Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

Schwierige Rückkehr

Erzählungen und Reflexionen über das Zurückkehren im Kontext von Exil und Vertreibung

Lange Zeit galt das Exil, das durch die gewaltvolle Politik der Nationalsozialisten bedingt wurde, mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 als been- det. Die implizite Begründung, die in der Exillitera- turforschung bis in die Anfänge des 21. Jahrhun- derts dominierte, greift allerdings zu kurz: Mit dem Wegfall der Fluchtursachen werde das erzwungene Exil, das mit einer Rückkehr beendet werden könn- te, zu einer freiwilligen Migration. Bei diesem Er- klärungsmuster wurde die eigentliche Frage nach der Rückkehr der Exilanten lange vernachlässigt. Ist die Rückkehr in ein Land, das einen zuvor ge- waltvoll vertrieben hat, überhaupt ohne weiteres möglich? Und vor allem: Lässt sich mittels einer geo- grafischen Rückkehr das Exil beenden? Zahlreiche Texte, die nach 1945 entstanden sind, geben auf diese Fragen deutliche Antworten. Alfred Döblin etwa schreibt 1949: „Als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder. Du bist nicht mehr der, der Straßenschilder in Manhattan wegging, und du findest deine Wohnung nicht mehr, Foto: Naked Pictures of Bela die du verließest.“1 Einer ähnlichen Argumentation Arthur, CC BY-SA 3.0, edited

Inhaltsverzeichnis:

Der verlorene Sohn...... 4 Rückkehr durch Dinge? Rückkehr als Nach-Exil...... 6 Zu W. G. Sebalds Austerlitz...... 17 Vom Auffüllen der Kriegslücken Rückkehr in die Heimat ? Zur „Rückkehr“ von Sammlungen...... 8 Zur Neuverhandlung von Zugehörigkeit in Vladimir Vertlibs Schimons Schweigen...... 18 „Aber man konnte ja immer noch heimkehren.“ Von Imaginationen der Rückkehr und dem Wunder „Da war es das Land. Rostig gelb. Von der Farbe frisch der Wiederbegegnung in Joseph Roths Hiob...... 9 geheilter Haut. Vielleicht wurde ich endlich befreit.“ Dimensionen von Rückkehr in Hisham Matars Die Rückkehr...... 20 Die „undarstellbare Gemeinschaft“ Die Rückkehr einer Widerstandskämpferin “You can’t return to the past.” in Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands...... 11 Rafael Cardoso in conversation with Cordula Greinert...... 21 Rückkehr in die Muttersprache? Neue Publikation zu P. Walter Jacob...... 25 Theodor W. Adornos Sprachbefremdung...... 12 Veranstaltungen der Forschungsstelle...... 26 Neue Kleidung braucht das Land Impressum...... 28 Miniatur über die Kleiderordnung in Hilde Domins Das zweite Paradies...... 13 ,,Wir leben doch immer in der falschen Zeit“ ISSN (Print): 2366-7427 Rückkehrer als Provokation in Thomas Bernhards Heldenplatz...... 15 ISSN (Online): 2366-7435 2 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

1 Alfred Döblin: Schicksals- folgend, beschreibt Carl Zuckmayer rückblickend differentielle Zuordnungen“11 erschwert. Dabei reise. Bericht und Bekenntnis seine versuchte Rückkehr nach Deutschland 1946: muss es sich aber nicht zwangsläufig um eine bloß [1949]. Olten 1980, 310. „Die Fahrt ins Exil ist ‚the journey of no return‘. Wer prekäre Stellung zwischen den Kulturen handeln. sie antritt und von der Heimkehr träumt, ist verlo- Der Zustand kann auch positiv gewendet für viel- 2 Carl Zuckmayer: Als wär’s ren. Er mag wiederkehren – aber der Ort, den er fältige Zugehörigkeiten stehen: „Home becomes ho- ein Stück von mir. Horen an die dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er ver- mes: a web of places that are cultivated through the Freundschaft. Frankfurt a. M. 1966, 461. lassen hat, und er ist selbst nicht mehr der gleiche, investment in the place of settlement and the place der fortgegangen ist. Er mag wiederkehren, [...] of origin. Return movements and other kinds of [a]ber er kehrt niemals heim.“2 Hermann Kesten transnational processes create links between these 3 Hermann Kesten: Das ewige nennt in seiner kurzen Abhandlung Das ewige Exil places”12. Salman Rushdie spricht in diesem Zusam- Exil. In: Ders. (Hg.): Ich lebe eben jenes sogar „eine Hölle ohne Exit.“3 Diese drei menhang in seinem Essay Heimatländer der Phanta- nicht in der Bundesrepublik. München 1964, 9-28, hier: 15. exemplarischen Stimmen, an die sich viele weitere sie (1982) von dem „Gefühl des Verlustes“, das Exi- anschließen lassen, legen den Schluss nahe, dass der lanten verfolgt: „von dem Verlangen zurückzu- Zustand des Exils durch keine Rückkehr rückgängig blicken, selbst wenn man Gefahr läuft, in eine Salz- zu machen ist. (Siehe zu der theoretischen Etablie- säule verwandelt zu werden. Aber wenn wir den- 4 Hans-Georg Gadamer: Hilde rung des Begriffes ‚Nach-Exil‘ den Artikel von Phi- noch zurückblicken, müssen wir es in dem – tiefe Domin, Dichterin der Rückkehr lipp Wulf, S. 6). Doch auch das wäre ein vorschnelles Unsicherheit auslösenden – Bewusstsein tun, […] [1971]. In: Bettina v. Wan- genheim (Hg.): Vokabular der Urteil. So entwirft beispielsweise Hilde Domin, von dass es uns nicht gelingen wird, haargenau das zu- Erinnerungen. Zum Werk von Hans-Georg Gadamer als „Dichterin der Rückkehr“4 rückzugewinnen, was wir verloren haben; dass wir Hilde Domin. Frankfurt a. M. bezeichnet, in ihrem Roman Das zweite Paradies ein […] Fiktionen erschaffen, […] unsichtbare, imaginä- 1998, 29-35, hier: 29. anderes Bild als die bisher angeführten Autoren. Bei re Heimatländer […] der Phantasie.“13 Die literari- Domin erscheint die Rückkehr nach Deutschland als sche Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen 5 Domin: Das zweite Paradies. Rückkehr in ein „zweites Paradies“. Diese gelingt und Brüchen der Rückkehr setzt laut Rushdie zudem Roman in Segmenten [1968]. allerdings nur, wenn man sich von der Vorstellung ein kreatives Potential frei:14 „so unsicher und ver- Frankfurt a. M. 1993, 133. verabschiedet, in ein erstes Paradies und damit in änderlich dieser Boden auch sein mag, er ist kein den Zustand vor der Vertreibung zurückkehren zu unfruchtbares Territorium für einen Schriftstel- 6 Gadamer: Hilde Domin, 31. können: „Das zweite Paradies […] ist nicht weniger ler.“15 Paradies als das frühere. Wir müssen nur erst durch In Rushdies Zitat verbirgt sich außerdem eine inter- 7 Gadamer: Hilde Domin, 33. die Wirklichkeit hindurch.“5 (Vgl. zu der Verknüp- textuelle Anspielung auf eine biblische Rückkehr- fung des Motives der Kleidung mit dem der Rück- Erzählung. Im Alten Testament erhält Lot von Gott 8 Denise Reimann: „denn man kehr in Domins Das zweite Paradies den Artikel von den Rat, mit seiner Familie vor der geplanten Zer- liebt immer nur ein Phantom.“ Carla Swiderski, S. 14). Damit ist, wie Gadamer re- störung Sodoms zu fliehen, ohne sich umzudrehen. Heimatumschreibung einer Remigrantin in Hilde Domins sümiert, die Rückkehr „ein neuer Abschied – der Seine Frau allerdings blickt während der Flucht zu- lyrischem Roman „Das zweite dritte Abschied. Denn jetzt erst ist das, wovon man rück und wird daraufhin zur Salzsäule.16 So be- Paradies“. In: Chiara Conterno Abschied nehmen mußte, ganz von einem geschie- schreibt auch Rushdie die schmerzhaften Folgen des u. Walter Busch (Hg.): Weibliche 6 7 jüdische Stimmen deutscher den.“ Die Rückkehr in ein „Andersgewordenes“ Zurückblickens, setzt dem daraus folgenden Anblick Lyriker aus der Zeit von Verfol- birgt gleichzeitig die Möglichkeit, „die Vorstellung der zerstörten Heimat aber eine phantastische Hei- gung und Exil. Würzburg 2012, einer in sich geschlossenen und mit sich selbst iden- mat entgegen. Auch Domins bereits erwähnter Ro- 145-163, hier: 160. tischen [...] Heimat zu hinterfragen, deren Grenzen man, Das zweite Paradies, ruft einen biblischen Prä- 9 Gunther Gebhard, Oliver aufzuzeigen und umzuschreiben.“8 Damit ist ein we- text auf. Auf diese Weise werden Erfahrungen von Geisler u. Steffen Schröter: sentlicher Punkt aufgeworfen, der sich unweigerlich Flucht und Vertreibung mit der jüdisch-christlichen Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Ein- mit dem Problemhorizont von Rückkehr verbindet: Erzählung des Sündenfalls verknüpft, die Phanta- leitung. In: Dies. (Hg.): Heimat. Denn diese fragt immer auch nach (Neu-)Bewertun- sien von Rückkehr in ein endzeitliches Paradies im- Konturen und Konjunkturen gen von Heimat, Zugehörigkeit und Identität. Die Be- mer schon mitdenkt: „Das Erlebnis der Vertreibung eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld 2007, 9-56, hier: 10. wegungsfiguren, die Narrativen der Rückkehr zu- aus dem Paradies und die dauernde Suche nach ei- grunde liegen, sind also mehrdirektional. Damit nem zweiten Paradies ist die allgemeine Conditio 10 Sünne Juterczenka u. Kai eröffnen Erzählungen von Rückkehr dynamische Humana, von Adam und Eva bis zu uns.“17 Ein wei- Marcel Sicks: Die Schwelle der und transnationale Perspektiven. Das erkennt man teres biblisches Motiv, das sich wiederholt auch in Heimkehr. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Figurationen der Heim- beispielsweise an einem ständigen Springen zwi- Texten über Rückkehr im Exilkontext findet, ist das kehr. Die Passage vom Fremden schen Orten, Zeiten und Kulturen. Die drei eng an Gleichnis vom verlorenen Sohn. Nach längerer Ab- zum Eigenen in Geschichte und den Begriff der Heimat gebundenen Kategorien von wesenheit kehrt er reumütig nach Hause zurück und Literatur der Neuzeit. Göttin- 9 gen 2011, 9-29, hier: 10. „Raum, Zeit und Identität“ geraten in Texten, die von wird vom Vater (wieder-)aufgenommen (vgl. dazu Rückkehr erzählen, so immer wieder durcheinan- den Artikel von Heike Klapdor, S. 4). Mit dem Ver- 11 Juterczenka u. Sicks: Die der. Die strikte strukturelle Dreiteilung von den Zu- weis auf die „Weissagung des Teiresias“18 bedient Schwelle der Heimkehr, 19. ständen Heimat – Exil – Rückkehr lässt sich daher sich auch Zuckmayer eines – diesmal mythologi- 12 Evangelia Kindinger: häufig nicht aufrechterhalten. Die Heimkehrer wer- schen – Prätextes. In der homerischen Odyssee wird Homebound: Diaspora Spaces den vielmehr zu „Wanderer[n] zwischen den Wel- dem paradigmatischen Rückkehrer Odysseus von and Selves in Greek American 10 Return Narratives. Heidelberg ten“ und die Rückkehr zu einem Schwellenphäno- Teiresias in der Unterwelt prophezeit, dass seine 2015, 49. men, einem „Ereignis des Dazwischen, das klare Rückkehr nur von kurzer Dauer sein wird. Denn Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 3

13 Salman Rushdie: Heimat- länder der Phantasie [1982]. In: Ders.: Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981-1991. München 2014, 21- 36, hier: 21.

14 Vgl. dazu auch Juterczen- ka u. Sicks: Die Schwelle der Heimkehr, 24.

15 Rushdie: Heimatländer der Phantasie, 29.

16 Vgl. Gen 19:24-26.

Odysseus tötet Freier, Illustration in Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (1882) kurz nach seiner Heimkehr steht ihm ein erneutes onen der Gründung des Staates Israel zu, die im Mai Abenteuer bevor.19 Damit verweist Zuckmayer be- 1948 erfolgte. Damit scheint zunächst das wesent- zeichnenderweise gerade nicht auf das viel rezipier- liche Ziel des Zionismus, die Gründung eines jüdi- 17 Gert Eisenbürger: Befreiung te Motiv der geglückten Heimkehr innerhalb der schen Staates, erreicht. Aus der Idee des Zionismus durch Schreiben. Interview mit Hilde Domin [1994]. In: ila 180, Odyssee – eine Heimkehr, die sich Odysseus mittels ergibt sich allerdings für viele Menschen jüdischer unter: https://www.ila-web. der blutigen Rache an den Freiern, die sein Heim be- Herkunft die Situation, in ein Land ‚zurückzukeh- de/ausgaben/180/befreiung- setzt halten und seine Frau belagern, erkämpft (vgl. ren‘, in dem sie zuvor noch nie waren. Auch die Ge- durch-schreiben [abgerufen: 04.01.2018]. Abb. oben). Vielmehr wird der Schwerpunkt hier auf neration der nach der Shoah Geborenen setzt sich den, in der Odyssee selbst unerzählt gebliebenen, er- immer wieder mit diesem Thema auseinander (vgl. neuten Aufbruch gelegt – wodurch die Situation des den Artikel zu Vladimir Vertlibs Schimons Schweigen 18 Zuckmayer: Als wär’s ein Ich-Erzählers in Zuckmayers Text gespiegelt wird, von Kirsten Scherler, S. 18). Dabei wird die Frage Stück von mir, 461. der nach seiner Heimkehr ebenfalls wieder aus aufgeworfen, inwieweit Israel zur eigenen Heimat Deutschland aufbricht, wodurch das Exil zur ‚jour- geworden ist und wie die auch heute noch bestehen- 19 Vgl. Homer: Odyssee. In: ney of no return‘ wird. den Aufrufe zur Alija, der Einwanderung nach Isra- Ders.: Ilias und Odyssee. Grie- chisch und Deutsch. Übers. v. Jo- Erzählungen von Rückkehr sind auch in der Gegen- el, das Spannungsverhältnis zwischen Israel und der hann Heinrich Voß. Frankfurt a. wartsliteratur vielfältig vertreten und nehmen ganz Diaspora22 prägen. M. 2008, 11,119-137 und in dem unterschiedliche Exilkonstellationen in den Blick In den bisher angeführten Beispielen wurde Rück- Bericht Odysseus’ an Penelope 23,267-284. (vgl. den Artikel von Anne Benteler über den 2016 kehr im weitesten Sinne als geographische Rück- erschienen Text Die Rückkehr von Hisham Matar, in kehr verstanden, etwa einer zuvor vertriebenen Ro- dem es um Exil und Rückkehr nach Libyen geht, S. manfigur (vgl. zur Rückkehr einer kommunistischen 20). In aktuellen Erzählungen kommt es häufig zu Widerstandskämpferin während des Zweiten Welt- einer intertextuellen Rückkehr historischer Exiltex- kriegs in Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands 20 Doerte Bischoff u. Susanne te, sodass die vom Nationalsozialismus erzwunge- den Artikel von Frida Teichert, S. 11; sowie zur Komfort-Hein: Einleitung: Literatur und Exil. In: Dies. 20 nen Exile als „markante Signatur“ Eingang in spä- Rückkehr eines zuvor vertriebenen Ehepaares ins (Hg.): Literatur und Exil. Neue tere Texte finden und „interexilische Korrespon- Nachkriegsösterreich in Thomas Bernhards Drama Perspektiven. , Boston denzen“21 herstellen. Heldenplatz den Beitrag von Lenard Manthey Rojas, 2013, 1-20, hier: 8. Ein prominentes, jüdisches Rückkehrnarrativ, das S. 15). Eine zentrale Bedeutung erlangt Rückkehr ebenfalls in der Gegenwartsliteratur thematisiert aber nicht nur in Texten, in denen sie von einem Pro- wird, ist das des Zionismus. Seit der Zerstörung des tagonisten tatsächlich vollzogen wird. „Auch dort, 21 Vgl. zum Thema Interexil: Zweiten Tempels 70 n. Chr., der auf dem Tempelberg wo sie nicht verwirklicht wird, nimmt die denkbare exilograph Nr. 23, Frühjahr 2015. Zion in Jerusalem (wieder-)erbaut worden war, sah oder undenkbare Rückkehr […] auf den Verlauf der sich der Großteil der jüdischen Bevölkerung ge- Romanhandlung Einfluss.“23 Dafür steht beispiels- zwungen, in der Diaspora zu leben. Über 2000 Jah- weise Joseph Roths Hiob (1930), dessen Protagonist re hinweg bildete Jerusalem seitdem einen Sehn- sich während seines Exils in New York beständig in 22 Vgl. dazu Gershom Scholem: suchtsort, der mit dem Wunsch nach einer Erinnerungen an seine zurückgelassene Heimat Israel und die Diaspora. In: Ders.: Judaica 2. Frankfurt a. M. zukünftigen Rückkehr in das ‚Gelobte Land‘ ver- flüchtet. Dergestalt nehmen die Imaginationen ei- 1970, 55-76. knüpft erschien. Daraus wurde über die Jahrhun- ner möglichen Rückkehr eine zunehmend größere derte hinweg eine immer dringlichere Forderung Rolle ein (vgl. dazu den Artikel von Marcus Dahmke, nach der Gründung eines jüdischen Staates, der das S. 9). Welche Hoffnungen und Erwartungen knüpfen 23 Bettina Bannasch u. Michael Dasein in der Diaspora beenden sollte. Erst nachdem sich an eine bloß imaginierte Rückkehr, die durch Rupp: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Rückkehrerzählungen. Über die die Diskriminierung, Verfolgung und systematische einen tatsächlichen Vollzug u.U. enttäuscht würden? (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Unterdrückung der jüdischen Diaspora schließlich Oder sind die Versehrungen durch die Vertreibung Jude in Deutschland zu leben. in der Shoah gipfelte, stimmten die Vereinten Nati- zu tiefgreifend, um auch nur fiktiv in eine intakte Göttingen 2018, 7-14, hier: 12. 4 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

