Formen der wissenschaftlichen Erklärung in den Geisteswissenschaften

Dissertation

zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

eingereicht von Mag.phil. Mag.phil. Mag.phil. Ivo Marinšek

am Institut für Philosophie

Erstbegutachter: Ao.UProf.i.R. Mag.theol. Dr.phil. Wofgang L. Gombócz Zweitbegutachter: O.Univ.Prof. Dr.phil. Bojan Borstner

2019

Danksagung und Motto

Besonders danke ich meinem Mentor, Univ.Prof. Wolfgang Gombócz, der meine Begeisterung für philosophische Fragen geweckt und gefördert hat und mir bei dieser Arbeit mit Rat und wertvollen Anregungen zur Seite stand. Auch anderen Universitätsprofessoren aus Graz und Maribor, die mich auf eigenständiges Arbeiten vorbereitet haben, sei gedankt.

„Die Falschheit besteht in einem Mangel an Erkenntnis, den die inadäquaten oder verstümmelten und verworrenen Ideen in sich schließen.“ (Spinozas Ethik, Teil 2, Lehrsatz 35)

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort...... 11

Einleitung...... 19 a)Forschungsstand zum Thema Erklärung...... 19 b)Kausalität, Gesetz und Erklärung als miteinander zusammenhängende wissenschaftliche Begriffe...... 21 c)Implikationen der Erkenntnistheorie für humanwissenschaftliche Er- klärungen...... 29 d)Implikationen der Wissenschaftstheorie für humanwissenschaftliche Erklärungen...... 32 e)Hempels Verteidigung seines Schemas als auf die Geisteswissenschaf- ten anwendbar...... 34

Kapitel 1 - Implikationen der Wissenschaftsphilosophie für human- wissenschaftliche Erklärungen...... 41 1a)Erfahrung, Erklärung und Begrifflichkeiten...... 41 1b)Theorieabhängigkeit, Kategorien und Erklärungsprinzipien...... 49 1c)Erklärungen, Modelle und ihr Nutzen...... 54

Kapitel 2 - Programm einer speziellen Wissenschaftstheorie der Geis- teswissenschaften...... 57 Kapiteleinteilung...... 57 2b)Klärung des Begriffs Geisteswissenschaft...... 57 2c)Bemerkungen über individualisierende Erklärungen...... 63 2d)Handlungstheorie und Hermeneutik als paradigmenbildende Theo- rien geisteswissenschaftlicher Erklärung...... 67 2e)Spezielle Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften...... 71

Kapitel 3 – Einheitlichkeit der Wissenschaften...... 83 3b)Gekonnte Erklärung als Gemeinsamkeit aller Disziplinen...... 91 3c)Forschungsgeschichtlicher Exkurs - John Stuart Mills Lehre von den Humanwissenschaften als einem Sonderfall einer einheitlichen wis- senschaftlichen Erkenntnis...... 98

Kapitel 4 - Der praktische Syllogismus...... 103 4b)Kritik an von Wright, Fortführung seiner Position...... 117

Kapitel 5 - Hermeneutik………………..…...... ……………...... 123 5b)Interpretative Erkenntnis………………...... 129 5c)Gadamer über Klassiker und Aktualität...... 137 5d)Gadamer über historische Erfahrung...... 143

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Kapitel 6 - Methodologien……...... 147 6b) Kausalanalyse und mögliche Zustände...... …...... 159 6c) Stegmüller über Teleologie...... 164 6d) Begriffe, logische Struktur und ontologische Implikationen geistes- wissenschaftlicher Erklärungen...... 170 6e) Vorwegnahme von Motivkausalität in der Geschichte der Psycholo- gie………………...... 172

Kapitel 7 – Die Rolle allgemeiner Gesetze in geisteswissenschaftlichen Erklärungen...... 175 7b)Grenzen der ökonomischen Verallgemeinerung als Sonderfall...... 191 7c)Spezialfälle gesetzesartiger (funktionstheoretischer) Aussagen in geisteswissenschaftlichen Erklärungen...... 194

Kapitel 8 – Einzelfallerklärung...... 199 8b)Gesetze in historischen Erklärungen...... 203 8c)Handlungstheoretischer Aspekt der Erklärung...... 215 8d)Wie oder warum, zwei Zugänge zum Erklären...... 222 8e)Die logische Vereinbarkeit logischer und rationaler Erklärungen....225

Kapitel 9 - Wahrscheinlichkeitsschlüsse und Enthymeme...... 227

Kapitel 10 - Die Begründbarkeit von moralischen Urteilen im Zusam- menhang mit geisteswissenschaftlichen Erklärungen...... 239 10b)Praktische Syllogismen im Vergleich mit anderen Argumenten.....241 10c)Mittel, Zwecke und Paradoxien des Egoismus...... 242 10d)Handlungstheorie und Handlungsgründe...... 244 10e)Präferenzentscheidungen und Einflüsse auf sie...... 246 10f)Selbstverständliches Wissen von Handelnden über Kausalität...... 250 10g)Maximen und Moralbegründung als Gegenstand bzw Komponente der Wissenschaften vom Menschen...... 251

Kapitel 11 - Das Wesen des Soziokulturellen und seiner Dynamik....259 11b)Überschneidung von Kausalfaktoren, Zufall und Singularität...... 262 11c)Typus, Strukturen und Grenzen der Handlungsmöglichkeiten...... 266 11d)Willensakte und Motive als Kausalfaktoren...... 268 11e)Darstellungen, Zugänge und Urteile...... 270

Kapitel 12 - Klärung des Zusammenhangs zwischen Erzählung und Er- klärung...... 275 12b)Analytische Philosophie der Geschichte...... 276

8 12c)Beweismaterial und Paradigma als Aspekte geisteswissenschaftli- cher Erklärung...... 280 12d)Erzähltexte und Erklärungsskizzen...... 283 12e)Prognoseprobleme, Handlungsfreiheit und implizite Verallgemeine- rungen...... 285 12f)Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Erzählungen und geis- teswissenschaftlichen Argumenten...... 288 12g)Interaktionen zwischen Individuen und Kollektiven...... 289

Kapitel 13 - Popper als Vorläufer der Theorie der geisteswissenschaft- lichen H-O-Erklärung...... 291 13b)Grenzen der Sozialprognose und realistische Planungen...... 292 13c)Soziale Strukturen in Wechselwirkung mit zwischenmenschlichen Interaktionen...... 296 13d)Soziale Trends im Unterschied zu Entwicklungsgesetzen...... 297 13e)Erklärung von Trends durch singuläre Randbedingungen...... 299 13f)Methodischer Individualismus und soziokulturelle Möglichkei- ten...... 301

Ausblick, Zusammenfassung und Nutzanwendung...... 305 Abschließende Stellungnahme zu verwendeten Standardautoren...... 308

Nachwort...... 311

Literaturverzeichnis...... 315

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10 Formen geisteswissenschaftlicher Erklärung

Vorwort

Obzwar bereits Berge von Literatur über die theoretischen Grundlagen der Wissen- schaften vom Menschen existieren, versucht der vorliegende Text in einem Teilbereich zu mehr Erkenntnis beizutragen. Ausgehend von logischer Analyse will er sich der Be- antwortung der Frage nach dem Wesen geisteswissenschaftlicher Erklärungen annähern. Es wird sich zeigen, dass lesenswerte Schriften zu diesem Thema beweisen, dass die Anwendung des Hempel-Oppenheim-Schemas (im Folgenden mit H-O-Schema abge- kürzt) auf die Geisteswissenschaften wenigstens eine mathematische Menge der mögli- chen Verursachungen erkennbar macht. In das Vorwort sind auch Gedankengänge aus einem Sammelband eingeflossen, wel- cher sich mit Fragen des Verhältnisses von Teil und Ganzem in der Geschichtswissen- schaft befasst. Besonders haben mich Ansätze zu einer allgemeinen Systemtheorie an- geregt, welche die Wechselwirkungen zwischen den Elementen komplexer Systeme thematisieren (vgl die Autoren: Acham; Schulze 18). Können wir nicht vermuten, dass manche Interaktionen in unserer Sozialwelt an die unberechenbaren Zusammenstöße der Kugeln beim Lottospiel erinnern? Dieses Gleichnis ermöglicht uns eine anschauli- che Vorstellung des zu lösenden wissenschaftstheoretischen Problems, wie es möglich ist, dass Geisteswissenschaftler das ihnen vorwiegend aus Quellen bekannte Individuel- le an Hand allgemeiner Prinzipien für Veränderungsmöglichkeiten interpretieren. Der in der Wissenschaftsgeschichte wiederholt aufgekommene Ruf nach einer Kombination von Geschichte und Sozialpsychologie wird dadurch wieder aktuell, ohne jedoch un- wiederholbare Faktoren wie die biographische Prägung der an Geschichtsprozessen be- teiligten Individuen zu entwerten (aaO 21). Dass man die Bedeutung des Einzelwillens weder über- noch unterschätzen soll, ließe sich an vielen Beispielen zeigen, angefangen von der Wirtschaftsgeschichte (Böhm 68). In dieser gilt wie auch in der Geistesgeschichte, dass sich der Einfluss des Individuums regelmäßig in Grenzen hält. Allein das Problem der unbeabsichtigten Handlungsfolgen

11 und die selbstverständliche Berücksichtigung möglicher Tätigkeiten und Reaktionen anderer zeigt, dass bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen Faktoren aller zu- sammenwirken können und individuenzentrierte Thesen über soziale Prozesse zu kurz greifen. Soziologische Handlungstheorien haben wertvolle Vorarbeiten geleistet. ZB machte Karl Acham darauf aufmerksam, dass sie über die Bedingtheit sozialer Strukturen durch individuelle Absichten und typische Verhaltensweisen ebenso reflektieren wie über die Beeinflussung von Einzelnen und Kulturen durch übergeordnete Systeme. Diese kom- plexe Wechselwirkung lässt sich nachvollziehen, indem man das H-O-Schema sowohl auf Meinungsbildung als auch auf Traditionen bzw Interaktionen anwendet. Eine derartige Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften widerspricht indes nicht der Ansicht Arthur Schopenhauers, der Verlauf der Weltgeschichte lasse sich nicht aus einem System herleiten (vgl Acham 81). Denn insofern nur die Möglichkeiten der Ein- flussnahme im soziokulturellen Bereich die Bedingungen sind, welche historische Ver- änderungen erklären, handelt es sich dabei um Regeln mit Ausnahmen. Übergeordnete soziokulturelle Systeme bzw Makrostrukturen scheinen durch chaotische Schwankungen zu entstehen (aaO 84). Dies muss daran liegen, dass es um indetermi- nierte Systeme mit mehreren Freiheitsgraden sowie um Entwicklungsmöglichkeiten geht, in welchen nicht alles Denkbare realisierbar ist. Ich halte jedenfalls die übliche sozialphilosophische Ansicht für bewiesen, dass es den genetischen Mutationen analoge Fluktuationen der Formen menschlichen Zusammenlebens gibt (vgl aaO 85-86). Wenn das der Fall ist, müssen sich Verhaltensweisen durchsetzen, welche sich in irgendeiner Hinsicht bewährt haben. Die soeben angeführte Annahme einer kulturellen Evolution widerspricht nicht dem Diktum Wilhelm Diltheys, dass sich Geisteswissenschaften mit Phänomenen des Erlebnisausdrucks beschäftigen (aaO 93). Sie verändert lediglich die hermeneutische Perspektive, indem sie nach den ermöglichenden Bedingungen von see- lischem Erleben und kulturellem Ausdruck fragt. Darum schließen sich meine Recher- chenergebnisse zur Gänze der These Achams an, dass Geschichte und systematische Sozialwissenschaften auf einander angewiesen sind: Es muss nicht nur eine Logik der Ereignisse geben, sondern auch spezifische Umstände einzelner Vorfälle wie die kon- kreten Bedürfnisse und wertenden Vorlieben der soziokulturell Handelnden.

12 Ich behaupte, dass es eine zT apriorische Erkenntnis der Bedingungen historischer Möglichkeit geben muss. Wie könnte man andernfalls ohne Willkür über das Wesentli- che für die Beschreibung und Erklärung geisteswissenschaftlicher Forschungsgegen- stände entscheiden? Quellen setzen der deutenden Kreativität Grenzen, obwohl ihre In- terpretation mit Hilfe der Gesamtheit aller humanwissenschaftlichen Erkenntnisse fruchtbare Einsichten liefert (vgl aaO 100). Muss man sich Achams Behauptung nicht anschließen, dass einem gerade die Beschäf- tigung mit typischen Konstellationen und Handlungsverläufen das Bewusstsein für Neuartiges in der Weltgeschichte schärft? Die Rekonstruktion der Absichten histori- scher Akteure und die Beschäftigung mit Alternativen zum faktischen Geschichtsver- lauf sind für mich integrale Bestandteile des hier zu erörternden Paradigmas der geis- teswissenschaftlichen Erklärung von Einzelereignissen ausgehend von soziokulturellen Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten (vgl aaO 104-106). Diese ganzheitliche Zugangsweise zu geisteswissenschaftlichen Fragen beleuchtet zu- gleich mit den Bedingungen soziokultureller Ereignisse die Verflochtenheit kleinerer und größerer Gruppen bzw Strukturen, welche einander gegenseitig ermöglichen sowie auf Individuen aufbauen (vgl Meier 125-126). Ausdrücklich sei aber im Anschluss an eine lange Tradition der objektiven historischen Darstellung davor gewarnt, logisch- empirisch nicht überprüfbare Spekulationen als schematische Erklärungshilfen zu ver- wenden. Bloß was ist der Zweck historiographischer Neudarstellungen, wenn nicht die Ersetzung chronikartiger Schilderungen von Aufeinanderfolgen durch möglichst aus- führliche Kausalanalysen? Für meine Behauptungen sprechen auch Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte: Schon im Zeitalter der Aufklärung gingen Gelehrte von der menschlichen Natur und ihren Trieben aus (Reill 162), welche in Abhängigkeit von Individuen und ihren Le- bensumständen modifizierbar sind sowie die Möglichkeit struktureller und kultureller Veränderungen erklärbar machen. Allerdings besteht die hier zu erörternde Kunst des Historikers darin, dass derartige Erklärungen nicht auf bloßen Analogieschlüssen auf- bauen, sondern zumindest auf einem als solchen erkennbaren trivialen statistischen Zu- sammenhang. Schon Aristoteles schrieb historischen Wissenschaften eine Schwerpunktsetzung auf das Besondere zu. In der Tat bilden gerade Einzelfälle das Explanandum, wenn wir geistes-

13 wissenschaftliche Kausalerklärungen analysieren. Ich glaube wie Wilhelm von Hum- boldt, dass die einzigartigen Situationen des soziokulturellen Wirklichkeitsbereichs die Sphäre des für uns Menschen Gestaltbaren darstellen. Nur ein verstehender Ansatz wird dem Indeterminierten und Einzigartigen an der kulturellen Evolution gerecht. Ist das konträre Weltbild, unsere heutigen Institutionen seien eine notwendige Folge der Naturgesetze und der Planetenentstehung, nicht offensichtlich absurd? Johann Gustav Droysen meinte diesbezüglich, dass sich die Geschichte auf das Indivi- duelle beschränken solle, da andere Geistes- und Humanwissenschaften wie die Öko- nomie für das Allgemeine zuständig seien. Dies ist prinzipiell richtig. Doch halte ich es für notwendig hinzuzufügen, dass eine zeitgemäße Geschichtswissenschaft interdiszip- linär arbeiten und daher über ein anthropologisches, institutionentheoretisches etc Wis- sen bezüglich realer Gestaltungsmöglichkeiten verfügen muss. Mit dieser Formulierung schließe ich mich dem Standpunkt Wilhelm Windelbands an, dass sich alle Geisteswissenschaften durch ihre besondere, wertende Schwerpunktset- zung von den Naturwissenschaften unterscheiden, nicht aber durch die logische Struktur ihrer Erklärungen. Was die Vergleichbarkeit bzw Ähnlichkeit mehrerer soziokultureller Situationen betrifft, ist zu beachten, dass nur gewisse Aspekte einer Situation schlecht- hin wiederholbar sind (vgl Bichler 191). Darum hängt es von der Schwerpunktsetzung des Forschers ab, ob sich seine Erklärungen eher individualisierend auf Randbedingun- gen eines Ereignisses berufen oder systematisch auf gesetzesartige Aussagen. Um zu Erklärungen zu gelangen, benötigen Geisteswissenschaftler auch flexible Allgemeinbe- griffe (Schulze 193), um zu beschreiben, inwieweit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Modifikationen des menschlichen Ausdrucksverhaltens und Zusammen- lebens bestehen. Um Einseitigkeiten zu vermeiden, gilt es auch die Spuren des Einzel- nen im Sozialleben zu erkennen, wobei übertriebene Konzentrationen auf individuelle Gestaltungsmöglichkeiten wie auch auf Formen sozialer Prägung gleichermaßen Irrwe- ge darstellen (vgl aaO 215). Historismus und Determinismus sind wie Skylla und Charybdis für eine Wissenschafts- theorie der Geisteswissenschaften. Denn ersterer vernachlässigt gesetzesartige Aussa- gen, während sie letzterer überbetont. Ich bin überzeugt, dass eine kausale Theorie der Variationsmöglichkeiten des Psychischen und Soziokulturellen beide Irrlehren über-

14 windet und einen deutlichen Schritt in Richtung auf das Ziel eines objektiven Verständ- nisses des Menschlichen geht (vgl Albert 221-222). Historische Rekonstruktion geht von Quellen aus, greift aber zugleich auf Kausalzu- sammenhänge zurück; letztere dienen als Mittel zum Zweck der statistischen Einzelfall- erklärung (aaO 223). Eben dies nennt man seit Max Weber verstehende Erklärung, wel- che einfühlendes Verstehen als heuristisches Mittel akzeptiert und hermeneutische Ho- rizontverschmelzung zum Ziel hat, dennoch aber deduktiv-nomologisch vorgeht. Dh in der Wissenschaftstheorie versteht man, um zu erklären, in der Praxis ist es zT umge- kehrt. Ist es nicht intuitiv klar, dass Geisteswissenschaftler regelmäßig von den Vorlieben und Befürchtungen einzelner ausgehen, ohne die Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppenphänomenen aller Art zu vernachlässigen (vgl aaO 235-236)? Hans Albert macht darauf aufmerksam, dass dies bei der Analyse des Einflusses historischer Persön- lichkeiten, zB Gesetzgeber, geschieht. In diesem Zusammenhang spielen angesichts der Möglichkeit, aber nicht Notwendigkeit von Neuerkenntnissen wohl auch Zufallsprozes- se eine Rolle (vgl aaO 239). Auch im soziologischen Schrifttum wird gelegentlich auf das Entscheidungsverhalten des Einzelnen rekurriert. Dies kann allerdings ein Element der stillschweigenden Vo- raussetzungen sein. Zudem wäre es ein Kunstfehler, vom Zusammenwirken der Indivi- duen zu abstrahieren (Mozetič 250). Ich glaube im Anschluss an den Ökonomen Ludwig von Mises, dass uns dies zur apriorischen Erkenntnis einer probabilistischen Handlungs- und Interaktionstheorie befähigt. Indes wäre es ein grobes Missverständnis, mir zu un- terstellen, ich hätte soeben für einen psychologischen Determinismus argumentiert. Vielmehr glaube ich wie Karl Popper, welchem das Abschlusskapitel der vorliegenden Arbeit gewidmet ist, dass sich Geisteswissenschaftler mit der Logik der zu erklärenden Situation zu befassen haben. Liegt es nicht auf der Hand, dass der Verlauf etwa der Philosophiegeschichte das Ver- halten von institutionell gebundenen oder wenigstens geprägten Individuen zur notwen- digen Voraussetzung hatte? Meine Stellungnahme kann deshalb kein übertriebener In- dividualismus sein, da auch laut Friedrich Engels die Willensregungen der Einzelnen zu Spannungen führen und nicht unverändert verwirklichbar sind (vgl aaO 264).

15 Ich behaupte hiermit wie Maurice Mandelbaum, dass es zwar zutreffende Verallgemei- nerungen über soziokulturelle Sachverhalte gibt, aus welchen sich aber keinerlei Speku- lationen über eine vermeintliche historische Unvermeidlichkeit herleiten lassen (aaO 269). Wenn ich für einen theoretischen Pluralismus eintrete, befürworte ich nicht, dass sich mehrere Theorien auf ein und denselben Aspekt eines geisteswissenschaftlichen Problems beziehen (vgl aaO 271). Wenn die Logik historischer Rekonstruktionen ver- bessert werden soll, muss daher geklärt werden, ob eher funktionalistische, eher system- theoretische oder eher entscheidungstheoretische Ansätze zu einer logisch und empi- risch bewährten Erklärung beitragen (vgl aaO 273, 276). Eine weitere Begründung dieser vertieften Bemühungen um eine objektive Hermeneutik ist folgende: Der Sachverhaltsbezug von Texten über geisteswissenschaftliche Probleme äußert sich ua in einer bestimmten Erklärungsform (vgl Elisabeth Ströker 279). Der Hauptunterschied zwischen objektiver und intuitiver Hermeneutik lässt sich dadurch veranschaulichen, dass die an Taschenspielerei grenzende Metapher des hermeneuti- schen Zirkels verworfen wird. Hermeneutisches Arbeiten gleicht eher einem zickzack- förmigen Weg, welcher die schrittweise Korrektur des forschenden Verstehens von menschlichen Lebensäußerungen an Hand ihrer relevanten Kontexte und wesentlicher Bedingungen darstellt (aaO 291). Der vorliegende Text soll auch in kritischer Ausei- nandersetzung mit Hans Georg Gadamer zeigen, dass die komparativ-induktive Metho- de der Geistesgeschichte nichts mit „Zirkel“ und „Vorurteil“ zu tun hat. Zu diesem Zweck muss allerdings das allgemein Menschliche in seinen unterschiedlichen kulturel- len Spielarten sichtbar gemacht werden (vgl Rüsen 302), damit durch die vergleichende Vorgehensweise nicht lediglich oberflächliche Analogien erarbeitet werden. Der Zweifel daran, dass sich historische Erklärungen nicht-historischer Erkenntnisse bedienen, ist eine widerlegbare Lehrmeinung. Wer würde etwa leugnen, dass sich mar- xistische Historiker auch auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten beriefen? Zeigt nicht die- ses wissenschaftshistorische Beispiel, dass die Geschichtswissenschaft eines Weltbildes und der interdisziplinären Zusammenarbeit bedarf? Diese von mir postulierten zwei Vo- raussetzungen jeder geisteswissenschaftlichen Erklärung dürfen jedoch weder zu einem pseudowissenschaftlichen Dogmatismus noch zu einem Verkennen des Fachspezifi- schen entarten (aaO 307). Disziplinen wie die Geschichte werden durch die Reflexion ihrer Fundamentalkatego-

16 rien zu einer speziellen Wissenschaftstheorie ihrer selbst (aaO 308). Diesbezüglich wird mir ein besonderes Anliegen sein, die Erzählbarkeit (vgl Kapitel 12) als ein spezifisches Merkmal mancher geisteswissenschaftlicher Forschungsergebnisse aufzuzeigen (vgl aaO 309). Historische Universalien (aaO 314) erlauben uns zudem eine begriffliche Be- schreibung aller denkbaren Geschichtsverläufe. Werden reale historische Vorgänge ge- schildert, ergänzen einander deduktiv-nomologische Erklärung, Beschreibung der Randbedingungen und Erzählung (vgl aaO 316). Dh der erklärende Aspekt ist von ande- ren Facetten des wissenschaftlichen Schreibens zu unterscheiden, wobei nur das Inei- nandergreifen von Kausalität und Zufall dazu führt, dass Geisteswissenschaftler gewisse Entwicklungen am besten als Geschichten darstellen. Trotz diverser außerwissenschaft- licher Einflüsse macht auch in diesem Fall die Argumentationsstruktur bestimmte Be- hauptungen zu wissenschaftlichen (aaO 318). Sogar bei Lenin findet sich trotz seines Fanatismus die Einsicht in die Existenz mehre- rer möglicher Geschichtsverläufe (vgl Küttler 327). Dies lässt sich so deuten, dass der Erfolg konkreter politischer Maßnahmen ua von der Mitarbeit und den Motiven Einzel- ner abhängt. Spricht das nicht gegen deterministische Gegenthesen zu meiner Position einer „analytischen Historik“? Um aber möglichst viele Aspekte des Geschichtsverlaufs zu erklären, müssen probabilistische Untersuchungen der funktionalen, motivationalen und genetischen Bedingungsfaktoren zur rein nomologischen Analyse hinzutreten (vgl aaO 336). Umfassende geisteswissenschaftliche Untersuchungen können daher, so Kütt- ler, den Charakter der Ausarbeitung einer spezifischen Theorie annehmen. Die dabei hervortretenden gesetzesartigen Aussagen mit begrenztem Geltungsbereich liefern uU die Antwort auf Fragen wie die, ob eine bestimmte Kulturveränderung primär sozio- ökonomisch bedingt ist oder im Gegenteil mit anderen soziokulturellen Phänomenberei- chen wie der technologischen Entwicklung zusammenhängt (aaO 338). Diese Arbeit soll anregen, durch Anwendung des H-O-Schemas die Angebrachtheit all- gemeiner Gesellschafts- und spezifischer Kulturtheorien objektiv zu überprüfen. Dadurch soll nicht nur einer Beliebigkeit der erklärenden Hypothesen vorgebeugt wer- den (aaO 346), sondern auch die in der Herleitung vom kulturgeschichtlichen Erbe ent- haltenen Werturteile expliziert und zweckrational begründet werden (vgl aaO 343). Im zehnten Kapitel der vorliegenden Arbeit soll darüber hinaus gezeigt werden, dass auch Zwecksetzungen nicht völlig willkürlich sind.

17 Schon im 18. Jahrhundert war Denkern wie Hume und Schiller indes bekannt, dass das Kausalitätsprinzip sowie die Kenntnis anthropologischer Konstanten die Arbeit guter Historiker leiten (vgl Oexle 358). Macht man diese stillschweigenden Vorannahmen explizit und wendet das H-O-Schema an, hütet man sich vor bloßen Analogien, welche Pseudobegründungen zur Folge haben können. Damit baue ich auf der Tradition Diltheys auf (vgl Kapitel 5), welcher die historische Kontinuität letztlich mit bestimm- ten mit dem menschlichen Leben verknüpften Bedingungen identifizierte. Lediglich diesen Gedanken verknüpfe man mit der analytischen Geschichtsauffassung Hempels (siehe Einleitung), nicht aber romantische Träumereien über die Erkenntnis eines Welt- plans (vgl aaO 365). Obwohl geisteswissenschaftliche Arbeit eine Auswahl aus einem unübersehbaren Daten- und Quellenmaterial impliziert (aaO 369), stellt sie für mich folgende allgemeine Frage: Welche konkreten Umstände und allgemeinen Möglichkei- ten bzw Wahrscheinlichkeitsgesetze machen ein soziokulturelles Ereignis verständlich? Die von mir hiermit geforderten humanwissenschaftlichen Allgemeinbegriffe sind kei- neswegs mysteriös. Außerdem kann ich mich für sie auf geistesgeschichtliche Vorläufer wie zB Montesquieu berufen: Dieser konnte mit seinem Begriff der Verfassungsform alle spezifischen Formen des höher zivilisierten Zusammenlebens erfassen. Ebenso be- zog er sich auf Handlungsmotive, physische Umweltbedingungen, Lebensweisen, Ein- stellungen und Gebräuche von Menschen. Kurzum, auf Variable, welche im Laufe der Geschichte unterschiedliche Werte annehmen (aaO 379). Variable dieser Art ermögli- chen Prognosen von Wahrscheinlichkeiten, aber keine exakten Vorhersagen (vgl Kapi- tel 13). Kunstgerechte geisteswissenschaftliche Erklärungen befassen sich systematisch mit all- gemeinen Variablen und historisch mit deren „zufälligen“ oder „individuenabhängigen“ Variationen. Andere Vorgehensweisen sind gewissermaßen eine „Docta ignorantia“ (vgl aaO): Etwa Verallgemeinerungen, welche alles historische Geschehen ihrem Schema wie einem Prokrustesbett anpassen, oder auch das Übersehen der zahllosen wechselseitigen Einflüsse bzw Kausalketten.1

1vgl Karl Acham und Winfried Schulze (Hg): Teil und Ganzes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, 18-19, 21, 47, 68, 70, 75, 81, 84-86, 93, 98, 100, 102, 104-106, 125-126, 143, 159, 162- 163, 171, 173, 175, 178, 181, 187, 191, 193, 215, 221-223, 233, 235-236, 239, 248, 250-251, 262- 264, 269, 271, 273, 276, 279, 291, 297, 302, 306-309, 314, 316, 318-319, 321, 327, 336-338, 343, 346, 358, 361, 365, 369, 377-379

18 Einleitung

Zunächst geht es um die Feststellung des Forschungsstandes: Dazu ist es notwendig, sich mit gewissen etablierten Lehrmeinungen der theoretischen Philosophie und Wis- senschaftsphilosophie auseinanderzusetzen. Es soll geklärt werden, was unter wissen- schaftlicher Erkenntnis zu verstehen sei, um darüber spekulieren zu können, was das Spezifische an geisteswissenschaftlichen Erklärungen ist, die durch ihre logische Form und insbesondere den im Hempel-Oppenheim-Schema dargestellten Syllogismus be- weisen, dass sie seriös und objektiv sind und nicht etwa bloß intuitiv. Ausgehend von Standardwerken der theoretischen Philosophie werden naheliegende Parallelen zwi- schen allgemeinen Möglichkeiten wissenschaftlicher Erklärung und ihren spezifisch geisteswissenschaftlichen Formen aufgezeigt, welche der Autor der vorliegenden Arbeit zT durch Beispiele anschaulich macht.

a)Forschungsstand zum Thema Erklärung Eine Erklärung nach dem Hempel-Oppenheim-Schema (H-O- oder D-N-Schema) ist dadurch gekennzeichnet, dass aus mindestens einer situativen Anfangsbedingung und aus mindestens einem Gesetz, die zusammen das Explanans ausmachen, logisch das Explanandum, der zu erklärende Sachverhalt, hergeleitet wird. Man mag einwenden, dass das Wort „Erklärung“ in der Umgangssprache vieldeutig ist, aber nur drei seiner Bedeutungen können gemeint sein, wenn von einer geisteswissen- schaftlichen Erklärung die Rede ist, und zwar das Verständlichmachen fremden Han- delns, die Einordnung in einen größeren Zusammenhang und die Zurückführung eines Phänomens auf Gesetzmäßigkeiten. Obwohl der dritte Fall das Paradebeispiel einer wis- senschaftlichen Erklärung ist, liefern Deutungen und Einordnungen in Zusammenhänge uU auch plausible Kausalhypothesen oder statistisch-induktive Erklärungen, dh mit ei- ner bestimmten Wahrscheinlichkeit zutreffende Erklärungen. Geisteswissenschaftliche Kausalbehauptungen sollen mE auch die Form des H-O- Schemas aufweisen, so dass die von ihnen zu erklärende Wirkung aus den von ihnen

19 postulierten Ursachen logisch (zumindest mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit) folgt, obgleich Verallgemeinerungen unzulässig bleiben, damit die Wissenschaftlichkeit von Disziplinen wie den Geschichtswissenschaften gesichert ist.2 In der wissenschaftstheoretischen Diskussion besteht weitgehend Konsens, dass jede Kausalerklärung die Struktur des H-O-Schemas aufweist, da sie etwas unter Bezug auf Anfangsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten erklärt. Allerdings existiert auch ein Dis- kurs über nicht-kausale Erklärungen, und zwar dispositionelle Erklärungen, in deren Prämissen ein Gesetz vorkommt, dass ausdrücklich auf ein Individuum (bzw auf ein individuelles Objekt) und dessen realisierbare und nicht immer gegebene Eigenschaften Bezug nimmt; weiters genetische Erklärungen, bei welchen ein Ereignis in eine Ereig- niskette eingeordnet und mit mehreren Kausalerklärungen verknüpft wird; schließlich intentionale Erklärungen, die expressis verbis auf menschliche Ziele, Motive und Wil- lensregungen eingehen. Genetische Erklärungen können historisch sein, dh sich auf sich nicht identisch Wieder- holendes beziehen, oder systematisch, dh sich unter bestimmten Bedingungen wieder- holende Ereignisse zum Gegenstand haben. Intentionale Erklärungen wurden zu Recht von allen Vertretern der Hermeneutik gefordert, weil sie einmaliges menschliches Ver- halten am adäquatesten beschreiben. Allerdings fanden analytische Philosophen die zu- treffenden Gegenargumente, dass sich menschliche Handlungen so erklären lassen, dass man ihre Motive als Handlungsursachen auffasst und dass sich alles Menschliche mit allgemeinen Begriffen beschreiben lässt, sodass jede humanwissenschaftliche Erkennt- nis eine allgemeine Komponente hat, wie sich auch Naturwissenschaften auf Singuläres (wie zB komplex bedingte Wettererscheinungen) beziehen können. Die hermeneutische Methode des Verstehens basiert nämlich zT auf Analogien zum ei- genen Empfinden, sodass sie durch begriffliche Analysen und empirisch- psychologische Untersuchungen abgesichert werden muss, um objektiv zu sein. Die ob- jektive Hermeneutik sucht Verständnis des Besonderen als einer Variation des Allge- meinen.

2Die Zulässigkeit von Wahrscheinlichkeitsschlüssen sei vorübergehend vorausgesetzt, sofern die Nichtgleichwertigkeit von Alternativerklärungen leicht einsehbar ist, weil der Rahmen der Arbeit sonst gesprengt würde. Dazu: Gerhard Kwiatkowski (Hg): Schülerduden „Die Philosophie“. Mann- heim, Wien, Zürich: Dudenverlag 1985, 125-126

20 Georg Henrik von Wright entwickelte das intentionalistische Erklärungsschema (ein von diesem Autor geprägter Fachausdruck), das sich an den praktischen Syllogismus anlehnt, also sich darauf bezieht, was getan werden soll, wenn etwas erstrebenswert ist. In intentionalistischen Erklärungen können auch allgemeine Gesetze vorkommen. Argumentative Erklärungen sind im Prinzip Sonderfälle des H-O-Schemas, da sie eine logische Herleitung aus etwas Allgemeinem und etwas Besonderem sein müssen. Aller- dings ist es auch legitim, nicht-argumentative Erklärungen in wissenschaftlichen Texten zu formulieren, welche sich auf die Motivation eines Handelnden beziehen. Diese sind aber unvollständige Erklärungen, insofern sie Erklärungen sind, welche ein Gesetz oder Wahrscheinlichkeitsgesetz, zB „Manche Menschen sind von Gier geblen- det“, stillschweigend voraussetzen und das Explanans zT unbekannt lassen, oder Erklä- rungen, die das Explanandum nicht zur Gänze erläutern, oder Erklärungen mit vagen Begriffen oder unabgeschlossene Erklärungsskizzen. Die geisteswissenschaftliche Er- klärung wird sich dem Ideal des D-N-Schemas dennoch annähern, sodass ihre Erklä- rungen in der Regel Sonderfälle dieser logischen Form darstellen werden. Das Aufzeigen einer wahrscheinlichen Motivation des Handelnden ist der Anfang eines Erklärungsprozesses, wobei berücksichtigt werden muss, dass unbekannte Tatsachen über das Explanans das wissenschaftliche Weltbild modifizieren können, wenn auch in vielen Fällen nur in einem vernachlässigbaren Ausmaß. Pseudoerklärungen enthalten hingegen einen logischen Argumentationsfehler, eine unzulässige Vermengung von Ex- planans und Explanandum etc3

b)Kausalität, Gesetz und Erklärung als mit einander zusammenhängende wissen- schaftliche Grundbegriffe Erklärungen zählen zu den Hauptzwecken der wissenschaftlichen Tätigkeit. Kausalität, Gesetzlichkeit und Erklärung waren im philosophischen Diskurs jahrhundertelang mit einander verknüpft, wobei in der Regel an Naturerscheinungen und an kausale Erklä- rungen für diese gedacht wurde. Autoren wie Wolfgang Stegmüller beziehen sich aus- führlich auf das Hempel-Oppenheim-Schema und stellen fest, dass sich Ereignisse durch den Bezug auf allgemeine Gesetze und zufällige (kontingente) Tatsachen (so ge-

3Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Erklärung (Abrufdatum: 25.02.2017, 11:45 Uhr)

21 nannte Randbedingungen) erklären lassen, während der ausschließliche Bezug auf Ge- setze eher Eigenschaften zuschreibt als ein Einzelereignis erklärt. Bei der Überprüfung geisteswissenschaftlicher Erklärungen müssen wir uns an vier Adäquatheitsbedingun- gen erinnern, welche in der Fachliteratur (Hempel, Stegmüller) genannt werden: 1.) die logische Ableitbarkeit des Explanandum aus dem Explanans; 2.) die Tatsache, dass das Explanans mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten muss; 3.) den empirischen und prüfbaren Gehalt des Explanans und 4.) die Wahrheit sämtlicher Aussagen (=Prämissen) des Explanans. Man wird hinzufügen, dass das Explanandum wahr sein muss und dass aus Gesetzen, wie feststellte, anders als aus sonstigen Aussagen irreale Konditio- nalsätze deduzierbar sind. Dh aus zutreffenden Gesetzesaussagen lässt sich schlussfol- gern, was passiert wäre, wenn ein wichtiger situativer Faktor anders gewesen wäre. In der Praxis der wissenschaftskritischen Beurteilung von historischen uä Erklärungen be- gnügt man sich indes mit Verallgemeinerungen, die keine streng allgemeinen Gesetze sind, welche sozusagen Ausnahmen aufweisen können, weswegen eine derartige Erklä- rung zu einer bloß statistischen Erklärung wird. Auch in den Naturwissenschaften wer- den statistische Erklärungen akzeptiert. Allerdings sind von deduktiv-statistischen die induktiv-statistischen Erklärungen zu un- terscheiden. Erstere beziehen sich auf langfristige Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von Ereignissen einer besonderen Art, welche logisch aus bestimmten Prämissen fol- gen. Induktiv-statistische Erklärungen können sich laut Carl Gustav Hempel zwar nicht auf eine ausnahmslose Regel stützen. Sie führen aber zu praktischem Wissen, dass, wenn die erklärenden Prämissen zutreffen, die zu erklärende Konklusion logisch folgt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Heilmittel wahrscheinlich zur Genesung des Pati- enten oder im geschichtswissenschaftlichen Denken militärische Überlegenheit wahr- scheinlich zur Niederlage des Gegners führen. Die induktive Wahrscheinlichkeit, die im letzten Satz beschrieben wurde, ist eine Beziehung zwischen dem Explanans (militäri- sche Überlegenheit) und dem Explanandum (militärische Entscheidung, also Niederlage bzw Sieg) und nicht bloß die statistische Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des im Explanandum beschriebenen Ereignisses, wie Stegmüller zutreffend feststellt. Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen können sich infolge der Randbedingungen ver- ändern. ZB variiert die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion von Politikern auf eine be-

22 stimmte Provokation in Abhängigkeit von der jeweiligen Intelligenz. Dieses Problem lässt sich nicht völlig auflösen, aber doch signifikant verkleinern, indem man sämtliche für die Hypothese relevanten Informationen in seine Erklärungsskizze aufnimmt. Über- haupt muss das Explanans präzise formuliert sein, um eine gute induktiv-statistische Erklärung zu erreichen. Obwohl es lebhafte Diskussionen darüber gegeben hat, lässt sich doch sagen, dass aus induktiv-statistischen Schlüssen die Möglichkeit einer bestimmten Verursachung lo- gisch folgt, wie es folgerichtig ist, dass ein zufällig ausgewähltes Pferd vielleicht bzw wahrscheinlich weiß ist, weil es weiße Pferde gibt. Für historische Ereignisse muss da- her eine „Logik des Vielleicht“ postuliert werden. Führt eine bestimmte Politik mit ei- ner Wahrscheinlichkeit von nur einem Zehntel zum Ausbruch eines Religionskriegs, kann sie ihn dennoch verursachen. Stegmüller behauptet in diesem Zusammenhang im Unterschied zu Hempel, dass meh- rere „hinreichend starke“ statistische Informationen zu mehreren gleichwertigen Erklä- rungen führen können. Statistische Begründungen sind, wenn sie sich auf ein indeter- ministisches System beziehen, so fährt er fort, niemals sicher wahr. Statistische Analy- sen von Bekanntem und statistische Begründungen von Unbekanntem liefern, wie Hempel zu Recht feststellt, stets doch die bestmöglichen hypothetischen Erklärungen für Ereignisse in indeterministischen Systemen. Statistisch-induktive Erklärungen beziehen sich indes nicht auf relative Häufigkeiten von Ereignissen, sondern enden in einer Aussage über die Wahrscheinlichkeit einer Verursachung. Dies erfordert die Abkehr von der Vorstellung einer lückenlos determi- nierten Kausalkette zu Gunsten einer Kausalitätsauffassung, welche die für geisteswis- senschaftliche Erklärungen essentiellen Faktoren Zufall und Willensfreiheit einkalku- liert und für den Ausgangspunkt neuer Kausalketten hält, wozu auch Hempel neigt. Das führt uns zur Frage zurück, ob es nicht-kausale Erklärungen geben könne: Geneti- sche Erklärungen sind per definitionem eine Verkettung nomologischer oder statisti- scher Erklärungen, bei denen immer wieder zu erklärende neue Daten hinzukommen, sodass sie keine nicht-kausale Erklärung sein können. Analoges gilt auch für die vor allem von Rudolf Carnap und Gilbert Ryle erörterten dispositionellen Erklärungen, welche ein Ereignis nicht auf ein anderes Ereignis zurückführen, sondern auf eine Dis- positionseigenschaft eines Objekts, zB auf die Zerbrechlichkeit eines Trinkglases. Wie

23 Stegmüller zutreffend feststellt, ist dies aber keine nicht-kausale Erklärung, da es sich um eine unvollständige Kausalerklärung handelt, bei der bloß ungesagt bleibt, welche Umstände zur Verwirklichung des durch die Dispositionseigenschaft ermöglichten Vor- gangs geführt haben, zB der Umstand, dass das zerbrechliche Trinkglas an die Wand geschleudert wurde. In den Geisteswissenschaften werden rationale Erklärungen verwendet, welche ein Sonderfall dispositioneller Erklärungen sind. Der Begriff der rationalen Erklärung stammt von William Dray und ist im Prinzip mit dem der intentionalen Erklärung (siehe oben) identisch, da sie Handlungen aus Maximen des Handelns erklärt. Karl Acham führt treffend aus, dass genuin historische rationale Erklärungen ein Sonderfall von kau- salen Erklärungen sind. Denn bei der Erklärung historischer Prozesse verwendet man im Explanans der Erklärungsskizze triviale psychologische oder soziologische Gesetze oder setzt diese stillschweigend voraus, wann immer man dem Explanandum wissen- schaftlich begegnen will. Zum Beispiel setzt man stets voraus, dass sich geistig normale Menschen überwiegend vernünftig verhalten, worauf bereits Popper hinwies. Obwohl komplexe Einflüsse auf die Psyche des Handelnden, wie zB durch unterbe- wusste Prägungen, vorkommen, ist Hempel zuzustimmen, dass Kausalerklärungen die methodologische Einheit der empirischen Wissenschaften ausmachen und in Geistes- wissenschaften ebenso wie in der Geschichte den Versuch wert sind, da selbst eher er- zählend-beschreibende Chroniktexte gelegentlich in analoger Weise auf Ursachen von Strukturveränderungen wie Erfindungen Bezug nehmen. Intentionale Erklärungen von Handlungen sind eine notwendige methodische Ergän- zung in den Geisteswissenschaften. Sie sind keine nicht-kausale Erklärungsform, weil Ziele Beweggründe des Handelnden darstellen und zur Tat in der Beziehung einer Empfehlung zur Ausführung durch einen historischen Akteur stehen. Der praktische Syllogismus liefert eine logische oder zumindest induktiv-wahrscheinliche Herleitung der Explananda aus den Explanantia, wenn man diesen auch Prämissen über den psy- chischen Zustand des Handelnden hinzufügt. Daher ist der praktische Syllogismus eine Kausalerklärung, die auf dem hermeneutischen Verständnis historischer Akteure auf- baut. ME gibt es keine nicht-kausalen Erklärungen in den Geisteswissenschaften, da stets auf eine, wenn auch triviale oder bloß statistische Gesetzmäßigkeit und auf ein zeitlich

24 gleichzeitiges oder vorangegangenes Ereignis Bezug genommen wird, sobald ein histo- risches Ereignis oder ein kulturelles Phänomen wissenschaftlich nicht beschrieben, son- dern erklärt wird. Voraussagen und Retrodiktionen sind gewiss Kausalerklärungen, ob- wohl bei Unkenntnis der tatsächlichen Ursachen Vorhersagen und Retrodiktionen getä- tigt werden, die induktiv von Gleichförmigkeiten ausgehen.4 Beschäftigen wir uns nun eingehender mit Gesetzesaussagen, welche im Explanans ei- ner geisteswissenschaftlichen Erklärung enthalten sein müssen. Wissenschaftliche Ge- setze machen Aussagen über die wesenhaften Eigenschaften einer Klasse von Objekten, womit sie sich von anderen kontingenten Allsätzen unterscheiden. Es gibt neben Natur- gesetzen Kulturgesetze, welche sich empirisch bewährt haben, ihren Objektbereich aber in abgeschwächter Form widerspiegeln. Deren Allgemeingültigkeit ist selten im selben Umfang wie bei physikalischen Gesetzen gegeben. Eine deduktiv-nomologische Erklä- rung wird daher bei vielen geschichtswissenschaftlichen Problemen eine unzureichende Idealisierung mannigfaltiger Erfahrungstatsachen bedeuten und muss unterbleiben, wenn sie nicht als hermeneutisch und statistisch begründete Hypothese gekennzeichnet wird, also als Behauptung mit Wahrscheinlichkeitscharakter. Es ist unproblematisch, wenn in Kulturgesetzen auch nicht messbare Größen vorkom- men, zB in der historischen Sprachwissenschaft die Annahme einer Tendenz zur Sprachvereinfachung bei Sprachkontakt. Sie ist aus den Spuren der Sprachgeschichte in den heutigen Sprachen und aus alten Sprachdenkmälern nachweisbar. Verbesserte Er- klärungen kommen der Wahrheit näher, wenn sie sich auf empirisches Material über den Ursache-Wirkung-Zusammenhang beziehen, etwa auf Berichte von Zeitzeugen über die Sprachgeschichte. Wissenschaftliche Gesetze werden meist als Behauptungsaussagen ausgedrückt, sie können aber in Ableitungsregeln von der Form „Wenn a, dann b“ überführt werden. Historische Erklärungen enthalten laut Dray neben verursachenden Tatsachen (Randbe- dingungen) letzten Endes Regeln, die durch Bedingungen so spezifiziert werden, dass sie sich nur auf den einen zu erklärenden Fall beziehen. Geschichtliche Kausalerklärung funktioniert demnach durch eine Modifikation allgemeiner Gesetze, wie das auch bei komplizierten nicht identisch wiederholbaren physikalischen Prozessen der Fall ist. His-

4Josef Speck (1980): Erklärung. In: Josef Speck (Hg): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 1 (A-F). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 175–190

25 torische Einzelfallerklärungen müssen dennoch ein triviales Gesetz über menschliches Verhalten enthalten, welches durch Zusatzbedingungen nur modifiziert wird, und auch bei zukünftigen Kulturereignissen anwendbar bleibt. In diesem Zusammenhang muss auf den Unterschied zwischen zufälligen und nomolo- gischen (kausal-erklärenden) Allsätzen hingewiesen werden, wobei zufällige Allaussa- gen nur für endlich viele prüfbare Fälle relevant sind und keinen Kausalnexus zum Ausdruck bringen. Zufällige Allaussagen für nomologische zu halten, führt zu einer Ge- schichtsgesetztäuschung (vgl Poppers antihistorizistische Thesen), welche auf der Ver- wendung von Klischees und bloßen Zufallskorrelationen für Pseudoerklärungen beruht. Weiters gibt es einen Unterschied zwischen deterministischen Gesetzen, dh ausnahms- losen Allaussagen, und stochastischen Gesetzen, die auf Wahrscheinlichkeits- oder Häufigkeitsaussagen rekurrieren. Im Explanans einer geschichtswissenschaftlichen Er- klärung wird uns meist ein stochastisches Gesetz begegnen, weil die von Psychologie und Soziologie beschriebenen Systeme meist indeterministisch sind. Dies muss man stets im Auge behalten, wenn man zur Erkenntnis vordringt, dass nicht jedes Ereignis der soziokulturellen Realität durch ein deterministisches Gesetz, sondern viel eher durch ein stochastisches Gesetz mitbedingt sein kann. Kausalität auf Grund von Notwendigkeit ist etwa gegeben, wenn Naturkatastrophen eine Kultur auslöschen, Kausalität aufgrund von Zufällen hingegen bei unwiederholbaren Entscheidungen von Personen, denn Zufälliges wiederholt sich kaum. Gesetze beziehen sich auf den Aspekt der Strukturen der Wirklichkeit, der konstant ist und somit Vorhersagen und Retrodikti- onen ermöglicht. Der variable und indeterministische Aspekt von sozialen und psychi- schen Strukturen macht Prognosen unsicher und zwingt den Einzelnen mE zur freien, rationalen Entscheidung. Dies erklärt die unbestreitbare Tatsache, dass es auf dem Gebiet der Geisteswissen- schaften weniger zuverlässige Gesetze gibt als auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Die Tätigkeiten des menschlichen Geistes lassen sich nicht völlig nomothetisch erfas- sen, vielmehr muss man sie in ihren Möglichkeiten als nicht verallgemeinerbar verste- hen. Die eigentlich stabilen Gesetze der menschlichen Kulturäußerungen stammen aus dem Bereich der Psychologie, während soziologische Gesetze nur das Durchschnitts- verhalten in einem System von Interaktionsschemata zwischen bestimmten Individuen

26 angeben und die Historie die Dynamik solcher Systeme (vgl Karl-Dieter Opp; Hans Joachim Hummell 1970). Verstehen lässt sich auch als ein Erklären durch Handlungsgründe auffassen und nicht nur als Gegenentwurf zur Kausalerklärung. Daher lässt sich die hermeneutische Bemü- hung sowohl um die Psychologie von Kulturen und Gesellschaften als auch deren statis- tische Möglichkeiten modernisieren. Die Handlungsmotive fehlen in elliptischen Erklä- rungen bisweilen, da sie als trivial gelten. Emergenzphänomene (zB Gruppenphänomene) dürfen bei der eben vorgeschlagenen Reduktion auf Psychologisches nicht übersehen werden. Soziokulturelle Gesetze müs- sen erfahrungsgemäß auf bestimmte Kulturen eingeschränkt werden, weshalb sie Qua- sigesetze (ein von Hans Albert geprägter Ausdruck) sind. Außerdem ist etwa das Ver- halten von Außenseitern eine Ausnahme von den Regeln dieser Quasigesetze. Diese nur für bestimmte Kulturen gültigen Gesetzmäßigkeiten können, wie Ernst To- pitsch feststellte, auf allgemeinen Eigenschaften der Kultur als einer solchen beruhen, die aber von bestimmten Umständen wesentlich geprägt sind. Daraus ziehe ich folgen- den Schluss: Gesetze der anthropologischen Dynamik bewirken Kulturveränderungen unter Umständen wie ökonomischer Not oder Einsicht in Irrtümer, doch sind diese nicht wie Ereignisse in einem deterministischen System (zB Sonnenfinsternisse) prognosti- zierbar, sondern bloß wahrscheinlich.5 Kausalität wird im Sinne Immanuel Kants verstanden als eine Beziehung zwischen Ur- sache und Wirkung, bei der erstere letztere unter bestimmten Bedingungen notwendi- gerweise verursacht. Kant ist zuzustimmen, dass unsere Erfahrungen ohne die Kategorie der Kausalität unverständlich bleiben und dass weder das Gesehene als gesehen noch die Taten eines Menschen als von diesem gemacht erfasst werden können.6 Geisteswissenschaftliche Erklärungen müssen sich auf Ursachen beziehen, da sie sonst Tatsachen bloß beschreiben und konstatieren würden. Diese Ursachen müssen auf empi- risch überprüfbare Weise ein Ereignis bewirken wie physikalische Kräfte Bewegungen. Sonst wäre der geforderte empirische Gehalt des Explanans nicht gegeben. Eine voll-

5Bernulf Kanitscheider (1980): Gesetz in Natur- und Geisteswissenschaften. In: Josef Speck (Hg): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 258– 268 6https://de.wikipedia.org/wiki/Kausalität (Abrufdatum, 17.03.2017, 16:02 Uhr); vgl auch Imma- nuel Kant (1781): Die Kritik der reinen Vernunft. KdrV A 202-203, A 448-451; B 248, B 476-479

27 ständige Kausalerklärung liegt nur dann vor, wenn das Verursachte unter den gegebe- nen Umständen nicht hätte ausbleiben können. Bei begrifflicher Analyse von Verursachung wird zwischen notwendigen und hinrei- chenden Bedingungen eines Ereignisses unterschieden. Eine notwendige, aber nicht hin- reichende Bedingung des Ausbruchs eines Atomkriegs ist etwa die Existenz von Atom- bomben. Ursachen müssen Teil einer hinreichenden Bedingung in diesem Sinn sein und irgendwie mit einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit zusammenhängen. Dennoch stehen Geisteswissenschaftler ebenfalls vor dem Problem, dass es sich um einen zufälligen Zu- sammenhang, um das Symptom einer tiefer liegenden Ursache oder um mehrere gleich- ermaßen mögliche Ursachen handeln kann, wenn sie ein Ereignis durch ein anderes kausal zu erklären versuchen. Um irrelevante Faktoren einer Situation von gleichzeitig auftretenden Bedingungen eines Ereignisses zu unterscheiden, ist sicherlich empirische Arbeit notwendig, zT auch apriorisches Überlegen. Wenn A aber die Ursache von B ist, weiß man, dass B nicht eingetreten wäre, wenn A nicht vorangegangen wäre. Dies unterscheidet Kausalität von Zufall und lässt sich laut David Lewis mit einer Theorie über mögliche Welten begründen. Sämtliche Ursachen eines Ereignisses sind letzten Endes für sich genommen dessen notwendige Bedingun- gen und zusammen seine hinreichenden Bedingungen. ZB wird ein Künstler nur be- rühmt, wenn sein Werk vielen Menschen durch Ausstellungen usw bekannt werden kann. Viele Ursachen führen ausschließlich unter Standardbedingungen zu bestimmten Wir- kungen, etwa ein Axthieb zur Spaltung eines Holzblocks. Dies rechtfertigt die Tatsache der Wissenschaftspraxis, dass es von Regeln, welche in hermeneutischer Erklärung den Platz eines allgemeinen Gesetzes einnehmen, häufig Ausnahmen gibt. Selbstverständ- lich gilt auch für humanwissenschaftliche Erklärungen, dass die Wirkung nicht vor der Ursache gewesen sein kann und dass nichts ohne Grund geschieht, dass also jedes Pro- dukt einer bewussten menschlichen Tätigkeit von einem ihr vorangehenden Denkakt bedingt ist.7

7Das Angeführte bedeutet nicht, dass ein und dasselbe Ereignis nicht mehrere Ursachen gehabt ha- ben könnte, von welchen jedoch nur eine wirklich wirksam wurde. Lorenz Krüger; Rosemarie Rheinwald (1980): Kausalität. In: Josef Speck (Hg): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 318–327

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c)Implikationen der Erkenntnistheorie für humanwissenschaftliche Erklärungen Man kann davon ausgehen, dass sich Schulen der Erkenntnistheorie in Anbetracht der offensichtlich gegebenen Ziele objektiver Wahrheitsfindung lediglich in Einzelfragen unterscheiden, im Allgemeinen uns über die Anforderungen an geisteswissenschaftliche Erklärungen aber korrekt unterrichten. Erkenntnis als Methode der Erkenntnisgewin- nung und epistemisch gerechtfertigtes Wissen sind nicht wandelbar, vielmehr entwi- ckeln sich die erkenntnistheoretischen modellartigen Vorstellungen über Erkenntnis sowie der wissenschaftliche und philosophische Wissensstand im Laufe der Geistesge- schichte. Hier wird versucht, von in der Forschungspraxis de facto gewonnenem Wissen auszugehen, dabei aber angesichts der Fülle der einzelwissenschaftlichen Methoden nicht jenes Gemeinsame zu übersehen, welches wissenschaftliche Erkenntnis als solche auszeichnet.8 Ich sehe dieses Gemeinsame in der Form logischer Ableitung einer wahren Konklusion über Kausalrelationen aus wahren Prämissen, welche Tatsachenbehauptungen sind. Au- ßerdem gehört es mE zum Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis als solcher, dass sie ihren Gegenstand analysiert und festgestellt hat, inwiefern er etwas Besonderes bzw ei- ne spezielle Erscheinungsweise von etwas Allgemeinem ist. Dabei kommt es regelmä- ßig zu einer apriorischen Klärung der Struktur des Forschungsgegenstands. Denn Phänomene zu erklären heißt, das Besondere im Licht des Allgemeinen zu verste- hen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Einzelerscheinungen zu er- kennen. Durch eine Analyse einzelwissenschaftlicher Erklärungen wechselt man aller- dings vom Gebiet der Erkenntnistheorie in das speziellere Gebiet der Wissenschafts- theorie.9 Geisteswissenschaftliche Erklärungen sind Produkte einer Beziehung zwischen einem denkenden Subjekt und seiner Umwelt, wobei wissenschaftliches Erkennen eine andere Form der Weltbeziehung darstellt als eine alltägliche emotionale Reaktion auf Reize. Auch in den Naturwissenschaften interessieren regelmäßig nicht die Beschreibungen von sinnlich Gegebenem, sondern Ordnung und Gesetzlichkeit von Abläufen in der Na- tur. Regeln von Abläufen, ihre Möglichkeiten und Notwendigkeiten kann man im Ideal-

8Wilfried Stache (1958): Erkenntnistheorie. In: Alwin Diemer; Ivo Frenzel (Hg): Philosophie. Frank- furt am Main: Fischer Bücherei 1958, 51-52 9Ebenda 60

29 fall aus der Erfahrung und aus der apriorisch erkennbaren begrifflichen Struktur des Forschungsgegenstandes ableiten. Man muss dem Postulat Kants einer apriorischen Komponente von typisch erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen aus diesem Grunde beipflichten. Es ist ein Gemeinplatz erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Literatur, dass die Arten von Erkenntnis und Erklärung ihrem Gegenstand angemessen sein müssen. Die Realerkenntnis (dh der Wissenserwerb über die Wirklichkeit) bezieht sich nicht nur auf Gegenstände der belebten und unbelebten Natur, sondern auch auf sämtliche Tätigkei- ten und Produkte menschlichen Geistes. Mit Letzterem befasst sich die spezielle Wis- senschaftstheorie der Humanwissenschaften. Mein besonderes Anliegen ist es, der Hermeneutik ihre Existenzberechtigung als Me- thode der Hypothesenbildung und einer anthropologischen Kausalerklärung in Bezug auf das Geistesleben zu geben, deren Resultat jedoch deduktiv-nomologische Erklärun- gen eigener Art sind. Das Verstehen diverser Manifestationen des Seelischen und Geis- tigen ist für mich im Anschluss an das hermeneutische Schrifttum ein Sonderfall des Erkennens. Diese Manifestationen sind in Form von Texten, Artefakten usw empirisch gegeben. Als Explanandum im Sinne der Wissenschaftstheorie liegen den hermeneutischen Dis- ziplinen zB Aussagen bzw Inhalte von Texten und deren Entstehungszusammenhang vor. Auch wenn sich Verstehen auf etwas Individuelles bezieht, erfasst es, sofern es ge- lingt, Sinngehalte bzw Ausdrucksabsichten. Im Anschluss an ein geflügeltes Wort Diltheys ist eine naturwissenschaftliche Erklärung in diesem Zusammenhang als eine Rückbeziehung des Einzelnen auf das Allgemeine und als die Erkenntnis gleichförmi- ger Vorgänge aufzufassen, wohingegen Verstehen so bestimmt werden muss, dass es sich eindeutig auf etwas Einmaliges richtet, das allerdings in einem Sinnzusammenhang steht und daher wissenschaftlich erklärt werden kann. Die Objektivität dieses wissen- schaftlichen Verständnisses kann nur durch philosophisch reflektierte und empirisch bewährte Methodologien für die einzelnen Geisteswissenschaften gesichert werden. Die Deutung von Belletristik erfordert gewiss andere Zugänge als die Auslegung philo- sophischer Texte, auch andere als die Auswertung historischer Quellen oder das Hin- eindenken in Individuen oder Kulturen, wobei die methodologischen Unterschiede not- wendige Folge der unterschiedlichen Forschungsgegenstände sind. Es ist ein wesentli-

30 cher Bestandteil geisteswissenschaftlicher Methodenlehren, dass sie das in selbstver- ständlichen Vorannahmen versteckte Vorverständnis reflektieren, um ein allgemeingül- tiges Verstehen als intersubjektives Abbild des Subjektiven zu erlangen.10 Die hermeneutischer Sinnerkenntnis ähnliche moralwissenschaftliche Werterkenntnis (zB die Erkenntnis des Werts von Rücksichtnahme im Zusammenleben) wird in einem eigenen Kapitel dieser Arbeit behandelt werden, da sie die logische Ableitung von Normbegründungen aus mehr oder weniger evidenten Axiomen zum Ziel hat. Werter- kenntnis wird durch derartige logische Ableitungen und durch den Bezug auf objektiv anerkannte Werte wie den Wert eines „guten Lebens“ möglich, obwohl sie von Gefüh- len ausgeht.11 Geisteswissenschaftliche Erklärung setzt voraus, dass es keine widersprüchlichen Sach- verhalte geben kann. Diese selbstevidente Annahme steckt hinter den deduktiven und induktiven Schlussfolgerungen (letztere gelten nur mit einer bestimmten Wahrschein- lichkeit), welche der Theoriebildung vorangehen, und durchdringt auch hypothetische Elemente in Erklärungen. Daher gehört die Prüfung logischer Folgerichtigkeit von Ar- gumenten zur Analyse der Form und Gültigkeit geisteswissenschaftlicher Erklärungen. Nur wenn in einer Mehrzahl von Prämissen schon Enthaltenes (bestimmte Tatsachen- feststellungen) in einer einzigen Konklusion deutlicher formuliert vor uns liegt, ist irr- tumssichere wissenschaftliche Erklärung (dh Erkenntnis realer Zusammenhänge) mög- lich. Ein derartiger Herleitungsvorgang gleicht arithmetischen Operationen wie dem Kürzen von Brüchen. Wahrheitskriterien sollten dem Forscher ermöglichen, die Wahrheit nicht nur von Prä- missen, sondern auch die der Konklusion zu prüfen. Das bedeutet für jeden seriösen Wissenschaftstheoretiker die Verpflichtung, die Übereinstimmung zwischen Erkennt- nisgegenstand (dem zu Erforschenden) und Erkenntnisinhalt (dem Forschungsergebnis) streng zu überprüfen. Dafür bestehen in den Wissenschaften vom Menschen empirische Methoden wie Quellenkritik auf der einen Seite und logische Verfahren auf der anderen. Es gehört zu den Aufgaben spezieller Wissenschaftstheorien, derartige Prüfmethoden und eo ipso Wahrheitskriterien zu spezifizieren. Aber auch die logische Vereinbarkeit

10Ebenda 62-65 11Ebenda 66

31 von neu Erkanntem mit anderem gesicherten Wissen ist zu überprüfen, um die Unwahr- heit einer bestimmten Erklärung auszuschließen.12

d)Implikationen der Wissenschaftstheorie für humanwissenschaftliche Erklärun- gen Wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen bleiben ohne ein Eingehen auf die korrekte wissenschaftliche Begriffsbildung unvollständig. In vielen Humanwissenschaf- ten werden häufig aus der Alltagssprache stammende Begriffe wie etwa „König“ oder „Roman“ auch im theoretischen Zusammenhang verwendet. Die nähere Bestimmung solcher Begriffe durch eine Nominal- (dh konventionell festgelegte Bedeutung des Fachausdrucks) oder besser noch Realdefinition (dh Angabe von wesentlichen Merkma- len des Begriffsworts) scheint überflüssig. Es gibt jedoch auch humanwissenschaftliche Fachausdrücke, wie „philosophische Schule“ in der Philosophiegeschichte, deren Be- griffsexplikation im Sinne Carnaps zum besseren Verständnis einer Theorie beiträgt, weil der Begriff der „philosophischen Schule“ sonst vage bliebe. Er könnte Schule als Lehreinrichtung (Institution) bedeuten, jedoch ebenso das Festhalten an bestimmten Überzeugungen wie den Glauben an die Existenz eines Urstoffs. Auch für eine textwis- senschaftliche Erklärung kann die Klarstellung notwendig sein, dass sie sich nur auf ei- ne genau umschriebene Bedeutung eines Begriffs - etwa „Literatur“ - bezieht. Häufig wird nicht ein Begriff allein expliziert, sondern mehrere Begriffe, die sich zT zu einem System ergänzen. Begriffsexplikationen und ähnliche Analysen sind das Resultat kom- plexer Gedankengänge, die aus Bedeutungsanalysen (dh Zerlegung eines schon bekann- ten Begriffs in seine Komponenten), empirischen Analysen (dh Feststellung der Erfah- rungstatsachen über notwendige und hinreichende Bedingungen der Anwendung eines Begriffs), aus wissenschaftlichen Hypothesen und Nominaldefinitionen bestehen.13 Die allgemeine Wissenschaftstheorie unterscheidet klassifikatorische (zB Mensch), komparative (zB glücklicher) und quantitative Begriffe (zB teuer), wobei erstere in den Geisteswissenschaften am häufigsten sind und einen Gegenstandsbereich in mehrere Arten einteilen, zB die Staatsformen in Monarchie und Republik und die Weltanschau-

12Ebenda 67-69 und 71 13Wolfgang Stegmüller (1958): Wissenschaftstheorie. In: Alwin Diemer; Ivo Frenzel (Hg): Philoso- phie. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1958, 327-329 und 332-333

32 ungen in Faschismus, Humanismus usw. Für die Anwendung komparativer und quanti- tativer Begriffe muss es empirisch feststellbare Kriterien ihrer Anwendbarkeit geben, die in Einzelfällen wie beim Begriff der Textlänge evident sein können, in anderen Fäl- len aber wie beim Begriff der Leserzufriedenheit schwerer feststellbar sind. Das mit Abstand größte Problem bei der Beurteilung wissenschaftlicher Erklärungen ist der Zusammenhang, der zwischen dem empirisch Gegebenem und der allgemeinen Ge- setzesaussage besteht, wobei letztere stets Erklärungen, aber nicht immer Prognosen erlaubt. Mit anderen Worten muss die Wissenschaftstheorie aufzeigen, inwieweit speku- lative Verallgemeinerung angebracht ist und zu Erkenntnissen führt und inwieweit sie bloß hypothetisch oder gar verfehlt ist. Obwohl die Begriffe „Beobachtungssprache“ und „theoretische Sprache“ in der Geschichte der Wissenschaftstheorie eher auf die physikalische Forschung gemünzt waren, lassen sie sich auf jede Wissenschaft anwen- den, so dass etwa in der Philosophiegeschichte „Aristoteleshandschrift“ eher zur Be- obachtungssprache und „aristotelische Kernaussage“ eher zur theoretischen Sprache zählen. Ein fehlender Zusammenhang zwischen erklärenden und beschreibenden Be- griffen einer Theorie deutet auf ihren möglicherweise bloß hypothetischen Charakter hin. Der Wahrheitsgehalt humanwissenschaftlicher Erklärungen hängt anders als der formalwissenschaftlicher Theoreme von Erfahrungstatsachen ab. Die objektive Beurtei- lung von Beobachtungsaussagen muss zwar nicht ausschließlich, doch grundsätzlich auf tatsächlich gemachten Beobachtungen beruhen. Anders ausgedrückt muss sich jede geisteswissenschaftliche Erklärung auf eine intersubjektiv zugängliche Äußerung des menschlichen Geistes beziehen.14 Allen wissenschaftlichen Erklärungen und Prognosen ist somit gemeinsam, dass sie Antworten auf die Frage liefern, warum es zu bestimmten Erscheinungen kommt und also letzten Endes ausführen, auf Grund welcher Kausalzusammenhänge und unter wel- chen Bedingungen diese Phänomene auftreten (können). Das zu erklärende Phänomen muss aus den es erklärenden Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten auch logisch ableit- bar sein, was im Rahmen der hermeneutischen Methode zwar meistens keine eindeutige Lösung liefert, aber absurde Deutungen doch als bloße Pseudoerklärungen entlarvt. Gewiss haben Naturgesetze die Gestalt von Allsätzen, was ein Ideal ist, welchem die Beschäftigung mit dem Individuellen, wie sie für alle Geisteswissenschaften typisch ist,

14Ebenda 337-339

33 nicht genügen kann. Doch gibt es auch logisch folgerichtige deduktiv-nomologische Erklärungen, die keine deterministischen oder nur sehr triviale Allsätze (zB „Alle Men- schen werden von ihren Mitmenschen beeinflusst“) enthalten. Der Begriff des Bestätigungsgrades einer Hypothese und die Theorie der induktiven Wahrscheinlichkeit erlauben die Formulierung humanwissenschaftlicher Erklärungen, die nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit gelten. Diese Wahrscheinlichkeit be- zieht sich nicht auf ein Einzelereignis, sondern auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine Hypothese zutrifft, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind. Vor leichtfertigen Ver- allgemeinerungen muss dennoch gewarnt werden, denn nur seinem Wesen nach Ähnli- ches lässt sich allgemein durch gesetzesartige Aussagen beschreiben. Gesetzesartige Aussagen sind das eigentliche Ziel der Forschung, wobei es sich nicht um Allsätze han- deln muss. Einzelne bloß zufällige Wahrheiten sind durch Beobachtungssätze beschrie- ben, aber keine vollwertigen wissenschaftlichen Erklärungen.15

e)Hempels Verteidigung seines Schemas als auf die Geisteswissenschaften an- wendbar Hempel stellte 1972 in einem kurzen Aufsatz zutreffend und zeitlos die Existenz prinzi- piell gleichartiger Erklärungsformen in allen Wissenschaften fest. Er verneint die Be- hauptung, dass die Erklärung menschlicher Handlungen durch Motive usw nicht auf gesetzesartige Aussagen zurückgreift, ohne den heuristischen Wert der Hermeneutik zu bestreiten. Hempel fasste seine eigenen Auffassungen mit eben diesen Kerngedanken zusammen, womit er wohl die in dieser Arbeit ebenfalls zitierten Lexika nachhaltig be- einflusst hat. Er erkennt, dass jede Wissenschaft bei allen Ereignissen auch die Warum-Frage stellt. Antworten auf diese Fragen liefern wissenschaftliche Erklärungen. Hempel bezieht sich damit auf alle Wissenschaften und zeigt auf, dass sie auch alle zum Verstehen führen. Er findet die Meinung, unterschiedliche Wissenschaftszweige besäßen eigene Metho- den, verständlich. Er konstatiert, Physik und Chemie fragten nach Ursachen, Biologie und Psychologie hingegen auch nach der Funktion von Organen und Phänomenen für ein Lebewesen, menschliches Tun und Denken wiederum werde von Wissenschaftlern

