Dezember 2002 in US amerikanischen Kinos zu sehen, in Groβbritannien startete der Film ein halbes Jahr später, am 27. Juni 2003. Insgesamt lässt sich die Verfilmung auf dem Gebiet des Crossover Heritage Films verorten. Somit richtet sie sich einerseits an das traditionell der Mittelklasse entstammende Publikum der Klassiker Verfilmung, ist aber auch um mainstream appeal bemüht.
4.2.5.1 Das populäre Potential der Verfilmung Douglas McGrath gestaltet den Einstieg in seine Verfilmung wesentlich weniger temporeich, als dies für die ITV Verfilmung festgestellt wurde. Die Verfilmung beginnt mit Bildern eines viktorianischen Puppentheaters, über die die Namen der an der Produktion Beteiligten eingeblendet werden. Dem gut zweieinhalb Minuten langen Vorspann schlieβt sich ein Prolog an, der von Nathan Lane, dem Darsteller des Vincent Crummles in der Verfilmung, gesprochen wird, und der sich poetisch, vereinzelt gar philosophisch ausnimmt: Crummles (aus dem off): What happens, when the light first pierces the dark dampness in which we have waited? ( eugeborenes, schreiendes Baby wird gezeigt.) We are slapped and cut loose. (Großaufnahme einer abelschnur, die durchschnitten wird.) If we are lucky, someone is there to catch us and to persuade us that we are safe. (Bilder von icholas ickleby sen., Mrs. ickleby und icholas ickleby jun. als Baby auf einer Wiese.) But are we safe? What happens if, too early, we lose a parent? That party on whom we rely for only – everything. Why, we are cut lose again, and we wonder, even dread, whose hands will catch us now. An diesen Prolog schlieβt sich eine kurze Dramatisierung der Vorgeschichte der Nickleby 189
Familie an, die Dickens im ersten Kapitel des Romans referiert. Die vorliegende Verfilmung beginnt somit nicht wie die ITV Produktion in medias res, sondern ab ovo. Der soeben zitierte Prolog weist allerdings insofern populäres Potential auf, als hier mittels der Technik der indirekten Leseransprache an die Lebenserfahrung des Lesers appelliert wird (vgl. die Formulierungen "We are slapped and cut loose. [...] If we are lucky, someone is there to catch us and to persuade us that we are safe"). Die unterschiedliche Gestaltung des Einstiegs in den beiden Produktionen hängt bis zu einem gewissen Grad auch mit den unterschiedlichen Medien zusammen, für die die Verfilmungen bestimmt sind. Während sich einzelne Fernsehproduktionen möglichst nahtlos mit anderen zu einem flow zusammenfügen und somit in gewisser Weise ineinanderübergehen müssen (vgl. etwa Williams 2003[1974]), ist der Kinobesuch als solcher "untrennbar mit der Vorstellung einer aus dem Alltag herausgehobenen Welt verbunden" (Hepp/Vogelsang 2000, 241). Diese Vorstellung nun wird durch die separate credit sequence unterstützt, wie Douglas McGrath in den special features der DVD Ausgabe100 bemerkt: The credit sequence is always very important to me in a film. I always think it's a lost opportunity, when people just run credits over the action. I think it's a vital and very exciting chance to bring people out of the world they are in and into the world we've created. McGrath räumt der Entschlüsselung von Smikes Herkunft deutlich weniger Platz einräumt ein, als dies in der zuvor analysierten Fernsehverfilmung der Fall war. Die Freundschaft zwischen Nicholas und Smike stellt er dagegen deutlicher heraus, als dies in der ITV Adaption geschehen war. Douglas McGrath erklärt dazu: "Nicholas and Smike's story is the heart of the movie. It's not the only thing that happens by any means, but it is the heart of the movie, and everything comes out from it, it touches every other part of the story." Dieser Handlungsstrang wird in der Verfilmung durch mehrere Strategien verstärkt. Bereits in einem recht frühen Stadium der Handlung wird eine zusätzliche Szene eingefügt, die zeigt, wie Nicholas und Smike sich einander annähern: icholas sitzt am Katheder des Unterrichtsraums in Dotheboys Hall. Smike betritt den Raum, um den Boden zu kehren, schaut ängstlich zu icholas, dieser lächelt ihm aufmunternd zu. ach ein paar Sekunden lässt sich Smike erschöpft auf einer der Schulbänke nieder, reibt sich eine Hand. Sein Blick fällt auf ein Buch, das neben ihm auf der Bank liegt. Immer wieder schaut er ängstlich zu icholas hin. Dieser steht vom Katheder auf, geht langsam auf ihn zu. Nicholas: "Have you read The Pilgrim's Progress?“ (Greift nach dem Buch, Smike krümmt sich in Erwartung eines Hiebes zusammen. icholas gibt ihm jedoch stattdessen das Buch in die Hand, schlägt es für ihn auf, sie lächeln einander zu,
100 Sämtliche Zitate von Douglas McGrath innerhalb dieses Unterkapitels sind den special features der US amerikanischen DVD Ausgabe entnommen. 190