24 Hilde Domin: Unter Ak- Heimat zurückkehren zu können? Eine weitere Fa- der (Diskurs-)Macht“26. Was aber geschieht bei- robaten und Vögeln. Fast ein cette der imaginierten Rückkehr ist die Heimkehr spielsweise mit Sammlungen und Bibliotheken, de- Lebenslauf [1964]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische ins Wort, die in vielen Exiltexten beschrieben wird: ren Inhaber ins Exil vertrieben wurden? Und wie Schriften. Fast ein Lebenslauf. „verwaist und vertrieben, da stand ich auf und ging lässt sich deren Geschichte wieder sichtbar machen, Frankfurt a. M. 1998, 21-31, heim, in das Wort.“24 So konstatiert auch Oskar Ma- bzw. wie werden die Dinge von stummen Zeugen hier: 21. ria Graf: „Heimat ist Sprache“25. Theodor W. Adorno wieder zu beredten? (Vgl. zur Remigration von hingegen bringt der Sprache generell und der deut- Sammlungen und deren Bedeutung für heutige Be- schen Sprache im Besonderen, die von der national- stände den Artikel von Caroline Jessen, S. 8). Etwas sozialistischen Diktatur gewaltvoll vereinnahmt anders gelagert ist die Ausgangssituation in W.G. und entstellt wurde, eine tiefgreifende Skepsis ent- Sebalds Austerlitz, in der der unter Amnesie leiden- gegen. Obwohl er nach Deutschland zurückgekehrt de Protagonist seine eigene Geschichte und die sei- 25 Oskar Maria Graf: Warum ist, ist eine bruchlose Rückkehr in die Mutterspra- ner deportierten Eltern zu rekonstruieren sucht. Bei ich nicht nach Deutschland che für ihn nicht ohne weiteres möglich (siehe dazu dieser Rückkehr in die Vergangenheit dienen die zurückkehre. In: Hermann Kesten (Hg.): Ich lebe nicht in den Artikel von Lene Greve, S. 12). Dinge als einzige Erinnerungsstütze einer fragmen- der Bundesrepublik. München Ein weiteres Motiv der nicht-physischen Rückkehr tarischen Spurensuche (siehe dazu den Artikel von 1964, 60-62, hier: 62. ist die Rückkehr der Dinge. In literarischen Texten Finja Zemke, S. 17). tauchen immer wieder Dinge (z.B. Fotografien, Kof- Eine aufspürende Rekonstruktion der verschütte- fer, Bücher oder emotional aufgeladene Dekorati- ten Vergangenheit hat auch der 2016 erschienene onsgegenstände) auf, anhand derer unterschiedli- Roman Das Vermächtnis der Seidenraupen zum The- che Lebensgeschichten rekonstruiert werden. Dabei ma. Der in Brasilien geborene Autor Rafael Cardoso wirken oft zwei sehr gegensätzliche Faktoren zu- erzählt darin die Geschichte seines Urgroßvaters sammen, die eine paradoxe Situation ergeben: Ei- Hugo Simon, der 1933 aus Deutschland geflohen ist. 26 Doerte Bischoff u. Joachim nerseits sind viele Dinge äußerst langlebig und hal- Für den Urenkel wird dies zum Anlass, nach Schlör: Dinge des Exils. Zur ten gewissermaßen als Stellvertreter eine Erinne- Deutschland ‚zurückzukehren‘, die deutsche Spra- Einleitung. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 31 rung wach. Andererseits sind sie aber stumme che zu erlernen und so die Spuren der eigenen Fa- (2013), 9-20, hier: 18. Zeugen, die von ihrer Geschichte selbst nicht berich- miliengeschichte zu rekonstruieren (siehe das In- ten können. Dieses Verhältnis wird besonders viru- terview mit dem Autor, S. 21). Wie existentiell lent, wenn man sich beispielsweise die Geschichte Fragen nach einer möglichen Rückkehr sind, zeigt des jüdischen Besitzes in Nazi-Deutschland an- sich also nicht zuletzt daran, dass sie selbst für die Jasmin Centner, M.A., ist Stipen- schaut. Dieser wurde geraubt, beschlagnahmt und nachfolgenden Generationen noch Bedeutung ha- diatin des Doktorandenkollegs unter regimetreuen Bürgern neuverteilt. Nach 1945 ben. Derartige, Zeiten und Räume übergreifende, Geisteswissenschaften und Mitglied im Team der Walter A. konnten viele der ehemaligen Besitzer, die depor- Bewegungsmuster zeigen dabei, dass an die Stelle Berendsohn Forschungsstelle tiert und ermordet wurden, ihre Geschichte nicht klarer Einteilungen – Heimat hier, Fremde dort – zu- für deutsche Exilliteratur. Sie mehr selbst erzählen. Stattdessen zeugten die üb- nehmend vernetzte Orte und komplexe Zugehörig- arbeitet an einer Dissertation zu Narrativen der Rückkehr riggebliebenen oder mit ins Exil genommenen Din- keiten treten. Eindeutige Orte des Ursprungs, an die im Kontext von Gewalt und ge von dieser Vergangenheit und symbolisieren so man bruchlos zurückkehren könnte, werden so in Vertreibung. eine „Widerständigkeit […] gegenüber den Zugriffen Frage gestellt.

Jasmin Centner

Der verlorene Sohn

Zu den Prätexten, von denen literarische Imagina- tert und kehrt im Bewusstsein seiner Verfehlung tionen der Rückkehr ausgehen, gehört das biblische und seines Statusverlustes zurück. Statt den ver- 1 Neues Testament, Gleichnis vom verlorenen Sohn.1 Die Parabel ver- kommenen Sohn zurückzuweisen, empfängt der Va- Luk 15:11-32. knüpft die reversible Bewegung mit einer religions- ter ihn im Gegenteil freudig und festlich. Glück und ethischen Dimension und gewinnt ein Modell tu- Großzügigkeit des Vaters stoßen auf Unverständnis gendhaften Handelns. Gefasst zwischen Vision und und Kritik des älteren, Norm und Tradition respek- Re-Vision, bildet die raum-zeitliche Bewegung von tierenden und sich zurückgesetzt sehenden Sohnes. Exodus, Krise und Lösung den Rahmen eines dop- Indem er die Sohnespflicht der Verehrung und Treue pelten Aufbruchs für eine historisch patriarchale, gegenüber der patriarchalen Autorität aufkündigt, gleichwohl universelle gesellschaftliche Utopie. Drei handelt der titelgebende „verlorene Sohn“ ebenso Figuren – ein Vater und seine beiden Söhne – öffnen revolutionär wie die spiegelbildliche Figur des ver- die Perspektiven der moralischen Erzählung auf den zeihenden Vaters. Der verlorene ist also ein wieder- Grundkonflikt von Ordnung und Revolte, von Norm gefundener Sohn und Mensch, als solcher ist er für und Abweichung. Der jüngere Sohn verlangt die Aus- den neuen, nicht mehr eisernen, sondern vergeben- zahlung seines Erbteils, bricht auf in die Ferne, schei- den und liebenden Vater-Gott das Demonstrations- Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 5

2 Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesell- schaft. München 1963.

3 Hans Weigel: Unvollendete Symphonie [1951]. Wien 2015, 158.

4 Alfred Polgar: Der Emigrant und die Heimat. In: Ders.: Anderseits. Erzählungen und Erwägungen. Amsterdam 1948, 225.

5 Bertolt Brecht: Rückkehr [1943]. In: Ders.: Gesammel- te Werke. Hg. in Zsarb. mit Elisabeth Hauptmann. Bd. 10: Gedichte 1941-47. Frankfurt a. M. 1967, 858.

Der Ruf (Regie: Josef von Báky, BRD 1949) © Deutsche Kinemathek objekt des neutestamentarischen Ethos. deraufbau und Neuanfang. Um sie, die nicht schuldig 6 Walter von Molo, Brief an Was nach 1945 zu vergeben wäre, ist monströs. gewordenen und überlebenden Opfer, werben die Thomas Mann, 13. 8. 1945. Zit. nach: Heinz Ludwig Arnold Schuld, Gedächtnis- und Autoritätsverlust konsti- Täter und ‚Dagebliebenen‘, wenn sie sie auffordern (Hg.): Deutsche Literatur im tuieren eine „vaterlose Gesellschaft“2, in der nie- zurückzukehren, um „wie ein guter Arzt“6 zu helfen. Exil 1933-1945. Bd. I: Dokumen- mand, nicht die Täter, nicht die „Hiergewesenen“3, Was Thomas Mann 1945 zurückwies, erfüllt die Fi- te. Frankfurt a. M. 1974, 246. die Vaterfunktionen Schutz, Wertevermittlung, Ori- gur Professor Mauthner in dem Film Der Ruf (1949)7 7 Der Ruf (BRD 1949), Regie: entierung, Ernährung und Erhaltung ausfüllt. Die auf programmatische Weise, und mit ihm, dem Pro- Josef von Báky, Idee, Drehbuch und Hauptdarsteller: Fritz Nachkriegsgesellschaft muss sich der Unumkehr- tagonisten des Films, verkehrt sich die Geschichte Kortner. barkeit des Geschehenen stellen: in Prozess, Urteil des verlorenen Sohnes im Kontext der Remigration und Strafe; in der Herausforderung, den Tätern zu auf vollends paradoxe Weise: Aufgefordert, nach vergeben – im ethisch-religiösen wie im politisch- Deutschland und an seine Universität, die ihn 1933 konstitutiven Sinn; in einer Art „modus vivendi“, relegierte, zurückzukehren, „um der ratlosen Jugend denn „[d]ie zufällig nicht umgebracht wurden, müs- den Weg zu zeigen“, folgt der von Fritz Kortner ver- sen ihren Frieden machen mit denen, die zufällig körperte Emigrant der Einladung. Er trifft auf eine nicht mehr dazu gekommen sind, sie umzubringen.“4 studentische Jugend, die ebenso Orientierung sucht Reproduziert Bertolt Brechts Imagination der Rück- wie sie sich in einem mörderischen Antisemitismus kehr im gleichnamigen Gedicht (1943) das konsti- verbunkert hat. Zu den letzteren gehört der Sohn tutive Muster, indem der Sohn „nach Haus“ kommt des Remigranten, der sich am Totenbett zu dem erst in die „Vaterstadt“ und sich fragt: „wie empfängt sie jetzt erkannten Vater bekennt und ihn um Verzei- mich wohl?“5, greift der noch im amerikanischen hung bittet. Vertritt im Generationenverhältnis des Exil lebende Dichter in die damit verbundene Wert- biblischen Prätextes der Vater die Einheit von Hei- axiomatik ein und verkehrt sie in ihr Gegenteil: Der mat, normativer Ordnung und moralischer Autori- Vater, nicht der Sohn hat Schuld auf sich geladen, der tät, die der sich räumlich/äußerlich und geistig/in- Sohn kehrt nicht als gebrochener Verlierer, sondern nerlich entfernende Sohn aufkündigt, nimmt der als triumphierender Sieger zurück: „Tödliche Remigrant, dem die Zugehörigkeit zu Heimat und Schwärme / Melden Euch meine Rückkehr. Feuers- Kultur abgesprochen wurde, nicht etwa die Stelle brünste / Gehen dem Sohn voraus.“ Die richtende des verlorenen und wieder aufgenommenen Sohnes 8 Elisabeth de Waal: Donners- Instanz ist nicht der verzeihende Vater, sondern der ein, sondern die des Vaters. Es ist der ausgestoßene, tags bei Kanakis. Die Original- ausgabe des autobiographi- Sohn, der wie ein strafender Gott auftritt. Eine als Emigrant zum Außenseiter gemachte, gesell- schen Romans erschien 2013 Machtphantasie der ehedem Ausgestoßenen und schaftlich und politisch ohnmächtige Vater, der aus in London unter dem Titel „The ohnmächtigen Verlierer, eine Wunschvorstellung der Ferne zurückkehrt; der moralisch starke, lie- Exiles return“. Der Protagonist Kuno Adler, ein nach Amerika der Rückkehrwilligen bzw. der Remigranten. bende, verzeihende väterliche Mentor nimmt sich emigrierter österreichischer Sie korrespondiert auf zynische Weise mit dem In- des schuldig gewordenen jugendlichen Adepten, des teresse der ‚Dagebliebenen‘, die Emigranten als mo- im zerstörten Raum von Heimat, Ordnung und Au- eingegangen, er kehrte zurück.“ WienJude, „war2015, eine 20. Verpflichtung ralische Rückversicherung auszubeuten für Wie- torität verlorenen Sohnes an. Der Remigrant füllt 6 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

die Leerstelle des abwesenden Vaters einer „vater- Ders.: Die Erzählungen und 9 Franz Kafka: Heimkehr. In: losen Gesellschaft“ aus. andere ausgewählte Prosa. Hg. 8 v. Roger Hermes. Frankfurt a. Die moralische „Verpflichtung“ , die im Falle des M. 1996, 464. Films Der Ruf in den Dienst des Re-Education Pro- gramms der Alliierten genommen wird, kostet die 10 Alfred Döblin: Schicksals- Remigranten ihre Biographie. Ihrer subjektiven Per- reise. Drittes Buch: Wieder spektive, der etwa Alfred Döblin in seiner Autobio- zurück, 21. Kapitel: Europa. In: - graphie oder Elisabeth de Waals Roman Donnerstags ten und letzte Aufzeichnungen. bei Kanakis Ausdruck verleihen, kommt unter den Ders.: Autobiografische Schrif Olten, Freiburg 1977, 368f. zahllosen literarischen Interpretationen des Motivs vom verlorenen Sohn Franz Kafkas Parabel Heim- kehr9 (1923/24) nahe. „Ich bin zurückgekehrt, ich Der Ruf (Regie: Josef von Báky, BRD 1949) © Deutsche Kinemathek 11 De Waal: Kanakis, 44. habe den Flur durchschritten und blicke mich um. [...] Ich bin angekommen. Wer wird mich empfan- digte „love affair“ (Der Ruf) verbindet. Der Remig- Die Literaturwissenschaftlerin gen?“ Kafkas erzählendes Ich imaginiert die Rück- rant bleibt ein verlorener Sohn: „Als ich wiederkam, Dr. Heike Klapdor forscht und kehr, die Parabel verharrt in der Zeitspanne zwi- da – kam ich nicht wieder. […] Ich bin nicht mehr der, schreibt seit 1983 über die 10 Themen Frauen, Exil und Film. schen Eintritt in den Raum und einem vage der wegging.“ „[Er] setzte sich auf eine Bank an Sie hat im Auftrag der Deutschen vorgestellten Auftritt des Vaters. Dem Raummodus einem verlassenen Weg und weinte.“11 - der Distanz, dem Zeitmodus des Dazwischen und Die mit dem Motiv des ‚verlorenen Sohnes‘ verknüpf- historisch wichtige Nachlässe recherchiert.Kinemathek und Sie istder Herausge DFG film- dem mentalen Modus der Unsicherheit korrespon- te symbolische Figurenkonstellation adressiert die berin von Exilliteratur (Anna dieren die Haltungen des Fragens, Erinnerns, Regis- Frage der Rückkehr aus dem Exil zwischen Konti- Gmeyner: Manja. Roman um fünf trierens, Wahrnehmens und Entzifferns. Sie poten- nuität und Bruch um 1945. Im zeitgeschichtlichen Kinder. 1984, 2014; Ich bin ein unheilbarer Europäer. Briefe aus zieren Fremdheit, statt sie aufzulösen: „Je länger Fokus treten allerdings nicht allein Väter und Söhne dem Exil. 2007; In der Ferne das man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. auf, sondern auch Mütter und Töchter. Sie, die ‚ver- Glück. Geschichten für Hollywood. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und lorenen Töchter‘, gehören zu den vielen noch kaum 2013) und Zeitschriften (FilmExil 1992-2005). Für ihre Verdienste mich etwas fragte.“ Isolation und Entfremdung sind untersuchten Themen der Remigrationsforschung. um das deutsche Filmerbe wur- die unaufhebbaren Erfahrungen des Remigranten, de sie 2016 mit dem Reinhold Entfremdung von sich selber als dem, der man war, Heike Klapdor Schünzel-Preis ausgezeichnet. von der Heimat und Kultur, mit der ihn eine beschä-

Rückkehr als Nach-Exil

1 Ernst Loewy: Von der Dauer Auch deutlich nach Ende des Nationalsozialismus rakterisierung: Es wird zugleich als definitiv und des Exils. In: Ders.: Zwischen und dem Wegfall der historischen Fluchtursachen als veränderlich gefasst. Zwar ist der Gang ins Exil den Stühlen. Essays und Auto- biographisches aus 50 Jahren. entstand eine Vielzahl von Texten exilierter Schrift- unumkehrbar, es handelt sich aber nicht um einen 1995, 314-331, hier: stellerInnen, in denen über das Verhältnis von Exil gleichbleibenden Zustand. Vielmehr bringt Kreisler 318. und Schreiben reflektiert wird. Der Exilant und Exil- mit dem Hinweis aufs „nächste Mal“ einen Einschnitt forscher Ernst Loewy wies Ende der Achtzigerjahre innerhalb der Exilerfahrung zum Ausdruck. Der Hei- nicht zuletzt mit Blick auf dieses Phänomen auf die matverlust wird erst als endgültig spürbar, wenn 2 Georg Kreisler: Der Schatten- Unabschließbarkeit des Exils hin. Er führte einen die Hoffnung auf einen Wiedergewinn der Heimat springer. Berlin 1996, 88. weiteren Exilbegriff in die Diskussion ein, der ein enttäuscht wird. Tatsächlich empfanden so gut wie „zeitlich gleichsam unbegrenzte[s] Exil[]“1 be- keine der Zurückgekehrten ihre Remigration als ge- 3 Georg Kreisler u. Rainer Mey- schreibt und so den Fokus der Exilforschung deutlich glückt.4 Dieser Zustand – so soll hier vorgeschlagen er: „Ich betrachte mich nicht als ausweitete. Diese Begriffsweiterung geht jedoch werden – lässt sich mit dem Begriff Nach-Exil be- Inbegriff irgendeiner Wiener über die Zäsur hinweg, die sich ergibt, wenn die zeichnen, welcher zugleich Zäsur und Kontinuität 12, hier: 12. Fluchtursachen aufgehoben sind und eine Rückkehr der Exilerfahrung verdeutlicht. Sache“. In: Aufbau 67/9 (2001), also biografisch erprobt werden kann. Erstmals ausführlich diskutiert, jedoch in einem In der Literatur wird dieser Einschnitt vielfach the- spezifischeren Sinne, wurde der Begriff von Stephan 4 Als einer der wenigen be- matisiert: „Einmal im Exil, immer im Exil, dachte er, Braese in seinem 2001 veröffentlichten Aufsatz zeichnete z.B. Hans Weigel sei- 2 ne Rückkehr aus dem Schweizer einmal so, das nächste Mal wieder anders.“ Diesen Nach-Exil. Zu einem Entstehungsort westdeutscher Exil nach Wien prominent Satz schreibt Georg Kreisler den Gedanken seiner Nachkriegsliteratur. Ohne eine Begriffsdefinition zu als „Bilderbuch-Heimkehr“. Figur John Greenway im Roman Der Schattensprin- formulieren, bezeichnet Braese damit den Zustand Hans Weigel: Eine Bilderbuch- Heimkehr. Kapitel aus meinen ger zu, während er sich über seine eigene Exilerfah- jener westdeutschen SchriftstellerInnen, die nach nichtgeschriebenen Memoiren. rung noch deutlicher äußert: „Ich bin ein Heimatlo- 1945 an ihrem Exilort verblieben, von dort aus lite- In: Jochen Jung (Hg.): Vom Reich ser, denn wenn man einmal ins Exil gegangen ist, rarische Texte verfassten, aber aufgrund von man- zu Österreich. Erinnerungen an 3 Kriegsende und Nachkriegszeit. bleibt man im Exil, auch wenn man zurückkommt.“ gelndem oder kritischem Kontakt zum deutschen München 1985, 60-66, hier: 60. Das Exil erhält in beiden Zitaten eine doppelte Cha- Literaturbetrieb keinen Verlag und keine Leser- Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 7