15Ebenda 343-346

34 unter Bezugnahme auf Gründe und Motive erklärt. Soziale Ereignisse wie Feste können, so fährt er fort, nicht rein naturwissenschaftlich verstanden werden, weil sie eine Sinn- dimension haben. Er unterscheidet die beobachtbaren und in Raum und Zeit lokalisier- baren Ursachen von den nur durch Methoden wie Empathie feststellbaren Gründen, Funktionen und Bedeutungen, zB des Handelns historischer Persönlichkeiten. Hempel bemüht sich zu beweisen, dass alle wissenschaftlichen Erklärungen auch Ar- gumente einer besonderen Art sind. Diese besagen, dass die zu erklärenden Phänomene auf Grund von Gesetzmäßigkeiten zu erwarten waren. Zu diesem Zweck führt er natur- wissenschaftliche Kausalerklärungen an. Er analysiert sie dann meisterhaft mit Hilfe der Feststellung, dass solche Erklärungen eine gemeinsame Form aufweisen, und zwar fol- gende: Wenn ein Ereignis des Typs U stattgefunden hat und solche Ereignisse immer Vorkommnisse der Art W nach sich ziehen, ist ein Ereignis des Typs W zu erwarten. Die logische Folgerungsbeziehung zwischen Explanans und Explanandum beschreibt das Phänomen der naturgesetzlichen Notwendigkeit. In einer Fußnote führt Hempel ähnliche Gedanken Stegmüllers an. Er nimmt einige meiner eigenen von Letzterem in- spirierten Thesen vorweg, mit welchen ich das Ziel einer Abkehr von einem bloß intui- tiven Zusammenhangsverständnis verfolge. Hempel zählt auch probabilistische Erklärungen zur Klasse der nomologischen Erklä- rungen. Beruft sich eine Erklärung auf statistische Gesetze, tritt das Explanandum- ereignis nicht wie bei anderen Kausalzusammenhängen mit Naturnotwendigkeit ein, sondern nur mit hoher Wahrscheinlichkeit. Am Beispiel eines Schülers, welcher wegen seiner mathematischen Begabung ziemlich oft ein Spiel gewinnt, erläutert er Erklärun- gen, die sich nur scheinbar völlig von physikalischen Erklärungen unterscheiden. Geis- tige Fähigkeiten wie Begabungen sind zwar keine Ereignisse, welche ihren Platz in Raum und Zeit haben. Rudolf Carnap, Otto Neurath und Gilbert Ryle kannten jedoch, wie Hempel ausführt, eine Lösung für dieses Problem, und zwar dass psychologische Dispositionen auf dieselbe Art wie die physikalische Eigenschaft „Elastizität“ Ereignis- se bewirken. Die Dispositionseigenschaft „elastisch“ definiert Hempel als latente Eigenschaft, die sich in bestimmten Situationen in der charakteristischen Reaktion des Dings mit dieser Eigenschaft äußert. Er macht dann auf die Tatsache aufmerksam, dass die Dispositions- aussage eine implizite Gesetzesaussage ist. Dabei werden ihm zufolge Einzelfälle als

35 „individuelle Manifestationen einer gesetzmäßig begründeten Disposition“ (Formulie- rung von Hempel) aufgefasst, zB das gerade beobachtete Verhalten eines Balls (Hempel 10).16 Hempel weist nach, dass die Erklärung für Ottos Erfolg beim Go-Spiel auf der Zu- schreibung einer Dispositionseigenschaft beruht. Seine mathematische Begabung ist nämlich eine Eigenschaft, die sich im relativ geschickten Umgang mit mathematischen Aufgaben äußert. Also liefert das eine nomologische Erklärung im Sinne Hempels (aaO). Daraufhin wechselt er zur Erklärung durch Gründe, indem er auf das Beispiel einer Ad- dition eingeht: Arithmetische Gründe allein vermögen es nicht, ein Rechenverhalten zu erklären. Vielmehr ist auch die Vertrautheit mit Rechenregeln eine Dispositionseigen- schaft. Denn nach Unterricht und Übung wendet man diese Regeln bei Bedarf an. An Hand seines Beispiels mit der Rechnerin Anna will Hempel den Unterschied zwischen der Begründung von Handlungen als klug und ihrer kausalen Erklärung demonstrieren. Heutzutage wäre zudem auch die Lösung von Addieraufgaben mit Taschenrechnern sinnvoll, wenngleich das Lernen der arithmetischen Regeln zur Nachprüfung wegen möglicher Maschinenfehler vernünftig geblieben ist. Anschließend beginnt er die allgemein übliche Handlungserklärung unter Bezugnahme auf die Motive der Handelnden bzw Entscheidenden zu erörtern. Etwa ist es eine Kau- salerklärung für fleißiges Lernen, dass jemand genau diese Prüfung für seine Karriere als Arzt braucht. In diesem Fall sind die Absichten des Lernenden und seine Ansicht über mögliche Mittel zu seinem Zweck Bedingungen seines Lernverhaltens. Dann nimmt Hempel auch auf Dray Bezug. Drays rationale Erklärung bedeutet ja, dass man ein besonderes Verständnis von Handlungen gewinnt, wenn man weiß, dass sie ange- sichts der Ziele und des Wissenstands des Handelnden vernünftig waren (vgl Kapitel 8). Dray erklärt ua mit Hilfe normativer Prinzipien. Hempel entdeckte aber einen logischen Fehler in dieser Theorie: Er merkt überaus treffend an, dass sich normative Prinzipien nur dann auswirken, wenn Handelnde sie sich zu eigen gemacht haben. Dies ist jedoch wieder eine dispositionelle Erklärung. Dies erläutert Hempel an Hand des Beispiels, dass Historiker, um Phänomene wie Harakiri im Japan des 18. Jahrhunderts zu erklären,

16Carl Gustav Hempel: Formen und Grenzen des wissenschaftlichen Verstehens. In: Conceptus 6 (1972), 5-10

36 „deskriptiv-psychologische Annahmen“ benötigen. In diesem Fall ist die entsprechende Annahme, dass die Internalisierung kulturspezifischer Ehrvorstellungen die damaligen japanischen Edelleute zum Selbstmord in gewissen Situationen verpflichtete bzw an- hielt (aaO 12). Zur näheren Erläuterung dieser Gedanken beruft sich Hempel auf Kurt Hübners Begriff „geschichtliches System“. Denn Entscheidungen fällt man „im Rah- men zeitgenössischer moralischer, juristischer und wissenschaftlicher Systeme“. Das gilt auch für Rechenstrategien und Lernbemühungen in unserem Alltag. Hübners Vorschlag, bei historischen Erklärungen neben Randbedingungen und geset- zesartigen Aussagen Beschreibungen historischer Systeme ins Explanans aufzunehmen, wird von Hempel indes abgelehnt. Hübner wollte seine Idee an Hand eines Beispiels illustrieren, in welchem ein Politiker wegen seines Charakters und seiner moralischen Überzeugungen auf eine scheinbar erfolgversprechende politische Maßnahme verzich- tet. Hempel kann jedoch zeigen, dass Beschreibungen geschichtlicher Systeme im Ex- planans nicht stehen sollten, da nur psychologische Beschreibungen die Handlungen wirklich erklären. Es kommt letztlich darauf an, ob ein historischer Akteur bestimmte politische, moralische und pragmatische Überzeugungen für wahr hält oder nicht. Dh um historisch zu erklären, muss man historischen Persönlichkeiten komplizierte Dispo- sitionen zuschreiben. „Geschichtliche Systeme“ spielen wohl eine Rolle, aber ihretwe- gen braucht man keine nicht-nomologischen Erklärungen. Charakterzüge und Über- zeugungen von Menschen sind nämlich Dispositionseigenschaften und als solche Hand- lungsbedingungen. Allerdings räumt Hempel ein, dass geisteswissenschaftliche Erklä- rungen durch seine eben angeführte Deutung vereinfacht und schematisiert werden (aaO 13). Physikalische Dispositionen wie Wasserlöslichkeit lassen sich durch allgemeine Geset- ze mit ausschließlich physikalischen Begriffen beschreiben. Bei Sachverhalten wie Hunger ist das anders: Denn das Verhalten hungriger Menschen kann nicht vorherge- sagt werden, wenn man nicht zu diesem Zweck zusätzlich Psychologisches berücksich- tigt, wie die Überzeugungen des Hungrigen über Essbarkeit, Fastenzeiten usw. Psycho- logische Eigenschaften sind daher laut Hempel Dispositionen, jedoch nicht in einem physikalistischen oder behavioristischen Sinn. Hunger, Ehrgeiz, Frömmigkeit usw sind für ihn „komplexe Bündel von Dispositionen“ (Formulierung von Hempel aaO 14): Sie manifestieren sich in Abhängigkeit von psychischen und physischen Faktoren durchaus

37 unterschiedlich, weshalb man für Handlungserklärungen Wissen über ein Netzwerk psychischer und psychophysischer Zusammenhänge benötigt. Allerdings werden bei psychologischen Handlungserklärungen die vorausgesetzten gesetzesartigen Zusam- menhänge nicht gleich explizit angegeben wie bei physikalischen Überlegungen. Als nächstes wendet sich Hempel der häufigen Überzeugung zu, es gehe in Humanwissen- schaften um Verständnis und Einfühlung, die einen Zugang zu anderen Menschen und ihren Handlungen liefern, auch wenn keine Zusammenhänge feststellbar sind. Hempel grenzt sich von allen Formen der „Volkshermeneutik“ ab, indem er zwei Arten des Verstehens unterscheidet, und zwar empathisches und begriffliches Verstehen (aaO 15). Begrifflich Verstandenes ist prüf- und mitteilbar, wobei man durch Argumente, welche das Hempel-Oppenheim-Schema anwenden, zu diesem Verständnis gelangt. Empathisches oder einfühlendes Verstehen ist hingegen ein Erlebnis, das man hat, nachdem man sich das Fühlen, Denken und Tun anderer Menschen lebhaft vorgestellt hatte. Hempel merkt leicht spöttisch an, dass dieses Nacherleben unvollkommen bleiben muss, weil ein vorgestellter Krieg etwa weniger erregend als ein realer ist. Er warnt au- ßerdem zu Recht vor der Möglichkeit von Fehlinterpretationen, die ua entstehen, wenn eigene Motive in andere Menschen hineinprojiziert werden. Humanwissenschaftliche Erklärungen hält er unabhängig von den mehr oder weniger überzeugenden Einfüh- lungserlebnissen für gültig, falls sie an Hand empirischer Befunde überprüfbar sind. Außerdem lässt sich auch schwer Nachvollziehbares erklären, etwa das Verhalten von Psychopathen. Hempel erkennt, dass es zB auch begriffliches Verstehen ist, wenn man das Verhalten eines Einzelnen als Symptom einer Geisteskrankheit erfasst. Anschließend stellt er zu Recht fest, dass alle geisteswissenschaftlichen Erklärungen begriffliches Verstehen er- streben, da eigentlich nur dieses überprüfbar ist. Er räumt ein, dass Einfühlung dennoch von heuristischem Wert ist (vgl Kapitel 2). Die Einfühlung liefert psychologische Hy- pothesen, die empirisch prüfbar sind und zeigen, dass Einzelhandlungen Sonderfälle „einer komplexen Disposition“ (Formulierung von Hempel aaO 16) sind, wenn sie zu- treffen. Der letzte Abschnitt von Hempels Aufsatz bezieht sich auf die Frage, ob es für die Wissenschaft Unerklärbares gebe. Er diskutiert dies an Hand des Fragenkomplexes,

38 warum es das Universum gibt und warum es und seine Gesetze so beschaffen sind, wie sie sind. Ein philosophischer Wissenschaftsskeptiker könnte laut Hempel kritisieren, dass Phä- nomene wie die Schwerkraft von der modernen Physik einfach vorausgesetzt werden und von ihr nicht gesagt wird, warum es zum Urknall kam. In diesem Fall scheint die Wissenschaft überfordert zu sein. Ein Explanandum wie dieses müsste durch ein beson- deres Explanans erklärt werden. Wie soll es möglich sein, alle Tatsachen der Welt zu erklären, ohne dass man etwas über die Welt annimmt? Hempel antwortet auf diese Frage, dass es logisch unmöglich ist, ohne empirische Prä- missen zu einer empirischen Konklusion zu gelangen. Er schränkt diese Wissenschafts- kritik dadurch ein, dass metaphysische und theologische Erklärungen ähnliche Proble- me haben. Er fährt fort, dass es von der „nomischen Struktur“ der Welt abhänge, wie gut sie erklärbar sei. Genial stellt er fest, dass die Wissenschaft in vielen Fällen mit der Erkenntnis, dass Prozesse bloß statistischen Gesetzen unterliegen, alles sagt, was sich in solchen Fällen sagen lässt. Abschließend bekennt er sich zu einem Fallibilismus, der den wissenschaftlichen Fort- schritt nicht ausschließt. Dazu ist mE kritisch anzumerken, dass dies eine problemati- sche Theorie der Wahrheitsnähe ist, da durch Widerlegungen generalisierender Wis- sensansprüche das menschliche Wissen stets erweitert wird (vgl Kapitel 1). Dh jede Fal- sifikation einer Aussage bedeutet das Wissen, dass eine bestimmte Antwort auf eine konkrete Frage unannehmbar ist. Außerdem sind die metaphysischen Ansichten über das Wesen der Natur nicht beliebig, sondern man wird mir zustimmen, dass es nur we- nige denkbare Vorstellungen über den Platz des Menschen im Universum gibt. Dennoch ist Hempels Meinung über die Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften für jeden philosophisch Interessierten ein hervorstechender Ansatzpunkt für eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Materie. In der vorliegenden Arbeit soll aufgezeigt werden, wie sich gute geisteswissenschaftliche Arbeiten durch eigentümliche probabilistisch- nomologische Erklärungen auszeichnen.17

17 Alle Formulierungen, die unter Anführungszeichen stehen, wurden mit Ausnahme von „Volks- hermeneutik“ von Hempel übernommen (aaO 11-18).

39

40 Kapitel 1 - Implikationen der Wissenschaftsphilosophie für humanwissenschaftliche Erklärungen

1 a) Erfahrung, Erklärung und Begrifflichkeiten Unter Wissenschaftsphilosophie sei im Folgenden nichts anderes als eine metaphysisch und nicht bloß analytisch vorgehende Wissenschaftstheorie verstanden. Dabei sollen Analogien zwischen den Geisteswissenschaften und anderen Forschungsdisziplinen aufgezeigt werden, um unsere Sensibilität für die Besonderheiten historischer und sys- tematischer Humanwissenschaften zu schärfen. Es kann der Fall sein, dass einzelwissenschaftliche Probleme Sonderfälle von allgemei- neren philosophischen Fragen wie dem der Instanziierung von Eigenschaften sind. Bei einer Beschäftigung mit humanwissenschaftlichen Erklärungen lässt es sich schwer vermeiden, dass man zur metaphysischen Position des Realismus Stellung nimmt und erklärt, ob wissenschaftliche Modelle eine hinter dem empirisch auch dem Laien zu- gänglichen Datenmaterial verborgene Wirklichkeit enthüllen oder nicht. Theoretische Erkenntnis ist den Geisteswissenschaften natürlich möglich und erstrebenswert, etwa wäre es gar nicht weise den literaturhistorischen Befund eines Zusammenhangs zwi- schen literarischem Erfolg einerseits und dem Publikumsgeschmack und Einfluss der Kritiker andrerseits bestreiten zu wollen. Für die Wissenschaftstheorie bleibt es jedoch ein Diskussionsthema, ob derartige Tatsachen gegen eine positivistisch-metaphysik- feindliche Wissenschaftskonzeption sprechen oder nicht. Nur wenige metaphysische Vorannahmen sind offensichtlich für die humanwissenschaftliche Praxis erforderlich.18 Die Annahme, jede Wissenschaft solle sich der selben Methoden und Denkweisen be- dienen, ähnelt der unsinnigen Annahme, alle Sprachen hätten die selbe Grammatik.19 Dennoch gilt für alle Wissenschaften, dass ihre Schlussfolgerungen durch Beweismittel (durch Evidenzmaterialien) gestützt werden müssen, Hypothesen mit diesem Datenma- terial verglichen werden müssen und logische Zusammenhänge zwischen Argumenten für und gegen eine wissenschaftliche Erklärung sowie logische Zusammenhänge zwi- schen Explanans und Explanandum aufgezeigt werden. Manchmal enthalten einzelwis- senschaftliche Hypothesen auch die Anwendung einer aussagenlogischen Schlussfolge-

18Vgl Romano Harré: The Philosophies of Science. An Introductory Survey. Oxford, New York: Oxford University Press 1972, Preface 19aaO 2

41 rung, zB bei Fragen der Gruppenzugehörigkeit. Ebenso wie die astronomische Prognose die triviale Voraussetzung macht, dass Himmelskörper stabile, materielle Objekte sind, gehen in historische Kausalerklärungen ähnliche Annahmen wie die nicht sehr variable menschliche Bedürfnisstruktur ein. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen sollten indes zur Erkenntnis führen, welches Wissen mit welchen Methoden über ein bestimm- tes Thema erzielt werden kann. Die Problematik wenn nicht gar Fragwürdigkeit humanwissenschaftlicher Verallgemei- nerungen und Deutungen aufzuzeigen, ist ebenfalls Aufgabe der Wissenschaftstheorie, wobei Ideal und Vorbild die deduktiv-nomologische Erklärung bleibt. Gerade in den Geisteswissenschaften erhält die Frage nach den theoretischen Vorannahmen und dem Vorverständnis des Forschers, die ihn beim Quellenstudium, bei der Feldforschung etc leiten, besonderes Gewicht. Metaphysische und empirische Annahmen sehr allgemeiner Art bilden die Grundlage für historische Erkenntnis, wenn zB ein Forscher einen Quel- lentext über das klassische Altertum, eine längst vergangene, nicht mehr direkt mit un- seren Sinnen wahrnehmbare Wirklichkeit, welche aber wahrnehmbare Spuren hinterlas- sen hat, untersucht. Metaphysisch orientierte Wissenschaftstheorie möchte derlei Begrifflichkeiten aufzei- gen, von welchen man in Forschung und Alltag ausgeht, und damit zu einer größeren gedanklichen Klarheit beitragen. In diesem Sinn gehört es zu den Anliegen dieser Ab- schlussarbeit, auf die Möglichkeit der logischen Ableitung von Erklärungen auch in den Geisteswissenschaften hinzuweisen. Denn die Arbeit von Wissenschaftlern besteht ge- wiss nicht nur aus Beobachtung bzw aus Quellenstudium, sondern auch aus der Ent- wicklung eines der Wirklichkeit angemessenen und logischen Begriffssystems, welches ein Verständnis des empirisch Gegebenen ermöglicht. Dies führt zum nachweisbaren Zusammenhang zwischen humanwissenschaftlicher Forschung und ihren Paradigmen und auch den von Forschern vertretenen philosophischen (geschichtsphilosophischen, ästhetischen etc) Positionen, da sowohl metaphysische als auch empirische Elemente zur theoretischen Welterfassung gehören. Schon die vom Forscher gewählte Begrifflichkeit involviert philosophische Annahmen. Dies lässt sich nicht vermeiden, da man vor Beginn der Auswertung der empirisch ge- gebenen Daten bereits über eine Problemstellung verfügen muss, die begrifflich aus- formuliert ist. Die Kenntnis der eigenen Begrifflichkeit befähigt den Wissenschaftler,

42 sich mit dieser kritisch auseinanderzusetzen, um eventuell eine bessere Beschreibungs- sprache zu finden. Ein Laie könnte über Geisteswissenschaftler meinen, dass sie die Frage klären, wie sich Künstler, Politiker usw in bestimmten Kulturen verhalten. Es würde dem Laien auch einleuchten, dass der Wissenschaftler sich in einem gewissen Ausmaß auf historische Rekonstruktionen und Zeugenaussagen verlassen kann, da seine Forschungsgenstände Raum und Zeit überdauerten und kausal etwas bewirkt haben müssen, auch wenn sie nicht beobachtet wurden. Das heißt wir verwenden a priori die Begrifflichkeit kausaler Prozesse, die auf einander einwirken, um Ereignisse im menschlichen Zusammenleben und in der Entwicklung von Einzelpersonen zu beschreiben. Unser Verständnis der Welt und das uns empirisch Gegebene stehen in Wechselwirkung, wenn wir glauben, dass wir eine soziale Situation wahrnehmen. Das Ende der Interpretation als solcher ist schon deshalb ein utopischer Wunsch, obwohl Wissenschaftler erklären können, warum sich manche Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten. Die Gesamtheit humanwis- senschaftlicher Theorien erstrebt demnach ein möglichst genaues Verständnis der Welt. Stehen Theorien in Widerspruch zu empirischen Daten, müssen sie gewiss in jeder Wis- senschaft entweder modifiziert werden oder es müssen die genannten Daten als unzu- verlässig (falsch beobachtet usw) verworfen werden. Aus diesem Grund muss die de- duktiv-nomologische Kausalerklärung in den Geisteswissenschaften uU mangels zuver- lässiger Daten unterlassen werden und die Erklärung sich auf wirkliche Zusammenhän- ge zwischen Erscheinungen beziehen, nicht bloß auf Forschungshypothesen. Dennoch ziehen revidierte Theorien nicht selten veränderte Darstellungen desselben Sachverhalts nach sich, wobei aber gewisse triviale Grundannahmen wie die Zuverlässigkeit histori- scher Quellen zu einem großen gemeinsamen Tatsachenbestand mehrerer Theorien füh- ren. Um dies an Hand eines konkreten Beispiels zu erläutern, gehen wissenschaftliche Theorien wie zB die Überbevölkerungslehre und metaphysische Annahmen wie die der Existenz des freien Willens des gerade herrschenden Königs gleichermaßen in die wis- senschaftliche Kausalerklärung des Ausbruchs einer Hungersnot ein. Dieses Beispiel zeigt auch, dass sich wissenschaftliche Theorien eindeutig von Beschreibungen der von ihnen erklärten Sachverhalte unterscheiden, weil wahre Geschichten über sozial bedeu- tende Ereignisse wie kurze Zeitungsartikel über ein Attentat keine Kausalerklärungen zu enthalten pflegen.

43 Humanwissenschaftliche Begriffe lassen sich ähnlich den naturwissenschaftlichen in zwei große Gruppen einteilen, in materielle und formale Begriffe, die man beide für Er- klärungen benötigt. Etwa braucht man, um die Entstehung eines Aberglaubens zu erklä- ren, sowohl materielle Begriffe, die sich auf etwas Dingliches, wie Haarfarbe, beziehen, als auch formale Begriffe, die eher Relationen zwischen Dingen erfassen, wie Identität (zB zwischen zwei Religionen). Wissenschaftstheorie wird im Zuge der Analyse solcher Erklärungen, welche Geisteswissenschaftler tatsächlich formulieren, zur Wissen- schaftswissenschaft, welche die Erklärung von kulturell einflussreichem menschlichem Verhalten beschreibt und als Wissen, Hypothese etc bewertet.20 Gewöhnlich beurteilen Laien und Wissenschaftstheoretiker gleichermaßen Erklärungen als zutreffend, wenn sie die Phänomene retten, also zu diesen passen, oder wenn sie er- folgreiche Vorhersagen bzw Rekonstruktionen ermöglichen. Dh man schließt von Tat- sachen auf einen Kausalzusammenhang, was in der Forschungspraxis oft in der Form eines Induktionsschlusses geschieht: Wie Gregor Mendel aus seinen Züchtungsexperi- menten auf Vererbungsgesetze schloss, lassen sich humanwissenschaftliche Erklärun- gen für den Anstieg der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert finden. John Stewart Mill formulierte sinngemäß ein Prinzip des induktiven Schließens, dass eine einzige Gemeinsamkeit zwischen zwei Situationen, in denen ein Phänomen auftritt, die Ursache bzw Wirkung dieses Phänomens ist und dass nur ein Unterschied zwischen einer Situation, in der das Phänomen auftritt, und einer, in der es nicht auftritt, die Ursa- che bzw Wirkung des betreffenden Phänomens sein kann. Trotz der Vielzahl wissen- schaftstheoretischer Positionen sind unterschiedliche bzw ähnliche Umstände von zu erklärenden Ereignissen jedenfalls erklärungsrelevant. Wie Eigenschaften der Eltern sich oft auf ihre Nachkommen vererben, ist die Politik für bestimmte Politfolgen ver- antwortlich. Aber um etwas Derartiges zu wissen, muss ich bei der Anwendung der eben zitierten Methode schon eine begründete Vorstellung von möglichen Ursachen ei- nes Ereignisses haben. Wie eine bestimmte Form des Pflanzenwachstums durch Wärme oder durch Licht bedingt sein kann, lassen sich historische Ereignisse wie die Hungers- nöte in der frühen Sowjetunion durch mehrere Ursachen wie Kriege, die kommunisti- sche Politik (Kollektivierung der Landwirtschaft, Fehlplanungen, Kriegswirtschaft usw) oder ökologisch-demographische Faktoren erklären.

20aaO 3–29

44 Dieses Beispiel aus der Geschichtswissenschaft diene als Erläuterung der wissenschafts- theoretischen Lehrmeinung, dass man die Ursache erst mit Sicherheit identifiziert hat, wenn man den Kausalmechanismus eines Prozesses kennt, weshalb hier postuliert wird, dass in entsprechenden Erklärungen kraftähnliche Wirkfaktoren wie Eingriffe der Staatsgewalt vorkommen sollten. Das eigentliche Ziel der Kausalerklärung wird nur er- reicht, wenn man durch Beobachtungen den Kausalmechanismus festgestellt hat, so dass man ihn wie eine Erfahrungstatsache kennt. Während es bei den meisten Naturvorgängen keinen Grund gibt an ihren gleichförmigen Wiederholungen zu zweifeln, ist in den Humanwissenschaften regelmäßig von einzigar- tigen Situationen auszugehen, die durch Einzelfallerklärungen bzw dispositionale Erklä- rungen wissenschaftlich adäquat erfasst werden können. Die induktive Methode allein reicht nicht aus, um erfolgsversprechende Hypothesen aufstellen zu können, sondern in allen Humanwissenschaften empfiehlt sich der Einsatz von klassisch hermeneutischen Methoden als heuristischen Hilfsmitteln bei der Aufklärung von Kausalmechanismen. Dies dient auch der Vermeidung falscher Verallgemeinerungen.21 Karl Poppers methodologische Regel, dass man sich um Beobachtungsdaten bemühen müsse, die hypothetische Allsätze falsifizieren können, ist auch für die Humanwissen- schaften wertvoll. Da es eine offensichtliche logische Wahrheit ist, dass Allsätze wie auch negierte Allsätze durch nur eine Gegeninstanz widerlegt werden, lassen sich Ge- setzeshypothesen über Zusammenhänge in einer bestimmten Kultur leicht formulieren und nach genauer Quellen- oder Feldforschung verwerfen, modifizieren oder auch zu bloßen Wahrscheinlichkeitsaussagen umformulieren. Anders als Popper annahm, lassen sich, wie Romano Harré gezeigt hat, sowohl allge- meine Existenzaussagen als auch Wahrscheinlichkeitsaussagen über viele Fälle logisch aus laut Popper wissenschaftlichen Annahmen ableiten. Das ist eine für die Geisteswis- senschaften wichtige Möglichkeit der Existenzfeststellung und Wesenserkenntnis. Denn, wenn sich der Satz „Es gibt keinen Dieb im Kloster“ falsifizieren lässt, kann man die Existenz der hypothetischen Gruppe der „falschen Mönche“ nachweisen. Auch die methodologischen Ideen der positivistischen Wissenschaftsphilosophie kön- nen zum Verständnis der Formen geisteswissenschaftlicher Erklärung beitragen: Positi- vistische Denker verlangten wie Popper von wissenschaftlichen Theorien eine dedukti-

21aaO 38-42

45 ve Struktur, die an mathematische Theoreme gemahnt. Da aber falsche Prämissen die logische Ableitung einer wahren Konklusion gestatten können, ist es uU in den Hu- manwissenschaften wissenschaftlicher, ein lediglich ungenau bekanntes Phänomen bloß zu beschreiben und in Analogie zum eigenen Seelenleben zu verstehen. Erklärung und Prognose sind wissenschaftliche Aussagenzusammenhänge, innerhalb welcher eine Schlussfolgerung logisch aus bestimmten Gesetzmäßigkeiten und Bedin- gungen folgt. Für derartige wissenschaftliche Aussagen ist die Entdeckung und Formu- lierung des meist kausalen Mechanismus, der hinter Geschehnissen steht, von zentraler Bedeutung, aber jedenfalls ihr Ziel. Die Kenntnis eines Kausalmechanismus ermöglicht immer eine Erklärung, aber nicht immer eine Prognose, da zufällige Randbedingungen wie Mutationen in der Evoluti- onsbiologie eine Rolle spielen können. Allgemein anthropologische Gesetzmäßigkeiten und dergleichen erlauben Humanwissenschaftlern lediglich vage Prognosen. Selbst für solche ist eine flexible Modellbildung und behutsame Analyse von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Verhaltensweisen unerlässlich. Dabei ist bei geisteswis- senschaftlicher Forschung insbesondere zu vermeiden, dass die Theorie bestimmt, was als Tatsache gilt. Dennoch sind Vertreter einer wissenschaftlichen Schule (bzw eines Forschungsparadigmas) immer wieder geneigt, Anomalien ihrer Theorie wegzuerklä- ren: Etwa könnten marxistische Religionshistoriker die so genannte Kirche der Armen für eine Propagandalüge erklären und das Bündnis zwischen Thron und Altar im 19. Jahrhundert als wichtigen Kausalfaktor bewerten, um ihre Lehre vom Primat ökonomi- scher Interessen zu verteidigen.22 In diesem Zusammenhang soll der Fachausdruck Retrodiktion eingeführt werden, wo- mit eine Erklärung von Ereignissen in der Vergangenheit bezeichnet wird, wie mit dem Terminus Prognose eine Voraussage, also eine Erklärung von Ereignissen in der Zu- kunft, gemeint ist. Vergangene Zustände werden im besten Falle durch die Ableitung aus Gesetzesaussagen und sogenannten Anfangsbedingungen mit hoher Wahrschein- lichkeit, zT mit Gewissheit, rekonstruiert.23 Es ist Wasser auf die Mühlen jeder Wissenschaftskritik, wenn eine Theorie gesetzesar- tige Allaussagen enthält, aber keine Erklärung eines bestimmten Geschehens liefert

22aaO 48-49, 51, 53, 55–57, 59-60 23https://de.wikipedia.org/wiki/Retrodiktion (Abrufdatum: 25.02.2017, 19:49 Uhr)

46 (Klagen in diese Richtung finden sich etwa bei George Berkeley), da sie nicht genau genug zwischen Sein und Schein unterscheidet: Dennoch ist das Aufzeigen kausaler Regelmäßigkeiten in Natur und Menschenwerk die Krönung des wissenschaftlichen Ar- beitens. Sehr plausible Hypothesen über Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen sind indes nützlich, so dass manche Humanwissenschaften auf bloß hypothetisch einen Wirklichkeitsbereich beschreibende Hilfsannahmen zurückgreifen, wobei aber Hypo- thetisches hypothetisch zu nennen ist und Übertreibungen, die an empirisch gar nicht Nachweisbares erinnern, vermieden werden müssen. Hypothesen und stillschweigende Annahmen über die Ursachen von historischen Prozessen sollten sich vielmehr auf Enti- täten richten, die gleich gut vorstellbar und nachweisbar sind wie etwa die Kraft als Bewegungsursache in der Mechanik. In diesem Zusammenhang darf man weder Phä- nomene mit den Erklärungen dieser Phänomene verwechseln noch die Frage nach den Ursachen der Phänomene ausklammern, was leichter gesagt als getan ist, da Geisteswis- senschaftler regelmäßig menschliche Tätigkeiten aus ihren Produkten bzw Artefakten rekonstruieren müssen. Eine exklusiv operationalistische Auffassung humanwissenschaftlicher Erklärungen scheint mir nicht zielführend. Definiert man nämlich etwa die sprachgeschichtliche Er- kenntnis operationalistisch in Analogie zu Percy Williams Bridgmans Theorie der expe- rimentellen Naturwissenschaften als die gekonnte Auswertung alter Sprachdenkmäler, könnte es zu einer Verwechslung der rekonstruierenden Annäherung an das zu Erfor- schende mit diesem selbst kommen. Das Ziel des geisteswissenschaftlichen Arbeitens liegt vielmehr darin, eine Begründung dafür zu liefern, warum bestimmte Methoden an- gewandt werden, um bestimmte Rekonstruktionen, Prognosen und Erklärungen zu er- möglichen. In der Regel ist die Entscheidung für bestimmte Methoden der empirischen Forschung selbst eine Folgerung aus wohlbegründeten theoretischen Maßnahmen, wo- bei ua der Ausschluss esoterisch-magischer Methoden aus der Forschungspraxis jedoch gegeben ist. Auch ein Physiker interpretiert seine Beobachtungen bis zu einem gewissen Ausmaß, doch ist es nicht nur in den exakten, sondern auch in den hermeneutischen Wissenschaften ein Zeichen schlechter Arbeit, dass eine Interpretation der Daten oder gar alle Interpretationen der Daten sich als falsch erweisen könnten.24

24Rom Harré: The Philosophies of Science. An Introductory Survey. Oxford, New York: Oxford Univer- sity Press 1972, 72–77, 79

47 Aus diesem Grund wird eine bloß phänomenalistische Wissenschaftsauffassung unseren neugierig-wissbegierigen Erwartungen an geisteswissenschaftliche Erklärungen nicht gerecht. Denn derlei Theorien sollen unseren Erkenntnishorizont über die vorwissenschaftliche Weltauffassung hinaus erweitern. Deshalb müssen sowohl dokumentierte Tatsachen als auch wissenschaftliche Theorien, also zwei unterschiedliche Wissensarten, zu einem Wissen über die Zusammenhänge eines Forschungsgegenstandes verschmelzen.25 Hypothetische Erklärungen besitzen den Nachteil, dass in ihnen fiktive Ursachen vor- kommen können, weshalb Entitäten oder Prozesse wie in der Geschichtswissenschaft zB „Bürgerliche Revolution“ nicht echte Kausalfaktoren darstellen, sondern bloße Mo- delle zu sein scheinen. Willkürliche Modelle erzeugen keine Lösungen, wenn sie nicht sogar nach dem wissenschaftlichen Fortschritt Gelächter bewirken. Fiktionale Prämis- sen führen uU zu bloßen Pseudoerklärungen. Ein Beispiel dafür ist eine im Kontext ab- leitbare Theorie, dass alle Revolutionen wegen der dortigen Mentalität in Frankreich ausbrechen, dass dies nach jeder Wirtschaftskrise passiert und es deshalb 1789 in Frank- reich zu einem Umsturz kam, weil kommen musste. Es ist ein Fundamentalsatz jeder Wissenschaftstheorie, dass die Ableitung einer Erklärung aus Phänomen und Gesetz- mäßigkeiten der theoretische Ausdruck einer realen Kausalbeziehung sein wird, die Gü- te einer Erklärung also nicht nur logisch, sondern auch empirisch gesichert werden muss.26 Dies liefert mir den Anlass, zum wissenschaftstheoretischen Standpunkt des Wissen- schaftlichen Realismus Stellung zu nehmen. Seriöse Wissenschaftstheorie geht offen- sichtlich von Postulaten aus, dass Aussagen einer Theorie wahr oder falsch sind und sich großteils auf reale Wesenheiten ähnlich den sichtbaren Dingen beziehen. Dass die- se Wesenheiten existieren beweist man dadurch, dass man auf einen dementsprechen- den Sinnesreiz hinweist. Dies lässt sich an Hand zweier analoger Beispiele veranschau- lichen: Das Virus und die hohe Kreativität mancher Personen sind theoretische Entitä- ten, die sich auf die Wirklichkeit beziehen, ihr entsprechen und durch bestimmte Be- obachtungs- bzw Testverfahren nachgewiesen werden können. Bakterien und Viren las- sen sich nur mit Mikroskopen sichtbar machen, so dass sich ihre Existenz bezweifeln

25aaO 80 26aaO 81-82, 84, 98

48 ließe, wenn es keine Mikroskope gäbe, wie auch die unproblematische Existenz der Kreativität durch Kreativitätstest und künstlerische Wettbewerbe besser erfassbar wird. Allerdings gibt es in allen Wissenschaften möglicherweise Hypothesen, die sich auf die Realität beziehen, ohne ihr zu entsprechen, bzw ihr entsprechen, aber nicht nachgewie- sen sind. Den Vertretern des Wissenschaftlichen Realismus ist beizupflichten, wenn sie betonen, dass das Ergebnis der Wissenschaft die Einsicht in die Existenz bestimmter Objekte und auch in deren Wesenseigenschaften ist. Nur in Grenzbereichen des Wis- sens muss man sich ab und zu damit begnügen, Phänomene mit problematischen Mo- dellen oder gar nicht zu erklären.27 Der Wissenschaftliche Realismus behauptet die Erkennbarkeit einer vom Menschen un- abhängigen Wirklichkeit und ihre Beschreibbarkeit durch bestätigte Theorien. Liefern die hermeneutischen Disziplinen keine praktisch brauchbaren Beschreibungen und Er- klärungen von Prozessen und Strukturen, dann ist die humanwissenschaftliche Erklä- rung nicht zuverlässig genug, um einer primitiven Weltdeutung überlegen zu sein.28

1b) Theorieabhängigkeit, Kategorien und Erklärungsprinzipien Metaphysische Kategorien wie Relation, Qualität und Substanz sind auch Denkwerk- zeug geisteswissenschaftlich Arbeitender: die Kategorie der Substanz ermöglicht einem Forscher die Klassifizierung und Identifizierung von Einzeldingen wie dem Wiener Stephansdom oder dem Diamanten Kohinoor. Das Erkennen von Ähnlichkeiten ist eine wichtige Aufgabe des Forschens wie auch Grundlage jeder wissenschaftlichen Wissens- suche, wobei eine Konzentration auf Objekte bzw Vorgänge und deren Eigenschaften vorherrscht (schnelle Entwicklung, spitzer Kirchturm usw).29 In diesem Zusammenhang ist der Substanzbegriff besonders wichtig, da nur Substanzen Qualitäten bzw Eigenschaften zukommen, da Gegenstand einer geisteswissenschaftli- chen Erklärung derlei Eigenschaften von Objekten und Vorgängen wie die Schönheit eines Kunstwerks oder die Unwiederholbarkeit eines Prozesses ausmachen. Bestünde

27aaO 90–92, 95 und 99 28https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftlicher_Realismus (26.02.2017; 18:08 Uhr) 29Rom Harré: The Philosophies of Science. An Introductory Survey. Oxford University Press: Oxford, New York 1972, 100-101

49 keine Klarheit über die zu beschreibende Substanz, könnten in einer historischen Mo- nographie kaum Substantive verwendet werden... Substanzen können etwas Individuelles (Personen, Einzelobjekte, Partikulare, Einzeler- eignisse) im weitesten Sinne des Wortes, aber auch Materialien (Mengen, Massen) sein. Es ist nicht zu übersehen, dass sich Geisteswissenschaften für Individuelles, für be- stimmte Menschen sowie ihre Taten und Werkstücke interessieren. Substanzen, welche im Explanans einer geisteswissenschaftlichen Erklärung vorkommen, sind in der Regel aristotelische Individuen, d h Einzelobjekte aller Art, die ihrem Wesen nach unter be- stimmten Umständen veränderbar sind, zB Einzelpersonen, die sich beruflich entwi- ckeln, womit Makrophänomene wie wandelbare Sozialstrukturen und statistisch mess- bare soziale Interaktionen zusammenhängen. Trotz der eben erwähnten Veränderungen bleibt die Individualität eines aristotelischen Individuums erhalten, zB während der bio- graphischen Entwicklung einer Einzelperson oder bei der Konstanz durch die Zeit von Gruppen wie bestimmter Religionsgemeinschaften. Derlei Objekte sind Anlass für hu- manwissenschaftliche Erklärungen.30 Die gerade besprochenen Einzelobjekte, Personen, Gruppen usw werden wie Individuen und Materialien überhaupt durch Eigenschaften gekennzeichnet, welche im Explanans und Explanandum geisteswissenschaftlicher Erklärungen enthalten sein müssen. In die- sem Kontext sind historische Persönlichkeiten im Explanans zB als intelligent, grausam, geisteskrank usw klassifiziert, damit ein Kausalmechanismus innerhalb der von ihnen mitgeprägten historischen Veränderung korrekt wiedergegeben wird. Außerdem lässt sich die zunächst für die Naturwissenschaften eingebrachte Unterschei- dung zwischen primären und sekundären Qualitäten für die Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften fruchtbar machen, denn wie von uns wahrgenommene Wärme eine Folge von Teilchenbewegung ist, ist das von uns wahrgenommene Kunstschöne die Folge von Eigenschaften des Kunstwerks wie dem Sprachklang oder der seelischen Spannungen des Künstlers. Einzelobjekte sind nur an einem bestimmten Ort im Raum vorstellbar, Ereignisse analog dazu in bestimmten Zeitspannen. Deshalb müssen Raum und Zeit, welche gemäß metaphysischer Kategorienlehre Relationen sind, ebenfalls bei

30Neben aristotelischen Individuen gibt es parmenideische, die im Prinzip ewig erhalten bleiben, und heraklitische, welche nur kurze Zeit bestehen und dann vergehen. aaO 102, 104-107

50 geisteswissenschaftlichen Forschungen berücksichtigt werden, was gleichermaßen für Individuen und für Prozesse gilt. Bei der Darstellung eines Entwicklungsprozesses muss auf Grund korrekter Analyse der zeitlichen Dimension des Geschehens deutlich hervortreten, dass er anfangs begann, dann aufhörte und dazwischen etwas geschah, da die innere, nicht bloß zeitlich geordne- te Struktur des Ereignisses sonst verborgen bliebe und da weiters eine Erklärung von Veränderungen voraussetzt, dass die Ursache vor der Wirkung gegeben war. Wie in der Erdgeschichte die Lehre von den Epochen wie Karbon die Struktur einer geologischen Abfolge zum Ausdruck bringt, zeigt die Geschichtswissenschaft durch analoge Klassifi- zierungen ebenfalls Strukturen auf, zB den technischen Fortschritt von der Steinzeit zum Atomzeitalter.31 Zur Kausalrelation selbst muss aus wissenschaftsphilosophischer Sicht das Folgende angemerkt werden: Zusammenhänge zwischen Zuständen und Ereignissen, welche durch einen Prozess miteinander verknüpft sind, sind in der Regel kausaler Natur. Wir machen schon im Alltag die Erfahrung, dass manche Abfolgen von Ereignissen zufällig sind, während andere kausal verbunden sind, wobei die Ursache der Wirkung voraus- geht. Gute Wissenschaft sucht und findet Ursachen sowohl von gewöhnlichen als auch von ungewöhnlichen Ereignissen, wofür psychologische Erklärungen von Alltäglichem und Pathologischem ein Paradebeispiel sind. Wenn die Psychologie in den Humanwis- senschaften als Hilfswissenschaft zugelassen wird, werden in den humanistischen Dis- ziplinen Erklärungen die Folge sein, welche gleich gut und objektiv sind wie Sigmund Freuds Erklärung von Versprechern. Da sich geisteswissenschaftliche Erklärungen ernstlich darum bemühen, reale Wirkun- gen aufzuzeigen, muss ihre Wissenschaftstheorie von einer generativen metaphysischen ( entgegengesetzten) Theorie von Kausalität ausgehen, die besagt, dass die Ursache ihre Folgen durch „Kräfte“ bewirkt. Eine derartige Theorie ist unter der trivia- len Voraussetzung unserer Kenntnis des Wesens bzw der Natur der an einem Vorgang beteiligten Entitäten ausreichend gut begründet. Eine Konsequenz jeder guten human- wissenschaftlichen Erklärung besteht darin, dem Publikum klarzumachen, warum ein gefundener Zusammenhang innerhalb einer Abfolge genau die Form hat, welche er aufweist, wozu sie zB die komplexen Ursachen einer Kulturveränderung vorlegt und

31aaO 107-108, 111-112 und 114

51 dabei zwischen notwendigen und bloß statistisch wahrscheinlichen Handlungsfolgen unterscheidet. Dabei muss zwischen Ursachen eines Ereignisses und den Bedingungen, unter welchen Ursachen überhaupt zur Wirkung kommen, unterschieden werden, wobei Handlungen bzw. Ereignisse kausal wirken und entsprechende Bedingungen in den Zu- ständen liegen sind. Wie entzündliche Stoffe unter bestimmten Bedingungen zu brennen beginnen, können auch kriegsführende Mächte auf Grund „ungenügender Umstände“ zur Niederlage prädestiniert sein, um ein Beispiel für eine gelungene geisteswissen- schaftliche Kausalerklärung anzudeuten. Es ist begrifflich ausgeschlossen, dass sich etwas ereignet, wenn nicht einzelne Objekte auf andere einwirken, weshalb individuelle wie kollektive Akteure der Geschichte in geisteswissenschaftlichen Erklärungen regelmäßig als Komponente der Verursachung eines Geschehens herangezogen werden müssen. Meist erklären wir als Geisteswissen- schaftler bzw als Historiker Veränderungen an relativ stabilen Substanzen, gelegentlich aber auch Neuentstehungen wie Stadtgründungen oder den Untergang einer Substanz, wie zB die Zerschlagung eines Staates. Stabile Elemente wie anthropologische Konstan- ten (zB Sprache) zu übersehen, würde der Qualität geisteswissenschaftlicher Erklärung in jedem Falle schaden.32 Zu geisteswissenschaftlichen Erklärungen zählt auch ein signifikanter Anteil teleologi- schen Denkens, da gerade Ziele bzw Handlungsabsichten der an einem Ereignis betei- ligten Menschen zu den Ursachen beitragen. Wenn keine Absichten vorliegen, muss man hingegen bloß von einer Prozessrichtung sprechen, zB wenn ein Bergwerk leer wird. Gerade das Problem teleologischer Erklärungen zeigt, dass Entscheidungen über den kategorialen Rahmen wissenschaftlicher Darstellungen zwar nicht empirisch sind, aber doch rational begründbar.33 Da Wissenschaftsphilosophie, wenn auch in Abhängigkeit von Paradigmen, Idealfor- men für wissenschaftliche Erklärungen entwickelt, liefert sie auch methodologische Ratschläge, zB für die Suche nach der Organisation von Grundkomponenten eines Sys- tems. Für humanwissenschaftliche Erklärungen äußert sich Methodenkompetenz zB in der Arbeitsregel, dass bei der Beschreibung sozialer Prozesse die Teil-Ganzes-Relation

32Eine ausführliche Humekritik ist in dieser Arbeit nicht vorgesehen. aaO 115-116, 118–121 und 123 33Eine Diskussion über die aristotelische Lehre von den vier Ursachen würde hier zu weit führen. aaO 126 und 133

52 zu berücksichtigen ist, wobei sich die Eigenschaften einer Gruppe nicht additiv aus den Eigenschaften ihrer Mitglieder ergeben, sondern emergent zu sein scheinen. Man spricht in diesem Zusammenhang von anthropologischen (zB sozialpsychologischen) Makroerklärungen, mittels welcher die Teile einer Entität ausgehend vom Ganzen ver- standen werden. Auf diese Art und Weise erklärt man soziale Rollen, zB das Verhalten eines Vorsitzenden an Hand der Funktionen und Kompetenzen der von ihm geleiteten Versammlung oder allgemein soziale Phänomen an Hand ihrer Bedeutung für das ge- sellschaftliche Leben.34 Dies wirft ein weiteres wissenschaftstheoretisches Problem auf, nämlich die Theorieab- hängigkeit von Informationen, welches dadurch gelöst werden soll, dass man klärt, in- wieweit die eigene Darstellung eines Sachverhalts theoretische Elemente enthält, wobei man bei vollwertigen geisteswissenschaftlichen Erklärungen nur von bereits gut be- gründeten Theorien ausgehen darf. Objektivität wird in keiner Wissenschaft dadurch erreicht, dass die apriorische Komponente der Erkenntnis schlichtweg verleugnet wird, sondern dadurch, dass man seine Vorannahmen ändert, sobald sich herausstellt, dass sie dem Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegenwirken bzw sogar schaden. Da es unmöglich ist, die Welt gänzlich theoriefrei zu beschreiben, lässt sich ohne Zweifel we- nigstens die heuristische Berechtigung der hermeneutischen Methode aufweisen. Aprio- rische Kausalitätsannahmen über die Folgen unserer Handlungen und die humanisti- sche Vorstellung des Individuums als eines verantwortlichen Akteurs gehören zum un- problematischen Vorverständnis eines Geisteswissenschaftlers, welche in einer deduk- tiv-nomologischen Erklärung oder innerhalb einer plausiblen hermeneutischen Begrün- dung- im Gegensatz zu strukturgesetzlichen Annahmen über eine bestimmte Gesell- schaft und gesellschaftlichen Rollen in ihr oder Postulaten (bzw Axiomen) über die menschliche Natur- nicht explizit genannt werden müssen.35 Dass geisteswissenschaftliche Erklärungen nicht als solche ein bloß mythisches Welt- bild erzeugen, lässt sich durch die Analyse des Begriffs der Emergenz aufweisen: Ent- springen (holistische) Eigenschaften eines komplexen Systems nämlich aus dessen Struktur, nicht unmittelbar aus den Bestandteilen der Struktur, dann ist es keineswegs

34aaO 140, 145-146 35Radikal skeptizistische Positionen gehören nicht zum Thema und sind ohnehin absurd, insofern sie die Möglichkeit, etwas aus Erfahrung zu wissen, letzten Endes bestreiten. Vgl aaO 158, 163

53 rätselhaft, dass zB Menschen sprechen können und Zungen allein nicht oder auch dass sich Menschen in Gruppen anders verhalten als isolierte Personen usw.36

1c) Erklärungen, Modelle und ihr Nutzen Es ist außerdem offensichtlich, dass gerade Erklärungen die eigentliche Funktion aller wissenschaftlicher Theorien sind. Theorien strukturieren im Allgemeinen eine große Zahl von Gesetzmäßigkeiten und Einzeltatsachen übersichtlicher und verständlicher. Geisteswissenschaftliche Theorien ermöglichen zudem dispositionale und statistische Erklärungen von Einzelfällen. Die Menschheit weiß schon lange vielerlei über menschliches Verhalten, wobei es aber nicht gelungen ist und vielleicht auch nie gelingen wird, dieses Wissen aus mehreren Prinzipien zu einem einheitlichen, logisch strukturierten System zu synthetisieren. Wi- derspruchsfreies Wissen über menschliches Verhalten kann dennoch so ausgewertet werden, indem wir mittels gesetzesartiger Aussagen im Explanans einer geisteswissen- schaftlichen Erklärung vorgehen. Sowohl Einzelereignisse als auch Folgen von Ereignissen können ganz eigentlich ledig- lich durch die Identifizierung eines kausalen Mechanismus erklärt werden. Jedoch ha- ben naturwissenschaftliche Gesetze regelmäßig einen eher beschreibenden als einen er- klärenden Charakter, da die in ihnen vorkommenden Ursachen unpräzise angegeben sind, weshalb sich niemand minderwertig zu fühlen braucht, wenn etwas emergent er- klärt wird oder wenn menschliches Handeln in Analogie zur Erklärung mit Kräften in der klassischen Mechanik mit den gleich exakten Konzepten von Willen, Einfluss und Wechselwirkung bei der sozialen Interaktion erklärt wird. Eine ideale deduktiv- nomologische Erklärung ist auf Grund der empirisch bewährten Virustheorie der Ent- stehung einer bestimmten Krankheit tatsächlich gegeben, während allgemeinere Erklä- rungen signifikant schwächer als diese Erklärung des überschaubaren Gegenstandsbe- reichs „Krankheit K“ sein werden. Ein eindeutiger Kausalmechanismus ist das Ideal für einfache humanwissenschaftliche Zusammenhänge. Bei bloß hypothetischen Erklärun- gen werden indes lediglich ungenau bekannte Entitäten wie menschliche Entscheidun-

36aaO 164

54 gen oder physikalische Kräfte eine doch ausreichende Beschreibung des betreffenden Kausalmechanismus liefern. Dies veranlasst uns zur Feststellung, dass Wissenschaftler bei der Formulierung von Theorien ausgehend von Analogien zu einer passenden Begrifflichkeit vordringen müs- sen. Eine sorgfältige Beobachtung im weitesten Sinn des Wortes führt uns nämlich zwar zur Einsicht in Regelmäßigkeiten und Muster, aber nicht zu einer buchstäblichen Ursa- chenerkenntnis. Oft lassen sich Tatsachen von Forschern eruieren, obwohl der Kausal- mechanismus hinter einer Ereignisabfolge noch unbekannt ist. Ist das der Fall, etwa wenn das Quellenstudium Historikern Tatsachkenntnisse trotz teilweise unbekannter Ursachen erlaubt, ist es gerechtfertigt sich hypothetische Erklärungen zu suchen bzw zu entwerfen, die im Anschluss nach Möglichkeit geprüft werden.37 Analogien richtig anzuwenden bedeutet für die Wissenschaft, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ähnlichen Entitäten, welche verglichen werden, gegeneinander abzuwägen und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Die Verwendung von Analogien soll ein Schritt in die Richtung zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Modellvorstel- lung sein, wobei diese eine reine Klassifikation (zB Romantypologie) oder eine Kausal- erklärung (zB dialektisches Modell der Geistesgeschichte) sein kann. Harré unterschei- det weiters homeomorphe Modelle (etwa eine Puppe als Babymodell) und paramorphe Modelle wie zB die Vorstellung, ein Gas bestehe aus kugelförmigen Molekülen. Alle wissenschaftlichen Modelle müssen eo ipso wie Hypothesen schrittweise dahingehend geprüft werden, ob sie eine adäquate Beschreibung bzw Erklärung der tatsächlichen Vorgänge bzw Sachverhalte liefern. Die soeben geforderte Prüfung lässt sich an Beispielen wie Charles Darwins Theorie der natürlichen Auslese oder auch an Karl Marxens historischem Materialismus zeigen. Die durch Ausgrabungen und Quellen dokumentierten Veränderungen, die durch diese beiden Theorien erklärt werden, können sich ereignet haben, obwohl ein anderer Me- chanismus als der jeweils von den beiden berühmten Theoretikern postulierte am Werke war. Die Evolutionstheorie Darwins hat sich bereits hervorragend bewährt, beschreibt also korrekt einen Selbstorganisationsprozess mit an Sicherheit grenzender Wahrschein- lichkeit.38

37aaO 168 und 170-172 38aaO 172-174 und 176-177

55 Es lässt sich als eine für alle Wissenschaften gültige Arbeitsregel formulieren, dass man beim Forschen zuerst Muster und Strukturen des Geschehens entdeckt, dann mögliche Kausalmechanismen vermutet und gegen eventuelle Alternativerklärungen abwägt, be- vor eine gewisse Kausalbeziehung identifiziert und beschrieben werden kann. Kommt der wissenschaftliche Fortschritt ins Stocken, pflegen Wissenschaftler mittels metaphy- sischer Annahmen zu reagieren. Dies darf indes kein Erkenntnishindernis werden. Mit anderen Worten sind Erklärungsform und das Forschungsparadigmata für die (gei- stes)wissenschaftliche Wahrheitsfindung nützlich bzw müssen revidiert werden. Gute Erklärungsformen lassen sich am besten beschreiben, indem man von einer Analy- se bewährter Theorien ausgeht. In Wissenschaften wie der Sozialpsychologie macht das komplexe Zusammenwirken unterschiedlicher Einflüsse und Ursachen die Vereinheitli- chung entsprechender wissenschaftlicher Beschreibungen zu einem einheitlichen Sys- tem so gut wie unmöglich. Daher sind „ausnahmslose“ gesetzesartige Aussagen im Ex- planans geisteswissenschaftlicher Erklärungen regelmäßig unangebracht, wenn nicht unwissenschaftlich. In der Regel wird ein Kausalmechanismus zunächst nur hypothe- tisch postuliert, ausgehend von einer Analogie zu einem bekannten Gegenstand oder zu einer anderen Hypothese, bevor eine Überprüfung angestellt wird. Harré bemerkt zutreffend, dass es zwei Funktionen von wissenschaftlichen Modellen gibt: Erstens die heuristische, Phänomene vereinfachende; zweitens die erklärende, wel- che einen unbekannten Kausalmechanismus abzubilden versucht. Heuristische Modelle sind zwar legitim, müssen aber als solche gekennzeichnet werden. Erklärende Theorien müssen vermeiden, pleonastisch zu sein und werden daher paramorphe Modelle (siehe oben) verwenden. Stellt eine derartige Theorie einen hypothetischen Kausalzusammen- hang plausibel dar, wird sie empirisch zu prüfen sein, etwa in der Geschichtswissen- schaft durch noch genaueres kritisches Quellenstudium. Um ein Beispiel anzuführen, wird ein Forscher zuerst eine Ursache wie den Einfluss des politischen Erkenntnisinte- resses auf den Verlauf der Wissenschaftsgeschichte postulieren und dann nach Belegen für seine Hypothese suchen. Überhaupt lässt sich Harrés Modellbegriff bei der Analyse von wissenschaftlichen Theorien im Allgemeinen, aber auch von sozialwissenschaftli- chen Paradigmen und geisteswissenschaftlichen Erklärungen anwenden. (Gei- stes)wissenschaftliche Erklärungen schreiten von nicht zufälligen Regelmäßigkeiten im Daten- und Quellenmaterial über hypothetische Kausalmechanismen zu den grundle-

56 gendsten, einem rationalen Diskurs zugänglichen Zusammenhängen vor. Derlei ermög- licht aber in den Wissenschaften vom Menschen nur selten Verallgemeinerungen bzw Abstraktionen von Individuellem und Unwiederholbarem.39

Kapitel 2 - Programm einer speziellen Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaf- ten

Kapiteleinleitung

Spezielle Wissenschaftstheorien lassen sich allgemein als die Erörterung und Lösung von wissenschaftstheoretischen Problemen einer Einzelwissenschaft bestimmen. Sys- tematische Untersuchungen und historische Einzelfallstudien existieren in den Human- wissenschaften nebeneinander und gehen zT auch in ihren Erklärungen ineinander über. Da die Erörterung aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen ins Uferlose führen wür- de, wird sich die vorliegende Arbeit auf wenige Geisteswissenschaften konzentrieren, vor allem auf Geschichtswissenschaft.

2b) Klärung des Begriffs Geisteswissenschaft Alle Geisteswissenschaften untersuchen die schöpferische Tätigkeit des Menschen in ihren verschiedenen Ausformungen wie der Gestalt des Zusammenlebens und der Welt- deutung, damit auch den Bezug des Einzelnen auf seine Umwelt. Diesen Gegenstands- bereich aber erklären zu wollen, ohne die sich in ihm manifestierenden Menschen zu verstehen, ist eine unbefriedigende Erklärungsskizze. Daher kann die wissenschaftliche Redlichkeit des Versuchs Diltheys, Kants Kritik der erkennenden Vernunft durch eine Kritik der historischen Vernunft zu ergänzen, nicht bestritten werden. Die Begriffs- und Urteilsbildung der Kulturwissenschaften wird je- doch bereits durch die bloße Existenz des hermeneutischen Forschungsparadigmas zum

39aaO 179–183

57 Gegenstand wissenschaftstheoretischer Forschung, die schon mit Windelbands und Heinrich Rickerts methodologischen Überlegungen über mehr oder weniger individuali- sierende Kulturwissenschaften einsetzte. Freilich wurde von Vertretern der analytischen Philosophie die Gegenposition einer Einheitswissenschaft verteidigt, die in allen ihren Fachbereichen, auch in der Sozial- und Verhaltensforschung, nur die deduktiv-nomologische Methode anwendet. ME wird durch diesen Standpunkt bloß ein Aspekt des menschlichen Verhaltens erhellt, wenn er die selbst kausal relevante menschliche Subjektivität, die mit der sozialen Umwelt in Wechselwirkung steht, unzureichend berücksichtigt. Das von mir aufgeworfene Problem wurde von Karl-Otto Apel so formuliert, dass in handlungs- und systemtheoretischen humanwissenschaftlichen Forschungen alte geis- teswissenschaftliche Fragestellungen wieder in einem neuen terminologischen Gewand auftreten. Die durch die Institutionen einer Gesellschaft geschaffenen Tatsachen sind nämlich der Ausdruck von Einstellungen von miteinander interagierenden Menschen, mithin ein vom naturgesetzlichen Wirklichkeitsbereich wohl unterschiedenes Emergenzphänomen. Daher besteht das Problem, dass eine humanwissenschaftliche Er- klärung eine Fehlinterpretation sein kann. Außerdem können Verhaltensregeln im Sinne von statistischen Regelmäßigkeiten in einem bestimmten sozialen Zusammenhang zwar als Quasigesetze Ereignisse erklären, aber kaum auf universale Gesetze zurückgeführt werden, es sei denn es handelt sich um Trivialannahmen, wie die Bemühung jedes Menschen um das ihm erstrebenswert Er- scheinende, wie Apel zurecht bemerkte. Auf Grund der Wandelbarkeit der Kultur ist es angebracht, in historischen Erklärungen ein „Gesetz für nur einen Fall“ (Terminologie von Apel) anzunehmen, um kausal zu erklären, ohne zu sehr zu verallgemeinern. Das ist ein individualisierender Zugang im Sinne von Windelband, Rickert etc, der einem Ge- genstandsbereich, der etwas Einmaliges ist, allein angemessen ist und zu einem objekti- ven Verstehen führen soll. Was das objektive Verstehen betrifft, verweist Apel auf Pop- pers geistige „Dritte Welt“ der Theorien, die den Unterschied zwischen Modell und Wirklichkeit bewusst macht. Die theoretische Strömung der analytischen Handlungstheorie und Geschichtslogik hat die Bemühung dieser Arbeit, einen goldenen Mittelweg zwischen Hermeneutik und Einheitswissenschaft zu finden, vorweggenommen, indem sie die Struktur der teleolo-

58 gisch-intentionalen Erklärung von zweckrationalen Handlungen analysiert. Die Erklä- rung von menschengemachten Ereignissen aus Handlungsgründen lässt sich in eine quasi-kausale Erklärung umformulieren, die eine mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gültige Kausalerklärung liefert und sich zu praktischen Zwecken wie der Gewaltpräven- tion nutzbar machen lässt. Apel ist mE beizupflichten, dass die normativ-hermeneutischen Wissenschaften eine Unterklasse der kritischen Sozialwissenschaften sind. Diese erklären wie die Naturwis- senschaften Ereignisse kausal bzw funktional als Folge einer einflussreichen Tendenz, können aber nicht die unkritische Objektivität der Naturwissenschaften, die sich mit Vernunftlosem befassen, zu ihrem Erkenntnisideal erheben.40 Auch in der Psychologie gab es Bestrebungen, eine sogenannte objektive Hermeneutik zu entwickeln. In diesem Zusammenhang ist Norbert Groebens Buch „Handeln, Tun, Verhalten als Einheiten einer verstehend-erklärenden Psychologie“ zu nennen. Schon dieser Titel weist auf Parallelen zu meiner Dissertation hin, welche ein Zeichen des Un- behagens über einen seit mehr als 100 Jahren schwelenden Methodenstreit in der Psy- chologie sind. Ich möchte mich Groebens Grundidee einer Integration von hermeneuti- schen und empirischen Ansätzen anschließen (Groeben, VI/VII), weil es mE offensicht- lich sowohl eine hermeneutische als auch eine empirische Forschungsphase gibt, wenn die Geisteswissenschaften Ausdrucksverhalten erklären, das es auch zu verstehen gilt. Dilthey lehrte, dass es neben einer erklärend-naturwissenschaftlichen einer beschreiben- den Psychologie bedürfe, weil das dem Forschungsgegenstand angemessener sei. Die bloße Beschreibung des Kulturellen bzw Ausdruckshaften droht aber als eine notwendi- ge Folge dieser wissenschaftstheoretischen Orientierung, obwohl auf den Menschen auch, insofern er ein Teil der Natur ist, naturgesetzliche Erklärungsweisen anwendbar sind. Wenn die Methode des Verstehens nur Beschreibungen produziert, könnte es al-

40Karl-Otto Apel (1980): Geisteswissenschaften. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 247–251 Siehe auch einen Aufsatz über Popper (in folgendem Standardwerk: Kurt Salamun: Was ist Philoso- phie? Tübingen: J.C.B. Mohr 1980, 163) und den entsprechenden Wikipediartikel https://de.wikipedia.org/wiki/Drei-Welten-Lehre sowie eine Textpassage (in folgendem Stan- dardwerk: Wolfgang Schönpflug: Geschichte und Systematik der Psychologie: ein Lehrbuch für das Grundstudium. Weinheim: Beltz 2004, 364-377) und den entsprechenden Wikipediartikel https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Wende, um den wissenschaftlichen Hintergrund der in dieser Arbeit vertretenen objektiven Hermeneutik zu verstehen, die gar nicht individualisierendes Erklären als oberflächlich verwirft und die Bedeutung kognitiver Prozesse für das menschliche Le- ben betont.

