125 Jahre Hygiene-Institute an Berliner Universitäten – Eine
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Judith Hahn, Ulrike Gaida, Marion Hulverscheidt 125 Jahre Hygiene- Institute an Berliner Universitäten Eine Festschrift Inhalt Vorwort 3 Zur Einführung Vieles, was uns im Alltag begegnet, kann man besser verstehen, wenn man die historischen Zusammenhänge 8 Die Gründung des Berliner Hygiene-Instituts dahinter kennt. 125 Jahre Hygiene-Institute der Cha- rité sind Anlass genug, um eine solche Aufarbeitung 18 Zögerliche Etablierung der Universitätshygiene der historischen Zusammenhänge vorzunehmen. Herrn Volker Hess möchte ich sehr herzlich dan- 23 Neue Impulse in der Hygiene während der ken, dass er drei Historikerinnen empfohlen hat, die Weimarer Republik sich mit sehr großem Engagement, Enthusiasmus und hoher Kompetenz der Aufgabe gewidmet haben, die 28 Hygiene im Nationalsozialismus und im Zweiten letzten 125 Jahre zur universitären Berliner Hygiene Weltkrieg zu erforschen und zusammenzustellen. Judith Hahn, Ulrike Gaida und Marion Hulverscheidt haben die zu- 33 Die Nachkriegszeit in Berlin bis in die 1950er gänglichen Quellen analysiert und viele Interviews mit Jahre Zeitzeugen durchgeführt. Herzlichen Dank an Erika Brandt, Helmut Hahn, 38 Das Hygiene-Institut der Humboldt-Universität Karlwilhelm Horn, Wolfgang-Dietrich Kampf, Wolf- in Ost-Berlin gang Kaufhold, Detlev H. Krüger, Wolfgang Presber und Henning Rüden, dass sie für Interviews zur Ge- 46 Das Hygiene-Institut der Freien Universität in schichte der Institute bereit waren. Außerdem vielen West-Berlin Dank an Gerhard Baader, Ingrid Becker, Petra Degen- hardt, Ulf Göbel, Michael Haupt, Regine Heilbronn, 54 Abschließende Bemerkungen Heike Martiny, Gabriele Moser und Manfred Stürzbe- cher für weitere Auskünfte und Hinweise bei der Zu- 55 Anhang sammenstellung der Daten und Zusammenhänge. Ich wünsche allen Lesern viel Freude und Anregun- gen beim Lesen der Institutsgeschichte. Berlin, den . Mai Petra Gastmeier Zur Einführung Die Anfänge der Hygiene in Berlin liegen weit vor dem 1. Juli 1885, an dem das Hygiene-Institut an der Medi- zinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin mit Robert Koch (1843–1910) als seinem Direktor und Inhaber des neu errichteten Lehrstuhls für Hygiene eröffnet wurde. Will man die Entstehung des Hygiene-Instituts verstehen, so ist sowohl früher anzusetzen als auch die Perspektive zu erweitern und darauf einzugehen, was damals überhaupt unter Hygi- ene verstanden, wie hygienisch gedacht und gehandelt wurde und wer sich der Hygiene als Wissenschaft, als Praxis oder auch als gesellschaftliche Denkungsart an- nahm. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche Ziele und wessen wissenschaftspolitische Am- Johann Peter Frank (1745–1821) Rudolf Virchow (1821-1902) bitionen mit der Berufung Kochs in Berlin verwirklicht wurden. Gegenstand der Hygiene Hygiene umfasst die Gesunderhaltung und Vorbeu- chen Gesundheitspflege ab. Zeitweilig geriet das Werk wusstseins von Ärzten als politisch denkenden Bürgern gung von Krankheiten durch unterschiedliche Maß- in Vergessenheit, doch waren dessen Ideen nun in der sowie der Formierung der Ärzteschaft als Berufsstand. nahmen. Neben der Hygiene des Selbst oder der Per- Welt. Auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheits- Es mag umstritten sein, welchen Einfluss die Cholera- sonalhygiene, die schon in den sechs res non naturalis pflege wurden zunächst weniger Ärzte als vielmehr epidemien in Europa, die auch die großen deutschen der Hippokratischen Medizin, 1. Luft und Licht (aer), Verwaltungsbeamte, Architekten und Ingenieure aktiv, Städte mehrfach im 19. Jahrhundert heimsuchten, 2. saubere Luft, Essen und Trinken (cibus et potus), waren doch technische und bauliche Lösungen zu fin- bei der Verankerung einer öffentlichen, zunächst vor- 3. Bewegung und Ruhe (motus et quies), 4. Schlafen den sowie polizeiliche Maßnahmen zu ergreifen, um wiegend städtischen Gesundheitspflege hatten. Fest- und Wachen (somnus et vigilia), 5. Ausscheidungen vor allem in Städten eine hygienische Infrastruktur gehalten werden muss jedoch, dass seuchenartig auf- (excreta et secreta) und 6. Gemütsbewegungen (affic- aufzubauen, die Ausbreitung von Seuchen zu verhin- tretende Krankheiten wie Cholera und Typhus für die tus anima) im Sinne einer Diätetik beschrieben wurde, dern und für die Bevölkerung Krankheitsgefahren zu Medizin und die Mediziner Anlass gaben, über allge- kam es im 18. Jahrhundert zu einem ersten Ausformu- reduzieren. Besonders im 19. Jahrhundert wuchs das meine soziale Fragestellungen und ihre gesellschaftli- lieren einer öffentlichen Hygiene. Das „System einer Interesse auch von Ärzten an Fragen der öffentlichen che Verantwortung nachzudenken.1 Rudolf Virchow vollständigen medicinischen Polizey“, wie der Arzt Gesundheitspflege. Dies geschah angesichts