Untergegangene Heimat (USA 1936) © United States Department of Agriculture

5 Alfred Andersch: Deutsche schaft fanden. Das Klima in der literarischen Welt knüpft. Literatur in der Entscheidung. der Nachkriegszeit charakterisiert Braese, indem Gegen das enge Verständnis von Nach-Exil im Sinne Ein Beitrag zur Analyse der er das Verhalten der selbsternannten „Inneren Emi- Braeses ist folglich ein weiter gefasster, geografisch literarischen Situation. Karlsru- granten“ sowie der jüngeren NachkriegsautorInnen unspezifischer Begriff des Nach-Exils zu etablieren. he 1948, 18. aus dem Umfeld der Gruppe 47 gegenüber den Exi- Mit einem solchen allgemeineren Begriff können lautorInnen darstellt. So nimmt er die prominente verschiedene Phänomene in einer Weise diskutiert Kontroverse zwischen Walter von Molo, Frank werden, die sowohl den realweltlichen Erfahrungen Thiess und Thomas Mann um Fragen von Rückkehr, von Exilierung nach Wegfall der Fluchtursachen als 6 Stephan Braese: Nach-Exil. Innerer Emigration und patriotischer Pflicht in den auch den textuellen Verfahrensweisen von Exillite- Zu einem Entstehungsort west- Blick. Dabei zeigt sich, dass die von einigen Vertre- ratur nach 1945 entspricht. Zu den in vielen Texten deutscher Nachkriegsliteratur. terInnen der Inneren Emigration sowie von Mitglie- fassbaren nach-exilischen Erfahrungen gehören das In: Exilforschung. Ein interna- tionales Jahrbuch 19 (2001): dern der Gruppe 47 an die Exilierten gestellte For- Gefühl der Entfremdung von der nachfaschistischen Jüdische Emigration zwischen derung zur Rückkehr nach Deutschland nicht nur Gesellschaft, die schwierige bis erfolglose Bemü- Assimilation und Verfolgung, mit als inakzeptabel empfundenen Argumenten vor- hung um Rückstellung von arisiertem Besitz sowie Akkulturation und jüdischer Identität. Hg. v. Claus-Dieter gebracht wurde, sondern zudem an Bedingungen fortlaufende antisemitische Diskriminierung, aber Krohn u.a., 227-253, hier: 233. geknüpft war, die die ExilschriftstellerInnen nicht eben genauso der Fortbestand exiltypischer Prob- erfüllen wollten: Alfred Andersch forderte etwa die leme in der Fremde, wenn von einer Rückkehr ab- „Verwandlung des streitenden Ressentiments, der gesehen wurde. Gleichwohl ist das Nach-Exil kein leidenden Enttäuschung in eine Art von Objektivie- objektiver Zustand: Es hängt vielmehr von der Art rung der Nation gegenüber.“5 Es handelt sich also der subjektiven Bezüge auf die objektiven Verhält- um den Appell zum affirmativen Bezug auf die Na- nisse am Lebensort ab, sei es im Herkunfts- oder im 7 Jean Améry: Wieviel Heimat tion an sich, womit die individuellen Erfahrungen, Exilland. Es ist die Vielfältigkeit aller durchs Exil braucht der Mensch? In: Ders.: die die ExilantInnen konkret mit der deutschen Na- gebrochenen Lebenswege, die eine Ausweitung des Jenseits von Schuld und Sühne. tion gemacht hatten, ausgeblendet wurden. Braese Begriffs Nach-Exil erfordert, mithilfe dessen die spe- Bewältigungsversuche eines Überwältigten [1966]. Stuttgart verortet die Schreibtische des Nach-Exils deswegen zifische Situation endgültigen Heimatverlusts be- 1980, 74-101, hier: 75. „in Paris, in Stockholm und Poschiavo, aber auch schrieben werden kann. So entstehen neue Perspek- anderswo“, jedoch: „nicht auf deutschem Boden“.6 tiven auf Texte des Nach-Exils: So wie sich nicht von Die Literatur derjenigen, die eine Rückkehr erprob- der Poetik des Exils sprechen lässt, so lässt sich auch ten und sich zurück im Herkunftsland weiter im Exil die Poetik des Nach-Exils nicht allgemein fassen. Philipp Wulf, M.A., promoviert fühlten, wird von Braese demnach nicht unter dem Gleichwohl muss die Frage danach, welche literari- gegenwärtig zum Komischen in nach-exilischen Texten und ist Begriff Nach-Exil besprochen. Dabei war die Er- schen Verfahren und Motive das Schreiben im Nach- Stipendiat der Studienstiftung kenntnis, dass Heimkehr nicht möglich sei, „weil nie- Exil charakterisieren, als ein dringend zu bearbei- des deutschen Volkes. Zuvor mals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wie- tendes Forschungsdesiderat gelten. absolvierte er den Master 7 Deutschsprachige Literaturen dergewinn der verlorenen Zeit ist“ , ja unmittelbar an der Universität Hamburg. an die Erfahrung von Rückkehr(versuchen) ge- Philipp Wulf 8 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

Vom Auffüllen der Kriegslücken Zur „Rückkehr“ von Sammlungen

Die Bibliotheksgeschichte von Georg Leyh aus dem 1 Georg Leyh: Die deutschen Jahr 1956 zeichnet unter dem Eindruck der „Katas- Bibliotheken von der Auf- trophe“, die „über die deutschen wissenschaftlichen klärung bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1956, 478 u. 481. Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg hereingebrochen ist“, ein Bild zerstörter Häuser und Bestände; sie listet Gerettetes und Verlorenes auf, beschreibt Be- 2 Vgl. z. B. Antiquariat Karl mühungen um Zugänglichkeit und Benutzung – und & Faber: Sammlung Victor verweist in diesem Zusammenhang wiederholt auf Manheimer. Deutsche Barock- 1 literatur von Opitz bis Brockes. die „Auffüllung der Kriegslücken“. Mit Einleitung und Notizen von Der Ausdruck lenkt den Blick auf einen wichtigen Karl Wolfskehl. München 1927; Aspekt der Anstrengungen von Bibliotheken und Karl Wolfskehl: Ist es denn wahr? Zum Notstand unserer Forschungsinstitutionen, eine Tradition zu rekons- Staatsbibliothek. In: Münchener truieren und zu rehabilitieren, deren Trümmer 1945 Neueste Nachrichten, 1.3.1929; erst ins Auge fielen, obgleich sie lange vor der Bom- Karl Wolfskehl im neuseeländischen Exil 1947 © DLA Marbach Karl Wolfskehl: Beruf und Berufung der Bibliophilie in bardierung deutscher Bibliotheken zerstört worden unserer Zeit [1932]. In: Ders.: war. Einer von vielen Beobachtern dieser Situation Gesammelte Werke. Bd. II. Hg. war der Dichter Karl Wolfskehl, der zwischen 1899 Jahre nach dessen Tod begannen, seine große Kunst- v. Margot Ruben u. Claus Victor Bock. Hamburg 1960, 549-556. und 1933 die Arbeit der Bayerischen Staatsbiblio- und Handschriften-Sammlung aufzulösen, und 1975 thek sowie vieler Antiquariate in München schrei- und 1976 die Bibliothek Schockens über ein Ham- bend begleitet hatte und mit bedeutenden Samm- burger Auktionshaus versteigern ließen, fanden 3 Karl Wolfskehl an Ludwig lern und Gelehrten in der Stadt befreundet war.2 Tausende seltener Bücher und Handschriften Ein- Curtius, 23.9.1946. In: Cornelia Obgleich er schon vor 1933 in München den Aufstieg gang in Antiquariate, Privatsammlungen und große Blasberg (Hg.): Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland der Nationalsozialisten erlebt hatte, war er unmit- Forschungsbibliotheken wie das Deutsche Literatu- 1938-1948. Bd. II. Darmstadt telbar nach dem Zweiten Weltkrieg und der jüdi- rarchiv Marbach (DLA), die Bayerische Staatsbib- 1988, 793-795, hier: 794. schen Katastrophe angesichts der Zerstörung in liothek und die Staatsbibliothek Hamburg.6 Dort Deutschland entsetzt: „Ach, die deutschen Biblio- „ersetzten“ sie mitunter Zerstörtes oder ergänzten, 4 Karl Wolfskehl an Kurt theken! [...] Eine halbe Million Bände in München was sich in deutschen Sammlungen nach dem Krieg Frener, Auckland, 13.9.1946. verbrannt, die Gießner, die Darmstädter, die Karls- nicht mehr so leicht finden ließ, und fügten sich in In: Blasberg: Briefwechsel aus Neuseeland. Bd. II, 906–911, ruher völlig vernichtet, an Berlin, die mittel- und alt-neue Zusammenhänge ein. hier: 907. norddeutschen wagt man gar nicht zu denken. [...] Für Benutzer sind solche Prozesse der Rekonstruk- Das Kontinuum, innerlich schon lange brüchig, auch tion und Rehabilitation mithilfe eines nach 1945 nun von außen sinnfällig durchschnitten.“3 rasch wieder international vernetzten Antiquari- 5 Vgl. Ute Oelmann: Nachwort. Der im neuseeländischen Exil Gestrandete bemerk- atshandels allerdings kaum mehr sichtbar, da ‚Her- In: Deutsche Dichtung. Bd. III: te im Wissen um die Bedeutung dieses zerstörten kunftsangaben‘ zum Gesammelten in den meisten Das Jahrhundert Goethes. Hg. v. Stefan George u. Karl Wolfskehl ‚Kontinuums‘ zur Frage seiner Rückkehr, er wäre, öffentlichen Katalogen der Institutionen fehlen. [EA 1902]. Stuttgart 1995, würde er tatsächlich versuchen wieder in München Stattdessen wird Wert auf die Präsentation eines 191-213. zu leben, doch wohl, „was die Franzosen einen ‚re- Sammlungszusammenhangs gelegt, der die Konti- venant‘ nennen“4, ein gespenstischer Rückkehrer. nuität der Überlieferung erweist. So wirbt beispiels- Eine Remigration schien grotesk. weise der Forschungsverbund Marbach Weimar 6 Vgl. Marcel Lepper: Karl Hatte Wolfskehl zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wolfenbüttel – um stellvertretend für viele Samm- Wolfskehls Bibliotheken. Stefan George den Weg zu seinen Lesern gebahnt lungsstätten ein institutionell naheliegendes Bei- Wissenschaftsgeschichte und Provenienzforschung. In: Ge- und durch Anthologien und Essays eine nicht un- spiel zu nennen – damit, durch den Zusammen- schichte der Germanistik, 47-48 wichtige Vermittlerstellung für die Rezeption der schluss dreier großer Häuser „mehr als ein halbes (2015), 60-65; Caroline Jessen: Romantik und alter deutscher Literatur eingenom- Jahrtausend deutscher und europäischer Literatur-, Überlebsel. Karl Wolfskehls Bi- 5 7 bliothek und ihre Zerstreuung. men, so waren doch selbst befreundete Wissen- Kultur- und Ideengeschichte [zu] vereinen“ . Nur die In: Zeitschrift für Ideenge- schaftler wie die Germanisten Friedrich von der Material-Geschichten brechen ein solches Kontinu- schichte, 11/2 (2017), 93-110. Leyen und Ernst Beutler oder der Antiquar und um auf und legen das Netz früherer Zusammenhän- spätere Amtsleiter für Kunst und Kulturfragen im ge darunter offen. Doch immer noch ist „Proveni- 7 Forschungsverbund Marbach Stab von Rudolf Heß, Ernst Schulte-Strathaus, nach enz“, also die zu anderen, so nicht mehr existenten Weimar Wolfenbüttel. Kurz- 1933 von ihm abgerückt. Wie ließ sich da zurück- Zusammenhängen führende Herkunft des Gesam- information auf der MWW- Website, unter: http://www. kehren? melten, vorrangig präsent als eine Kategorie der mww-forschung.de/forschungs- Allerdings unterschätzte Wolfskehl das Nachleben, berühmten Vorbesitzer und der Dokumentation von verbund-mww/?menuopen=1 das seine 1937 an Salman Schocken verkaufte und Raub- und Beutegut. Auch weil begrenzte (Geld-, [abgerufen:30.1.2018]. dann in Jerusalem bewahrte Bibliothek führen soll- Zeit- und Personal-)Ressourcen eine Priorisierung te: Als die Erben des Verlagsgründers und Mäzens produzieren. Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 9

So ist für die germanistisch interessierte Forschung dessen Interesse an den Querverstrebungen der 8 Hieronymus Annoni: [Geist- kaum erkennbar, welch große Rolle die Zirkulation schwäbischen Dichterschule (vgl. Abb. der Schwäbi- liche Lieder]. 15 Teile in 1 Bd. Basel 1758-1786. Das Exemplar und ‚Remigration‘ von Handschriften nach 1945 für schen Blumenlese, die von Transferrouten nach Je- aus dem Besitz Wolfskehls ist die Überlieferung des ‚nationalen Kulturguts‘ ge- rusalem und zurück nach Deutschland erzählt). online zugänglich: http://digita- spielt haben; und so sind die Geschichten von Auto- Wolfskehl als Vorbesitzer zu übergehen machte lisate.sub.uni-hamburg.de grafen und Manuskripten, die nur erhalten sind, weil Sammler sie – selbst verfolgt – an andere Orte ret- teten, unsichtbar. Seien dies Fontane-Briefe in der Staatsbibliothek Berlin, Rezeptbücher des 16. Jahr- hunderts in der Bayrischen Staatsbibliothek, die „Geistliche Lieder-Buschel für Gutwillige Himmels- Pilger“8 in der Hamburger Staats- und Universitäts- bibliothek oder Bücher aus dem Besitz Eduard Möri- kes und Bestände des Cotta-Archivs im DLA Marbach. Eine Liste der ohne ihre Besitzer ‚zurück- gekehrten‘ Autographen und Drucke würde die deutsche Literaturgeschichte von der Frühen Neu- zeit bis 1933 in all ihren Verästelungen abbilden. Mithin wären also Kontinuität und Diskontinuität stärker zusammenzudenken – durch Exilarchive allein gelingt dies nicht. Aus dieser Perspektive ist die Dokumentation der Provenienz von Büchern und Handschriften aus dem Antiquariatshandel ein er- Schwäbische Blumenlese (Foto: Jens Tremmel) © DLA Marbach innerungspolitisch bedeutsamer Akt und betrifft zugleich Sorgfalt und Redlichkeit der Philologie. mithin einen literarhistorischen Zusammenhang 9 Karl Mayer: Gedichte. 3., verb. Dies zeigt die zerstreute Bibliothek Karl Wolfskehls. unkenntlich. Die Ambivalenz, mit der Nachlässe u. verm. Ausgabe. Stuttgart 1864. Das Wolfskehl’sche So wurden 1975 z.B. im DLA mehrere seltene Dru- emigrierter Autoren ausgestellt und viele nicht ‚exil- Exemplar ist im DLA unter der cke des Cotta-Verlags und ein Widmungsexemplar spezifische‘ Antiquariatsankäufe von Handschriften Zugangsnummer 75.0596/1-6 der Gedichte Karl Mayers (1864)9 für Eduard Möri- und Drucken aus dem Besitz von Emigranten in die ke (mit Korrekturen, eingelegten Goethe-Gedichten, allgemeine Sammlung eingearbeitet wurden, mag zuCaroline finden. Jessen ist wissen- Briefen und Notizen des Beschenkten) als Teil der dabei die Sehnsucht nach einer Geschichte andeu- schaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund Marbach Cotta-Sammlung katalogisiert, ohne zu erwähnen, ten, die Mörike den Weg über München, Jerusalem Weimar Wolfenbüttel. Sie dass sie auch Teil der Bibliothek von Karl Wolfskehl und Hamburg nach Schwaben erspart hätte – aber beschäftigt sich am Beispiel gewesen waren und Auskunft geben konnten über auch das Wissen darum, das dem nicht so war. zerstreuter Autorenbibliothe- ken mit dem Zusammenhang von Handel, Materialpolitik und Caroline Jessen Forschung nach 1945.