59 lerdings sein, dass sie nur unzureichend auf Zusammenhänge menschlichen Verhaltens hinweist. Damit tut sich die Verstehen-Erklären-Dichotomie auf. Eine Lösung des Problems scheint eine Weiterentwicklung der Handlungstheorie zu versprechen. Dabei stellt sich die Frage, ob man für die Erklärung menschlichen Verhaltens eine eigene Erklärungs- form braucht. Der wissenschaftliche Monismus bestreitet dies und er hat in der Ge- schichte der Psychologie dominiert. Groeben beklagt zu Recht, dass der Monismus die Sinndimension menschlichen Ver- haltens vernachlässigt, während der ihm entgegengesetzte Dualismus zu wenig erklärt und zu sehr auf Beschreibungen konzentriert ist. Nun ist indes zu zeigen, worin eine vermittelnde Position zwischen diesem Monismus und diesem Dualismus bestehen kann. Das ist, wie Groeben entdeckte, nur möglich, wenn man von beiden Theorien je- weils einige ihrer Standpunkte verwirft und andere ihrer Aussagen beibehält. Diese kri- tische Sichtung der wissenschaftstheoretischen Standpunkte erfolgt mit Hinblick auf ihren Nutzen für den einzelwissenschaftlichen Fortschritt.41 Der Unterschied zwischen Verhalten und intentionaler Handlung lässt sich dadurch be- greifbar machen, dass der Mensch nicht sehr reizbestimmt ist, reflektieren kann und weniger Gesetzen unterliegt als andere Forschungsgegenstände. Dass Humanwissen- schaften sich eben auf das soeben beschriebene handelnde Subjekt beziehen müssen und nicht auf ein völlig beobachtbares behavioristisches Objekt, ergibt sich mE aus dem Wunsch, kulturell bedingtes Verhalten etc zu erklären. Hermeneutik hat entweder eine bloß heuristische Funktion oder ist selbst eine Erkenntnisweise. Ersteres ist sicher der Fall, letzteres nur in ganz bestimmten Fällen. Es ist möglich, dass es sogar bei Dray zu einer Reduktion von Verstehen auf Beschrei- ben seitens der „dualistischen“ Hermeneutik kommt. Groeben erstrebt ein Erklären, das gleichzeitig Verstehen ist, eine verstehend-erklärende Psychologie. ME führt Beschrei- ben zu bloß oberflächlichem Verstehen und involviert schon eine allgemeine Begriff- lichkeit (durch die Verwendung von Termini wie Kunstwerk, Ausdruck, Sinn...) und damit auch primitive anthropologische Vorannahmen. Groeben betont zu Recht, dass eine gute Methodologie gegenstandsadäquat sein muss. Dabei muss man davon ausge-

41Norbert Groeben: Handeln, Tun, Verhalten als Einheiten einer verstehend-erklärenden Psychologie. Tübingen: Francke 1986, VI/VII und 1-6

60 hen, dass bekannt ist, was unter einer Handlung zu verstehen sei, dass sie etwa zweckra- tionales Verhalten ist. Dadurch wird die analytische Handlungstheorie zur Voraussetzung von verstehend- erklärender Psychologie, weil sie das aktuelle Menschenbild am besten zum Ausdruck bringt. Denn der Behaviorismus, der den Menschen eher unter dem Gesichtspunkt des Verhaltens als unter dem der Handlung betrachtet, vernachlässigt die kognitive Auto- nomie des Menschen, die aber bei Handlungen wie Forschen offensichtlich gegeben ist, lässt Bewusstsein zT überhaupt unberücksichtigt. Handeln als zielgerichtetes Verhalten, ausgehend vom Wissen, ist aber ein Begriff, ohne den sich das die Zukunft beachtende Wesen der menschlichen Intelligenz nicht verstehen lässt. Die Sinndimension gehört zur geisteswissenschaftlichen Erklärung und setzt Handlungsfähigkeit als Integration von Gefühl, Denken und Verhalten voraus. Stellt man sich ein vernunftbegabtes Wesen vor, postuliert man meist ein handlungsfähiges Subjekt. Andere Menschenbilder sind mE weniger brauchbar für geisteswissenschaftliche Erklärungen und widersprechen der Int- rospektion. Handlung ist ein Unterbegriff von Verhalten und wird vor allem als absichtlich charak- terisiert. Das impliziert Planung und Verantwortung. Verhalten muss mE interpretiert werden, um als Handlung erkennbar zu sein. Pläne wirken sich hingegen bei ihrer Aus- führung aus.42 Wissenschaftstheorie soll klären, wie Gegenstand und Methodik am besten aufeinander abgestimmt werden. Das vernunftbegabte, handlungsfähige Subjekt ist zunächst eine Vorstellung des alltäglichen Denkens. Das führt in den Geisteswissenschaften zur Be- schäftigung mit Handlungen und deren Folgen, wobei die Handlung als Emergenzphä- nomen aufs Verhalten bezogen ist wie die Biochemie auf die Chemie, jedoch wegen ihrer Sinndimension nicht auf letzteres reduzierbar ist. Handlungen sind für analytisch vorgehende Wissenschaftler hochkomplexe Einheiten. Dabei gibt es eben wegen der unvermeidlichen Komplexität laut Groeben einen fließen- den Übergang zwischen Beschreiben und Erklären, so dass Handlungen als bedeu- tungsvolles Tun kausal erklärbar sind. Bloß wird durch das Paradigma, gemäß dem es Ursachen gibt, die auch Gründe sind, die reduktionistisch-vereinheitlichende Wissen- schaftsauffassung gemildert. Hermeneutischer Zugang zum Tun und beobachtender Zu-

42aaO 13-15, 59-60, 62-63, 71-73

61 gang zum Verhalten können einander nicht nur in der Psychologie, sondern auch in al- len Geisteswissenschaften ergänzen. Ein humanistisches Menschenbild fordert das Ver- stehen als Erkenntnismethode und damit keinen Verzicht auf kausale Erklärungen, die vielmehr ein Gebot der Wissenschaftlichkeit sind. Freilich sind auch nachvollziehbare Verständnisleistungen von Empiristen als nicht wirklich nachprüfbar kritisiert worden. Doch gibt es mE offenbar Grenzen der Interpre- tationsmöglichkeiten, weil man aus Erfahrung weiß, dass nicht alle Deutungen zutreffen können. Schon daher ist der heuristische, hypothesengenerierende Wert sichergestellt, wenngleich ihr Geltungsanspruch begrenzt ist. Hermeneutische Erkenntnis ist dennoch möglich, wenn es sich um eindeutig als solches erkennbares Ausdrucksverhalten han- delt, wenn also wie bei Gesten eine „Einheit von Innen und Außen“ besteht. Dies ist nur legitim, wenn der Sinngehalt des Ausdrucksverhaltens selbst aus Erfahrung bekannt ist und keine bloße Projektion. Dies ist etwa bei sprachlichen Zeichen der Fall und schon aus begrifflichen Gründen offensichtlich, da es keine bedeutungslosen Zeichen geben kann. Da Erklären ein Hauptziel aller Wissenschaften ist, glaube ich, dass man der empiris- tisch-analytischen Denkströmung insoweit zustimmen muss, als auch die Sinndimensi- on einer Rückführung auf eventuelle verursachende Bedingungen bedarf. Groeben hin- gegen soll man sich anschließen, wenn er meint, das Verstehen der Forschung hilft, zielgerichtetes Handeln zu beschreiben.43 Der Übergang vom alltäglichen zum wissenschaftlichen Verstehen bringt mit sich, dass die Sprache der Menschen, die es zu verstehen gilt, in die Sprache der empirischen Wis- senschaft überführt wird. Dies kann vom Forscher im Sinne der monologischen Herme- neutik durchgeführt werden, ohne dass der Erforschte befragt wird. Dasselbe kann aber auch erreicht werden, wenn Forscher und Erforschte darüber im Sinne der dialogischen Hermeneutik kommunizieren. Die zweite Variante kann besonders gegenstandsange- messen sein und damit zu einer besseren Beobachtungssprache führen, wenn etwa Phi- losophiehistoriker mit einem Vertreter einer von ihnen erörterten Denkströmung disku- tieren. Ziel der Wissenschaften vom Menschen muss auch eine Erklärung dessen sein, was vom Individuum als Lebenswelt erfahren wird. Daher ist eine Bezugnahme auf die

43aaO 81, 83, 142-145

62 Intentionalität der Handelnden geboten, die mE zumindest teilweise durch Introspektion beobachtbar ist.44

2c) Bemerkungen über individualisierende Erklärungen Windelband und Rickert prägten bzw verwendeten die dichotomen wissenschaftstheore- tischen Fachausdrücke idiographisch und nomothetisch, um die Wissenschaften nach ihren Erkenntniszielen zu klassifizieren, mE ohne damit zu behaupten, es gebe mehrere zulässige Erklärungsformen. So wie nomothetische Disziplinen die Erkenntnis allge- meiner Naturgesetze erstreben, wenden sich idiographisch orientierte Forschungszweige singulären Ereignissen zu, weshalb sie Windelband selbst Ereigniswissenschaften nann- te. Die Kausalerklärung als ein wesentlicher Bestandteil der historischen Forschung wird durch die nun erörterten Denkanstöße der Neukantianer schon deshalb nicht in Frage gestellt, weil die Psychologie eine nomothetische Wissenschaft ist und neben Diszipli- nen wie der Ökonomie und Soziologie allgemeine Gesetze bereitstellt, die es dem His- toriker ermöglichen, aus ihnen und empirisch gegebenen Randbedingungen als dem Ex- planans ein Einzelereignis als Explanandum zu deduzieren. Windelband selbst glaubte nämlich, dass die idiographischen Wissenschaften immer wieder auf von den generali- sierenden Wissenschaften aufgestellte Gesetze zurückgreifen müssen, um korrekt zu erklären, so dass die Unterscheidung zwischen einer kausalen und einer verstehenden Methode nicht aus der Natur der Geschichtswissenschaft folgt. Geschichte als Kulturwissenschaft verfolgt laut Rickert das Erkenntnisinteresse, Einzig- artiges als besonders wertvoll und geschichtlich bedeutsam einzustufen. Diese Feststel- lung der historischen Wirksamkeit kann aber nicht völlig ohne Einsicht in Kausalzu- sammenhänge erfolgen, wie hier von uns betont werden muss. Doch auch, was nur ein- malig ist, muss bei dieser Untersuchung erkannt werden. Dies ist ein weiteres Argument für mein Anliegen, zwischen autonomer Hermeneutik und Einheitswissenschaft durch das Postulat zu vermitteln, dass die methodische Ein- heit von Geistes- und Naturwissenschaften nur darin besteht, dass auch kausale bzw. statistische Erklärungen zu jeder wissenschaftlichen Gesamtdarstellung gehören. Hand-

44aaO 123-125

63 lungstheoretische Zugänge zu Kultur und Gesellschaft sollten ausgehend von einer Ex- plikation des Handlungsbegriffs die Entwicklung eines spezifisch humanwissenschaftli- chen Erklärungsmodells ermöglichen können, welche die schädlichen Extreme von übertriebener Individualisierung oder Generalisierung vermeidet.45 Rickerts Hauptziel beim Verfassen seiner um 1900 erschienenen Methodenschrift war doch das Aufzeigen der Folgen der begrenzten Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Begriffe für geisteswissenschaftliches Arbeiten. Dieses geht zwar von Tatsachen wie dem Quellenmaterial aus, bleibt aber nicht bei ihnen stehen. Rickert glaubte, die Geschichtswissenschaft sei sowohl durch ihren Forschungsgegen- stand als auch durch ihre Begrifflichkeit gekennzeichnet. Er ging von der intuitiv nahe- liegenden Annahme aus, dass der Einfluss des Seelenlebens auf die Kultur für die her- meneutische Methode und eine individualisierende Begrifflichkeit spreche. Der damit aufgezeigte logische Unterschied zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Begrif- fen ist aber m E gewiss kleiner, als er scheint. Stegmüller konnte nämlich zeigen, dass Historiker Individuen wie Napoleon nicht nur als singulär, sondern auch als Menschen, Politiker, Gläubigen usw auffassen. Ein Historiker interessiert sich laut Rickert für das psychologische Subjekt, das auf bio- logischen Phänomenen beruht, sie aber emergent transzendiert. Dass er die Psychologie aufgrund ihrer Methoden trotz ihres auf den Menschen bezoge- nen Inhalts eindeutig als eine nomothetisch-naturwissenschaftliche Disziplin ansieht, spricht nicht gegen die Anwendung des Hempel-Oppenheim-Schemas auf alle Geistes- wissenschaften. Nach Rickert ist für die historische Forschungssituation charakteris- tisch, dass sie sich nicht verallgemeinern lässt. Trotzdem räumt er ein, dass dem Beson- deren im Kontext eines einzigartigen, nicht identischen Vorgangs auch allgemeine Ei- genschaften zugeschrieben werden. Sein Beispiel dafür ist die Erklärung des seltsamen Verhaltens Neros durch den allgemeinen Begriff Cäsarenwahn. Mir scheint, dass sich Geisteswissenschaftler natürlich mit historischen Individuen beschäftigen, deren Ver- halten aber trotzdem meist kausal zu erklären versuchen. Historische Begriffe können

45M. Schmid (1980): Idiographisch/nomothetisch. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoreti- scher Begriffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 292 – 294

64 kaum individuell sein, obwohl dies die neukantianische Methodenlehre zu postulieren scheint, weil nur individuelle Begriffe wenig aussagen.46 ME verknüpfen viele historische Begriffe allgemeine Wortbedeutungen wie „Staat“ mit genaueren Charakterisierungen, welche die Eigenart eines kulturellen Zusammenhangs ausdrücken. Anders ausgedrückt, benützt die geisteswissenschaftliche Erklärung das Allgemeine zu einer Schilderung des Besonderen, die nicht auf der Ebene des durch unmittelbare Anschauung Gegebenen stehenbleibt. Dabei würden sowohl sehr allge- meine als auch sehr individualisierende Begriffe versagen. Die Geisteswissenschaften setzen dabei, auch wenn sie nur beschreiben, ein triviales Kausalitätsprinzip voraus, demzufolge ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen haben müssen. Wäre diese nicht der Fall, wäre die Beschreibung des Singulären als eines Son- derfalls des Allgemeinen, nicht in dem Ausmaß möglich, wie sie in den idiographischen Wissenschaften tatsächlich glaubhaft durchgeführt wird. Eine derartige allgemeine, mE apriorische Kausalannahme ist die durch die hermeneutische Methode implizit postu- lierte Determination der menschlichen Handlungen durch die Regungen des Seelenle- bens. Die Zwecksetzung des Individuums ist nämlich eine kausale Bestimmung des menschlichen Verhaltens durch die Vernunft und die mit ihr zusammenhängende Ent- scheidungsfreiheit des Einzelnen. Ohne Zweckbezug kann man soziokulturelle Phäno- mene nicht als Ausdruck einer subjektiven, sozial beeinflussten Bedeutung auffassen. Diese Form der Kausalität ermöglicht die Bestätigung der These der analytischen Philo- sophie, geistes- und naturwissenschaftliche Erklärungen hätten dieselbe Struktur und logische Form. Diesbezüglich besteht allerdings ein Problem, auf das ua Thomas Mulvany Seebohm (daneben auch Bertrand Russell) aufmerksam gemacht haben: Es ist meist logisch mög- lich, dass die Vergangenheit nicht so der Fall war, wie darüber berichtet wird. Manch- mal ist allerdings eventuell wegen eindeutig nachweisbarer Spuren des vergangenen Geschehens die Möglichkeit einer anderen Interpretation ausgeschlossen. Dennoch ist es meistens notwendig, sich mit einer probabilistischen Erklärung zu begnügen, inso- weit es mehrere denkbare Ursachen gibt, die an der Auslösung eines bestimmten Ereig- nisses mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit beteiligt waren. Bloße Tatsachenberich-

46Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Tübingen: J. C. B. Mohr 1929, VII-VIII, 2, 277-279, 284-286, 289-292, 298, 303-306, 339, 557-558.

65 te sind ein Grenzfall des geisteswissenschaftlichen Arbeitens, bei denen uU darauf hin- gewiesen werden soll, dass die statistischen Korrelationen zwischen Ereignissen, die der zu erklärenden Veränderung ähneln, und Bedingungen, die an ihre Umstände erinnern, sehr niedrig sind oder der Zusammenhang der kausal relevanten Faktoren sehr komplex bzw unzureichend bekannt ist. Dieses Problem kann man auch so verstehen, dass die sorgfältige Beschäftigung mit den historischen Tatsachen zur Identifikation vieler Bedingungen eines zu erklärenden Er- eignisses führt. Es ist jedoch sehr problematisch, wenn man, davon ausgehend, auf in- duktivem Wege zu allgemeinen Sätzen vorzudringen versucht. Sogar wenn sich der ge- naue Hergang der Verursachung nachweisen lässt, kann von einer Wiederholbarkeit des erklärten Ereignisses keine Rede sein, wenn wie in den Geisteswissenschaften gewöhn- lich die Deduktion aus probabilistischen Gesetzen angewandt wurde. Dh aus singulären Zusammenhängen lassen sich zwar allgemeine abstrahieren, die aber nur mit einer be- grenzten, meist niedrigen Wahrscheinlichkeit auch in anderen humanwissenschaftlichen Kontexten vorliegen. ZB sind bestimmte Bedingungen nur im Rahmen einer politischen Kultur wie der des fränkischen Mittelalters eine Kriegsursache, während nur wenige Aussagen aus dieser Kultur für den Krieg als einen solchen gelten. Intersubjektiv zugängliches Quellenmaterial muss möglichst objektiv und vorurteilslos ausgewertet werden (vgl Kapitel Hermeneutik). Das allein ermöglicht nicht nur zuver- lässige Aussagen über den Zeitpunkt, sondern auch über eventuell vorhandene kausal relevante Faktoren sowie die Falsifikation von humanwissenschaftlichen Verallgemei- nerungen. Allerdings setzt auch diese Falsifikation allgemeiner Gesetze durch besonde- re Sachverhalte generelle Begriffe und Bezeichnungen voraus. Nur so kann man sagen, ob sich das betreffende Gesetz auf diesen Einzelfall bezieht oder nicht. Ja aus solchen Kausalerklärungen lassen sich sogar manche allgemeine Ratschläge für ähnliche sozio- kulturelle Situationen ableiten.47 Obwohl sich alle Gesetze, die für Kausalerklärungen notwendig sind, auf eine Klasse von gleichartigen Fällen beziehen, ist vor einer Vernachlässigung des Einzigartigen zu warnen. Eine eher generalisierende im Gegensatz zu einer eher individualisierenden Schwerpunktsetzung kann indeterminierte Zufalls- und Entscheidungsphänomene über-

47Günther Posch: Kausalität. Stuttgart: Reclam 1981, 13-15, 157-161, 260-262, 268-269, 271-274, 289, 296

66 sehen. Als Reaktion auf diese Schwierigkeit beziehen sich humanwissenschaftliche Einzelfallerklärungen im Idealfall auf kausale Möglichkeiten, von denen man wegen Faktenkenntnis weiß, dass nur eine verwirklicht wurde. Die historischen Humanwissen- schaften sind dennoch, wie Jean Piaget feststellte, der diachrone (dh auf die geschicht- liche Entwicklung bezogene) Aspekt der nomothetischen Wissenschaften vom Menschen. Dieser Gelehrte machte auch auf die Notwendigkeit der Strukturierung des Datenmate- rials durch den Forscher aufmerksam, die, wie mir scheint, in Geisteswissenschaften wie der Literaturwissenschaft ua durch die wohlbegründete Annahme eines Bezie- hungsgeflechts aus Interaktionen erfolgen kann. Die Kindheit eines Autors und damit letzten Endes die soziokulturelle Totalität können Aspekte seines Werks prägen und damit eine Antecedensbedingungen einer Erklärung nach dem Hempel-Oppenheim-Schema sein. Die Entstehung dieser soziokulturellen und nicht universellen Struktur, die bestimmte Formen der literarischen Kommunikation wahrscheinlich macht, ist außerdem selbst Gegenstand der geistes- und strukturge- schichtlichen Kausalerklärung. Dieses von mir gewählte literaturwissenschaftliche Beispiel zeigt, dass man bei geis- teswissenschaftlichen Erklärungen ohne fächerübergreifendes Arbeiten kaum auskommt und dass beobachtete Gesetzmäßigkeiten meist auf nomothetische Sozialwissenschaften verweisen, seltener mE auf einen Sonderfall, die Dispositionseigenschaften dynami- scher Systeme.48

2d) Handlungstheorie und Hermeneutik als paradigmenbildende Theorien geis- teswissenschaftlicher Erklärung Jede praktische Philosophie und jede humanwissenschaftliche Erklärung sollte über eine Handlungstheorie verfügen, da sie sich ua auch auf Handlungen beziehen. Es ist daher verständlich, dass die philosophische Handlungstheorie im Rahmen der analytischen Philosophie als Folge von Diskussionen über Ethik und die Philosophie der Geschichte und Sozialwissenschaft entstanden ist. Philosophische Handlungstheorie ist keine empi- rische Wissenschaft, klärt aber durch begriffliche Analysen die Möglichkeiten und

48Jean Piaget: Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt am Main: Ullstein 1972, 7-9, 13-19, 39, 46, 49, 100.

67 Grenzen der Beschreibung und Erklärung von menschlichen Handlungen, die einen zielgerichteten Charakter haben. Sie gilt nicht für andere Verhaltensformen wie ins- tinktgesteuertes und reflexartiges Verhalten. Für eine kausale Erklärung in der Geschichtswissenschaft ist es unverzichtbar, von einer kausalen Interpretation der Handlungsintention auszugehen. Dabei wird die ausgeführte Handlung das Explanandum und die Handlungsgründe das Explanans der deduktiv- nomologischen Erklärung von historisch bedeutsamen Entscheidungen bzw. Taten von Individuen. Diese Art der Erklärung ist dem kausalen Mechanismus der menschlichen Kulturtätigkeit am angemessensten, weil nur sie die schöpferische Rolle der praktischen Vernunft berücksichtigt, denn sie beschreibt menschliche Tätigkeit nicht bloß äußerlich als komplexes Verhalten, sondern sie erklärt sie unter Rückgriff auf nachweisbare oder doch plausible Zweck-Mittel-Relationen kausal. Diese handlungstheoretische Position heißt Kausalismus und wurde auch von Hempel vertreten. Sie rechtfertigt einen eklekti- schen Zugang zur humanwissenschaftlichen Erklärung, der sich einer hermeneutischen Heuristik bedient. Weniger überzeugend sind die handlungstheoretischen Positionen des Intentionalismus (Erklärung der Handlung durch den praktischen Syllogismus und eine logisch- begriffliche Verbindung zwischen Absicht und Tat) und des Personalismus (Erklärung der Handlung durch eine eigene personale Kausalität als Wirkung der handelnden Sub- stanz), weil sie den Zusammenhang zwischen Tat und Tatmotiv mystifizieren könnten. Obwohl letzten Endes nur Ereignisse (bzw die Ausübung von Kräften) und nicht Sub- stanzen Ereignisse hervorrufen können, lenken diese handlungstheoretischen Diskussi- onen unsere Aufmerksamkeit auf die freie Entscheidung als ein emergentes Phänomen des sich selbst organisierenden Systems des menschlichen Organismus. Handlungstheo- rie deckt also Sinn und Funktion von menschlichen Tätigkeiten auf, womit sie eine der Grundlagen jeder geisteswissenschaftlichen Erklärung wird.49 Hermeneutik war und ist als Deutungslehre und Methodologie für die Geisteswissen- schaften definiert. Daneben kann dieses Wort auch eine philosophische Schule bezeich- nen, aber im Zusammenhang dieser Arbeit bedeutet Hermeneutik das Auffinden von nur psychologisch erklärbaren Handlungsgründen. Das Auffinden solcher Handlungs-

49Johann Marek (1980): Handlungstheorie. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 270-271

68 gründe ist auch ein Anliegen von Wrights bei seiner wissenschaftstheoretischen These, der praktische Syllogismus schließe eine Erklärungslücke in den Geisteswissenschaften. Dilthey bestimmte das Verstehen, das eigentliche Ziel jeder hermeneutischen Bemü- hung, als den Vorgang, durch welchen wir ein Wissen über das Psychische erlangen, das sich in bestimmten uns zugänglichen Zeichen geäußert hat. Dies bedeutet für eine aktuelle Wissenschaftstheorie, dass die Entschlüsselung der konventionellen Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem als hermeneutische Erklärung bei der Beschrei- bung kausaler Zusammenhänge, in denen menschliche Zwecksetzung ebenfalls eine Rolle spielt, hilft. Und es ist gewiss, dass nur diese ohne Bezug auf menschliche Zwe- cke und Vorstellungen nicht adäquat erfassbaren Kausalzusammenhänge der Gegen- stand der geisteswissenschaftlichen Erklärung von Singulärem im Lichte des allgemein Menschlichen sind. Ein Explanans, das Tatsachen des gesellschaftlichen oder kulturellen Lebens einer un- tergegangenen Kultur ohne Bezug auf das menschliche Innenleben darstellt, wäre Scharlatanerie, da jeder Mensch wünscht, fühlt und denkt und deshalb so oder so han- delt. Allerdings ist es Aufgabe der hermeneutischen Erklärung, nicht auf der Ebene ei- ner bloß subjektiven Deutung zu verharren. Dilthey meinte zu Recht, dass diese Aufgabe durch die Anwendung allgemeiner Geset- ze der systematischen Wissenschaften auf im Prinzip unwiederholbares menschliches Verhalten, durch geschickte Vergleiche mit ähnlichen Fällen und Induktionsschlüsse lösbar sei. Verwendet man bei der Deutung von Lebensäußerungen Analogien, ist zu verlangen, dass sie etwas Wesentliches dieser Lebensäußerungen beschreiben, um eine brauchbare Hypothese zu gewinnen. Geisteswissenschaftliche Erklärungen gehen oft von der hermeneutischen Einsicht aus, dass bestimmte Verhaltensweisen meistens symbolisch eine Absicht bezeichnen, etwa die Handlung, den Hut zu ziehen, einen Gruß, zumindest zur Zeit Diltheys. Dadurch las- sen sich Einzelereignisse unter der Voraussetzung der Konventionen einer bestimmten Kultur kausal erklären. Man spricht in der Fachliteratur (zB John Searle) von geistes- wissenschaftlichen Deutungsschemata, die den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßig- keiten insofern analog sind, als sie es erlauben ein Explanandum aus einer Aussage über regelmäßiges Ausdrucksverhalten und einer Randbedingung herzuleiten. Der Aus- drucksaspekt des sozialen und kulturellen Lebens ist nämlich eine Tatsache und kann

69 nur mit verstehenden Methoden ähnlich dem eben beschriebenen Syllogismus erklärt werden, so dass Einfühlung heuristisch nützlich ist, wie wir hier schon behauptet haben. Hermeneutik überschneidet sich mit Handlungstheorie insoweit, als eine Handlung ver- stehen bedeutet, zu wissen oder zu vermuten, welche Gründe den Handelnden zu ihr motiviert haben. Es ist offensichtlich, dass sich Personen in bestimmten Situationen so verhalten, wie es ihnen aufgrund der von ihnen als bewährt akzeptierten Verhaltensre- geln ratsam erscheint (Beispiele: Grüßen von Vorgesetzten, Blutrache, Ehrenkodex, Ge- setzestreue...). Authentische Quellen ermöglichen es, diese Überzeugungen über ratsames Verhalten, wie bestimmte Pflichtvorstellungen, zu rekonstruieren. Diesen Kausalzusammenhang schildert Dray in seiner Theorie der rationalen Erklärung. Handlungsgründe machen das Auftreten einer bestimmten Handlung wahrscheinlich, weil ein mit den eigenen Prinzi- pien inkonsistentes Verhalten doch von Dummheit oder Wahnsinn zeugt. Um Hand- lungserklärungen deduktiv folgerichtig zu machen, benötigt man daher zusätzliche Prämissen über die Prinzipientreue des Handelnden. Von Wright hält den praktischen Syllogismus für die Methode der geisteswissenschaft- lichen teleologischen Erklärung, die eine Alternative zur naturwissenschaftlichen Er- kenntnis darstellt. Aussagen über Zielsetzungen und Überzeugungen sind die Prämissen des praktischen Syllogismus, eine Handlungsbeschreibung seine Konklusion. Dass es für den Handelnden ratsam wäre, entweder die beschriebene Handlung auszuführen o- der eine seiner Einstellungen oder Überzeugungen zu ändern, liegt auf der Hand. Die Konklusion folgt zwar nicht logisch aus den Prämissen, weil diese kein allgemein gülti- ges Gesetz enthalten, aber sie ergibt sich als das im gegebenen Kontext sinnvollste und verständlichste, wenn die Prämissen zutreffend sind. Der praktische Syllogismus ist also ein folgerichtiges Rechtfertigungsschema, wenn auch keine vollwertige Kausalerklä- rung. Er lässt sich zusammen mit klassisch deduktiv-nomologischen Erklärungen ver- wenden. Die Rekonstruktion des Innenlebens der Handelnden gehört zu den Aufgaben von Geis- teswissenschaftlern wie Historikern und muss teilweise hypothetisch bleiben. Daher ist die Hermeneutik, da sie die Prämissen des praktischen Syllogismus liefert, eine zeitlose Methode, die aufgrund der generell ähnlichen Motivstruktur von Menschen Wahr- scheinlichkeitsschlüsse über Handlungsgründe bestimmter Personen ermöglicht. Diese

70 Handlungsgründe können selbst Ursachen haben, auf bloßen Vorurteilen oder neuroti- schen Sublimationen beruhen, wobei Überzeugungen trivialerweise Einflüssen wie dem Zeitgeist unterliegen und die Zwecksetzung zwar nicht absolut determiniert, aber doch durch Vorbildwirkungen etc beeinflusst wird. Der so genannte hermeneutische Zirkel ist kein logischer Zirkel, sondern die bloße Konstatierung theoretischer Vorannahmen, mit denen jede Wissenschaft behaftet ist, wobei sich die Kernannahmen der Hermeneutik und des praktischen Syllogismus mE aus dem Wesen des Menschen als eines vernunftbegabten, Zwecke verfolgenden Lebe- wesens logisch ableiten lassen.50

2e) Spezielle Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften Die Wissenschaftstheorie der Geschichte stellt seit ihren Anfängen mit Johann Gustav Droysens Historik ein Verständnisziel der historischen Forschung als ihr Grundpostulat fest. Aber Verstehen kann für sie nicht nur Einfühlen in die Handlungsabsichten, son- dern auch Begreifen von Aus- und Wechselwirkungen und Erkennen besonderer Bedeu- tung für Entwicklungen bedeuten (Der Bezug auf Wirkungszusammenhänge scheint bei Dilthey angedeutet zu sein). Aus diesem Grund ist eine völlige Abgrenzung der Ge- schichtswissenschaft von den theoretischen Sozialwissenschaften nicht zweckmäßig (Reinhold Bichler, 254). Die Beschreibung des Besonderen als typisch für eine Epoche ist nämlich ohne die Anwendung allgemeiner und zT theoriegeladener Begriffe, wie in dieser Arbeit wiederholt festgestellt, unmöglich. Hempel ist zwar zuzustimmen, dass historische Erklärungen auf allgemeine Gesetze zu- rückgreifen, aber es handelt sich mE in der Regel bloß um generelle Dispositionssausa- gen, die zudem an Binsenweisheiten erinnern, wenn sie etwa einen Brauch durch die prinzipiellen Variationsmöglichkeiten des Totemismus erklärt. Meiner Ansicht nach liegt die Wahrheit über geschichtswissenschaftliche Erklärungen in der Mitte zwischen der hermeneutischen und der einheitswissenschaftlichen Erklärungsauffassung, schon weil die Erklärungen spezieller Hypothesen anhand allgemeiner Gesichtspunkte über- prüfbar sein müssen.

50A. Kulenkampff (1980): Hermeneutik. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begrif- fe. Band 2 (G-Q). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 271–281

71 Motiviertes Handeln als ein zentraler Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist jedoch als individuell mE offensichtlich einer strengen Verallgemeinerung nicht zugänglich, obwohl es nicht isoliert von Begleitumständen vorstellbar ist (Bichler, 255). Darauf ma- chen neoidiographische Autoren zu Recht aufmerksam, indem sie Wert auf den prakti- schen Syllogismus oder erklärende Erzählstrukturen legen. Bei letzteren handelt es sich um bloß erzählende und beschreibende wahre Geschichten, die der psychologischen Charakterisierung der Figuren eines realistischen Romans ähneln und sich etwa auf all- tägliche Zusammenhänge beziehen. Dieser Primat des Handlungszusammenhangs für die Wissenschaftstheorie der Ge- schichte wurde etwa von vertreten, aber man soll ihn, um bloße Erklä- rungsskizzen zu vermeiden, in der Forschungspraxis durch eine Bezugnahme auf sozio- kulturelle Regelmäßigkeiten und Einflüsse auf die Absichten von Einzelnen ergänzen (aaO). Der Handlungszusammenhang und der freie Wille der Handelnden sind mE Va- riationen des allgemein Menschlichen und Kausalfaktoren, die im Explanans einer his- torischen Erklärung nicht fehlen sollen. Erzählungen in Chroniken enthalten, wie ich nachweisen kann, neben bloß beschreibenden Passagen nämlich auch Erklärungen über erwiesene oder vermutete Handlungsgründe und Ursachen von Ereignissen, zT auch einfache Theorien. Dies lässt sich meiner Ansicht nach zu einer interdisziplinären sozi- alwissenschaftlichen Erklärung mit Retrodiktionen ausbauen. Natürlich wurde zuweilen auch vorgeschlagen, einen Paradigmenwechsel von der eher chronistischen Geschichtswissenschaft zur historischen Sozialwissenschaft zu veranlas- sen (aaO). Dies ist aber utopisch, weil der strukturalistische Zugang nicht die Dynamik sozialer Systeme, den Wandel ihrer Strukturen oder mE bestimmte Einzelereignisse vollwertig erklären kann (aaO). Eine dispositionell-statistische Erklärung schwebt mir als Lösung für die Erklärung von Einzelereignissen vor, um auch eher narrative For- schungsergebnisse mit Theorien zu verknüpfen, ohne die Erklärungskraft der natürlich verdienstvollen Erklärungen sozialer Entwicklungen durch spekulative Verallgemeine- rungen überzustrapazieren. Was sozialwissenschaftliche Strukturgesetze angeht, gelten mE nur wenige von ihnen in allen Gesellschaften. Schon aus diesem Grund lassen sich Regelmäßigkeiten der historischen Entwicklung nur ausnahmsweise durch soziologische, sozialpsychologische etc Analysen für alle Ge-

72 sellschaften feststellen. Möglichkeiten des menschlichen Handelns lassen sich immerhin als Entwicklungsgesetze darstellen, obwohl Entwicklungsgesetze, die einen absoluten Determinismus behaupten, wichtige Wirkkräfte wie die menschliche Willensfreiheit und Lernfähigkeit sowie die Möglichkeit von Zufällen infolge des Zusammenspiels komplexer Faktoren übersehen würden (vgl Bichler, 256). Man muss sich Popper anschließen, wenn er den Historizismus als widerlegt ansieht, weil dieser zukünftige Entwicklungen zu erklären behauptet, indem er zukünftige Er- eignisse durch Faktoren erklärt, die offensichtlich durch unbekannte Faktoren wie irra- tionale menschliche Entscheidungen mitbestimmt sind. Aus diesem Grund sind mE auch rein fatalistisch anmutende Entwicklungsgesetze zu verwerfen. Das schließt je- doch nicht aus, dass im Einzelfall die Dynamik sozialer Prozesse empirisch prüfbar und somit wissenschaftlich darstellbar ist, obwohl sich das Ausmaß der Wirksamkeit eines Kausalfaktors bei der Hervorrufung rivalisierender gesellschaftlicher Trends nur schwer bestimmen lässt (vgl aaO). Untersuchungen über den Einfluss des Milieus und der öko- nomischen Umstände können zB zur Erklärung einzigartiger Umstände dennoch beitra- gen und ua zu statistisch-dispositionellen Erklärungen führen (vgl aaO). Ein weiteres klassisches Problem der Wissenschaftstheorie der Geschichte ist die Standortgebundenheit der historischen Darstellung und Erklärung (Bichler, 257). In die- ser Hochschulschrift wurde schon im Kapitel über die Implikationen der Wissen- schaftsphilosophie auf die große Rolle theoretischer Vorannahmen für die historische Erklärung hingewiesen, weil die Auswahl der als relevant erachteten Daten theoriegelei- tet ist und Interpretationen bzw Hypothesen die Folge der Orientierung an einem sozi- alwissenschaftlichen Paradigma wie der Hermeneutik. Dieser Einfluss der Theorie auf die Forschung schließt jedoch nicht aus, dass Explanans und Explanandum empirisch prüfbar sind und also als wahr oder falsch erwiesen werden können. Ich führe eine fal- sche Schilderung des historischen Geschehens und den Gegenbeweis durch Urkunden als Beispiel für diese Forschungssituation an. Obwohl es eine geistige Leistung ist, fremde Kulturen nicht nur aus unserer Perspektive zu betrachten, ist es möglich transkulturell Kategorien anzuwenden sowie Handlungen und Ereignisse als Möglichkeiten unter bestimmten Bedingungen intersubjektiv kausal zu erklären (vgl aaO).

73 Die empirische und apriorische Erkenntnis von Entwicklungsmöglichkeiten und Sinn- horizonten resultiert aber nicht in einer metaphysischen Gesamtdeutung der Weltge- schichte.51 Die Geschichte beschreibt als Wissenschaft mE dennoch nur weniges systematisch, be- zieht sich auf Einmaliges und erklärt dieses unter Bezugnahme auf die Strukturgesetze anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen, etwa der Kulturanthropologie als der Wissenschaft vom Menschen als Kulturwesen, die typische menschliche Verhaltens- möglichkeiten durch Kulturvergleich ermittelt. Kulturvergleich ist aber als Nachvollzug fremder Gebräuche ein nicht nur zufälligerweise, sondern seinem Wesen nach herme- neutisches Unterfangen, egal ob es sich Geschichtswissenschaft oder anders nennt. Da- bei sind einzigartige soziokulturelle Gebilde zu klassifizieren, von anderen Kulturen abzugrenzen und in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Nicht nur in der Ge- schichte, sondern in allen Sozialwissenschaften ergänzen sich die Beschreibung von In- dividuellen und die abstrahierende Erklärung von Zusammenhängen. Korrelationsstatis- tiken über mögliche Ursachen sozialer Ereignisse (nicht über bloß Zufälliges) können beispielsweise induktiv-statistische Erklärungen ermöglichen (vgl Justin Stagl, 361). In jedem sozialwissenschaftlichen Explanans kann auch auf die einheitliche psychobio- logische Natur des Menschen und durch sie bedingte Bedürfnisse als eine Ursache eines Phänomens Bezug genommen werden, obwohl sich der Mensch als Kulturwesen durch eine ziemlich große Wandelbarkeit seines Verhaltens auszeichnet (aaO). Bereits die Hermeneutik arbeitet mit Erklärungen ähnlich denen, die wir in der Psychologie finden. Die Frage nach der Natur des Menschen ist aber interdisziplinär und geht in die Psycho- logie und die Naturwissenschaften über.52 Mein Standpunkt zur geisteswissenschaftlichen Thematisierung der Künste ist folgen- der: Die Geschichtswissenschaft befasst sich teilweise auch mit den Künsten, wobei sie kunstwissenschaftliche Beschreibungen oder Formanalysen übernimmt, um die Ge- samtkultur zu erklären. In einer kunstgeschichtlichen Erklärung könnte als Argument vorkommen (Beispiel von mir), ein Dichter habe ein bestimmtes Versmaß verwendet, um seinem Publikum mit dem Sprachklang Freude zu bereiten. Diese Erklärung könnte

51Vgl R. Bichler (1980): Geschichtswissenschaft, Wissenschaftstheoretische Probleme der. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 254–258 52Vgl J. Stagl, (1980): Kulturanthropologie und Ethnologie. In: Josef Speck: Handbuch wissenschafts- theoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 358–363

74 sich zu einer deduktiv-nomologischen Erklärung mit trivialen Allaussagen als Prämisse umformulieren lassen. Die Rezeption von Kunst und der Kontext ihrer Entstehung las- sen sich teilweise durch psychologische oder ethnographische Prämissen kausal erklä- ren, was bis jetzt zT unter dem Einfluss kunsthistorischer Paradigmata geschehen ist, welche auch die Sprache der Kunstgeschichte prägen. Die Erklärung eines kunstge- schichtlichen Phänomens kann auf allgemeine symboltheoretische Gesetze als Hilfsmit- tel zurückgreifen, etwa auf die Eigenschaften von in erster Linie nachahmender oder allegorischer Kunst.53 In der Literaturwissenschaft haben sich zur Erklärung der konkreten literarischen Form und Wirkung mathematisch-statistische Modelle zB über die Häufigkeit bestimmter Worte, Motive und Buchstaben oder die Satzlänge bewährt, aber auch die Psyche des Dichters und die Massenkommunikation können zur Erklärung literarischer Phänomene herangezogen werden, für welche es bereits seit langem nachrichtentheoretische Model- le gibt (Wolfram Köck 372). Diese Kausalzusammenhänge präsentieren literarische Werke als Symptome gesellschaftlicher Trends, biographischer Krisen und kultureller Gewohnheiten (aaO). Geisteswissenschaftliche Erklärungen wenden regelmäßig sozi- alwissenschaftliche Erkenntnisse an. Bedingungen für die Entstehung literarischer Wer- ke lassen sich wie für das Auftreten politischer Ereignisse nicht verallgemeinernd ange- ben, so dass derartige Erklärungen nur für bestimmte Kulturen zutreffen (vgl aaO 375). Die Erklärung des Erfolgs etwa der europäischen Romantik des 19. Jahrhunderts (Ex- planandum) sollte mE die ästhetische und die semiotische Funktion der literarischen Werke ebenso berücksichtigen wie den historischen Kontext (Explanans), weil nur die- ser interdisziplinäre Zugang der literarischen und historischen Realität der Romantik adäquat ist.54 Geschichtswissenschaftliche Erklärungen beziehen sich mE öfter als auf kunstwissen- schaftliche Fragen auf politikwissenschaftliche, da es zur Erklärung historischer Phä- nomene wie der Entstehung eines Großreichs allgemeiner Gesetzesaussagen über die Entstehung und Ausübung von staatlicher Macht und Führungsstrukturen bedarf (vgl

53Vgl G. Otto (1980): Kunstwissenschaft, Wissenschaftstheoretische Probleme der. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 363– 367 54W. Köck (1980): Literaturwissenschaft, Wissenschaftstheoretische Probleme der. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 372– 377

75 Hans Kammler 487). Auch politikwissenschaftliche Forschung lässt sich mit hermeneu- tischer Methode betreiben (aaO), etwa wenn es um die Bedingungen von Gehorsam in einer autoritären Gesellschaft geht (Beispiel von mir). Zur Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaft gehört die Aufgabe, schwammige Begriffe (zB Unterdrückung) politologischer Publikationen zu definieren bzw zu expli- zieren (vgl aaO 488). Politikwissenschaft unterscheidet sich von Geschichte dadurch, dass sie allgemein nach den Bedingungen von Institutionen fragt, während Geschichts- wissenschaft sich gewöhnlich eher auf Einzelobjekte als auf Klassen von Objekten be- zieht; politikwissenschaftliche Gesetze sind eher allgemein, vage und schwer zu falsifi- zieren, so dass man sich wie in der historischen Forschung wiederholt mit Quasigeset- zen begnügen muss, welche nur in einem bestimmten Kulturkreis gelten (aaO 488-489). Das liegt, wie Hans Kammler erkennt, an der Lernfähigkeit sozialer Systeme. Außer- dem gibt es laut ihm für Phänomene wie Kriege eine Vielzahl denkbarer Ursachen, wel- che einander ersetzen bzw beeinflussen können. Und selbst die abstraktesten gesell- schaftstheoretischen Überlegungen gelten meiner Auffassung nach eigentlich für die Spezies Mensch, wodurch sie weniger allgemein sind als physikalische Gesetze. Nicht nur in der politischen Geschichte, sondern auch in der Politikwissenschaft stößt die Anwendung des H-O-Schemas angesichts des Mangels an empirisch bestätigten allge- meinen Gesetzen rasch an seine Grenzen (aaO 489). Konkrete Machtwechsel (Explana- ndum) lassen sich regelmäßig nur durch Quasigesetze (siehe oben) nachvollziehen und auch andere Explananda wie Trends der Präferenz für eine politische Partei (Beispiel von mir) können nur statistisch-induktiv erklärt werden, nicht aber deduktiv unter Aus- schluss der Möglichkeit von Ausnahmen (vgl aaO 489-490). Politikwissenschaftliche Prognosen scheitern oft an der schon erwähnten Lernfähigkeit aller menschlichen Sozialsysteme. Historische Prognosen sind daher nur unter genaues- ter Angabe der Bedingungen über Kenntnisstand der Handelnden usw möglich, wobei auch die Phänomene der self-fulfilling bzw self-destroying Prophecy, also der Reaktion der historischen Akteure auf eine bestimmte Prognose zu berücksichtigen sind (vgl aaO 490).55

55H. Kammler (1980): Politikwissenschaft, Wissenschaftstheoretische Probleme der. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 2 (G-Q). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 487– 490

76 Grundsätzlich lassen sich ein szientistisches und ein humanistisches Paradigma der So- zialwissenschaften unterscheiden. Ersteres verwendet historische und idiographische Forschungen als bloße Hilfsmittel, während letzteres nomothetische und systematische Methoden zur Nebensache erklärt. Szientistische Sozialwissenschaftler richten den Schwerpunkt ihres Interesses auf das Verhalten von Individuen und Gruppen, was zB auch mit Methoden der archäologischen Rekonstruktion (Beispiel von mir) möglich ist. Das könnte jedoch zu falschen Prämissen der Erklärung und zu Missverständnissen füh- ren, da ein und dasselbe Verhalten von unterschiedlichen Motiven bestimmt sein kann, wie die Vertreter der humanistischen Sozialwissenschaften zu Recht eingewandt haben (Kammler 582-584). ZB lässt sich die Tötung eines Menschen als Unfall, als Totschlag oder als Lustmord auffassen, was in einer Erklärung dieses Ereignisses aber zu berück- sichtigen ist (Beispiel von mir). Auch nicht exakt messbare Größen müssen berücksichtigt werden, denn sie tragen zu einer möglichst genauen Feststellung des Bedingungsgeflechts eines Vorgangs nach dem Vorbild der Naturwissenschaften bei (vgl aaO 584). Natürlich ordnet die sozialwis- senschaftliche Erklärung eine Einzelerscheinung in ein durch Gesetzmäßigkeiten be- stimmtes System ein, wenn sie überhaupt erklärt und nicht bloß beschreibt. Eine derar- tige wissenschaftliche Erklärung ist von der Erklärung einer Handlung im Sinne der Be- zugnahme auf psychologisch verständliche Motive für sie zu unterscheiden. Aber in den Wissenschaften vom Menschen kommt es auf die Motive von Handelnden an, wobei allerdings das Problem besteht, dass ein rein subjektives Verständnis einer Handlung nicht auf der Kenntnis von psychologischen Gesetzmäßigkeiten beruht und daher illuso- risch ist (vgl aaO 585). Dennoch ist die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, von großer heuristischer Bedeutung und trägt zum Generieren erklärender Vermutungen bei (aaO). Die Hypothesen selbst müssen apriorischen und empirischen bewährten Geset- zen der Psychologie entsprechen, damit man sich auf sie hinreichend verlassen kann. Durch psychologische oder soziologische Gesetze im Explanans lassen sich sowohl raum-zeitlich beschränkte Regelmäßigkeiten als auch Einzelereignisse als der jeweilige Inhalt des Explanandums ableiten (aaO). In den Sozialwissenschaften, vor allem in der Geschichte, wird oft eine Tatsache mit einer anderen Tatsache erklärt, wobei die beiden Tatsachen entweder durch gar keine Gesetzmäßigkeit oder durch Sätze des Alltagswissens (Common-sense) verknüpft sind

77 (vgl aaO 586). Ohne eine Gesetzmäßigkeit lässt sich aber mE keine echte Kausalerklä- rung finden, somit wäre die Erklärung eines Wahlergebnisses durch ein Wahlplakat (mein Beispiel) eine bloß hypothetische Erklärungsskizze. Erklärungen, denen der so genannte gesunde Menschenverstand zugrunde liegt, halte ich für wissenschaftlich, wenn es sich um empirisch bewährte Annahmen über die konstante Natur einer Person oder Sache handelt, die in der wissenschaftlichen Erklärung expressis verbis angeführt sind. In vielen sozialwissenschaftlichen Texten werden diese Sätze des Alltagswissens im Kontext der Begründung nicht ausformuliert, sondern meiner Erfahrung nach vo- rausgesetzt, zB in Monographien über geschichtliche Ereignisse. Dies ist mE nur prob- lematisch, wenn ein mehr als narratives Tiefenverständnis des Geschehenen möglich und erstrebenswert ist, also etwa auf im Umgang mit Menschen gewöhnlich fehlende soziale Zusammenhänge einzugehen ist. Hat man auch allgemeine Sätze entdeckt, lässt sich eventuell durch diese nur ein Ein- zelereignis erklären, weil diese Allsätze nur unter ganz bestimmten Bedingungen gelten, so dass sie nicht die gleiche Beweiskraft wie naturwissenschaftliche Gesetze haben (aaO). Hempel weist in diesem Zusammenhang auf ein Charakteristikum der partiellen Erklärung hin: Bei ihr wird nicht alles, was sich über das Explanandum aussagen lässt, aus dem Explanans abgeleitet, sondern nur das, was man über das Explanandum verall- gemeinernd wissen kann, weil es zu einer Klasse von Vorgängen gehört. Damit bleibt natürlich etliches unerklärt, weil das Explanans keine vollständige Kausalerklärung ge- stattet (vgl aaO 587-588). ZB ist es eine partielle Erklärung, wenn man die Gedichte des slowenischen Jugendstilautors (Beispiel von mir) nur insofern analysiert, als sie Lyrik sind, und von der Individualität des Künstlers abstrahiert. Partielle Erklärungen sind mE zu ungenau, um manche sinnvolle Prognosen zu ermöglichen. Die allgemeinste Annahme der psychologischen Theorie der Handlungsmotive ist die der Rationalität. Sie besagt, dass der Handelnde in Abhängigkeit von seinem Wissen- stand die Handlungsmöglichkeit auswählt, die er für die beste hält (aaO 587). Ökonomi- sche Entscheidungen lassen sich uU besser mit diesem Rationalitätsprinzip erklären als etwa die Entstehung einer politischen Partei in einer fremden Kultur, da man die Hand- lungsalternativen, Vorlieben und Kenntnisse einer handelnden Person nur ungenau kennt (vgl aaO). Dennoch ist zunächst davon auszugehen, dass sich ein vernunftbegab- tes Wesen nach dem Rationalitätsprinzip verhält, solange besondere Vorlieben, Süchte

78 und dgl nicht bekannt sind, obwohl die Anwendung dieses Prinzips zB bei Masochisten bizarre Formen annimmt: Derlei wirkt sich aus, wenn Menschen auf Prognosen reagie- ren, je nach dem, ob deren Eintreten erwünscht ist oder nicht. Genetische Erklärungen (dh Erklärungen von der Genesis her, etwa wie ältere Kulturen oder deren Reste fortwirken), wie sie in der Geschichtswissenschaft häufig vorkommen, sind nomologisch, aber sie können sich nicht in der Aufzählung von Ereignissen er- schöpfen, da deren Aufeinanderfolge reiner Zufall sein kann, wenn sie nicht durch all- gemeine Gesetze verknüpft sind. Entwicklungsstadien eines Prozesses müssen zumin- dest durch gewisse nur in ganz bestimmten sozialen Kontexten geltende Regelmäßig- keiten und Sachzwänge miteinander verbunden sein, damit überhaupt eine schlüssige Erklärung ihrer Entstehung aus einem Ereignis der jeweiligen Vergangenheit vorliegt (vgl aaO). Etwa erklären die kulturellen Gegebenheiten der römischen Antike wie zB die Quantität fremdländischer Söldner die Wahrscheinlichkeit gewisser Veränderungen zu dieser Zeit (Beispiel von mir). Indikatoren für nicht unmittelbar beobachtbare Handlungsmotive sind eine wichtige Frage der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften: Verhaltensweisen deuten zu- weilen auf bestimmte psychosoziale Einstellungen hin (aaO 590). Fragebögen und Tests können Einstellungen mit einer gewissen Genauigkeit empirisch ermitteln (aaO); Histo- riker rekonstruieren die analogen Einstellungen eventuell unter Anwendung des eben besprochenen Rationalitätsprinzips. Es zeigt sich bei solchen Erörterungen immer wieder, dass die Geisteswissenschaften auf den Begriffen und Befunden anderer Disziplinen wie der Psychologie aufbauen und historische Forschungen auf systematische Untersuchungen zurückgreifen (vgl aaO 591). Unter anderem ist es ein vielversprechender Forschungsansatz, kulturelle Phäno- mene semiotisch, dh mit den Begriffen und Methoden der sprachwissenschaftlichen Zeichentheorie zu erklären, dem allerdings die komplizierte und vielgestaltige Natur kultureller Erscheinungen Grenzen setzt (aaO). Dennoch müssen Kulturen wie Spra- chen für ihre Angehörigen verständlich sein, da man mE sonst nicht verstünde, was von einem erwartet wird.56

56T. Pawlowski (1980): Sozialwissenschaften, Wissenschaftstheoretische Probleme der. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 3 (R-Z). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 582–592

79 Theorien dienen in den Geisteswissenschaften letztlich der besten Kausalerklärung von Zusammenhängen. Für Humanwissenschaften wie Soziologie, deren wissenschaftstheo- retische Probleme im Detail zu erörtern, den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, spielen daher methodologische und heuristische Theorien eine wichtige Rolle, da sie den Weg zur nomologischen oder statistischen Erklärung hilfreich ebnen (Percy Cohen 592). Eine methodologische Annahme besteht darin, dass jede soziale Regelmäßigkeit zumindest teilweise auf Handlungen und Interaktionen von Einzelpersonen zurückzu- führen sein muss (aaO 593). Durch die Kenntnis solcher Theorien wird das Auffinden möglicher Gesetzmäßigkeiten eines bestimmten Systems (siehe oben) und damit mE die Formulierung von ge- schichtswissenschaftlichen Explanansaussagen befördert. Eine genauere Analyse der menschlichen Motivstruktur führt aber, meine ich, rasch zur Einsicht in die Wechsel- wirkung von sozialen Strukturen und Handlungen, da man ja die soziale Realität selbst mitgestaltet, aber in mancher Hinsicht angesichts unüberwindlicher kultureller Ge- wohnheiten machtlos ist und sich anpasst. Die Berücksichtigung derartiger emergenter Gruppenphänomene („Strukturen“) verfeinert methodologische und heuristische Theo- rien und ermöglicht somit exaktere kausale bzw intentionale Erklärungen (vgl aaO). Zur Güte sozialwissenschaftlicher Erklärungen trägt im weiteren bei, dass einige abs- trakte Theorien (zB können Statistiken Selbstmordgründe oder zB einschlägige Auswir- kungen von Bildung und Gesellschaftsschicht aufzeigen) empirisch überprüfbar sind (vgl aaO 594). Sozialwissenschaftliche Erklärungen können stillschweigend sowohl so- zialwissenschaftliche Theorien als auch Commonsense-Annahmen voraussetzen (aaO), aber nur wenn diese Voraussetzungen wahr sind, ist die wissenschaftliche Erklärung nach Hempel (und ich folge ihm) gelungen. Dh wissenschaftliche Theorien oder All- tagsannahmen müssen gut bestätigt sein, damit man davon ausgehen kann, dass eine auf ihnen aufbauende Kausalerklärung mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zutrifft. Oft liegt es jedoch an der Natur des zu erforschenden Vorgangs, dass nur dieses oder jenes die Ursache eines Ereignisses gewesen sein kann. Ist dies der Fall oder eine entsprechende Theorie bzw Alltagsannahme empirisch eindeutig bestätigt, kann man eine Erklärung beweisen und über Beobachtungstheorien verfügen, die den Protokollsätzen einer theo- riefreien Beobachtung gleichwertig sind (vgl aaO).

80 Sozialwissenschaftliche Theorien sollten zu empirisch überprüfbaren Erklärungen füh- ren, doch muss man sich in der Forschungspraxis in der Regel damit begnügen, dass sie eine mehr oder weniger plausible Interpretation von komplexen und einzigartigen Sach- verhalten liefern; zB lassen sich Formen des Zusammenlebens von Menschen stets da- hingehend interpretieren, wer ihretwegen Vor- bzw Nachteile hat und wie gut derlei dementsprechend funktioniert (vgl aaO 595). Derlei Interessenskonflikte halte ich für eine potentielle historiographische Erklärung von stabilen wie auch von labilen Gesellschaftsformationen. Die Soziologie soll es Geisteswissenschaftlern erleichtern, Handlungsgründe, welche für historische Erklärungen relevant sind, zu verstehen. Dazu genügt in der Regel alltäg- liche Menschenkenntnis, in manchen Fällen ist es aber notwendig, für das Verständnis von Handlungsgründen verborgene Sinnbezüge aufzudecken. Ein Beispiel dafür ist die von Max Weber aufgefundene Bedeutung religiöser Wertvorstellungen für die Wirt- schaftsweise (aaO). Dies bedeutet freilich nicht, dass Sinnbezüge der einzige kausal wirksame Faktor im Rahmen von historischen Prozessen sind. Diese Prozesse werden vielmehr auch von absichtlicher und unabsichtlicher gegenseitiger Beeinflussung der Handelnden oder auch von Naturerscheinungen geprägt (vgl aaO 596). Geschichtsschreibung wählt laut Percy Saul Cohen die ihr wichtigen Probleme und Theorien aus, wobei sie nur zT auch eine Richtung des von ihr dargestellten Prozesses annimmt und die kausale Bedeutung bestimmter Faktoren wie Weltanschauungen, Technologie usw in ihren Ereigniserklärungen betont. ZB erklärt Marx die Entstehung neuer sozialer Formationen durch Veränderungen der Produktionsweise in all ihren As- pekten (aaO). Es ist wissenschaftlich berechtigt, mittels eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas heuristisch fruchtbare Hypothesen zu generieren, die mögliche Ursachen eines Ereignis- ses aufdecken (vgl aaO 597). Ebenso sind mE empirisch besser überprüfbare Hypothe- sen über Korrelationen zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen und idiographi- sche Hypothesen über die Verknüpfung zweier Einzelereignisse oder die Handlungs- gründe eines kreativen Individuums legitime Bestandteile des Explanans einer histori- schen Erklärung. Hingegen sind Gesetze über notwendige Stadien der kulturellen und geschichtlichen Entwicklung eine unangebrachte Verdinglichung sozialer Systeme und

81 mithin unwissenschaftlich (aaO), da sie einen komplexen Interaktionsprozess, von zahl- reichen Faktoren abstrahierend, spekulativ behandeln und meiner Überzeugung nach zumeist von der Existenz mehrerer historischer Entwicklungsmöglichkeiten auszugehen ist.57 Von der Sprachwissenschaft würde man eher erwarten, dass sie allgemeine Gesetze aufweist. Allerdings gelten viele von ihr im Rahmen der wissenschaftlichen Grammatik bzw Semantik festgestellten Regeln für bloß eine Sprache und auch die Prognosen über Sprachwandel haben sich meiner Erfahrung nach als unzuverlässig erwiesen, denn sogar komplizierte Sprach- und Zeichensysteme wie das Chinesische und dann zB das Sume- rische werden über lange Zeiträume tradiert. Zusammenhänge zwischen Sprachen sind teils eine Folge einer gemeinsamen Sprachge- schichte, teils eine Konsequenz bloß funktionaler Ähnlichkeiten (János Petöfi 600). Um diese funktionalen Ähnlichkeiten beschreiben zu können, muss man so genannte sprach- liche Universalien ausfindig machen, dh erkennen, dass in allen natürlichen Sprachen bestimmte Lautverknüpfungen und bestimmte Grammatikregeln Bedeutungsunterschie- de ausdrücken (vgl aaO 601). Dies ist eine „linguistische Hermeneutik“, da die wissen- schaftliche Beschäftigung mit Sprachuniversalien erklärt, warum wir Zeichen benutzen. Das ist eine psycholinguistische Kausalerklärung in der Form eines praktischen Syllo- gismus. Sprachwissenschaft befasst sich mit den Produkten und dem Kontext der akti- ven und passiven Beteiligung an sprachlicher Kommunikation (aaO). Wie im Bereich der Geschichtswissenschaft ist es mE auch auf dem Gebiet der Sprach- wissenschaft regelmäßig der Fall, dass die allgemeinen Gesetze, mit deren Hilfe das Explanandum deduzierbar ist, soziologischer, psychologischer oder überhaupt naturwis- senschaftlicher Natur sind. Diese linguistischen, zB sprachgeschichtlichen und sprach- didaktischen Erklärungen setzen jedoch eine genaue Beschreibung der entsprechenden Sprachsysteme voraus, da diese sowohl im Explanans als auch im Explanandum enthal- ten sein müssen (vgl aaO 602). Strukturelle Beschreibungen eines Sprachsystems liefern Regeln, die nur in bestimmen Verwendungszusammenhängen gelten, weil sie bloß in diesen von bestimmten Sprechern befolgt werden (aaO), zB die Regel, dass die erste Person Einzahl des Präteritums der Mehrzahl der hochdeutschen Verben mit der En-

57P. S. Cohen (1980): Soziologische Theorie. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 3 (R-Z). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 592–599

82 dung –te gebildet wird und die Sprachentwicklung in diese Richtung geht (Beispiel von mir). Vor allem die generative Grammatik hat den bloß beschreibenden Zugang zu Sprach- systemen überwunden, indem sie die Kompetenz von sprachlich Kommunizierenden erklärt (aaO). Wenn Sprachwissenschaftler sprachliche Äußerungen untersuchen, müs- sen sie wissen, ob diese zum selben Sprachsystem gehören, bzw für dieses repräsentativ sind usw (vgl aaO 603). Für Kausalerklärungen benötigen sie daher allgemeine Defini- tionen bzw Gesetze über die Struktur und Funktion von Sprachzeichensystemen ebenso wie statistische Angaben über den tatsächlichen Sprachgebrauch. Die Sprachwissenschaft ist also in mancher Hinsicht eine empirische Wissenschaft, die Erklärungen und Prognosen nach der induktiv-statistischen Methode ermöglicht, wäh- rend sie in anderer Hinsicht einer apriorischen Zeichenlehre als einer Voraussetzung von Sprachbeschreibung bedarf (vgl aaO 604). ME determinieren die Gesetze der Logik und Semantik sowohl den allgemein menschlichen Weltbezug als auch die kollektive Zeichenwahl, weshalb die Kategorien für sprachwissenschaftliche Forschung nicht von einer rein empiristischen, sondern eher von einer empiristisch-rationalistischen Variante der wissenschaftstheoretischen Position des wissenschaftlichen Realismus festgelegt werden sollen.58

Kapitel 3 - Einheitlichkeit der Wissenschaften

Fragen wir uns nach dem, was allen Wissenschaften gemeinsam ist, so haben wir mE die Antwort zu geben, dass sie sich bemühen, möglichst zutreffende Erklärungen für Zusammenhänge zwischen Tatsachen zu geben. Auch von Wright hat die Erklärung neben Prognose einen Hauptzweck von Theoriebil- dung genannt. Für die Wissenschaftstheorie existiert in diesem Zusammenhang auch das schon erwähnte Problem, dass Beschreibungen von Tatsachen schwer von Theorien über diese zu trennen sind (siehe Kapitel 1). Wie dem auch sei, jedenfalls spielen in al-

58J. S. Petöfi (1980): Sprachwissenschaft, Wissenschaftstheoretische Probleme der. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Band 3 (R-Z). Vandenhoeck: Göttingen 1980, 600– 604

83 len wissenschaftlichen Erklärungen, egal ob es sich um geistes- oder naturwissenschaft- liche Erklärungen handelt, allgemeine Gesetze und theoretische Vorannahmen eine Rol- le. Dennoch hat sich eine Trennung zwischen mechanistischen bzw. kausalen und fina- listischen oder teleologischen Erklärungen bewährt (vgl Von Wright 17). Die mechanistische oder auch galileische Forschungstradition leistet auch für die geis- teswissenschaftliche Erklärung Beträchtliches, weil sie naturgesetzlich determinierte Tatsachen erklärt und prognostiziert, die mit dem menschlichen Handeln zusammen- hängen. Da es aber, wie wir hier betonen wollen, eine der wichtigsten und damit we- sentlichen Eigenschaften des phänomenal gegebenen menschlichen Tuns und Lassens ist, dass es auf einer subjektiv vernünftigen Zwecksetzung aufbaut, lässt sich die Exis- tenzberechtigung der aristotelischen oder teleologischen Forschungstradition für die geisteswissenschaftliche Theorienbildung nicht leugnen.59 Gewiss ist es ein allgemein bekanntes positivistisches Erbe in der Wissenschaftstheorie, dass man annimmt, es gebe trotz unterschiedlichster Gegenstandsbereiche eine einheit- liche wissenschaftliche Methode (Standpunkt des methodologischen Monismus). Mit diesem Gedanken verbunden ist meist auch die mehr oder weniger reflektierte Annah- me, eine wissenschaftliche Erklärung habe kausal zu sein und besondere Sachverhalte unter Naturgesetze bzw. Gesetze der menschlichen Natur zu subsumieren. Dem ist mE prinzipiell zuzustimmen, weil alle geisteswissenschaftlichen Erklärungen etwas Beson- deres mit Hilfe einer allgemeinen, meist trivialen Gesetzmäßigkeit erklären und zudem die Ursachen von Veränderungen und funktionalen Prozessen angeben. Auch die Ent- fernung der Relikte animistischen Denkens aus unserer wissenschaftlichen Vorstel- lungswelt ist begrüßenswert, wobei jedoch nicht übersehen werden darf, dass eine re- duktionistische Erklärung den emergenten Charakter des Lebens gegenüber der unbe- lebten Natur unberücksichtigt lässt. Eben deshalb hat es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder auch antipositivistische Standpunkte in der wissenschaftstheoretischen Diskussion gegeben. Diese vielfältigen Standpunkte eines Droysen, Max Weber oder Robin George Collingwood laufen alle auf eine hermeneutische Auffassung der geisteswissenschaftlichen Erklärung hinaus, die sich weigert, die exakten Naturwissenschaften als Muster zu akzeptieren.