zuneh- (1821-1902) öffnete die Typhusepidemie verelendeter Johann Peter Franck (1745-1821) sein mehrbändiges mend sichtbarer sozialer Probleme infolge der Indust- Weber in Oberschlesien 1848 die Augen. Von da an Werk betitelte, steckte das Aktionsfeld der öffentli- rialisierung und im Kontext des wachsenden Selbstbe- begriff er Politik als „Medizin im Großen“ und setzte 3 sich mit den sozialen Ursachen von Krankheit ausei- und der Berufswelt brachten den „homo hygienicus“2 nander: Hunger, unzureichend sauberes Trinkwasser, hervor. Dieser betonte Sauberkeit und Hygiene im Le- fehlende Abwasserentsorgung, Mangel an Licht, Luft bensstil und folgte einer neuen Denkungsart, in der und Freiheit. Zwar setzte sich die von ihm geforderte auch ein Wandel der bürgerlichen Sicht auf medizini- ‚Medicinische Reform‘, die er auch zum Titel einer von sche Gefahrenkonzepte ihren Ausdruck fand. War im ihm herausgegebenen Zeitschrift machte, nicht sofort 18. Jahrhundert noch gesund, was das Gleichgewicht durch, aber ein Schritt in Richtung Veränderung der der Säfte im Körper förderte, verlagerte sich zu Beginn hygienischen Verhältnisse war getan. des 19. Jahrhunderts der Fokus auf die äußere Reini- In den folgenden Jahren entwickelte sich eine breite gung der Haut. Eine neue Badekultur entwickelte sich, praxisorientierte Hygienebewegung in Deutschland. Reinlichkeit – einschließlich des Wohlgeruchs – stand 1867 wurde eine Sektion für Öffentliche Gesund- nun für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und morali- heitspflege bei der Gesellschaft der Deutschen Natur- sche Integrität. forscher und Ärzte angeregt. Diese wurde von zwei Veränderungen im Wohn-, Lebens- und Arbeitsum- Ärzten sowie Ingenieuren, Architekten und kommu- feld begleiteten Maßnahmen zur Organisation einer nalen Verwaltungsbeamten gegründet. Die gemischte, zentralen Trinkwasserversorgung zur Abwasser- und interdisziplinäre Interessensgemeinschaft gab ab 1869 Müllbeseitigung, zur Straßenreinigung sowie zur Er- die Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Ge- richtung von Schlachthöfen und Desinfektionsanstal- Chemisches und hygienisches Laboratorium des 1876 errichteten sundheitspflege heraus. Danach gründete sich 1873 ten. Für Berlin, dessen Bevölkerungszahl sich im 19. Kaiserlichen Gesundheitsamtes, Luisenstraße 57, 2006. Hier der Verein für öffentliche Gesundheitspflege. Dieser Jahrhundert vervielfachte, das zur Industriemetropole entdeckte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose. Seit setzte sich für die Einrichtung einer reichsweiten Ge- aufstieg und sich so beständig wie rasch ausdehnte, 1999 beherbergt das Gebäude das Institut für Sozialmedizin, sundheitsbehörde mit der Aufgabe ein, den Überblick erhielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine städti- Epidemiologie und Gesundheitsökonomie über den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu ge- sche Kommission den Auftrag, einen Bebauungs- und winnen, Seuchengefahren abzuwenden sowie Verbes- Infrastrukturplan für die sich vergrößernde Stadt aus- serungsmöglichkeiten der Gesundheit zu verfolgen. zuarbeiten. Der daraufhin ausgearbeitete und nach 1876 wurde in Berlin das Kaiserliche Gesundheitsamt dem preußischen Stadtplaner benannte Hobrecht-Plan errichtet und damit die bereits 1848 erstmals formu- berücksichtigte in seinen städtebaulichen Vorgaben lierte Forderung nach einer reichsweiten Institution grundlegende hygienische Anforderungen wie eine Ka- erfüllt. Neben der statistischen Erfassung und Be- nalisation. Entsprechende Maßnahmen spiegeln sich trachtung des Gesundheitszustands im Volk wurde am auch in der Regulierung der inneren Hygiene wider. Reichsgesundheitsamt auch geforscht – anfangs weni- Hinzu gesellte sich die Lebensmittelhygiene und mit ger, im Verlaufe seines Bestehens zunehmend mehr. Die einiger Verzögerung die kommunale Wohnungsfür- wissenschaftliche Betätigung war nur eines von vielen sorge; auch die Reduzierung städtischen Lärms wurde Aufgaben des Reichsgesundheitsamtes. Unter Hygiene unter Hygiene subsumiert. Um den Anforderungen wurde dabei die Sicherung einer gesundheitsförderli- einer zunehmend komplexen Lebenswelt gerecht zu chen Lebenswelt verstanden. Urbanisierung und offen- werden, wurde somit ein immer höheres Maß an Pla- sichtliche soziale und ökonomische Folgen der Indus- nung, Prävention und sozialer Disziplinierung notwen- trialisierung galt es zu bewältigen. Damit verbundene dig. Die Entwicklung eines Verwaltungsstaates und die 4 Veränderungen der Lebens- und Umwelt, des Alltags Verwissenschaftlichung des Sozialen bedingten einan- der wechselseitig. Hygiene umfasste dabei weit mehr ten zu verhindern. Die Hygiene als angewandte Wis- als die Prävention von Krankheiten, wie sie durch die senschaft erhielt also durch die Kriege Rückhalt und von den Landesimpfanstalten durchgeführten Pocken- Basis in ihrer Funktion als Polizei.