„Aber man konnte ja immer noch heimkehren.“ Von Imaginationen der Rückkehr und dem Wunder der Wiederbegegnung in Joseph Roths Hiob

Ein neues Leben, eine neue Heimat verspricht sich spricht in diesem Zusammenhang von einer Spal- die Familie Singer von ihrer Auswanderung nach tung des Selbst und einem daraus resultierenden Amerika. Damit lassen sie zwangsläufig ihr früheres „Leben unter dem Zeichen des Unheimlichen“, wobei Leben gemeinsam mit ihrem kranken Sohn Menu- sich das Unheimliche in einer ständigen „Sehnsucht 1 Joseph Roth: Hiob. Roman chim in Europa zurück. Der Familienvater, Mendel nach der zurückgebliebenen Heimat“ ausdrückt.2 eines einfachen Mannes [1930]. Zürich 2010, 114. Alle Seitenan- Singer, muss aber schon bald nach der Ankunft in Mendels Leben in der Fremde wird fortan durch ge- gaben im Text beziehen sich auf New York feststellen, dass er die verlassene Heimat nau diese Sehnsucht bestimmt, die sich in unter- diese Ausgabe. nicht einfach durch einen Ortswechsel vergessen schiedlichen Imaginationen und Tagträumen von kann. Es kommt ihm so vor „als hätte er sich selbst der Heimat und seinem Sohn Menuchim manifes- in Zuchnow zurückgelassen“1, heißt es zum Ende tiert. Die Bemühung, sich den neuen Umständen an- des ersten von zwei Teilen des Romans. „Es war ihm, zupassen, ist zwar anfangs erkennbar, doch werden 2 Daniel Romuald Bitouh: als wäre er aus sich selbst herausgestoßen worden“ die Annäherungen an das neue Land und seine Kul- Ästhetik der Marginalität im Werk von Joseph Roth. Ein (114), als hätte er mit der alten Heimat, der traditi- tur vom Erzähler mit den Worten kommentiert, postkolonialer Blick auf die Ver- onellen jüdischen Gemeinschaft des Schtetls und Mendel würde nie vollständig in Amerika ankom- schränkung von Binnen- und seinem Sohn auch einen Teil seiner Selbst verloren. men und immer nur „beinahe“ heimisch sein können Außerkolonialismus. Tübingen 2016, 223 u. 236. Der Literaturwissenschaftler Daniel R. Bitouh (vgl. 117). Die alten Sorgen bleiben und „etwas fehlt“ 10 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

del zugleich Ausweg und Flucht aus einer für ihn teils unverständlichen, gottlosen Welt. Er fürchtet sich vor den amerikanischen Geschichten und Ver- sprechungen von Aufstieg und Erfolg, „die alle Welt veranlaßten, fröhlich zu sein, und an denen er keine Freude finden konnte.“ (126) Weiterhin an seinen Erinnerungen festhaltend, wen- den sich nach und nach die eigenen Familienange- hörigen vom Träumer Mendel Singer ab. Nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes Sam, der im Ge- gensatz zu seinem Vater den Traum einer amerika- nischen Aufstiegsgeschichte gelebt und für sein ‚Va- terland Amerika‘ gestorben ist, verliert sich Mendel vollkommen in seiner Zerrissenheit zwischen Ge- genwart und rekonstruierter Heimat: „Ich bin nicht Mendel Singer mehr“ (147). Die eingangs von seiner Frau erhoffte und von ihm zurückgewiesene Rück- kehr in die Heimat, die mit finanzieller Unterstüt- zung seiner Kinder durchaus möglich gewesen wäre, scheint nach dem Zerfall der Familie ausgeschlossen. Erst mit dem Frühling und einem Lied taucht die

Hiob von Ephraim Moses Lilien (1922) Vergangenheit und die Heimat erneut im Leben von Mendel Singer auf. Es ist die Melodie des verloren geglaubten Sohnes, Menuchims Lied, das in den welt- 3 Zu Natur- und Raumbeschrei- (121). Schmerz und Verlust mischen sich bereits früh abgewandt und zurückgezogen Lebenden erneut bungen und Heimatimaginati- in das Gefühl des Ankommens und gemahnen an Hoffnung pflanzt. „Für Mendel Singer kann der Trost onen siehe Sidney Rosenfeld: Glaube und Heimat im Bild des das vergangene, vertraute Leben. Nach einem Ge- und die Erlösung von seinem Schmerz nur aus Eu- Raumes. In: David Bronsen spräch mit seiner Frau, in dem sie ihren Wunsch ropa kommen.“6, fasst Eva Raffel zusammen. Mendel (Hg.): Joseph Roth und die nach einer Rückkehr zum zurückgelassenen Sohn Singer hofft auf die Rückkehr Menuchims (vgl. 174), Tradition. Aufsatz- und Materi- alsammlung. Darmstadt 1975, bekundet, setzt sich auch in Mendel die Sehnsucht anderenfalls würde er sich in heimischer Erde be- 233-239. nach einer Heimkehr fest, die ihn nicht mehr verlas- graben lassen. „[Z]urückgekommen bin ich, um hier sen wird (vgl. 121). Diese in ihm wurzelnde Hoff- ewig zu schlafen“ (178), heißt es in einem inneren nung drückt sich nicht zuletzt in dem Satz „Aber Monolog, in dem er sein Heimatdorf als imaginiertes 4 Vgl. zu Glaube als Heimat Eva man konnte ja immer noch heimkehren!“ (121) aus. Jenseitsparadies darstellt. In der gleichen Passage Raffel: Vertraute Fremde. Das Eine tatsächliche Heimkehr über den Ozean wird wird die biblische Thematik des ewig wandernden östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. von Mendel allerdings aus pragmatischen Gründen jüdischen Volkes angesprochen, die er durch seinen Tübingen 2002, 218. vorerst ausgeschlossen: „Und das Geld und der Weg imaginierten Tod mit den Worten „[M]ögen andere und wovon leben?“ (121). Statt das Wagnis einzuge- durch die Welt wandern“ (178) von sich weist. Hier hen, die eine Rückkehr mit sich bringen würde, spricht der Wunsch aus ihm, entweder anzukommen träumt er lediglich vom Leben im Schtetl: Natur, Tie- oder durch den Tod erlöst zu werden. 5 Doerte Bischoff: Wander- re und Pflanzen wecken Assoziationen, die Mendel Wie in der biblischen Geschichte geschieht das Wun- schaft und Zugehörigkeit. Jo- zurück in seine Vergangenheit führen.3 Er erfreut der jedoch noch rechtzeitig: Menuchim kommt als seph Roths Hiob als Erzählung von Migration und Exil. In: Der sich am weißen und harten Schnee, der scheinbar berühmter europäischer Musiker zu seinem Vater Deutschunterricht 1/2018, 21- „wie zu Hause in Zuchnow“ (138) ist und an ihm be- und zum ersten Mal öffnet sich Mendel seiner neuen 30, hier: 23. kannten Blumen (vgl. 150). Neben der Natur erin- Wahlheimat. Die Trennung, die in Europa mit dem nern auch Gegenstände an die früheren Zeiten: ein Verlassen des Sohnes eingesetzt hat, scheint durch Gebetbuch fühlt sich „heimisch [...] in seiner Hand“ dessen ‚Rückkehr‘ in Mendel Singers Leben mehr 6 Raffel: Vertraute Fremde, 227. an (130)4 und der Spirituskocher „sang beinahe wie oder weniger beendet zu sein. Ob es überdies eine der Samowar zu Hause.“ (138) In farbenprächtigen räumliche Rückkehr – nach Europa – für die Familie Bildern imaginiert Mendel sich aus der Gegenwart geben wird, lässt der Text offen. heraus und lässt die Heimat als „rückwärtsgewand- Marcus Dahmke studiert Deut- te Projektion“5 aufleben. Verknüpft sind diese Erin- Marcus Dahmke sche Sprache und Literatur mit nerungen immer häufiger mit der Stimme des Soh- dem Nebenfach Geschichte an der Universität Hamburg und nes Menuchim und mit den Vorwürfen, die die ist wissenschaftliche Hilfskraft Familie sich macht, da sie ihn nicht mit nach Ame- im Team der Walter A. Berend- rika genommen hat. „Hier in Amerika gesellte sie sohn Exilforschungsstelle. Nebenher arbeitet er in seinem [Menuchims Stimme] sich zu den vielen Stimmen, ersten Ausbildungsberuf als in denen die Heimat sang und redete“ (133). Die Ima- Buchhändler. ginationen von Heimat und Heimkehr sind für Men- Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 11

Die „undarstellbare Gemeinschaft“ Die Rückkehr einer Widerstandskämpferin in Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands

Peter Weiss kehrte aus dem schwedischen Exil nie überlebt auch die Romanfigur Lotte als eine von dauerhaft nach Deutschland zurück. Die Frage nach wenigen. Die Widerstandsgruppe zeichnet sich in der eigenen Zugehörigkeit bestimmte sein künstle- Weiss’ Text durch eine große interne Heterogenität risches Schaffen.1 Neben seinen Romanen und Dra- aus, verschiedene Berufe und soziale Schichten tref- 1 Vgl. Martin Hector: Örtlich- men sind auch viele seiner autobiografischen Texte fen aufeinander. Obwohl die Gruppe von ihrem ge- keit und Phantasie. Zur inneren Konstruktion der Ästhetik des geprägt vom Blick auf die eigene familiäre Herkunft meinsamen politischen Widerstand geprägt ist und Widerstands. In: Alexander und der (Un-)Möglichkeit eines endgültigen Ankom- alle anderen Themen eher ausgeblendet werden, Stephan (Hg.): Die Ästhetik des mens.2 Mit der Figur Lotte Bischoff entwirft Weiss zeichnet sich das Verhältnis untereinander durch Widerstands. Frankfurt a. M. 1983, 104-133, hier: 114. in Die Ästhetik des Widerstands eine Rückkehr aus Nähe, bedingungsloses Vertrauen und „Freund- dem Exil, die noch während des Zweiten Weltkrieges schaft“ (1139) aus. Die Widerstandsgruppe ordnet 2 Vgl. z.B. Peter Weiss: Abschied stattfindet. Lotte kehrt als kommunistische Wider- sich eindeutig der Kommunistischen Partei zu, führt von den Eltern. Frankfurt a. M. 1961 und ders.: Die Besiegten standskämpferin 1940 aus Schweden zurück nach aber intern Diskussionen um die politische Zukunft [1948]. Frank-furt a. M. 1985. Berlin, mit dem Auftrag, das Netzwerk im Unter- und insbesondere Lotte wehrt sich gegen Misstrau- grund auszubauen.3 Im Zuge der Rückkehr nimmt en gegenüber einzelnen Mitgliedern, womit sie sich 3 Vgl. Peter Weiss: Die Ästhetik sich die Figur weniger in ihrer Individualität, son- von der Parteilinie abgrenzt (vgl. 1101-1104). Alle des Widerstands [1981]. Frank- furt a. M. 2005, 954. Alle Seiten- dern zunehmend als Teil eines Kollektivs wahr. Sie Mitglieder zusammen bilden für sie „ein Ganzes“ angaben im Text beziehen sich bestimmt sich selbst als Subjekt über ihren politi- (1145). Dennoch kann sie sich nicht von ihren indi- auf diese Ausgabe. schen Widerstandskampf und sieht sich als Teil einer viduellen Emotionen lösen, sie hofft mit der Rück- „Kette“, in der „sie alle den gleichen Wert“ hatten und kehr auch ihrem in Haft sitzenden Ehemann und „in der es kein schwächstes Glied gab.“ (1136f.) ihrer zurückgelassenen Tochter wieder näher zu Lotte wird ein „Mitsoldat“ (943) der kommunisti- kommen Der Konflikt zwischen eigenen Bedürfnis- schen Berliner Widerstandsgruppe ‚Rote Kapelle‘. sen und politischen Aufträgen intensiviert die Am- Ebenso wie die literarische Lotte Bischoff an die bivalenzen, die ihre Rückkehr prägen: Berlin ist ihr historische Person Charlotte Bischoff (1901-1994) gleichzeitig vertraut und fremd (vgl. 972), die Men- angelehnt ist, existierte auch die Widerstandsgrup- schen in der Stadt nimmt sie als Feinde wahr, denen pe ‚Rote Kapelle‘ in Berlin zwischen 1933 und 1942. sie sich dennoch verbunden fühlt und auf deren Wi- Die meisten Mitglieder wurden 1942 von den Nati- derstand gegen die Nationalsozialisten sie weiterhin onalsozialisten in der Haftanstalt Plötzensee hinge- hofft (vgl. 969), die Sprache ist ihre eigene, indem sie richtet (vgl. 1108-1122). So wie Charlotte Bischoff auch von ihren politischen Feinden gesprochen wird,

Collage von Peter Weiss (1962) In: Gunilla Palmstierna Weiss u. Jürgen Schutte: Peter Weiss. Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1991, 189 12 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

4 Vgl. Peter Weiss: Meine ist sie aber bedrohlich (vgl. 952). Der namenlose Ich-Erzähler betont Lottes heraus- Ortschaft. In: Ders.: Rapporte. Es gibt nichts Festes oder Fertiges, in das Lotte Bi- ragende Stellung sowohl für den politischen Wider- Frankfurt a. M. 1968, 113-124. Peter Weiss hat auch malerisch schoff zurückkehren könnte, die Idee der Heimat standskampf als auch für ein alternatives Gemein- seine eigene Unzugehörigkeit wird von Weiss sowohl in diesem als auch in anderen schaftskonzept, das hier nicht realisiert, sondern sowie die Zerstörung einer Texten dezidiert verworfen.4 Ein Ankommen ist nur angesichts der Toten lediglich in Aussicht gestellt aufgegriffen wie in der Illust- in der Gruppe möglich (vgl. 1075), auch nach dem werden kann. Der französische Philosoph Jean-Luc fixierten Idee von Heimat Tod der meisten Mitglieder identifiziert sich Lotte Nancy hat ein solches Kollektiv auch als „undarstell- Abschied von den Eltern (siehe selbst als Teil dieser Gruppe und als Erinnerungs- bare Gemeinschaft“ beschrieben.5 Die Idee der Rück- Abb.ration S. zu 11). seiner Autobiografie trägerin für deren Gemeinschaftlichkeit und Wider- kehr ist bei Peter Weiss ausdrücklich an ein solches stand, was auch Widerstand gegenüber falschen Gemeinschaftsmodell, das nicht zuletzt in und mit 5 Jean-Luc Nancy: Die un- Vereinnahmungen und gewaltsam erzwungenen der literarischen Bearbeitung in Erinnerung ge- darstellbare Gemeinschaft. Gemeinschaften bedeutet. bracht und ausformuliert wird, geknüpft. Stuttgart 1988, 63. Die Gemeinschaft der Gruppe überdauert in der Er- innerung und den Erzählungen von Lotte Bischoff. Frida Teichert

Frida Teichert studiert Deutschsprachige Literaturen im Master an der Universität Zum Weiterlesen: Hamburg und ist studentische Hilfskraft im Team der Walter Tobias Mandel: Formen und Funktionen von Intertextualität und Intermedialität in der Ästhetik A. Berendsohn Forschungsstel- des Widerstands von Peter Weiss. St. Ingbert 2013. le für deutsche Exilliteratur. Jean-Luc Nancy: Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des ‚Kommunismus‘ zur Gemein- Nebenher arbeitet sie in einer literarischen Agentur. schaftlichkeit der ‚Existenz‘. In: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philoso- phie des Politischen. Frankfurt a. M. 1994, 167-204. Hartmut Rosa u.a.: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg 2010.

Rückkehr in die Muttersprache? Theodor W. Adornos Sprachbefremdung

1 Vgl. Stefan Müller-Doohm: Ad- Theodor W. Adorno, der 1933 im Zuge der antisemi- insbesondere seit dem Exil und auch nach seiner orno. Eine Biographie. Frank- tischen NS-Gesetzgebung aus seiner Stelle als Pri- Rückkehr 1953 Fremdwörter im Text. Wie lässt sich furt a. M. 2003, 301 u. 369. vatdozent entlassen wurde, verbrachte die Jahre Adornos zurückgebrachtes Schreibverfahren vor 2 Vgl. Müller-Doohm: Adorno, 1934-1949 im britischen und US-amerikanischen dem Hintergrund seines philosophischen Sprachver- 379f. u. 444f. Exil und kehrte erst 1953 endgültig nach Frankfurt ständnisses sehen? Welche Schlüsse lassen sich da- 3 Theodor W. Adorno: Auf zurück. Nach seinem Studium in Oxford war Adorno raus für das Verhältnis zur deutschen Sprache nach die Frage: Warum sind Sie bereits bei seiner Ankunft in den USA des Englischen der Rückkehr ziehen? zurückgekehrt. In: Ders.: 1 Gesammelte Schriften. Hg. v. auf akademischem Niveau mächtig. Auftragsarbei- Zentral für die Rolle von Sprache überhaupt in Rolf Tiedemann. Bd. 20.1: Ver- ten für das Radio Research Project Ende der 1930er Adornos Philosophie ist die Prozesshaftigkeit der mischte Schriften. Frankfurt a. und The Authoritarian Personality Mitte der 1940er Begriffe. Sie würden den Dingen nie vollständig ge- M. 1997, 394. verfasste er in englischer Sprache.2 Dennoch schrieb recht. Der Mensch, der als denkendes Subjekt durch 4 Theodor W. Adorno: Auf die er auch während und nach der Exilzeit, in der er ei- die Herrschaft über die Dinge und sich selbst kons- Frage: Was ist deutsch. In: nige seiner bekanntesten Werke wie die Minima Mo- tituiert sei, werde durch alles bedroht, was er nicht Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 10.2: ralia und die Dialektik der Aufklärung verfasste, fassen und begreifen – das bedeutet auch: begrifflich Kulturkritik und Gesellschaft. überwiegend auf Deutsch. fassen – könne, da er mit seiner Herrschaft über alles Frankfurt a. M. 1998, 700. Die Bewahrung der Erstsprache im Exil begründet andere auch sein Dasein verlöre. Sprache ist daher Adorno 1962 wie folgt: „Verwiesen bin ich auf die „ebenso ein Trennendes zwischen Gedanken und 5 Adorno: Was ist deutsch, 700. Sprache, die ich als meine eigene schreiben kann“3. Sache wie das, was gegen diese Trennung mobilisiert An anderer Stelle bemerkt er, dass man „das essen- zu werden vermag.“6 Ein Trennendes ist sie, weil 6 Theodor W. Adorno: Vorle- tielle Moment der Darstellung in der fremden Spra- sprachliche Begriffe ihren Gegenstand nie differen- sung über Negative Dialektik. che nicht voll sich erwerben kann“4, beim Schreiben ziert genug erfassen, ihm nie ganz gerecht werden Frankfurt a. M. 2007, 223. in einer „ernsthaft fremden Sprache“5 geriete man können. Mobilisiert werden kann sie durch Reflexi- 7 Vgl. Adorno: Was ist deutsch, unter den Bann der Verständlichkeit der Darstellung, on über diese Einschränkung. Eine solche intensive 699. anstatt die Dinge so genau und kompromisslos wie Sprachreflexion im Hinblick auf Nuancen und Rhyth- 8 Vgl. Theodor W. Adorno: möglich zu sagen. Während er sich also gegen einen mus ist zunächst und vor allem in der deutschen als Minima Moralia. Frankfurt a. M. Wechsel der Schreibsprache ausspricht und die deut- seiner eigenen Sprache möglich, kaum jedoch in ei- 1969, 32 u. 256. sche Sprache als seine „eigene“ benennt, platziert er ner neuerworbenen.7 Dabei bezeichnet Adorno al- Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 13

über Fremdwörter Gedanken. Dadurch, dass sie sich 9 Theodor W. Adorno: Wörter nicht assimilieren, womit sie harmlos würden, stö- aus der Fremde. In: Ders.: Ge- sammelte Schriften. Hg. v. Rolf ren sie im Text. Sie seien der Realität gerade deshalb Tiedemann. Bd. 11: Noten zur angemessen: als Fremdsprache für Fremddinge, für Literatur. Frankfurt a. M. 1974, die dem Subjekt fremd gewordenen Objekte. Sie wei- 216-232, hier: 220f. sen darauf hin, dass Sprache nicht rein in Bedeutung 10 Peter Weiss: Laokoon oder auflösbar ist.12 Bruchlose sprachliche Einheit und Über die Grenzen der Sprache [1965]. In: Ders.: Rapporte. Identität analysiert Adorno schon damals als bloße Frankfurt a. M. 1968, 170-187, Illusion. Das Irritierende, gleichsam Nichtorganische hier: 185. des Sprachgefüges, in dem sich Fremdwörter befin- den, mahnt zur Aufmerksamkeit auf das Unorgani- 11 Weiss: Laokoon, 181. Briefmarke anlässlich des 100. Geburtstages von sche jeglicher Sprache und ihre Unzulänglichkeit. 12 Vgl. Theodor W. Ador- Theodor W. Adorno (2003) Birgit Erdle weist auf die Kontinuität dieses Bildes no: Über den Gebrauch von Fremdwörtern. In: Ders.: der Sprache als nichtorganischer hin, wobei sie Gesammelte Schriften. Hg. v. lerdings diese eigene Sprache bereits als gewisser- durch das Exil eine Verschiebung des Fokus auf die Rolf Tiedemann. Bd. 11: Noten maßen enteignet,8 indem er die Idee einer Verdinglichung von Sprache sieht.13 Eine bruchlose zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974, 640-646. natürlichen Sprache grundsätzlich kritisiert. Schon Rückkehr aus dem Exil in eine als organisch erfah- der Klang des Natürlichen betrüge über die Teilhabe rene Muttersprache ist nicht nur aufgrund erlebter 13 Vgl. Birgit R. Erdle: Adornos der Sprache an der Trennung von Sache und Gedan- Brüche unmöglich. Gerade dies aber wird erst deut- Sprachdenken im Exil. In: 9 Exilforschung 32 (2014): ken. Dies unterscheidet ihn von Peter Weiss, der in lich, wenn es ein Bemühen um die Bewahrung der Sprache(n) im Exil, 83-99, v.a. seinem auf die eigene Exilerfahrung Bezug nehmen- (Mutter-)Sprache gibt. Dieses Bewahren darf jedoch 84-86. den Aufsatz Laokoon oder Über die Grenzen der Spra- nicht unkritisch dem Bewahrten gegenüber werden, 14 Adorno: Was ist deutsch, 701. che die Fremdsprache im Exil als „Ersatzsprache“10 wie Adorno nach seiner Rückkehr formuliert: „Der bezeichnet, die einen „Austritt aus der natürlichen Zurückkehrende, der die Naivetät zum Eigenen ver- Lene Greve studiert Gymna- Sprache“11 voraussetze. loren hat, muß die innigste Beziehung zur eigenen siallehramt mit den Fächern Deutsch und Geschichte an der Adorno reflektiert die existentielle Sprachbefrem- Sprache vereinen mit Wachsamkeit gegen allen Universität Hamburg. Zuvor hat dung, die durch das Exil womöglich intensiviert, Schwindel, den sie befördert.“14 sie Philosophie in Heidelberg aber nicht als solche hervorgerufen wird, auf andere und Jerusalem studiert. Sie ist zudem studentische Angestellte Weise. So macht er sich bereits vor der Exilerfahrung Lene Greve im P. Walter Jacob Archiv..