59Die Bezeichnungen der Forschungstraditionen sind vom zitierten Verfasser übernommen. Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1974, 16-17

84 Anders als die von Droysen geprägte Fachsprache der Historik unterscheidet die Um- gangssprache nicht genau zwischen Erklären und Verstehen (aaO 19). Es spricht gegen einen allzu großen Unterschied zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geis- teswissenschaftlichem Verstehen, dass auch jede kausale Erklärung unser Gefühl, einen Vorgang verstanden zu haben, fördert und erhöht (aaO). Allerdings ist es offensichtlich, dass man sich in den Forschungsgegenstand nur dann nachvollziehend einfühlt, wenn er etwas Seelisches ist, was nur in den Wissenschaften vom Menschen überwiegend der Fall ist. Intentionales, vor allem Ziele, Vorhaben und Bedeutungen, wird nicht befriedi- gend beschrieben und erklärt, wenn es vom Wissenschaftler nicht nachvollzogen und verstanden wird. Dies erkannte im Prinzip schon Max Weber, als er eine verstehende Soziologie vorschlug, die sich auf zweckrationales Handeln in bestimmten Kontexten bezieht. Verhaltens- und Sozialwissenschaften ähneln zwar den exakten Naturwissen- schaften mehr als die historischen Geisteswissenschaften, können aber, obwohl sie etwa das Wirtschaftsleben mit mathematischen Modellen beschreiben, nicht davon abstrahie- ren, dass sie sich mit Sachverhalten befassen, die ua mit dem Seelen- und Geistesleben von Menschen zusammenhängen. In sozialphilosophischen Diskussionen, die vor allem von Marx und Georg Wilhelm Friedrich Hegel inspiriert waren, war gelegentlich von nicht kausalen, sondern teleolo- gischen Gesetzmäßigkeiten die Rede. Diese entbehren mE nicht ihrer Existenzberechti- gung, sofern es sich nicht um induktive Verallgemeinerungen, sondern um begriffliche Verknüpfungen handelt. Hegels Dialektik ermöglicht nämlich natürlich keine wissen- schaftliche Kausalerklärung einer historischen Entwicklung, aber doch eine Einsicht in die begrifflich gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten angesichts widersprüchlicher Be- strebungen und Tendenzen. Aristoteles und Hegel wollten Zusammenhänge aufzeigen, um Erscheinungen teleologisch verständlich zu machen. Dies ist bei von menschlichen Entscheidungen abhängigen Entwicklungen zweckmäßig, soll aber mE zum Teil einer empirisch überprüfbaren geisteswissenschaftlichen Kausalerklärung werden. Denn zu einem mystischen Halbdunkel darf die Wissenschaft von den Auswirkungen und Be- dingungen zweckgerichteten Verhaltens nicht werden und die Einheitlichkeit der Wis- senschaft besteht, so bin ich überzeugt, in der vorwiegend kausalen Erklärung.60

60Vgl aaO 18–21

85 Für diesen Standpunkt von mir spricht auch die Tendenz auch der nicht positivistischen analytischen Philosophie, eine subsumtionstheoretische Auffassung der wissenschaftli- chen Erklärung zu vertreten. Wissenschaftstheoretische Bemühungen in positivistischer Tradition legen eine kausale Erklärung in den Geisteswissenschaften als Methodenideal außerdem deshalb nahe, weil sie eine sozialtechnische Einstellung zum menschlichen Zusammenleben vorschlagen, für die mE eine Einsicht in das von Fall zu Fall verschie- dene Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem erforderlich ist. Die Verlagerung des Interesses der analytischen Philosophie von einer Theorie der Na- turwissenschaften zu einer Theorie der Geisteswissenschaften lässt sich philosophiege- schichtlich exemplarisch an einem 1942 erschienen Aufsatz Hempels über die Funktion allgemeiner Gesetze in der Geschichtswissenschaft aufzeigen. Durch diesen Text wird eine für alle Wissenschaften geltende nomologische Erklärungsweise auch für die Ge- schichte gefordert. Prinzipiell geht es um die eindeutig erstrebenswerte entweder deduk- tiv-nomologische oder induktiv-probabilistische Erklärung, warum es zu einem be- stimmten Ereignis kommen musste oder es doch wahrscheinlich war. Ein Ereignis, das kausal zu erklären ist, kann laut von Wright auch als die Aufeinander- folge von zwei Zuständen beschrieben werden. Antecedensdaten sind der Fachausdruck für Ereignisse, die zeitlich vor dem Gegenstand der Erklärung (bzw Explanandum) lie- gen. Meistens wird in historischen Erklärungen ein Ereignis auf eine Basis von Zustän- den und anderen Ereignissen zurückgeführt, aber gelegentlich wird auch ein Zustand durch Ereignisse und Zustände vor seinem Eintreten erklärt. Gewisse singuläre Ereig- nisse wie Schäden an Autos lassen sich unter Zuhilfenahme physikalischer Gesetze so- gar prognostizieren, doch das ist meist nicht der von Historikern intendierte Erklärungs- typ (vgl aaO 25). Unabhängig vom philosophischen Standpunkt fragt aber jede historische Untersuchung, warum ein bestimmtes Ereignis in einer bestimmten Situation eintrat. Um diese Frage zu beantworten, wird dem Explanans eine weitere empirische Tatsachenbehauptung hinzugefügt, so dass das Explanandum durch es begründet wird (vgl aaO). ME sind auch zu diesem Behufe oft hermeneutische Erklärungen erforderlich, weil die fehlende Tatsachenbeschreibung unbekannt sein kann, etwa wenn sie sich auf eine subjektive Entscheidung eines historischen Akteurs bezieht. Die hypothetische Rekonstruktion un- bekannter Tatsachen und Wahrscheinlichkeitsannahmen über zweckrationales Verhal-

86 ten ermöglichen allerdings keine Erklärung dafür, warum etwas mit Notwendigkeit ge- schah, sondern nur dafür, warum es zu erwarten war (vgl aaO 26). Ein Wahrscheinlichkeitsgesetz kann bedeuten, dass eine Gesetzmäßigkeit und bestimm- te Antecedensbedingungen nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit eintritt. Dennoch hat auch dies einen Erklärungswert und mit diesem lassen sich psychologisch- hermeneutische Erklärungen als wissenschaftlich rechtfertigen, weil bestimmte psychi- sche Befindlichkeiten Verhaltensweisen wahrscheinlich machen. Dies gilt an sich trotz aller Forderungen nach einheitlichen Erklärungsmethoden für alle Wissenschaften. Au- ßerdem ist zu erwarten, was passieren muss, und möglich, dass Wahrscheinliches ein- tritt, weshalb der Unterschied zwischen deterministischen und statistischen Kausalerklä- rungen kleiner ist, als es den Anschein hat. Obwohl es auch wirklich Zufälliges gibt, sollen laut von Wright Historiker wie Natur- wissenschaftler nach zusätzlichen Ursachen suchen, um zu klären, warum es Unter- schiede zwischen den rational zu erwartenden und den empirisch festgestellten Ereig- nishäufigkeiten gibt. Dies ist mE ein disziplinübergreifendes Gebot der Wissenschaft- lichkeit ebenso wie Hypothesen über Verursachungswahrscheinlichkeiten. Historiker sollen sicherlich nach Kausalerklärungen suchen, die alle nach dem Hempel- Oppenheim-Schema aufgebaut sind, obwohl auch nicht-kausale Erklärungen die Form dieses Schemas annehmen können. Um indes die volle Anwendbarkeit der deduktiv-nomologischen Erklärungen auf die Probleme der Geschichtswissenschaft nachzuweisen, muss man zeigen, dass es auch für die Erklärung von Phänomenen gilt, die am ehesten teleologisch zu deuten sind. In der Biologie konnten Erscheinungen, die zielgerichtet wirken, durch den Begriff des nega- tiven Feedbacks der Kausalerklärung zugänglich gemacht werden. Wenn zwei Systeme miteinander verknüpft sind, kann nämlich eines so auf das andere wirken, dass ersteres vom letzteren durch eine Rückwirkung reguliert wird (aaO 28). Diese auch als Kyberne- tik bekannte Lehre von Steuerungs- und Kontrollphänomenen in Systemen ist ein Tri- umph kausalen, aber nicht mechanistischen Denkens. Diese kausale Erklärung von Funktionen von Systemen ermöglicht jedoch nicht historische Erklärungen, da sie kei- nen Bezug auf die Intentionalität (Zielgerichtetheit) kulturbezogenen Verhaltens nimmt.61

61aaO 22–29

87 Hempels Erklärungsschema war als Teil einer positivistischen Wissenschaftstheorie ge- dacht, ist aber auch mit anderen wissenschaftstheoretischen Standpunkten vereinbar und liefert eine unübertreffliche Darstellung der Rolle allgemeiner Gesetze für geisteswis- senschaftliche Erklärungen. Die Wahrscheinlichkeiten des gemeinsamen Auftretens mehrerer Merkmale oder Phänomene sowie allgemeingültige Implikationen (dh Allsät- ze der Art alle X sind Y) sollten für jede wissenschaftliche Erklärung bekannt sein, ob- wohl sich auch sonst einiges über die Ursachen von Einzelfällen vermuten lässt (vgl aaO 30). Allgemeine Gesetze beziehen sich im Idealfall auf Erfahrungstatsachen, weil eine Erklärung auf Grundlage eines bloßen logischen Zusammenhangs weniger auf- schlussreich ist und in historischen Erklärungen etwa zu bloßen Binsenweisheiten füh- ren kann (aaO). Baut man diese Erkenntnisse in eine Wissenschaftstheorie ein, die nicht auf dem Positivismus, sondern auf dem wissenschaftlichem Realismus beruht, nimmt man an, dass eine rationale Erkenntnis der Strukturen der Außenwelt es erlaubt, aus dem Wesen von Objektklassen bestimmte Ereignismöglichkeiten logisch abzuleiten. Dies wird hier vorgeschlagen, um den Positivismus in der Wissenschaftstheorie, der ei- gentlich eine widerwillige empiristische Metaphysik ist, durch einen eher rationalisti- schen, aber nie rein spekulativen wissenschaftlichen Realismus zu ersetzen, der sich seiner logisch-metaphysischen Vorannahmen bewusst ist und den wissenschaftlichen Beweis einfacher Theorien nachvollziehbar macht. Eine Erklärung dafür, dass alle Raben schwarz sind, sollte eigentlich auch aufzeigen, warum das der Fall sein muss, was etwa durch eine populärgenetische Erklärungsskizze erfolgen kann (vgl aaO), wie historische Erklärungsskizzen Bürgerkriege auf Interes- sengegensätze zurückführen. Diese beiden eben erwähnten Erklärungen können im Sin- ne einer für alle Disziplinen geltenden konventionalistischen Methodologie als logische bzw analytische Wahrheiten aufgefasst werden. Wie dem auch sei, gewiss können so- wohl analytische oder definitorische Wahrheiten als auch empirische Generalisierungen im Explanans wissenschaftlicher Erklärungen vorkommen. Die wissenschaftstheoretischen Schulen des Positivismus und Konventionalismus be- streiten mE zu Unrecht, dass es neben dem logisch Notwendigen und dem akzidentell gegebenen Empirischen notwendige Kausalverknüpfungen zwischen Phänomenen gibt: Eine der empirischen und nicht etwa logischen Möglichkeit analoge Naturnotwendig- keit wird zwar manchmal bestritten, aber ihre Existenz ist offensichtlich, wenn man ge-

88 wisse Grundgesetze der Wissenschaft als durch Falsifikation von Allsätzen bewiesene Erfahrungstatsachen voraussetzt. Man muss sich schon daher von Wright anschließen, wenn er behauptet, dass die Gesetzesartigkeit von Aussagen in der Notwendigkeit und nicht in der Universalität der behaupteten Verknüpfung bestehe. Kybernetische Kausalerklärungen (siehe oben) beziehen sich eindeutig nicht auf Hand- lungen und ähnliche intentionale Phänomene (vgl aaO 33). Handlungen lassen sich ge- mäß vielen Autoren subsumtionstheoretisch auffassen, wenn man sie auf Motive und vom Handelnden erlernte spezifische Handlungsdispositionen etc zurückführt. Dies spricht nicht unbedingt für die Annahme, Handlungen hätten eine Ursache im engeren Sinne des Wortes, weil Motive (zB Gewohnheiten) anders als physische Kräfte keinen Zwang ausüben. Historische Erklärungen sind selbstverständlich sehr oft die Erklärungen von Handlun- gen, wobei es auch für die Vertreter der Gültigkeit der Subsumptionstheorie der Erklä- rung für alle Wissenschaften offensichtlich ist, dass Historiker in ihrer Forschungspra- xis bei ihren Erklärungen nur selten auf allgemeine Gesetze Bezug nehmen. Hempel erklärt dies damit, dass historische Erklärungen elliptische Erklärungsskizzen seien, die unbekannte, sehr komplexe Gesetzmäßigkeiten nicht expressis verbis wiedergeben könnten, Popper hingegen damit, dass historische Erklärungen triviale Gesetzmäßigkei- ten stillschweigend voraussetzten. Beide Erklärungen treffen mE tatsächlich eindeutig auf bestimmte Forschungskontexte zu. Dray behauptete im Gegensatz zu den beiden eben zitierten Autoren, dass sich histori- sche Erklärungen nicht auf allgemeine Erklärungen stützten, weil Gesetze die etwa er- klären, warum Politiker unpopulär würden, nur durch viele einschränkende und modifi- zierende Zusatzbedingungen Einzelfälle wie den Hass auf Ludwig den XIV. von Frank- reich erklären könnten. Derartige Erklärungen nenne ich Einzelfallerklärungen, weil sie nur einen speziellen Fall kausal erklären, wozu die trivialen vorausgesetzten kulturanth- ropologischen Annahmen nicht ausreichen. Das ist in der Historiographie mE wahr- scheinlich die häufigste konkrete Erklärungsform, jedenfalls aber häufig. Aus Einzel- fallerklärungen lassen sich allgemeine Gesetze konstruieren, falls die Umstände, die vorliegen müssen, damit etwas Bestimmtes eintritt, genau spezifiziert werden können. Da aber niemand genau dieselbe Außenpolitik wie Ludwig der XIV. zu verantworten hatte oder die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ähnlicher Umstände circa null ist, ist

89 eigentlich nur seine Unpopularität durch ein allgemeines Gesetz, das aus der Einzelfall- erklärung der Ursache der Meinungen über ihn abgeleitet ist, wissenschaftlich erklärbar (vgl aaO 35). Dray zeigte zutreffend auf, dass sich wissenschaftliche Erklärungen in der Geschichts- wissenschaft auf handlungstheoretische Erkenntnisse zu beziehen haben, als er eine ra- tionale Erklärung von Handlungen als unter bestimmten Umständen angemessen wir- kend forderte. Dadurch warf er jedoch das Problem auf, wie die Objektivität von teleo- logischen Erklärungen gesichert werden kann. Es hat sich mE bewährt, dieses Problem durch die Anwendung des praktischen Syllogismus (siehe nächstes Kapitel) zu lösen, welchen zuerst Elizabeth Anscombe in die philosophische Diskussion einbrachte. Man weiß nämlich, dass jede Handlung auch von Überlegungen des Akteurs über seine Zwe- cke und Mittel zum Zweck abhängt, weshalb man historische Ereignisse je anders er- klärt, wenn man die an ihnen Beteiligten anders versteht (vgl aaO 37). Auch Peter Winch bemerkte, dass in den Sozialwissenschaften eine soziale Realität, welche be- stimmten Regeln „gehorcht“, nachvollzogen werden müsse. Das alles zeigt zwar, dass der humanwissenschaftliche Gegenstandsbereich eine eigene, die hermeneutische Methode erfordert, aber nicht, dass nicht jedes kulturelle Phänomen kausal erklärbar ist. Die Hermeneutik ist offensichtlich und auch gemäß von Wright von heuristischem Wert für die Findung von erklärenden Hypothesen, wobei Verstehen nicht als subjektives Einfühlen aufzufassen ist, sondern als objektive Annäherung an Bedeutungen im Sinne der Wissenschaft der Semantik (aaO 39). Denn die humanwis- senschaftlichen Explananda sind Bedeutungen in dem Sinn, dass sie der Ausdruck eines Seelenlebens sind, weshalb im weitesten Sinne des Wortes psychologische Prämissen in den Syllogismus des Hempel-Oppenheim-Schemas enthalten sein sollen. Trotz der Berechtigung der spezifischen hermeneutischen Methode glaube ich, dass man es dem Ideal der Einheitlichkeit der Wissenschaften schuldig ist, auch auf der phä- nomenalen Ebene teleologische Phänomene so weit wie möglich kausal zu erklären (vgl aaO 40). Hiermit plädiere ich für eine objektiv-probabilistische Hermeneutik, die eine rationale Erklärung menschlichen Handelns im Sinne Drays ermöglicht und Prämissen für kausale Erklärungen historischer Ereignisse in Abhängigkeit von psychologischen und soziologischen Gesetzmäßigkeiten liefert. Dies ist als ein heuristisch fruchtbarer Kompromiss zwischen einer Auffassung der geisteswissenschaftlichen Erklärung, die

90 zu sehr eine Einheitsmethode vorschlagen, und einer allzu hermeneutischen Auffassung von ihr gedacht.62 Mein Vorschlag kann sich auch auf gewisse Gedanken Rickerts berufen, der in selten zitierten Passagen seines Werkes einräumt, dass Historiker intuitiv allerlei über mensch- liches Verhalten erahnen oder erfassen, wenn sie Künstlern wie Romanciers ähnlich et- was Einmaliges darstellen und dabei viel Einfühlungsvermögen beweisen. Er behauptet, seine Wissenschaftstheorie wolle nur zeigen, wie das Nachempfinden möglich sei, auf Grund dessen Geisteswissenschaftler das zu Erklärende (dh ein fremdes Seelenleben und seine Manifestationen in von diesem wahrgenommenen und hinterlassenen Sinnge- bilden) anschaulich darstellen und mit ihrem Instinkt und Takt verstehen. Dieses für ge- bildete und sensible Menschen intuitiv erfassbare historische Explanandum wird mE auf triviale Gesetzmäßigkeiten des allgemein Menschlichen zurückgeführt, indem es erfasst wird. Rickert wollte nach eigenen Angaben das übertheoretische Verstehen des Historikers theoretisch verstehen, dabei aber nicht hermeneutisch arbeiten, sondern methodolo- gisch. Die Anwendung individualisierender Begriffe schließt die Existenz gesetzesarti- ger Aussagen nicht aus. Man kann sich etwa auf die Entstehung der Kultur aus der Na- tur oder ökonomische Gesetze berufen, ohne die Einmaligkeit des historischen Gesche- hens zu leugnen.63

Kapitel 3b – Gekonnte Erklärung als Gemeinsamkeit aller Disziplinen Ausgehend von diesem Rückbezug auf die Wissenschaftsgeschichte stehen wir erneut vor den Fragen, welche Aussagen für jede und welche nur für manche Erklärungen gel- ten und wie wir die Dichotomie zwischen Gründen und Ursachen aufzufassen haben. Die Besprechung wissenschaftstheoretischer Forschungsergebnisse soll unsere Erörte-

62Die hermeneutische Erklärung entspricht am besten dem Wesen des rational Handelnden und seiner Verhaltensmöglichkeiten. Sie bezieht die kausale Relevanz (das ist ein von von Wright ge- prägter Ausdruck) von Willensakten etc für historische Ereignisse usw., die durch erstere wahr- scheinlicher werden, in die wissenschaftliche Erklärung ein. Was die Philosophie der Methode be- trifft, ist diese objektiv-probabilistische Hermeneutik eine analytische Hermeneutik (Terminologie von von Wright), die auf sprachanalytischen Überlegungen aufbaut. Vgl aaO 29–41, 156 (Fußnote) und 160 (Fußnote). 63Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Tübingen: J. C. B. Mohr 1929, 608, 610, 617

91 rung dieser Fragen abrunden: Stegmüller geht von mehreren typischen Verwendungs- kontexten des Wortes „erklären“ aus: Jede Beseitigung von Unklarheiten kann ihm zufolge eine Erklärung sein, aber unter wissenschaftlicher Erklärung ist immer die Erklärung von Tatsachen zu verstehen (Stegmüller 75). Zu diesem Zweck finde ich es unerlässlich, die Ursachen dieser Tatsa- chen ausfindig zu machen und darauf zu antworten, warum ausgerechnet sie eingetreten sind. Stegmüller meint im Anschluss an Hempel, dass wissenschaftliche Erkenntnis all- gemein Gründe angibt, warum ein Phänomen in einer bestimmten Situation zu erwarten war (aaO). Wissenschaftliche Erklärungen als Spezialfall der Erkenntnis forschen nicht nur nach Gründen in diesem Sinn, sondern auch nach Ursachen von Begebenheiten, welche wie- derum im Fall der Geschichtswissenschaft Motive und Handlungsgründe von Personen sein können. Letzten Endes bezieht sich daher mE jede geisteswissenschaftliche Erklä- rung gleichermaßen auf Ursachen und Gründe. Einzeltatsachen zu erklären, ist die primäre Aufgabe von geisteswissenschaftlichen Er- klärungen neben der Begründung von entsprechenden Gesetzmäßigkeiten. Dabei geht man von Beschreibungen eigener Beobachtungen oder von vorliegenden historischen Quellen etc aus, um zuerst zu wissen, was sicher oder wahrscheinlich der Fall war (vgl aaO 76), bevor man auch erklärt, warum es der Fall war. Dieses „Warum“ kann sich sowohl auf Ursachen als auch auf Gründe beziehen. Dennoch bezieht sich jede wissen- schaftliche Erklärung auf einen durch einen Text eindeutig beschriebenen Sachverhalt (vgl aaO 78). Die Subsumption unter allgemeine Gesetze ist der Idealfall der Erklärung, der auf vorwissenschaftlichen Verursachungsannahmen wie „wo Feuer, da Rauch“ (Beispiel von mir) aufbaut, wie schon Mill wusste. Subjektive Vermutungen über Ursa- chen ermöglichen aber mE im Gegensatz zu Einsichten in Natur- und Sachnotwendig- keiten keine zutreffenden Verallgemeinerungen.64 Allgemein sind Ursachen als Gründe eines Werdens (oder sogenannte Realgründe) ein Unterbegriff zum Begriff Grund, der daneben Erkenntnisgründe, Seinsgründe (dh in etwa Existenzbedingungen) usw umfasst. In der Wissenschaftstheorie der Geisteswis-

64Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philoso- phie. Band I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Das ABC der modernen Logik und Seman- tik. Der Begriff der Erklärung und seine Spielarten. Berlin: Springer 1969, 72–78, besonders 75 und 78

92 senschaften ist Grund aber stets ein Fachausdruck für zumindest subjektive Handlungs- bzw Entscheidungsgründe, ein Sprachgebrauch der auf Denker wie Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgeht. Diese Handlungsgründe sind zunächst Erkenntnisgründe, also Mo- tive für Entscheidungen, tragen aber als Realgrund eines psychophysischen Werdens zur Verursachung von Handlungen bei. Die Begründung für das Bestehen eines Zusammenhangs erfolgt bei Kausalität aus Mo- tiven wie bei naturwissenschaftlicher Kausalität durch logische Deduktion nach dem H- O-Schema. Bei vorgegebenen Motiven lässt sich der praktische Syllogismus anwenden, Motive sind zT durch psychologisch-statistische Gesetze erklärbar.65 Gesetzmäßigkeiten und Anfangsbedingungen allein erklären deterministische Prozesse wie Sonnenfinsternisse hingegen sehr wohl, analog dazu erklären etwa Historiker er- folgreich manche Ereignisse durch harte Fakten wie waffentechnische Überlegenheit (Beispiel von mir). Allerdings ist es laut Stegmüller ungenau zu sagen, das H-O-Schema sei die korrekte Beschreibung eines Ereignisses, da angesichts der Mannigfaltigkeit des den Sinnen Gegebenen immer nur ein Sachverhalt erklärt werde, dh genau bestimmte Aspekte eines Ereignisses. Dem ist mE im Prinzip zuzustimmen, obwohl es übertrieben wäre zu glauben, man könne nicht alle wichtigen Aspekte eines einfachen, momentan beobachtbaren Vorgangs in wenige zutreffende Sachverhaltsbeschreibungen bzw. Tat- sachenfeststellungen einbeziehen. Stegmüller schreibt dazu in Anschluss an Popper und Danto (vgl Kapitel 2) das Fol- gende (Stegmüller 81): „Die meisten Erklärungen werden nicht in allen Details gelie- fert. Sie hören sich bisweilen an wie ausführliche Schilderungen. Dadurch kann im Le- ser oder Hörer der Eindruck entstehen, als liege hier nichts wesentlich anderes vor als was wir bereits bei einer Beschreibung antreffen. Erst die genauere Analyse zeigt, dass in zweifacher Hinsicht gegenüber reinen Schilderungen etwas Neues hinzutritt: die (oft stillschweigende) Benützung von Gesetzmäßigkeiten und der Vollzug eines logischen Schlusses oder einer ganzen Kette logischer Ableitungsschritte.“ ZB weiß ein Augenzeuge, der sich als Historiker betätigt, dass der Mensch A den Men- schen B aus unerklärlichen Gründen getötet hat (Beispiel von mir), was eine solche Tat- sachenfeststellung ist. Das kann wiederum durch unbekannte Tathintergründe sowie mit

65Vgl Wolfgang Röd: Grund. In: Hermann Krings; Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild (Hg): Handbuch Philosophischer Grundbegriffe. Studienausgabe Band 3. Gesetz – Materie. München: Kösel 1973, 642-657

93 Hilfe mehrerer Theorien erklärt werden. Natürlich ist nur eine dieser denkbaren Be- schreibungen von Ereignisverknüpfungen im Zusammenhang mit dem erwähnten Tö- tungsakt wahr (vgl aaO 85). Das H-O-Schema muss also in jeder Wissenschaft empirischen Gehalt haben, was in Bezug auf die Anfangsbedingungen leicht überprüfbar und kontrollierbar, bei den Ge- setzmäßigkeiten hingegen problematischer ist. ME gibt es keine geisteswissenschaftli- che Erklärung ohne mindestens eine Gesetzmäßigkeit, die eine metaphysische Wesens- aussage über den Menschen voraussetzt; doch können diese hermeneutischen Voran- nahmen aus empirisch bewiesenen oder gut bewährten Erkenntnissen über die mensch- liche Kognition und Motivation und wenigen naturphilosophischen Axiomen hergeleitet werden. Deshalb sind geisteswissenschaftliche Erklärungen ein Sonderfall wissen- schaftlicher Erklärung, da es keine absolut theoriefreien Verallgemeinerungen gibt und Erklärungen intentionaler Phänomene ihrem Gegenstand angemessen zu sein haben. Außerdem ist es vorstellbar, dass ein Explanans nicht-empirische Bestandteile enthält (aaO 88), obwohl es einen empirischen Gehalt haben muss, wobei jedoch eine apriori- sche Rechtfertigung der nicht-empirischen Explanansbestandteile erforderlich ist. Damit beziehe ich mich auf den logisch-systematischen Erklärungsbegriff laut Stegmüller, der unabhängig von der Verständlichkeit einer Erklärung für bestimmte Personen ist (vgl aaO 90). Pseudoerklärungen bestehen zB bei logischen Ableitungen ohne Erkenntnisbe- ziehung. Diese drücken auch keinen empirischen Zusammenhang aus, womit sie uU zwar eine zutreffende formalwissenschaftliche, aber keine humanwissenschaftliche Er- klärung sind.66 Keinesfalls darf man in Bezug auf humanwissenschaftliche Erklärungen vergessen, dass manche abgeleitete Gesetze nur näherungsweise gelten (vgl aaO 91), weil sie zB von unwesentlichen Einflussfaktoren abstrahieren. Schon aus diesem Grund müssen mA Gesetzmäßigkeiten, die sich nur auf ein bestimmtes Kulturgefüge beziehen, ebenso wie Einzeltatsachen selbst erklärt werden. In diesem Zusammenhang ist man unvermeidlich mit dem von Stegmüller erwähnten Problem der Übersetzbarkeit von theoretischer Sprache in Beobachtungssprache und umgekehrt konfrontiert, zB müssen sich ästheti-

66Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philoso- phie. Band I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Das ABC der modernen Logik und Seman- tik. Der Begriff der Erklärung und seine Spielarten. Berlin: Springer 1969, 78–91, insbesondere 82, 85, 87-88 und 90-91

94 sche Theorien und Begriffe eindeutig auf Wahrnehmbares beziehen, wie etwa in der Musik auf akustische Reize einer bestimmten Beschaffenheit (Beispiel von mir). Für alle Wissenschaften gilt es frei nach Stegmüller, zuerst empirisch prüfbare Gesetze aus theoretischen (zT mE metaphysischen) Vorannahmen abzuleiten, wobei die reine Induktion selten ausreicht, und erst danach mit diesen empirischen Gesetzen Einzeltat- sachen nach dem H-O-Schema zu erklären. Gesetzesaussagen sind normale Sätze (vgl aaO 97), behaupten also etwas über Tatsachen. Gewöhnlich lassen sich Gesetzesaussagen als Wenn-Dann-Satzgefüge ausdrücken; das gilt auch für historische Erklärungen. Letztere verwenden aber häufiger zur Begründung des zu erklärenden Ereignisses im Hauptsatz einen mit Konjunktionen wie „da“ einge- leiteten Gliedsatz (Nebensatz). Hierbei bleibt jedoch meistens eine allgemeine Bedin- gungsrelation stillschweigend vorausgesetzt (siehe oben). Dh im Kausalsatz („Weil- Satz“) der historischen Erklärung werden nur die Antecedensdaten, wie schon Michael John Scriven bemerkte, angeführt, aber nicht das ganze Explanans (vgl aaO 102-103). Unvollständige Erklärungen (siehe Einleitung) stellte Stegmüller auch dar: Ungenaue Erklärungen vergleicht er mit ungenauen Beschreibungen. Das ist zT ein Formulie- rungsproblem, etwa wenn eine geisteswissenschaftliche Erklärung auf zahlreiche Aus- nahmen von einer Regel (wie unregelmäßige Verben einer slawischen Sprache; Beispiel von mir) keinen Bezug nimmt. Stegmüller schildert weitere Erklärungstypen, wobei ich seine Ausführungen kurz wie- dergeben und kommentieren werde: Elliptische unvollständige Erklärungen sind manchmal eine ökonomische Ausdrucksweise. Diese kommt auch in Naturwissenschaf- ten wie der Medizin in Frage, etwa um Ereignisse wie Todesfälle zu erklären, und zwar durch Kausalsätze, welche stillschweigend gesetzesartige Regeln voraussetzen. In den Geisteswissenschaften sind derartige elliptische Erklärungen zT infolge der Unkenntnis des genauen gesetzmäßigen Zusammenhangs unvermeidlich. Partielle im Unterschied zu elliptischen Erklärungen erklären das Explanandum nicht zur Gänze, sondern nur teilweise, was ein seriöser Wissenschaftler zugeben muss, zB bei tiefenpsychologischen Deutungen, die nicht einmal unter Berufung auf ein allge- meines Gesetz vorgelegt werden. Erklärungsskizzen (siehe Einleitung) liegen vor, wenn nur angedeutet ist, wie Gesetze und Antecedensdaten ergänzt werden sollen, um eine wirklich rationale Erklärung zu

95 erhalten (vgl aaO 110). Die Erklärung eines Phänomens durch mehrere Gesetze, insbe- sondere durch das Zusammenwirken mehrerer Mechanismen, ist in allen Disziplinen denkbar. Auch daran ist bei der Formulierung geschichtswissenschaftlicher Erklärungs- skizzen zu denken. Dennoch ermöglichen die apriorisch-metaphysische Komponente der Wissenschaft und das Wissen über die Irrelevanz der unerwähnten Tatsachen mE bisweilen den endgültigen Beweis aller Aussagen eines Explanans: ZB ist ein Historiker gerechtfertigt zu glauben, dass das Handeln historischer Akteure zweckrational, selbst- bestimmt und nicht von Ereignissen in fernen Galaxien beeinflusst ist.67 Genetische Erklärungen liegen immer dann vor, wenn es um eine Entwicklungsreihe geht, und sind nicht spezifisch für bestimmte Forschungsgegenstände (aaO 117). Histo- risch-genetische Erklärungen haben Explananda, die sich vom Antezedens des nächsten Entwicklungsschrittes unterscheiden, weil Zusatzinformationen hinzukommen. Dh ein Explanandum einer Teilerklärung einer historisch-genetischen Erklärung ist in Bezug auf den nächsten Erklärungsschritt ein Teil der Antecedensbedingungen. Eben dies ist in vielen geisteswissenschaftlichen Erklärungen der Fall, während in den Naturwissenschaften die systematisch-genetische (siehe Einleitung) Erklärung häufiger ist. Denn Historiker erklären sehr oft die nähere Vergangenheit unter Bezugnahme auf die fernere und dies zT statistisch, ohne auf neu hinzugekommene Bedingungen zu ver- gessen (vgl aaO 119). Auch dispositionelle Erklärungen sind, wie schon ausgeführt (siehe Einleitung), in allen Wissenschaften eindeutig kausal, weil sie unter Bezugnahme auf bestimmte Standard- bedingungen zu nomologischen Erklärungen mit einem Gesetz im Explanans umformu- liert werden können. Jedoch ist das in den Geisteswissenschaften mE wegen der inde- terministischen Systeme, auf die Bezug genommen wird, meist nur ein statistisches Modell und diese Ersetzung der Aussagen über Individuen durch allgemeine ist also bei der Erklärung von Handlungen nur annäherungsweise möglich. Stegmüller prägte auch den für geisteswissenschaftliche Erklärungen besonders relevan- ten Fachausdruck „Erklärbarkeitsbehauptung“. Eine solche liegt auch vor, wenn das Explanans nur aus Antecedensdaten besteht und das Gesetz als noch nicht bekannt aus- gelassen werden muss (aaO 128). So kann man zB als Historiker einiges im Nachhinein erklären, obwohl es höchstwahrscheinlich unmöglich ist, ein Wahrscheinlichkeitsgesetz

67aaO 91-116, insbesondere 91, 94, 96-97, 102-103, 106-108, 110 und 115

96 zu formulieren, welches exakte Prognosen von Verhalten im öffentlichen Leben ermög- licht. Bloße Analogien, wie zwischen Antike und Moderne, erhöhen zwar das Verständnis geisteswissenschaftlicher Fragen. Aber sie können nicht wissenschaftlich genug sein, wie Stegmüller erkennt, weil es sich um nicht sehr ähnliche Gesetzmäßigkeiten in unter- schiedlichen Systemen handeln kann. Er meint daher zutreffenderweise, Analogiebe- hauptungen hätten für alle Wissenschaften einen heuristischen Wert, doch sie müssten nachträglich empirisch geprüft werden. Bloße Modelle ermöglichen selbstverständlich, so fährt er fort, nur näherungsweise Er- klärungen, was in den Geisteswissenschaften mE regelmäßig der Fall ist, etwa wenn die altrömischen Sklavenkriege durch antagonistische ökonomische Interessen erklärt wer- den (Beispiel von mir). In derartigen Fällen sollte auf die mögliche Existenz weiterer kausal wirksamer Faktoren aufmerksam gemacht werden. Pragmatische Erklärungsbegriffe beziehen die Tatsache mit ein, dass bei Erklärungen jemand jemandem etwas verständlicher macht, wobei es um Probleme wie subjektive Verständlichkeit geht (aaO 138-139). Mit dieser Frage hängen unterschiedliche sprach- liche und inhaltliche Arten der Darstellung geisteswissenschaftlicher Erklärungen zu- sammen: Populärwissenschaftliche Darstellungen können etwa im Unterschied zu seriö- ser Fachliteratur Zusammenhänge vereinfachen usw.68 Gelegentlich wurde in grundwissenschaftlichen Diskussionen die Existenz vollwertiger nomologischer Erklärungen gemäß dem Hempel-Oppenheim-Schema bestritten, aber zu Unrecht: John Canfield und Keith Lehrer brachten das Gegenargument vor, dass die logische Beziehung zwischen Explanans und Explanandum durch Ergänzung des Ar- guments mit passenden zusätzlichen Tatsachenfeststellungen aufgehoben werde (aaO 145). Störbedingungen oder bloße Ausnahmen von der Regel wie unregelmäßige Ver- ben können dennoch durch eine bessere Formulierung der erklärenden Regel angegeben werden, außerdem kann nicht jede zusätzliche Information für das zu erklärende Phä- nomen relevant sein. Stegmüller spricht in diesem Zusammenhang vom Problem der Vollständigkeitsbedingung (aaO 148). Natürlich sind in allen Wissenschaften mancherlei Erklärungen nur Erklärungsskizzen, aber Störbedingungen verändern die in wissenschaftlichen Erklärungen bzw Explanan-

68aaO 119–139, insbesondere 119, 121, 124, 128, 131, 135 und 137-139

97 tia gegebenen Informationen, dh sie sind keine zusätzlichen Informationen, sondern be- deuten letzten Endes, dass es nicht der Fall ist, dass ausgerechnet die Ursache gewirkt hat, welche unter Standardbedingungen den Vorgang erklären würde (vgl aaO 148- 149), so dass das Explanandum aus dem Explanans folgt. Dh es spricht gar nicht gegen die kausale Wirkung eines Faktors, dass er durch den Einfluss einer anderen „Kraft“ ausgeglichen werden kann. Bei Prognosen verschärft sich das Problem der Störbedingungen, was mE genaue struk- turgeschichtliche Prognosen unmöglich macht: Etwa könnte die moderne Technik uU verhindern, dass es zum von Marx prognostizierten Massenelend kommt. Dieses von mir selbst gewählte Beispiel zeigt, dass die Wirtschaft kein abgeschlossenes System ist, sondern mit anderen kulturellen Subsystemen wie der Technik interagiert. Überhaupt lässt sich für alle Wissenschaften sagen, dass genaue Prognosen nur in sowohl determi- nistischen als auch weitgehend abgeschlossenen Systemen funktionieren, in denen kaum mit dem Auftreten störender Einflüsse oder Zufallsvariationen etc zu rechnen ist (aaO 151). Ich möchte betonen, dass deduktive Argumente, die falsche Hypothesen enthalten, auch in den Geisteswissenschaften dem theoretischen Fortschritt unterliegen und korrigiert werden: ZB führen sowohl neue Quellen als auch eine verbesserte psychologische The- orie zur Änderung des Psychogramms eines historischen Akteurs im Explanans oder Explanandum einer geisteswissenschaftlichen Erklärung, während eine kleine archäolo- gische Entdeckung sich nur als eine neue Randbedingung auf den Prozess der ge- schichtswissenschaftlichen Erklärung auswirken würde (Beispiele von mir).69

3c) Forschungsgeschichtlicher Exkurs - John Stuart Mills Lehre von den Human- wissenschaften als einem Sonderfall einer einheitlichen wissenschaftlichen Er- kenntnis Mill ist einer der ersten Klassiker auf dem Gebiet der Theorie der Wissenschaften vom Menschen. Man wird sich vielen seiner scharfsinnigen Analysen anschließen, aber auch Poppers Warnung vor Mills Determinismus beherzigen. ME ist der Begriff eines inde- terministischen Systems die Lösung dieses Forscherstreits, da sie etwas als nicht vor-

69aaO 143–153, besonders 151

98 herbestimmt kennzeichnet.70 Damit warne ich auch davor, Mill im Sinne einer übertrie- benen Milieutheorie zu deuten. Meine Diagnose ist, dass er den schwachen Determinismus mit offener Zukunft für wahr hielt, welcher indes falsch ist. Denn ich halte es für einen verdeckten Selbstwider- spruch, von Determinismus zu reden, wenngleich die Verursachung nicht so weit geht, eindeutig eine bestimmte Folge zu bewirken, weil die Zukunft nicht zugleich vorherbe- stimmt und offen sein kann. Nur wenn bei einem Vorgang nicht bloß manches, sondern alles derartig determiniert ist, dass sich das von einem Faktor beeinflusste System nur auf eine einzige Weise verhalten kann, ist eine deterministische Kausalerklärung meiner Überzeugung nach angebracht.71 Mill bestimmte die Humanwissenschaften als einen sehr komplizierten Forschungsge- genstand und fragt nach unabänderlichen Gesetzen des Psychischen und Sozialen. Er hält es für gar nicht erniedrigend oder mit dem subjektiven Freiheitserleben unverträg- lich, dass menschliche Willensakte und Handlungen kausal mit ihnen vorangehenden Geisteszuständen verknüpft sind, dass aus diesem Grund auch gute Freunde eines Men- schen zuweilen wegen dessen Charakters sicher sein können, was er machen wird. Das spricht mE für die Suche nach Erklärungen nach dem Hempel-Oppenheim-Schema in allen Geisteswissenschaften. Mill betont ebenso, dass der Beweggrund auf den mit ihm zusammenhängenden Willensakt nicht als Nötigung, dh nicht determinierend, wirkt.72 Er begründet dies rational mit der Möglichkeit von Faktoren, die Gegengiften analog sind und gegen solche Beweggründe wirken. Dadurch erkennt er schon den Einzelnen als ein System mit mehreren Freiheitsgraden. Er bemerkt zutreffend, dass unsere sittli- che Freiheit darin besteht, unseren Charakter selbst verändern zu können. Das spricht mE für Erklärungen mit Hilfe des praktischen Syllogismus in den Humanwissenschaf- ten, welche sich auch auf Zwecksetzungen beziehen (vgl aaO 45, 47).73 Laut Mill erklären psychologische Gesetze über Gewohnheiten eine weitgehend vom Gedanken an Schmerz oder Genuss gelöste Motivation, worin dasjenige bestehe, was man als festen, guten, teuflischen etc Charakter bezeichne. Er fährt fort zu zeigen, dass

70 John Stuart Mill: Zur Logik der Moralwissenschaften. Frankfurt am Main: Klostermann 1997, 27- 28 71https://de.wikipedia.org/wiki/Indeterminismus (Abrufdatum: 24.11.2017, 21:05 Uhr) 72John Stuart Mill: Zur Logik der Moralwissenschaften. Frankfurt am Main: Klostermann 1997, 37- 38, 40 und 42-43 73aaO 45, 47

99 nicht nur exakte Wissenschaften Wissenschaften sind. Er vergleicht daher die Human- wissenschaften mit der Meteorologie, in der auch keine exakten Prognosen möglich sind, obwohl ihre Phänomene sich nach Naturgesetzen richten müssen (aaO 49-51).74 Bald darauf wird im Milltext eingeräumt, dass die bewussten Verhaltensweisen einer Einzelperson nicht genau vorhergesagt werden können. Das hänge ua mit der Unüber- schaubarkeit der Umwelteinflüsse zusammen, außerdem seien die Einflüsse, die auf ei- nen Menschen wirkten, nie in zwei Fällen identisch. Diese individuelle Eigenart übe aber keinen so großen Einfluss aus, dass die Geisteswissenschaften nicht erkennen kön- nen, was in einer Gruppe überwiegend gedacht wird, so dass mit hoher Wahrscheinlich- keit zutreffende Prognosen möglich seien. Diese annähernden Beschreibungen des sozi- okulturellen Lebens gewinnen laut Mill ihre Wissenschaftlichkeit auch dadurch, dass sie sich aus Grundgesetzen der menschlichen Natur herleiten lassen. Dem ist mE beizu- pflichten, weil man so Emergenzphänomene interdisziplinär betrachten kann.75 Mill thematisiert den Zusammenhang zwischen den Forschungsgegenständen der Psy- chologie und dem Nervensystem, der bei Sinnesempfindungen klar ist. Ich halte das emergente Entstehen des Seelisch-Geistigen in komplexen biochemischen Systemen für die Lösung dieses Problems.76 Anschließend bestimmt Mill die Verursachung bestimmter mentaler Zustände durch an- dere als eine Kernfrage der Psychologie. Er nennt insbesondere die Abhängigkeit an- schaulicher Vorstellungen von meist sinnlichen Eindrücken und Gesetze der Assoziati- on als Grundgesetze, auf denen komplexere Gesetze aufbauen. Diese Assoziationsge- setze besagen, dass Eindrücke, welche einem regelmäßig zusammen dargeboten wer- den, zu nur einer Vorstellung verschmelzen. Dies scheint mir zT Wünsche zu erklären, die der Entscheidung nach einem praktischen Syllogismus zugrunde liegen.77 Aber, wie Mill bemerkt, hängt auch die Charakterbildung durch Erziehung damit zu- sammen, die sicher die Macht der Instinkte über den lernfähigen Menschen einschrän- ken kann. Ich meine dazu, dass die Reaktion des Einzelnen auf erzieherische Einflüsse zT Kulturveränderungen erklärt und sich diese Reaktionen des Einzelnen selbst mit praktischen Syllogismen erklären lassen.

74aaO 49-51 75aaO 54-56 76aaO 58 77aaO 60-62

100 Mill betont auch, dass man sich nur auf empirische Gesetze verlassen kann, wenn be- stimmte allgemeine Bedingungen herrschen. Mit dieser Einsicht begründe ich die Pra- xis, bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen von gesetzesartigen Aussagen auszuge- hen, die nur in bestimmten kulturellen Kontexten gelten. Ein Beispiel für die in meinem Text häufig als Prämisse einer geisteswissenschaftlichen Erklärung vorgeschlagenen psychologischen Wahrscheinlichkeitsgesetze ist, dass Alte auch nach Mill tendenziell vorsichtiger sind als Junge, weil sie aus ihren Fehlern gelernt haben. Für den zu bespre- chenden Klassiker und für mich sind gesetzesartige Aussagen daher wissenschaftlich, weil sie mögliche Verursachungen von Veränderungen in komplexen Systemen be- schreiben.78 Mill führt dies sinngemäß folgendermaßen genauer aus: Für die Geisteswissenschaften ist es problematisch, dass es zwar einfache Gesetze des Menschlichen gibt, die Natur des Menschen aber so veränderlich und so vielen Einflüssen ausgesetzt ist, dass es kaum ausnahmslose Gesetze über bewusste Handlungen geben kann. Demnach formen verschiedenartigste Umstände das Eigentümliche an Individuen, Völkern und Epochen, wobei nicht alle Menschen auf dieselben Umstände gleich reagieren. Darin bestünden die Gesetze der Charakterbildung.79 Man kann, wie Mill erkannte, feststellen, welche Umgebungen geistige Entwicklungen fördert oder beeinträchtigt, welche psychologischen Merkmale bei einer Nation häufiger sind als bei einer anderen, und, dass sich solche Merkmale wegen gesellschaftlicher Umwälzungen wie der Frauenemanzipation verändern. Er wusste auch, dass die Ablei- tung solcher beobachtbarer Tendenzen aus anthropologischen Prinzipien, die hauptsäch- lich aus der experimentellen Psychologie stammen, die wissenschaftliche Qualität hu- manwissenschaftlicher Aussagen verbürgt. Derartige anthropologische Prinzipien sind aber mE auch zT a priori.80 Außerdem bin ich überzeugt, dass die Erklärung der Entstehung eines bestimmten Menschentyps als mögliche Reaktion auf eigentümliche Verhältnisse, eine Prämisse für historische Erklärungen ist, die uns die Überzeugungen und Wertvorstellungen von Menschen verständlich macht. Diese Einstellung sind wiederum selbst eine Prämisse

78aaO 68, 70-72 79aaO 73-74 80aaO 76-79, 83

101 für die Erklärung von Spezialentscheidungen mittels praktischer Syllogismen.81 Mill schreibt weiters sinngemäß Folgendes über die Möglichkeiten der Wissenschaften vom Menschen: Nationen oder die Menschheit als Ganzes sind noch mehr unterschied- lichen Einflüssen ausgesetzt als ein Einzelner, so dass sozialwissenschaftliche Erklä- rungen vor dem Problem einer enormen Komplexität stehen. Die Mannigfaltigkeit der Umstände des gesellschaftlichen Lebens erschwere die Entwicklung politischer Patent- rezepte sehr. Mill bemerkt aber zutreffend, dass es dennoch gewisse allgemeine Gesetze geben kann, die der schier unendlichen Variation des Soziokulturellen zugrunde liegen. Er glaubt nämlich zu Recht, dass man ausgehend von psychologischen Gesetzen, die für das Erle- ben und Verhalten des Einzelnen gelten, Gesetze für das gesellschaftliche Leben ablei- ten kann, die aber kaum exakte Prognosen erlauben. Diese Gesetze sind mE unbestreit- bar, weil man sie erstens aus der Erfahrung kennt und sie zweitens aus dem Wesen des Psychischen und Geistigen folgen, aber sie besagen, glaube ich, auch, dass es ein gewis- ses Ausmaß an Freiheit des Einzelnen und eine teilweise unbestimmte Zukunft gibt.82 Mill führt dies bereits auf die komplexe und dynamische Natur der Gesellschaft zurück, die sich mit den wenigen stabilen Ursachen der Himmelserscheinungen nicht verglei- chen lässt. Er meint wie auch ich, Humanwissenschaften sollten es sich zum realisti- schen Ziel setzen, für ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Epoche die Kausalver- hältnisse so gut zu kennen, dass man in der Lage ist, auf gewisse Trends einzuwirken.83 Mill verfiel nicht der Täuschung, das Gesellschaftsleben zu verdinglichen, sondern be- tont, dass jeder Mensch auch im sozialen Leben gemäß den Möglichkeiten und Grenzen seiner individuellen Natur agiert. Er kommt deshalb auf das Problem zu sprechen, dass im Diskurs über ratsame politische Maßnahmen oft Analogien ohne Beweiskraft als Argument vorgebracht werden. Außerdem wusste er schon, dass soziale Phänomene von einem Komplex miteinander interagierender wandelbarer Ursachen abhängen und Experimente deshalb undurchführbar sein können. Ich glaube auch wie Mill, dass Gruppen im weitesten Sinn des Wortes keine den Pro- dukten chemischer Reaktionen ähnliche Substanzen sind. Ich meine, dass emergente

81aaO 84-85 82Aus diesen Erfahrungstatsachen der sozialwissenschaftlichen Diskussion folgt mE ein Gebot zur Flexibilität, aber nicht zur völligen Prinzipienlosigkeit in der sozialtechnischen Praxis. aaO 86-88 83aaO 89

102 Gruppenphänomene auf den Relationen zwischen Individuen beruhen. Dass Verallge- meinerungen und Experimente für das Finden zutreffender geisteswissenschaftliche Erklärungen ausreichen, halte ich für eine Laienmeinung.84 Mill weist auf die offensichtliche Tatsache hin, dass man beim induktiven Vergleich mehrerer Gesellschaftszustände eine Unzahl von denkbaren Kausalverhältnissen be- rücksichtigen muss, was Generalisierungen erschwert (vgl Kapitel 1, S 20-21) Nach der Besprechung nicht erfolgversprechender Methoden erwähnt er die intuitiv plausible Idee, scheinbar unerklärliche Tendenzen als wahrscheinlich von den gesellschaftlichen Umständen mit unbekannter Wirkweise bedingt aufzufassen. Er glaubt, dass man bei der Anwendung von Methoden wie dieser auf aus Gesetzen der menschlichen Natur deduzierte, empirisch prüfbare gesetzesartige Aussagen zurück- greifen muss. Dem möchte ich mich anschließen, da ich bezweifle, dass man ohne diese Deduktion das Hempel-Oppenheim-Schema anwenden und in Einzelfällen bloße Zufäl- le ausschließen kann.85

Kapitel 4 - Der praktische Syllogismus

Die Leitfrage für die nächsten beiden Kapitel ist kritische Hermeneutik, da sie Wissen- schaftstheorie und analytische Sprachphilosophie rezipiert hat.86 Eine hermeneutisch inspirierte Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften soll mE das Erkenntnispotential der Handlungstheorie nützen. Für diese Behauptung habe ich folgenden Grund: Wissenschaftstheoretisch-abstrakte Erklärungsmuster tragen in der Forschungspraxis zur Aufklärung rätselhafter Sachverhalte bei, indem sie die Prämissen der Erklärungen nach dem H-O-Schema verfeinern. Und das ist bei der Hereinnahme handlungstheoretischer Prämissen in historische Erklärungen mE sicher der Fall. Erklärung und logische Implikationen von Handlungen sind laut von Wright ein Prob- lemkomplex, auf den sich Diskurse über die Begründung moralischer Urteile und über

84Man denke außerdem an die verzerrenden Wirkungen des Eingriffs in soziale Systeme und den sozialpsychologischen Effekt der „self-fulfilling prophecy“. aaO 91-93 85Ebenda 95-96, 98-99 86vgl Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1974, Text auf der Rückseite des Buchumschlags (Umschlagentwurf Endrikat + Wenn).

103 den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften beziehen. Da „Ursache“ und „Handlung“ nicht bei allen Wissenschaftstheoretikern in genau derselben Bedeu- tung verwendet werden, kann es sein, wie von Wright zu Recht feststellt, dass zwei Phi- losophierende dasselbe meinen, wenn einer Handlungsursachen akzeptiert, der andere aber nicht (von Wright 13). Kausalisten postulieren die Existenz von Ursachen für In- tentionen, Motive und Gründe, während Aktionisten eine eindeutige Trennlinie zwi- schen Handlungsgründen und Ereignisursachen annehmen. Darin zeigen sich zwei grundverschiedene Begriffsnetze, wie das folgende Zitat behauptet (aaO 14): „(...) der „Kausalist“ und der „Aktionist“ knüpfen das Begriffsnetz, durch das sie die Welt sehen, verschieden – und dementsprechend sehen sie auch die Welt verschieden.“ Ich ziehe aus diesen Textstellen die Lehre, dass wir vor der Frage stehen, wie die Di- chotomie Ursache versus Grund aufzufassen ist und inwieweit dadurch verschiedene Arten von humanwissenschaftlichen Erklärungen entstehen. Denn eine Erklärung durch Handlungsgründe ist mE und im Anschluss an den Autor nicht für jedes humanwissen- schaftliche Problem angemessen.87 Der zitierte Autor äußert sich folgendermaßen über Erklärungsformen: Teleologische Erklärungen weisen anders als kausale auf die Zukunft hin, womit sie auf die Zukunfts- bezogenheit rationalen Handelns eingehen. Zielgerichtetes Verhalten lässt sich so be- schreiben, dass man behauptet, etwas sei geschehen, damit später etwas anderes eintre- ten könne. Damit bezieht man sich gewöhnlich darauf, dass das frühere Ereignis eine notwendige Bedingung des späteren ist. Die Gültigkeit teleologischer Erklärungen wird auch dann nicht aufgehoben, wenn die Zielsetzung des Handelnden auf einer irrigen Annahme beruht (von Wright 83). Von Wright setzt seine Erläuterungen folgendermaßen fort: Die Wahrheit quasiteleolo- gischer Erklärungen (zB der Erklärung des Zusammenhangs zwischen Anstrengung und Atemgeschwindigkeit in der Humanbiologie) hängt wie auch die kausaler Erklärungen davon ab, ob die in ihrem Explanans verwendeten Gesetzesaussagen tatsächlich eine Gesetzmäßigkeit so wiedergeben, dass dies der objektiven Wirklichkeit so nahe wie möglich kommt. Quasiteleologische Erklärungen zielen auf komplizierte Kausalzu-

87vgl Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1974, 13–15

104 sammenhänge wie Rückkoppelungsmechanismen und evolutionär Funktionales, quasi- kausale Erklärungen hingegen auf Handlungsgründe. In anderen Worten gilt von Wright zu Folge, dass quasiteleologische Erklärungen in Wirklichkeit Kausalerklärungen sind und das in Analogie zur Funktionsweise eines komplizierten Automotors mit Wechselwirkungen zwischen seinen Teilen, quasikausale Erklärungen hingegen sind ungenau formulierte teleologische Erklärungen, bei welchen der Bezug auf die Zukunft anders als bei echten teleologischen Erklärungen nur indirekt ausgedrückt wird. Es ist in den Geisteswissenschaften nach von Wright regelmäßig der Fall, dass sich der Forscher mit quasikausalen Erklärungen begnügt, welche sich zT auf ein Ziel der Han- delnden - wie in der politischen Geschichte: Notwehr gegen Unterdrückung - beziehen und insofern einen teleologischen Beigeschmack haben. Analog dazu wird auf andere spezifische Ziele Bezug genommen, zB auf Verständlichkeit in der Sprachwissenschaft oder schöne Eindrücke in der Kunstwissenschaft (Beispiele von mir). Quasikausale und teleologische Erklärungen beziehen sich in der Regel auf Hand- lungsmotive, seltener auf Handlungswahrscheinlichkeiten, ihre Gültigkeit steht, wie der zitierte Autor zutreffend anmerkt, in keinem Zusammenhang zu streng deterministi- schen Kausalgesetzen. Von Wright sagt dies so: (aaO 84): „Die Gültigkeit von Erklä- rungen des ersten Typs [Anmerkung des Verfassers: von quasi-teleologischen und kau- salen Erklärungen] hängt von der Wahrheit gesetzmäßiger Verknüpfungen ab, die Gül- tigkeit von Erklärungen des letzten Typs [Anmerkung des Verfassers: von quasi- kausalen und teleologischen Erklärungen] dagegen nicht – zumindest dann nicht, wenn sie explizit formuliert werden.“ Das Explanandum teleologischer Erklärungen ist gewöhnlich eine menschliche Verhal- tensweise, die an Handlungen wie Freizeitsport (Beispiel von mir) erinnert, wobei Handlungen einen inneren und einen äußeren Aspekt haben. Ersterer besteht aus einem Komplex von Denk-, Willens- und Entscheidungsakten, welcher für die Motivation be- stimmend ist, letzterer aus den unmittelbar wahrnehmbaren Handlungsaspekten, zB Muskelanspannungen und deren unmittelbaren Folgen (Handlungsergebnissen), wie der Veränderung der Position von Objekten im Raum (aaO 85-86). Die Verknüpfung des

105 inneren und des äußeren Handlungsaspekts lässt sich durch den praktischen Syllogis- mus erklären.88 Die im vorangehenden Absatz angeführte Handlungsdefinition bezieht sich gemäß von Wright weder auf Denkakte, welche sich für andere Menschen nicht sichtbar manifestie- ren, noch auf Reflexhandlungen wie zB spontanes Lachen. Dass man diese Formen menschlicher Aktivität erklären kann, die erstere mE teilweise sogar teleologisch, soll mit dem zitierten Autor unerörtert bleiben. Handlungsfolgen sind bei von Wright Folgen des unmittelbaren Handlungsergebnisses, zB das Eindringen frischer Luft nach dem Öffnen des Fensters. Bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen aller Art kann es von entscheidender Bedeutung sein, welche Handlungsfolgen in diesem Sinne vom Han- delnden beabsichtigt waren, auch wenn die beabsichtigten Folgen nicht eintreten. Eine teleologische Erklärung besteht darin, dass man die hinter einem aktiven Verhal- ten, einem Tun, (bzw hinter einer Unterlassung) steckende Intention aufzeigt. In den Worten des Autors gesagt (von Wright 88): „Ein Verhalten teleologisch erklären heißt, so könnte man sagen, auf ein Intentions-Objekt dieses Verhaltens hinweisen.“ In Bezug auf unbeabsichtigte Tatfolgen ergibt sich im Sinne des finnischen Handlungs- theoretikers die Verantwortung des Handelnden aus deren Vorhersehbarkeit (aaO 88). Dies spielt mE bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen nicht nur eine Rolle, wenn es um die Frage der moralischen Verantwortung geht (siehe Kapitel 10 und 13), sondern auch bei der Beurteilung der Frage nach Intelligenz und Wissensstand der Handeln- den.89 Der auf die Zukunft gerichtete Wille des Handelnden als Kernbestandteil teleologischer Erklärungen lässt sich laut von Wright als Ursache auffassen, so dass die Annahme, geisteswissenschaftliche Erklärung sei manchmal nicht-kausaler Natur, mE nicht be- weisbar ist (vgl das Rödzitat im vorigen Kapitel). Allerdings, so fährt von Wright fort, ist der Wille nicht alleinige Ursache des Hand- lungsergebnisses, sondern steht am Anfang einer längeren Kausalkette. Es ist für ihn ein Grundproblem der Handlungstheorie, ob die Beziehung zwischen Willen und Tat eine logische oder eine kausale ist. Letzteres würde, sofern es sich um eine so genannte Hu-

88Auf die Denkbarkeit dieser Verknüpfung wird in dieser Dissertation wiederholt eingegangen (zB Kapitel 3), auch von Wright erwähnt sie ständig (zB auf Seite 93). 89Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1974, 83-88 (Zitat 88)

106 mesche Ursache handelt, bedeuten, dass Ursache und Wirkung von einander logisch unabhängig sind. Anders als bei einer Mehrheit von Ursache-Wirkung-Paaren sind Tat und Wille zur Tat nicht unabhängig von einander definiert, wie von Wright erkennt. Das spielt aber für geisteswissenschaftliche Erklärungen deshalb keine Rolle, weil mancher- lei Ursachen ihre Wirkung notwendig hervorbringen und man eine teleologische Argu- mentation eo ipso als wissenschaftlich betrachten muss. Überhaupt müssen laut von Wright geistige Regungen aller Art, welche zu Handlungen bewegen, in humanwissenschaftliche Erklärungen einbezogen werden, was mE die An- wendung der hermeneutischen Methode nahe legt. Für Erklärungen selbst lässt sich ihm zufolge der praktische Syllogismus als Schema für Einzelfallerklärungen einführen, welche sich uU zu vollständigen nomologischen oder statistischen Erklärungen im Sin- ne Hempels erweitern lassen.90 Der praktische Syllogismus ist eine auf den Kopf gestellte teleologische Erklärung, die sich im Anschluss an von Wright folgendermaßen definieren lässt: Der praktische Syl- logismus besagt, dass ein Mensch M ein Ziel Z hat und weiß, dass er eine Tat T ausfüh- ren muss, um Ziel Z zu erreichen und dass er deshalb T zu verwirklichen trachtet. Ähn- liche Formulierungen, wie etwa „wollen“ statt „ein Ziel haben“, ändern nach von Wright die Bedeutung von derlei Schlüssen kaum und sind deshalb wissenschaftstheore- tisch irrelevant (von Wright 93). Er stellt Folgendes fest: Die Wahrheit der Prämissen eines praktischen Syllogismus ga- rantiert die Wahrheit seiner Konklusion unabhängig davon, ob es sich um eine logische (intentionalistischer Standpunkt) oder um eine kausale Verknüpfung handelt (kausali- stischer Standpunkt). Dh will jemand unbedingt etwas tun, zB joggen, und kann es auch, macht er es. Falls der kausalistische Standpunkt zutrifft, ist der praktische Syllo- gismus laut von Wright sinngemäß ein Sonderfall des H-O-Schemas. In diesem fehlt lediglich eine allgemeine, meist psychologische Gesetzmäßigkeit, zB dass ein Mensch sich mit einer bestimmten, ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit zweckrational gemäß seiner Ziele und Überzeugungen verhalten wird. Wenn wir uns diesen Standpunkt zu

90vgl aaO 90-93 und Wolfgang Röd: Grund. In: Hermann Krings; Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild (Hg): Handbuch Philosophischer Grundbegriffe. Studienausgabe Band 3. Gesetz – Materie. München 1973, 642-657

107 eigen machen, können wir beliebige geisteswissenschaftliche Erklärungen als kausale Erklärungsskizzen deuten.91 Wenden wir uns nun dem Zusammenhang von Zielen und Taten zu: Führt nur ein Mittel zur Erreichung des Zwecks, ist eine genau bestimmte Tat für die Zielerreichung not- wendig. Regelmäßig gibt es aber alternative denkbare Mittel, etwa bei den von Histori- kern erklärten imperialistischen Staatsaktionen zB Verhandlungen oder Waffengewalt (Beispiel von mir). Die Wahl zwischen derartigen Handlungsoptionen ist selbst erklä- rungsbedürftig und Folge von Zweckmäßigkeitserwägungen, zB Überlegungen darüber, auf welche Art man schneller oder billiger sein Ziel erreicht (von Wright 95). Eine Entscheidung ist notwendigerweise intentional, sie kann scheinbar zufällig sein (vgl aaO 96). Ich vermute, dass Historiker zufällige oder ungeplante Entscheidungen mit Hypothesen über Entscheidungsschwäche oder Unkenntnis der Handlungsfolgen beim historischen Akteur erklären werden. Der zitierte Text liefert außerdem folgende Einsichten: Es gibt eine Reihe von Aspekten des Kenntnisstands des Entscheidenden, welche bei der Formulierung von praktischen Syllogismen zu berücksichtigen sind: Vor allem die Frage, für wie wahrscheinlich der Entscheidende den Erfolg einer Handlung hält. Ein Sonderfall sind unerfüllbare Wün- sche, welche zB auf Größenwahn zurückzuführen sind, außer der Handelnde will an seinen Fähigkeiten arbeiten, um sich diese Wünsche dennoch erfüllen zu können. Der praktische Syllogismus bezieht sich auf Grund seiner Formulierung ohnehin nur auf vermeintlich erreichbare Ziele. Weiß jemand, dass eine Tat für die Erreichung eines Ziels notwendig, aber nicht hinreichend ist, wird er sie wohl nur ausführen, wenn er zu wissen glaubt, was für die Zielerreichung zusätzlich notwendig ist. Als mein Beispiel führe ich an, dass es unwahrscheinlich ist, dass jemand nur Tomatensauce erwärmt, wenn er Spaghetti mit Tomatensauce essen will, aber die Nudeln nicht zur Hand hat. Man wird gemäß von Wright kaum ein Ziel in Angriff nehmen, wenn man den Weg zur Zielerreichung nicht kennt, also keine Ahnung hat, wie man überhaupt handeln soll. Überhaupt kann man ernsthaft nur das beabsichtigen, was man für verwirklichbar hält. Daher auch bezieht man sich bei allen geisteswissenschaftlichen Erklärungen auf Han- delnde mit einer bestimmten Meinung über die Erreichbarkeit ihrer Ziele.92

91vgl Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1974, 93–94 92vgl aaO 95-98

108 Interessant ist es gemäß dem zitierten Text, dass sich Entscheidende auf Zukünftiges beziehen und deshalb häufig planen, etwas Zweckdienliches nicht sofort, sondern erst später zu vollführen. Es ist laut von Wright schwierig, bei der Formulierung eines prak- tischen Syllogismus derlei Randbedingungen zu berücksichtigen, da sich alles Mögliche ereignen kann, bevor der zukünftige Zeitpunkt eintritt, für welchen eine zweckrationale Handlung geplant war: Beispielsweise können Handelnde ihre Meinung ändern, was in der politischen Geschichte oft genug der Fall war, sie können ihre Absicht einfach ver- gessen oder durch widrige Umstände daran gehindert werden, sie auszuführen. Der praktische Syllogismus soll mit von Wright so formuliert werden, dass Mensch M ab einem bestimmten Zeitpunkt sein Ziel Z derart verwirklichen will, dass er sich nicht später als zu einem anderen noch zukünftigen Zeitpunkt an die Verwirklichung der Tat T macht, es sei denn er vergisst darauf oder wird daran gehindert. Auf diese Art und Weise lässt sich - meine ich - jede menschliche Handlung durch Absichten erklären, die im Fall geisteswissenschaftlicher Erklärungen zT selbst als mögliche Reaktionen des Einzelnen auf soziokulturelle oder psychische Gegebenheiten aufzufassen sind. 93 Prämissen und Konklusionen von praktischen Syllogismen lassen sich laut von Wright im Prinzip empirisch überprüfen, obwohl das zB wegen Lügens und Ähnlichem Schwierigkeiten bereiten kann (von Wright 106), unabhängig davon ob es sich um eine begriffliche oder um eine kausale Folgerungsbeziehung handelt (aaO 102). In einer geisteswissenschaftlichen Erklärung kann man davon ausgehen, dass ein handelnder Akteur seinen Entschluss unter günstigen Umständen auszuführen versucht, da er sonst nicht als entschlossen gelten kann, während eine kausale Verursachung durch Gesetz- mäßigkeiten des Seelenlebens eine Folgerungsbeziehung mit sich bringt. Wenn zB ein Diktator mit vielen loyalen Anhängern die Steuern ein wenig erhöhen will (Beispiel von mir), wird er es machen, ebenso ist allgemein bekannt, dass bestimmte bewusst gesteu- erte Nervenimpulse notwendig zu Bewegungen führen können. Die Tatabsicht lässt sich anders als die Tat und ihre Folgen nur schwer durch Beobachtung nachweisen, insbe- sondere wenn die Tat sich auf bloß einen Versuch beschränkte (von Wright 103). Daher ist es von besonderer Bedeutung, die Aussagen der Prämissen eines praktischen Syllo- gismus empirisch zu bestätigen.

93aaO 99–102

109 Es lässt sich durch historisches Quellenstudium nachweisen, dass jemand durch Ge- waltanwendung (Verhaftung usw) physisch an der Ausführung seines Vorsatzes gehin- dert wurde (von Wright 101). Psychischer Druck macht hingegen die Ausführung von Entscheidungen nicht unmöglich (aaO 104), wie auch der Rückfall eines Menschen in nichtintentionales Verhalten wegen eines durch nervliche Übererregung bedingten Kon- trollverlustes einen Sonderfall darstellt (aaO 104). Dennoch zeigt von Wright, dass sich Absichten eines Menschen indirekt aus seinen Ta- ten erschließen lassen: Wer etwa seinen Abreisetermin absichtlich verstreichen lässt, muss seinen Entschluss zur Reise geändert haben (von Wright 105). Damit sind aller- dings Probleme verbunden, denn eine Person kann auch vortäuschen in einer bestimm- ten Situation zu sein, etwa lügen, man solle ihr aus einer Notlage helfen (aaO 106). Dies ist mE auch eine Herausforderung für die historische Quellenkritik, wenn sie beispiels- weise nachweist, dass ein vermeintliches Kunstwerk ein Plagiat ist. Was die eigenen Absichten betrifft, kann man mit von Wright sagen, dass sie mit dem eigenen Wissen über diese Absichten zusammenfallen, so dass sie eine Erfahrungstatsa- che bilden (von Wright 108). Bei der Beurteilung von fremdem Verhalten muss man dementsprechend immer den kognitiven, emotionalen und kulturellen Kontext bestimm- ter Handlungen berücksichtigen, wenn man sie durch praktische Syllogismen erklären will. Diese kritisch-hermeneutische Einstellung spricht aus folgendem Zitat: „Gerade wie der Gebrauch und das Verstehen einer Sprache eine Sprachgemeinschaft voraus- setzt, setzt das Verstehen einer Handlung eine Gemeinschaft von Institutionen, Prakti- ken und technologischen Einrichtungen voraus, in die man durch Lernen und Abrich- tung eingeführt worden ist“ (aaO 108). Um einen praktischen Syllogismus zu verifizie- ren, muss man so viele Prämissen empirisch nachweisen, dass es möglich wird, aus ihnen logisch zu folgern, dass die im Explanandum beschriebene Handlung intentional war (von Wright 109). Der Autor selbst formuliert: „Die Verifikation der Conclusio ei- nes praktischen Schlusses setzt voraus, dass wir eine entsprechende Menge von Prämis- sen verifizieren können, aus denen logisch folgt, dass das beobachtete Verhalten unter der Beschreibung, die diesem Verhalten in der Conclusio gegeben wird, intentional ist“ (aaO 109). Eine logisch folgerichtige Schlussbeziehung besteht dann, wenn die im Explanandum beschriebene Tat bereits wirklich ausgeführt wurde, während sie in Bezug auf zukünfti-

110 ge Handlungen umstritten ist (von Wright 110), da, wie ich glaube, Untätigkeit aus irra- tionalen Gründen (Dummheit oder Wahnsinn) vorstellbar ist. Außerdem müssen die Prämissen eines praktischen Schlusses selbst empirischen Gehalt haben, weil sie sonst auf eine Pseudoerklärung hinauslaufen würden. Von Wright nennt dies das Problem der materialen Gültigkeit von Handlungserklärungen (aaO 110). Er stellt die Frage, ob ein und dasselbe Verhalten sowohl teleologisch als auch kausal beschrieben werden kann (von Wright 111). Menschliche, nicht reflexhafte Bewegun- gen zu beschreiben, ohne sie als intentionales Verhalten zu interpretieren, wäre jedoch nur eine Halbwahrheit, zumal eine Handlung per definitionem intentional ist (aaO 115). Die einfachste Art der teleologischen Erklärung liegt vor, wenn eine Handlung als Selbstzweck vollzogen wird, ohne dass ein zusätzliches Ziel verfolgt wird, wobei eine Verursachung durch den Willensakt angenommen wird (aaO 115). Dafür, dass intentionales Verhalten keine Humesche Ursache hat, gibt es laut von Wright keinen Beweis. Man weiß, dass man die Bewegungen des eigenen Körpers kon- trollieren kann und dass Prozesse im Nervensystem dieselben Körperbewegungen mit Naturnotwendigkeit bedingen können (von Wright 120). Allerdings ist man dennoch nicht in der Lage, seine Körperbewegungen zu beherrschen, wenn physikalische Kräfte auf einen einwirken, die stärker sind als diejenigen, die man hervorzubringen im Stande ist, um bestimmte Bewegungen zu kontrollieren.94 Unser Denken lässt sich als elektrische Aktivität deuten, die sich selbst moduliert.95 Gewiss sind teleologische Erklärungen stets mit einem Verstehensakt verbunden, was sowohl für die Handlungen von Individuen wie auch für die von Kollektiven gilt. Von Wright illustriert diese Verknüpfung an Hand der üblichen Diskussionen über Demonst- rationen, Volksfeste usw (von Wright 122). Veranstaltungen wie Fußballspiele vor Zu- schauern lassen sich nur dann wissenschaftlich gut erklären, wenn wir in Erfahrung

94vgl aaO 101-106, 108-111, 113-116, 117-121 95Weitere Überlegungen über den Willen würden eine anthropologische Reflexion bedeuten und den Rahmen des vorgegebenen Themas sprengen. Hier sei als eine triviale Tatsache vorausgesetzt, dass alle höheren Lebewesen Ziele verfolgen, die sie teilweise nach dem erkannten Nutzen frei auswählen. Diese Voraussetzung lässt sich mE mit der evolutionären Erkenntnistheorie (CF: https://de.wikipedia.org/wiki/Evolutionäre_Erkenntnistheorie, Abrufdatum 19.04.2017, 16 Uhr 43) begründen, da zweckrationales Verhalten die Überlebenswahrscheinlichkeit erhöht. Ent- sprechende Passagen im Werk von Konrad Lorenz zeigen, dass der Wille ein Teil des Geistes und Flexibilität des Verhaltens, welche mE einen indeterminierten Handlungsspielraum bedingt, ein evolutionärer Vorteil ist. Siehe: Konrad Lorenz (1973): Die Rückseite des Spiegels. München, 14, 40- 42, 153, eventuell auch 199-200

111 bringen können, wie sie in einen kulturellen Zusammenhang eingebettet sind (vgl aaO 108). Die Beteiligung der Einzelnen an solchen Gruppenphänomenen sollte durch prak- tische Syllogismen erklärt werden, ohne die emergenten Eigenschaften von sozialen Kollektiven zu übersehen (aaO 124). Offensichtlich besteht ein großer Teil der Arbeit von Humanwissenschaftlern darin, Be- obachtungsmaterial zu interpretieren, um feststellen zu können, was soziale Ereignisse eigentlich sind bzw bedeuten, worauf auch von Wright hinweist. Geisteswissenschaftli- che Erklärungen beziehen sich hingegen auf die Ursachen dieser sozialen Ereignisse (von Wright 123). Eine Deutung soziokultureller Phänomene geschieht prinzipiell schon dadurch, dass sie unter Anwendung bestimmter wissenschaftlicher Begriffe be- schrieben werden, was eine Vorbedingung für ihre nachfolgende Erklärung ist (aaO 124). Da sie intentional sind, werden sie anders als Naturereignisse nicht nur als Ereig- nisse einer bestimmten Beschaffenheit verstanden, sondern auch als Anzeichen und Ausdruck von Seelisch-Geistigem, doch das geschieht in den Humanwissenschaften nach von Wright durch Interpretation des Datenmaterials (aaO 123). Dh dass Geistes- wissenschaften ihren Gegenstandsbereich anders verstehen und anders erklären, als das in Naturwissenschaften der Fall ist (aaO 124). Dies erfolgt dadurch, dass teleologische Erklärungen der per definitionem intentional bedingten soziokulturellen Phänomene durch praktische Syllogismen zur Entstehung und Entwicklung hermeneutischer Wis- senschaften beitragen. Auch klassische Kausalerklärungen haben, wie von Wright erkennt, in der Geschichts- wissenschaft ihren Platz, etwa wenn die Zerstörung von Artefakten oder Bauwerken als Auswirkung von Natureinflüssen oder als Handlungsfolgen erklärt wird. Derartige Er- klärungen sind ihm zufolge im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Arbeit jedoch im Vergleich zur Erklärung durch Handlungsgründe zweitrangig. Historische Erklärungen beziehen sich auf naturwissenschaftliche Kausalzusammenhänge, wenn diese eine menschliche Handlung bedingen oder wenigstens anregen und wenn sie eine Folge von Handlungen sind (vgl von Wright 125). Eine historische Erklärung führt regelmäßig soziale Veränderungen auf die Häufigkeit emotionaler Probleme zurück, verknüpft also eine nicht-humesche Ursache (siehe oben), zB krankhafte Rache- oder Eifersuchtsge- fühle, mit einer nicht-humeschen Wirkung, wie einem veränderten Verhalten der Be- troffenen im Wirtschaftsleben (aaO 126). Durch die Berücksichtigung von Handlungs-

112 folgen werden so auch humesche Ursachen und humesche Wirkungen in die Gesamtheit der historischen Erklärung einbezogen. Kausale Erklärungen spielen in der Geschichtswissenschaft immer dann eine Rolle, wenn es um die Frage geht, wie eine physikalische Veränderung (zB ein Kirchenbau usw) möglich war (vgl von Wright 126). Gewisse Handlungsergebnisse bilden in sol- chen Fällen den Gegenstand einer deterministischen Kausalerklärung, obwohl sie and- rerseits auch im Zusammenhang mit Intentionen und sonstigen Handlungen der an ihnen Beteiligten gesehen werden (aaO 127). Der praktische Syllogismus leistet auch bei klassischen Aufgaben wie zB der Erklärung des Ausbruchs von Kriegen Hilfe. Ein Zitat (von Wright 127-128) zeige nun von Wrights explizites Interesse für solche Bedingtheiten auf: „Wir haben hier ein Explana- ndum: den Ausbruch des Krieges, und ein vorgeschlagenes Explanans, die Schüsse von Sarajevo. Die kritische Aufgabe des Historikers bestünde darin, die Erklärung auf ihre (faktische) Richtigkeit zu prüfen. Die Aufgabe des Philosophen ist es, die begriffliche Natur des Mechanismus zu untersuchen, die das Explanans (die „Ursache“) mit dem Explanandum (der „Wirkung“) verknüpft.“ Dass ein Vorfall wie ein Attentat als Explanans mit einem Explanandum wie einem Kriegsausbruch verbunden sein kann, ist gemäß diesem Zitat möglich, muss aber wis- senschaftstheoretisch genauer untersucht werden, damit die Annahmen im Explanans so erweitert werden, dass aus einer eher populärwissenschaftlichen Erklärungsskizze eine Erklärung gemäß einem wissenschaftlichen Schlussschema entsteht. Von Wright zeigt dies am Beispiel des Ersten Weltkriegs: Er macht meisterhaft darauf aufmerksam, dass das Attentat, welches 1914 auf den damaligen Thronfolger der Mo- narchie verübt wurde, die Struktur der motivationalen Einstellungen der österreichi- schen Politiker beeinflusste, deren Reaktionen darauf, vor allem das Ultimatum an Ser- bien, wiederum auf die Motivation anderer Politiker wirkten. Diese Einstellungsverän- derungen sind zwar logisch unabhängig von den sie anregenden politischen Worten und Taten, hängen aber doch so sehr mit ihnen zusammen, dass eine annähernd vollständige historische Erklärung sie berücksichtigen muss (vgl von Wright 127-128). Anstatt mit allgemeinen Gesetzen konkrete Schritte der damaligen Tagespolitik zu er- klären, muss man mE von einem trivialen handlungstheoretischen Apriori ausgehen. Dass das Attentat von Sarajevo den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat, ist demnach eine

113 quasikausale Erklärung, welche nicht auf kausaler Notwendigkeit beruht (vgl aaO 129- 130). Der zitierte Autor führt diese seine Ansicht näher aus: Die Ziele der damaligen österrei- chischen Regierung wurden durch das bekannte Attentat nicht direkt verändert. Doch es entstand eine neue Situation. Die Reaktion auf diese erforderte eine Handlung entspre- chend einem praktischen Syllogismus. Allgemein gesagt wirken bei politischen Ent- scheidungen zuerst Tatsachen auf Pläne (dh auf die Prämissen eines praktischen Syllo- gismus), welche dann verwirklicht werden (was der Konklusion desselben entspricht), was eine besondere Form der Wechselwirkung zwischen Tatsachen und Zielen darstellt (vgl von Wright 131). Macht etwa Munitionsmangel (Beispiel von mir) einen geplanten Feldzug unmöglich, kann es zu einem Waffenstillstand kommen (vgl aaO 127-131).96 Die Zwecke, welche von historischen Akteuren verfolgt werden, können laut von Wright kulturspezifisch oder allgemein menschlich sein: Im letzteren Fall müssen sie in historischen Erklärungen nicht erwähnt werden, weil sie als selbstverständlich gelten (vgl von Wright 131-132). Veränderungen des Klimas und der Technologie (äußere Veränderungen) spielen in den Prämissen historischer Erklärungen ebenso eine Rolle wie innere Veränderungen in Be- zug auf Motivation und Kenntnisse: Eine Gruppe von Faktoren, welche allen anderen Faktoren gegenüber fundamental wichtig wäre, lässt sich nicht nachweisen (aaO 132). Damit hängt die offensichtliche Paradigmenvielfalt in den historischen Wissenschaften zusammen, wobei die Entscheidung zwischen Paradigmen von deren Nutzen beim Pos- tulieren und Prüfen von Hypothesen geleitet sein soll (aaO 133).97 A fortiori muss in historischen Erklärungen, wie von Wright erkennt, auf die vielfältigen Formen der Beeinflussung von Menschen durch Menschen eingegangen werden: Be- kanntlich verhindert physische Gewalt viele Handlungen, allerdings oft nicht zwingend, da Widerstand nicht auszuschließen ist (von Wright 133).