Neue Kleidung braucht das Land Miniatur über die Kleiderordnung in Hilde Domins Das zweite Paradies

Das zweite Paradies1 von Hilde Domin, der „Dichterin sich in einem ihrer Träume. Darin muss sie alles, was 1 Hilde Domin: Das zweite der Rückkehr“2, handelt von einer namenlosen Pro- sie besitzt, abgeben, weil es nicht ihr gehört. Nur in Paradies [1968]. Frankfurt a. M. 1993. Eine erste Fassung lag tagonistin, die nach Ende des zweiten Weltkriegs mit ein „fremdes Tuch“ (150) gehüllt verlässt sie das schon Ende der 1950er Jahre ihrem Ehemann Constantin aus dem Exil nach fremde Haus und den unbekannten Eigentümer. In vor, wurde aber vom Fischer Deutschland zurückgeht. Dort merkt sie schnell, dass der Tür wird sie zurückgerufen. Nun erkennt sie den Verlag abgelehnt. Alle Seitenan- gaben im Text beziehen sich auf sie nicht nahtlos an die Zeit vor der Exilierung an- Eigentümer plötzlich als jemanden, den sie liebt. Er diese Ausgabe. knüpfen kann. Kurz nach der Flucht hatte Constantin sagt, er brauche die Dinge nicht und sie solle doch sie mit einer anderen Frau betrogen, weil er nach alles wieder an sich nehmen. Die Kleider werden um 2 Hans-Georg Gadamer: Hilde Stabilität suchte und die Protagonistin, selbst Flüch- sie herum ausgebreitet und sie erinnert sich, einige Domin, Dichterin der Rückkehr [1971]. In: Ders.: Gesammelte tende, ihm diese nicht geben konnte. Nach der Rück- davon früher getragen zu haben. Im selben Moment Werke. Bd. IX: Ästhetik und kehr ist es nun die Protagonistin, die sich in einen wird ihr klar, dass sie sie niemals wieder anziehen Poetik. II. Hermeneutik im Voll- anderen Mann verliebt. Sie betrügt Constantin zwar können wird. Sie erscheinen ihr wie tote Lebewesen, zug. Tübingen 1993, 323-328. nicht mit Wolfgang, zumindest „[n]icht im landläufi- die gestorben sind, weil sie sie nicht beschützen gen Sinne“ (72), doch fühlt sie sich zu ihm hingezo- konnte. Die Trauer um den Verlust steigt erst bei gen und ihre Wahrnehmung des eigenen Körpers hat dieser Wiederbegegnung im Traum in ihr auf, denn sich durch ihn gewandelt. Während ihr Mann sich jetzt erkennt sie, dass sie nie wieder dieselbe sein darüber beschwert, dass sie sich verändert habe und wird wie zuvor – wie vor dem Exil, wie vor Wolfgang. sie sich wie früher wünscht, muss sie bei Wolfgang Der Bruch mit dem Vergangenen macht es ihr un- die starke Prägung durch die Herausforderungen im möglich, die alten Kleider zu tragen, da sie eine Be- Exil und die anschließende Rückkehr nicht unter- ständigkeit behaupten, die für sie nicht existiert. Sie drücken. Sie fühlt sich von ihm angenommen so, wie hat sich verändert und weder kann noch will sie dies sie jetzt ist. leugnen. Die Veränderung, die sie durchlebt hat, konkretisiert Constantin hingegen besteht auf Konstanz. Das sig- 14 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

schaftshistorischen Geschehen und bildet stellver- tretend die beiden vorherrschenden Tendenzen der Zeit ab: hier das Anknüpfen ans Beständige, da die Berufung auf einen Wandel.3 Diese beiden Haltungen stehen nicht wertfrei nebeneinander, denn es zeigen sich Unstimmigkeiten in der Bemühung um Kons- tanten. Auch wenn Constantins nachgekaufter Py- jama identisch scheinen mag, handelt es sich um ein Substitut. Eine Identität und damit Stabilität wird lediglich vorgetäuscht. Es bedarf also der Technik der Verdrängung und der permanenten Restitution, um die Stetigkeitsbehauptung aufrecht zu halten. In der Haltung der Protagonistin liegt eine Weige- rung zu verdrängen. Ihre Rückkehr ist nicht rück- wärtsgewandt, sondern sie verlangt einen ehrlichen Umgang mit dem Geschehenen und das Offenlegen des Wandels in der Zeit. In Bezug auf die gesell- schaftshistorischen Geschehnisse kommt dies einer Forderung nach Aufarbeitung gleich. Constantins Kleidung an Wäscheleine nalisiert nicht nur sein Name, sondern auch sein Sehnsucht nach Konstanz richtet sich auf die Zeit vor Kleidungsstil. So lässt das Paar zu Beginn seiner Ehe der Exilierung. Es ist der Wunsch nach einer Resti- 3 In dieser Einteilung spiegelt einen Anzug für ihn fertigen, der passgenau zuge- tution der Vorkriegsverhältnisse, wobei vernachläs- sich modehistorisch betrachtet schnitten ist und den er laut Selbsteinschätzung sein sigt wird, dass sie der Ausgangspunkt für die folgen- die Einteilung in eine sich wenig variierende, „klassische[] und Leben lang tragen wird. Auch hat er einen Winter- den Entwicklungen waren. Diese Eigenschaft führt klassisch moderne[] Herrenmo- und einen Sommerpyjama, auf die er sich so sehr die Protagonistin zu dem Gedanken, Constantin sei de“ und eine wechselhafte, eingestellt hat, dass er einen neuen, sollte einer zu „vielleicht der genaue Gegenspieler der Zuhausege- „historistische Damenmode“. Vgl. Barbara Vinken: Angezo- ersetzen sein, nur akzeptiert, wenn er exakt so aus- bliebenen, die die Schrecken jener Jahre nicht wahr- gen. Das Geheimnis der Mode. sieht wie der vorige. Für Constantin ist die Remig- haben wollten.“ (105) Während Constantin also die Stuttgart 2013, 12. ration ein Versuch der Restitution des Zustandes vor von Exil und Krieg gezeichnete Zwischenzeit auszu- der Exilierung. Es soll alles genauso sein wie vor der blenden versucht, fordert die Protagonistin, das 4 Den gesellschaftlichen Bezug durch die NS-Herrschaft erzwungenen Flucht: das „Gestern“ müsse „offen von der Tischplatte gekehrt von Mode betont u. a. Julia Essen, die Kleidung, die Menschen und eben auch werden. Nicht unter den Tisch gefegt.“ (126) Die Aus- Bertschick in ihrer kultur- und literaturwissenschaftlichen seine Frau. einandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, Untersuchung, wenn sie Die Protagonistin sieht sich nicht in der Lage, diesen der NS-Zeit, und der eigenen Position im Geschehen, Kleidung fasst „als ein bewußt Wunsch zu erfüllen. Für sie gleicht die Rückkehr eher bildet die Bedingung für einen wahren Neuanfang, eingesetztes, zeichenhaftes Signal wie als Ausdruck des einer Wiedergeburt, die eine neue Phase einleitet. der möglich ist, aber der Fähigkeit zum Wandel be- gesellschaftlichen Unbewußten Sie folgt der Lehre, dass sich alles wandelt. Und so darf. Ob diese Bereitschaft zum Wandel vorhanden – im Sinne eines kulturellen wie sich der Körper stets erneuert, solange er lebt, ist, zeigt sich in Das zweite Paradies eben auch an den Habitus“. Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als erneuert sich auch die Identität. Erscheint die Klei- modischen Entscheidungen, womit Mode entgegen Spiegel des Zeitgeistes in der derordnung zunächst als etwas Individuelles und des Alltagsverständnisses nicht nur Oberfläche ist, deutschsprachigen Literatur lediglich Äußerliches, unterstützt sie im Roman die sondern ein gesellschaftlicher Ausdruck.4 (1770-1945). Köln, Weimar, Wien 2005, 4. jeweilige Haltung der Figuren gegenüber dem gesell- Carla Swiderski

Carla Swiderski studierte Zum Weiterlesen: Germanistik und Medien- und Kommunikationswissenschaft Denise Reimann: „denn man liebt immer nur ein Phantom.“ Heimatumschreibungen einer Remig- in Hamburg und London. Sie ist rantin in Hilde Domins lyrischem Roman Das zweite Paradies. In: Chiara Conterno u. Walter Mitglied des Teams der Walter A. Berendsohn Forschungsstel- Busch (Hg.): Weibliche jüdische Stimmen deutscher Lyrik aus der Zeit von Verfolgung und Exil. le für deutsche Exilliteratur und Würzburg 2012, 145-163. Stipendiatin des Hamburger Margret Karsch: Die Darstellung der jüdischen Remigration in Hilde Domins Roman „Das zweite Graduiertenkollegs Geisteswis- senschaften. Zurzeit arbeitet Paradies“ (1968). In: Irmela von der Lühe u.a. (Hg.): „Auch in Deutschland waren wir nicht wirk- sie an einer Dissertation zum lich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945. Göttingen 2008, 422-442. Verhältnis von Mensch und Tier Ulrike Böhmel Fichera: „Das beschädigte Bild von sich selbst“: Die Suche nach Identität in Hilde Do- in literarischen und philosophi- schen Exiltexten. mins Roman Das zweite Paradies (1968). In: Ariane Huml u. Monika Rappenecker (Hg.): Jüdi- sche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien. Würzburg 2003, 223-236. Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 15

,,Wir leben doch immer in der falschen Zeit“ Rückkehrer als Provokation in Thomas Bernhards Heldenplatz

Vor 30 Jahren wurde am 4. November 1988 Thomas Bernhards Heldenplatz am Wiener Burgtheater ur- aufgeführt. Das Drama über eine jüdische Familie, die aus dem Exil nach Österreich zurückkehrt, löste einen Skandal aus. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Professor Josef Schuster, der von den Nati- onalsozialisten ins Exil gezwungen wurde und nach dem Krieg wieder in Wien doziert. Kurz bevor Schus- ter erneut das Land verlässt, um an der Universität Oxford zu lehren, begeht er Selbstmord. In dieser Tat zeigt sich die Ausweglosigkeit, die der Professor empfindet, der es in Wien nicht mehr aushält, aber auch keine zweite Emigration durchleben möchte: ,,Ich kann doch die Wohnung nicht aufgeben / [...] das hieße ja daß mich dieser Hitler zum zweitenmal / aus meiner Wohnung verjagt“1. Durch seinen Selbst- mord verhindert Josef Schuster eine erneute Aus- wanderung, zu der er sich letztlich gezwungen sieht. Nach seinem Tod wird der Nachlass von seinen An- gestellten geordnet. Den Professor lernt man nur durch die Erzählungen der Verbliebenen kennen, doch auch an einer der auftretenden Figuren wird die Tragik der gescheiterten Rückkehr deutlich. Hier- bei handelt es sich um seine Frau Hedwig, auf deren Trauma sich der Titel des Dramas bezieht und die erst in der letzten Szene auftritt. Dass sie von ihrer Wohnung aus auf den Wiener Heldenplatz blicken Thomas Bernhard (1987) © Thomas Bernhard Nachlassverwaltung kann, ist für Hedwig unerträglich. Immer wieder leidet sie unter Anfällen, bei denen sie glaubt, dort sellschaftliche Debatte aus, indem er darin den An- 1 Thomas Bernhard: Helden- erneut die jubelnden Massen bei Hitlers Aufritt im tisemitismus im modernen Österreich thematisier- platz [1988]. Frankfurt a. M. 1995, 29. Jahre 1938 zu hören (vgl. Abb. S. 16). te: ,,[Es] ist doch alles viel schlimmer / als Alle Seitenangaben im Text be- Während die Gesellschaft insgesamt überwiegend achtunddreißig / […] Du sagst du hörst und siehst ziehen sich auf diese Ausgabe. die Augen vor der eigenen Vergangenheit verschließt, nichts / weil du es nicht hören und sehen willst“ (81 lassen sich Hedwigs Ohren nicht täuschen: Der Pro- f.). Dies sagt Anna, eine der Töchter des Professors fessor ,,hat gedacht es nützt / wenn sie sich die Ohren zu ihrem Onkel. Hier wird jemandem vorgeworfen, zustopft / aber das hat natürlich nichts genützt / die Augen zu verschließen. Zuvor wurde der Versuch auch in der Nacht hört sie das Heldenplatzgeschrei Hedwigs beschrieben, sich die Ohren zuzustopfen, / sie hält sich die Ohren zu / und dann muß sie aus um die jubelnden Massen nicht länger hören zu müs- dem Speisezimmer hinausgehen“ (29). Eine unbelas- sen. Indem die menschlichen Sinne getäuscht oder tete Rückkehr ist für Hedwig, die selbst nach dem eingeschränkt werden, versuchen manche der Figu- Krieg in England hatte bleiben wollen, nicht möglich. ren eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Das Wien der Gegenwart wird überlagert von den zu verhindern. Findet diese Täuschung nicht statt, Schreien der Vergangenheit, welche das Nachkriegs- scheint eine Rückkehr unmöglich. Hedwig entschei- österreich vergessen zu haben scheint. In diesem det sich nicht bewusst dafür, die faschistischen Jah- Land kann sie keinen Frieden finden, zu groß sind re Österreichs zu thematisieren, stattdessen wird die Veränderungen, die der Faschismus hervorge- sie von den Schreien des Heldenplatzes immer wie- bracht hat, und zu gewaltig das Schweigen über die der plötzlich heimgesucht. Ist eine Heimkehr aus geschehenen Verbrechen. Am Ende des Dramas ver- dem Exil nur durch Selbsttäuschung möglich? Ob- nimmt Hedwig beim Abendessen wieder den fana- wohl das Stück eine solche Deutung nahezulegen tischen Jubel der Nazis und bricht zusammen, über- scheint, führt es gleichzeitg vor, dass auch dies kei- wältigt von den Erinnerungen, über die kaum nen Ausweg bietet, denn selbst jene, die unbedingt jemand spricht. in ihre alte Heimat zurückwollen, wie der Professor 50 Jahre nach dem sogenannten ,Anschluss‘ Öster- Josef Schuster, müssen erkennen, dass diese nicht reichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich mehr existiert: ,,[Er] wollte die Kindheit / wiederha- löste Thomas Bernhard mit seinem Stück eine ge- ben / Aber die Wiener waren nicht mehr so / wie er 16 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

Rede Hitlers auf dem Wiener Heldenplatz am 15. März 1938 © Bundesarchiv Bild 183-1987-0922-500

sie in Erinnerung gehabt hat / die Österreicher wa- Auch wenn Josef und Hedwig Schuster nach Wien ren nicht mehr so“ (111 f.). zurückkehren können, gelingt ihnen doch keine Viele Aussagen in Heldenplatz wurden damals von wirkliche Heimkehr. Ihre Heimat, die Gesellschaft Teilen der Bevölkerung als Provokation wahrgenom- vor dem Krieg, ist von den Schreien auf dem Helden- men, wie etwa die Behauptung, es würde 1988 in platz niedergebrüllt worden und nicht mehr wieder Wien mehr Nationalsozialisten geben als 1938. Man zu finden. muss dies jedoch auch als Reaktion auf die österrei- chische Nachkriegsgesellschaft verstehen, die die Lenard Manthey Rojas Gräueltaten in der Zeit des Faschismus bis in die Mitte der 1980er Jahre verdrängte und stattdessen ,,eine Art kollektive Erinnerung von Österreich als 2 Ruth Wodak u.a.: „Sprache (erstes) Opfer Nazi-Deutschlands“2 pflegte. Es ist und Vergangenheiten“. In: eben dieser Geschichtsrevisionismus, der Hedwig Florian Menz, Ruth Wodak u.a. (Hg.): Die Sprachen der (und natürlich auch die anderen Familienmitglieder) Vergangenheiten. Frankfurt a. im Drama zu quälen scheint. Das gesellschaftliche M. 1994, 9-38, hier: 10. Klima verhindert eine Aufarbeitung von Hedwigs Trauma. Schließlich wird sie von Ereignissen ver- folgt, die die Mehrheit der Bevölkerung vergessen zu Lenard Manthey Rojas stu- haben scheint. Dieses Verdrängen der Vergangenheit diert Deutsche Sprache und sorgt dafür, dass sie sich auf andere Art ihren Weg Literatur mit dem Nebenfach Religionswissenschaft an der in die Realität bahnt. Für Hedwig ist dieser Prozess Universität Hamburg und ist derart schmerzhaft, dass er eine psychische Heim- wissenschaftliche Hilfskraft im kehr verhindert und sie letztlich körperlich zusam- Team der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche menbrechen lässt. Ob sie dabei stirbt oder lediglich Exilliteratur. bewusstlos wird, bleibt offen. Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 17

Rückkehr durch Dinge? Zu W. G. Sebalds Austerlitz

„Und wäre es nicht denkbar, […] daß wir auch in der griffs“2 gesehen werden können: „Welches Geheim- 1 W. G. Sebald: Austerlitz Vergangenheit, in dem, was schon gewesen und nis bargen die drei verschieden großen [2001]. Frankfurt a. M. 2015, 367. Alle Seitenangaben im größtenteils ausgelöscht ist, Verabredungen haben Mes-singmörser, […] das Seemuschelkästchen, die Text beziehen sich auf diese und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die, Miniaturdrehorgel“ (283)? Am Ort Theresienstadt Ausgabe. quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang ste- versammelt und ausgestellt, stehen diese Gegenstän- hen mit uns?“1 de im Zusammenhang mit der Enteignung, Entrech- Im September des Jahres 1939 bricht der Zweite tung und Ermordung der jüdischen Menschen im 2 Anne Fuchs: Die Schmerzens- Weltkrieg aus. Bis zu diesem Zeitpunkt gelingt es Konzentrationslager. Die „Geschichte der Verfol- spuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. einigen Familien, ihre Kinder durch die ein Jahr zu- gung“ (286) wird Austerlitz insbesondere an einem Sebalds Prosa. Köln 2004, 62. vor veranlassten Kindertransporte vor der Verfol- weiteren Ort in Theresienstadt, dem Ghettomuseum, gung und Massenvernichtung durch die Nationalso- bewusst und vorstellbar, denn dort umgibt ihn diese zialisten zu bewahren. Die Kindertransporte nach Geschichte durch die Gegenstände im Museum. Großbritannien haben diesen Kindern ein Leben Gleichzeitig übersteigen die Dinge, denen er dort jenseits der durch die Nationalsozialisten besetzten begegnet – unter ihnen sind Gepäckstücke der Inter- Länder ermöglicht – gleichzeitig haben sie für die nierten – sein Fassungsvermögen (vgl. 287). Bei Kinder ein Leben ohne ihre Familien bedeutet. Häu- Austerlitz lösen die im Schaufenster des Antikos fig sind die Kinder die einzigen ihrer Familie, die den Bazar versammelten Gegenstände Erinnerungen an Holocaust überlebt haben. In diesem Kontext erge- seine eigene Vergangenheit und Herkunft aus. Im ben sich Fragen nach der (Un-)Möglichkeit einer Ghettomuseum vermittelt sich ihm durch die ausge- Rückkehr nach dem Kriegsende. Diese Fragen ver- stellten Dinge ein Gefühl des Begreifens bei gleich- handelt Sebald in seinem literarischen Text Auster- zeitigem Nicht-Begreifen-Können, welche Grausam- litz, in dem er die Auswirkungen des Kindertrans- keiten hinter der Geschichte des Nationalsozialismus ports auf das Leben der gleichnamigen, fiktiven Figur schildert. seine Ve rgangenheit kehrt über die Betrachtung der Austerlitz’ einleitend zitierter Gedanke über die Ver- Dingestehen im (vgl. Antikos 284-287). Bazar vageAusterlitzʼ zurück: Erinnerung „So zeitlos […]an abredungen in der Vergangenheit ist für die Frage waren sie [die Dinge; Anmerkung F.Z.] alle, […] so nach einer möglichen Rückkehr entscheidend. Ein daß ich nun zwischen ihnen schwach und kaum Ort, an den Austerlitz auf der Suche nach seiner Her- kenntlich mein eigenes Schattenbild wahrnehmen kunft gelangt, ist das ehemalige Konzentrationslager konnte.“ (285) Durch ihre Eigenschaft, zeitlos zu Theresienstadt. Das Aufsuchen dieses Ortes stellt sein, erhalten die Dinge eine Bedeutung für die Ge-

Antikos Bazar In: W.G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt a. M. 2003, 280f. für seinen Versuch der Rekonstruktion des Vergan- genwart, denn sie stellen eine Verbindung zwischen genen ein zentrales Moment dar, da seine Mutter in der Vergangenheit und Gegenwart her. Vor dem Hin- Theresienstadt interniert war und seine Vergangen- tergrund, dass die Menschen, die im Konzentrations- heit daher indirekt mit diesem Ort verbunden ist. Im lager Theresienstadt interniert waren, ihre Ge- Schaufenster des Antikos Bazar, einer Art Antiqui- schichte aufgrund der Ermordung durch die tätenladen in Theresienstadt (vgl. Abb. oben), steht Nationalsozialisten nicht mehr selber erzählen kön- Austerlitz Gegenständen gegenüber, die als Reliqui- nen, ist ein Zugang zu diesen Menschen – wenn über- en eines „mit Auschwitz ausgelöschten Kulturbe- haupt – nur über Gegenstände möglich. Wenn die 18 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

3 Walter Benjamin: Geschichts- letzten Augenzeugen gestorben sind, bleiben einzig Weise gestaltet Sebald literarisch eine Wiederkehr philosophische Thesen. In: „die Geschichten, die an den ungezählten Orten und der verstorbenen Menschen, die Opfer des National- Ders.: Zur Kritik der Gewalt 4 und andere Aufsätze. Mit einem Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit sozialismus geworden sind. Nachwort versehen von Herbert zur Erinnerung haben“ (39). In den Dingen ist die Durch die ‚Rückkehr‘ an einen Ort, an dem er selbst Marcuse. Frankfurt a. M. 1965, Vergangenheit ihrer ehemaligen Besitzer, die Aus- zuvor nie gewesen ist, wird Austerlitz mit zerstreu- 78-94, hier: 79. terlitz zu ergründen sucht, verborgen, sie sind stum- ten Dingen, Bruchstücken des Vergangenen, kon- 4 Siehe auch Ruth Vogel-Klein: me Zeugen der Geschichte des Völkermordes. frontiert. Entsprechend bruchstückhaft bleibt die Rückkehr und Gegen-Zeitigkeit. Durch diese Begegnung mit den stummen und zu- dadurch ausgelöste Erinnerung an seine eigene Ver- Totengedenken bei W. G. Sebald. In: Recherches Germaniques. gleich sprechenden Dingen wird das Vergangene in gangenheit. Austerlitz nimmt eine Art Verabredung Hors Série 2 (2005): W. G. in der Vergangenheit wahr, die eine imaginäre Rück- Sebald. Mémoire. Transferts. er sieht die ermordeten Menschen, „als wären sie kehr zu und von Menschen ist, deren Geschichten er Images. Erinnerung. Übertra- Austerlitzʼ Gedankenwelt imaginär wieder lebendig; gungen. Bilder, 99-115, hier: nicht fortgebracht worden, sondern lebten, […] als – angesichts von Gewalt, Trennung und Vernichtung 100 u. 114. gingen sie pausenlos die Stiegen auf und ab“ (289). – nur fragmentarisch rekonstruieren kann. Finja Zemke studiert im Rah- Sebalds Text verhandelt auf diese Weise gleichsam men eines Doppelstudiums den „geheime Verabredung[en] zwischen den gewesenen Finja Zemke Masterstudiengang Deutsch- 3 sprachige Literaturen sowie Geschlechtern und unserem“ , wie es Walter Benja- Gymnasiallehramt mit den min einmal formuliert hat. Damit wird darauf ver- Fächern Deutsch und Sozialwis- wiesen, dass die Vergangenheit als nicht abgeschlos- senschaften an der Universität Hamburg. Sie ist studentische sen zu verstehen ist, sondern in die Gegenwart Hilfskraft im Team der Walter reicht. Gleichzeitig wird sie aus der Gegenwart her- A. Berendsohn Forschungsstel- aus neu produziert, wobei Austerlitz das Gewesene le für deutsche Exilliteratur. vor der Auslöschung zu bewahren sucht. Auf diese

Rückkehr in die Heimat? Zur Neuverhandlung von Zugehörigkeit in Vladimir Vertlibs Schimons Schweigen

1 Vladimir Vertlib: Schimons Vladimir Vertlib erzählt in Schimons Schweigen1 von en Glasaugen, Rabbiner mit Schläfenlocken aus Mar- Schweigen. München 2015. dem Besuch eines inzwischen in Österreich lebenden zipan oder Taschentücher mit einer stilisierten Ab- Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese jüdischen Journalisten russischer Herkunft in Israel, bildung der Klagemauer gehören zu den harmlo- Ausgabe. dem Heimatland seiner Kindheit. Anlass des Besu- sesten Abscheulichkeiten“ (8). Angesichts der wahl- ches ist die Einladung des germanistischen Institu- losen Mischung der Reproduktionen christlicher, tes der Jerusalemer Universität zu einer Lesereise. jüdischer und islamischer Utensilien erscheint die Dabei richtet sich der Fokus besonders auf die sich Identifikation mit einer bestimmten Ausprägung der verändernde Wahrnehmung der früheren Heimat, israelischen Geschichte und Gegenwart unmöglich. deren Darstellung wiederholt durch lange Rückblen- Gefühle von religiöser Zugehörigkeit und Heimat den in Form episodischer Erinnerungen unterbro- bleiben entsprechend aus. chen wird. Der Weg zu ausgesuchten Zielen in Jeru- Der Ich-Erzähler lässt den Leser oder die Leserin salem führt den Ich-Erzähler an Orte seiner Kindheit aber auch wissen: „Ich bin neugierig“. (8) Er signali- zurück und wird schließlich zur Metapher für die siert dadurch ausdrückliches Interesse an den Orten Suche des Protagonisten nach seinen jüdisch-religi- seiner Kindheit, an Vertrautem und Neuem. Diese ösen Wurzeln, seiner familiären Identität und seiner Tatsache wird jedoch in demselben ungeordneten ursprünglichen Heimat. Gedankenstrom des Ich-Erzählers durch ein „Ich bin Schon im ersten Kapitel Klingonia, das auf eine fikti- müde“ (8), d.h. offensichtlich von den Eindrücken ve Welt im Star-Trek-Universum anspielt, lässt Vert- überfordert und nicht aufnahmebereit, ergänzt. Hil- lib in einem Gespräch des Protagonisten mit einem fe erfährt der Ich-Erzähler durch das resolute Han- arabischen Trödelhändler den Leser oder die Leserin deln seiner Frau, die sich für weitere örtliche Aus- erahnen, dass der namenlose Ich-Erzähler bei seiner künfte an die nahe gelegene Touristeninformation Ankunft in Jerusalem am belebten Jaffator vielfach wendet. Ihm bleibt zu dieser Zeit nur das Warten, anderes als das Erwartete antrifft. Schnell verspot- das im Kontrast zu seiner später folgenden aktiven tet der Ich-Erzähler die fiktionalen, fremdartigen, Auseinandersetzung mit den Orten seiner Kindheit klingonischen Utopien des sich in englischen Bruch- und den nicht aufgearbeiteten Aspekten seiner Fa- stücken ausdrückenden Händlers. Im gleichen Atem- miliengeschichte steht. zug werden die religiösen Symbole aller Religionen, Schon auf den ersten Seiten deutet Vertlib das an, die auf einem Markt Passanten angeboten werden was er auf den nächsten 268 Seiten zur Entfaltung (vgl. Abb. oben), von dem Ankommenden als Kitsch bringt: Erst wird die Suche des Ich-Erzählers nach abgelehnt: „Madonnenbilder mit leuchtenden, blau- einem Treffpunkt mit seiner Cousine beschrieben, Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 19

Religiöse Souvenirs in der Altstadt Jerusalems die sich in den engen Gassen der Altstadt als äußerst setzung mit Ariseuren und deren Kindern und En- schwierig erweist und als Metapher für die Suche keln, die Ausländerfeindlichkeit, Waldheim, Haider nach den eigenen familiären Wurzeln gelesen wer- und Strache, die Identitätsbrüche. Warum sind Sie den kann. Schließlich geht es vor allem um die Neu- nie nach Israel zurückgekommen?“ (145) Darauf konstruktion der Heimat Jerusalem für den Prota- folgt zu diesem Zeitpunkt nur Schweigen. gonisten. Dabei werden Stereotype und Erwar- Durch die sich vor Ort aufdrängende Beschäftigung tungen an die Reise in Alltagsgesprächen, aber auch mit seiner Kindheit in der alten Heimat gelingt es während seiner Lesungen systematisch dekonstru- dem Ich-Erzähler jedoch am Ende des Romans sein iert. Erwartungen wie die, dass Israel das Land sei, Schweigen zu brechen. Es ist ihm nach zahlreichen in dem „Milch und Honig fließen“ oder „das Leben erzählerischen Exkursen in seine Vergangenheit eine Bibelgeschichte“ oder „eine kommunistische möglich, auf die Frage, warum sein Vater Israel ver- Zukunftsphantasie“ (265) werden als nicht zeitge- lassen hat und in die Sowjetunion zurückgekehrt ist, mäße Illusionen zurückgewiesen. eine Antwort zu finden (vgl. 265): „außer der großen Als im Kommunismus aufgewachsener russischer Enttäuschung über Israel und den Westen war es vor Jude hat der Ich-Erzähler keinen eigenen Bezug zur allem die Nostalgie“ (263), lässt Vertlib den Ich-Er- religiösen Tradition. So erzeugt der Anblick der vie- zähler resümieren. Damit bringt er Verständnis für len orthodoxen Juden vor der Stadtmauer (vgl. 11) in seinen Vater auf. ihm ein unheimliches Fremdheitsgefühl. Aber auch Die Reflexionen ebnen auch den Weg zu einer ver- das russische Gesellschaftssystem wird von ihm als söhnlichen Annäherung an die eigene Heimat Israel. Utopie entlarvt (vgl. 10), ebenso wie ihm die jüdi- Auf die dem Ich-Erzähler gestellte Frage „Sagen Sie, schen Viertel Jerusalems kein Zuhause mehr sein was ist für sie Heimat?“ (204) findet er schließlich können (vgl. 11). Nur das Licht, welches des Öfteren nach einer Relativierung, „Heimat ist natürlich ein erwähnt und in Zusammenhang mit Harmonie ge- mehrdeutiger und dehnbarer Begriff....“, die Ant- bracht wird, erscheint ihm als Hinweis auf eine Di- wort: „Die Selbstverständlichkeit, bestimmte Dinge mension der Transzendenz jenseits einzelner Reli- nicht erklären zu müssen“ (205). gionen. „Die Dächer und die weißen Fassaden der Anders als für seine Cousine Tanya, für die Jerusa- Neustadt glänzen im Licht der Abendsonne“. Und so lem territoriale und metaphysische Heimat zugleich sind es „weder die Menschen noch Bauwerke, es ist ist, kann für den Ich-Erzähler Heimat an jedem Ort dieses Licht, das Jerusalem zu einem sakralen Ort entstehen und mit Vorstellungen in Verbindung ge- macht“ (11). bracht werden, die Vielfalt und Differenz einschlie- Kirsten Scherler absolvierte Schließlich werden die Fragen ausgesprochen, vor ßen. des 1. Staatsexamen an der Carl von Ossietzky Universität in denen sich der Ich-Erzähler am meisten während So deutet sich ein kosmopolitisches Heimatkonzept Oldenburg und lehrt nach ih- seines Aufenthaltes gefürchtet hat: „Sagen Sie, be- an, das sich im Text nicht zuletzt durch die zahlrei- rem 2. Staatsexamen an einem reuen Sie es eigentlich nicht, dass Ihre Eltern Israel chen Ortswechsel der Familie, die mit immer wieder Gymnasium in Münster. Parallel schreibt sie an einer Dissertati- verlassen haben? […] Wären Sie als Kind hier in Is- neuen Heimaten und Perspektiven verbunden er- on zu dem Thema Narrative der rael geblieben, wären Sie hier aufgewachsen, hätten scheinen, herausbildet. Remigration und die Neukonfi- Sie sich nach den ersten schwierigen Jahren als Zu- guration des Heimatbegriffs in wanderer vieles erspart – das Fremdsein, die vielen Kirsten Scherler transkultureller Literatur. Ortswechsel, den Antisemitismus, die Auseinander- 20 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

„Da war es das Land. Rostig gelb. Von der Farbe frisch geheilter Haut. Vielleicht wurde ich endlich befreit.“ Dimensionen von Rückkehr in Hisham Matars Die Rückkehr

„Nach all den Jahren zurückzukehren war keine gute fängnishölle schmuggeln konnte. Die Hoffnung des 1 Hisham Matar: Die Rückkehr. Idee, dachte ich plötzlich.“1 Das erste Kapitel von Erzählers, dass der Vater nach 22 Jahren noch lebt, Auf der Suche nach meinem ver- Hisham Matars autobiografischer Erzählung Die schwindet „kontinuierlich, und so kann ich heute lorenen Vater. Übers. v. Werner Löcher-Lawrence. München Rückkehr heißt „Falltür“ und beginnt 2012 am Kai- sagen, dass ich so gut wie frei davon bin. Es bleiben 2017, 10. Alle Seitenangaben roer Flughafen, im Wartebereich für einen Flug nach nur noch ein paar einzelne Fünkchen.“ (191) im Text beziehen sich auf diese Bengasi. Seit der Erzähler als Kind mit seiner Fami- Es sind diese aus Funken allmählich zu Fünkchen Ausgabe. lie 1979 ins ägyptische Exil fliehen musste, ist es werdenden Reste der Hoffnung, die seine Erzählung nach 33 Jahren sein erster Besuch in Libyen. „Das über die Wiederbegegnung mit dem Land seiner Her- war die Kluft, die den Mann vom damals achtjähri- kunft tragen. Die Rückkehr in Matars literarischem gen Jungen trennte. Das Flugzeug würde sie über- Text ist im Wesentlichen auch eine zeitliche Rück- queren, und so eine Reise barg zweifellos Gefahren. kehr in die Vergangenheit, eine erzählerische Rück- Sie konnte mir eine Fähigkeit rauben, an deren Er- kehr in die Geschichte(n) seiner Familie und des werb ich hart gearbeitet hatte, die Fähigkeit, fern Staates in Nordafrika. Denn so wie die zwischen Trauer, Verzweiflung, Obsession und Loslassen wechselnden Phasen der Suche nach dem Vater, wechselt die Erzählung, teils abrupt, zwischen ver- schiedenen Zeitebenen. Die häufig genauen Beschrei- bungen von Begegnungen mit Verwandten und Be- kannten bei der emotionalen „Trunkenheit der Rückkehr“ (79) im Jahr 2012 – nach dem Sturz Gad- dafis und vor dem Bürgerkrieg seit 2014 – werden von Rückblenden in unterschiedliche Zeiten unter- brochen, sodass sich allmählich ein Bild der komple- xen jüngeren Geschichte Libyens zusammensetzen lässt. Anhand von episodischen Binnenerzählungen über Familienmitglieder aus mehreren Generationen werden etwa Verbindungen zwischen den Folgen der gewaltsamen Kolonialgeschichte des Landes, der Diktatur unter Gaddafi bis hin zu den Ereignissen des so genannten „Arabischen Frühlings“ und der heutigen Situation in Libyen erkennbar. Hisham Matar © Tina Hiller Das Exil und das Leben an unterschiedlichen Orten zwischen Afrika, Europa und Amerika prägt die Er- von Orten und Menschen zu leben, die ich liebe.“ (10) zählposition des Textes. Da sein Vater als Diplomat Welche Arten von Rückkehr der gleichnamige Text tätig war, ist der autobiografische Ich-Erzähler in verhandelt und wie diese miteinander in Verbindung New York geboren und hat nur im Alter von drei bis stehen, möchte dieser Beitrag nachzeichnen. acht Jahren in Libyen gelebt. Dann folgte die Flucht Da ist zunächst die genannte physische Rückkehr über Kenia nach Ägypten. Das Studium führte ihn des autobiografischen Erzählers nach Libyen, die nach London, wo er heute neben New York überwie- nicht im Sinne einer Heimkehr auf Dauer angelegt gend lebt und in englischer Sprache schreibt. Wie es ist, sondern vielmehr als Reise in das einstige Hei- in der Erzählstruktur angelegt ist, nimmt das auto- matland. Die erste Rückkehr nach Libyen ist im Text biografische Ich sein Zeiterleben als diskontinuier- Ausgangspunkt und Rahmen für die Schilderung lich wahr. „Ich war fünfzehn. Ich war einundvierzig. seiner seit Jahrzehnten andauernden Suche nach Ich war acht.“ (34). „Mitunter kam es mir vor, als dem verlorenen Vater, Jaballa Matar. Dieser war einer litte ich an einer Art Entfernungskrankheit, die, an- der wichtigsten Dissidenten im Widerstand gegen ders als die Seekrankheit, nicht nur den Grund, auf das Gaddafi-Regime. Er wurde 1990 in Ägypten ent- dem ich stand, unsicher machte, sondern auch Zeit führt und in das für Grausamkeiten und Folter an und Raum. Die einzigen anderen mir bekannten politischen Gefangenen berüchtigte Gefängnis Abu Menschen, die unter ähnlichen Symptomen zu leiden Salim bei Tripolis gebracht. Sein Verbleib und sein schienen, waren ehemalige Gefangene.“ (125) Erst genaues Schicksal sind trotz Nachforschungen mit- durch die Rückkehr an Kindheitsorte in Libyen fällt hilfe höchster diplomatischer Instanzen bis heute dem Erzähler auf, dass die Zeit der Kindheit während ungeklärt. Geblieben sind lediglich drei Briefe und der Zeit im Exil gewissermaßen stehen geblieben ist, eine Tonaufnahme des Vaters, welche er aus der Ge- als habe sie sich von seiner weiteren Entwicklung Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 21