96vgl Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1974, 122-131 97Die Erklärung geschichtlicher Ereignisse durch praktische Syllogismen als Reaktion auf neue Si- tuationen ist mit den meisten sozialwissenschaftlichen Paradigmen vereinbar. Paradigma sei hier vereinfacht als die mit einer wissenschaftlichen Schule einhergehende umfassende Denkweise de- finiert (Quelle dieser Definition: https://de.wikipedia.org/wiki/Paradigma, Abrufdatum 20.04.2017, 16 Uhr 09). Vgl auch Mary Fulbrook: Historical Theory. London: Routledge 2002, 31, 41

114 Die Beeinflussung durch Normen, Autoritäten und Sanktionen im weitesten Sinne des Wortes sind gemäß unserem Autor ebenfalls wichtige Prämissen historischer Erklärun- gen und praktischer Syllogismen: Das Ziel eines Menschen kann sein, eine Norm ein- zuhalten, um Tadel oder Strafen zu entgehen oder um seinen Mitmenschen zu nützen (aaO 134-135). Auch Gesetze und Moralvorschriften können zweckrational motiviert und Konklusionen eines praktischen Syllogismus sein (vgl aaO 135; vgl auch mein Ka- pitel über Moralwissenschaft). Verhaltensweisen, welche nicht durch vernünftig begründbare Ziele motiviert sind, werden laut von Wright als sinnlos kritisiert (aaO 136). Fälle, in welchen das Verhalten eine reflexhafte Reaktion auf Einflüsse ist, sind ihm und mir zufolge selten (vgl aaO 137). Manche Normen bestimmen, was man tun darf oder soll, andere legen den genauen Ab- lauf von Verhaltensweisen fest. Erstere spielen eine große Rolle bei der Erklärung von Handlungen überhaupt, letztere bei der Erklärung von kulturbedingten Gebräuchen (von Wright 137-138).98 Eine weitere interessante Frage, die von Wright stellt, ist, ob sich Individuen und Grup- pen zweckgemäß verhalten, obwohl ihnen der Zweck nicht bewusst ist, was Hegels These von der List der Vernunft ähneln würde. Die Frage ist laut von Wright zu bejahen, da häufig nur die Leistungen von Einzelnen oder Gruppen zu einem bestimmten Zeit- punkt Leistungen anderer zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen. Dies ist mE eine rationale Umdeutung der traditionellen sinngebenden Geschichtsphilosophie durch den Begriff der Signifikanz eines Ereignisses für spätere Kulturen. Dass bestimmte Pläne erst in Folge neuer technischer oder wirtschaftlicher Möglichkei- ten entstehen, ergibt sich ebenso aus der Natur des praktischen Syllogismus (vgl von Wright 140). Eine Neubewertung der Vergangenheit vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart aus ist jederzeit möglich. Als objektive historische Erklärung muss sie aber auch signifikant sein, sie muss also nachweisen oder plausibel machen, dass etwas Ge- genwärtiges durch etwas Vergangenes ermöglicht wurde (aaO 141). Die Möglichkeit solcher Einflüsse kann mE durch das Rekonstruieren praktischer Syllogismen und ande- rer Handlungsvoraussetzungen aufgezeigt werden (aaO 139-141).

98Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main: Fischer Athenäum 1974, 131-139

115 Eine weitere für historische Erklärungen relevante Grundsatzfrage bei von Wright ist die Frage nach Feedbackprozessen im soziokulturellen Leben analog zur organischen Na- tur. Die gegenseitige Beeinflussung zweier sozialer Gruppen ist aber kein Feedbackpro- zess mit humeschen Ursachen, da es sich um eine Interaktion handelt, deren einzelne Schritte jeweils auf eigenen praktischen Syllogismen über zweckrationales Handeln be- ruhen (vgl von Wright 143). Politische Auseinandersetzungen etwa sind mE stets auch im Hinblick auf Entschlüsse und Erkenntnisse der an ihnen Beteiligten zu erklären (aaO 143). Die soeben vorgestellten Begriffe Feedback und Interaktion erlauben der theoretischen Philosophie eine Entmystifizierung der von Hegel als dialektische Synthesen beschrie- benen Sachverhalte (vgl aaO 144). Allerdings muss im Anschluss an von Wright vor falschen Analogien gewarnt werden, weil Kausalvorgänge im Bereich der Natur und Kausalzusammenhänge zwischen Handlungen von Individuen und Gruppen völlig un- terschiedlicher Natur sind. Die Vorhersagbarkeit menschlichen Handelns ist auf der Makroebene noch eher gegeben, da bestimmte subjektiv vernünftig erscheinende Ver- haltensweisen statistisch wahrscheinlich sind (von Wright 145), obwohl mE Individuen indeterministische Systeme sind. Daher gibt es statistische Aussagen über die Selbst- mordhäufigkeit unter bestimmten Umständen, welche aber die von ihnen dargestellten komplexen Sachverhalte nur ungenau beschreiben (vgl aaO 146-147). Die statistische Methode ist, wie viele Wissenschaftstheoretiker meinen, für alle Wis- senschaften einsetzbar. Es ist jedoch zu beachten, dass Regelmäßigkeiten nicht den ge- samten Gegenstandsbereich humanwissenschaftlicher Forschung ausmachen (von Wright 147) und individuelle Ereignisse des menschlichen Lebens mE anders als ein- zelne Naturereignisse am besten durch praktische Syllogismen erklärt werden. Daher ist eine Rehabilitierung des von Popper verworfenen Historizismus unmöglich, weil in so- ziale Systeme anders eingegriffen wird (zT von Teilen des Systems selbst) als in die statischere Natur (vgl aaO 148). Der praktische Syllogismus ist eine der fundamentalen Erklärungsformen der Geistes- wissenschaften, da nichts anderes als die Intentionen und Überzeugungen einer Person deren Handlungen bestimmen. Nicht-intentionales Verhalten ist nämlich für historische Erklärungen meist irrelevant (aaO 148), wie auch Entscheidungen aus „Jux und Tolle- rei“ mE ein vernachlässigbares Problem darstellen. Dies ist eine rationalistische Hand-

116 lungstheorie, welche auch das Phänomen der moralischen Verantwortung als eine Folge der Verursachung durch Handlungsentschlüsse auf Grund von Zielen und Überzeugun- gen erklärt (aaO 149). Damit wird die Verursachung von Handlungen indeterministisch gedeutet und auch das Unwiederholbare an der Geschichte einer handlungstheoretischen Kausalerklärung zugänglich gemacht.99 Mein Fazit dieses Kapitels lautet: Die Erklärung durch praktische Syllogismen ist an- ders als die Frage nach dem Ziel und Zweck der Weltgeschichte empirisch überprüfbar. Teleologische Erklärungen für Handlungen sind, kurz gesagt, ein Sonderfall von kausa- len Erklärungen und der praktische Syllogismus ist eine Modernisierung des klassisch hermeneutischen Zugangs zur historischen Erklärung. Außerdem können sie uns lehren, wie wichtig zweckrationales Verhalten für ein gelungenes Leben ist.100

4b) Kritik an von Wright, Fortführung seiner Position Truls Wyller geht vom Phänomen aus, dass viele Gegenstandsbereiche der Humanwis- senschaften durch menschliche Handlungen gestaltet werden und ihre Konturen erhal- ten. Er fährt fort, indem er ua schreibt, dass Verstehen in der Wissenschaft seinen Platz verdient hat, da es auf jene Komponente des Handelns eingeht, welche man seine Sinn- dimension nennt. Er referiert, dass Gelehrte im Fahrwasser der analytischen Philosophie nicht glaubten, dass Handlungsmotive zugleich Handlungsursachen sind. Er führt die auch bei von Wright präsente Begründung dieser Ansicht an, dass das zu erklärende Er- eignis nur anders beschrieben wird, wenn auf die Absicht des Handelnden eingegangen wird. Das ist auch bei seinem eigenen Beispiel der Fall, da das Heben eines Arms ua ein Haltesignal für einen vorbeifahrenden Bus sein kann. Dieses Problem sieht Wyller so, dass unsere Handlungsmotive im Verstehen des Sinns des Handelns durch und für die Handelnden selbst bestehen. Ich räume ein, dass dies für eine innere, bloß logische Ver- knüpfung zwischen Handlungen und ihren Gründen spricht, habe aber die Existenz hu- mescher Ursachen bestritten (siehe oben). Denn ich halte Ursachen für Kräfte im wei-

99vgl aaO 139-151 100Aus dieser Erklärungsform lässt sich im Sinne des Lernens aus Geschichte mE die Lehre ziehen, dass ein goldener Mittelweg zwischen Dogmatismus und Prinzipienlosigkeit bei der Entscheidungs- findung beim Streben nach Glück und Tugend hilfreich wäre. Damit meine ich, dass der handlungs- theoretische Zugang zu den Humanwissenschaften einen Denkanstoß dafür liefert, wichtige soziale Interaktionen sorgfältig auf Grund bewährter Prinzipien zu planen.

117 testen Sinne des Wortes, die ihre Wirkungen bei Verwendung bestimmter Realdefiniti- onen auch logisch implizieren. Motive verstehe ich in diesem Sinne als Mitursachen von Handlungen.101 Von Wright präsentiert praktische Syllogismen gerade deshalb als gültig, da sie eine in- nere Sinnbeziehung zum Ausdruck bringen und da Handlungen ihm zufolge Sprechak- ten ähnlich etwas bedeuten. Dh ihm zufolge implizieren Zwecke Mittel, da Mittel zum Zweck nicht unabhängig von diesem bestimmbar sind. In der Tat macht mE ein Zweck die Mittel zu seiner Erreichung verständlich, wie sinnstiftende Akte sinnlose Zeichen in eine Art Sprache verwandeln. Nach der Wiedergabe dieser Lehrmeinung geht Wyller auf Donald Davidsons Erörterung der Kausalität von Handlungen ein. Davidson ist wie ich der Auffassung, dass Gründe keine humeschen Handlungsursachen sein müssen, und löst dieses Problem durch die Bemerkung, dass die Existenz einer lo- gischen Verknüpfung es nicht kategorisch ausschließe, dass dasselbe Verhältnis auch als durch eine humesche Ursache bedingt aufgefasst werden kann. Als Beispiel dafür, dass man Ursachen nur von ihren Wirkungen her kennt, führt Davidson Masern an: Sie sind eine mögliche Ursache von mit ihnen verbundenen Symptomen wie roten Flecken am Körper des Erkrankten. Definiert man Masern durch ihre Symptome, liegt ein rein logischer Zusammenhang zwischen der Krankheit und ihren Folgen vor. Dieser Zu- sammenhang schließt aber nicht aus, dass auch eine Erklärung desselben Sachverhalts im Sinn einer humeschen Ursache möglich wäre, etwa eine Rückführung auf Viren, wobei nicht notwendig alle Symptome auftreten müssen. Krankheiten sind zwar keine Handlungen, aber beide Phänomenklassen sind unabhängig von Definitionsfragen einer kausalen Erklärung zugänglich. Davidson betrachtet daher auf Motiven aufbauende Er- klärungen als normal und durchaus wissenschaftlich.102 In der Tat lässt sich laut Davidson fragen, warum es in einer konkreten Situation zu ei- ner bestimmten sozial bedeutungsvollen Handlungsweise kommt, zB zu einem körper- sprachlichen Signal. Ich glaube nicht, dass man eine Gegenthese zu dieser Position for- mulieren kann, zumal Geisteswissenschaften eindeutig und auch laut Davidson die Auf-

101Jeder Handlungsbegriff muss sowohl den naturwissenschaftlich erfassbaren, rein körperlichen als auch den sozialen, zweckgerichteten Aspekt von Handlungen berücksichtigen. Handlungen ha- ben anders als Reflexe eine Sinndimension, die einem Forscher verborgen bleibt, wenn er nicht auf die Intentionen des Handelnden eingeht. Dazu Trulls Wyller (1996): Das Verstehen singulärer Handlungen. Ein Kommentar zu Davidson und von Wright. In: Rudolf Haller (Hg): Grazer Philosophi- sche Studien. Internationale Zeitschrift für analytische Philosophie 51 (1996), 237-239 102aaO 240-241

118 gabe haben, Einzelfälle und nicht nur Typen von Handlungen zu erklären. Das folgende Zitat möge die Möglichkeiten der kausalen Einzelfallerklärungen in den Geisteswissen- schaften verdeutlichen: Es geht maW nicht darum, neue Begriffe oder Regeln zu verstehen, sondern da- rum, Einzelfälle in Bezug zu schon verstandenen Mustern zu setzen. Und für sol- che Zwecke ist laut Davidson das beste Erklärungsmodell eben das kausale. Auf jeden Fall sieht er keine bessere Alternative. Die Motive unserer Handlungen sind zwar auf die Art und Weise, wie wir sie normalerweise auffassen, keine Tei- le von Kausalerklärungen. Das macht jedoch kein Hindernis dafür aus, dass sie als Zustände unserer Körper und unabhängig davon, wie wir sie auffassen, in einem Universum physischer Gesetze als distinkte Ursachen vorliegen können. (Wyller 242/243)

Die Erklärung beabsichtigten Verhaltens kommt nicht ohne Bezugnahme auf Motive und deren Bedingungen aus (vgl aaO).103 Wyller wollte eine akausale Auffassung von Handlungsgründen verteidigen. Ua wun- dert er sich, wie Davidson erklären kann, dass manche Wünsche mit Handlungen kausal zusammenhängen, obwohl nicht auf Grund dieser Wünsche gehandelt wird. Davidson stellt fest, dass Wünsche, nur wenn sie zu singulären Intentionen werden, dh der domi- nante Impuls werden, zu bestimmten Handlungen führen, und zwar zu den für die Han- delnden am ehesten wünschenswerten Betätigungen (aaO 247). Er glaubt wie die meis- ten auch, dass Soziales nicht gleich streng von Gesetzen bestimmt ist wie Natürliches. Ich meine aber, dass auch einzelne Absichten zumindest eine Mitursache sein kön- nen.104 Auch laut Wyller muss es einen Zusammenhang zwischen Absicht und Handlung ge- ben, für den er jedoch keine nicht-zirkuläre Bestimmung seiner kausalen Natur kennt. Diese glaube indes ich durch den Einfluss des Bewusstseins auf das Zentralnervensys-

103Davidson vermisst zusätzlich zur formalen Ursache eine Zweckursache, die gleichzeitig als be- wirkender Faktor anzusehen ist. Deshalb erkennt er, dass es Geisteswissenschaftlern auch auf die Motive für Einzelhandlungen ankommen kann. Ein Beispiel eines Motivs für eine Handlung ist das Geben des von Davidson beschriebenen Haltesignals aus Müdigkeit (letztere liegt dem Wunsch, mit dem Bus zu fahren, zu Grunde). Wie ich weiß er, dass man diese Einzelhandlungen unter allgemei- ne Gesetze bzw Tendenzen subsumieren soll, um eine Erklärung für die Taten von Staatsmännern (Beispiel von mir) etc zu erhalten: aaO 242-243, 252 104aaO 244, 246-247

119 tem (dies ist eigentlich eine Wechselwirkung) und den Einfluss des letzteren auf will- kürliche Bewegungen gefunden zu haben (im Sinne des Volksspruchs „Man denkt mit dem Hirn“). Für diese kausale Deutung der Motivwirkung spricht zudem, dass David- son die Entscheidung zur Handlung als ein kategorisches Urteil interpretiert, welches das letzte Glied einer Kette von Überlegungen und zugleich ein realer Impuls sowie das erste Glied der Schritte meiner Handlung ist. Er schreibt: Was intentionales Handeln kennzeichnet, wäre also, dass der Zeitpunkt, an dem es stattfindet, bestimmt ist durch seinen Platz in einer singulären Sequenz bis hin zu einem bestimmten, zukünftigen Ereignis, das auch durch seinen Zeitindex bestimmt ist. Es ist unser Bewusstsein, dass im Lichte aller unserer Handlungs- pläne „jetzt die Zeit reif ist“, welches die Einzelhandlung verursacht. Ein Wunsch wird dann in dem Augenblick in eine Intention umgewandelt, wenn ich meine einzelnen Schritte „sequenziell“ im Lichte der Intention steuere. (aaO 249) Dies heißt mE gewiss, dass intentionale Handlungen aufgrund unseres Zeitbewusstseins geschehen (vgl aaO 251). Dies sehe ich gleich wie Wyller und glaube auch wie er, dass Handlungen durch ihre Zwecke erklärt werden. Ich verwerfe bloß die Möglichkeit eines Einflusses der Zukunft auf die Gegenwart als unlogisch. Mir geht es also nicht um den Einfluss der Zukunft auf unser Handeln, sondern um den Einfluss gegenwärtiger Zu- kunftsvorstellungen auf es. Geisteswissenschaftliche Erklärungen beschreiben mE regelmäßig die Realisierung von Handlungsmöglichkeiten, wobei die Zukunftsvorstellung nur eine mehrerer Bedingun- gen dieser Realisierung ist und dieser Sachverhalt mittels praktischer Syllogismen be- schrieben wird.105 Wenden wir uns noch einmal genauer der Möglichkeit der kausalen Wirksamkeit von Gedankeninhalten zu: Von Wright selbst knüpft in seinem Spätwerk an René Descartes an. Letzterer nahm teilweise moderne Ansichten über die Wechselwirkungen zwischen dem geistigen und dem materiellen Wirklichkeitsbereich vorweg, indem er andeutete, dass Willensakte kausal auf Körperbewegungen von Lebewesen einwirken. Ich beziehe mich insbesondere auf meine soeben vorgetragene Hypothese, es gebe eine ständige

105aaO 248-249, 251-252

120 Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Zentralnervensystem. Sie erinnert an Descartes.106 Von Wright behauptet, dass die Annahme einer Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche mit einem naturwissenschaftlich-kausalen Weltbild vereinbar ist. Dem ist zuzu- stimmen, denn Gedanken gehen stets mit physikalischen Prozessen Hand in Hand, dh sie lösen stets physikalische Prozesse im Nervensystem aus. Dies ermöglicht mE die absolute Vereinbarkeit der Erklärungen mit Hilfe von praktischen Syllogismen mit ei- nem naturwissenschaftlichen, aber nicht reduktionistischen Menschenbild. Von Wright konstatiert, dass bestimmte Prozesse in Sinnesorganen eindeutig von Rei- zen kausal bewirkt werden. Er fährt fort, dass unsere Kenntnis von Tatsachen über Sin- nesempfindungen die Annahme einer regelmäßigen Verursachung psychischer Empfin- dungen durch physikalische Reize rechtfertigt. Außerdem stellt er die Frage, ob Vorgänge in gereizten Sinnesorganen entsprechende Empfindungen verursachen. Er verneint die Frage, da Empfindungen wie das Hören und von physikalischen Reizen ausgelöste Nervenprozesse regelmäßig gleichzeitig ablaufen. Sehr geistreich gelangt er zur begrifflichen Einsicht, dass Prozesse im Nervensystem auch vor und nach den entsprechenden Empfindungen sowie gleichzeitig mit ihnen vor sich gehen können, während nur von Reizen verursachte Nervenprozesse Empfindun- gen auslösen können und letztere also nicht vor ersteren auftreten können. Weiters schließt er, dass solange man wirklich etwas empfindet und sich nicht bloß eine Emp- findung vorstellt, man von den unmittelbaren Nachwirkungen eines Reizes beeinflusst wird. Er glaubt damit eine magische Auffassung des Geist-Gehirn-Verhältnisses wider- legt zu haben. Für geisteswissenschaftliche Erklärungen bedeutet das mE, dass man emergente Phänomene der Informationsverarbeitung im Gehirn und der sozialen Inter- aktion im Kontext von physikalischen und auf diesen aufbauenden Systemen mit meh- reren Freiheitsgraden sehen muss. Von Wright geht darauf ein, dass menschliche Verhaltensweisen, die auf eine Sinnes- empfindung reagieren, uns wie eine von Wahrnehmungen und Meinungen über diese, dh von Psychischem, bewirkte Bewegung vorkommen. Er beschreibt dies an Hand der Reaktion auf ein Klopfgeräusch und führt in diesem Zusammenhang die begriffliche

106Georg Henrik, Von Wright (2001): Die psycho-physische Wechselwirkung und die Geschlossenheit der physikalischen Weltordnung. in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung 49 (2001), 647

121 Distinktion Ursache (zB Klopfgeräusch) versus Grund (zB Angst vor Einbrechern als Handlungsgrund, der zur Reaktion auf solche Geräusche motiviert) ein (zweites Bei- spiel von mir). Außerdem erläutert er, dass manche Handlungsgründe Ereignisse von kurzer Dauer im bewussten Seelenleben sind und, zeitlich gesehen, ein Teilbereich der Kausalkette der Ursachen der von ihnen motivierten Bewegungen. Natürlich sind alle Gründe mentale Erscheinungen. Dann rekapituliert er, dass Physikalisches Mentales verursachen kann und umgekehrt. Mithin vertritt er die Vereinbarkeit von psychophysischen Wechselwirkungen mit der Kausalität der Natur. Mentale und physikalische Ereignisse sind demnach dann und nur dann miteinander kausal verknüpft, wenn Folgendes gilt: Es gibt ein Kausalverhältnis zwischen zwei physikalischen Ereignissen, von denen eines ganz oder teilweise mit dem betreffenden mentalen Ereignis gleichzeitig abläuft. Betrachten wir diese vorzügliche Definition an Hand eines Beispiels, das von Wrights Text ein wenig variiert: Zuerst ist Klopfen im Keller zu hören, wobei das Geräusch wie die durch es bewirkte Nervenerregung physikalisch sind. Mental sind die Wahrnehmung dieses Geräusches und seine Interpretation durch den Hörenden. Er (sie) kann es für ei- ne Katze, für einen Einbrecher usw halten. Die Nervenerregung wird vom Geräusch verursacht und ist mit der Wahrnehmung zT gleichzeitig. Darauf folgt eventuell eine Reaktion, etwa ein Abstecher in den Keller, um nachzusehen. Dies ist ein physikali- sches Ereignis und lässt sich auch durch einen praktischen Syllogismus erklären. Der Fußmarsch in den Keller wird andrerseits von Nervenprozessen verursacht, die zT gleichzeitig mit dem mentalen Phänomen der Entscheidungsfindung ablaufen. Dies lässt sich auch so deuten, dass Mentales und Neuronales zwei Aspekte derselben Realität sind (aaO 651). Die Neurowissenschaften sprechen laut von Wright ebenso für diese seine Ansichten wie bewährte Annahmen über Kausalität in der Natur. Ich glaube, dass dies eine naturwissenschaftliche Erklärung der kausalen Wirksamkeit von Motiven ermöglicht. Motive halte ich für Mitursache und notwendige Bedingung von bewusstem Handeln, wie auch Prozesse im Innenohr eine notwendige Bedingung echter Hörempfindungen sind. Anders als von Wright behaupte ich die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung.107 Diese ist mE bei Momenten der Kraftübertragung beobachtbar, etwa

107aaO 647-651

122 bei bestimmten Phasen des Zusammenstoßes zweier Automobile. Das kann, meine ich, beim Zusammenhang zwischen Nervenerregungen und Gedankeninhalten ebenso der Fall sein. Außerdem halte ich die Gleichzeitigkeit zwischen Mentalem und Nervlichem für eine vielleicht nur scheinbare, so dass eines der beiden Ereignisse in Wirklichkeit etwas früher als das andere eintritt. Dadurch kann ich eine Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Nervensystem erklären, die eine Mitursache aller Formen intentiona- len Verhaltens ist. Dh der Willensakt, der aus Überlegungen über Motive entspringt, wird vom praktischen Syllogismus beschrieben und kann wegen seiner per definitionem gegebenen neuronalen Begleiterscheinungen auch als die humesche Ursache der Bewe- gung, zu der er motiviert, aufgefasst werden. Die Geschichtswissenschaft erklärt auf diese Art viele Einzelhandlungen, die zusammen eine Form soziokulturellen Gesche- hens ausmachen (vgl die handlungstheoretischen Passagen in Kapitel 13).

Kapitel 5 - Hermeneutik

Wir wenden uns nun der Frage zu, was die Klassiker der philosophischen Hermeneutik in Bezug auf tatsächliche und erstrebenswerte Erklärungen zu sagen haben. Dabei sol- len für dieses Thema irrelevante hermeneutische Lehren unerörtert bleiben, da der Rahmen dieser Arbeit insbesondere durch nicht-geisteswissenschaftliche Interpretati- onsprobleme gesprengt würde. Gadamer erwähnt die Existenz eines nichtwissenschaftlichen Wahrheitserlebnisses, das ua durch die Künste vermittelt wird. Zu diesem Erlebnis kommt es mE immer, wenn der Leser von chronik- und berichtartigen Beschreibungen vermeint, durch Intuition und Alltagsverstand zu neuen Einsichten zu gelangen. Dh ganzheitlich wird von ihm ein Wirklichkeitsbereich mit Kausalverknüpfungen wahrgenommen, wobei triviale Ge- setzmäßigkeiten vorausgesetzt bleiben (vgl Gadamer 3, Einleitung zu seinem anschlie- ßend zitierten Werk). Gadamer behauptet die Tatsache, dass historische Forschung nicht ohne Anwendung allgemeiner Erfahrungen auf konkrete Forschungsgegenstände vor sich gehen muss, fügt aber zu Recht hinzu, dass das Konkrete im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses

123 bleibt. Ich betrachte geisteswissenschaftliche Erklärungen als das Aufzeigen von Ge- meinsamkeiten und Unterschieden zwischen einzigartigen Produkten des menschlichen Geistes einerseits und den meist statistischen Gesetzmäßigkeiten des Phänomen- bereichs, dem sie zugehören, andrerseits. Gadamer bestreitet sogar ebenso wie Stegmüller explizit die Existenz einer eigenen Me- thode der Geisteswissenschaften, indem er sinngemäß ausführt, dass Geisteswissen- schaftler nur weniger exakt die Methoden des induktiven und deduktiv-nomologischen Schließens anwenden. Er relativiert diese These jedoch in Anschluss an Hermann Helmholtz durch die Feststellung, andere Umstände könnten für die Geisteswissenschaf- ten wichtiger sein als die für alle Wissenschaften einheitlichen Methoden. Hermeneutik als Spezialmethode lässt sich in diesem Zusammenhang mE als vom Gegenstand be- stimmter Spezialfall einer allgemeinen Methode logisch konsistent bestimmen und durch ihre heuristische Fruchtbarkeit rechtfertigen (siehe Kapitel 2). Gadamer behaup- tet (aaO 13): „Helmholtz hatte das richtig angedeutet, wenn er, um den Geisteswissen- schaften gerecht zu werden, Gedächtnis und Autorität hervorhob und vom psychologi- schen Takt sprach, der hier an die Stelle des bewussten Schließens trete.“ Für mich ist psychologischer Takt im Sinne von Helmholtz mit der von Popper postulierten implizi- ten Annahme trivialer humanwissenschaftlicher Gesetze identisch, so dass es sich um einen bloßen Formulierungsunterschied handelt.108 Traditionellerweise hielten die Geisteswissenschaften Bildung und Humanität für ihre Aufgaben. Das verweist auf ein praktisches Erkenntnisinteresse, den Menschen durch Einsicht in die Möglichkeiten seines eigenen Geistes zu veredeln, was wiederum ein wissenschaftliches Menschenbild voraussetzt. Dieses lässt sich mE in zumindest statis- tische Verallgemeinerungen über das für Menschen Nützliche, ihre Formbarkeit usw. übersetzen, die danach in Prämissen von historischen Erklärungen eingehen können (vgl Gadamer 14-15). Gadamer bezieht sich auch auf Hegels Anthropologie, gemäß welcher der Mensch der Bildung bedürftig ist. Dieses anthropologische Phänomen kann man meiner Meinung nach als den Ausgangspunkt jeder kulturwissenschaftlichen Fragestellung betrachten, da es auf eine Funktion soziokultureller Erscheinungen für ein gelungenes Leben des Ein-

108vgl Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke 1. Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr 1999, 3, 10, 13

124 zelnen hinweist, philosophische Hermeneutik also, richtig verstanden, zu funktionalen Erklärungen und Erklärungen auf Grund eines praktischen Syllogismus in den Human- wissenschaften führt. Gadamer zeigt nämlich im Anschluss an hegelsches Denken auf, dass das Individuum in seiner Entwicklung auf die Sprache und Bräuche seiner Umge- bung reagiert. Er meint auch mit Recht, dass sich Geisteswissenschaftler bei ihren Erklärungen auf ihre Intuition, den „Takt“, eine Art populärpsychologisches Einfühlungsvermögen, ver- lassen, dasselbe Vermögen, durch das wir vermeiden können, unseren Mitmenschen zu nahe zu treten. Dieser „Takt“ des Geisteswissenschaftlers ist eine durch Bildung ge- schulte, automatisierte Urteilsfähigkeit. Er wird von Gadamer ua dermaßen beschrieben (aaO 22): „Man muss für Ästhetisches wie für Historisches Sinn haben oder den Sinn gebildet haben, wenn man sich auf seinen Takt in der geisteswissenschaftlichen Arbeit soll verlassen können. (...) So weiß, wer ästhetischen Sinn besitzt, Schönes und Hässli- ches, gute oder schlechte Qualität auseinanderzuhalten, und wer historischen Sinn be- sitzt, weiß, was für eine Zeit möglich ist und was nicht, und hat Sinn für die Andersar- tigkeit der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart.“ Autoren wie Giambattista Vico beriefen sich auf eine lehrbare Intuition, auf einen auf Bildung beruhenden gemeinsamen Sinn für das Wahre und Richtige in soziokulturellen Fragen, der oft nur zu Urteilen über Wahrscheinlichkeiten etwa in Bezug auf historische Umbrüche führt. Ich behaupte, wie schon angedeutet, in Anschluss an Popper und Stegmüller, dass sich auch diese Intuition des Gebildeten über den menschlichen Geist und seine Produkte von der analytischen Philosophie zu expliziten geisteswissenschaft- lichen Erklärungen umformulieren lässt, in denen statistisch-psychologische Gesetze mit meist niedrigen Korrelationen eine Prämisse sind und die Beschreibung des typisch Individuellen eine weitere.109 Schon die ältesten von der mathematischen Physik inspirierten Texte über Geisteswis- senschaften stellen fest, dass man soziokulturelle Ereignisse an Hand ihrer Begleitum- stände beurteilen soll. Gadamer hält derartige primitive Aufforderungen zu Kausaler- klärungen mit Recht für trivial. Trotzdem betrachte ich sie ua als geistesgeschichtliche Vorläufer einer Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften. Dabei macht Gadamer auf die Gefahr einer „Selbstaufhebung“ der Geisteswissenschaften durch die Anwen-

109vgl aaO 14-15, 17, 20, 22, 26

125 dung von allzu naturwissenschaftlichen Methoden aufmerksam. Dieser Gefahr ist mE durch hermeneutische Einzelfallerklärungen, bei denen statistische Gesetze nur die psy- chologischen Möglichkeiten etc belegen, zu begegnen (siehe Einleitung). Gadamer betont, dass die historische und sittliche Existenz des Menschen auch von die- sem Sinn des Kulturwesens Mensch für das richtige Verhalten bestimmt ist, dass auch Leidenschaften der historischen Akteure in geisteswissenschaftlichen Erklärungen zu berücksichtigen sind und allgemeine Regelmäßigkeiten, Handlungsgründe und spezifi- sche Umstände gleichermaßen für die korrekte geisteswissenschaftliche Behandlung von Phänomenen benötigt werden. Damit stellt er einer zeitgemäßen Hermeneutik eine heuristische Aufgabe, hat aber - scheint mir - wohl den Wesensunterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften überschätzt, wie Stegmüller selbigen unterschätzt hat. Im Diskurs über gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis ist sogar das Wissen auf Grund eines sozialen Sinnes (dh analog einer Form des gesunden Menschenverstands) dem Wissen, welches sich aus sozialwissenschaftlichen Gesetzen ableitet, als überlegen gegenüber gestellt worden (vgl aaO 31). ME ist die soeben angeführte Meinung zwar ein verständlicher Protest gegen ungerechtfertigte Verallgemeinerungen, doch müssen sozialer Sinn und hermeneutisches Einfühlen selbst auf einer Kenntnis von Regelmä- ßigkeiten beruhen, der man sich als Wissenschaftstheoretiker bewusst werden muss.110 Gadamers Hermeneutik kann uns zur Reflexion über den Unterschied zwischen wissen- schaftlichen und unwissenschaftlichen Urteilen anregen, wenn er etwa den Geschmack als eine Erkenntnis definiert, deren Begriffe unbewusst bleiben und die etwas als pas- send, zu einem Ganzen passend beurteilt. Geschmacksurteile lassen sich mA dennoch selbst kausal erklären, was die Anwendung des Hempel-Oppenheim-Schemas auf kunstgeschichtliche Fragen erleichtert. Einschränkend sei hinzugefügt, dass im Umgang und bei der Beschäftigung mit Menschen eigentlich jeder Fall ein Sonderfall ist (vgl aaO 45). Darauf reagieren, wie gesagt, psychologisch-statistische Gesetzmäßigkeiten im Explanans einer geisteswissenschaftlichen Erklärung am besten. Ist indes in hermeneu- tischen Texten von einem eigentümlichen Wahrheitsanspruch der Überlieferung die Re- de, besteht die Gefahr, dass man sich zu unwissenschaftlichem Denken hinreißen lässt.111

110aaO 24, 28-29, 31 111vgl aaO 43 und 45-46

126 Eine Besinnung auf Wissenschaftlichkeit bedeutet im Anschluss an Gadamer ua, die Überreste der Schöpferkraft der kulturellen Vergangenheit als etwas Gegebenes aufzu- fassen, das für den Forschenden in mancher Hinsicht fremd sein muss. Schon Dilthey ging davon aus, dass Historiker Bedeutungseinheiten erleben, die sich in Elemente zer- legen lassen, die den ihnen vertrauten Formen des Kultur- und Seelenlebens ähneln. Diese erlebbaren Einheiten der Bedeutung von kulturellem Ausdruck sind mE beim Quellenstudium nacherlebbar und daher intersubjektiv überprüfbar, obwohl sie nicht gleich objektiv oder gar messbar sind wie experimentelle Daten der Naturwissenschaf- ten. Dh das bei der Begegnung mit den Zeugnissen soziokultureller Aktivitäten Erlebba- re ist das Gegebene der geisteswissenschaftlichen Erklärung. Verstehen von Sinn ist in diesem Zusammenhang die Rekonstruktion des lebendigen Geistes historischer Akteure mit bestimmten Motiven aus den überlieferten Objektivationen.112 Hermeneutik kann auch zu neuen kunstwissenschaftlichen Forschungsfragen anregen. Etwa sind manche alte Gebäude und Texte noch selbstverständlich Teil der Gegenwart (aaO 92), während Kulturwissenschaft auf den teilweise historisch bedingten und relati- ven Kunstgeschmack aufmerksam macht. Ein flexibles Qualitätsempfinden soll mE von Kunstwissenschaftlern geschaffen werden (vgl aaO), die kausal erklären, warum etwas auf jemanden schön oder erhaben wirkt. Ebenso ist laut Gadamer produktionsästhetisch zu fragen, ob ein künstlerisches Produkt wirklich auf geniale Eingebung zurückzuführen ist oder auf ein bloß handwerkliches Können, etwa Silbenzählen bei einem slowenischen Gedicht (Beispiel von mir). Ein bloßer Geniemythos ist dabei, so schließe ich aus seinen Ausführungen, ebenso zu ver- meiden wie ein Verkennen der intuitiven Originalität der besten Kunstwerke oder ein Übersehen der nachvollziehenden Genialität ihrer Rezipienten. Wissenschaftstheorie soll in diesem Kontext mA auch das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften hin- terfragen, analysieren was ihr Verstehen ist und inwieweit es zur Wahrheitsfindung führt (vgl aaO 106). Somit ist hermeneutisches Nachempfinden im Sinne dieser Arbeit von heuristischem oder analytischem Wert für Kausalerklärungen ausgehend von Moti- ven, Funktionen etc.113

112vgl aaO 71 113Von einem analytischen Wert der Hermeneutik gehe ich in Fällen aus, wenn sich ein Aus- drucksphänomen aus bekannten Motiven deduzieren und erklären lässt. Vgl aaO 92, 99, 106

127 Das gilt auch für kunsttheoretische Überlegungen, die doch die Entstehung und Wir- kung von Kunstwerken erklären sollen. Eine geisteswissenschaftliche Erklärung würde sich zwar ähnlich der von Gadamer dis- kutierten vorwissenschaftlichen Reflexion über Kunst auf Kunsterlebnisse (zB Theater- besuche) beziehen, sie aber etwa als eine Folge einer komplexen Verursachung durch suggestive Stoffe, scharfsinnige Texte, gelungene und engagierte szenische Aufführun- gen sowie die kulturbedingte Einstellung zum jeweiligen Theaterstück auffassen. Ähn- liches gilt für Bau- und Bildwerke, bei denen auch ihr Erhaltungszustand eine Rolle spielt, welcher bei der Erklärung ihrer Wirkung auf kunstinteressierte Betrachter zu be- rücksichtigen ist. Überhaupt geht das Phänomen Kunst infolge solcher Zusammenhänge über die bloße Subjektivität der Produzenten und Rezipienten hinaus (vgl aaO 123). Gadamer selbst erwähnt als kunsthistorisches Beispiel für seine Thesen die Tatsache, dass Bilder in steinzeitlichen Kulturen als Requisit für magische Praktiken dienen, wo- bei die Unterscheidung zwischen Abbild und Dargestelltem bzw zwischen Abbildung und Urbild vom Primitiven verdrängt wird. Damit liefert er eine Erklärungsskizze, die sich zu einer Funktionsanalyse des analogen Entstehungszusammenhangs von Kunst- werken ausbauen ließe. Weiters weist er auf den Unterschied zwischen portraitartigen und bloß nach einem Modell geformten typisierenden künstlerischen Darstellungen hin. Die Quellen und Er- lebnisse, die einen Dichter oder Philosophen angeregt haben, sind ihm zu Folge regel- mäßig letzterem analog, manchmal auch ersterem. Ich fasse solche Anregungen als eine der Ursachen für die konkrete Gestalt von Texten auf, wie es Platos Dialoge sind. Er- klärt man sie vor allem durch den großen Eindruck, den Sokrates auf ihren Autor (Er- lebnisbericht) machte, und wertet sie als kulturgeschichtliche Quelle über die altgriechi- schen Stadtstaaten aus, erhält man laut Gadamer vorzügliche historische Erklärungen, läuft aber Gefahr, den Sinnanspruch dieser philosophischen Texte zu vernachlässigen. Gadamer beschreibt auch das Phänomen, dass Andenken, also bloße Erinnerungsstü- cke, zwar Nachwirkungen der subjektiv bedeutungsvollen Vergangenheit sind, dass es aber krankhaft wäre, sie als Anlass für ein Leben analog der Vergangenheit aufzufassen. Geisteswissenschaftliche Erklärungen beziehen sich also ua auf die Erinnerungskultur

128 und arbeiten dabei zB mit psychologischen oder anthropologischen Gesetzen bzw Randbedingungen (vgl aaO 158).114 Bemerkungen Gadamers in Bezug auf die Wortkunst lassen sich zu Kausalerklärungen umformulieren. Denn wurde ein literarischer oder wissenschaftlicher Text als lesens- wert angesehen, so war das nicht selten eine Bedingung für seine Wirkung (vgl aaO 167). Die historische Überlieferung ist somit auch eine Folge des sprachlichen und in- haltlichen (zT nacherlebenden) Verständnisses von Texten (vgl aaO 168). Historiker verhalten sich laut Gadamer beim Quellenstudium trotz des Unterschieds zwischen literarischem und wissenschaftlichem Wahrheitsanspruch ähnlich wie Kunst- liebhaber bei einer Theateraufführung (aaO). Denn beide wollen mE ein fremdpsychi- sches Ausdrucksverhalten so genau wie möglich verstehen. Schriftliche Quellen sprechen einen anders als die meisten sonstigen Zeugnisse der Vergangenheit direkt an und werden sehr gut nachvollziehbar, wenn sie eindeutig sind (aaO 169). Dh sie liefern besonders gute Antecedensdaten und Explananda für geistes- wissenschaftliche Erklärungen, wobei Hermeneutik und psychologisches Einfühlungs- vermögen zudem von heuristischem Wert für die Erklärung aus Motiven sind, die eine historische Erklärungsskizze abrunden.115

5b) Interpretative Erkenntnis Die klassische Hermeneutik war, wie Gadamer lehrt, auch in ihrer primären Rolle als Textinterpretation Erschließung von Sinn aus dem Kontext und dies hat sie mE gemein- sam mit der strukturalistischen Betrachtung von Kultur als einem Textanalogon in der historischen Hermeneutik. Auch im Rahmen von Bibelinterpretationen (vgl aaO 179) kann es auf diese Weise zu Erkenntnissen kommen, wenn die Bibel etwa als Teil und Ausdruck einer bestimmten Kultur aufgefasst wird. Schon Friedrich Schleiermacher, ein Begründer der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts, hat deshalb das Verstehen als den Prozess des sich miteinander Verstehens aufgefasst, dh die historische Erklärung ähnelt per definitionem der Auswertung eines Gesprächs mit Älteren, man denke nur (Beispiel von mir) an oral history. In all diesen hermeneuti-

114aaO 122-123, 144, 150-151, 158 115vgl aaO 165-169

129 schen Kontexten sind nämlich ein Gefühl der Fremdheit beim Interpreten und die Mög- lichkeit, das „Du“ der Überlieferung zu missverstehen, immer gegeben. Davon geht die Hermeneutik der Romantik auch aus (aaO 183). Schleiermacher forderte zudem bereits eine psychologische Textauslegung, die fremde Gedankengänge nachvollzieht (aaO 190). Das sollte mE im Dienste von Sachkenntnis stehen, auch wenn dies laut Gadamer nur ein indirektes Verhältnis ist (vgl aaO 189). Texte und kulturelle Äußerungen lassen sich demnach ausgehend von einem Lebenszu- sammenhang, zu dem sie gehören, deuten und diese Deutung uU zu einer historischen Erklärung nach dem H-O-Schema ausbauen. Schleiermacher unterscheidet komparative und divinatorische Hermeneutik: erstere be- zieht sich auf Gemeinsames, letztere auf Eigentümliches. Meiner Auffassung nach gibt es keine Erkenntnis ohne Bezug auf Allgemeines und zu- dem existieren Vergleichsregeln, anders als es Schleiermacher behauptete. Auch Divi- natorisches bezieht sich mE doch auf Variationsmöglichkeiten des Menschlichen, so wie Musik zT mit Dreiklängen etc zusammenhängt, so dass es kausal erklärt werden kann, nur deterministisch nicht. Unbewusste oder doch verdeckte Meinungen und Zwecke zu erschließen, ist das ge- meinsame Ziel von staunend-interpretierender und objektiv kausal-erklärender Herme- neutik. Schon im späten 19. Jahrhundert wurde, zB von Heymann Steinthal, erkannt, dass diesem Ziel die Einbeziehung allgemeiner psychologischer Gesetze in geisteswis- senschaftliche Erklärungen nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften dienlich ist (aaO 197). Schleiermacher erfasst Texte als Ausdrucksphänomen, ansatzweise auch die Weltge- schichte. In der Tat führt die Anwendung des praktischen Syllogismus und des H-O- Schemas dazu, dass Kriege wie auch bestimmte Literaturgattungen etwa Heldenepen gleichermaßen auf psychologisch wahrscheinliche Gefühle wie Nationalstolz bzw den Ehrbegriff einer bestimmten Zeit zurückgeführt werden. Für den Historiker werden Texte zu Quellen (vgl aaO 201), dh aber in unserer Fach- sprache, dass sie Antecedensbedingungen und Explananda für Erklärungen nach dem H-O-Schema darstellen und ihm eine Hilfe bei der Erkenntnis geschichtlicher Zusam- menhänge sind. ME stellt sich in diesem Zusammenhang das grundlegende Problem, dass Quellen selbst der wissenschaftlichen Kritik unterliegen und kaum Hinweise auf

130 explizite Gesetzesannahmen liefern. Daher müssen psychologische und ähnliche Fakto- ren, welche den Hintergrund eines historischen Ereignisses bilden, zusätzlich zu Zeug- nissen aller Art rekonstruiert werden. Dilthey stellte eine Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften auf, übertrug die Me- thoden der Hermeneutik auf die Historik und analysierte den Begriff des Zusammen- hangs zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Er lehrte, man solle beides betrachten, um geisteswissenschaftlich zu erkennen, ist aber mE insofern zu modernisieren, als eine Einbeziehung von Kausalanalysen in diese Betrachtung günstig wäre.116 Das Individuelle im Spannungsfeld von Teil und Ganzem zu erfassen, ist eine wichtige Forderung an jede historische Erklärung. Und zwar soll dies mE durch die richtige Formulierung von Antecedensdaten und Explanandum geschehen sowie unter Berück- sichtigung der eigenen Geschichtlichkeit des Historikers. Die Weltgeschichte ist aber laut Gadamer kein einem Text vergleichbares abgeschlossenes Ganzes, sondern eher etwas teilweise Wahrnehmbares bzw ein Torso. Damit hängt auch die Notwendigkeit zusammen, einen Unterschied zwischen der Bedeutung eines Ereignisses für seine Zeit und seiner Bedeutung für spätere Epochen zu machen. Geschichtsphilosophische Abs- traktionen kommen in der historischen Wirklichkeit meist nur unvollkommen zum Aus- druck, wie Leopold von Ranke, Droysen und Dilthey feststellten. Sie dürfen daher mE in den Prämissen wissenschaftlicher Erklärungen anders als ein bestimmtes Menschenbild nicht vorkommen. Die Mannigfaltigkeit des Menschlichen wie auch große schöpferische Leistungen sind im Anschluss an alle großen Hermeneutiker gleichermaßen das, was im Explanandum beschrieben werden soll. Ein zu erforschender Zusammenhang in der Weltgeschichte ist schon durch die Abfolge von Werden und Vergehen gegeben, die mE offensichtlich auf einem vernetzten System kausaler Wechselwirkungen aufbaut. Die Bedingungen des Erfolgs von historisch wirksamen Handlungen sind bei einschlägigen wissenschaftli- chen Erklärungen zu berücksichtigen, obwohl oder gerade weil es keinen apriorisch notwendigen Geschichtsverlauf gibt (vgl aaO 207), und zwar durch Bezugnahme auf reale Zwecksetzungen sowie beabsichtigte und unbeabsichtigte Handlungsfolgen. Mo- derne analytische Geschichtsphilosophie schließt mE an Ranke an, der schon wusste, dass Entscheidungen frei sind, aber auf vorgegebene Möglichkeiten Rücksicht nehmen

116aaO 179-180, 183, 189-191, 193, 197, 200-202

131 und nur in bestimmten Situationen weitreichende Konsequenzen haben. Gadamer selbst schreibt dazu (aaO 210): „Denn Notwendigkeit meint hier nicht eine die Freiheit aus- schließende Verursachung, sondern den Widerstand, den die freie Kraft findet. (...) Der Widerstand, den die freie Kraft findet, ist selbst aus Freiheit. Die Notwendigkeit, um die es hier geht, ist die Macht des Überkommenen und der gegenhandelnden anderen, die jedem Einsatz freier Tätigkeit vorgegeben ist. Indem sie vieles als unmöglich aus- schließt, beschränkt sie das Handeln auf das Mögliche, das offen ist.“ Der psychologische Hintergrund dessen ist, dass jeder Mensch an sich Kraft und Ver- mögen zur freien Entscheidung wahrnimmt, die aber auf den Widerstand anderer Men- schen usw stößt und durch Umstände eingeschränkt wird. Eben das hat die geisteswis- senschaftliche Erklärung zu berücksichtigen, indem sie Entscheidungen psychologisch hermeneutisch beleuchtet, beachtet, dass der Einzelne auch von seinen Mitmenschen geprägt wird und Kulturen ihre Eigendynamik entwickeln. Kontinuität wäre in der Geschichte nur ansatzweise gegeben, wenn nicht Überlieferun- gen in ihr wirksam wären (vgl aaO 213). Darauf beruht mA die Existenz eines empi- risch gegebenen, nicht bloß spekulativen Kulturganzen.117 Allerdings bleibt der Begriff des Verstehens bei Ranke mystisch geprägt, so dass er verändert werden muss, um das Zusammenwirken von Sachzwängen und Entschei- dungsspielräumen begrifflich zu erfassen. Einem ersten Schritt dazu begegnen wir bei Droysen, der nicht nur Sprache, sondern auch Kultur als einen intersubjektiv zugängli- chen Ausdruck des Fremdpsychischen, eines fremden Innenlebens erkennt. Daher be- zieht sich offensichtlich jedes geisteswissenschaftliche Explanandum auf ein soziokul- turelles Ausdrucksverhalten, was die Formulierung von Erklärungen mit einer psycho- logischen Komponente nahezulegen scheint (vgl Kapitel 7, dies ist eine gewisse Vor- wegnahme aktueller Wissenschaftstheorie). Droysen weist jedoch der psychologischen Handlungsdeutung wegen kaum erkennbarer Motive und anderer Ursachen der gesell- schaftlichen Ereignisse eine nur untergeordnete Rolle im Rahmen des historischen Ver- stehens zu und eine geringere, als es die Rolle der Figuren in gewöhnlichen Romanen ist. Anders gesagt, Absichten prägen den Geschichtsverlauf nicht allein. Laut diesem

117vgl aaO 202-203, 205-208, 210-211 und 213

132 großen Historiker wird der Einzelne in den Geisteswissenschaften vor allem betrachtet, insofern er sich im öffentlichen Leben betätigt hat.118 Dilthey, der nächste große Kopf in der Geschichte der hermeneutischen Methode, wollte eine Kritik der historischen Vernunft liefern, also wie Kant Grenzen und Kategorien bestimmter wissenschaftlicher Erkenntnisse aufzeigen. ME verbessert Wissen darüber die Prämissen historischer Erklärungen. Wie soll die historische Erfahrung, zB Quellenstudium, also eine Wissenschaft ermögli- chen? Die Tatsachen, die durch glaubwürdige Überlieferungen belegt sind, sind Dilthey zufolge aufgrund der Geschichtlichkeit jeder menschlichen Erfahrung als Rohmaterial der Geschichtswissenschaft erkennbar, während sie laut Windelband und Rickert unter Bezug auf Werte organisiert werden müssen. Lebenserfahrung und leidvoller Kontakt mit der Wirklichkeit sind laut Dilthey eine lebensgeschichtliche Vorbedingung der his- torischen Erkenntnis (aaO 226). ME ist die Grunderfahrung des Menschlichen Voraus- setzung zuerst volkspsychologischer Verallgemeinerungen und dann meist trivialer und/ oder stillschweigend vorausgesetzter allgemeiner Gesetze im Explanans historischer Erklärungen. Dilthey führt unter Berufung auf Vico die Tatsache aus, dass geschichtliche Wirklich- keiten als vom Menschen gezielt gestaltbar für diesen erkennbar sein müssen, und geht davon aus, dass der Einzelne begründete Vorstellungen über seinen Lebenszusammen- hang und Lebensbegriffe entwickelt. Bewusstsein und Gegenstand der Erkenntnis des Soziokulturellen werden im Erlebnis, wie Dilthey richtig feststellt, also zumindest teil- weise identisch wahrgenommen. Darin besteht nämlich die Selbstgewissheit des Zwecksetzenden und soziokulturell Handelnden. Die Struktur des Erlebens seelischer Zusammenhänge ist ein von auch vordergründig materiellen Kausalzusammenhängen wohl unterschiedener Wirklichkeitsbereich. Dh das geschichtliche Individuum kann Kulturen verstehen, da es aus Erfahrung weiß, dass sich menschliches Zusammenleben von selbst zu verständlichen (bzw funktionalen) Formen organisiert und dass die Leben von Individuen durch bedeutsame Ereignisse strukturiert werden und deshalb wie Me- lodien als Ganzheiten wahrnehmbar sind (vgl aaO 227). Gadamer nennt dies einen textähnlichen, der Hermeneutik erschließbaren „Strukturzu- sammenhang des Lebens“. Historische Erkenntnis bezieht sich aber auf Zusammenhän-

118aaO 216-217

133 ge, die niemand erlebt (aaO 228). Dilthey beruft sich angesichts dieses Problems auf die ebenfalls erlebbare Zusammengehörigkeit von Individuen, zB im Rahmen eines Volkes. ME lässt sich dieser Strukturzusammenhang zusätzlich durch Selbstorganisationstheo- rien und praktische Syllogismen begründen, damit eine „objektiv-statistische Herme- neutik“ entsteht. In die Prämissen historischer Erklärungen sind demnach manchmal allgemeine Gesetzmäßigkeiten aus dem Bereich der Selbstorganisationstheorie, Identi- tätstheorie, Sozial- und Massenpsychologie einsetzbar. Dabei sind diese Phänomene aber auch, wie schon Dilthey wusste, immer zugleich Ausdruck des Seelenlebens vieler Menschen und als solcher verständlich. Psychologische und hermeneutische Zugänge zu historischen Phänomenen sind gleichermaßen möglich, letztere sind als Psychologie des Ausdrucks (vor allem von Gefühlen) mE ein Sonderfall ersterer.119 Um über diese Ausdrucksphänomene philosophieren zu können, benötigt Dilthey eine Theorie der Bedeutung. In Anlehnung an Edmund Husserl geht er zu Recht davon aus, dass sich jedes Bewusstsein auf ein Objekt bezieht. Außerdem kennt er schon den Sachverhalt, dass Individualitäten durch Wechselwirkungen zwischen Anlage und Um- welt mitbedingt sind und Bewusstseinsinhalte mit Bedeutung zum Ausdruck bringen. Beides lässt sich mE in Prämissen einer historischen Erklärung nach dem H-O-Schema einbeziehen. Für Dilthey ist Bedeutung ein Ausdruck des Lebens, was die Philosophie begrifflich er- fasst: Dh er glaubt, dass sich Lebewesen von Natur aus auf verständliche Art und Weise verwirklichen. Zweck und Bedeutung versteht er als Erscheinungsweisen der menschli- chen Seelenkräfte. Dabei erfährt der Einzelne seine eigenen Kräfte zusammen mit Wi- derständen der Außenwelt wie ebenfalls soziokulturelle Wirklichkeiten, die er zT mit- gestaltet und sich dabei zum Ausdruck bringt (vgl aaO 231). Inwieweit sind Empiri- sches und Apriorisch-Anthropologisches bei dieser historisch-psychologischen Er- kenntnis voneinander abgrenzbar, frage ich im Anschluss daran. Dilthey geht von Hegel aus, zählt aber anders als dieser alle kulturellen Schöpfungen zum objektiven Geist, hält sie gleichzeitig für ein Ausdrucksverhalten, das sich in sei- nen höchsten Formen, insbesondere im historischen Bewusstsein, seiner selbst bewusst wird. Dilthey forderte auch, dass man jede Zeit aus sich selbst heraus verstehen muss.

119aaO 223, 225-228

134 Diese Weisheit ist bei der Erklärung durch praktische Syllogismen zu beachten, da man mA sonst Ziele und Überzeugungen von historischen Akteuren falsch versteht. Außerdem erstrebt Dilthey eine Psychologie des Verstehens, wie sie in dieser Arbeit unter Formulierung historisch-psychologischer Gesetze ebenfalls versucht wird, und begründet deren Möglichkeit mit der Gleichartigkeit des Menschlichen. Gadamer schil- dert diese Gedanken Diltheys so (aaO 236): „Das historische Verstehen breitet sich über alle geschichtlichen Gegebenheiten aus und ist wahrhaft universal, weil es in der Totali- tät und Unendlichkeit des Geistes seinen festen Grund hat.“ Diese Annahme lässt sich mE ohne jede idealistische Spekulation unter der selbstver- ständlichen Voraussetzung der weitgehenden Konstanz und Gleichartigkeit der Natur und somit auch der menschlichen Natur begründen. Damit hoffe ich meine Frage be- antwortet zu haben, wie Empirisches und Apriorisches bei hermeneutischen Erkenntnis- sen unterscheidbar sind. Der hier behandelte große Hermeneutiker hält historisches Bewusstsein auch für eine Art Selbsterkenntnis und glaubt, dass primitive Wissensformen schon im Erleben ange- legt sind, sobald es bei Lebewesen auftritt, und dass höhere vorwissenschaftliche For- men von Wissen in Sprichwörtern, Sagen und Kunstwerken auftreten (aaO 239). Er bemühte sich schließlich den historischen Relativismus zu überwinden, was seine Le- bensphilosophie aber nicht völlig erlaubt. ME sind dennoch auch Philosophie und wis- senschaftliche Erklärungen Objektivationen des subjektiven Lebens, die bestimmte Wirklichkeitsbereiche erlebbar und damit objektiv erkennbar machen. Die Suche nach historischer Gewissheit führt, wie Dilthey zu Recht meinte, zur herme- neutischen Einsicht, dass Spuren der kulturellen Vergangenheit textähnliche Formen des Ausdrucks von Absichten und Überzeugungen und als solche teilweise erkennbar und mit dem Schema des praktischen Syllogismus erklärbar sind. Gadamer nennt diese Gedanken Diltheys sinngemäß eine Beschreibung der Objektivität der Geisteswissen- schaften, die sich von der der Naturwissenschaften grundlegend unterscheidet. ME be- darf diese Objektivität der Geisteswissenschaften aber einer Formulierung gemäß dem H-O-Schema, oft mit Hilfe eines praktischen Syllogismus.120 Anthropologisch lässt sich die Objektivität geisteswissenschaftlicher Erklärungen, be- haupte ich, folgendermaßen begründen: Die Lebenswelt ist als Horizont des menschli-

120aaO 229-231, 233, 235-236, 239, 241, 244, 246

135 chen Weltbezugs im Sinne von Husserls Phänomenologie weitgehend kulturübergrei- fend und daher dem Forscher bekannt, der auch weiß, dass Leben ein Kampf um Selbstbehauptung ist (vgl aaO 255), und ausgehend von diesem naturwissenschaftlichen Menschenbild und Tatsachenberichten Ziele und Überzeugungen von historischen Akt- euren durchaus zutreffend rekonstruieren kann. Daher kann die Hermeneutik unter Verwendung von praktischen Syllogismen eine Brücke zur Objektivität schlagen. Beim „Verstehen“, welches Hypothesen über mögliche Motive, Ausdrucksabsichten etc generiert, sind natürlich auch Bindungen an die eigene Kultur des Verstehenden und Erwartungen in Bezug auf seine Zukunft wirksam (vgl aaO 268): Indem Gadamer dies ausführt, bezieht er sich auf Martin Heideggers Erbe, auf die für Letzteren spezifischen Vorstellungen von Entwurf und Geworfenheit. Der Verstehende trägt eine kulturell ge- prägte Brille, die aber nur wenig verzerrt und sich auf vieles als gegeben, als Erfah- rungstatsachen, bezieht. Persönlich habe ich zu diesem Problem anzumerken, dass Gadamers „legitime Vorurteile“ aus Gründen der Klarheit und intellektuellen Redlich- keit in Arbeitshypothesen umbenannt werden sollen.121 Aufgabe des historischen Verstehens ist, Bedeutungsnuancen eines gut dokumentierten Ausdrucksverhaltens aus dem Kontext zu erschließen, wobei es etwa in der Philoso- phiegeschichte (Beispiel von mir) um einen spezifischen Sprachgebrauch gehen kann: Das gehört zur von Gadamer geforderten Überprüfung nicht beliebiger, vorgefasster Meinungen im Rahmen des geisteswissenschaftlichen Arbeitens (vgl aaO 272). Allgemeiner ausgedrückt, bedeutet das mE für die Formulierung einer Erklärung aus Motiven, dass man die Möglichkeiten eines Missverständnisses unterschiedlicher For- men von Ausdrucksverhalten erkennen und eventuell bei der Formulierung von Antece- densbedingungen über Ziele und Überzeugungen expressis verbis zugeben muss, aber dennoch viele Deutungen als ausgeschlossen verwerfen darf. Dieser psychologisch- objektive Deutungsprozess führt zur Revision von Vormeinungen auf Grund der Offen- heit des Interpreten gegenüber dem in Texten und Kulturen Ausgedrückten; dadurch geht die hermeneutische Anstrengung laut Gadamer in eine sachliche Auseinanderset- zung mit kulturellen Zusammenhängen über (vgl aaO 273). Sind jemandem vorgefasste

121vgl aaO 251, 255, 268

136 Meinungen hingegen nicht bewusst, so räumt Gadamer ein, stören sie Interpretations- und Hypothesenbildungsprozesse.122 Er bezieht sich kritisch auf die aufklärerische Maxime, die schriftliche Überlieferung einer Kritik durch die Vernunft zu unterziehen. Gibt man diese Maxime aber auf, ist es mE nicht mehr möglich, von einer objektiven Kulturwissenschaft zu sprechen, so dass man sich gelegentlich auf die Konstatierung der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und der Bedingungen von falschen Überlieferungen, Primärquellen usw beschränken muss.