abgespalten und konserviert. „Mir wurde bewusst, die Auseinandersetzung mit der (Un-)Möglichkeit wie alt ich geworden war, aber auch, dass sich da und der Entscheidung einer Rückkehr in das Land immer noch etwas Jungenhaftes in mir rührte, als der Herkunft prägend ist. Wie in zahlreichen Exil- hätte, als wir Libyen verlassen haben, ein Teil von texten stehen der Wunsch oder die Sehnsucht nach mir aufgehört, sich weiterzuentwickeln. Ich war so, Rückkehr auch in Matars Text der unausweichlichen wie David Malouf sich Ovid vorstellte: durch das Exil Erkenntnis gegenüber, dass die einstige Heimat nicht infantilisiert.“ (22-23)2 Im Zitat deutet sich an, was mehr von den Gewalterfahrungen, die dort stattge- 2 Vgl. David Malouf: An Imagi- noch genauer zu untersuchen wäre: Matars literari- funden haben, von Unrecht und Verfolgung getrennt nary Life. London 1999. Maloufs

sche Rückkehr ist Anlass und Gegenstand einer in- werden kann – der Verlust des Vaters ist allgegen- der Ich-Perspektive wie Ovids terexilischen Reflexion.3 „Was tust du, wenn du we- wärtig, sein Geist wird als „Anwesend-Abwesend“ Lebenfiktionaler gewesen Text seinimaginiert könnte. aus der gehen noch zurückkehren kannst?“ (10), fragt (47) bezeichnet. der Text gleich zu Beginn und bezieht sich immer Die unterschiedlichen Dimensionen von Rückkehr 3 Vgl. zum Thema Interexil: exi- wieder auf literarische Figuren oder Exilautoren, sind in Hisham Matars Text in einer Art und Weise lograph Nr. 23, Frühjahr 2015. zum Beispiel Joseph Brodsky, Vladimir Nabokov und miteinander verschachtelt, die man als mise en aby- Joseph Conrad: „Diese Schriftsteller waren nie in me, als Bild, das sich selbst enthält, betrachten kann. ihre Heimat zurückgekehrt. Sondern hatten ver- Die Darstellung der Erlebnisse bei seiner tatsächli- sucht, jeder auf seine Weise, ohne sie auszukommen. chen Rückkehr nach Libyen und die Rekonstruktion Was du hinter dir zurücklässt, löst sich auf. Kehre seiner jahrzehntelangen Suche nach dem Vater ent- zurück und du siehst dich mit dem Verschwinden spricht der Konzeption von Matars autobiografi- Anne Benteler war wissen- oder der Entstellung dessen konfrontiert, was du schem Text als Ganzem. Hisham Matars Die Rückkehr schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und einmal geliebt hast.“ (10) Durch diese oder ähnliche ist selbst eine erschriebene Rückkehr zu seinem der Walter A. Berendsohn For- Passagen – darunter auch mehrere Anspielungen auf Vater, zu dem Land seiner Herkunft und nicht zuletzt schungsstelle. Ihre Dissertation Odysseus’ Sohn Telemach aus Homers Odyssee (vgl. zu sich selbst. „Deshalb ist die Rückkehr in jenes frü- zum Thema Sprache im Exil. Mehrsprachigkeit und Überset- 42f., 280f.) – ist der Text auch als Rückwendung auf here Leben wie das Entdecken deines Spiegelbildes zung als literarische Verfahren eine Exilliteraturtradition zu begreifen, für welche an einem öffentlichen Ort.“ (126) bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh hat sie Ende 2017 eingereicht. Anne Benteler

“You can’t return to the past.” Rafael Cardoso in conversation with Cordula Greinert

Cordula Greinert: Mr. Cardoso, the topic of retur- situation in Brazil was terrible and he left at the ning from exile is not immediately obvious, consi- peak of the military dictatorship, so you could say dering your life and works. Born in Rio de Janeiro there were political reasons for leaving. But he was and trained as an art historian, who lived in the U.S., not really a political person and he was not suffering the U.K. and France, you decided in 2012 to move to any kind of persecution. Then after university, when Berlin. Four years later, you published a novel about I was 21, I went back to Brazil. That for me was ac- the escape from Nazi to France and then tually a return. I was going back to something, to Brazil of your great-grandfather, Hugo Simon, a which I had left and which was missing and which I German-Jewish banker, a patron of the arts and of had to fill in. Coming to Germany is not similar in left-wing politics in the Weimar Republic, who never any sense. It was not some coming back to anything. returned to Germany.1 Why did you agree without It was coming to look for something that I suspected 1 Vgl. Rafael Cardoso: Das hesitation on this interview? was here, but I really didn’t know. It was only once Vermächtnis der Seidenraupen. Frankfurt a. M. 2016 (Original- Rafael Cardoso: Well, I think there is a wider ten- I was here that I started to figure it out. And I’m still ausgabe: O remanescente. Bd. dency now to discuss return. For instance, Elisabeth figuring it out, which is why I’m still here. 1: O tempo no exílio. São Paulo de Waal’s book The Exiles Return.2 There is this whole Cordula Greinert: One cause for your suspicion was 2016). idea of returning, people who are trying to recover certainly your discovery of Hugo Simon’s autobio- 2 Vgl. Elisabeth de Waal: their background. So, when you suggested the topic graphical manuscript Seidenraupen (Silkworms) in Donnerstags bei Kanakis. Wien 2014 (Originalausgabe: The of return, I assumed you were speaking in this broa- an old mahogany chest of drawers, when you had to Exiles Return. London 2013) der sense. In my personal case, this is not a return. clear your grandparents’ house in 1987. We have a Germany for me is in a way an exile. In a sense, this copy of it in our archive in Hamburg; the original is 3 Hugo Simon: Seidenraupen. is a renewal of exile, which is something that fasci- in the Exile Archive of the German National Library Typoskript. o. O., o. J. Deutsche 3 Nationalbibliothek, Exilarchiv, nates me. You know, my great-grandfather and in Frankfurt. Teilnachlass Hugo Simon, grandparents were exiled for political reasons and Rafael Cardoso: The first time I ever set foot in Ger- Signatur: EB 2005/063; sowie they had no choice in the matter. But then, my father many, was because of this manuscript. I had a girl- Arbeitskopie für geplante Ver- öffentlichung. P. Walter Jacob went voluntarily to the United States. He was self- friend at the time who lived in Amsterdam and I was Archiv, Bestand Hugo Simon, exiled, not a political refugee. Of course, the political going to see her. I was already in touch with the Signatur: HS/3. 22 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

In 1919, Hugo Simon purchased an inn and some plots of land there and established a model estate for agricultural production and recreation. A local initiative now restores the site and you are in close contact with them. Since the concept of “return”, in German discourse, is often connected to the parti- cular idea of Heimat, I would like to know whether Seelow might have this connotation for you. Rafael Cardoso: That’s a really good question. You know, the people who are restoring the part of my great-grandfather’s estate that still exists, they are a Heimatverein. [Both laugh.] 4 Vgl. https://www.heimat- Rafael Cardoso: Yes, Heimatverein Schweizerhaus verein-seelow.de [abgerufen: Seelow e.V.4 When I arrived in Berlin, my other book, 22.2.2018]. Sechzehn Frauen,5 came out in German and someo- 5 Vgl. Rafael Cardoso: Sechzehn ne in Seelow read about it in the Frankfurter Allge- Frauen. Geschichten aus Rio. meine6 and they wrote to S. Fischer, asking to get in Frankfurt a. M. 2013 (Original- ausgabe: Entre as mulheres. Rio touch with me. Then they invited me to visit Seelow, de Janeiro 2007). so we went there in 2013 for the first time. They had no idea how much German we spoke. So there was 6 Vgl. Gregor Quack: Weißt du, the Landrat, there was a translator, there were peo- wie man einfach verschwindet? Rafael Cardoso (2017) © Patricia Breves ple from the Heimatverein. They had organised a big Der Brasilianer Rafael Cardoso schreibt Geschichten über Frau- lunch reception where they had invited the de- en in Rio und ist der Urenkel Exilarchiv in Frankfurt, and I asked them whether scendants of the former workers on the estate. The eines Bankiers der Weimarer they wanted the text. They said: “Of course!” and idea was that we would meet. And it was a very Republik. Jetzt sucht er dessen Spuren in Berlin. In: Frankfur- they paid my fare from Amsterdam to Frankfurt emotional reunion. The Bürgermeister came and ter Allgemeine Sonntagszei- and put me up for one night. So, my first time in they sent a reporter from the Märkische Oderzeitung. tung, 10.3.2013. Germany was 24 hours, just to deliver this ma- The first sentence of her article was: “Ein histori- nuscript. It was written in Brazil, but Hugo Simon scher Kreis hat sich am Freitag in Seelow geschlos- 7 Doris Steinkraus: Auf den wrote it in German and it was intended for a German Spuren von Hugo Simon. audience. So this manuscript coming back to Ger- Cordula Greinert: So, things have come full circle? In: Märkische Oderzeitung, sen.”⁷ 19.7.2013. many, I see as a return. Rafael Cardoso: Yes, the historical cycle. There was Cordula Greinert: The German title of your novel an element of the homecoming of the Prodigal Son. is Das Vermächtnis der Seidenraupen (The Legacy of No one from my family had set foot in Seelow in the Silkworms). When writing it, did you aim at con- exactly 80 years. Still, I was not returning home. It tributing to Hugo Simon’s return to German cultural was rather about the difference between return and memory? revival. For my entire life, Seelow was just a word, Rafael Cardoso: Hugo Simon is more alive in Berlin just a name; it was a hole. There were no images or than I expected. When I first got here, I thought I references that matched with it. But now this was would have to tell everyone who Hugo Simon was. going to be filled by people and encounters and me- And I realised very quickly that people already mories. And in fact, this has happened. In less than knew. Historians who work on the Weimar Republic five years now, I’ve been to Seelow over ten times. I were very aware of him and actually had a lot of support their project to restore this estate, that things to teach me. So I wouldn’t say it’s a return. I they’re trying to make it into a Denkmal. During the agree with the idea that something was broken by Nazi era it was a Staatliches Versuchsgut, and then it 8 Volkseigenes Gut. World War II, by the whole Nazi era. There used to became a collective farm, a VEG DDR- be a multicultural relationship between Germany Zeit. It actually continued to be a productive place and German Jews. This culture was very specific until 1990. This is when the decline,⁸ during began, the because and very special. And it was destroyed. It no longer then it was no man’s land, literally. exists in Germany nor anywhere else; it’s gone. It Cordula Greinert: In Germany, the Seelow Heights only exists in the past: in the books, the works of art are particularly known as the place of one of the last and the plays and this is how we have access to it great battles of World War II with many casualties. and know that it actually existed. But I think you Rafael Cardoso: The Denkmal for the Seelower Hö- can’t return to the past. It is rather an issue of reco- hen is 200 meters from my great-grandfather’s vering an idea and maybe making that idea relevant house. Oral history has it that part of the Red Army to what happens today. was actually quartered in the house. Anyway, it’s Cordula Greinert: Speaking of revival, I would like very much bound up in that history. So, for the peo- to turn to the community of Seelow in Brandenburg. ple in Seelow, the time of Hugo Simon is like the Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 23

Golden Age. It was before the war, before the battle, before the DDR and before the decline. So to them, to look back to pre-1933 is to sort of recover so- mething they lost and that they consider very pre- cious. There was an American historian who had a wonderful line: “History is what the present chooses of the Heimatverein in Seelow is something about choosing.to remember They about don’t the want past.”⁹ to So,be knownthis whole in theprocess rest of Germany only as the place where this terrible battle happened. They want to remember Hugo Si- mon and they’re trying to revive this past. And I am part of this revival. They are interested in an idea of Heimat, which is this thing of selecting the past they want to remember. But I don’t think I have ac- cess to that, it’s not Heimat for me. I didn’t grow up there, it’s not familiar to me, it’s actually very exotic to me. And it’s great, it’s an insight into an aspect of German life that I would never have in Berlin or Frankfurt. I’ve been given access to a level of com- munity existence and a whole other history of Ger- man life, especially East German life, which very few foreigners have. It’s interesting for me in the way that it might be interesting for a German to go to a small town in Brazil. But at the same time, it is inte- resting to know that I belong, that people care about me, my history and there’s genuine affection. And it’s not something you can choose, it has to happen through circumstances that are beyond your control and I feel that because of these historical circum- stances, this has happened for me in Seelow. Cordula Greinert: Is there another place, then, which might be Heimat for you? Rafael Cardoso: That is difficult to answer. Can an exile ever have Heimat anywhere? My father was an immigrant in Brazil. And although he was comple- tely integrated by the time I was born, he always self-identified as French. Then he moved to the Uni- Hugo Simon: Seidenraupen. Typoskript. o. O., o. J. Arbeitskopie für geplante Veröffentlichung. ted States and I became an immigrant as a child. I P. Walter Jacob Archiv, Bestand Hugo Simon, Signatur: HS/3. always had this feeling of not belonging, not being at home, and I think that this is very common for the immigrant experience in the U.S. in the Sixties. I Berlin. So why am I not at home? Simply because at think now they have become much more relaxed one point I figured out that I was not going to be wörtlich, aber sinngemäß in: Carl9 Dieser L. Becker: Satz findet Everyman sich nicht His about multicultural diversity and difference, de- completely at home anywhere. And that was when Own Historian. In: American spite Trump. When I returned to Brazil in the 1980s, I became interested in researching the story of Hugo Historical Review 37/2 (1932), what drew me was the idea that there was a place Simon. Which led me to come to Berlin, write a book 221-236. where I belonged. Where I was seen as a part of the and at least for now to remain here, in this situation core group. But then, as I remained in Brazil over which can at best be described as a limbo situation, my whole adult life, I discovered that I didn’t belong at worst as an exile. in the way that other people belonged. Although in Cordula Greinert: So, the idea of returning is an Brazil, no one would say to my face: “Oh, you’re not illusion? Brazilian!” But there is always an undercurrent. Rafael Cardoso: Vilém Flusser developed this con- Brazil is a country that has problems with dissent. cept of Bodenlosigkeit,10 how the refugee is always 10 Vgl. Vilém Flusser: Bodenlos. You can be different, but you can’t be dissident. a refugee, wherever he or she is. And Flusser, as Eine philosophische Autobio- graphie. Mit einem Nachwort There’s a lot of pressure to be like everyone else. A usual, takes this to an extreme and says that every- von Milton Vargas und editori- normativity. Still, we don’t have the word Heimat, one is bodenlos, this is the new normal, this is the schen Notizen von Edith Flusser we really don’t have this whole concept. But if you new condition of the contemporary. Everyone is und Stefan Bollmann. Bensheim 1992. asked me: “Where is home for you?”, I would say: increasingly rootless and groundless. And I suppo- “Rio.” However, I’m not living in Rio, I’m living in se that, in a way, that’s true. Of course, not everyone 24 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