5c) Gadamer über Klassiker und Aktualität Glorifizierung der Vergangenheit sowie Überbewertung der Gegenwart können einen ideologisch-unwissenschaftlichen Charakter annehmen (vgl aaO 279). Um dem vorzu- beugen, sind mE eine Analyse der Funktionalität einer Kultur für die jeweils in ihr Handelnden bei der Ereignis- und Strukturerklärung und damit eine Besinnung auf die Gleichwertigkeit bestimmter kultureller Bemühungen als solche angebracht. Dabei ist laut Gadamer zu beachten, dass auch eine übertriebene Schwerpunktsetzung auf die Erlebnisse der historisch handelnden Einzelpersonen übertrieben ist, weil diese von den für sie gegebenen kulturellen Realitäten geprägt sind. Damit hängt Gadamers Einsicht zusammen, dass vorgefasste Meinungen zum geschichtlichen Sein jedes Men- schen gehören. Eo ipso ist bei der Erklärung aus Motiven (siehe Kapitel 6) auf Irrtümer und Vorurteile der historisch Handelnden einzugehen. Die klassische Hermeneutik (zB Schleiermacher) deckt Befangenheit und Übereilung als die wichtigsten Ursachen von Missverständnissen auf. Beide können auch zu fal- schen historischen Erklärungen führen, wogegen aber die Prüfung von Schemata des praktischen Syllogismus auf Folgerichtigkeit und der empirische Gehalt (Quellenmate- rial etc) von Explanans und Explanandum helfen. Man kann außerdem die meisten ei- genen Vorannahmen kritisch hinterfragen und das relevante Material eingehend prüfen, bevor man den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhebt. Gadamer ist zuzustimmen, dass die Berufung auf Autoritäten nicht schon irrational ist, sondern sogar berechtigt, wenn es um prinzipiell einsehbare Sachverhalte und die Aner- kennung einer gewissen intellektuellen Überlegenheit geht. Dies ist mE sowohl bei der

122aaO 272-274

137 Analyse der Rationalität des Verhaltens von historischen Akteuren als auch bei der Be- urteilung der Zuverlässigkeit von Quellen zu beachten. Auch der Historiker steht in ei- nem Überlieferungszusammenhang. Er reagiert auf eine Tradition und will ihre Bedeu- tung im weitesten Sinn des Wortes bestimmen. Gadamer nahm diesbezüglich an, dass es eine Wechselwirkung zwischen Tradition und historischer Forschung gibt. Dieses Problem lässt sich mE durch die Explikation der Vorannahmen des Forschenden durch diesen selbst lösen. Gadamer geht von der Forschungsgeschichte aus, wenn er aufzeigt, dass es in den Geis- teswissenschaften trotz eines Erkenntniszuwachses Klassiker (aaO 288) gibt, deren Theorien nach wie vor gelten. Diese haben jedoch letzten Endes nur triviale Erklärungs- skizzen produziert. Bekanntlich bestimmen, wie auch Gadamer wusste, die Intentionen der Teilnehmer an einem geisteswissenschaftlichen Forschungsprojekt dessen Schwer- punktsetzung, was bei der von mir geforderten Explikation sämtlicher Vorannahmen eines Forschers zu berücksichtigen ist.123 Dabei ist zudem zu beachten, dass bereits geisteswissenschaftliche Fachausdrücke wie „klassisch“ (aaO 291) eine ebenfalls zu explizierende normative Komponente enthalten. Diese Explikation kann, glaube ich, folgendermaßen objektiv funktionieren: Ist das Ex- plikandum etwa der Höhepunkt der philosophischen Kultur im Werk von Aristoteles, lässt sich zeigen, dass das im Vergleich zu anderen geistesgeschichtlichen Epochen be- sonders bemerkenswert war, indem man seine Wirkung und Qualität, was Vorbildlich- keit impliziert, nachweist. Das Verstehen ist natürlich auch eine Einordnung des historisch Interessierten in den Prozess der Überlieferung des betreffenden soziokulturellen Ausdrucksphänomens: Damit macht Gadamer auf eine Bedingung historischer Erklärungen aufmerksam, näm- lich die Überlieferung und den Bezug auf sie (vgl aaO 295). Im Rahmen der Hermeneu- tik sind Feststellungen über die Methode der Erklärung aus Motiven von den Möglich- keiten dieser Methode abhängig, und zwar von der Interpretation der teilweise konstan- ten Menschennatur und von dem manche Deutungen ausschließenden Überlieferungs- zusammenhang. Zusammenhänge, von welchen die hermeneutische Hypothesenbildung geleitet wird, sind Zusammenhänge von Texten, kulturellen „Stilen“, „Ganzheiten des Seelenlebens“, das sind, allgemeiner gesagt, Strukturen, die das Verstehen erleichtern,

123aaO 277, 279, 281, 283, 285-289

138 deren eventuell kausale Relevanz bei historischen Erklärungen berücksichtigt werden muss (vgl aaO 296). Historische Quellenkritik und die Beschäftigung mit „verschlüssel- tem“ Schreiben gehen laut Gadamer über die bloße Auslegung der Überlieferung hin- aus. An diesem Punkt ist Sachkenntnis ebenso notwendig wie psychologische Einfüh- lung und beide gehören mE gleichermaßen zur Vorbereitung und Begründung einer his- torischen Erklärung nach dem H-O-Schema. Es gilt als wahr, dass gerade der zeitliche, der emotionale etc Abstand zum historischen Ereignis die objektive Erklärung und Bewertung erleichtert, insbesondere wenn es einen abgeschlossenen Zusammenhang betrifft (aaO 303). Gadamers Rat an den Geisteswis- senschaftler ist, die eigenen Vormeinungen zu hinterfragen, um dem Verständnis dienli- che von dem Verständnis schädlichen Vorannahmen zu trennen, fragliche Meinungen an den Quellen zu prüfen und zu verstehen, dass historisches Verstehen ein Prozess im Rahmen der Wirkungsgeschichte ist.124 Gadamer thematisiert die hermeneutische Situation, in welcher sich der Horizont des Verstehenden verändern kann, dh die von ihm wahrgenommenen Aspekte der Wirk- lichkeit erweitern sich oder neue Zugänge zu ihr entstehen. Wir stoßen hier auf einen psychologischen Begleitumstand der Forschungsaktivität, wobei die maximale Erweite- rung zur Verbesserung der Hypothesen beiträgt. Die Versetzung in den fremden Blick- punkt des interessierenden soziokulturellen Phänomens ist nämlich für eine Erklärung aus Motiven unerlässlich. Der Wissenschaftler ist ja nicht völlig standortgebunden, son- dern verfügt über bewegliche Standpunkte (aaO 309). In Anbetracht dessen ist es die Aufgabe der gadamerschen Hermeneutik, die Partikularität der Standpunkte des For- schers und des Erforschten zu überwinden. Dabei stellt auch der forschende Bezug auf eine Tradition eine Form von Zugangsverschmelzung dar (vgl aaO 310). Die Hermeneutik kann eine kognitive wie auch eine normative Funktion haben, wobei erstere zu einer Erkenntnis und letztere zur korrekten Anwendung dieser Erkenntnis führen (aaO 315). Eine Erklärung aus Motiven im Sinne dieser Arbeit kann zB zu einer gelungenen literarischen Übersetzung, zu einem gerichtspsychologischen Gutachten etc beitragen. Hermeneutisches Wissen muss wie sittliches Wissen auf bestimmte Situationen ange- wandt werden (aaO 320). Dafür ist eine Art Feingefühl nötig, ähnlich dem, das es dem

124aaO 291, 295-296, 300 und 303-305

139 Richter ermöglicht, mildernde Umstände zu berücksichtigen (aaO 323). Wie Aristoteles ein bewegliches System des Naturrechts mit variierenden Vorschriften postulierte, müs- sen auch geisteswissenschaftliche Hypothesen über Zwecksetzungen flexibel und situa- tionsangemessen sein (aaO 329). Menschliche Zwecksetzungen als Gegenstand dieser Hypothesen unterliegen zwar einer großen individuellen und kulturellen Variabilität, sind aber nicht völlig beliebig, da sie zumindest subjektiv wünschenswert sein müssen (vgl aaO 328). Verständnis für die Situation anderer Menschen ist mE eine notwendige Voraussetzung für die Spekulation über ihre Motive und deren Zusammenhang mit ihren Taten und damit für hermeneutisch-historische Weltbilder.125 Gadamer erkennt, dass Historiker nicht nur Ereignisse, sondern auch deren Bedeutung zu reflektieren haben und deshalb von der Überlieferung im Verhältnis zur Gegenwart angesprochen werden. Dazu meine ich, dass ein Autor seinen Standpunkt innerhalb ei- ner Tradition explizit angeben soll. Bei philosophischen Erörterungen führt dies meiner Auffassung nach wie bei der Anwendung von Gesetzestexten zur Nutzbarmachung älte- rer Einsichten für die jeweilige Gegenwart. Damit darf nach Gadamer nicht das scharlatanhafte Hineininterpretieren eigener vorge- fasster Standpunkte in Klassikertexte verwechselt werden. Ebenso wenig kann ein krea- tives Umtexten der Überlieferung zulässig sein, sondern wenn historische Erklärungen Kritik an Überlieferungen üben, müssen sie dies an Hand von Indizien aus anderen Quellen oder mE auch mit metaphysischen etc Argumenten begründen. Einerseits ver- langen geistesgeschichtliche Dokumente von ihrem Leser ein nachvollziehendes Han- deln, andrerseits ist eine Erklärungshypothese unwissenschaftlich, welche nicht klar aufzeigt, was Interpretation ist und was Überlieferung (vgl aaO 338). Ein Sonderfall sind in dieser Hinsicht laut Gadamer schriftliche Zeugnisse, die an ganz bestimmte Adressaten gerichtet sind, zB Befehle, so dass ein psychologisches Ver- ständnis der Adressaten die Vorbedingungen einer zutreffenden Erklärung erst abrun- det. Er merkt an, dass der Historiker den Befehl, dessen Ursachen oder Folgen er er- klärt, gleich gut verstehen sollte wie diejenigen Menschen, an die dieser historisch wichtige Befehl gerichtet war. Regelmäßig sind Texte aus dem Kontext der Situation zu

125Gadamer selbst beschreibt die Voraussetzung des Situationsverstehens für das besonnene Erklä- ren oder Beurteilen menschlichen Handelns so (aaO 329): „Er muss den Text auf diese Situation be- ziehen, wenn er überhaupt verstehen will.“ aaO 307, 309-311, 315, 319-320, 323-325 und 328-329

140 verstehen, in der sie entstanden sind, damit die Motive ihrer Produzenten bzw Rezipien- ten rekonstruierbar werden. Zuerst gilt es Quellentexte aller Art hermeneutisch auf ihren Sinn zu überprüfen, dann erst ihren Wahrheitsgehalt festzustellen; damit hängt der Un- terschied zwischen Hermeneutik und Historik zusammen, zwei Begriffe, die sich nur teilweise decken (vgl aaO 340). Historische Erklärungen versuchen die Realität, auf die überlieferte Texte uä hinweisen, zu erkennen, indem sie diese mit anderem relevanten Datenmaterial vergleicht. Dieser Vorarbeit für historische Erklärungen unterziehen Geisteswissenschaftler sogar wissenschaftliche Darstellungen eines soziokulturellen Phänomens. Philologische Her- meneutik fühlt sich hingegen von einem Text als Adressat unmittelbar angesprochen und erklärt mE am ehesten noch einige seiner Wirkungsdimensionen kausal. Historische Hermeneutik will jedoch schließlich alles Überlieferte als Ausdruck der Menschen der Vergangenheit deuten, wobei es sowohl um unbewusste Mitteilungsabsichten geht als auch um das, was Zeugnisse über ihre Urheber auch gegen ihren Willen verraten.126 Gadamer meint also, dass schriftliche Quellen wie archäologische Überreste gleicher- maßen etwas direkt aussagen als auch etwas indirekt bezeugen. Das gilt mE auch für Aussagen von Dokumenten der Sprach- und Literaturgeschichte. Er weiß zudem, dass diese beiden Disziplinen als Teilaspekte der Philologie, Texte in historische Entwick- lungen eigener Art einordnen, aber auch in geschichtliche Gesamtzusammenhänge überhaupt. Für eine derartige Arbeit empfehlen sich mA vergleichendes Quellenstudium und Erklärung aus Motiven in durchaus gleichem Ausmaße wie für politische Geschich- te. Dennoch bemerkt Gadamer zu Recht, dass sich Philologie auf formal und inhaltlich vorbildliche Texte beziehen muss, insofern sie diese als aktuell und an heutige Leser gerichtet auffasst. Ein Beispiel für diese Art von Textbezug ist mE etwa die Rezeption von Platos Gastmahl als Erziehung zur Glücksfähigkeit.127 Gadamer erkennt, dass ein Historiker die Spuren der Vergangenheit wie ein Richter Zeugen beim Verhör behandelt und bringt diesen Vergleich zu Papier. Das schließt aber nicht aus, dass die so rekonstruierte und zT auch kausal erklärte Vergangenheit auf ihre Bedeutung für andere Zeiten hin untersucht wird.

126aaO 334, 338-341 127Ein Gadamerzitat soll diese Einführung in die historische Hermeneutik illustrieren (aaO 342): „So gilt für den Historiker grundsätzlich, daß die Überlieferung in einem anderen Sinne zu interpretieren ist, als die Texte von sich aus verlangen.“

141 Der Historiker kann laut Gadamer indes hinterfragen, aus welchen Motiven er sich ei- ner Überlieferung zuwendet, damit also sein eigenes Verhalten und den Überlieferungs- zusammenhang kausal erklären. Zunächst interessieren sich Historiker demnach für Texte als Quellen, deren eigentliche Mitteilungsabsicht bei der Quellenauswertung nur eine marginale Rolle spielt. Allerdings verhält sich der Geschichtswissenschaftler, wie Gadamer betont, zur Ge- samtüberlieferung wie ein Philologe zu einem als hervorragend ausgewählten Roman; ja, er fühlt sich zT von der kulturellen Vergangenheit als vorbildlich angesprochen oder er nimmt sich ihrer mA doch als einer möglichen Realisierung der menschlichen Gat- tungsnatur an, auf die Leser bzw Historiker mit bestimmten Formen des Verstehens, zB mit der Kategorisierung als abschreckendes Beispiel, reagieren können. Damit bestimmt Gadamer allgemein das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein als ein gemeinsames Merkmal aller hermeneutischen Disziplinen. ME trifft das auch auf wert- urteilsfreie humanwissenschaftliche Texte zu, da diese lehrreich sein wollen, etwa Funktionsmechanismen aufzeigen sollen und als Überlieferung ua die Wirkung sozio- kultureller Phänomene auf an ihnen Unbeteiligte dokumentieren bzw ermöglichen, wo- bei die Art dieser Wirkung auf ihre Leser durch Erklärung aus Motiven mitgestaltet wird. Unser Bezug auf Überlieferung ist auch Erfahrung. Die historisch-kritische Me- thode macht diese Gleichung wiederholbar und kontrollierbar (aaO 352), indem alle Antecedensdaten historischer Erklärungen und entsprechende meist triviale Gesetze an- gegeben werden und dadurch bloß subjektive Deutungen vermieden werden.128 Gadamer thematisiert auch die Erfahrung der Unwiederholbarkeit und Unplanbarkeit von soziokulturellen „Makrophänomenen“ als eine Tatsache. Diese hermeneutische Weisheit von den Grenzen der Gestaltbarkeit der „Geschichte“ spricht mE für die The- sen dieser Arbeit von Motiven und Überzeugungen als Handlungsgründen, mehreren Freiheitsgraden des Sozialsystems und komplex-unberechenbaren Wechselwirkungen in ihm. Hermeneutische Erfahrung bezieht sich auf Überlieferung, die an einen Mitmenschen, erinnert (aaO 364). Die Erfahrung, die aus Zeugnissen über Menschen erwächst, ist laut Gadamer letztlich Menschenkenntnis. ZT ist es möglich und erstrebenswert, das Über- lieferte für einen berechenbaren Gegenstand zu halten, aber das Charakteristische und

128aaO 344-346 und 352

142 Verallgemeinerbare an menschlichem Verhalten umfasst nicht das ganze Erkenntnisin- teresse der Geisteswissenschaften, die sich schon dadurch der Idee einer bloßen Nachäf- fung naturwissenschaftlicher Methoden widersetzen (vgl aaO 365). Menschenkenntnis vervollkommnet sich uU zu gegenseitiger Anerkennung in einem Ich-Du-Verhältnis (vgl aaO). Analog dazu bezieht sich gemäß Gadamer das historische Bewusstsein auf andersartige kulturelle Konstellationen, wie wir im Alltag uns auf ei- nen Mitmenschen beziehen. Dh man ist als Forschender von der Überlieferung betrof- fen, wie man in zwischenmenschlichen Beziehungen Verantwortung trägt, und soll sich seiner Vorannahmen bewusst werden, indem man sein methodisches und wirkungsge- schichtliches Bewusstsein auf einer höheren Stufe des Reflexionsniveaus weiter entwi- ckelt; denn hermeneutische Erfahrung besteht darin, dass man für die Überlieferung of- fen ist und sich etwas von ihr sagen lässt, ohne ihr blind zu vertrauen (vgl aaO 367). Gadamer äußert sich explizit zu diesem Thema, wobei er sich gegen ein willkürliches Vergleichen und Deuten aussprechen wollte (aaO): „Im Gegensatz dazu erhebt sich das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein über solche Naivität des Angleichens und Verglei- chens, indem es sich die Überlieferung zur Erfahrung werden lässt und sich für den Wahrheitsanspruch, der in ihr begegnet, offen hält.“

5d) Gadamer über historische Erfahrung Diese Reflexion Gadamers über das Besondere an der Erfahrung, welche historischen Erklärungen zugrunde liegt, scheint mir für den Rat zu sprechen, die möglichen Ursa- chen und Wirkungen der Überlieferung ebenso kausal aus Motiven zu erklären (Quel- lenkritik) wie die in der Überlieferung dargestellten Ereignisse und Zustände. Dadurch ist man mE auch eher in der Lage, das Explanandum, Antecedensdaten und psychologi- sche Wahrscheinlichkeiten wahrheitsgetreu zu formulieren.129 Was Gegenstand wissenschaftlicher Interpretation ist, stellt dem Deutenden bestimmte Fragen: Gadamer bezieht sich auf diesen Sachverhalt als auf den Fragehorizont von Texten, der mögliche Textbedeutungen abgrenzt. Er empfiehlt das Überlieferte als Antwort auf eine zu erschließende Frage aufzufassen. Dem muss man sich mE an- schließen, da es ein Gebot der Logik der Geisteswissenschaften ist, dass man so genau

129aaO 363-367

143 wie nur möglich rekonstruiert, auf welche Fragen bzw Probleme ein bestimmtes histori- sches Handeln die Reaktion war und dieser Gedanke findet sich sinngemäß auch bei Collingwood (vgl aaO 376). Da subjektive Pläne allein häufig nicht zum Ziel führen, reflektierte Gadamer über die Notwendigkeit flexiblen Handelns. Für die historische Erklärung folgt daraus mE, dass man viele miteinander zusammenhängende Motive berücksichtigen und sich mit vagen Wahrscheinlichkeitsschlüssen begnügen muss, außer in den wenigen Fällen (wie Schlachtplänen, Bauvorhaben etc), in denen handlungsleitende Pläne klar erkennbar sind. Damit hängt wohl zusammen, dass man bei textwissenschaftlichen Analysen re- gelmäßig zwar den Inhalt des Textes klar versteht, es aber zusätzlicher Anstrengungen bedarf, um die Gedanken des Autors zu rekonstruieren (vgl aaO 378). Geistesgeschichte muss aber auch die Entstehung von Texten insoweit rekonstruieren können, dass sie dadurch kausal und texthistorisch erklärbar wird. Gadamer vergleicht das Textverständnis eines Hermeneutikers mit einem Gespräch zwischen zwei Men- schen, wobei in beiden Fällen einem Angesprochenen Informationen vermittelt werden. Er zeigt am Beispiel der Übersetzungsproblematik, dass hermeneutische Probleme nicht auf Fragen der Sprachbeherrschung, sondern auf solchen des inhaltlichen Verständnis- ses beruhen (aaO 388). Gadamer erwähnt die triviale Arbeitsregel, man solle grundsätzlich nur in einen Text hineininterpretieren, was seinem Autor und dessen Adressaten gewöhnlich in den Sinn gekommen wäre, allerdings bestehen für ihn Zweifel an der ausnahmslosen Anwend- barkeit dieser Regel. Quellenkritische Kausalerklärungen überschreiten nämlich mE schon durch die Heranziehung weiterer Quellen den Horizont der erforschten Texte. Außerdem weist Gadamer darauf hin, dass auch die von einem Historiker für die Be- schreibung seines Forschungsgegenstandes gewählten Begriffe der Erkenntnis abträg- lich sein können, wenn sie das Fremde zu sehr dem Vertrauten angleichen. In der Tat kann eine ungenaue Begrifflichkeit Vorurteile und falsche Analogien bewirken, etwa, um einen Extremfall zu nennen, in der Philosophiegeschichte die mangelnde Unter- scheidung zwischen heidnischen und christlichen Platonikern. Es lässt sich nicht vermeiden, dass sich Geisteswissenschaftler mit Begriffen der Ge- genwart auf Erscheinungen der Vergangenheit beziehen (vgl aaO 401), doch ist es not- wendig, dass sie sich dessen bewusst sind. Zu Recht meint Gadamer, dass der bewusste

144 und behutsame Einsatz von Vorbegriffen das Erschließen von Bedeutungskomponenten älterer Texte erleichtert, diese Situationsgebundenheit aber nicht zu rein subjektiven In- terpretationen führen soll.130 Ein Beispiel dafür, dass die Beschäftigung mit individuellen Ausdrucksformen des menschlichen Geistes auch eine Anwendung allgemeiner Gesetze involvieren kann, ist die vergleichende Sprachwissenschaft. Denn sie befasst sich damit, wie Sprachen ein identisches kommunikatives Ziel mit verschiedenen Mitteln erreichen (vgl aaO 443). Man muss außerdem Gadamer zufolge zwischen der Wahrheit in sich und der Wahrheit für uns unterscheiden, welche uns beide bei der Beschäftigung mit fremden kulturellen Ausdrucksformen begegnen. Beide Wahrheiten lassen sich kausal erklären, müssen je- doch als solche gekennzeichnet werden, indem der Erklärende angibt, ob es sich um ei- ne Erklärung der Aussage bzw Funktion des Überlieferten oder um eine Erklärung der Wirkung des Überlieferten geht. Dahinter steht, dass kulturell bedingte Weltsichten al- ler Art überliefert sind; diese sind Varianten des Weltbezugs des Menschen und können als solche mit Zustimmung oder Ablehnung rezipiert werden (vgl aaO 451). Daher kann man mE etwa die konkrete Gestalt der Überlieferung quellenkritisch kausal erklären. Gadamer meint, dass man durch die kritische Auseinandersetzung mit fremden Spra- chen und Kulturen eher die eigene Weltsicht bereichert als sie völlig verändert. Der Mensch reagiert demnach als ein Wesen, das eine sprachlich vermittelte Vernunft inter- nalisiert hat, flexibel auf Natur und Kulturen, ist dabei aber nicht immer objektiv genug. Von dieser Grundeinsicht kann man ausgehen, wenn man den praktischen Syllogismus bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen anwendet. Die Überlieferung und die Alltagserfahrung wirken auf den Menschen laut Gadamer wie eine Anrede, die es zu verstehen gilt. Ich sehe keinen Grund für die Behauptung, diese uns vertraute verstehende Erfahrung könne nicht zu Kausalerklärungen umformu- liert werden. Gewiss löst der geisteswissenschaftliche Forschungsgegenstand im For- schenden kausal bestimmte Reaktionen aus, zB führen kulturgeschichtliche Texte mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu Betroffenheit, manchmal zu Neugier. Dies ist eine Vorbedingung der von eigenen Vorannahmen ausgehenden methodischen Beschäf- tigung mit diesem Gegenstand. Beides kann man auch als zwei Schritte des analytischen „Zwiegesprächs“ zwischen Forschung und Überlieferung verstehen, bei der meist etwas

130aaO 375-378, 384, 388, 398 und 400-401

145 sprachlich Gegebenes, seltener andere Zeugnisse als Datenmaterial den Erfahrungstat- sachen der Beobachtung entsprechen (vgl aaO 460). Gadamer verweist auf die Gefahr der Einseitigkeit von Auslegungen, was explizit bei der Formulierung von wissenschaftlichen Interpretationen durch die ausführliche Be- handlung aller relevanten Aspekte eines Problems korrigiert werden muss. ME gilt dies insbesondere bei historischen Ereignissen, die durch eine Vielzahl an Faktoren verur- sacht sein können, wenn man diese kausal erklärt. Jede Beschäftigung mit geisteswissenschaftlichen Problemen ist ua eine Form der Aus- einandersetzung mit der Überlieferung und führt in der Regel, wie Gadamer feststellt, zu einer Auslegung in sprachlicher Gestalt. Ich halte eine methodische Vorgangsweise und wissenschaftliche Systematisierung, insbesondere kausale Erklärungsskizzen für notwendig, um überlieferungsbedingte Anschauungen wie Geschichtsbilder von der Ebene subjektiver Eindrücke zur Ebene teilweise zuverlässiger Erkenntnis zu erhe- ben.131 Insgesamt gesehen, gehört es zum Phänomen der geisteswissenschaftlichen Forschung, dass man von der Überlieferung angesprochen wird, dass einem mehrere ihrer mögli- chen Bedeutungen „einleuchten“ und man dadurch seinen kulturellen Horizont erweitert (vgl aaO 489). Derlei hermeneutisches Nacherleben ist Vorbedingung der Kausalerklä- rung, welche Datenmaterial und denkbare, aber unbewiesene Deutungszusammenhänge bereit stellt. Diese werden erst durch kausale Erklärungen zu wissenschaftlich akzeptab- len Hypothesen oder empirisch überprüfbaren Einzelfallerklärungen. Allerdings soll der Sinn des interpretierten Textes nicht allein aus den Vorannahmen, mögen sie auch gut argumentiert sein, festgelegt werden. Er muss vielmehr nach Gadamer aus dem Text selbst erschlossen werden, außerdem muss eine eventuelle Mehrdeutigkeit des Textes erwähnt und erklärt werden. Dies gilt insbesondere bei belletristischen und esoterischen Texten.132

131aaO 443, 445, 451, 457, 460, 465, 467, 475, 477 132aaO 489, 492

146 Kapitel 6 - Methodologien

Es soll nun darum gehen, welche Regeln sich aus dem wissenschaftstheoretischen For- schungsstand für die Art und Weise der geisteswissenschaftlichen Erklärung herleiten lassen. Diese Arbeit geht -wie bereits ausgeführt- von einer im Geist der analytischen Philosophie reformierten objektiven Hermeneutik aus. Motivationale und sozialwissen- schaftliche Kausalerklärungen werden als Methode zur Verständlichkeit der hermeneu- tischen Erkenntnis beitragen. Stegmüller liefert einen tiefsinnigen und umfassenden Zugang zu diesem Thema, indem er am Anfang des dritten Bandes seines Standardwerks die historische Erklärung als einen Sonderfall der historischen Erkenntnis analysiert. Er betont, dass sich Historiker ähnlich wie Menschen ausdrücken, die einander im Alltag unwissenschaftliche Erklä- rungen liefern. Außerdem macht er darauf aufmerksam, dass Historiker gelegentlich nur ihre Thesen und nicht die von ihnen berichteten Tatsachen wissenschaftlich erklären. Ähnlich wie von Wright führt er aus, dass Erklärungen auch vorliegen, wenn man weder eine Ursache noch ein allgemeines Gesetz angibt, sondern nur einen vernünftigen (In- duktions-)grund, warum etwas zu erwarten war, wenn man den Erklärungsbegriff nicht enger als im vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch auffasst. Zu Recht fügt er dem aber hinzu, dass historische Erklärungen meist in ihrem Explanans -sei es implizit, sei es ex- plizit- auf eine Gesetzmäßigkeit Bezug nehmen. Das ist eine deskriptive Methodologie der historischen Erklärung, wobei viele Erklä- rungen ohne Gesetzesbezug mE für bloß populärwissenschaftliche Texte typisch sind, während Erklärungen auf Grund von Motiven mindestens gleich genau wie in der All- tagssprache sein und Zusammenhänge unter Bezug auf ein allgemeines Gesetz gezeigt werden müssen. Stegmüller verwirft die auf Rickert und Windelband zurückgehende Unterscheidung zwischen idiographischen und nomothetischen Disziplinen mit der Begründung, dass sich Naturwissenschaften auf Individuelles beziehen können, genauso wie Geisteswis- senschaften sich auf Artbegriffe (Stegmüller 337), wenn sie ein Explanans angeben (vgl Kapitel 2c). Diese These stimmt zwar prinzipiell, übersieht aber die unbestreitbare Tat- sache, dass die Besonderheiten der im Explanans und Explanandum beschriebenen kon- kreten raumzeitlichen Objekte in den Geisteswissenschaften (zB Revolutionen) viel

147 mehr im Vordergrund stehen als in den Naturwissenschaften (zB Vulkanausbrüche), dass also viele Ideen Rickerts und Windelbands für eine Methodologie der geisteswis- senschaftlichen Erklärung rezipiert werden sollen. Bei der Verwerfung der Existenz teleologischer Erklärungen, welche nicht kausal sind, übertrieb Stegmüller mA hingegen nicht; denn es kann weder eine rückwirkende Verur- sachung geben noch eine Wirksamkeit von Zielen, die sich nicht in Motiven und Wil- lensakten eines Handelnden mit Wahlmöglichkeiten äußern. Es ist nämlich begrifflich unmöglich, dass es Zwecke gibt, aber keinen zwecksetzenden Willen eines vernunftbe- gabten Wesens, was bedeutet, dass auch teleologische Erklärungen kausal sind. Denn Ziele und Überzeugungen des Handelnden sind vor dem Entschluss zur Tat vorhanden und Prämissen einer Erklärung, die Stegmüller eine kausale Erklärung aus Motiven nennt. Darin muss man ihm zustimmen, obwohl der Unterschied zwischen Ursachen und humeschen Ursachen (vgl Kapitel 4) bestehen bleibt; bei letzteren sind Ursache und Wirkung logisch unabhängig voneinander. Ebenso muss man Stegmüllers These von der allgemeinen Anwendbarkeit des H-O- Schemas akzeptieren, weil sich praktische Syllogismen in dieses einbauen lassen, wenn es um historische Erklärungen geht. Das sieht man an wirtschaftsgeschichtlichen Bei- spielen, bei denen etwa ökonomische Gesetzmäßigkeiten wie das Verhalten der Unter- nehmer beim An- und Verkauf erkennbar sind: Sie erklären ein Verhalten, das im Nor- malfall aus einem praktischen Syllogismus hergeleitet werden kann. Sowohl Gesetzes- hypothesen über Marktmechanismen als auch Dispositionen von Käufern sowie Ante- cedensbedingungen wie das Ausmaß einer Lohnerhöhung (Beispiel von Stegmüller) ge- hen in das Explanans der Erklärung einer konkreten wirtschaftsgeschichtlichen Preis- entwicklung ein (vgl aaO 340-341).133 Hans Poser führt ebenfalls aus, dass wissenschaftliche Erklärungen auf einer Kausalbe- ziehung zu beruhen pflegen, die den Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen auf Grund einer einfachen Gesetzmäßigkeit herbeiführt. Das gilt auch für von Quellen oder archäologischen Funden belegte historische Explananda, die als Situationen der Ver- gangenheit durch ihnen vorangegangene Zustände und humanwissenschaftliche Gesetze erklärt werden. Diese Quellen sind prinzipiell meist Verhaltensbeobachtungen oder

133Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philoso- phie. Band III: Historische, psychologische und rationale Erklärung. Kausalitätsprobleme, Determi- nismus und Indeterminismus, Berlin: Springer 1969, 335–341

148 doch für historische Erklärungen so auszuwerten, als wären sie es. Dabei scheinen die allgemeinen Gesetze am problematischsten zu sein, haben meist nur probabilistischen Charakter und dürfen teleologisch sein, insofern sie sich auf den Einfluss des menschli- chen Willens, eine gegebene Situation umzugestalten, beziehen. Viele Gesetzmäßigkeiten gelten nur für bestimmte in historischen Prozessen entstande- ne und oft vergängliche Klassen von Objekten und Zuständen, weshalb kulturspezifi- sche Regelmäßigkeiten für geisteswissenschaftliche Erklärungen notwendig sind. Das ist eine notwendige Folge aus den eher individuellen Forschungsgegenständen der Geis- teswissenschaften, die auf Naturwissenschaftliches nicht reduzierbare Emergenzphäno- mene erforschen. Der harte Kern geisteswissenschaftlicher erklärender Gesetzmäßigkei- ten besteht demzufolge aus gut bestätigten, aber trivialen Regelmäßigkeiten des sozio- kulturellen Lebens des Menschen. Poser meint, dass man dennoch versuchen muss, eine allgemeine Methodologie für alle Disziplinen zu finden, wenigstens die Form der Theo- rien betreffend. ME ergibt sich aus der identischen logischen Struktur aller Zustände und ihrer Veränderungsmöglichkeiten die allgemein methodologische Forderung, dass auch geisteswissenschaftliche Erklärungsskizzen zumindest bei sehr guter Quellenlage zu Erklärungen nach dem H-O-Schema ergänzbar sein müssen. Die Hermeneutik gewinnt ihre wissenschaftliche Begründung für die neueste Wissen- schaftstheorie auf Grund von Ähnlichkeiten der seelischen Vorgänge aller Menschen. Das hermeneutische Verständnis ist mE eine Vorstufe der Kausalerklärung, wobei die Umformulierbarkeit der intuitiv geahnten Analogie zwischen zwei Seelenleben in Wahrscheinlichkeitsgesetze eigentlich eine Bedingung des Verstehens ist. Es bezieht sich nämlich auf absolut Individuelles, das aber den Wahrscheinlichkeitsgesetzen der menschlichen Psyche unterliegt. Das kann die Form funktionaler Erklärungen anneh- men (mehr darüber weiter unten in diesem Kapitel). Der Mensch kann sich auf die Zukunft hin orientieren, ausgehend von einer Situation frei mehrere Möglichkeiten verwirklichen und sich unprognostizierbar kreativ verhal- ten. Darauf geht die Methodologie der geisteswissenschaftlichen Erklärung ein.134 Sowohl das Postulat von historischen Entwicklungsgesetzen als auch die bloß beschrei- bende Geschichtsschreibung (Erklärungsskepsis) sind mE zwei schädliche Extreme.

134Poser erwähnt Stegmüller auch explizit. Vgl Hans Poser: Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Reclam 2001, 42, 46, 49, 53, 57-59, 66, 70, 120, 131, 158, 169, 171, 187–190, 192, 201, 211, 214, 216, 231, 257, 261, 266, 274-275

149 Das empirische Material erlaubt nur wenige, triviale Generalisierungen über den Auf- stieg und Fall von Kulturen (das sind eigentlich Ableitungen aus kulturanthropologi- schen Unwahrscheinlichkeiten, siehe Einleitung), so dass wissenschaftliche Beschäfti- gung mit historischen Ereignissen die Hinzuziehung von Gesetzmäßigkeiten aus ande- ren Wissenschaftszweigen erfordert. Damit wäre eine wichtige methodische Regel for- muliert. Laut Stegmüller können neben humanwissenschaftlichem Erfahrungswissen (dh vor allem psychologischen, soziologischen, ökonomischen etc Gesetzen) auch harte naturwissenschaftliche Fakten wie der kriegsentscheidende Einfluss waffentechnischer Überlegenheit herangezogen werden, aber auch die Ausnutzung einer geographischen Lage, Rohstoffe für die Waffenerzeugung und die Möglichkeit der Ausbeutung natürli- cher Ressourcen sind derartige kausal relevante Tatsachen. Dieser Wissenschaftstheore- tiker findet für diese „Hilfsbedürftigkeit“ der Geschichtswissenschaft die erläuternde Analogie, dass auch die Experimentalphysik ohne eigene Gesetze auskomme (vgl Stegmüller 343-344). Historische Abhandlungen mit Alltagserklärungen ohne explizit genannte Gesetzmä- ßigkeiten erkennt er als die Regel, implizit ist der Entscheidungshintergrund als Dispo- sitionseigenschaft von bestimmten oder einer Klasse von historischen Akteuren mitge- dacht, wenn wir die Frage der historischen Erklärung deskriptiv-methodologisch be- trachten. Oft bleiben zudem bloß hypothetische Regeln wie „das Streben nach Auswan- derung in Gegenden mit guten Lebensbedingungen“ (aaO 347) als gesetzesartige Not- behelfe für das Explanans übrig und es kommt zu nur rudimentären statistischen Erklä- rungen (vgl aaO 346-347). „Induktive Vernunftgründe“ (dh grobe Einschätzungen bzw Augenmaßinduktionen statt Statistiken) als Prinzip einer historischen Erklärung sind eine Notlösung (aaO 348) und sie gehören mE als solche gekennzeichnet, wobei sie auch ein Anreiz für weitere For- schungen sein und mE einen kausalen Zusammenhang doch plausibel wirken lassen sollten. Pseudoerklärungen liegen laut Stegmüller vor allem vor, wenn das jeweilige Explanans keinen empirischen Gehalt hat, so dass es zT einer entmystifizierenden Umformulierung zu unterziehen ist, aber auch Non-sequitur-Trugschlüsse kommen zuweilen vor (aaO 349). Ein nur möglicher Einfluss ist außerdem uU für die Erklärung eines bestimmten Ereignisses nicht spezifisch genug (vgl aaO), was zB für den Zusammenhang zwischen

150 australischem Klima und Bekleidungssitten (Beispiel von mir) gilt, und muss explizit so genannt werden. Außerdem verbieten der probabilistische Charakter von historischen Erklärungen und Einflüsse von Prognosen auf das Geschehen, wie in dieser Arbeit schon wiederholt festgestellt, den astronomischen ähnliche Prognosen. Daraus folgt für die historische Erklärung die methodologische Regel, dass man seinen Erklärungsanspruch im Ver- gleich zu den systematischen Wissenschaften mäßigen muss. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die historiographische Textstelle „die Ursache“ eine unge- naue Formulierung für „eine Ursache“ sein kann und dann mE eventuell in seriöseren Publikationen ein komplexerer Kausalnexus angegeben werden sollte (aaO 351).135 Stegmüller macht auf das Problem genetischer Erklärungen aufmerksam, dass die Erklä- rung eines Ereignisses durch ein ihm unmittelbar vorhergegangenes nur verständlich und befriedigend ist, wenn man einen größeren Zusammenhang versteht. Daher dient die schrittweise genetisch-systematische Erklärung zT nur einem besseren Verständnis. Historisch-genetische Erklärungen beziehen sich auf Vorgeschichten von Phänomenen wie dem Ablasshandel (aaO 354). Bei historisch-genetischen Erklärungen müssen zu- nächst zusätzliche unerklärte Antecedensdaten eingeschoben werden, um einen Zustand vom vorhergehenden herleiten zu können, wie Stegmüller im Anschluss an Hempel er- kannte (aaO 357). Nur bei deterministischen Systemen lässt sich das völlig vermeiden, während bei Gegenstandsbereichen wie mittelalterlicher Geschichte mE auch bloß zu- fällige Faktoren berücksichtigt werden müssen. Überhaupt ergibt sich bei genetischen Erklärungen das Problem, dass sie durch ihre Erklärungen neue Fragen aufwerfen. Doch sind irrelevante Fragen auch laut Stegmüller kein Argument gegen die hervorragende Qualität von Lösungen des Erklärungsproblems für einen Einzelfall. Einfache metaphysische Grundannahmen über die Natur von Mensch und Universum runden solche historisch-genetischen Erklärungen ab. Dieser Gedanke tauchte in der Philosophiegeschichte immer wieder in zahlreichen unterschiedlichen Formen auf, zB bei Auguste Comte in Form der These, sozialwissenschaftliche Erkenntnis beruhe auf Beobachtung, Experiment und Wissen über die menschliche Natur.

135Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philoso- phie. Band III: Historische, psychologische und rationale Erklärung. Kausalitätsprobleme, Determi- nismus und Indeterminismus, Berlin: Springer 1969, 343-344, 346–349 und 351

151 Die Ähnlichkeit aller Menschen als der Mitglieder einer Gattung bzw. Klasse ermög- licht dem Geisteswissenschaftler in der Tat die Nachvollziehbarkeit fremden Handelns auf Grund eines Analogieschlusses, welcher vom eigenen Seelenleben ausgeht (aaO 361). Erklären steht zwar mE dem Beschreiben als eine wesentlich genauer analysierende Zu- gangsweise zu einem humanwissenschaftlichen Gegenstandsbereich gegenüber, jedoch deckt das Verstehen wie das Erklären Zusammenhänge auf oder wenigstens die seeli- schen Vorgänge, die hinter einem Ausdrucksverhalten stecken. Dadurch ist das Verste- hen eine besondere Form des alltäglichen Erklärens oder normalerweise ein Schritt auf dem Weg zur Erklärung. Diltheys verstehende Psychologie beruht auf seiner Lebensphi- losophie, was Comtes soeben zitierter These ähnelt. Der hermeneutische Nachvollzug des soziokulturellen Ausdruckverhaltens ist also ein Gedankenexperiment, das nach Möglichkeit zusätzlich überprüft werden soll (aaO 363). Außerdem muss sich ein hermeneutisch arbeitender Historiker fragen, inwiefern sich aus seinem Erleben allgemeine Regelmäßigkeiten des Seelenlebens ableiten lassen, mit deren Hilfe er erklären kann. Einer Kernthese Stegmüllers folgend, ergibt sich als methodologische Regel für die geisteswissenschaftliche Erklärung, dass diese hermeneutische Methode für die histori- sche Erklärung weder notwendig noch hinreichend ist. Das hermeneutische Verfahren kann nämlich nicht alles eindeutig erklären, wie Stegmüller, Edgar Zilsel zitierend, aus- führt. Das von hermeneutischen Erklärungen Behauptete kann der Fall sein, muss es aber nicht. Es macht zwar Zusammenhänge plausibel, muss aber, um wissenschaftlich sehr wertvoll zu sein, den empirischen Gehalt des Explanans und die Folgerichtigkeit des Schlusses auf die Konklusion zusätzlich behaupten und prüfbar machen (vgl aaO 365).136 Diltheys hermeneutische Methode liefert nur heuristische Prinzipien für die Kulturwis- senschaften über Erlebnisse des Einzelnen und die Kulturleistungen einer Epoche (dh den objektiven Geist), deren Verhältnis zueinander Dilthey in unterschiedlichen Schaf- fensperioden unterschiedlich auffasste. Diese Kritik an der hermeneutischen Methode wurde ua von Günter Abel geteilt, der die Vieldeutigkeit menschlichen Verhaltens an- hand des Beispiels eines Menschen zeigt, der im April Holz hackt und heizt. Verstehen

136aaO 352, 354, 357, 359-361, 363-365

152 führt zu singulären und generellen Hypothesen, zB in diesem Beispiel zu Annahmen über mögliche Reaktionen auf Kältegefühl. In hermeneutischen generellen Hypothesen wird behauptet, es gebe deterministische oder statistische Zusammenhänge zwischen äußeren Situationen und Bewusstseinszu- ständen, zB zwischen dem Familienleben und Angstzuständen (vgl aaO 371). Das dafür benötigte Wissen über Fremdpsychisches hat für unsere Zwecke selbst empirisch zu sein, auf guter Bekanntschaft, zuverlässigen Quellen usw. zu beruhen, Ziele sollten mA für historische Erklärungen zB wirklich bekannt sein. Ziele, Motive usw sollen, wie man Stegmüller beipflichten muss, aber nicht verdinglicht werden, so dass Napoleons Machtwille (aaO 374) wie ein Homunculus aufgefasst wird, sondern sie sind letzten Endes als Dispositionseigenschaften zu beschreiben. Daher sind Erklärungen ausgehend von Motiven auch kausal (siehe Kapitel 4 „Praktischer Syllogismus“). Nach dieser Auseinandersetzung mit der Hermeneutikkritik geht Stegmüller auf die so genannte rationale Erklärung nach Dray ein. Dabei unterscheidet er den Warum- notwendig-Fall vom Wie-möglich-Fall der historischen Erklärung. Letzterer kann im Idealfall über Erklärungsskizzen, welche die Warum-Frage stellen, zu einer Erklärung nach dem Hempel-Oppenheim-Schema ausgebaut werden. Dabei ist zu beachten, dass auch Unwahrscheinliches möglich ist und die Frage nach der Möglichkeit eines Ereig- nisses E in der Regel ungefähr das Gleiche bedeutet wie die Frage, warum nicht der ge- genteilige Zustand non-E der Fall war (vgl aaO 378). Die rationale Erklärung führt Zie- le und Überzeugungen als Handlungsgründe an. Dabei handelt es sich um die Basis für eine rationale Erklärung, wobei diese Basis für den Handelnden aus Gründen besteht, für außenstehende Erklärende hingegen aus Kausalfaktoren. Somit erkannte Stegmüller, dass das H-O-Schema auf die Paradefälle der rationalen Erklärung anwendbar ist. Historiker rekonstruieren also laut Dray berechnende Überlegungen von historischen Akteuren oder zT die Überlegungen, die sie angestellt hätten, wenn sie über Bedenkzeit verfügt hätten. Auch das ist eine methodologische Regel für geisteswissenschaftliche Erklärungen. In diesem Zusammenhang ist natürlich von guten Gründen für eine Handlung nur unter Rückgriff auf die möglicherweise subjektiv verzerrte Weltsicht des Handelnden zu sprechen. „Vorurteile“ des Historikers im negativen Sinn oder seine Vorannahmen ste- hen auch gemäß Dray am Anfang dieses Rekonstruktionsprozesses. Selbst er gibt die

153 mögliche Existenz von nichtrationalen Handlungsgründen zu. In diesen Fällen ist eine tiefenpsychologische etc Erklärung angebracht, zB der Hinweis auf die Verursachung von Justizirrtümern durch die Geisteskrankheit Paranoia (Beispiel von mir). Weiters gibt es unbewusst rationale Handlungen, die eine Aktualisierungen von erlern- ten, dann aber weitgehend automatisierten Verhaltensdispositionen sind, zB beim Schreibmaschinschreiben (Beispiel von mir); ohne diese Zusatzannahme wäre Drays Schema ein von der mannigfaltigen Wirklichkeit übertrieben abstrahierendes Modell (vgl aaO 383). Drays Verdienst ist es, die klassische Hermeneutik zu einer empiristi- schen Historik modernisiert zu haben. Er liefert ein normatives Erklärungsschema, wel- ches zwar nicht beweist, dass der Handelnde sich angemessen verhält, aber mE bei vie- len Handlungen doch fast alle Menschen in Anbetracht ihrer sicher gegebenen Intelli- genz und Kenntnisse zur ratsamen Tat bewegt, wenn die Alternative offensichtlich un- vernünftig wirkt.137 Eine nähere Analyse dieser Zusammenhänge liefert die Entscheidungstheorie, welche ausgehend von Wünschbarkeiten (dh Präferenzen) und Wahrscheinlichkeiten sowohl Entscheidungen in einer klar einschätzbaren Situation als auch Entscheidungen unter subjektivem Risiko bzw Unsicherheit untersucht. Und in solchen Wahlsituationen ori- entieren sich Menschen auch an ihrem Gesamtziel oder ihren Prinzipien (vgl aaO 386). Dies ist mE eine nur gelegentlich für historische Erklärungen adäquate Methode, da die meisten Entscheidungen ohne weitere Analyse verständlich sind. Denn gewöhnlich wählt ein intelligenter Mensch die Handlung, von welcher der höchste Gesamtnutzen zu erwarten ist. Das bayessche Kriterium ist eine mathematische Theorie dieses aus dem Alltag bekannten Verhaltens. Bei Entscheidungen unter Unsicherheit ist das Resultat seiner Handlungen für den Han- delnden ungewiss. Für diesen Fall gibt es mehrere Regeln, zB die, möglichst wenig Verlust zu riskieren. Die konkrete Anwendung dieser Regel hängt von diversen Fakto- ren ab, zB wird der Entschluss zum Krieg manchmal von Überlegungen über die Sterb- lichkeit im Frieden beeinflusst, etwa mangels Ressourcen bei Hungersnot oder Ausbeu- tung durch eine fremde Macht (Beispiel von mir, vgl aaO 393). Die Entscheidungsprin- zipien von historischen Akteuren wie von Alltagsmenschen beruhen auch auf entweder optimistischen oder pessimistischen Einstellungen, die ua von Induktionsschlüssen na-

137aaO 366, 368-369, 371, 373-375 und 378–384

154 hegelegt werden (vgl aaO 394). Je nach Situation können unterschiedliche normative Rationalitätsprinzipien existieren. Dennoch formulierte Hempel ein approximatives Rationalitätsschema für Entscheidun- gen. Es besagt, dass sich jede vernünftige Person in einer bestimmten Situation immer auf eine vergleichbare Art und Weise verhält, weshalb sich auch diese Person so verhält (aaO 396). Das ist eine logisch folgerichtige Ableitung, bei der Drays normatives Prin- zip durch eine empirische Verallgemeinerung ersetzt wird. Von dieser lässt sich mE sa- gen, dass sie wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit zutrifft, womit historische Erklä- rungen ausgehend von Motiven zu einem Sonderfall des H-O-Schemas werden. Hempel spricht von Dispositionen höherer Ordnung, um auszudrücken, dass die subjek- tiven Regungen zu den situativen Faktoren zählen. Allerdings lassen sich Aussagen über Überzeugungen nicht Eins zu Eins in Aussagen über direkt Beobachtbares überset- zen, was auch bei Stegmüller angedeutet wird. Annahmen über das Wollen machen, so fährt er fort, fremdes Handeln verständlich, wobei Wollen ua unter Bezugnahme auf Gefühle wie Freude in einer rudimentären psychologischen Theorie definiert ist. Handlungen können nicht durch Hypothesen über das Wollen ohne Hypothesen über Glaubenssätze erklärt werden, ja die empirische Überprüfung solcher Hypothesen an Hand der Analyse beobachtbarer Handlungen testet nur Aussagen über den Gesamt- komplex der Wollens- und Glaubensphänomene des Beobachteten. Einen Sonderfall stellen diesbezüglich unwillkürliche Geistestätigkeiten wie spontane Tagträume dar (vgl aaO 404-405), die, so vermute ich, bloße Assoziationen wegen Reizungen des Unter- bewussten sind. Willkürliche, bewusst vorsätzliche Handlungen sind die Frucht einer Überlegung und nehmen etwa Bezug auf unangenehme Handlungsfolgen. Für die Erklä- rung dieser Handlungen verwenden wir zT bloße Individualgesetze (dieser Ausdruck wurde von Stegmüller geprägt), die nur für einen bestimmten Menschen in bestimmten Situationen gelten, zT auch generelle psychologische Gesetze. Als Beispiel eines Indi- vidualgesetzes führe ich meine Hypothese an, dass die Ursache vieler historisch bedeu- tender Entscheidungen des späten Hitler dessen Kokaineinnahme aus medizinischen Gründen war. Jedenfalls gehört bei derartigen historischen Erklärungen die Nutzenabschätzung des Handelnden berücksichtigt. Auch aus diesem Grund sind von Stegmüller diskutierte scharfe Kritiken an der Handlungserklärung mittels praktischer Syllogismen unhaltbar,

155 denn die Annahme von Rationalität, zB das Fehlen einer Persönlichkeitsspaltung, gilt für die meisten Handelnden, was probabilistische Erklärungsskizzen gestattet (vgl aaO 408-409). Bei der empirischen Überprüfung des Explanans einer historischen Erklärung ausgehend von Motiven (insbesondere des sprachlichen Verhaltens, dessen Glaubwür- digkeit zu testen und zu schätzen ist) wird meist vorausgesetzt, dass sich der historische Akteur rational verhalten hat. Doch lässt sich auch dies teilweise prüfen, indem man feststellt, ob er erregt, müde usw war und also die Situation beurteilen konnte, wie auch mein Beispiel aus der Hitlerforschung zeigt.138 Eine besondere Rolle spielen bei komplizierten geisteswissenschaftlichen Erklärungen unterbewusste Tatmotive. Rationales Verhalten ist nämlich auf alle Fälle bloß ein brauchbares idealisierendes Modell vergleichbar dem idealen Gas (aaO 413). Ein vernünftig Handelnder ließe sich durch logische Folgerungen beeinflussen (aaO 414), aber nur so weit er logisch denken kann. Historische Erklärungen beziehen sich oft bloß auf bewusst rationales Handeln, zB Bismarcks Handeln als Diplomat (Beispiel von Stegmüller). Eine rationale Erklärung des Verhaltens Bismarcks beleuchtet ledig- lich bestimmte Aspekte des historischen Geschehens, lässt manche konkrete Gedanken- verläufe als mehr oder weniger zufällige Gegebenheiten unerklärt. Sie geht davon aus, dass der Staatsmann sich für die subjektiv erfolgsversprechendere Handlungsalternative entschieden hat. Es lässt sich laut Stegmüller nicht mit ausreichender Genauigkeit sagen, ob ein Han- delnder den Annahmen des Modells der rationalen Erklärung sehr nahe kommt. Aber er erkennt dennoch dieses: Wenn in einer konkreten Situation die Handlungsfolgen über- schaubar, die Intelligenz des Handelnden ausreichend und keine emotionalen oder äuße- ren Ablenkungsfaktoren vorhanden sind, ähnelt die betreffende Situation dem Modell des rationalen Handelns sehr. Rationalität charakterisiert er nicht als permanente Dispo- sition, sondern zutreffend als das Merkmal eines Handelnden in einem nur kurzen Zeit- raum; spontane Entscheidungen kann man wegen angeborener Instinkte, der psychi- schen Verfassung und Lebenserfahrung auch als mehr oder weniger rational beschrei- ben (vgl aaO 418-419).

138aaO 386, 388-390, 393–397, 399-401, 404-405, 408-409

156 Die bloß nachträgliche Rechtfertigung einer Handlung ist laut Stegmüller eigentlich nicht das, was wir von einem Historiker als einem empirischen Wissenschaftler erwar- ten, und muss mE als eine solche gekennzeichnet werden. Die unbewusst-rationale Erklärung bezieht sich auf Handlungen in Folge der Automati- sierung von kognitiv Erworbenem durch den Handelnden (etwa beim Rad- und Auto- fahren), es ist also zB eine automatisierte Disposition vieler Handelnder, in bestimmten Situationen zu handeln, als ob man den Nutzen für sich zu maximieren versuchte. ZT wurden auch objektive Methoden, Nützlichkeit zu messen, entwickelt, welche dies überprüfbar machen. „Unbewusste“ Motive (mE sollte besser von unterbewussten Regungen und Impulsen die Rede sein, da völlig unbewusstes Seelenleben ja einflusslos wäre) können vorliegen (aaO 421). Sie müssen aber in geisteswissenschaftlichen Erklärungen unter Bezugnah- me auf (tiefen)psychologische Gesetzmäßigkeiten und auf konkrete Eigenschaften des Handelnden begründet werden. Eigentlich handelt es sich bei ihnen um ins Unterbe- wusste verdrängte oder spontan entstandene Gefühle, die Einfluss auf vordergründige Motive des soziokulturell Aktiven nehmen. Manche Vorgänge werden nur durch das kollektive Zusammenwirken vieler bewirkt. Manchmal, ein Paradebeispiel dafür ist die Volkswirtschaft, entsteht dadurch ein Sys- tem mit einer gewissen Selbstregulation. Aus diesem Grund kann es mA angebracht sein, im Explanans historischer Erklärungen sowohl auf massenpsychologische Gesetzmäßigkeiten als auch auf das Modell rationa- len Handelns zurückzugreifen, da sonst wesentliche Aspekte der Verursachung unbe- rücksichtigt blieben. Man denke nur an die von Stegmüller angedeutete Rolle des Kol- lektivs. William Leonard Langer forderte daher 1957 zu Recht, Historisches verstärkt mit psy- chologischen Theorien zu erklären, zB die im Mittelalter von der Pest verursachten Traumata (aaO 424). ME sind diese Traumen etwa für die Erklärung der Entstehung spätmittelalterlicher Kunstwerke relevant, deren Motive an das Phänomen der Regressi- on in bedrohlichen Situationen erinnern. Es lässt sich im Anschluss an Stegmüller das Fazit ziehen, dass Hempel (siehe Einlei- tung) mit seiner Annahme, jede historische Erklärung sei kausal und könne zu einer Er- klärung nach dem H-O-Schema ergänzt werden, im Recht war. Dafür gilt indes die me-

157 thodische Einschränkung, dass nicht jede Erklärung Gesetzesannahmen enthalten muss, welche über das Modell des rationalen Handelns hinausgehen. Denn Erklärungen mit Hilfe praktischer Syllogismen sind nichts Anderes als eine Sondermethode der statisti- schen Dispositionserklärung.139 Beschäftigen wir uns nun mit der Frage, inwieweit das Problem der Kausalität Einfluss auf die Methodenlehre geisteswissenschaftlicher Erklärungen nimmt. Ursache und Wir- kung sind eine Tatsachenrelation, die sich empirisch feststellen lässt, wenn es etwa um die Erklärung eines Preisanstiegs wegen einer Naturkatastrophe geht. Grund und Folge sind hingegen eine begriffliche Relation, die man ua durch die Rekonstruktion eines praktischen Syllogismus erkennen kann (vgl von Wright 42). Der Begriff der Ursache wird nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in humanwissenschaftlichen Texten so oft verwendet (aaO 43), dass er praktisch unersetzbar ist. Es ist daher eine Arbeitsre- gel der geisteswissenschaftlichen Erklärung, nach Zusammenhängen zu suchen, die, wenn sie quantifizierbar sind, auf mathematische Funktionen hinauslaufen und sowohl kausale als auch begriffliche Zusammenhänge umfassen. Kausalität sei hier als ein Überbegriff für Naturnotwendigkeit, gesetzmäßige Verknüp- fung, mögliche Einflussnahme usw aufgefasst (vgl aaO 44-45). Jede historische Erklä- rung bezieht sich laut von Wright de facto auf einen Zusammenhang, wobei Wirkungen des Subjekts Ursachen in einem weiteren Sinne des Wortes sind (siehe oben). Historische Erklärungen müssen, um so exakt wie möglich zu werden, mE auch ange- ben, ob sie sich auf notwendige oder hinreichende Bedingungen des Eintretens von Er- eignissen beziehen. Hinreichende Bedingungen führen immer zum Ereignis, dessen hin- reichende Bedingung sie sind, etwa trivialerweise Schusswechsel unter bestimmten Be- dingungen zu Todesopfern. Notwendige Bedingungen sind ebenso eine unersetzliche Voraussetzung eines bestimmten Ereignisses, etwa ist der Willensakt in der historischen Erklärung eine notwendige Bedingung bewusst herbeigeführter Bauarbeiten. In diesem Kontext ist oft von einer Unzahl bedingender Faktoren auszugehen, wenn Kriegshand- lungen usw. erklärt werden. Andrerseits ist uU nur ein Phänomen die notwendige und hinreichende Bedingung eines anderen, etwa die interessierte Platolektüre eines Philo- sophierenden die Ursache seiner Platorezeption (Beispiel von mir).

139Ein genaueres Eingehen auf die heranzuziehenden sozialpsychologischen, differentialpsycholo- gischen, historiometrischen (dh historisch-psychologisch-statistischen) etc Gesetzmäßigkeiten würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. aaO 413-415, 417-424, 427

158 Historische Erklärungen müssen eben so formuliert werden, dass sie in Bedingungsrela- tionen übersetzt werden können, welche in der Sprache der formalen Logik ua als uni- verselle Implikationen ausdrückbar sind (aaO 46). Damit verbunden ist das Problem, dass ein Schluss von der Wirkung auf die Ursache problematisch und nur dann zulässig ist, wenn es unter den gegebenen Umständen nur eine Ursache gegeben haben kann. ZB ist es eine falsche, auf einem Reduktionstrugschluss beruhende Theorie, dass eine Rui- nenstadt von einer Armee zerstört worden sein muss, weil es Erdbeben usw gibt. Kau- salrelationen sind zeitlich und empirisch asymmetrisch (aaO 48).140

6b) Kausalanalyse und mögliche Zustände Von Wright entwickelt eine formallogische Theorie der Ereignismöglichkeit mit Sym- bolen für die zeitliche Aufeinanderfolge und für die Möglichkeit von Zuständen. Er geht von logisch unabhängigen Situationen aus, welche in bestimmten Konstellationen vor- liegen können oder nicht und beliebig kombinierbar sind. Eine endliche Anzahl von möglichen derartigen Sachverhalten ist der Ausgangspunkt der historischen Erklärung (vgl von Wright 50), wobei diese Zustände wiederum durch die Eigenschaften von Din- gen und Relationen definiert sind. Ich möchte hinzufügen, dass es sich um für eine be- stimmte Fragestellung relevante Sachlagen handeln muss, da es sonst unendlich viele Sachverhalte geben könnte. Geschichte heißt nichts Anderes als die Abfolge der Zu- stände der Welt, dh in der geisteswissenschaftlichen Praxis immer eines Ausschnitts der Geschichte des Menschen auf unserem Planeten. Dabei gibt es für eine bestimmte An- zahl von möglichen Sachverhalten eine mathematisch bestimmbare Anzahl von Kombi- nationen und möglichen Ereignisverläufen (aaO 51). Daraus lässt sich mE die methodi- sche Regel ableiten, dass geisteswissenschaftliche Erklärungen auf spezifische Zu- stands- und Ereignismöglichkeiten Bezug nehmen müssen. Historische Erklärungen können auf Alternativfälle jenseits des tatsächlich Eingetrete- nen eingehen und ausführen, inwieweit andere Wirkfaktoren andere Ursachen gezeitigt hätten (vgl aaO 53). Das ist mE nicht nur bei der populärwissenschaftlichen „Was-wäre- wenn-Frage“ der Fall (Beispiel: Wie wäre die Geschichte ohne die Erfindung des

140Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt am Main. Fischer Athenäum 1974, 42–49

159 Schießpulvers verlaufen?), sondern manchmal auch bei der Erklärung der Möglichkeit einer Handlung oder der Notwendigkeit ihrer Folgen. Eine mathematische Theorie über dieses Problem liefert die Berechnung von Freiheitsgraden der Entwicklung der Welt. Sie besagt, dass der Verlauf der Geschichte determiniert ist, wenn nur ein einziger Er- eignisverlauf möglich ist, dass er aber weitgehend indeterminiert ist, wenn die Anzahl der möglichen Ereignisverläufe ihren Maximalwert annimmt (aaO 54). Historische Er- klärungen haben sich, so deute ich diesen Sachverhalt, auf ein bestimmtes System (dh einen Weltausschnitt) mit möglichen Ereignisverläufen zu beziehen, die nur ausnahms- weise determiniert sind. Ein Beispiel für ein solches System ist laut von Wright auch ein in einem bestimmten Zeitraum entscheidender und planender Mensch, also der typische Gegenstand der hermeneutischen Forschung.141 Eine denkbare, in der Praxis aber seltene Methode der historischen Erklärung ist die Kausalanalyse, bei der ein Anfangszustand, Zwischenstadien und ein Endzustand mit- einander verglichen werden und festgestellt wird, ob ein Zustand eine hinreichende Be- dingung für den folgenden war oder ein Alternativereignis möglich gewesen wäre (aaO 55). In diesem Zusammenhang kann man sich als Forscher auf ein bestimmtes Merkmal des Endzustandes konzentrieren, etwa in der Philosophiegeschichte auf die Lehrstuhl- vergabe an Universitäten (Beispiel von mir). Verfolgt man den Zusammenhang von Ursachen bzw Gründen und Folgen, kann man auch den Einfluss weiter zurückliegender Vergangenheiten klären, etwa feststellen, dass die Bedingungen eines Zustands mit mehreren möglichen Entwicklungsverläufen keine hinreichende Bedingung für den Endzustand eines Prozesses sind (vgl aaO 57). Offen- sichtlich war, um ein Beispiel zu erfinden, die antike Philosophie keine hinreichende Bedingung für den kritischen Rationalismus. Ein wichtiger Fachausdruck der Kausalanalyse ist der des abgeschlossenen Systems: Das bedeutet, dass kein Zustand eines einmal entstandenen Systems eine hinreichende Antecedensbedingung außerhalb dieses Systems hat. Allerdings sind viele Systeme nur hinsichtlich einiger, nicht aber all ihrer Entwicklungsmöglichkeiten abgeschlossen (aaO 58-59). Dies liefert mE einen wissenschaftstheoretischen Zugang zur freien Entschei- dung als einem Bestandteil des Explanans historischer Erklärungen, weil historische Akteure (sowohl Prominente als auch ihre Anhänger) abgeschlossene Systeme in die-

141aaO 49–55

160 sem Sinne sind und nur einige ihrer Zustände wie der Tod durch hinreichende system- externe Bedingungen bewirkt werden, Zustände mit Handlungscharakter hingegen nicht. Kausalerklärungen gehen aber laut von Wright nicht von Kausalanalysen aus, weil sie ein gegebenes Ereignis, das Explanandum, erst mit anderen Ereignissen in Verbindung zu setzen versuchen. Eine solche Kausalerklärung kann mE durch Kausalanalysen ver- feinert werden, weil man schnell festzustellen beginnt, ob es alternative Entwicklungs- möglichkeiten gegeben hat oder nicht. Nachdenken über Entwicklungsmöglichkeiten kann zur Isolierung eines Faktors führen, der als die eigentliche Ursache darüber ent- schied, dass es zu einem bestimmten Folgezustand kam (vgl aaO 60). Dh die Gesamt- konstellation wird erst durch das Hinzukommen der eigentlichen Ursache zur hinrei- chenden Bedingung für den Folgezustand. Das ist zB in der Geschichte der Fall, wenn eine Revolution die Kultur verändert (Beispiel von mir). Schwieriger ist es gemäß von Wright festzustellen, dass eine Gesamtkonstellation und eine eigentliche Ursache auch eine notwendige Bedingung eines Folgezustands sind. Und die notwendige Bedingung eines späteren Zustands wird in quasiteleologischen Erklärungen als dessen Zweck ge- sehen. Viele solcher historischen Kausalerklärungen ermöglichen keine Prognosen, wohl aber Retrodiktionen. Denn aus dem Vorkommen eines Ereignisses in der Vergangenheit lässt sich eindeutig auf dessen notwendige Antecedensbedingungen schließen (aaO 62), etwa von den Funden römerzeitlicher Löwenknochen in Nordeuropa auf eine Art Zirkusbe- trieb bzw Fernhandel (Beispiel von mir). Dieses einfache logische Erklärungsverfahren spielt in den Geisteswissenschaften ebenso eine Rolle wie in der Archäologie. Zielgerichtete Prozesse sind, wie von Wright zutreffend anmerkt, von zielintendierten zu unterscheiden, weil erstere bloß ein funktionaler Zusammenhang sind und letztere wie Handlungen die Folgen von Absichten. Diese Unterscheidung muss man mE bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen beachten, um individuelle und systembedingte Verursachung zu unterscheiden. Es kann auch Schwierigkeiten bereiten, die Existenz eines abgeschlossenen Systems festzustellen. Die von mir postulierte Existenz des abgeschlossenen Systems des Ent- scheidungsträgers ist aber im alltäglichen Diskurs über Handlungen wie das Öffnen ei- nes Fensters vorausgesetzt. Auch Systeme wie ein Staat können mE analog dazu einiges

161 ohne externe Einflüsse tun oder unterlassen, worauf eine geisteswissenschaftliche Er- klärung einzugehen hat. Sowohl Verursachungen in der anorganischen Natur als auch Handlungen setzen Sys- teme in Bewegung. Daher hängen die Begriffe Ursache und Schuld geistesgeschichtlich zusammen (aaO 67). Die Entzauberung des Kosmos ändert nichts daran, dass menschli- ches Tun genauso wie das Wetter physikalische Vorgänge herbeiführt. Das lässt sich so analysieren, dass der historisch Handelnde absichtlich etwas tut, wodurch er das unmit- telbare Ergebnis seiner Handlung bewirkt, zB ein Buch schreibt, dadurch aber weitere Folgen, wie die Rezeption des Buches, ausgelöst werden können (vgl aaO 69). Handlungen führen demnach dadurch, dass sie vollzogen werden, ihr Ergebnis herbei und sind selbst Folge eines geistigen Aktes, meist der Entscheidung. Die Veranlassung des Handelnden durch Befehle usw ist wiederum ein motivationaler Mechanismus (aaO 71), wie überhaupt die Frage nach der Motivation wesentlich für die meisten geisteswis- senschaftlichen Erklärungen ist.142 Der Handelnde ist keine unmittelbare Ursache, sondern er tut etwas, das die Ursache weiterer Ereignisse ist (aaO 72): Führt die Tat P zur Wirkung Q, ist P eine hinreichende Bedingung von Q; führt die Verhinderung der Tat P zum Ausbleiben der Wirkung Q, ist P eine notwendige Bedingung von Q, dh Q kann nicht durch eine andere Bedingung als P allein herbeigeführt werden. Dieses Wissen ist bei historischen Kausalerklärungen anzuwenden, ohne die Verursachung durch Naturereignisse zu übersehen. Geisteswissenschaftliche Erklärungen sollen außerdem feststellen, dass das gemeinsame Auftreten zweier Faktoren nicht zufällig ist (siehe Einleitung) und die Wirkung also oh- ne die Ursache nicht eingetreten wäre (aaO 73). Dies bedeutet für einen historischen Akteur, dass er die Wirkung einer geschichtlichen Tat unter geeigneten Umständen selbst herbeiführen könnte, denn darin besteht Kausalität (vgl aaO 75). Allerdings ist bei vielen geisteswissenschaftlichen Kausalerklärungen denkbar, dass sie schon durch die Veränderung nur eines relevanten Umstandes „ungültig werden“. Von Wright (aaO 79) führt aus, dass schon einfache Körperbewegungen ein abgeschlos- senes System, den menschlichen Körper, in Bewegung setzen. Er bemerkt weiters, dass Anfangszustände von Handlungen gemeinsam mit gewissen Zuständen des Nervensys-

142Eine Detailfrage ist der Unterschied zwischen logischen und kausalen Zusammenhängen im Rahmen des Prozesses, der von der Entscheidung zum Handlungsergebnis führt. aaO 55–71

162 tems vorkommen, womit er mE die Mitverursachung des von Historikern zu Erklären- den ua durch Willensakte als zT sogar empirisch überprüfbar entmystifiziert. Diese em- pirische Tatsache der Handlungsfreiheit ist ein wichtiger Antecedensfaktor der histori- schen Erklärung, wobei aber auch die Handlungsfreiheit der historisch unbedeutenden Personen zu berücksichtigen ist. Bei der Auswertung des relevanten Datenmaterials kann ein Geisteswissenschaftler vermutliche Kausalketten erkennen, welche sich auf Ausschnitte der Weltgeschichte beziehen, die man als mehr oder weniger abgeschlosse- ne Systeme betrachten könnte (aaO 82). In Anlehnung an von Wright können wir den Geschichtsprozess in Analogie zum physi- kalischen Experiment so interpretieren, dass die historischen Akteure den Anfangszu- stand eines Systems hervorbringen, indem sie eine indeterminierte Handlung ausführen, nach der kausaldeterminierte Folgewirkungen auftreten. Diese empirisch gut gestützte Geschichtsmetaphysik liefert dem Forschenden mE klare methodologische Hinweise darauf, was für Antecedensbedingungen (zB politische Entscheidungen, physikalische Eigenschaften von Werkzeug usw) und Gesetzmäßigkeiten (zB sozialpsychologische Befunde über Feindbilder, waffentechnische Implikationen usw) im Explanans einer historischen Erklärung aufscheinen sollen.143 Anzumerken bleibt Hempels Erkenntnis, dass zwar jede Kausalerklärung deduktiv- nomologisch ist, aber nicht jede deduktiv-nomologische Erklärung kausal. Eine solche nicht kausale Erklärung ist etwa die logische Herleitung eines wissenschaftlichen Ge- setzes, während Erklärungen aus Motiven dennoch kausal sind. Geisteswissenschaftli- che Erklärungen beziehen sich zudem auf Systeme, so dass auch Wissen über die mög- lichen Verhältnisse zwischen den Elementen dieser Systeme für sie nützlich ist. Manche dieser Systeme wie Kulturen sind nur unter bestimmten Umständen abgeschlossen, aber nicht immer.144 Wir haben gesehen, dass sich teleologische Erklärungen meist zu Erklärungen anderen Typs umformulieren lassen (vgl aaO 168), wobei es aber unsachlich wäre, den mit di- versen psychischen Einstellungen verknüpften Willensakt nicht zu berücksichtigen. Da- rauf wird anschließend noch näher zurückzukommen sein.

143vgl aaO 71–82 144aaO 162–164

163 Die Erklärung des individuellen Handelns als einer Komponente der von Geisteswis- senschaften zu analysierenden Systeme beruht auf der Verursachung von Muskeltätig- keiten durch Nerventätigkeiten, welche die unmittelbare Auswirkung des wollenden Denkens sind (aaO 170). Die meisten menschlichen Bewegungen haben physiologische Ursachen, können aber in ihrer Bedeutung, wie von Wright referiert, nicht ohne Bezug auf Handlungsgründe aufgefasst werden. Und das ist so, weil dies Handlungen sind, die zuerst durch das Planen der Vernunft ausgelöst und dann mit Naturnotwendigkeit be- wirkt werden. Darauf beruht die alltägliche Erfahrung der Gestaltbarkeit von Welt und Geschichte durch den Handelnden.145 Eine der wichtigsten Fragen der speziellen Wissenschaftstheorien (siehe Kapitel 2) der Geisteswissenschaften ist, inwieweit die aufgefundenen Kausalerklärungen subsumti- onstheoretischen Mustern entsprechen. Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Ereignis- sen sind sicher eine Realität, auf die sich alle Erfahrungswissenschaften zu beziehen versuchen (vgl aaO 175). Doch zeigen sich Grenzen der Verallgemeinerbarkeit der hu- manwissenschaftlichen Bedingungsanalysen, weshalb oft eine Erklärung mittels des praktischen Syllogismus der Weisheit letzter Schluss ist. Dies hängt auch mit der Para- digmenvielfalt der Geisteswissenschaften zusammen (vgl aaO 176), wegen der je nach Autor der eine oder andere Kausalfaktor in den Vordergrund gestellt wird, und wird durch die prinzipielle Unvollständigkeit historischer Beschreibungen (aaO 177) ver- schärft. Schon Mill wusste daher im 19. Jhdt., dass es keine wissenschaftlich exakte Prognose oder Retrodiktion für jede Handlung eines Einzelnen geben kann, Wahrscheinlichkeits- gesetze über das zu erwartende Verhalten von Kollektiven hingegen schon.146

6c) Stegmüller über Teleologie Eine Methodologie der Geisteswissenschaften hat auf teleologische Erkenntnisbemü- hungen genau einzugehen: Die Erklärung des Vergangenen und Gegenwärtigen durch das Zukünftige ist das spezifische Merkmal teleologischen Denkens, obwohl es offen- sichtlich unmöglich ist, dass die als Begründung herangezogenen zukünftigen Zustände

145aaO 168, 170 und 173-174 146aaO 174–178

164 etwas bewirken. Dieses Problem versucht Stegmüller durch die Einführung des Begriffs „formale Teleologie“ zu lösen, womit nur gemeint ist, dass das Explikandumereignis zeitlich vor den Antecedensdaten liegt. Ich möchte jedoch betonen, dass derlei keine rückwirkende Kausalität darstellt. Materiale Teleologie im Gegensatz dazu bedeutet, dass man auf die Frage, warum etwas geschehen ist, antwortet, indem man auf Ziele, Zwecke und Funktionen eines Gesche- hens Bezug nimmt. Zielintendiertes Verhalten ist wegen seines bewusst zweckrationa- len Charakters das Paradebeispiel materialer Teleologie, dieses Beispiel führt zu einer Erklärung aus Motiven, die selbst kausal ist (Stegmüller 521). Damit kann Stegmüller das Problem der kontraintuitiven Verursachung durch Zukunftswirkungen umgehen. In der Tat beziehen sich die meisten geschichtswissenschaftlichen Erklärungen auch auf Handlungsmotive, weshalb es mE eine methodologische Regel ist, auf alle relevanten Zwecksetzungen der an der Handlung Beteiligten einzugehen. Geht es nicht um Menschen, liegt meist eine bloße Analogie zu Handlungsmotiven vor, so dass man sich vor Vermenschlichung hüten muss (vgl aaO 523). Tierische Instinkte und die Gerichtetheit der Kräfte der unbelebten Natur spielen in einem humanwissen- schaftlichen Explanans zuweilen am Rande eine Rolle, doch sind hier keine vernünfti- gen Bestrebungen verborgen. Außerdem lassen sich derartige Vorgänge laut Stegmüller auch zT durch Funktionsanalyse auf kausale Zusammenhänge zurückführen, etwa wenn es um den körperlichen Gesundheitszustand historischer Akteure (Beispiel von mir) geht. Es gibt mehrere vorstellbare Fälle, in denen man Zustände auf andere Zustände zurück- führen kann, die zeitlich vor bzw nach ihnen der Fall waren (aaO 527). Manchmal kön- nen Zusammenhänge in der Tat durch Bezugnahme auf Zustände erhellt werden, wel- che erst nach der eigentlichen kausalen Veränderung auftreten, mE etwa wenn Verände- rungen in der Antike als ermöglichende Bedingungen mittelalterlicher Zustände aufge- zeigt werden. Ziele und Zwecke sind wie gesagt Spezialfälle von Wirkursachen (vgl aaO 531) und menschliches Handeln in der Regel von Motivkausalität bestimmt. Meine Schlussfolge- rung daraus ist: Aus diesem Grund müssten sich typisch hermeneutische Erklärungen eigentlich zu Syllogismen nach dem Hempel-Oppenheim-Schema umformen lassen. Diese Tatsache muss eine Methodologie für historische und systematisch-

165 geisteswissenschaftliche Erklärungen bestimmen. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten über aus dem Alltag oder der historischen Allgemeinbildung bekannte vermeintlich rationale Verhaltensweisen werden bei „teleologischen“ Erkenntnisbestrebungen stillschweigend vorausgesetzt.147 Stegmüller analysiert semantische und ontologische Probleme der Handlungswissen- schaft und Motivkausalität am Beispiel eines Studenten genauer, welcher einen Kurs besucht, um eine Prüfung zu bestehen: Dabei wirkt eben nicht dieses mögliche zukünf- tige Ereignis, sondern die momentanen Gedanken und Gefühle des Studenten in Bezug auf dieses. Dies nennt Stegmüller „Zweckerklärung“. Allgemeiner ausgedrückt, sind es stets bestimmte Wünsche und Überzeugungen von Handelnden, die eine psychische Verursachung von der Art herbeiführen, dass der Handelnde zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit etwas unternimmt, von dem er glaubt, das es der Erreichung seiner Ziele dient (vgl aaO 535). Dieses allgemeine handlungstheoretische Gesetz (siehe das Kapitel über den praktischen Syllogismus), welches von Curt John Ducasse übernom- men ist (aaO), ermöglicht die Umformulierung der Explikation historisch bedeutsamer Entscheidungen unter Anwendung des H-O-Schemas und ist daher bei historischen Er- klärungen zu berücksichtigen. Die Gesetzmäßigkeit selbst ist nicht mit den in ihr erwähnten Überzeugungen des Han- delnden über Gesetzmäßigkeiten zu verwechseln. Zudem macht sie als Prämisse neben den Überzeugungen und Wünschen des Studenten dessen Lernverhalten als Explana- ndum logisch ableitbar. Bei solchen Erklärungen ist laut Stegmüller auf eventuell wi- dersprüchliche Wünsche des Handelnden, seine Vorlieben, die von ihm geglaubten Tat- sachenfeststellungen und Werturteile, die falsch sein können, zu achten. Und darin be- steht ein wichtiger Teil der Methodologie der Explikation durch Motivkausalität in den Wissenschaften vom Menschen.148 Es stellt sich das Problem, was Wunschobjekte ontologisch gesehen sind (vgl aaO 539), da Wünsche offensichtlich nicht immer in Erfüllung gehen. Geisteswissenschaftliche Erklärungen führen daher mE regelmäßig gewisse Interaktionen auf die Wirksamkeit bloßer Hirngespinste zurück. Zustände und Sachverhalte können sowohl wahren als

147Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philoso- phie. Band IV: Teleologie, Funktionalanalyse und Selbstregulation. Berlin: Springer 1969, 519-521, 523, 525, 527 und 531 148aaO 532 und 535-537

166 auch falschen Sätzen entsprechen, weshalb die formallogische Symbolisierung von Verhalten, das sein Ziel nicht erreicht, unproblematisch ist, wie Stegmüller zeigt. Man kann auf diese Weise sogar auf Ziele Bezug nehmen, deren Verwirklichung ein logisch unmöglicher Zustand wäre (aaO 543). Am besten fasst man dies so auf, dass ein Student, der sein Lernverhalten plant, sich manches als in der Zukunft verwirklicht wünscht und anderes für wahr hält, wobei diese Formulierung in Anlehnung an Willard Van Orman Quine erfolgt. Die Existenz derarti- ger handlungsleitender Einstellungen und Überzeugungen ist problemlos einzusehen und mE leicht empirisch als statistisch wahrscheinliche Motivkausalität nachweisbar. Und diese handlungsleitenden mentalen Inhalte können als konkrete Aussagen bzw Ge- danken verstanden werden, nicht bloß als Zustände. Also lässt sich ein teleologisches Argument zur Handlungserklärung dermaßen unter Bezugnahme auf eine bestimmte Form von Aussagen logisch folgerichtig darstellen, welche „Inschriften“ darin ähneln, dass sie etwas Denkbares oder Undenkbares behaupten (vgl aaO 549). Aussagen über vom Handelnden gewähltes Verhalten sind außerdem falsch, wenn dieses Verhalten, genauer gesagt das Wählen einer Handlungsoption, nicht wirklich auftritt (aaO 553). Das wiederum ermöglicht mE die Rekonstruktion eventueller Motive historisch und ge- sellschaftlich Handelnder, so dass es zur Versöhnung (Synthese) des hermeneutischen mit dem analytisch-einheitswissenschaftlichen Paradigma der Wissenschaftstheorie der Geschichte kommt.149 Funktionsanalysen, also Erklärungen eines Ereignisses durch seine Funktion für ein System, lassen sich, wie Stegmüller brillant feststellt, auch zu kausalen Explikationen umformulieren. Allerdings läuft die Berufung auf Unkörperliches bei der Untersuchung von Selbstregulationsmechanismen auf eine mythologische Pseudobegründung hinaus (aaO 557). Daher müssen Funktionsanalysen das Vorhandensein und die Verhaltens- weise von Systemteilen als eine Bedingung für das Funktionieren des betreffenden Sys- tems darstellen (vgl aaO 558). Dabei besteht die Gefahr des Anthropomorphismus. Hempel entdeckte, dass jede Funktion im Sinne der teleologischen Forschung auch da- rin zum Ausdruck kommt, dass sie einen bestimmten Zweck erreicht, nämlich die Sys- temerhaltung. Allerdings hat nicht jede von einem Systemteil hervorgerufene Wirkung einen systemerhaltenden Effekt, sondern systemerhaltend sind nur diejenigen Wirkun-

149aaO 539, 541, 543, 548-549 und 553

167 gen von Systemteilen, die zu weiteren der Systemerhaltung dienlichen Zuständen füh- ren, zB der vom Herzschlag verursachte Blutkreislauf (aaO 561). Welche inneren und äußeren Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein System immer „normal“ funktio- niert, ist eine komplizierte empirische Frage (aaO 563), wobei die Normalität des Sys- tems genau definiert werden sollte.150 Funktionale Analysen sind im Bereich der Geisteswissenschaften angebracht und ge- mäß Robert King Merton üblich, wenn der Forschungsgegenstand wiederholbare bzw nur leicht variierende Interaktionen sind, wie sie etwa im Rahmen von Institutionen auf- treten (vgl aaO). Es ist daher mE eine methodische Regel für geisteswissenschaftliche Forschungen, nach soziale Systeme stabilisierenden Effekten bzw Funktionen zu su- chen. Solche Funktionen können laut Merton manifest oder latent sein: Ersteres heißt bewusst herbeigeführt, letzteres ist quasi eine Nebenwirkung eines sozialen Ereignisses, etwa die Erhaltung der Gruppenidentität durch objektiv sinnlose Rituale (Beispiel von Merton). In Analogie dazu helfen die irrationalen Zwangshandlungen von Neurotikern diesen, ihre Angstzustände zu mildern, wie Freud entdeckte. Der Diskurs über latente und manifeste Funktionen gibt Anlass zu für geisteswissenschaftliche Erkenntnisse heu- ristisch fruchtbaren Hypothesen. Ein Beispiel dafür ist Bronislaw Malinowskis plausible Theorie, Religion und Magie seien für primitive Menschen eine Optimismus erweckende Lebenshilfe. Überhaupt scheint mir, dass sich kulturelle Gewohnheiten aller Art im Rahmen historischer Erklä- rungen funktional als vermeintlich für bestimmte Menschentypen nützlich deuten las- sen. Stegmüller entwickelt eine Form für Funktionalanalysen, auf die das Hempel- Oppenheim-Schema passt, welche folgende Prämissen haben muss, um Fehlschlüsse zu vermeiden: 1.) Das System funktioniert unter bestimmten inneren und äußeren Umstän- den zu einer gegebenen Zeit. 2.) Dafür ist eine notwendige Bedingung N Vorausset- zung. 3.) Diese Bedingung N ist nur gegeben, wenn das System eines der Merkmale der Merkmalklasse J aufweist (aaO 569). Daraus folgt, dass zu diesem Zeitpunkt das System wirklich über ein für sein Funktio- nieren wesentliches Merkmal J verfügt. Das heißt aber auch, dass funktionelle Alterna- tiven häufig gegeben sein können (vgl aaO 568), was bei geisteswissenschaftlichen Er-

150aaO 555-558, 560-562 und 563

168 klärungen zu berücksichtigen ist: ZB lässt sich Gruppenidentität nicht nur durch Magie, sondern auch durch andere Sitten wie Sportveranstaltungen aufrechterhalten.151 Man muss genau definieren, auf welches soziale System man seine Funktionsanalyse anwendet, um sie empirisch bzw an Hand von Quellen prüfen zu können. Ähnlich wie nicht alle Pflanzen grün sind, können Verallgemeinerungen in Disziplinen wie der Phi- losophiegeschichte in die Irre führen, etwa war nicht jede philosophische Schule areli- giös. Außerdem ist in historischen Erklärungen von einem empirischen Gesetz auszuge- hen (etwa von einem psychologischen Gesetz über wahrscheinliche Motive), und nicht von einer bloßen Definition, als einem Teil der Prämissen; denn die Forschung will in der Regel nicht begriffliche, sondern kausale Zusammenhänge aufdecken. Systeme funktionieren nur innerhalb eines bestimmten Spielraums normal, zB alte Hochkulturen mE nur bei relativ niedriger Bevölkerungszahl. Ohne genaue Kenntnisse über diesen Spielraum und etwaige Störfaktoren ermöglicht die Funktionalanalyse keine Retrodiktionen oder gar Prognosen, weil das System, für das die Bedingungsanalyse gilt, unter ungünstigen Bedingungen völlig zusammenbrechen kann. Daher sind bloß hypothetische Voraussetzungen unter der Voraussetzung eines funktionierenden Sys- tems empfehlenswert. Auch die Hypothese, die betreffenden Systeme seien zT sich selbst regulierende Automatismen, muss empirisch bestätigt sein, damit man funktional erklären kann. Diese Kenntnis von der Existenz der Selbstregulationsfähigkeit ist bei der Erforschung von Gesellschaften, Individuen usw aus der Alltagserfahrung her gege- ben. Von Menschen erschaffene Systeme wie die Geldzirkulation oder die Technik lassen sich unter Bezugnahme auf menschliche Ziele analysieren, weil sie ua auch durch diese verursacht wurden und de facto auf zweckrationales Denken zurückgehen. Dies wird am deutlichsten durch folgendes Zitat ausgedrückt (aaO 582): „Man kann zu erklären versuchen, wie es dazu kam, dass der Wattsche Dampfregulator erfunden wurde; wel- che Zwecke die Maschinenbauer damit verfolgen; warum gerade an dieser Stelle ein solcher Regulator installiert worden ist usw. Analog kann man eine Erklärung dafür ge- ben, dass in einem bestimmten Staat eine freie Wirtschaftsverfassung eingeführt worden ist, die einen verkehrswissenschaftlichen Mechanismus ins Leben rief. Wir stehen vor

151aaO 563-564, 566 und 568-569

169 einer gänzlich anderen Aufgabe, wenn wir dazu übergehen, das Funktionieren des Selbstregulators zu erklären. Hier ist die Zweckbetrachtung fernzuhalten; (...)“ Dh in der Psychologie und den Sozialwissenschaften ist es eine bewährte Methode, dass man feststellt, inwieweit Systeme durch Selbstorganisationsprozesse charakterisiert sind und ob man diese auf ausnahmslose oder statistische Gesetze zurückführen kann (aaO 584). Die Annahme von Naturzwecken ist hingegen, wie schon Kant feststellte, bloß eine heuristisch fruchtbare Als-ob-Annahme, während deterministische Erklärungen besser wären, außer es geht um Lebewesen. Die Gerichtetheit physikalischer Kräfte ist mE der wahre Kern der mythenähnlichen Lehre von Naturzwecken.152 Unterschiedliche Grade der Erwartung des Eintritts statistischer Prognosen sind ein wei- teres wichtiges Merkmal geisteswissenschaftlicher Erklärungen. Dabei kann es sich bei Erklärungen ausgehend von möglichen Motiven historischer Akteure gar nicht um zu- versichtliche Erwartungen ausgehend von niedrigen Wahrscheinlichkeiten handeln.153

6d) Begriffe, logische Struktur und ontologische Implikationen geisteswissen- schaftlicher Erklärungen In diesem Zusammenhang ist es im Anschluss an Groeben empfehlenswert, bei geis- teswissenschaftlichen Erklärungen zwischen bewusst geplantem Handeln und von un- terbewussten Regungen mitbestimmtem Tun zu unterscheiden. Tun in diesem Sinn liegt ua vor, wenn einem die eigenen inneren Antriebskräfte auf Grund einer inneren An- spannung, Gemütserregung oder Ermüdung zumindest teilweise verborgen bleiben oder wenn man aus einer unreflektierten Gewohnheit heraus handelt. Dies ist mE bei geis- teswissenschaftlichen Erklärungen zu berücksichtigen, bedeutet aber keine Einschrän- kung der im Alltag vorausgesetzten Handlungsfreiheit. Als Beispiel möchte ich anfüh- ren, dass es Kunstwerke gibt, welche die dem Künstler nur undeutlich bewusst werden- de Funktion haben können, von ihm verdrängte Gefühle und Triebregungen, wie Sexua- lität, traumatische Ängste etc, auszudrücken.154

152aaO 570-571, 573, 577, 579-580, 582 und 584 153 Wolfgang Stegmüller: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Berlin: Springer 1969, 682- 683 154Norbert Groeben: Handeln, Tun, Verhalten als Einheiten einer verstehend-erklärenden Psychologie. Tübingen: Francke 1986, 167-169

170 Man kann laut Stegmüller bei der Erörterung geisteswissenschaftlicher Erklärungen im Allgemeinen voraussetzen, dass Erklärungen, Prognosen und Retrodiktionen dieselbe logische Struktur aufweisen. Ich vermute, dass dies an der wichtigen Rolle gesetzesarti- ger Aussagen im Explanans liegt. Von Retrodiktionen in diesem Sinn, die ausgehend von einer kausalen Gesetzmäßigkeit und empirischen Tatbeständen logisch auf ein be- stimmtes vor dem Erklärungszeitpunkt geschehenes Ereignis oder einen entsprechenden Zustand schließen, sind bloße Begründungen historischer Beschreibungen zu unter- scheiden (vgl Stegmüller 172). Letztere beziehen sich nicht auf einen bestimmten Kau- salnexus, sind aber höchstwahrscheinlich, indem sie etwa mit Symptomen argumentie- ren (aaO 203), induktive Erklärungsskizzen.155 Eine allgemeine Methodologie der Geisteswissenschaften muss auf die zu verwenden- den Begriffe eingehen. Das wusste schon Rickert und stellte fest, dass geisteswissen- schaftliche Erklärungen anschaulicher und unanschaulicher Dingbegriffe, aber auch gewisser Gesetzesbegriffe bedürfen. Diese Begriffe haben den Zweck, einen Erkennt- nisgegenstand in seiner Einzigartigkeit als einem anderen in einem bestimmten Ausmaß doch ähnlich zu erfassen. Die Psychologie und ihre Begriffsbildung sind eine Grundlage für geisteswissenschaftliche Erklärungen und widmen sich der Erforschung von Subjek- ten und deren Ausdrucksverhalten. Laut Rickert ist es auch möglich, Subjekte und ihr Verhalten mit derselben Logik und zT denselben Begriffen zu beschreiben wie unbeleb- te Objekte.156 Zum Abschluss dieses Kapitels wird nun kurz erörtert, welche ontologischen Implikati- onen mit der Methodologie der geisteswissenschaftlichen Erklärung einhergehen. Erklä- rungen sind Sätze und beziehen sich auf Ereignisse, Zustände und Phänomene. Gegenstand von Erklärungen sind, wie Stegmüller erkannte, dennoch Sachverhalte und Tatsachen, die Aspekte einer umfassenderen Wirklichkeitskonstellation sind und im Explanandum eindeutig beschrieben werden. Sachverhalte im Unterschied zu Tatsachen liegen auch dann vor, wenn es um eine empirisch falsche Aussage geht, zB eine Lüge in

155Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philoso- phie. Band II: Erklärung, Voraussage, Retrodiktion. Diskrete Zustandssysteme. Das ontologische Prob- lem der Erklärung. Naturgesetze und irreale Konditionalsätze. Berlin: Springer 1969, 153, 172, 201- 203 156Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Tübingen: J. C. B. Mohr 1929, 75, 81, 127

171 einem Kriegsbericht oder um Abschreibfehler in einer Rechtsquelle bzw Bibelhand- schrift (Beispiele von mir) (vgl Stegmüller 251). Dh Explikanda beschreiben zeitlose Entitäten (Sachverhalte, Tatsachen) und nicht kon- krete, prozesshafte Wirklichkeit (aaO 253). In den Geisteswissenschaften hat man es beim Erklären meist mit singulären Tatsachen wie Wahlergebnissen zu tun, zuweilen jedoch auch mit generellen Tatsachen, die durch Gesetze beschreibbar sind, wie mit be- stimmten wirtschaftlichen Zusammenhängen oder generellen menschlichen Interessen, zB dem nach Sicherheit. Das Explikandum einer historischen Erklärung bezieht sich also auf einen raum-zeitlichen Vorgang, wählt einen seiner Aspekte aus und beschreibt damit eine Tatsache über Geschehen in einem bestimmten Zeitraum, das meist von zweckrational Handelnden bewirkt wurde, zB die Unterschrift auf einem Vertrag. Gele- gentlich wird auf dieselbe Weise ein bloß hypothetischer Sachverhalt oder der Sachver- halt, welcher einen Geschichtsbildirrtum ausmacht, erklärt. Das Ziel der geisteswissenschaftlichen Methodologie ist nämlich, die wahren Sätze des Explanandums durch die wahren Sätze des Explanans zu erklären (vgl aaO 271). Ersetzt man in einem derartigen H-O-Schema einen Satz durch einen anderen nicht logisch äquivalenten, erhält man eine völlig andere, wahrscheinlich falsche Erklärung. Schildert ein Satz einen Sachverhalt des Explanans, ist damit ein Erklärungsgrund für das Explanandum gegeben. Dh in humanwissenschaftlichen Erklärungen gibt es letzten Endes einen erklärenden Sachverhalt und einen erklärten Sachverhalt, welcher vom Ex- planandum beschrieben wird.157

6e) Vorwegnahme von Motivkausalität in der Geschichte der Psychologie Schon eine oberflächliche Betrachtung der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte liefert Hinweise auf psychologische Erkenntnisse, die objektive geisteswissenschaftliche Er- klärungen erleichtern könnten. Schon im 18. Jahrhundert galt die Kulturgeschichte näm- lich im Schrifttum der Aufklärung als ein auch psychologisches Phänomen. Der Glaube an die Möglichkeit einer Psychologie der Kollektive und Institutionen führte schließlich zur Entstehung der Völkerpsychologie, zu deren Selbstbild es expressis verbis gehörte,

157vgl Wolfgang Stegmüller: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Berlin: Springer 1969, 248, 250-251, 253, 260, 271-272

172 dass auch Geisteswissenschaftler die von ihnen untersuchten Tatsachen auf ihre psycho- logischen Bedingtheiten zurückführen sollten. Dies sehe ich auch so, da ein Einfluss der individuellen Psyche auf Kultur, Gesellschaft und Geschichte zumindest möglich und denkbar ist. Kategoriale und funktionale Analyse sollten laut Wilhelm Wundt bei dieser Methode an die Stelle subjektiver Urteile treten (Schönpflug 242). In der Tat müssen ähnliche Er- scheinungen des soziokulturellen Lebens unter ähnlichen Verhältnissen ähnliche Funk- tionen erfüllen, was Wahrscheinlichkeitsaussagen über Strukturentwicklungen vorstell- bar macht. Auch mögliche Tendenzen des menschlichen Verhaltens in Gruppen ermög- lichen solche Wahrscheinlichkeitsaussagen, zB die Tendenz zur Nachahmung (Vor- bildwirkung) und der Einfluss der Masse auf den Einzelnen (aaO 244). Noch mehr gilt das für mit Hilfe von Sozialstatistiken beschreibbare Phänomene wie Selbstmorde, die Anzahl von Außenseitern etc. All dies scheint für einen funktional-evolutionären Ansatz in der geisteswissenschaftlichen Erklärung unter Verwendung von praktischen Syllo- gismen zu sprechen (vgl Kapitel 7c). An die jeweiligen Probleme angepasste Sozialstrukturen überstehen den Wandel der menschlichen Dinge im Laufe der Zeit mit höherer Wahrscheinlichkeit. Für einen Sozi- aldarwinismus im negativen Sinn des Wortes ist dies mE jedoch kein Argument, er wä- re im Gegenteil Selbst- und Fremdgefährdung. Sozialpsychologie (aaO 246) befasst sich mit sozialer Kognition (dh Einflüsse Anderer auf das Bewusstsein Einzelner) und sozialer Interaktion (dh Handeln in Gruppen unter wechselseitiger Beeinflussung). Beides dient regelmäßig als Prämisse für statistisch- indeterministische Erklärungen in den Geisteswissenschaften. Etwa ist die Verbreitung gewisser Ideen durch Propaganda usw ein sozialpsychologisches Phänomen und eine notwendige Bedingung von historisch relevanten Entscheidungsprozessen. Auch die Förderung der Überwindung primitiv egoistischer Instinkte durch das Gemeinschaftsle- ben ist eine notwendige Bedingung vieler soziokultureller Phänomene. Sie lässt sich mE wie auch die soziale Kognition und Interaktion durch Wahrscheinlichkeitsaussagen be- schreiben, wobei derart Beschreibbares in geisteswissenschaftlichen Erklärungen so- wohl die Funktion einer gesetzesartigen Aussage als auch die einer scheinbaren Rand- bedingung übernehmen kann. Dh bei der Erklärung ausgehend von Motivkausalität ist ein potentielles Motiv regelmäßig aus einer psychologischen Möglichkeitsaussage de-

173 duzierbar, während dieses Motiv bei stärker sozialstatistisch geprägten Erklärungen wie eine allerdings bedeutende Randbedingung wirkt. Eigentlich handelt es sich dabei um eine Erklärung mit zwei Pseudogesetzen, da es sich um nur unter bestimmten Umständen geltende statistische Zusammenhänge handelt, welche zudem zT nur in Form von Augenmaßinduktionen verfügbar sind. Trotzdem hängen diese Pseudogesetze mit allgemeinen gesetzesartigen Aussagen über die menschliche Natur zusammen (vgl Kapitel 3c über Mill), welche aber nicht den Ereig- nisverlauf determinieren. Vielmehr bewirkt mE schon die dem Subjekt als einem solchen zukommende Eigenart, dass Gruppenprozesse eine notwendige Bedingung sozialer Systeme mit mehreren Frei- heitsgraden sind. Das spricht für Diltheys, Windelbands usw Bemühen, das Einzigartige an der geschichtlichen Wirklichkeit zu erfassen (Schönpflug 280-281). Zeitgebundene Eigenheiten zu beschreiben ist eine Aufgabe der Geisteswissenschaften, ohne welche nicht einmal die Randbedingungen gewisser humanwissenschaftlicher Erklärungen mit ausreichender Genauigkeit ermittelt werden können. Diese Randbedingungen und ihre große Bedeutung machen Erklärungen außerdem mE zu Einzelfallanalysen. Gute geis- teswissenschaftliche Erklärungen sind Einzelfallanalysen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ereignissen einer Ereignisart berücksichtigen, dh auch erken- nen, was an einem Menschen individuell und was allgemein menschlich ist. So wie sich Ärzte nicht nur mit Krankheiten, sondern auch mit Kranken beschäftigen, ist deshalb die individualisierende Methode in den Geisteswissenschaften komplementär zur statis- tisch-induktiven. Dies spricht jedoch nicht gegen Stegmüllers Kritik an der Verabsolu- tierung individualisierender Zugänge, weil rein individualisierend nur die Randbedin- gungen eines Ereignisses erfasst werden.158

158vgl Wolfgang Schönpflug: Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grund- studium. Weinheim: Beltz 2004, 239-246, 248, 280-281

174 Kapitel 7 - Die Rolle allgemeiner Gesetze in geisteswissenschaftlichen Erklärungen

Die Selbstinszenierung der Geisteswissenschaften als hermeneutische Disziplin entbehrt nicht eines gewissen klischeehaften Charakters (vgl Simon-Schaefer 12). Die offen- sichtlich gegebene Methodendifferenz den Naturwissenschaften gegenüber ist nämlich keine zureichende Begründung eines geisteswissenschaftlichen Erkenntnisanspruchs eigener Art (vgl aaO 15), der sich nicht auf allgemeine Gesetze beruft. Wenn Dilthey die Menschheit als den Gegenstand der Geisteswissenschaften definiert, behauptet er zudem, es gebe einen Zusammenhang zwischen Leben, Ausdruck und Verstehen. ME ist dies eine stillschweigend vorausgesetzte Prämisse vieler geisteswissenschaftlicher Explanantia und deckt sich weitgehend mit empirischen Befunden der naturwissen- schaftlichen Psychologie. Zwar wendet sich Dilthey zu Recht gegen einen Stil der Geis- teswissenschaften, der sich lediglich mit dem sich eintönig Wiederholenden befasst. Doch erlauben auch exakte Naturwissenschaften wie die Kosmologie die Erklärung von Einmaligem durch individuelle Anfangsbedingungen und allgemeine Gesetze und erfül- len dabei alle Bedingungen des H-O-Schemas (aaO 14). Man denke in diesem Zusam- menhang an die Urknallhypothese oder an die optimal bewährte Katastrophentheorie des Aussterbens der Dinosaurier. Ich bin sicher, dass statistische Gesetze auch indeterminiertes und einmaliges Verhalten beschreiben können, was mE etwa in den Finanzwissenschaften ziemlich gut gelungen ist. Windelbands Schlagwort Ereigniswissenschaft legt- scheint mir- bereits nahe, dass es empirisch prüfbare primitive statistische Regelmäßigkeiten gibt, die für bestimmte Ereignisklassen gelten. Damit schließe ich mich der Rickertkritik der Jahre nach 1970 an, weil die Unterscheidung zwischen generalisierenden und individualisierenden Dis- ziplinen übersieht, dass in allen Wissenschaften beide Zugänge zuweilen vorkommen, etwa auch bloße Ereignisgeschichte die Möglichkeit des konkreten, einmaligen Gesche- hens mit Hilfe allgemeiner Regelmäßigkeiten erklärt. Die grundlegende Wahrheit zu diesem Thema ist, wie Roland Simon-Schaefer unüber- trefflich formuliert, dass Texte über das hermeneutische Verfahren (man nenne es Spi- rale, nicht Zirkel, weil seine Vorannahmen überprüft werden) den Entstehungszusam- menhang humanwissenschaftlicher Theorien beschreiben, während das Hempel- Oppenheim-Schema den Begründungszusammenhang derselben Theorien formalsprach-

175 lich darstellt (aaO 18). Die Einheitlichkeit aller Wissenschaften beruht auf der Begrün- dung ihrer Aussagen (vgl aaO 19), das erfolgt mE, wie ua Hempel lehrte, durch Deduk- tionen aus allgemeinen Gesetzen und Randbedingungen.159 Aus Gerhard Frey (aaO 71) folgere ich: Weiters ist es im Sinne einer Vereinheitlichung des Wissenschaftsverständnisses nützlich, zwei Arten von Sinn der Produkte des menschlichen Geistes zu unterschieden, den kognitiven Sinn und den Zwecksinn. Es ist kaum vorstellbar, dass man bei interpretierenden Arbeiten etwas anderes als diese Spielarten von Sinn erkunden will. Das geisteswissenschaftliche Axiom des Zwecksinns besagt, dass jedes „Artefakt“ einen Zweck hat, weil derjenige, der es hergestellt hat, einen bestimmten Zweck verfolgte, sei es auch nur belanglosen Zeitvertreib. Dieses Axiom ist selbst eine gesetzesartige Aus- sage, die im Explanans einer humanwissenschaftlichen Kausalerklärung vorkommen kann. Der kognitive Sinn ist hingegen das, wonach man fragt, wenn man die genaue Bedeutung eines Textes kennen will (vgl aaO). Eine scharfe Trennung dieser beiden interpretatorischen Fragestellungen hilft bei der Formulierung von Erklärungen nach dem H-O-Schema, wobei gesetzesartige Annah- men über Motive der Formulierung des konkreten Zwecksinns zugrunde liegen. Aller- dings lässt sich nicht bei jeder menschlichen Handlung eine eindeutige Motivation er- kennen. Dennoch kann man meist erahnen, was ein Künstler bezweckte, etwa dass viele Kunstwerke der Ur- und Frühgeschichte sakralen Charakters waren.160 Was den kognitiven Sinn betrifft, steht für mich fest, dass Autoren wie Plato (Beispiel von mir) die Absicht hatten, ihre Meinung mitzuteilen. Dabei lassen sich wie in der Bel- letristik mehrere Bedeutungsschichten nachweisen (aaO 74), manchmal ausgehend von Fabeln bzw Mythen. Der Interpret übersetzt quasi Platos mythische und dialektische Passagen in eine gemeinverständliche Sprache. Das ist im Gegensatz zu anderen philo- sophiehistorischen Fragen keine typische Erklärung nach dem H-O-Schema, sondern eine an Hand des auszulegenden Textes und der Quellen über diesen überprüfbare Hy- pothese (vgl aaO). Statt typisch wissenschaftlicher Gesetze begegnen uns deterministi-

159Vgl Roland Simon-Schaefer (1975): Einleitung: Der Autonomieanspruch der Geisteswissenschaften. In: Roland Simon-Schaefer; Walther Ch. Zimmerli (Hg): Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaf- ten. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, 12, 14-16, 18-19 160Vgl Gerhard Frey (1975): Erklärende Interpretationen. In: Roland Simon-Schaefer; Walther Ch. Zimmerli (Hg): Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, 71, 73

176 sche bzw statistische Übersetzungsregeln im Explanans der Textinterpretation, wenn es um den kognitiven Textsinn geht. Fehlinterpretationen werden durch widersprechende Textstellen falsifiziert. Damit ist ein wissenschaftlicher Charakter der Beschäftigung mit dem kognitiven Sinn gegeben. Eventuell existiert mE zusätzlich eine statistische Erklärung nach dem H-O-Schema, warum in einer bestimmten Kultur gerade diese Ausdrucksweise im ausgelegten Text gewählt wurde. Für manche geschichtliche Ereignisse gilt, dass es unbekannte Antecedensbedingungen (zB unbekannter Informationsstand eines Feldherrn) oder Gesetzmäßigkeiten (zB unbe- kannte Mechanismen der antiken Geldwirtschaft) geben könnte, die ihnen zugrunde lie- gen (vgl aaO 76). Ich habe gezeigt, dass man sich in solchen Fällen mit Erklärungsskiz- zen begnügen muss, in deren Explanans eine generelle statistische bzw induktive Hypo- these vorkommt. Historiker werden eher induktive Hypothesen verwenden, wenn das Quellenmaterial keine präzisen Quantifizierungen erlaubt. Genau genommen, liefern statistische Hypothesen gemäß Stegmüller keine Erklärungen für historische Einzelereignisse, wie in der Fachliteratur wiederholt konstatiert wurde. Dass nicht deterministische Erklärungen für Einzelereignisse bloße Wahrscheinlich- keitsschlüsse sind, lässt sich nicht leugnen. Sie zeigen aber mE eine mögliche Verursa- chung auf. Auch heute gelten Schlussfolgerungen über die Ursachen konkreter Ver- kehrsunfälle (Beispiel von mir) im selben Sinne nur mit einer bestimmten Wahrschein- lichkeit. Überhaupt lässt sich sagen, dass Erklärungen nach dem H-O-Schema mögliche Erklärungen genannt werden sollen, wenn ihr Explanans kein allgemeines deterministi- sches Gesetz enthält (vgl aaO 77). Danto bemerkte die Tatsache, dass Historiker über Zusammenhänge zwischen mehreren Ereignissen erzählen bzw berichten. Solche Erzählungen enthalten mA intuitive oder Common-Sense-Annahmen über Bedingungen von Ereignissen, die sich nach dem H- O-Schema formulieren ließen. Das deckt sich weitgehend mit der These Hempels und Poppers über implizit vorausgesetzte triviale Gesetze in den Geschichtswissenschaften. Die Erklärung aus Motiven bezieht sich nach Frey regelmäßig auf die intendierten Zwecke des Handelnden. Diese sind mE sicher eine von mehreren notwendigen Bedin- gungen bewussten Tuns, also auch ein Bestandteil des erstrebten Explanans gemäß dem Hempel-Oppenheim-Schema. Problematisch ist die empirische Überprüfbarkeit von Aussagen über Motive aber schon deshalb, da man mehrere Zwecke gleichzeitig verfol-

177 gen kann und da Selbstdarstellungen auch Lügen und Erinnerungsirrtümer enthalten können etc (vgl aaO). Allgemeine Prinzipien des menschlichen Handelns erlauben mögliche Erklärungen im Sinne der rationalen Erklärung laut Dray (siehe nächstes Kapitel), da subjektiv unsinni- ges Verhalten meist unwahrscheinlich ist. Geschichtswissenschaft beschäftigt sich darüberhinaus nicht nur mit Tatsachen wie der zufälligen Gleichzeitigkeit, sondern auch mit der Frage nach ähnlichen Ursachen für ähnliche Ereignisse, was zu unerwarteter Entdeckung allgemeiner gesetzesartiger Aussagen führen kann (vgl aaO 78-79). Etwa weisen mE die unterschiedlichen Weltdeutungen aller Kulturen auf ein allgemein- menschliches metaphysisches Bedürfnis als ihre Ursache hin.161 „Erklärende Interpretation“ (Frey 80) besteht darin, dass man versucht, die Bedeutung eines Ereignisses für spätere Ereignisse, die damit im Zusammenhang stehen, aufzuzei- gen. Durch die Erforschung solcher Einflüsse gehen mE alle Geisteswissenschaften zur objektiven Beschäftigung mit Kausalverhältnissen über (vgl aaO). Ein Beispiel für die- ses Forschungsinteresse sind bei Frey die Auswirkungen von Friedens- und Erbschafts- verträgen sowie der Intentionen der Vertragsparteien auf spätere Ereignisse im politi- schen Leben. Der scheinbar bloß subjektive Begriff der historischen Bedeutsamkeit, fährt er fort, erhält dadurch eine eindeutige Bestimmung, dass er von Ereignissen zutref- fenderweise ausgesagt wird, die eine (von mehreren) Antecedensbedingungen zahlrei- cher späterer Vorkommnisse sind. Dh ein Historiker setzt bedeutsame Einzelereignisse in Beziehung zu Entwicklungen, anders gesagt, zu miteinander mehr oder weniger lose verknüpften Tatsachen. Diese Tatsachen müssen sich so beschreiben lassen, dass bestimmte ihnen gemeinsame Merkmale objektiv feststellbar sind, welche diese Fakten als Elemente einer Klasse von Ereignissen charakterisieren (vgl Frey 81). Die Erklärung einer solchen Entwicklung oder eines ihrer Teilvorgänge bzw eines für sie relevanten Einzelereignisses hat folgen- de Struktur, wie Frey brillant zu verstehen gibt: Das Explanans besteht aus einer geset- zesartigen Regel, die zT aus dem Alltag bekannt ist, und einem oder mehreren Ereignis-

161Die hier zitierten Textpassagen scheinen den geisteswissenschaftlichen Erkenntnisanspruch zu relativieren. Ich meine indes, dass es offensichtlich ist, dass eine genaue Kenntnis kausaler Zusam- menhänge und Anfangsbedingungen die Anzahl möglicher Ursachen eingrenzt, daher etwa Kriegs- ursachen eindeutig festgestellt werden können. aaO 74-79

178 sen des öffentlichen Lebens (den Antecedensbedingungen), das Explanandum aus der ganzen Entwicklung oder häufiger aus einer genau begrenzten Teilentwicklung. So lässt sich die Struktur von geisteswissenschaftlichen Erklärungen darstellen, für die man auch gesetzesartige Regeln benötigt: Man kann sie falsifizieren, indem man nach- weist, dass es für ein Element der als Ereignisklasse „historische Entwicklung E“ cha- rakterisierten Menge kein Explanans gibt, dass eine der vermuteten relevanten Antece- densbedingungen als Element enthält. Theorien der Verursachung historischer Entwick- lungen können also dem Objektivitätskriterium der Falsifizierbarkeit genügen. Doch müssen auch die in ihnen als Erklärung angeführten Antecedensbedingungen und hu- manwissenschaftlichen Verallgemeinerungen empirisch überprüfbar bzw bewährt sein (vgl aaO 82). Solche (möglichen) Erklärungen sind mE meist, aber nicht immer die Folge hermeneutisch-einfühlender Hypothesen, denn sie sind erklärende Interpretatio- nen. Auch Zustände wie zB die Steuerfreiheit des Adels können, wie Frey erkennt, als Ursa- chen historischer Entwicklungen angesehen werden, und nicht nur Ereignisse wie der Sturm auf die Bastille. Solche Zustandsbeschreibungen wie die über die Privilegien des Adels im 18. Jahrhundert übernehmen in manchen historischen Erklärungen die Funkti- on einer Antecedensbedingung, sind aber eigentlich gesetzesartige Aussagen und haben in historischen Erklärungen zT auch diese Funktion, wie aus dem Freytext weiter folgt (vgl aaO 83). Sie lassen sich mE selbst durch allgemeine Axiome über anthropologische Konstanten erklären, zB durch die Tatsache, dass es keine komplexe Gesellschaft ohne Rollenverteilung geben kann. Hermeneutische Interpretation wird mE meist nur noch als heuristisches Mittel (siehe Kapitel 2) zugelassen, aber die durch sie gewonnenen Hypothesen über Handlungsmo- tive oder Mitteilungsabsichten etc können dahingehend objektiv überprüft werden, ob sie sich als mögliche Ereignisskizzen eignen oder nicht. In diese Erklärungsskizzen ge- hen, wie man Frey (aaO 84) zustimmen muss, immer auch gesetzesartige Aussagen ein, weil ein Zusammenhang behauptet wird. Kognitive Interpretationen sind mE ein Son- derfall, insofern als in ihnen an Stelle gewöhnlicher Induktionen sprach- und sprachge- brauchsrelative Bedeutungsregeln vorkommen, Textstellen und Kontextfaktoren die Funktion der Antecdensbedingungen übernehmen (vgl aaO).162

162aaO 80-84

179 Die Formalisierbarkeit geisteswissenschaftlicher Aussagen scheint mir damit weitge- hend gegeben zu sein. Manche Soziologen haben sich ebenfalls bemüht, in diese Rich- tung zu wirken. Auf ihnen aufbauend lassen sich alle Geisteswissenschaften auch als Handlungswissenschaften auffassen, da sie ua kulturbedingtes, bewusstes Verhalten er- klären. Durch die Verfolgung dieses Gedankens möchte ich einen goldenen Mittelweg zwischen der gewöhnlichen am Ideal der Naturwissenschaften ausgerichteten Wissen- schaftstheorie der Geisteswissenschaften und ihrer trotz strukturalistischer Ansätze eher „posthermeneutischen“ Praxis einschlagen. Statistikähnliche Induktionen übernehmen nämlich mE in geisteswissenschaftlichen Erklärungen die Funktion allgemeiner Geset- ze. Ein Hermeneutikgrund ist, scheint mir, schon deshalb gegeben, weil wir viele Formen kultureller Aktivitäten fremd, mithin auch erklärungsbedürftig finden. Das ist insbeson- dere der Fall, wenn es zu einem „geschichtlichen Bruch“ gekommen ist, da sich die so- ziokulturellen Umweltbedingungen verändert haben. Gegen den Szientisten, der von seinem Ideal einer Einheitswissenschaft nicht lassen will, lässt sich also ein Existenzan- spruch der hermeneutischen Methode behaupten. Jedoch muss man hinzufügen, dass auch hermeneutische Deutungen als mögliche Erklärungen deduktiv in Syllogismen hergleitet werden können, welche die Form des Hempel-Oppenheim-Schemas aufwei- sen, um dem Vorwurf einer mystifizierend-subjektiven Theorienbildung vorzubeugen. Die Forderung nach verlässlichen Quellenangaben und anderen Belegen ist ein Beweis für den objektiven Charakter der Geisteswissenschaften, die offensichtlich regelmäßig nachweisen können, dass, wenn die Quellen wahr sind, auch ihre Schlussfolgerungen und Deutungen auf Grund dieses Datenmaterials wahr sind. Dies gilt, auch wenn die Rekonstruktion der komplexen Motivstruktur der Handelnden im Einzelfall nicht durch- führbar ist. Ein Unterschied zu den Naturwissenschaften ist, dass sich die Hypothesen von Histori- kern meist nicht auf allgemeine Gesetze beziehen, sondern auf konkrete Ereignisse, die als Antecedensbedingungen in einem geisteswissenschaftlichem Explanans fungieren können. Bei der Formulierung und Überprüfung solcher singulärer Hypothesen gehen Geisteswissenschaftler, wie schon wiederholt gesagt, von trivialen allgemeinen Annah- men, einer Common-Sense-Version der Naturgesetze aus, um die Anzahl der möglichen Ereignisverknüpfungen und Handlungsfolgen einzugrenzen.

180 Außerdem unterscheiden sich die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften durch ihren kommunikativen Charakter. Aber die Tatsache, dass sich Quellen und Texte anders als Objekte der unbelebten Natur wie Gesprächspartner verhalten, bedeutet nicht, dass erstere nicht mit Hilfe gesetzesartiger Aussagen erklärbar sind. Die Begegnung mit dem Quellenmaterial ist eine intersubjektiv wiederholbare Erfahrung vergleichbar einer naturwissenschaftlich relevanten Sinneserfahrung, die nicht zur Gänze in Worte gefasst werden kann. Die einzelnen Elemente der Erfahrung werden in allen Wissenschaften durch logisch konsistente Theorien verbunden, deren Axiomatik für den Forschungsge- genstand relevante gesetzesartige Aussagen enthalten muss wie Naturgesetze oder mög- liche Handlungsgründe. Der in allen Geisteswissenschaften beliebte Begriff der Struktur schlägt eine Brücke von der „posthermeneutischen“ Praxis zum Wissenschaftsverständnis des Szientismus. Zudem spielte die Beschäftigung mit Strukturen schon in Diltheys verstehender Psycho- logie eine nicht unwichtige Rolle. Obwohl der Strukturbegriff manchmal schwammig wirkt, weist er mE darauf hin, dass sich auch Humanwissenschaftler mit Regelmäßig- keiten der Anordnung bestimmter Elemente befassen (zB Ober- und Unterschicht einer bestimmten Gesellschaft).163 Daran knüpft gewiss auch der bewährte wissenschaftstheoretische Standpunkt (von Hempel etc) an, dass die Geschichtswissenschaft in ihren Erklärungen auch von geset- zesartigen Aussagen oder Voraussetzungen ausgeht. Selbst Vertreter der hermeneuti- schen und individualisierenden Ansätze würden kaum die Existenz von Ordnungsfor- men bestreiten, welche die Einmaligkeit des vom Historiker erforschten Konkreten ein- schränken. Die individuelle Ausprägung des durch diese Ordnungsformen klassifizier- ten Allgemeinen besteht zB in der persönlichen Note oder Eigenart, an der man einen Dichter einer bestimmten literaturgeschichtlichen Strömung ebenso erkennen kann wie einen von mehreren Politikern einer Partei. Zum Zweck der Veranschaulichung möchte ich diese Ausprägungen der Eigenschaften historischer Persönlichkeiten mit den kleinen Unterschieden zwischen den Gewässerverläufen zweier Gebirgsflüsse vergleichen. In diesem Zusammenhang stellt sich die interessante, aber komplizierte Forschungsfra- ge, wie sich typisch historische Erklärungen soziokultureller Ereignisse von eigentlich

163Karlfried Gründer (1975): Hermeneutik und Wissenschaftstheorie. In: Roland Simon-Schaefer; Walther Ch. Zimmerli (Hg): Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, 87, 89, 92-96

181 psychologischen abgrenzen lassen. Ein weiters Beispiel für die in dieser Dissertation bereits wiederholt erwähnten, vom Historiker als selbstverständlich vorausgesetzten ge- setzesartigen Aussagen ist, dass die Handlungen historischer Akteure unter der still- schweigenden Voraussetzung erklärt werden, die historische Persönlichkeit X habe im Geist ihres Glaubens gelebt. Daher scheinen sich derartige Erklärungen nur auf Singulä- res zu beziehen, obwohl sie ein Menschen- und Gesellschaftsbild voraussetzen. Den- noch steht das Singuläre im Vordergrund des Interesses eines Historikers, der sich zu- dem eher auf psychologische oder naturwissenschaftliche Gesetze beruft als auf grup- pendynamische Hypothesen über den soziokulturellen Wandel (siehe Einleitung). Die Erklärung aus Motiven mit Hilfe praktischer Syllogismen kommt auch nicht ohne allgemeine gesetzesartige Aussagen aus und lässt sich allgemein so formulieren, dass sich eine Person in einer bestimmten Lage so verhält, wie es ihr ihre Überzeugungen gebieten, es sei denn subjektiv-psychologische oder objektiv-naturwissenschaftliche Zwänge hindern sie daran. Gesellschaftlich bedingte oder selbst gewählte Verhaltensre- geln, die nur für bestimmte soziokulturelle Kontexte gelten, sind eine wichtige Prämisse in vielen historischen Erklärungen. Noch allgemeinere Gesetze sind eher psychologi- scher oder gesellschaftswissenschaftlicher Natur, obwohl sie in geschichtswissenschaft- lichen Erklärungen herangezogen werden.164 Offensichtlich sind Satzgefüge mit einem Kausalsatz, wie sie einem in der klassischen Historiographie begegnen, gleich gut verständlich wie hoch gestochene deduktiv- naturwissenschaftliche Erklärungen, was man aus der Lektüre Hübners lernt. In einer typischen geisteswissenschaftlichen Monographie setzen Erklärungen mE intuitiv vo- raus, dass die Gebräuche oder Gewohnheiten bestimmter Kulturen bzw Milieus das zu untersuchende Verhalten entscheidend beeinflusst haben: Sie verlassen sich zu Recht auf das Sprichwort „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, ein induktives Prinzip, von dem meiner Ansicht nach bekannt ist, dass es sich im Alltag und in den Forschungen der naturwissenschaftlichen Psychologie bewährt hat. Regeln, die für überhaupt alle menschlichen Gesellschaften, alle soziokulturellen Ver- änderungen oder Institutionen gelten, gibt es nur wenige. Wendet sie ein Historiker an,

164Kurt Hübner (1975): Grundlagen einer Theorie der Geschichtswissenschaften. In: Roland Simon- Schaefer; Walther Ch. Zimmerli (Hg): Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, 101-105: Man beachte insbesondere die Tabelle auf S. 104, die einem Anregungen dazu gibt, eine allgemeine Form aller typisch geschichtswissenschaftlichen Erklärun- gen des Verhaltens historischer Akteure zu erahnen.

182 betätigt er sich mE quasi nebenbei als philosophischer Anthropologe, Sozialpsychologe oder Gesellschaftswissenschaftler, wie Chemiker bei ihrer Arbeit auch als Physiker und Mathematiker tätig sein können. Ein weitere Analogie zur geisteswissenschaftlichen Erklärung ist, dass auch psychiatrische Diagnosen allgemeine Begriffe auf etwas Ein- maliges, den Patienten als Individuum, anwenden (Analogie von mir). Hübner macht auf das Folgende aufmerksam: Es handelt sich bei den Regeln, die in geisteswissenschaftlichen Prämissen vorausgesetzt oder angeführt werden, meist um kulturspezifische, etwa um Sachzwänge, die nur in einer Marktwirtschaft auftreten, oder um Traumata, die nur in mittelalterlichen Gesellschaften ihre spezifische Form anneh- men können (Beispiele von Hübner). Die Gesamtheit der historischen (dh zeitbedingten) soziokulturellen Einflüsse ist oft wichtiger, als psychologische Gesetze und Dispositionseigenschaften des Einzelnen es sind (vgl Hübner 106), mE da das Phänomen der sozialen Prägung existiert. Diese kul- tur- und zeitbedingten Regeln und Verhaltensweisen ermöglichen, wie Hübner erkennt, die logische Form des H-O-Schemas ebenso gut wie Beschreibungen statistischer Pro- zesse in der Physik. Hübner macht auf eine weitere Querverbindung zwischen Verstehen und Erklären auf- merksam: Offenbar bedeutet Verstehen immer eine Vertrautheit eines Menschen mit den Objekten seiner Gedanken, auf diese Weise versteht man auch die Natur. Wenn man sagt, der Historiker verstehe die Vergangenheit, kann sich das mE nicht auf etwas Unerklärliches beziehen. Historisches Verstehen beruht laut Hübner darin, dass man sich und anderen soziokultu- relle Ereignisse unter Bezugnahme auf kulturelle Gepflogenheiten in groben Zügen er- klären kann, die man entweder aus dem eigenen Leben kennt oder in die man sich we- gen seiner Bekanntschaft mit glaubwürdigen Zeugenberichten eingelebt hat; Verstehen in diesem Sinn bedeutet nicht die Billigung des verstandenen Tuns. Der selbstverständliche Eindruck, Historiker seien die Autoren wahrer Geschichten, ist auch Danto zufolge keineswegs ein Argument gegen die Forderung, sie müssten die von ihnen berichteten Ereignisse zumindest teilweise wissenschaftlich erklären. Prinzi- piell ist jede historische Erklärung zugleich eine Erzählung, insofern als sie, wie man von Danto lernen sollte, ausführt, dass eine überdauernde Substanz sich auf Grund des- sen, dass ihr etwas widerfährt, in einer bestimmten Hinsicht verändert. Das ist die Ge-

183 stalt sämtlicher Episoden narrativer Darstellungen soziokultureller Veränderungspro- zesse, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken können. Diese Episoden oder Erzählschritte nennt Danto Atomgeschichten. Geschichtserzählungen thematisieren stets einen Wandlungsprozess und erklären die im Zuge desselben vor sich gehenden Veränderungen der Qualitäten einer Substanz mit den Informationen, ohne die der Leser die Erzählung nicht verstünde (vgl aaO 108 oben). Das ist mE das geheime Prinzip des elliptischen Charakters von geisteswissen- schaftlichen Erklärungsskizzen. Danto lehrt uns zudem: Historiographie in rein narrativer Form und deduktive Erklä- rungen nach dem H-O-Schema schließen einander nicht aus, sondern sind zwei Darstel- lungsweisen desselben Grundgedankens; man kann sogar aus einer Darstellungsweise in die andere übersetzen. Wenden wir uns nun den Theorien für die Geschichtswissenschaften zu: Damit die Übersetzbarkeit in deduktive Erklärungen gegeben ist, muss Geschichtswissenschaft über den Naturgesetzen analoge Theorien verfügen, zumindest wenn bloßes Alltagswis- sen nicht ausreicht. Dabei hilft uns die These Hübners, dass man prima facie unver- ständliche Ereignisse oft auf die Regeln des sozialen Zusammenlebens einer bestimm- ten Kultur zurückführen kann (aaO 108), zB das derzeit schlechte Klima in Schule und Arbeitswelt auf ständig steigende bzw sich wandelnde Leistungsanforderungen. Denn letztere lösen gewöhnlich Unruhe und Widerstand aus (Beispiel von mir). Nun zu Theorien, die Geschichtsabläufe erklären wollen: Es ist zwischen bloßen Ideal- typen (wie zB in Max Webers Wirtschaftstheorie), welche vordergründig chaotische Er- eignismengen nicht ganz ungeordnet wahrzunehmen helfen, und ausgereiften indukti- ven Theorien zu unterscheiden (vgl aaO 109). Erstere sind mE unzuverlässige Idealisie- rungen, letztere gelten zT mit hoher Wahrscheinlichkeit, auch wenn sie nur auf Augen- maßschätzungen beruhen. Allgemein sind historische Theorien laut Hübner ein System von Regeln, das sich auf eine soziokulturelle Struktur der Vergangenheit bezieht. So erklärt eine Theorie der Marktwirtschaft zeitbedingte Preisschwankungen, die Ausbil- dung von Gewerbezweigen usf. Wäre alles Soziale Zufall, ließen sich nämlich keine buchstäblich kulturellen Formationen erklären, stellt Hübner sinngemäß zutreffend fest (aaO 110). Allerdings müssen historische Theorien darauf eingehen, dass in einer Ge- sellschaft antagonistische Tendenzen am Werk sein oder zB widersprüchliche Normen

184 als wahr gelten können, ja dass die historisch Handelnden ihre soziale Umwelt falsch auffassen und ihre eigenen Normen falsch deuten, da sie etwa verwirrt sind oder sich denkerisch verrannt haben. Auf derartige Probleme ist nach dem Vorschlag Hübners durch die Anwendung psychologischer Gesetze im Explanans zu reagieren. Bloße Idea- lisierungen und teilweise chaotische Aspekte von Systemen sind mE als solche zu kennzeichnen, um Scharlatanerie zu vermeiden, wenn man diachron Kulturen erklärt. Dennoch haben geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Theorien laut Hübner dieselbe logische Form und ermöglichen gewisse Retrodiktionen. Zudem zie- hen historische Wissenschaften Naturwissenschaften als Hilfswissenschaften etwa für Zwecke wie die Altersbestimmung heran. In dieser Hinsicht gilt, dass je nach der kon- kreten Fragestellung variative Methoden angebracht und unterschiedliche Ausmaße von Generalisierbarkeit zulässig sind. Geschichtliche Theorien haben, wie Hübner feststellt, ähnlich naturwissenschaftlichen axiomatische Grundsätze: Diese sind die Basis für die Erklärung diachroner Abläufe. Sie beziehen sich auf die Fundamentalregeln eines soziokulturellen Systems und ermög- lichen damit das Aufdecken erklärender Zusammenhänge zwischen grundlegenden Strukturen etwa des Geistes- oder Wirtschaftslebens und den mannigfaltigen Phänome- nen an der Oberfläche des Alltags der Gesellschaften und Kulturen der Vergangen- heit.165 Obwohl die historische Erkenntnis gemäß Hübner eine apriorische Komponente hat, glaube ich, dass man sich vor einem übertriebenen Relativismus und vor einer Tolerie- rung kleinerer Anomalien hüten muss. Das apriorische Moment an geisteswissenschaft- lichen Theorien darf mE nicht mystischer oder mächtiger werden, als es die apriori- schen Elemente in den exakten Naturwissenschaften sind. Historiker können aus den Quellen kulturwissenschaftliche Theorien konstruieren, in deren Licht sie weitere Phänomene deuten, allerdings müssen diese theoretischen Kon- strukte selbst empirisch bestätigt bzw widerlegt werden können (vgl aaO 112). Apriori- sche Grundsätze der gesetzesartigen Aussagen im Explanans sollten mE selbstevident sein, zB aus den Eigenschaften jedes vernunftbegabten Wesens als eines solchen folgen. Die aus der einmal angenommenen Theorie abgeleiteten Sätze haben mit den weiteren empirischen Feststellungen der Geisteswissenschaften übereinzustimmen.

165aaO 105-111

185 Gut bewährte empirische Befunde lassen sich für probabilistische Erklärungen von nicht identisch wiederholbaren kulturbedingten Ereignissen verwenden. Weitere Grundsätze („judikale“ und normative Grundsätze) ähnlich Axiomen schreiben die Zu- lässigkeit von Ad-hoc-Hypothesen, den Einsatz bestimmter Hilfsmittel für die For- schung etc vor (vgl aaO 113). Historische Erklärungen, die aus einer singulären Aussage und einer allgemeinen Theo- rie eine zweite Tatsachenbehauptung deduktiv ableiten, sind als ganze empirisch falsifi- zierbar, da auch von Apriorischem ausgehende Prognosen laut Hübner vom Datenmate- rial widerlegt werden können (vgl aaO 115). Trotz dieser Widerlegbarkeit geisteswissenschaftlicher Erklärungen besteht das Problem der Umdeutbarkeit von Befunden sowie des Zweifels am überlieferten Material. Einen hermeneutischen Zirkel gibt es, wie Hübner zu Recht feststellte, nicht (aaO). Denn in allen Wissenschaften sind theoretische Vorannahmen eine Bedingung der wissenschaft- lichen Arbeit. Zudem kann die Bestätigung der Vorannahmen über Motive, Ausdrucks- absichten etc der historischen Akteure eine Erfahrungstatsache sein. Das ist etwa der Fall, wenn alle gegenteiligen Hypothesen durch archäologische Funde oder Archivar- beit widerlegt werden (vgl aaO 116).166 Viele geisteswissenschaftliche Erklärungen beziehen sich auf die Veränderungen sozio- kultureller Systeme, wobei diese auf dem Aufkommen relativ neuer Ideen und Prakti- ken beruhen. Solche historischen Erklärungen sind von den ebenfalls wichtigen Erklä- rungen der Vorgangsweise historischer Akteure mittels des praktischen Syllogismus zu unterscheiden. Bei manchen Systemveränderungen werden die alten sozialen Spielre- geln nur geringfügig variiert, indem es zu einer vermeintlichen Ableitung von neuen Regeln aus den bisherigen in Anbetracht einer ungewohnten Situation kommt. Mein Beispiel dafür ist die Behandlung eines neuen Motivs im Rahmen eines althergebrach- ten Kunststils. Bei grundsätzlichen Systemveränderungen hingegen treten, so fährt Hübner fort, die in diesem Zusammenhang aktiven Individuen aus dem System heraus. Anschließend leiten sie aus nicht mit dem alten System in direkter Verbindung stehenden Grundsätzen Ent- würfe für neue soziokulturelle Regeln ab. Auf diese Art und Weise lassen sich laut

166Ich weiche vom zitierten Text insoweit ab, als ich einem problematischen Relativismus durch die Berufung auf analytische Wahrheiten und hohe Wahrscheinlichkeiten auszuweichen versuche. Eine Diskussion über das Problem der Letztbegründung würde aber zu weit führen (vgl aaO 112-116).

186 Hübner und mir viele geistesgeschichtliche Umbrüche beschreiben, bei denen sich meist mehrere politische, künstlerische, wirtschaftliche und andere Systeme gegenseitig beeinflussten. Diese Wechselwirkungen können, glaube ich, wegen der spontanen und indeterminier- ten Wesensmerkmale soziokultureller Systeme auch diskontinuierlich sein, das Diskon- tinuierliche ist aber mE auch mit allgemeinen gesetzesartigen Aussagen als eine nicht extrem unwahrscheinliche Reaktion auf vermeintliche Systemzustände erklärbar. Wissenschaftliche Geschichtsschreibung hat gewiss die axiomatische Methode und den Gesetzesbegriff von den Naturwissenschaften übernommen, ebenso allerlei von den Textwissenschaften, wenn es um Quellenkritik (Handschriftvergleich usw) geht (vgl aaO 119-120). Daraus folgt meiner Ansicht nach, dass Geisteswissenschaftler in be- stimmten Forschungssituationen auf einen Fundus von Theorien zurückgreifen, welche als die allgemeinen Theorien in den Explanantia ihrer historischen Erklärungen fungie- ren. Dass Historiker regelmäßig geschichtliche Ereignisse im Licht späterer Vorkommnisse darstellen, ist eine Tatsache (aaO 121). Das liegt mE daran, dass längere Kausalketten in indeterminierten Systemen erst erkennbar werden, wenn das erste relevante, das heißt verursachende Ereignis schon lange vorbei ist. Auch solche Deutungen der Vergangen- heit setzen die Gültigkeit gesetzesartiger Aussagen über Kausalmechanismen voraus (aaO 116-121). Ein Beispiel Hübners für das eben erwähnte perspektivische Problem ist, dass Thukydi- des im Nachhinein gewisse Erscheinungen als Symptome eines für die alten Griechen schädlichen Massenwahns interpretiert: Das ist, so Hübner weiter, ein perspektivischer Wechsel der Blickweise auf die Vergangenheit, jedoch überhaupt keine Veränderung der eingetretenen Tatsachen selbst, nur ihrer Deutung und Wahrnehmung. Zwar bedeu- ten, so fährt er fort, dieselben Ereignisse der Spätantike für einen mittelalterlichen Men- schen anderes als für einen Renaissancemenschen. Doch hängt es mE eher von später eingetretenen unvorhersehbaren Umständen ab, dass spätere Kulturen das ursprüngliche Ereignis unter einem anderen Blickwinkel sehen. Trotz dieser subjektiven Bedeutsamkeiten der Vergangenheit führen apriorische Grundsätze, die sich immer wieder logisch und empirisch rechtfertigen lassen, zu echter geschichtlicher Erfahrung auf Grund der Implikationen des Überlieferten (vgl aaO 128).

187 Ich lerne aus Hübners Fußnoten, dass die Übertragung der analytischen Methode auf die Geisteswissenschaften Wahrheiten zur Geltung bringt, welche die Hermeneutiker ledig- lich ungenau ausdrücken konnten: Die Erklärung eines Ereignisses als vom Handelnden bezweckt und soziokulturell bedingt hat dieselbe logische Form wie naturwissenschaft- liche Erklärungen und bedarf meist apriorisch-handlungstheoretischer neben psycholo- gisch-statistischen Prämissen (also zwei Arten gesetzesartiger Aussagen) zusätzlich zu den spezifischen Antecedensbedingungen im Explanans.167 Wenden wir uns kurz der Frage zu, was eine diachrone Kulturwissenschaft („Geschich- te“) eigentlich ist: Eine Geschichte von Etwas beschäftigt sich per definitionem mit Er- klärungen des Zustandekommens individueller Systemzustände. Diese Erklärungen müssen narrativ sein, da die Schwerpunktsetzung auf Dynamisches und Einmaliges ei- ner Soziologisierung dieser Fragestellungen in derselben Weise Grenzen setzt (vgl Lüb- be 134), wie die theoretischen Sozialwissenschaften nicht in jeder Hinsicht auf ihre his- torische Dimension reduzierbar sind. Für alle Geschichten gilt weiters, dass Geschichtsprozesse die Folge von Systemumge- staltungen sind. Letztere sollen der meist kollektiven Selbsterhaltung dienen. Solche Umgestaltungsergebnisse sind mE nicht identisch wiederholbar und keine unmittelbaren Folgen der Struktur und Funktionsweise des Systems. Eine für uns heute unverständli- che Straßenkrümmung kann etwa unter den kulturellen Bedingungen der Vergangenheit und auf Grund des großes Einflusses bestimmter Menschen früher eine wichtige Funk- tion gehabt haben (aaO). Darüber hinaus ermöglichen „Geschichten“ eine Antwort da- rauf, was eigene und fremde Identitäten ausmacht, dh welche Erkennungsmerkmale für eine Gruppe etc typisch sind (aaO). Die narrative Form der historischen Erklärung ist zuweilen, wie Hermann Lübbe er- kennt, deshalb angebracht, da mehrere Regelsysteme einander auf unprognostizierbare Weise beeinflussen, was beispielsweise bei Kriegsfolgen der Fall ist. In Geschichten werden Bleibendes und Identitätsveränderungen gleichermaßen erwähnt, wie Lübbe weiter ausführt. Beides ist mE erklärungsbedürftig und mit Bezugnahme auf die Erfül- lung psychosozialer Funktionen erklärbar.

167Während ich mich Hübners Ansichten über die Überwindung der intuitiven Hermeneutik durch die Anwendung gesetzesartiger Regeln, welche durch Retrodiktionen überprüfbar sind, anschließe, verwerfe ich die entgleiste Metapher der variablen historischen Tatsachen (aaO 124-126, 128-129).

188 Der langen Rede kurzer Sinn ist folgender: Funktionales Denken liefert Ansätze für ge- setzesartige Aussagen, die soziokulturelle Stabilität erklären.168 Welchen Platz hat dieser Bezug auf Regelmäßigkeiten bei geisteswissenschaftlichen Kausalbehauptungen im Gesamtgebäude der Wissenschaftstheorie? – Poppers längst klassisch gewordene Falsifikationstheorie des Theorienfortschritts be- zieht sich eher auf die Natur- und Sozialwissenschaften und räumt ein, dass der Entde- ckungszusammenhang wissenschaftlicher Erklärungen auch ein psychologisches Prob- lem ist. Damit lässt sie mE Platz für eine eigenständige Wissenschaftstheorie der Geis- teswissenschaften (vgl Zimmerli 342). Diese muss sich wie jede andere spezielle Wissenschaftstheorie damit auseinanderset- zen, wie neue, erfolgreiche Theorien alle bewährten Erklärungen rivalisierender alter Theorien synthetisieren (vgl aaO 343). Erklärt eine Studie nicht alles, was ihre Vorgän- gerstudien kausal begründeten, ist sie mE als teilweise unvollkommenes Modell zu kennzeichnen. Schon Gadamer selbst (siehe Kapitel Hermeneutik) nennt das vorwis- senschaftliche Verstehen einen Weg zu Hypothesen, die zusätzlich methodisch über- prüft werden müssen, damit geisteswissenschaftliche Erklärungen entstehen (aaO 346). Letztere beziehen sich zwar auf Sätze über individuelle Sachverhalte, enthalten aber als Erklärungen auch explizit oder implizit gesetzesartige Aussagen (vgl aaO 344). Poppers Logik der Bewährung ist aus diesem Grund dem Gegenstandsbereich des Einmaligen und Menschlichen genauso angemessen wie den Naturwissenschaften (vgl aaO 345). Damit der wissenschaftliche Diskurs vor der Gefahr geschützt wird, angesichts der von Kuhn konstatierten Vielfalt kaum zu vergleichender Paradigmen in einen unsinnigen Irrationalismus abzugleiten, muss man sich mE auf die feststellbaren Erklärungserfolge von Theorien und mit ihnen zusammenhängenden gesetzesartigen Aussagen konzentrie- ren. Insbesondere sind Anomalien zu kennzeichnen, weil sie eine Verschlechterung von empirisch bestätigten Theorien zu bloßen Idealisierungen bedeuten. Die Reaktion auf Anomalien kann auch in der Umformulierung von Allaussagen zu Induktionen (zB gro- ben Schätzungen) oder statistischen Wahrscheinlichkeitsaussagen bestehen. Gewiss ist der Rechtfertigungszusammenhang geisteswissenschaftlicher Erklärungen schon in groben Zügen erforscht. Aus dem objektbezogenen Vorverständnis lassen sich

168Hermann Lübbe (1975): Der kulturelle und wissenschaftstheoretische Ort der Geschichtswissen- schaft. In: Roland Simon-Schaefer; Walther Ch. Zimmerli (Hg): Wissenschaftstheorie der Geisteswis- senschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, 134-135, 137, 140

189 nämlich Leithypothesen und aus diesen Unterhypothesen ableiten, die sich auf geistes- wissenschaftliche Einzelfallprobleme beziehen. Diese empirische Prüfung des Vorver- ständnisses ist eine Vorgangsweise, die den Bestätigungsmethoden der Naturwissen- schaften ähnelt. Die Fragen nach der Psychologie der Forschung sowie nach den außerwissenschaftli- chen Einflüssen auf die Geisteswissenschaften und ihren außerwissenschaftlichen Aus- wirkungen ist selbst humanwissenschaftlicher Natur. Die Wissenschaftsgeschichte ist als solche eine geisteswissenschaftliche Fragestellung und bedient sich mE regelmäßig am besten der Erklärung mit Hilfe praktischer Syllogismen und Wahrscheinlichkeiten beruhend auf der jeweiligen Forschungskultur. Dh die Naturwissenschaften liefern ein für alle Wissenschaften gültiges Modell der Lo- gik der Bestätigung von Erklärungen und die Humanwissenschaften ein allgemein gül- tiges Modell der Verhaltensweisen der Forschenden und damit des Entdeckungszusam- menhangs von Theorien. Damit ist das Hempel´sche Ideal der Einheitswissenschaft ge- gen alle Einwände gerettet, freilich um den Preis, dass in der normativen Methodologie sämtliche einer objektiven Überprüfung zugänglichen Methoden zugelassen sind und in den Humanwissenschaften spezielle, besonders gegenstandsangemessene Wahrschein- lichkeitsüberlegungen dominieren.169 In der wissenschaftstheoretischen Diskussion wurde dementsprechend etwa schon von Paul Lorenzen der Gedanke geäußert, dass sich die Soziologie im Vergleich zu den Na- turwissenschaften nur deshalb etwas ganz Besonderes sei, weil sie es auch mit den Zwecken von Personen zu tun hat. Die Möglichkeit der zweckrationalen Erklärung sämtlicher Formen des menschlichen Handelns spricht nicht gegen die Annahme, dass die Natur fundamentaler als alles Kulturelle ist, wenn das Forschungsobjekt und nicht der Forschende im Vordergrund unseres Interesses ist (Lorenzen postuliert ein naturalis- tisches System der Wissenschaften mit formal- und naturwissenschaftlich angehauchten Fundamenten des Wissenschaftlichen als eines solchen).170 Ich glaube, dass in den Geisteswissenschaften allerdings häufiger eine Hypothese über eine Anfangsbedingung zum Erkenntnisfortschritt führt als eine Hypothese über eine

169Walter Ch. Zimmerli (1975): Paradigmawechsel und Streitbehebung. Einheitswissenschaft - einmal anders. In: Roland Simon-Schaefer; Walther Ch. Zimmerli (Hg): Wissenschaftstheorie der Geisteswis- senschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, 342-346, 348, 351-352 170Paul Lorenzen: Theorie der technischen und politischen Vernunft. Stuttgart: Reclam 1978, 119- 139.