is bodenlos to the same degree. I would not compare terms and see what has to be done. We also had a myself to a Syrian refugee who really is bodenlos in very good experience in Britain. A painting was a very acute, and painful and terrible way. found in the York Castle Museum. Once they became Cordula Greinert: Speaking about Syrian refugees, aware that there was an issue, they set up a restitu- we currently witness a revival of xenophobia and of tion committee, they studied it and they gave the the extreme right in Germany. Do you see any simi- painting back. However, we’ve had no success ever larities to the situation in the Weimar Republic, with Austria and none of the Austrian institutions. which Hugo Simon faced? We had a case that went to the Supreme Court, to Rafael Cardoso: It’s not just Germany. There is a the Minister of Culture, and the answer was “No, resurgence of tribalism in many places. It seems to we’re not giving it back.” have a direct relationship with economic crisis. As Cordula Greinert: On which grounds? everyone knows, the 1930s were the 1930s because Rafael Cardoso: On many grounds. In the end, it’s of 1929. And maybe what we’re going through now a political decision. In Hugo Simon’s case, there were is still a direct outcome of the financial crisis since hundreds and hundreds of objects in the collection, 2008. People are worried, they’re insecure, they’re and each one has a different history. Some cases are afraid. And many seem to take comfort in the idea very clear; others are not. In this case, there is mar- that the way to deal with this is to go back to a lost gin for doubt, margin for argument. The jargon in tradition, the “good old days”. So, if you’re seen as restitution is “just and fair” because of the Washing- 11 Vgl. Commission for Looted somehow threatening the order that is supposed to ton principles.11 And you can always tell if people Art in Europe: Washington exist, then this becomes violent. In Germany in the are trying to argue in interests of finding a just and Conference Principles on Nazi- 1930s it was Jews, now in the United States it’s Mus- fair solution or if they’re arguing in the sense of: “I 1998, unter: http://www. lims, in Brazil people are in a frenzy about transse- want to hold on to what’s mine.” On the family side, lootedartcommission.com/Confiscated Art. 3 December xuals and gays. So, yes, there is something to this I do most of this work and I always try to arrive at Washington-principles [abgeru- fen: 22.2.2018]. comparison of the 1930s with what’s going on now. just and fair solutions. Restitution is very complica- It’s not just superficial; there are deep similarities. ted. But unfortunately, there are still institutions, Still, you can react to the situation in different ways. and even countries, that just do not want to deal The people in Seelow are trying to recover the “good with it. old days” in a way, which is to embrace very bad Cordula Greinert: What does it mean to you to have things that happened in the past, talk about them these objects restituted? and try to resolve this in the present through inclu- Rafael Cardoso: Sometimes it’s a burden. The pain- sive action. The reaction against tribalism is what ting we got back from England is now with my most attracted me when I started learning more brother and he’s always asking me to find a museum about Hugo Simon: He staked his entire existence for it. You don’t necessarily want to have a museum- on moving away from that, from the tribe. He really quality painting in your house. But getting it back is severed his links with the Jewish community – not very powerful. It’s something about making amends because he didn’t like Jews, not because he was and compensation. First of all, it’s about recognizing anti-Semitic, not because of self-hatred, but because that a crime was committed. Often, just to hear that, he really sincerely believed that we should get over just to have the other party admit that they did so- our tribal allegiances and all be human together. mething wrong and apologize, makes a big diffe- 12 Vgl. u. a. Clemens Bomsdorf: And he didn’t just say this because he thought it was rence. Some people will try to make good what was Kritik an Sotheby’s Versteige- a nice idea. He actually paid the price. In Brazil he wrong and this is very moving, and it heals. On the rung von „Der Schrei“. In: Die Welt, 2.5.2012. had no support from the Jewish community. None. other hand, the Munch “Scream” case was very pain- Stefan Zweig is another of these people who staked ful for me and my family.12 This was something we his whole existence on this international humanist had never thought we had any claim to, and sudden- vision of the world. In the end, they lost. ly it was like having it taken from us again. We were Cordula Greinert war von April Cordula Greinert: One last aspect I would like to being denied it aggressively, and it became a sort of 2016 bis März 2018 wissen- discuss with you is the restitution of expropriated second spoliation. It’s not even my loss, I didn’t lose schaftliche Mitarbeiterin des P. Walter Jacob Archivs an works of art. You are an art historian, your great- this painting; that happened 70-80 years ago. But I der Walter A. Berendsohn- grandfather supported many artists and he collec- think there is an emotional process in the restituti- Forschungsstelle für deutsche ted art. When he escaped to France in 1933, he had on of works of art. I am convinced that a lot of these Exilliteratur der Universität Hamburg. Seit April 2018 ist sie to leave behind almost his entire collection, which institutions that don’t want to talk about restitution wissenschaftliche Mitarbei- was then confiscated. Have any of those objects – and there are a lot of them – would be surprised terin der Editions- und For- been returned to your family? how many people would settle for an apology. schungsstelle Frank Wedekind an der Johannes Gutenberg- Rafael Cardoso: Yes, I think we’ve had about six Cordula Greinert: Thank you very much, Mr. Car- Universität Mainz. Im Rahmen objects restituted. Most of which came from the doso, for this interview. ihrer Dissertation erarbeitet Preußischer Kulturbesitz. But every institution is sie den 8. Band der Kritischen different, and every country is different. In Germa- Rafael Cardoso und Cordula Greinert danken der Akademie der Gesamtausgabe von Heinrich Künste, dass sie für das Interview am 27. November 2017 einen Manns Essays und Publizistik ny, these things are taken very seriously and the Raum der Akademie nutzen konnten. Lene Greve gebührt großer (1938-1940). institutions really do make an effort to come to Dank für die sorgfältige Rohtranskription des Interviews. Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 25

Über den Autor:

Rafael Cardoso wurde 1964 in Rio de Janeiro geboren. Er wuchs in den USA auf, studierte dort Kunstgeschichte und promovierte am Courtauld Institute of Art der University of London. An- schließend arbeitete er als Professor am Departamento de Artes & Design der Pontifícia Universi- dade Católica do Rio de Janeiro. Seit 2012 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Zu seinen kunst- historischen Publikationen zählen unter anderem Art and the academy in the nineteenth century (2000), O design brasileiro antes do design. Aspectos da história gráfica. 1870-1960 (2005) und Design para um mundo complexo (2012). Literarisch veröffentlichte er unter anderem Entre as mulheres (2007; deutsch: Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio, 2013) sowie O remanescente. O tempo no exílio (2016; deutsch: Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie, 2016). Rafael Cardosos Urgroßvater ist der deutsch-jüdische Bankier, Kunstmäzen und kurzzeitige erste Finanzminister der Weimarer Republik (USPD), Hugo Simon, der 1933 mit seiner Familie nach Frankreich und 1941 nach Brasilien fliehen musste, wo er bis zu seinem Tod unter dem Namen Hubert Studenic lebte.

Neue Publikation zu P. Walter Jacob Ildikó Felbingers und Sophie Fetthauers Studie über P. Walter Jacobs Remigration und seine Intendanz an den Städtischen Bühnen Dortmund 1950–1962

Davon überzeugt, einen Beitrag zum Wiederaufbau der deutschen Kultur leisten zu können, übernahm der Theaterkünstler P. Walter Jacob nach siebzehn Jahren des Exils 1950 das Amt des Intendanten der Städtischen Bühnen Dortmund. Diktatur und Krieg hatten die deutsche Gesellschaft und mit ihr die The- aterlandschaft stark verändert, so dass er manche seiner Vorstellungen in der konkreten Arbeit revi- dieren und sich unterschiedlichsten Konflikten stel- len musste. In einer umfangreichen Studie, die auf das P. Walter Jacob Archiv in der Walter A. Berend- sohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur sowie weitere, vor allem Dortmunder Archivbestän- de zurückgreift, nehmen die Literaturwissenschaft- lerin Ildikó Felbinger und die Musikwissenschaftle- rin Sophie Fetthauer diese Situation in den Blick. Anhand ausgewählter Themen spannt die Studie einen weiten Bogen, in dem die Vorbereitung der Remigration, die Umstände von Jacobs Wahl und die Teile des Nachlasses von P. Walter Jacob im gleichnamigen Archiv © Georg Schmid Auseinandersetzungen um seine Stellung als Inten- dant, Fragen des Theaterkonzepts sowie der Wie- Theaterbetrieb sowie seinen Verflechtungen mit dergutmachung betrachtet werden. Gleichsam ne- städtischer Verwaltung und Presse. Deutlich werden benher ergibt sich ein Bild von der Nachkriegs- auch der nach wie vor virulente Antisemitismus und gesellschaft in Westdeutschland, von den Arbeitsbe- die Mechanismen des Verschweigens der jüngsten dingungen in einer kriegszerstörten Stadt, vom Geschichte.

Ildikó Felbingers und Sophie Fetthauers Studie „Ich glaube an Europa, ich glaube sogar an ein ande- res Deutschland.“ P. Walter Jacobs Remigration und seine Intendanz an den Städtischen Bühnen Dort- mund 1950–1962 erscheint 2018 als Band 2 der von Wolfgang Gratzer und Nils Grosch herausgege- benen Reihe „Musik und Migration“ im Waxmann Verlag, Münster (ISBN 978-3-8309-3815-6). 26 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

Veranstaltungen der Forschungsstelle

Nacht des Wissens Im Rahmen der Nacht des Wissens stellte das P. Wal- ter Jacob Archiv der Hamburger Öffentlichkeit am 4. November 2017 einen Teil seiner Bestände und Ak- tivitäten vor. Von 17 bis 24 Uhr betreuten Cordula Greinert, Lene Greve und Marcus Dahmke zwei Pro- grammpunkte am Archivstand: Unter dem Motto „Das Wissen der Briefe“ konnten die BesucherInnen einige ausgewählte Briefe von und an Walter A. Be- rendsohn entziffern und mehr über den Begründer der Exilliteraturforschung und sein Wirken erfah- ren. Zudem konnten InteressentInnen in Jacobs um- fangreicher Sammlung von Zeitungsausschnitten und Theaterzetteln „Spuren des Exils“ folgen und anhand von heutigem Material selbst diese Kultur- Das älteste Objekt des P. Walter Jacob © Alexa Seewald technik erproben. Archivs: Beauties of the Opera and Ballet, hg. von Charles Heath, London 1844

Zweimal traten die beiden Studierenden beim „Ob- jekt-Slam“ an, auf dem innerhalb von drei Minuten jeweils ein Sammlungsobjekt vorgestellt wurde – Lene Greve hatte dafür eine Tarnschrift von 1939 aus dem Nachlass P. Walter Jacobs gewählt, Marcus Dahmke eine Grußkarte an Walter A. Berendsohn zu dessen 90. Geburtstag im Jahr 1974. Im Rahmen einer Vitrinenausstellung der Zentralstelle für wis- senschaftliche Sammlungen der Universität Ham- burg wurde außerdem das älteste Objekt des Ar- chivs präsentiert: das 1844 in London vom briti- schen Graveur Charles Heath herausgegebene und Queen Victoria gewidmete Buch Beauties of the Ope- ra and Ballet – eine bibliophile, restaurierungsbe- dürftige Ausgabe. Insgesamt besuchten gut 2000 BesucherInnen den Ostflügel des Uni-Hauptgebäu- des, in dem auch das Archiv seinen Stand hatte.

Cordula Greinert

Cordula Greinert, Marcus Dahmke und Lene Greve (v.l.n.r.) © Alexa Seewald in der Warteschlange zum Objekt-Slam

„Zutiefst zu Hause in der Fremde“ Vortrag von Natasha Gordinsky über Lea Goldbergs diasporisches Denken

Am 14. November 2017 hielt Natasha Gordinsky in teilweise ins Deutsche übersetzt wurde, aber bis der Bibliothek der Walter A. Berendsohn-For- heute in Deutschland kaum bekannt ist, wird sie in schungsstelle für deutsche Exilliteratur einen Vor- Israel für ihre literarischen Leistungen (zu denen trag über Lea Goldberg, der von Prof. Dr. Doerte auch die Übersetzung zahlreicher europäischer Au- Bischoff moderiert wurde. Wie der Titel des Vor- toren ins Hebräische gehört) verehrt. trags ,,Zutiefst zu Hause in der Fremde“ bereits an- In ihrem Vortrag gelang es Natasha Gordinsky, die deutet, stand dabei das diasporische Denken im am Department of Hebrew and Comparative Litera- Werk der Schriftstellerin im Vordergrund. Goldberg, ture an der Universität Haifa lehrt und derzeit als die 1911 in Königsberg geboren wurde und in Litau- Gastwissenschaftlerin an der Freien Universität en aufwuchs, studierte später in Bonn und emig- Berlin arbeitet, zu zeigen, wie die Erfahrung des rierte 1933 nach Palästina. Während ihr Werk zwar Lebens in der Fremde sich nicht nur in Goldbergs Newsletter Nr. 27, Sommer 2018 27

Biographie wiederfindet, sondern auch Nieder- schlag in ihren literarischen Texten gefunden hat. Besonders ausführlich ging Gordinsky auf Briefe einer imaginären Reise und Verluste – Antonia gewid- met ein. In beiden Romanen reflektiert die Schrift- stellerin ihre Zeit im Deutschland der 1930er Jahre und beschäftigt sich zugleich mit der Situation des europäischen Judentums. Vor allem in Goldbergs nachgelassenem Roman Verluste wird neben einer eindrücklichen Beschreibung des erstarkenden Na- tionalsozialismus in Berlin die Frage aufgeworfen, für welche Leserschaft ein hebräischer Dichter in einer Zeit vor der Entstehung eines jüdischen Staa- tes eigentlich schreibt.

Natasha Gordinsky in der Exilbibliothek © Doerte Bischoff Lenard Manthey-Rojas

„Desintegration“ Gespräch mit Micha Brumlik, Max Czollek und Anna Schapiro im Jüdischen Salon

Mit der Zeitschrift Jalta wurde 2017 ein Forum er- öffnet, in dem jüdische und nicht-judische Stimmen zu Wort kommen. Mehrheitsgesellschaftliche Deu- tungsmuster und Erwartungen an die jüdische Com- munity werden in wissenschaftlichen, essayisti- schen, literarischen sowie künstlerischen Beiträgen in Frage gestellt. Die zweite Ausgabe mit dem The- menschwerpunkt „Desintegration“ war Gegenstand eines von Sarah Steidl organisierten und ausverkauf- ten Abends, der am 21. Februar 2018 als Kooperati- onsveranstaltung der Walter A. Berendsohn For- schungsstelle mit dem Jüdischen Salon am Grindel e.V. stattfand. Vom HerausgeberInnenkollektiv wa- ren der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik, der Lyriker und Politikwissenschaft- ler Max Czollek und die Künstlerin Anna Schapiro nach Hamburg gekommen und stellten sich sowohl den Fragen von Sebastian Schirrmeister, der die Ver- anstaltung moderierte, als auch denen des überaus interessierten Publikums. Unter dem Begriff „Des- integration“ fassen die HerausgeberInnen unter- schiedliche kunstlerisch-asthetische Strategien Max Czollek, Anna Schapiro, Micha Brumlik und Sebastian Schirrmeister (v.l.n.r.) © Sarah Steidl zusammen, die tradierte Reprasentationen judischer Positionen unterlaufen und transformieren. Einig- lebhafte Diskussion im Jüdischen Salon lässt erwar- keit und Konsens weichen einer stets erneuerten, ten, dass auch die kommende Ausgaben von Jalta in produktive Irritation in einer „Gesellschaft der Vie- ähnlicher Weise kontroverse Debatten anregen wer- len“, die sich gerade durch das Neben- und Miteinan- den. der unterschiedlichster (nicht nur jüdischer) Positi- onen, Identitäten und Entwürfe auszeichnet. Die Sarah Steidl

Diese Veranstaltung wurde aufgezeichnet und ist im Video-Portal der Universität Hamburg unter https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/22724 in voller Länge abrufbar. 28 Newsletter Nr. 27, Sommer 2018

Die Forschungsstelle bei den Tagen des Exils 2017

In Kooperation mit der Körber-Stiftung und der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg und initiiert von der Herbert und Elsbeth Weich- mann-Stiftung hat sich die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur zum zweiten Mal als Kooperationspartner an der Orga- nisation der Hamburger Tage des Exils beteiligt. Insgesamt fanden an unterschiedlichsten Orten 60 Veranstaltungen rund um die Themen Flucht, Ver- treibung und Exil in Vergangenheit und Gegenwart statt: von Podiumsgesprächen über Lesungen, Fil- me, Workshops, Stadtführungen und Vorträge. Ge- meinsam mit verschiedenen Kooperationspartnern hat das Team der Forschungsstelle neun dieser Ver- kumentarfilm Havarie sowie den gleichnamigen Ro- anstaltungen gestaltet. man von Merle Kröger. Leider waren die Autorin Bei einem Gesprächsabend im Literaturhaus ging und Regisseur Philip Scheffner kurzfristig verhin- Doerte Bischoff am 13. Juni gemeinsam mit Ursula dert. Trotzdem ergab sich nach der Vorführung ein Krechel (Landgericht), Norbert Gstrein (Die engli- sehr angeregtes Gespräch mit dem Publikum. schen Jahre) und Klaus Modick (Sunset) den Spuren Wie schon 2016 hat Sebastian Schirrmeister in Ko- des NS-Exils in Gegenwartsromanen nach. Fragen operation mit scienceslam.de ein Science Slam Spe- zur Bedeutung von Flucht und Exil, zur Möglichkeit cial zum Thema „Flucht und Exil“ organisiert. Im der Rückkehr und zum Umgang mit der (literari- Saal 73 hatten sechs NachwuchswissenschaftlerIn- schen) Erinnerung an das NS-Exil wurden disku- nen aus unterschiedlichen Disziplinen am 17. Juni tiert. jeweils zehn Minuten Zeit, um ihre eigenen For- In der Katholischen Akademie Hamburg stand am schungsprojekte verständlich und eindruckvoll 20. Juni das „paradoxe“ Leben von Margarete Sus- dem zahlreich erschienenen Publikum zu präsen- man (1872-1966) im Mittelpunkt eines Vortrags tieren. Der Erlös des Abends wurde dieses Mal an und eines Gespräches, das Doerte Bischoff mit der die Hamburger Initiative „Women in Action“ ge- Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck führte. Sus- spendet. Die Gruppe aus geflüchteten Frauen, Frau- man, die sich mit Sprache, Literatur, Philosophie en mit Migrationserfahrung und Hamburger Freun- und Politik beschäftigte, stand als deutsche Jüdin, dinnen setzt sich für weibliche Selbstbestimmung schreibende Frau und politisch Engagierte im Exil ein und organisiert regelmäßige Treffen. Alle Bei- gleich mehrfach in spannungsreichen Konstellatio- träge wurden aufgezeichnet und sind im YouTube- nen. Kanal von scienceslam.de abrufbar: www.youtube. In einem dritten Gesprächsformat sprach Doerte com/scienceslam. Bischoff am 27. Juni im Warburg-Haus mit dem ko- Auch die Themen der letzten beiden Ausgaben des lumbianischen Autor Erik Arellana und Sergej So- exilograph standen Pate für eigene Veranstaltungen Impressum lovkin aus Russland. Gemeinsam mit der Herausge- bei den Tagen des Exil: Vor passender Kulisse in den berin und Writers-in-Exile-Beauftragten Franziska Parkanlagen von Planten un Blomen führte Jasmin Herausgeber: Prof. Dr. Doerte Bischoff Sperr stellten sie die neue PEN-Anthologie Zuflucht Centner am 17. Juni mit dem Autor Pedro Kadivar, Redaktion: Jasmin Centner, in Deutschland vor, in der beide Autoren mit eigenen dem Verleger Madjid Mohit und der Literaturwis- Anne Benteler Texten vertreten sind. senschaftlerin Carla Swiderski ein Gespräch über Gestaltungsvorlage: Booth Design Unit Um bewegende Geschichten auf der Leinwand ging die Frage „Haben Menschen Wurzeln?“ (vgl. exilo- Layout: Sandra Narloch es in der dreiteiligen Reihe Bewegte Bilder. Flucht graph 25). Sarah Steidl und Frida Teichert sprachen und Exil im Film: Am 16. Juni unterhielten sich Carla am 21. Juni im Nochtspeicher mit den AutorInnen Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für Swiderski und Arnhilt Hoefle im Anschluss an die Paula Bulling und Sebastian Pampuch sowie dem deutsche Exilliteratur Filmvorführung des Stefan Zweig-Films Vor der Germanisten Thomas Merten über Flucht und Exil Von-Melle-Park 3 Morgenröte im Abaton Kino mit der Regisseurin in Graphic Novels (vgl. exilograph 26). 20146 Hamburg Tel.: (040) 42838-2049 Maria Schrader und dem Drehbuchautor Jan Schom- Erneut war das öffentliche Interesse an der Veran- Fax: (040) 42838-3352 burg. Im Kino B-Movie moderierte Jasmin Centner staltungsreihe so groß, dass die Fortsetzung für E-Mail: am 20. Juni den Filmvortrag Heike Klapdors Dis- 2018 bereits geplant ist. Die Tage des Exils finden [email protected] Internet: placed. (R)Emigranten als Figuren im Film nach 1945, dieses Jahr von Mitte Oktober bis Mitte November www.exilforschung.uni- der anhand von zahlreichen Filmausschnitten der statt, auch diese Mal wieder unter Beteiligung der hamburg.de Auseinandersetzung des deutschen Kinos mit der Forschungsstelle. Frage der Rückkehr nachging. Zuletzt präsentierte ISSN (Print): 2366-7427 Sarah Steidl gemeinsam mit Cordula Greinert am Jasmin Centner und Sebastian Schirrmeister ISSN (Online): 2366-7435 29. Juni im Lichtmess-Kino den experimentellen Do-