190 bisher unbekannte gesetzesartige Aussage. Etwa entsteht eine neue Erklärung der Isla- misierung des heutigen Bangladesch unter Beibehaltung religionssoziologischer Wahr- scheinlichkeitsaussagen und der Erklärung aus Motiven mittels praktischer Syllogismen dadurch, dass die hypothetische Anfangsbedingung formuliert und anhand der Quellen- belege bestätigt wird, dass der muslimische Herrscher Aurangzeb die Altgläubigen bru- tal unterdrückte.171

7b) Grenzen der ökonomischen Verallgemeinerung als Sonderfall Eine Analogie soll die Funktion gesetzesartiger Aussagen in geisteswissenschaftlichen Erklärungen verdeutlichen. Das wissenschaftliche Paradigma der klassischen National- ökonomie ähnelt den diachronen, individualisierenden Humanwissenschaften in einigen Hinsichten frappant: Sie ist ua eine Soziologie der Marktbeziehungen, wie Hans Albert genial diagnostiziert, im Unterschied zur Organisationssoziologie, welche sich eher auf herrschaftsähnliche Verhältnisse bezieht, und erklärt Ereignisse unter Bezugnahme auf eine Entscheidungstheorie. Ich behaupte, dass sich aus der Vorgehensweise der nomothetischen Wirtschaftswissen- schaften folgende Lehren für die Geisteswissenschaften ziehen lassen: Alle Geisteswis- senschaften enthalten eine „spezielle Soziologie“ oder nehmen wenigstens in ihren Er- klärungen teilweise Bezug auf eine solche und erklären außerdem Ereignisse zT ent- scheidungstheoretisch, also durch Entschlüsse von Handelnden mit dem Ziel der Nut- zenmaximierung in Hinblick auf einen bestimmten Zweck. Analogien haben zwar keine Beweiskraft, nur verstehe ich nicht, wie Geisteswissenschaftler zu gesetzesartigen Aus- sagen in ihren Explanantia kommen, wenn meine Analogie nicht zutrifft. Beispiele für meine These sind ua „paläosoziologische“ Aussagen über kulturbedingte Verhaltens- wahrscheinlichkeiten, die Historiker mE intuitiv verwenden, aber auch weitere Theorien über kulturbedingte Interaktionsmuster wie sämtliche literatursoziologischen Ansätze. Der von Wirtschaftswissenschaftlern postulierten Profitmaximierung durch den Wirt- schaftstreibenden ähneln andere Verhaltensmotive wie das Streben nach Ehre in be-

171Die Muslime können in der genannten Region aber auch in einem anderen Zeitraum die Mehrheit geworden sein. http://www.aurangzeb.info (Abrufdatum: 21.10.2017, 10:44 Uhr)

191 stimmten Gesellschaften, das Suchen nach wertvollem Wissen durch wissenschafts- gläubige Forscher usw (vgl auch Albert 273). Ähnlich wie viele gesetzesartige Aussagen in historischen Explanantia nur für bestimm- te Kulturen gelten, bezieht sich laut Albert so manches nationalökonomische Gesetz nur auf Marktwirtschaften, welche nicht zu sehr durch die Herrschaft von Organisationen geregelt werden (aaO 277). Wenngleich der „Historismus“ zT zu Unrecht die Möglich- keit allgemeiner Gesetze in den Sozialwissenschaften bestreitet, zeigt er doch eindeutig auf, dass die meisten gesetzesartigen Aussagen, die in humanwissenschaftlichen Erklä- rungen vorkommen, nur in bestimmten soziokulturellen Systemen unter bestimmten Bedingungen gelten und teilweise gestaltbar sind; auch die Bedeutung der Entscheidun- gen von Einzelpersonen setzt Verallgemeinerungen sowohl in den Geisteswissenschaf- ten als auch in der Nationalökonomie Grenzen (vgl aaO 278).172 Kausal relevante Bedingungen müssen dennoch wie Einflüsse anderer kultureller Sub- systeme festgestellt werden, damit man wissenschaftlich bleibt. Dass ein Unternehmen seinen Profit maximieren will, ist mE letzten Endes auch nur ein probabilistisches Ge- setz vergleichbar der historischen Erklärung mit Hilfe praktischer Syllogismen. Modelle der nomothetischen Wirtschaftswissenschaft sind oft Idealisierungen (damit zT auch Augenmaßinduktionen ähnlich den impliziten Verallgemeinerungen in der Militärge- schichte) und beziehen sich auf soziale Willensbildung und Motive (vgl aaO 280). Sie ähneln damit der Erklärung aus Motiven laut Wolfgang Stegmüller. Der Unterschied zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften besteht offensichtlich da- rin, dass erstere mehr als letztere am Individuellen interessiert sind. ZB werden Geis- teswissenschaftler bei der Behandlung des Größenwahns (vgl Ausführungen zu Rickert in Kapitel 2) weniger diese Krankheit als den von ihr Betroffenen charakterisieren und daher andere, eher individualisierte Wahrscheinlichkeitsschlüsse ziehen.

172Die Anregungen, die mir der zitierte Aufsatz lieferte, habe ich zu einer Abhandlung über Analo- gien zwischen ökonomischen und geisteswissenschaftlichen Erklärungen verarbeitet. Das folgende Zitat soll diesen Zusammenhang illustrieren: „Wenn wir mit dem Instrumentarium des soziologi- schen Denkens an das Studium sozialer Gebilde herantreten, dann erscheinen sie uns als Netze mehr oder weniger stabiler Beziehungen der verschiedensten Art zwischen den Inhabern sozialer Positio- nen, den Trägern sozialer Rollen, die sich im gegenseitigen Verhalten dieser Personen, in ihren Inter- aktionen, aufbauen, entwickeln und auflösen.“ Hans Albert (1975): Markt und Organisation: Der Marktmechanismus im sozialen Kräftefeld In: Roland Simon-Schaefer; Walther Ch. Zimmerli (Hg): Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, 273, 276- 279 (Zitat 273)

192 Auch benötigt die ökonomische Erklärung individuelle Randbedingungen wie den In- formationsstand der Wirtschaftenden, die institutionellen Rahmenbedingungen und die subjektive Wertigkeit des finanziellen Gewinns, obwohl das Ziel des geschäftlichen Er- folgs und die damit verbundene Orientierung an der Nachfrage mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit gegeben sind. Als empirisch belegte Ausnahme von dieser Regel fällt mir Folgendes ein: Auch wenn alle allgemeinen Voraussetzungen für den Erfolg eines Unternehmens gut sind, können außerökonomische Faktoren in der Persönlich- keitsstruktur des Unternehmers mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit zum Untergang einer Firma führen. Psychische Probleme wie Süchte (Trunksucht, Spiel- sucht, Verschwendungssucht) ließen sich auf Grund der Konkursstatistik empirisch als statistisch relevanter Kausalfaktor ermitteln. Die Geschichtlichkeit alles Soziokulturellen betrifft, wie Hans Albert zutreffend fest- stellt, das Wirtschaftsleben ebenso wie etwa die Künste. Das führt dazu, dass ein Wirt- schaftshistoriker mühelos Invarianzen (vgl aaO 281) aufzeigen kann, welche dafür sprechen, die Gültigkeit von wissenschaftlichen Gesetzen über das Wirtschaftsleben auf bestimmte Gesellschaftsformationen (vgl aaO 285) einzugrenzen. Laut Albert ist es dennoch möglich, noch allgemeinere gesellschaftswissenschaftliche Gesetze zu entde- cken, welche auch erklären, warum sich die Muster des Wirtschaftslebens verändern können (vgl aaO 285-286). Diese umfassendere Gesellschaftstheorie wird sich allerdings mE auf die probabilisti- sche Entscheidungslogik des Umgangs mit mehr oder weniger dysfunktionalen Syste- men beschränken. Denn es gibt keine empirischen Anzeichen für Faktoren, die eine dy- namische Kultur determinieren, sondern ein apriorisches Wissen über die freie mensch- liche Reaktion auf wirkliche oder eingebildete Probleme, das sich mit praktischen Syl- logismen erklären lässt. Die Aktualität von Marx nach Popper besteht in der Anwen- dung dieses Wissens auf humanwissenschaftliche Prognosen. Ich schlage für die Frage nach der Verursachung größerer Strukturveränderungen folgende Formulierung vor: Funktioniert ein System sehr schlecht, wird es wahrscheinlich geändert. Etwa ist eine Revolution eine mögliche Reaktion auf Hungersnöte.173

173aaO 280-288

193 7c) Spezialfälle gesetzesartiger (funktionstheoretischer) Aussagen in geisteswissen- schaftlichen Erklärungen Ohne in einen Biologismus zu verfallen, kann man mE die kulturanthropologische Kernansicht von Konrad Lorenz übernehmen, dass soziokulturelle ebenso wie organi- sche Systeme eine Funktion zu erfüllen haben. Ist es nicht einleuchtend und de facto der Fall, dass Geisteswissenschaftler Anpassung von Individuen, Kollektiven und Gebräu- chen an relevante Umweltbedingungen als erklärenden Faktor heranziehen, um Kon- stanz und Wandel in der kulturellen Sphäre wissenschaftlich zu behandeln? Lorenz hat signifikante Ähnlichkeiten zwischen mehreren Formen strukturschöpferischen Gesche- hens aufgezeigt (Lorenz 235-236). Dabei entnimmt er den eher individualisierenden Zugängen zu den Wissenschaften vom Menschen die Erfahrungstatsache, dass sich Kul- turen aller Art durchaus autonom in ihre eigene Richtung entwickeln. Damit kann gut erklären werden, dass das Unwiederholbare, das Individuelle von Men- schen schon durch die Sachzwänge ihres Überlebenskampfes niemals ihr ganzes Wesen ausmachen wird, sondern dass ihr Wesen zugleich stets eine Variation eines Allgemei- nen und von der Natur Vorgegebenen umschließt. Lorenz befördert die wissenschafts- theoretische Einsicht, dass Prozesse des organischen und soziokulturellen Werdens eine Folge des Zusammenspiels von letztlich zufälligen Umweltbedingungen und funktiona- len Überlebensnotwendigkeiten sind (aaO 238). Unter einem weltanschauungsanalyti- schen Blickwinkel erkennt man, dass der Glaube an eine planende Hand hinter diesen Prozessen eine Vermenschlichung unwiederholbar- einzigartiger, aber nicht zur Gänze chaotischer Geschehen der Natur- und Kulturgeschichte darstellt. Allgemein Menschliches und in allen Kulturen Vorhandenes ist nach Lorenz biologisch bedingt. Ich vermute, dass gewisse, vor allem gefühlsmäßige Reaktionen des Menschen auf seine Umwelt nicht kulturbedingt sein können, da sie selbst eine Voraussetzung für die kulturelle Sozialisation von Menschen sind und wohl von der Struktur menschlicher Vernunft nahegelegt werden. Außerdem handelt es sich bei scheinbar Universellem wohl auch um Anforderungen aller bisher bekannten Lebensräume an den Überle- benstrieb. Dann aber sind triebhafte Regungen akzeptable Randbedingungen in be- stimmten kulturhistorischen Erklärungsgängen. So scheint mir der biologisch bedingte, menschliche Überlebenstrieb eine der psychologischen Bedingungen der Entstehung und Rezeption mittelalterlicher Kunstwerke über den Tod gewesen zu sein (vgl Kapitel

194 6). Lorenz hält im Anschluss an den kulturpessimistischen Diskurs des 20. Jahrhunderts fest, dass soziokulturelle Probleme allenthalben dadurch entstehen, dass sich biologi- sche und kulturelle Verhaltensanstöße für den Menschen auseinander entwickeln und miteinander in Konflikt geraten.174 An folgendem Zitat lässt sich erkennen, wie evolutionäres Denken alle Formen geistes- wissenschaftlicher Erklärung befruchtet (Lorenz 254): „Zwischen großen und deutlich geschiedenen Hochkulturen und nur wenig verschiedenen kleinsten Kulturgruppen gibt es alle nur denkbaren Übergänge, und es muss dem historisch Denkenden, der Unter- schiede nicht mit typologischen Gegensätzen verwechselt (...), ohne weiteres klar sein, dass sie Ergebnisse einer divergierenden kulturgeschichtlichen Entwicklung sind.“ Lorenz weist allerdings auf Unterschiede zwischen biologischen und kulturellen Anpas- sungsprozessen hin, etwa auf die im Vergleich zu Tierarten höhere Vermischbarkeit von Kulturen beim Menschen. Folgende überzeugende These zur Grundstruktur der Ver- knüpfung biologischer Faktoren mit soziokulturellen Entwicklungen kann mancherlei Erscheinung kultureller Vielfalt erklären: Die emotionale Bindung sozial integrierter Menschen an die Gebräuche der eigenen Gruppe und die Abneigung gegen Fremdes ist ein treffendes Argument für die Abgrenzung zu fremden Kulturen. Lorenz konstatiert auch die frühe Globalisierung, wenn er sich auf die kulturellen Ten- denzen des Kalten Krieges bezieht (aaO 254-257). Allgemein gesprochen bedeuten die- se Textstellen, dass dem Menschen manchmal die kulturelle Vielfalt, manchmal jedoch die Vereinheitlichung der Gebräuche nützt (Lorenz 257). Das Erklärungsprinzip von gesellschaftlicher Nützlichkeit konvergierender oder eben divergierender Kulturentwicklungen lässt sich als eine von mehreren Prämissen kom- plexer Explanantia wie zB der Religions- und Sprachgeschichte des römischen Kaiser- reichs verwenden. Lorenz bemerkt, dass kulturelle Anpassung regelmäßig zweckdien- lich ist, aber gelegentlich zu einem schädlichen Flexibilitätsmangel führen kann, wenn sich wichtige Umstände verändern (aaO 260). Das folgende Zitat erfüllt eine weitere Prämisse für historische Erklärungen nach dem H-O-Schema, welche man als Aussagen über das Ausmaß von jeweils relevanter Tradi- tionsgebundenheit bezeichnen kann (Lorenz 263): „Wir Menschen, die wir, was man nicht oft genug sagen kann, von Natur aus Kulturwesen sind, können gar nicht umhin,

174Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. München 1973, 235-236, 238, 241, 252

195 all das, was uns in unserer Kindheit und Jugend von unseren Eltern und älteren Ver- wandten tradiert wurde, mit jenen emotionellen Werten auszustatten, die diese Traditi- onsgeber für uns besitzen. Sinken diese Werte unter den Nullpunkt, so ist die Weiterga- be von kultureller Tradition unterbunden.“ Lorenz geht in diesem Zusammenhang auch auf das Phänomen der Vorbildwirkung ein, mit welchem nicht nur Fragen des moralischen Empfindens zusammenhängen, sondern auch Identitätsprobleme: Durch Traditionsverlust entstandene Orientierungslosigkeit ist mE eine weitere brauchbare Prämisse innerhalb kulturwissenschaftlicher Erklärungen nach dem H-O-Schema, und das unabhängig davon, ob es sich um Jugendkriminalität, Kulturveränderungen oder vergleichbare Phänomene handelt. Dies berücksichtigt die von Arnold Gehlen, Lorenz und Konsorten stammende These von der überindividuellen Natur menschlichen Geistes (Lorenz 272). Lorenz spricht von der Notwendigkeit, das menschliche Verhalten nicht Instinkten zu überlassen, sondern es kulturell zu formen. In Hochkulturen ist der Anteil an rein kultu- rell und nicht biologisch bedingten Verhaltensweisen laut Lorenz höher als in Primitiv- kulturen, womit er auch erklären kann, dass Kulturen wie die der Puebloindianer stabi- ler sind als die komplexerer Gesellschaften. Ich meine, dass man sich dieser Ansicht anschließen wird. Denn Möglichkeiten zu kultureller Veränderung sind, so würde ich argumentieren, nicht in allen soziokulturellen Kontexten gleichermaßen gegeben, so fehlt mE den Mitgliedern von Agrargesellschaften etwa die Muße für Reflexion und Forschung. Lorenz geht indes auf die Tatsache ein, dass kulturell bedingte Gewohnhei- ten unterschiedlichster Art zu den Motiven sozialen Verhaltens gehören und daher zu den Elementen der Explanantia geisteswissenschaftlicher Erklärungen. Als Beispiel dafür fällt mir ein, dass gewisse Entscheidungen von Politikern wie ande- ren Privatpersonen, zB einen Vorrang der Autobahnfinanzierung vor der Eisenbahnför- derung zu statuieren, im Kontext der Massenmotorisierung am ehesten erklärbar sind. Ebenso ist das Auto für manche Konsumenten bloßer Fetisch, welcher angeschafft wird, obwohl er einerseits sehr teuer und andrerseits überflüssig ist. Solche Verhaltensweisen wären in einer Kultur mit sehr wenigen Autobesitzern schon wegen des nicht gegebenen Nachahmungseffekts weniger wahrscheinlich. Weiters geht es bei Lorenz um das so genannte Neuerungsstreben der Jugend und um ein eventuelles Gleichgewicht zwischen kulturelle Invarianz erzeugenden und sie ab-

196 bauenden Faktoren. Derlei halte ich für wertvolle Hinweise auf mögliche geisteswissen- schaftliche Erklärungen soziokultureller Ereignisse. ME sind in kulturwissenschaftli- chen Erklärungen nach dem H-O-Schema derartige Aussagen in der Regel so genannte Quasigesetze (aaO 263, 267, 271-272, 284-285, 289, 299). Lorenz analysiert auch einen Kernbefund der analytischen Geschichtsphilosophie, wenn er den weitgehend ungeplanten Verlauf kultureller Entwicklungen nachzeichnet. Derlei klassifiziert er zu Recht als emotional unbefriedigend. Allerdings meine ich, dass im soziokulturellen Handeln das Erleben von Zufälligkeiten und auch von persönlichem Scheitern als markante Herausforderung für die persönliche Entwicklung wirken wird können. Ein Zitat möge diesen Prozess der Formung mehr oder weniger neuer gesellschaftlicher Trends ausgehend von Einsichten von Einzelmenschen illustrieren (Lorenz 306-307): „Deshalb gleicht die öffentliche Meinung, die eine Kultur beherrscht, viel mehr dem Informationsschatz und der auf ihn sich gründenden Angepasstheit einer Tierart als dem, was ein Einzelmensch weiß und sinngemäß anzuwenden versteht.“ Diese Analogie lässt sich durch die bloße Existenz von nahezu funktionslosen Relikten früherer kultureller Entwicklungsstufen plausibilisieren. Dafür führt Lorenz ein eisen- bahngeschichtliches Beispiel an, nämlich dass Eisenbahnwaggons formal analog Pfer- dekutschen entsprachen. Auch das Fortleben von antiken und mittelalterlichen Gewän- dern ist ein ähnliches Phänomen: Wenn etwa hohe Funktionäre an den Universitäten (Rektor, Dekan) bei feierlichen Akten mit einem Talar bekleidet und mit entsprechen- den Symbolen ihres Ranges ausgestattet sind, dann ist das eine Fortsetzung mittelalter- licher Kleidervorschriften für verschiedene Berufe. Der Talar von Richtern und Univer- sitätsfunktionären drückt die Wichtigkeit und Würde dieser Berufe aus, wird aber von vielen als obsolet angesehen. Bei Klerikern ist eine solche Amtstracht wegen des be- sonderen Charakters der Institution Kirche eher verständlich. Lorenz war sich dessen bewusst, wie sich emotional-subjektive Einflüsse sogar auf un- ser Weltbild auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte auswirken und in bloße Mo- den sowie lächerliche Übertreibungen münden können. Dies ist ebenfalls eine wichtige Prämisse kulturwissenschaftlicher Erklärungen, da Phänomene aller Art, etwa Kriegs- ausbrüche, von Überreaktionen im Affekt (Zorn, Furcht usw) mitbedingt sein können.

197 Wenn ich also psychologische Prämissen in geisteswissenschaftlichen Erklärungen for- dere, knüpfe ich nahtlos an Lorenz an, welchem eine reflektierende Selbsterforschung des Kulturwesens Mensch als eine Annäherung an das komplexeste Lebenssystem überhaupt, an die menschliche Gesellschaft, vorschwebte. Eventuelle Vorwürfe eines Biologismus oder gar Fatalismus sind vom Geisteswissenschaftler durch die Heranzie- hung zusätzlicher Erklärungsprämissen zu entkräften, welche sich auf sozial flexibel Gestaltbares und bloß vom Individuum selbst Abhängiges beziehen. Eventuell kommt dem Menschen alles Mögliche als evolutionär nützlich zu Bewusst- sein, was eine weitere mögliche gesetzesartige Prämisse für die Geisteswissenschaften liefert. Ohne in metaphysische Spekulationen zu verfallen, kann man nämlich durch den Gedanken der Nützlichkeit für die Menschheit eine Orientierungshilfe für wertende Diskurse entwickeln (vgl Lorenz 326) (vgl auch Kapitel 10). Dies ist ein wichtiger Faktor von kunst- und rechtswissenschaftlichen Erklärungen, da sich etwa der Erfolg von Gesetzen mit ihrem zB materiellen Nutzen für bestimmte Gruppen in Verbindung setzen lässt oder da sich etwa der Erfolg eines slowenischen Lyrikers im Zusammenhang des Heimat- und Familiensinns seiner Leser erklären lässt (Beispiele von mir). Letzteres bedeutet, dass eine kunstwissenschaftliche (rezeptionsäs- thetische) Erklärung den Nutzen von belletristischen Texten für ihre Leser als einen verursachenden Faktor berücksichtigen kann und dass dieser Nutzen sogar in einem po- sitiven Einfluss auf den Gefühlsbereich bestehen kann.175 Auf diese oder eine ähnliche Art und Weise kann ein Geisteswissenschaftler zu plausib- len gesetzesähnlichen Annahmen aller Art gelangen, welche eine deduktiv- nomologische oder statistische Erklärung ermöglichen bzw begründen.

175aaO 305-307, 316, 321, 326

198 Kapitel 8 - Einzelfallerklärung

Dray wollte untersuchen, welche Logik hinter den Erklärungen steht, welche einem in der Geschichtsschreibung begegnen. Mir scheint, dass in ihr regelmäßig Einzelfälle er- klärt werden. Jedoch stellt sich die Frage, inwieweit man für derartige Erklärungen über Wissen der Gesetzmäßigkeiten verfügen muss (siehe Einleitung). Dieses Kapitel ist vordergründig eine Inhaltsangabe des in ihm hauptsächlich behandelten Standardwerks, wirft dabei aber immer die Frage nach den Erklärungsformen in den Geisteswissen- schaften auf und verteidigt meine Kernthese von der Kausalerklärung ausgehend von Handlungsmotiven als dem Königsweg der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Das so genannte „Covering-Law-Modell“ besagt, dass die Anfangsbedingungen und ein allgemeines Gesetz gemeinsam ein Ereignis erklären; darin liegt Poppers Vorarbeit ge- rade für die Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Es gibt drei Arten, dieses Modell anzuwenden (Dray 2): „Rein generalisierende Wissenschaften“ wie Physik, die gesetzesorientiert sind, „angewandte generalisierende Wissenschaften“ wie Technik, die mehr auf Einzelfälle achten und Gesetze als Mittel zum Zweck verwenden, sowie histo- rische Wissenschaften, die dritte Art, welche in der Regel Einzelfälle erklären, also nicht Theorien testen oder etwas vorhersagen. Popper bestimmt das Gesetz als etwas, das eine kausale Notwendigkeit einsichtig macht. Hempel wendet dies auf Geschichte an. Vorherbestimmende Bedingungen nimmt er ähnlich wie später Popper als integralen Bestandteil historischer Erklärungen an, unterscheidet diese von Pseudoerklärungen dadurch, dass historische Erklärungen Behauptungen über allgemeine Tatsachen der menschlichen Natur voraussetzen, die unerwähnt bleiben. Derartig universale Gesetze gibt es zwar, durch sie lassen sich aber mE nur kleine Ähnlichkeiten zwischen zu erklärenden Einzelfällen wie zwei Revolutio- nen verständlich machen. Derlei Gesetze mit ausreichender Genauigkeit zu formulieren, dass sie alle relevanten empirischen Daten erklären, ohne dass es zu Anomalien kommt, hielt Hempel für äu- ßerst diffizil bis unmöglich. Er prägte deshalb den Begriff Erklärungsskizze (siehe Ein- leitung) und wollte, dass solche Erklärungsskizzen durch empirische Forschungen er- gänzt würden und so exaktere Aussagen ermöglichten. Historische Erklärungen wären demnach ungenaue Erklärungen analog denen der Physik (vgl aaO 5). Ich wende ein,

199 dass die Anfangsbedingungen historischer Ereignisse eine wesentlich größere Rolle spielen als die allgemeinen Gesetze, während bei der Erklärung physikalischer Tatsa- chen oft nur bestimmte Quantitäten variieren. Denn Einzelfälle wie Revolutionen oder Grenzänderungen ähneln einander mE weniger als Vorkommnisse etwa des freien Falls. Die Existenz spezifisch historischer Gesetze behauptete Hempel nicht.176 Morton Gabriel White fragte, worin spezifisch historische Gesetze bestünden: Nicht bloß auf die Vergangenheit bezogene Generalisierungen können sie sein, teilweise sind sie scheinbar durch historische Fachausdrücke charakterisiert, obwohl sich mehrere Wissenschaften gegenseitig auf einander beziehen können. Außerdem gibt es eigentlich keine historischen Fachausdrücke, da es sich eher um soziologische Termini technici handelt (vgl aaO 7), welche, so behaupte ich, dynamische soziale Systeme beschreiben. Allerdings gelten mE die Gesetze dynamischer sozialer Systeme meist nur für bestimm- te Systeme mit bestimmter Wahrscheinlichkeit, so dass für Revolutionen, Reformen usw schlechthin gültige Gesetzmäßigkeiten den konkreten Geschichtsverlauf nur teil- weise erklären können. Hempels Grundideen zum Thema sind schon lange zu einer anerkannten Lehrmeinung geworden (aaO 8): Grosso modo kann ich mich der Mainstreammeinung anschließen, dass die Erklärung eines historischen Einzelereignisses durch die ihm vorangegangenen Zustände elliptisch ist, also das von ihr verwendete allgemeine Gesetz unerwähnt lässt. Idealistische Gegenthesen, die stärker auf der Einzigartigkeit des historischen Ereignis- ses insistieren, als es in dieser Arbeit geschieht, zB Michael Oakeshott (aaO), verkennen mA eigentlich, dass Zusammenhänge nicht unbegrenzt möglich und Ansätze zu einer statistischen Erklärung also erstrebenswert sind. Die Verknüpfung der historischen Ereignisse kann nicht gänzlich akausal gedacht wer- den, obwohl ein Historiker in eventu zugeben muss, dass er den Mechanismus der histo- rischen Verursachung nicht völlig erkennen kann, und er sich gewiss auch auf die Ge- dankenwelt der historischen Akteure (vgl Collingwood) beziehen muss. Wenn ich einen historischen Einzelfall als eine Variation des allgemein Menschlichen ansehe (vgl aaO 9), scheint mir ein historischer Kompromiss im Paradigmenstreit naheliegend: Die Ein- zelfallerklärung soll unter Bezug auf komplexe nicht-deterministische Wahrscheinlich- keitsgesetze erfolgen, ähnlich wie Mandelbaum bzw William Henry Walsh dies schon

176William Dray: Laws and Explanation in History. Oxford: Oxford University Press 1964, 1, 3-6

200 gefordert haben (vgl aaO 9-10). Die Subsumption unter ein allgemeines Gesetz erklärt regelmäßig nicht alles, schon weil viele Faktoren zusammenwirken und allein durch das Phänomen der menschlichen Entscheidung ein System mit mehreren Freiheitsgraden entsteht. Walsh machte zu Recht darauf aufmerksam, dass man, um historisch bedeutsame Hand- lungen zu interpretieren, zumindest implizit auf gesetzesartige allgemeine Aussagen Bezug nehmen muss. Er wies darauf hin, dass sich Historiker auf Einsichten über die Natur des Menschen berufen, welche wohl kaum durch Induktion entstanden sind. Ich führe diese Einsichten auf eine implizite philosophische Anthropologie des gekonnt his- torisch Erklärenden zurück, die zu apriorischen Theorien über Handlungsverkettungen führt, die der Wahrheit ziemlich nahe kommen.177 Determinierende Zusammenhänge werden von Historikern wie Raymond Maxwell Crawford als gesetzesartig aufgefasst, was aber nicht als Lehre von der identischen Wiederholbarkeit von Ereignissen zu deuten ist. Historiker sollten die stillschweigenden Voraussetzungen ihrer Lehren explizit machen (vgl aaO 11). Die Geschichtswissen- schaft bedient sich völlig eigenständiger Forschungsmethoden, beschreibt aber be- stimmte soziokulturell bedeutsame zwischenmenschliche Interaktionen mittels kausaler Erklärung nach dem Hempel-Oppenheim-Schema, bloß dass die zu diesem Zweck ver- wendeten Gesetze sehr vage sind, wie der analytische Philosoph Sidney Hook feststellte. Wenn sich Historiker gegen die Anwendung des Hempel-Oppenheim-Schemas auf ihre Disziplin wehren, sehen sie ihre Aufgabe gewöhnlich eher im Erzählen (vgl aaO 12) als im Erklären. Indes gibt es laut Dray kaum Chroniken und historische Studien, welche keine Erklärungen des Handelns der in ihnen erwähnten historischen Akteure enthalten. Dies kann ein Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis der Geisteswissenschaften sein, den ich durch das Postulat der Einzelfallerklärung zu überwinden trachte. Dh geistes- wissenschaftliche Erklärungen beruhen mehr auf den Anfangsbedingungen eines Vor- kommnisses und damit auf dem Einzelfall als naturwissenschaftliche Erklärungen. Gardiner wollte das Covering-Law-Modell der historischen Erklärung verteidigen, in- dem er darauf hinwies, dass auch in alltäglichen Gesprächen etwa über unser körperli- ches Wohlbefinden Veränderungen durch aus der Erfahrung bekannte Korrelationen erklärt werden. Zwar ist die Erklärung von Revolutionen etc meistens komplizierter als

177aaO 6-10

201 die Erklärung von Heuschnupfen (Beispiel von mir), aber da sich Revolutionen verbal beschreiben lassen, lassen sich laut Patrick Lancaster Gardiner die vom Historiker zu erklärenden Zustände zumindest teilweise begrifflich klassifizieren. Er räumte ein, dass historisch relevante Handlungen meist als geplante Tätigkeiten analysiert werden müs- sen, stellte jedoch fest, dass sie sich dennoch durch gesetzesähnliche Prinzipien erklären lassen, durch Neigungen oder Dispositionen einer Person zu bestimmten Handlungen. Die Einbeziehung der wissenschaftlichen Psychologie würde zT auch diese Neigungen etc auf ihre Ursachen zurückführen, so könnte man hinzufügen. Die in der Geschichtsschreibung verwendeten Termini erlauben keine exakten Gesetze, weil sie vager sind als die Begriffe der exakten Naturwissenschaften, wohl aber geset- zesähnliche Aussagen über Verhaltensmuster in bestimmten Situationen, wobei von Dispositionseigenschaften des Handelnden ausgegangen wird (vgl aaO 15-16). Die Klassifizierung der historischen Ereignisse ist grob und verursachende Bedingungen sind gemäß Gardiner in ihrer vollen Bedeutung oft nur aus dem Kontext historiographi- scher Texte zu erschließen: Meist werden lediglich Alltagsbegriffe verwendet und Einzelfälle so erklärt, dass sie ohne das tatsächliche Vorliegen einer bestimmten Bedingung nicht eingetreten wären bzw nicht stattgefunden hätten. Dabei wird ein meist trivialer Kausalmechanismus vo- rausgesetzt, aber dieser muss im Anschluss an Gardiner so formuliert werden, dass er Ausnahmen zulässt. Doch ist immer wieder nicht auszuschließen, so handelt Dray die- ses Thema ab, dass auch unbekannte Faktoren in einem Einzelfall am Werk waren. Ein- zelfall und Gesetz stehen in einem Verhältnis zu einander, welches man flexibel be- trachten muss und nach weiteren Ursachen forschen und auch sehr unwahrscheinliche Motive berücksichtigen wird.178 Eine sture Herleitung von einem vorausgesetzten nicht-statistischen Gesetz wäre hinge- gen unwissenschaftlich. Das Ziel der historischen Erklärung wird, wie Gardiner fest- stellt, am besten dadurch erreicht, dass auch alltägliche Ausdrücke, deren Bedeutung aber klar definiert sein muss, und gesetzesartige Zusammenhänge vorkommen. Dadurch entsteht eine sozialwissenschaftliche Erklärung, die überarbeitet werden soll, bis sie dem H-O-Schema so nahe wie möglich gekommen ist. Diese Lockerung des Hempelschen Modells dient laut Gardiner letztlich dem Zweck

178aaO 10-17

202 einer zufriedenstellenden und für den Leser verständlichen Erklärung, welche sich mE tatsächlich bei der Analyse der Arbeit von Historikern nachweisen lässt. Dray wollte dennoch, dass das Covering-Law-Modell überhaupt aufgegeben und das Wort „Erklä- rung“ in einem nur pragmatischen Sinn verwendet wird. Er unterscheidet auch disposi- tionale und rationale Erklärungen von kausalen, was aber eigentlich unzutreffend ist, weil jede Erklärung auf notwendige und hinreichende Bedingungen gegründet sein muss. Dray ist indes zuzustimmen, dass auch zu berücksichtigen ist, auf welche Fragen histo- rische Erklärungen eine Antwort liefern sollen. Wenn es sich nicht um kausale, durch gesetzesartige Aussagen beschreibbare Kausalabfolgen handelt, ist ein historischer Zu- sammenhang fragwürdig (vgl aaO 21). Gewiss bleibt Drays Forschungsfrage aktuell, inwieweit historische Erklärungen nach Gesetzen verlangen. Viele statistische Gesetze sind mE nur kompliziertere Formulie- rungen von Regeln, Verallgemeinerungen, die sie aus alltäglichen Erfahrungen und un- serer Menschenkenntnis herleiten. Darum wird es im nächsten Unterkapitel gehen: Dass ähnliche historische Bedingungen ähnliche Ergebnisse liefern, sollte eigentlich nicht bestritten werden, wenn auch die Ähnlichkeiten klein sind. Ob man einen Histori- ker als Wissenschaftstheoretiker von genaueren Gesetzen, die hinter seinen Erklärungen stehen, überzeugen kann, ist fragwürdig, wie auch Dray feststellt.179

8b) Gesetze in historischen Erklärungen Gardiner machte darauf aufmerksam, dass sich Historiker bei der Verteidigung eines von ihnen postulierten Zusammenhangs wohl auf Generalisierungen berufen werden. Begründungen des Eintretens von Ereignissen scheinen Regelmäßigkeiten vorauszuset- zen. Diese müssen dem Erklärenden aber nicht bewusst sein. Manche Logiker glaubten daher, eine Erklärung impliziere ein Gesetz (vgl aaO 26). Dray vermisste eine eindeutige Definition von „weil“, was eine Art Einwand gegen die- se Logiker ist. ME folgt dennoch aus der Definition der Kausalerklärung, wenn man den Modus tollens anwendet, dass es entweder sowohl eine Erklärung als auch die Konjunk- tion von Gesetzen und Antecedensbedingungen gibt oder weder das eine noch das ande-

179vgl aaO 18-24

203 re. Es ist die Frage, ob Erklärungen, die nicht wenigstens implizit einen Kausalzusam- menhang voraussetzen, überhaupt verständlich sind (vgl aaO 28). Sehr allgemeine Ge- setze werden mE bei Einzelfallerklärungen vorausgesetzt, aber spezielle Gesetze kann man in Frage stellen, ohne die Erklärung umzustoßen (aaO 29): Zudem kann eine Erklä- rung mehrere allgemeine Gesetzmäßigkeiten nahelegen. Außerdem existiert das Prob- lem teilweise unbekannter Zusammenhänge oder Ursachen. „Loose laws“ ist Drays Ausdruck für Gesetze, die nicht viel besagen.... Wenn mehrere Gesetze dieselbe Erklärungsfunktion übernehmen könnten, lassen sich verallgemei- nernde Voraussetzungen oft nicht rekonstruieren. Doch sind es mE meist Wahrschein- lichkeitsüberlegungen über Motive, von denen Historiker bei der Einzelfallerklärung ausgehen. Darauf deuten auch Hempels Ansichten zum Thema hin. Die These, die historische Erklärung komme ohne Gesetzmäßigkeiten aus, beruht auf der Tatsache, dass man bei der Einzelfallerklärung meist von nicht eindeutigen Korrela- tionen, dh von Regeln mit vielen Ausnahmen, ausgeht, die zum intuitiven Alltagswissen von Historikern gehören: Diese Auffassung der Praxis der Geschichtswissenschaft fin- det sich bei Dray als plausible Annahme, dafür spricht mE, dass sich der Erklärende weder auf einen Zufall beruft noch auf schematisch Herleitbares. Dray macht zu Recht darauf aufmerksam, dass diese Wahrscheinlichkeitsgesetze meh- rere miteinander logisch inkompatible Aussagen „erklären“, d h, obwohl sie wahr sind, keine logische Herleitung des Explanandums aus dem Explanans erlauben, sondern nur einen Wahrscheinlichkeitsschluss. Wenn A (zB Intoleranz) meist zu C (zB Gruppen- hass) führt und C eingetreten ist, war wahrscheinlich, aber nicht sicher auch A der Fall. Sicher lag der Grund A nur vor und wird durch dieses Gesetz erklärt, wenn keine andere Ursache für C möglich ist. Das ist das Problematische an historischer Einzelfallerklä- rung.180 Gewöhnlich sind Erklärungen in der Historiographie unvollständig und skizzenhaft (aaO 32). Der Historiker will eigentlich den Zusammenhang von Antecedensbedingun- gen und Explanandum in Einzelfallerklärungen aufzeigen, also, um Drays Beispiel zu verwenden, erklären, dass Ludwig der XIV. unpopulär war, da etliche seiner Maßnah- men Frankreichs Interessen schadeten. Dies setzt mE zwar -wie Popper meinte- gewisse sozialpsychologische Verallgemeinerungen voraus, deren Erklärungswert jedoch nied-

180aaO 26-31

204 rig ist. Die Erklärung von Popularität ist auch ungenau, wenn sie nicht sämtliche rele- vanten Umstände berücksichtigt, so dass falsche Verallgemeinerungen drohen: Etwa lässt sich Unbeliebtheit zT durch populistische Maßnahmen, scheinbare Erfolge und die Suche nach Sündenböcken verhindern (vgl aaO 34). Diese Faktoren in ein Gesetz aufzunehmen, ist möglich, das schließt aber nicht aus, dass ein einziger abweichender Umstand die resultierende Situation verhindert hätte. Zudem kann es weitere Ursachen geben, welche in der ursprünglichen Begründung fehlen (aaO 35). Nur die genaue Untersuchung der Situation, eine ausführliche Auflistung aller rele- vanten Bedingungen kann Erklärungen und Verallgemeinerungen glaubhaft machen (vgl aaO). Trotzdem ist mA die Vorhersagekraft derartiger Erklärungen gering, da sie meist auf nur wenige Fälle zugeschnitten und sehr ähnliche Bedingungsverknüpfungen unwahrscheinlich sind. Dray gelang es zu zeigen, dass die historische Erklärung doch eine allgemeine Gleichar- tigkeitsannahme über die Reaktionen der Bevölkerung auf bestimmte politische Maß- nahmen unter weitgehend ähnlichen Umständen voraussetzt. Der Unterschied zu ande- ren gesetzesartigen Annahmen besteht darin, dass bei der Formulierung solcher Gleich- artigkeitsannahmen auf das Verhalten konkreter Individuen Bezug genommen wird. Dadurch wird der wissenschaftstheoretischen Forderung nach Bezugnahme auf allge- meine Regeln und Begriffe Genüge getan, ohne dass die Einzelfallerklärung viele Ver- allgemeinerungen ermöglichen könnte: Psychologische Gesetzmäßigkeiten machen es eben unwahrscheinlich, dass erfolglose und rücksichtlos wirkende Politiker wie Ludwig der XIV. beliebt bleiben. Es bleibt zu untersuchen, inwieweit sich zwei humanwissenschaftliche Situationen äh- neln müssen, damit eine Erklärung, die dieselbe Gesetzmäßigkeit enthält, auf sie an- wendbar ist. Die Beliebtheit lässt sich mE am besten als eine Folge des Eindrucks, wel- chen ein Politiker langfristig hinterlässt, auffassen, wobei dieser Eindruck sich mit be- stimmter Wahrscheinlichkeit auf Zufallsprozesse der menschlichen Informationsverar- beitung auswirkt. Dadurch wird die Einzelfallerklärung zum Grenzfall der Möglichkeiten, die ein Wahr- scheinlichkeitsgesetz gestattet. Dabei sind konkrete Ereignisse weitgehend als Sonder- fälle von Ereignisklassen aufzufassen, damit die wissenschaftliche Zusammenhangser- kenntnis so gut wie möglich funktioniert (vgl aaO 37). Dabei nimmt die historische

205 Einzelfallerklärung auf relevante Ähnlichkeiten zum zu erklärenden Einzelereignis Be- zug, die mit hoher Wahrscheinlichkeit (statistischer Korrelation) sehr ähnliche Folgen bewirken müssen.181 Überhaupt ergeben sich für die geisteswissenschaftliche Erklärung infolge dieser Dis- kussion mehrere Möglichkeiten: Gewisse Gesetzmäßigkeiten (Triumph der Übermacht usw) sind so trivial, dass sie nicht erwähnt werden müssen; andere Zusammenhänge in vernetzten Systemen sind so kompliziert, dass sie sich nicht korrekt ausformulieren las- sen. Eine dritte Möglichkeit besteht, wenn aus der Erklärung eines Einzelfalls durch einen konventionell arbeitenden Historiker nur folgt, dass sämtliche erklärenden Faktoren das zu erklärende Ereignis wenigstens mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit implizie- ren. Verallgemeinerungen ausgehend davon sind aber schon deshalb problematisch, weil ziemlich ähnliche Antecedensbedingungen unwahrscheinlich sind (vgl aaO 39). Empirische Gesetze müssen sich dennoch auf mehrere Fälle beziehen, weil es laut Hempel unwissenschaftlich ist, wenn eine Erklärung, die sich auf eine gesetzesartige Aussage beruft, nicht durch Anwendung auf vergleichbare Fälle überprüft werden kann. ME sollen daher auch Einzelfallerklärungen etwa über Ludwigs des XIV. Popularität durch den Vergleich mit ähnlichen Fällen wie Zeitgenossen des Sonnenkönigs überprüft werden. In der Diskussion darüber ist gelegentlich, besonders bei Gardiner, nicht von empiri- schen Gesetzen, sondern von verallgemeinernden Hypothesen die Rede. Diese rechtfer- tigen laut Ryle Schlussfolgerungen bzw Schlussprinzipien unter der Voraussetzung be- stimmter Aussagen, aber keine darüber hinausgehenden Prognosen oder Zusammen- hangsbehauptungen. Obwohl im Anschluss an Dray eine ausreichend ähnliche Verket- tung von Umständen unwahrscheinlich scheint, ist sie doch vorstellbar, so dass man mE, ohne sich in Selbstwidersprüche zu verstricken, von einer Einzelfallerklärung spre- chen kann, welche sich auf eine gesetzesartige Verallgemeinerung beruft. Auch Histori- ker werden laut Dray der Deutung, ihre Erklärung enthalte verallgemeinernde Hypothe- sen, kaum widersprechen. Implizite Gesetzesannahmen empirisch zu überprüfen, scheint mir ratsam, oft ist die Überprüfung aber im vorwissenschaftlichen Alltag erfolgt (etwa bei der Erklärung von

181aaO 32-38

206 Erfolgen durch Übermacht) oder es handelt sich um Apriorisches (etwa bei der Hand- lungserklärung aufgrund von Zielsetzungen); dennoch müssen historische Erklärungen jedenfalls auch Kausalzusammenhänge umfassen, die unter eine Regel subsumierbar sind (vgl aaO 43). Historische Erklärungen sind nur wissenschaftlich oder vernünftig, wenn diese humanwissenschaftlichen Regeln, meist Binsenweisheiten, auch stimmen. Dies spricht aber nicht kategorisch dagegen, dass sich humanwissenschaftliche Erklä- rungen auch auf Einzigartiges beziehen (aaO 44). In der Tat lassen sich gewiss immer kleinere Unterschiede zwischen zwei konkreten humanwissenschaftlichen Sachverhal- ten feststellen, so dass etwa die Biographien zweier kommunistischer Dichter (Beispiel von mir) je einzigartig sind. Obwohl das Unwiederholbare bei der Erklärung von künst- lerischem Schaffen mE vernachlässigbar sein kann, existiert es doch. In diesem Zusammenhang muss man sich Hempel anschließen, der es für unmöglich erklärte, Einzelereignisse in jeder Hinsicht durch verallgemeinernde Hypothesen zu er- klären. Natürlich lassen sich diese Einzelereignisse, worauf ua Gardiner hindeutet, dennoch klassifizieren. Dies beweist schon der Sprachgebrauch aller Historiker. Die Gemeinsamkeiten zwischen Eroberungen etc sind demnach ein Beispiel der notwendi- gen Voraussetzungen wissenschaftlicher Beschreibungen und Kausalerklärungen, aber kein Argument gegen den Diskurs über die Einzigartigkeit des Historischen.182 Dray kann diese Problemlage zur allgemeinen Zufriedenheit aufklären, indem er die Einzigartigkeit historischer Ereignisse als begrifflich relativ einzigartig ansieht, ebenso wie dies konkrete Individuen und Dinge durch ihre eindeutig erkennbare Merkmalkom- bination sind. Man muss ihm zustimmen, dass Historiker eher am Spezifischen des Er- eignisses, das sie erforschen, interessiert sind als etwa Astronomen, die eine einzelne Sonnenfinsternis als eine Sonnenfinsternis wie alle anderen erklärt. Jede Wissenschaft klassifiziert das von ihr Untersuchte unter Vernachlässigung irrele- vanter Einzelheiten (aaO 48). Aber Historiker verwenden gemäß Dray öfter den be- stimmten Artikel als etwa Ökonomen und setzen dabei den Schwerpunkt eher auf Ei- genschaften eines Einzelfalls, die sich nicht identisch wiederholen (Dray 49). Daher ist es ein Schwerpunkt historischen Arbeitens, den Einzelfall und seine besonde- ren, unwiederholbaren Eigenschaften, mE auch die Antecedensbedingungen, genauer zu analysieren, unabhängig davon, ob die verwendeten Termini vage und die beschriebe-

182aaO 39-41, 43-46

207 nen Sachverhalte komplex sind oder nicht. Dray macht darauf aufmerksam, dass sich die Erklärung konkreter Ereignisse ohne die Berufung auf eine gesetzesartige Annahme zwar behaupten, aber nicht nachweisen lässt. Geisteswissenschaftler gehen jedoch bei jeder ihrer Erklärungen davon aus, dass sie das Ergebnis eines komplexen Zusammen- spiels von Faktoren mit einem bestimmten soziokulturellen Ereignis identifiziert haben; dabei werden vom Forschungspraktiker die Bedingungen von Ereignissen beurteilt, oh- ne dass explizit auf Verallgemeinerungen über menschliches Verhalten Bezug genom- men wird (vgl aaO 51). In der Regel verwenden Geisteswissenschaftler mE etliche aus dem Alltag bzw den Quellen bekannte probabilistische Verallgemeinerungen. Aber eine geisteswissenschaft- liche Erklärung ist nur gelungen, wenn das zu erforschende Ereignis wirklich aus seinen explizit oder implizit angenommenen Bedingungen folgt (vgl aaO 52). Für eine wissen- schaftliche Erklärung historischer Prozesse wie eines Bürgerkrieges ist es ratsam, diese in Einzelereignisse zu zerlegen, welche durch praktische Syllogismen bzw. soziologi- sche und psychologische Gesetze erklärbar sind. Dray behauptet mit Recht, dass Geis- teswissenschaftler bei ihrer Arbeit wirklich auf diese Art stückweise vorgehen.183 Diese Einzelereignisse können einzigartig sein oder Routinehandlungen etc, auf welche humanwissenschaftliche Gesetze anwendbar sind (aaO 54). Die Einzigartigkeit des Ex- planans ist laut Dray problematischer als die des Explanandums. Es kann sein, dass die erklärenden, von mir als sehr wichtig eingestuften Antecedensbedingungen eines histo- rischen Ereignisses selbst mit Hilfe von Gesetzesannahmen erklärt werden sollen, damit die Erklärung vollständig wird (vgl aaO). Dray macht diesbezüglich auf das Fundamentalproblem aufmerksam, dass schwer fest- stellbar ist, wie viele Bedingungen und Gesetze für eine vollständige Erklärung bekannt sein müssen. Aus diesem Grund führt er die Unterscheidung zwischen der Ableitung von Erklärungen und Gesetzen und der Beurteilung dieser Erklärungen aufgrund von für sie sprechenden Gesetzen ein. Letzteres ist mE eine besondere Form des Wahr- scheinlichkeitsschlusses. Aus der Konjunktion mehrerer spezifischer Anfangsbedingungen und sozialpsychologi- scher Gesetze folgt etwa, dass Bürgerkriege nur zu bestimmten Zeitpunkten wahr- scheinlich waren (vgl aaO 56). Historiker beurteilen, wie Dray erkannte, meist Erfolgs-

183aaO 47-53

208 wahrscheinlichkeiten und Handlungsbegründungen, wie dies auch Offiziere und Politi- ker tun. Bei derartigen Beurteilungen werden gelegentlich implizite allgemeine Gesetze angewandt, wenn etwa Erfolgsaussichten kausal-probabilistisch beurteilt werden. Ab und zu werden zu diesem Zweck auch Generalisierungen angewandt, die nur für be- stimmte kulturelle Milieus oder Individuen gelten. Das ist etwa der Fall, wenn jemand zu einem Schluss kommt, da er glaubt, dieses oder jenes sei typisch für das Individuum P. Bloß lässt sich nicht von Zusammenhängen reden, auf die sich Kausalsätze beziehen, wenn gar keine wenigstens statistische Regelmäßigkeit vorliegt, wie Gardiner erkannte: Insgesamt betrachtet, erklären Geisteswissenschaftler also mE meist den Erfolg in be- stimmten soziokulturellen Situationen durch komplexe Wahrscheinlichkeitsschlüsse ausgehend von impliziten psychologisch-statistischen Hypothesen. Es ist eine weitere von Dray aufgeworfene Frage, ob das Hempel-Oppenheim-Schema für geisteswissenschaftliche Erklärungen ausreichend ist. In dieser Hinsicht mag ein Vergleich zwischen geisteswissenschaftlichen und anderen Erklärungen aufschlussreich sein. Obwohl Historiker ihre Arbeit oft als bloße Beschäftigung mit Tatsachen auffas- sen, führen sie bei dieser gelegentlich triviale Generalisierungen im Sinne Poppers an (vgl aaO 59). Dray bezweifelt, dass der Verweis auf solche gesetzesartige Aussagen bedeutet, dass ein Ereignis als Beispiel für die Klasse von Vorkommnissen, welche un- ter ein bestimmtes Gesetz fallen, aufgefasst wird. Die Rechtfertigung, von einem Faktor p auf einen Faktor q zu schlussfolgern (gemäß den logistischen Regeln für eine Subjunktion), ist in den Kausalerklärungen der Geis- teswissenschaften trotz einschränkender Bedingungen, probabilistischer Formulierun- gen usw vorausgesetzt (vgl aaO 60). Doch auch inwieweit solche Zusammenhangsbe- hauptungen einen Faktor durch einen anderen begründen (aaO 61), lässt sich laut Dray hinterfragen. Er weist darauf hin, dass einem der eigentliche Kausalmechanismus ver- borgen bleiben kann, wenngleich man über das regelmäßig aufeinanderfolgende Auftre- ten zweier Phänomene so gut Bescheid weiß, dass Prognosen möglich sind. Gesetzesar- tige Aussagen sind eine hinreichende Bedingung der Erklärung, dass ein Phänomen Q auf das Phänomen P folgte. Eine andere Frage ist hingegen, warum diese beiden Er- scheinungen miteinander verknüpft sind (vgl aaO 62).184 Analytische Wahrheiten und naturgesetzähnliche Regeln sind vollwertige Erklärungen,

184aaO 54-62

209 ans Zufällige grenzende Verallgemeinerungen hingegen nicht. Man muss also in der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften mehrere Arten von Gesetzen unter- scheiden (Dray 62): Bloß empirische Verallgemeinerungen, die man durch die Methode des Vergleichens von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Fällen erhält, er- möglichen die Erkenntnis von Zusammenhängen, welche beschreiben, aber nicht genau wie naturnotwendige Kausalnexi erklären. Theoretische Gesetze, die aus einer empiri- schen naturwissenschaftlichen Theorie folgen, haben eine wesentlich höhere Erklä- rungskraft (vgl aaO 63). Stephen Toulmin, von welchem dieser Gedanke stammt, spricht mit Recht von ober- flächlichen Erklärungen, die auf Common-Sense-Generalisierungen beruhen, wie dass alle Steine auf einer schiefen Ebene nach unten rollen. Dadurch wird mE festgestellt, dass ein Zusammenhang besteht, aber nicht, warum er existiert. Dadurch ergeben sich laut Gardiner oft vage Gesetze mit Ausnahmen. Erklärt man etwa historische Veränderungen wie die Slawisierung einer Region, kommt man mE in der Forschungspraxis kaum über die Ebene solcher Alltagsgeneralisierungen hinaus. Denn es gibt kaum sozialwissenschaftliche Theorien, die in typisch historischen Erklärungen angewandt werden wie physikalische Theorien bei der Prognose von Sonnenfinsternis- sen (aaO 66). Auch im Alltag findet man Erklärungen manchmal nur einleuchtend, wenn eine genaue Abfolge der Entwicklungsschritte angegeben wird, zB bei Motorpannen (aaO 68). In Abhängigkeit vom Informationsstand des Rezipienten der Erklärung werden Kausalzu- sammenhänge durch mehr oder weniger Teilschritte und allgemeine Gesetze einleuch- tende Erklärungen; auch für diese Teilschritte scheint mir das Hempel-Oppenheim- Schema zu gelten (aaO 69). In den Geisteswissenschaften ist die Zerlegung in Teil- schritte mE hilfreich, ebenso die Berufung auf anthropologische Gesetze im weitesten Sinne, regelmäßig ist aber beides wegen der selbstverständlichen Vertrautheit mit dem Kultur- und Gesellschaftsleben überflüssig. Dray bemerkt, dass ein induktiv ermitteltes Gesetz meist keine einleuchtende Erklärung ist, sondern „Untergesetze“ erforderlich sind, um historische Veränderungen verständ- lich zu machen, dass aber kein unendlicher Regress droht, wenn man nur eine bestimm- te Frage beantworten will. Historische Einzelfallerklärungen setzen mE das zweckratio- nale Verhalten gewisser von einer Kultur geprägten Individuen als nicht erklärungsbe-

210 dürftig voraus. Dray stellt zutreffend fest, dass analog dazu jede Erklärung vorüberge- hend etwas als nicht erklärungsbedürftig voraussetzt. Erklärungen bedeuten im Alltag und in den Geisteswissenschaften mehr als einen Ver- weis darauf, dass etwas immer genau so passiert, wie Dray erkannte und deshalb die These von der Unverständlichkeit mancher geisteswissenschaftlicher Verallgemeine- rungen aufstellte. Erklärungen sollen, um ihre pragmatische Funktion zu erfüllen, letz- ten Endes das Verständnis eines Sachverhalts erleichtern und Rätselhaftes mit Bekann- tem in Verbindung bringen, uU können auch zusätzliche Details zur Klärung beitragen (aaO 75-76).185 Hempel bezog sich ursprünglich auf Physik und sah sein Schema in der Geschichtswis- senschaft nur als näherungsweise verwirklichbar an. Dray spekulierte darüber, ob das H-O-Schema eine Abstraktion vom umgangssprachlichen Erklärungsbegriff ist, welcher für manche, aber nicht für alle wissenschaftlichen Kontexte gelten muss. Er betont au- ßerdem sinngemäß, dass Geisteswissenschaften eigentlich im Sinne des normalen Sprachgebrauchs erklären sollten und nicht ausreichend dem H-O-Schema entsprechen. ME findet man in geisteswissenschaftlichen Monographien sowohl stillschweigende Annahmen wie die von Popper erwähnten probabilistischen Gesetze als auch die Be- friedigung des Erklärungsbedürfnisses eher populärwissenschaftlich interessierter Leser bzw wissenschaftlich interessierter Fachkollegen. Das spricht eo ipso nicht für eine un- überlegte Übertragung des H-O-Schemas von Naturwissenschaften auf Geisteswissen- schaften (vgl aaO 79). Dray schrieb darum wissend, dass Erklärungen in der Praxis der Geschichte sich kaum auf Theorien beziehen und keine bloßen Vorhersageregeln sind, sondern echtes Ver- ständnis ermöglichen sollen. Ich stimme Dray in folgender Hinsicht zu: Historische Er- klärungen setzen genaue Recherchen von Tatsachenhergängen voraus und führen be- merkenswerte Ereignisse (dh Einzelfälle) auf kulturell bedingte Handlungswahrschein- lichkeiten und prinzipiell beobachtbare Vorgänge zurück, ohne abstrakte Theorien zu benötigen. Historiker verwenden demnach kaum Fachausdrücke (vgl aaO 82) und berufen sich bei ihren Kausalerklärungen von Einzelereignissen, wie Popper entdeckte, auf konkrete Anfangsbedingungen. Dort aber, wo die Ableitung aus allgemeinen Theorien fragwür-

185aaO 63-66, 68-69, 71-73, 75

211 dig erscheint, rücken, wie man aus dem zitierten Text entnehmen kann, die Anfangsbe- dingungen so sehr in den Vordergrund, dass eine typisch historische Erklärung vorliegt (vgl aaO 84). Popper unterscheidet zu ungenau zwischen solchen und systematisch- humanwissenschaftlichen Erklärungen. Nicht alle geisteswissenschaftlichen Erklärungen sind unsystematisch, sondern laut Dray begegnen uns in der historiographischen Literatur mehrere Erklärungsformen mit je unterschiedlicher logischer Struktur. Allein kausale oder logische Gesetze ermögli- chen, wie Ducasse erkannte, dass die Erklärung eines Einzelfalls als einleuchtend ver- standen wird. Bloße Korrelationen vermögen das nicht.186 Daher müssen geisteswissenschaftlich Erklärende den Grund angeben, weshalb ein Er- eignis auf das andere folgen musste, wenn sie behaupten, ersteres habe letzteres verur- sacht (vgl aaO 87). Dh aus der theoretischen Erkenntnis sämtlicher für eine soziokultu- relle Situation relevanter Faktoren ergeben sich logisch ableitbare Entwicklungsmög- lichkeiten, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten. Das als Ursache be- schriebene Phänomen wird dabei so dargestellt, dass auf eine empirische Theorie Bezug genommen wird. Diese wird zT explizit angegeben, zT implizit vorausgesetzt (vgl aaO 88). Es gibt, anders als Dray zu behaupten scheint, keinen Grund für die Annahme histori- scher Erklärungen, welche nicht kausal sind. Schon Collingwood hat nämlich auch Handlungsmotive zu den Ursachen im weitesten Sinn gezählt. Obwohl jede historische Erklärung kausal ist, kann eine Erklärung aus Motiven mE oh- ne wissenschaftliche Gesetze auskommen, wenn der vom historischen Akteur höchst- wahrscheinlich erwartete subjektive Nutzen allgemein bekannt ist (vgl aaO 90). Kausale Erklärungen beziehen sich manchmal auf Alltagstheorien und laufen auf andeutungsar- tige Erklärungsskizzen hinaus, ja können sogar auf eine noch unaufgeklärte, rätselhafte Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung verweisen (aaO 92), die aber kein bloßer Zufall (Englisch „coincidence“) ist, sondern eine wahrscheinlich gegebene kausale Ver- knüpfung (aaO 94). Historische Kausalerklärung kann sich laut Dray also auf einen Zusammenhang zwi- schen zwei Sachverhalten beziehen, der so ungenau bekannt ist, dass sich der wissen- schaftliche Wert dieser Erklärung eines Einzelfalls in Grenzen hält. Außerdem sind die

186aaO 76-85, 87

212 von historischen Kausalerklärungen aufgeklärten Ereignisse demnach regelmäßig nicht als Instanzen wiederholbarer Vorgänge erkennbar. Dray fragt, an Hand welcher Kriterien ein Historiker bestimmte Bedingungen eines Er- eignisses als dessen Ursachen auswählt und identifiziert diese ua als notwendige Bedin- gungen dieser Zustandsveränderung. Das sind zunächst, wie er treffend feststellt, die Handlungen und Unterlassungen der historischen Akteure. ME ist es offensichtlich, dass Einzelereignisse stets auch durch die Motive der an ihnen Beteiligten bedingt sind. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang ua von der Verantwortung historischer Akteure für Ereignisse (aaO 99).187 Meist sind unerwartete Handlungen und Unterlassungen, die das gewohnte Funktionie- ren eines soziokulturellen Systems stören, diejenigen Bedingungen, die als Ursachen historisch bedeutsamer Ereignisse identifiziert werden (vgl aaO 101). ME gilt das auch für weniger spektakuläre Ereignisse in relativ statischen Systemen wie Arbeitsplatz- nachbesetzungen sowie für unspektakuläre Reformen wie eine Ausbildungspflicht bis zum Alter von 18 Jahren und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Historische Erklärungen bedeuten, so kann man aus dem zitierten Text weiters schlie- ßen, nichts anderes als, dass ein Zustand X unter bestimmten Umständen eine hinrei- chende oder notwendige Bedingung des auf ihn folgenden Zustandes Y war (vgl aaO 102). Schon wegen der großen Variationsbreite möglicher Antecedensbedingungen sind dies mE bloße Einzelfallerklärungen, aus denen kaum Verallgemeinerungen oder Vor- hersagen folgen. Ein Problem ergibt sich, wenn mehrere Ursachen gleichermaßen ein und dieselbe Folge bewirken hätten können (aaO 103). Ich glaube, dass Quellenstudium regelmäßig auch in solchen Fällen die Identifizierung von hinreichenden Bedingungen ermöglicht. Überhaupt bemerkt Dray zu Recht, dass Historiker eher Einzelfälle erklären als eine Klasse von ähnlichen Ereignissen. Sie müssen dabei dennoch sicher sein, dass ein Er- eignis X wirklich die Ursache des Ereignisses Y war. Dies lässt sich überprüfen, indem man sich im Rahmen eines Gedankenexperiments vorstellt, ob das Ereignis Y auch oh- ne seine Vorbedingung X möglicherweise eingetreten wäre. Die notwendigen Bedin- gungen eines Einzelfalls festzustellen, halte ich daher für Methode und logische Form der typischen geisteswissenschaftlichen Erklärung.

187aaO 87-92, 94, 97-99

213 Laut Dray können Kausalbeziehungen auf drei Arten plausibel gemacht werden: Durch experimentelle Erfahrung, durch logische Ableitung aus einem allgemeinen Gesetz und drittens durch Kenntnis der Bedingungen in einer bestimmten Situation. Gewiss ist die dritte Art der Argumentation für das Vorliegen einer Kausalbeziehung in den histori- schen Wissenschaften am häufigsten (aaO 106). Daher geht man in den Geisteswissen- schaften regelmäßig vom Einzelfall aus und beginnt mit vorsichtigen, probabilistischen Verallgemeinerungen, obwohl das H-O-Schema die umgekehrte Reihenfolge der Vor- gehensweise nahe legt. Mit Hilfe der im vorangehenden Satz geschilderten Verallgemeinerungen kann man in- des nur wissen, was eine typische Bedingung von Vorgängen ist, die mehrere Ursachen haben können. Es ist aber nicht vor dem genauen Quellenstudium bekannt, ob die derart ermittelte häufige Bedingung etwa eines Krieges auch im zu erklärenden Fall die Kriegsursache war. Besser an das deterministische Ideal des Hempel-Oppenheim- Schemas angenäherte Generalisierungen sind ua die über Krankheitsübertragungen (vgl aaO 108).188 Dray zitiert die zutreffende Feststellung, dass Kriege eine so heterogene Klasse darstel- len, dass einfache Verallgemeinerungen über ihre Ursachen nicht den Tatsachen ent- sprechen. Eine Soziologie des Krieges etc würde daher mE einiges über mögliche oder wahrscheinliche Ursachen soziokultureller Phänomene erkennen, aber die Einzelfaller- klärung ausgehend von den Antecedensbedingungen nicht überflüssig machen. Historische Erklärungen geben also gewöhnlich Ursachen an, die nur ceteris paribus, dh beim Vorliegen derselben relevanten Faktoren, als hinreichende Bedingungen im Sinne von Ursachen gelten können (aaO 110). Das ist wohl ein Kausalitätsbegriff, der keine exakten Vorhersagen erlaubt, was mE schon durch die längst bewährte Annahme pro- babilistischer Gesetze und nicht deterministischer Systeme gerechtfertigt ist. Außerdem ist diese Verwendung des Begriffs Ursache in der Geschichtsschreibung für den Leser verständlich und die logisch korrekte Bezeichnung für die notwendige Bedingung, dh eine von eventuell mehreren Ursachen, eines Einzelereignisses (vgl aaO 112). Aber der erzählende Aspekt der historischen Humanwissenschaften darf nicht vernach- lässigt werden, wie Geschichtstheoretiker immer schon wussten. Die Darstellung eines Wirklichkeitsausschnittes, dessen Dynamik aus der Wechselwirkung vieler Faktoren

188aaO 101-106, 108

214 erwächst, gehört mA zum Handwerk des Geisteswissenschaftlers. Eine narrative Darstellung einer bestimmten Veränderung in einem dynamischen Sys- tem braucht, wie Dray zutreffend bemerkte, nicht Kausalgesetze zu enthalten, sollte aber auf beobachtete Wirkungen von Faktoren eingehen. Einige Umstände eines Ereig- nisses werden in der Forschungspraxis von Historikern als Ursachen dieses Ereignisses identifiziert (aaO 114). Obwohl alle Bedingungen eines historischen Einzelfalls für seinen Verlauf notwendig sein können, lassen sich mE Bedingungen ausmachen, die mehr zum zu erklärenden Fall beigetragen haben und schwerer durch andere Umstände ersetzbar gewesen wären. Es lässt sich insbesondere im Anschluss an Collingwoods drei Bedeutungen von Ursa- che behaupten, dass aus den Motiven der historischen Akteure und ihrer Situationsauf- fassung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ihre Taten logisch folgen (vgl Kapitel „Der praktische Syllogismus“).189 Historiker sollen daher ihr Augenmerk besonders auf für Handelnde in einer geschicht- lichen Situation manipulierbare notwendige Bedingungen historischer Ereignisse rich- ten (vgl aaO 116). Dabei kann es sich um Wahrscheinlichkeitsschlüsse in Bezug auf ein Individuum handeln (zB in Bezug auf Napoleons Charakter und Situation), welche sich nicht verallgemeinern lassen. Das schließt laut Dray nicht aus, dass historische Erklä- rungen daneben auch sozial- und naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf einen Einzel- fall anwenden. Es mag sich um sozialpsychologische Vorurteilsforschung oder medizi- nische Erkenntnisse betreffend Seuchen handeln (Beispiele von mir), vor allem insofern es um eher Wiederholbares geht.

8c) Handlungstheoretischer Aspekt der Erklärung Dray thematisiert das einfühlende Nacherleben der Handlungen geschichtlich herausra- gender Persönlichkeiten als einen Aspekt von Erklärung in Geschichtswissenschaften. Viele Historiker und Geschichtsphilosophen sahen den Schwerpunkt geisteswissen- schaftlicher Arbeit gerade in diesem empathischen Nacherleben, welches die verborge- ne Gedankenwelt historischer Akteure aufdeckt und als eine entscheidende Bedingung von Einzelfällen behandelt. Man kann nämlich keine Darstellung des soziokulturellen

189aaO 109-110, 112-115

215 Geschehens geben, wenn man die Gedankenwelt, die es ausdrückt, unberücksichtigt lässt und bloße Beobachtungen wiedergibt (vgl aaO 119). Diese Gedankenwelt lässt sich, wie auch idiographisch orientierte Geschichtsdenker zugegeben haben, indes nicht ganz rekonstruieren. Auch Vertreter einer positivistisch-einheitswissenschaftlichen Position in der Ge- schichtswissenschaft wissen es zu schätzen, dass Hermeneutiker den psychischen Zu- stand des historischen Akteurs beschreiben, dessen Motive erforschen und methodolo- gische Anweisungen geben, wie man Hypothesen über die kausale Rolle der Motive der Handelnden der soziokulturellen Vergangenheit generiert. Sie bemerken allerdings zu Recht, dass die hermeneutische Methode durchaus auch zu psychologischen Verallge- meinerungen führt und nur dann zutreffend erklärt, wenn letztere korrekt sind (vgl aaO 120). ME geht die hermeneutische Methode von alltäglicher Menschenkenntnis aus und kann mit ihr viele Handlungen erklären, muss gelegentlich aber auf die wissenschaftli- che Psychologie zurückgreifen. Historische Erklärungen beschäftigen sich in der Praxis der Geschichtsschreibung in der Regel mit den Handlungsgründen einer bestimmten Person in einer konkreten Situation. Diese Gründe können in einer bewussten Überlegung, die Vor- und Nachteile möglicher Taten abwägt, zur Entscheidung geführt haben, Gründe dagegen wirken bei eher spon- tanen Handlungen wie Notwehr (vgl aaO 123).190 Dray prägt den Fachausdruck „rationale Erklärung“ für die Untersuchung dessen, ob eine Handlung unter gewissen Voraussetzungen angebracht war oder nicht. Mein Kommentar dazu ist, dass unter „angebracht“ am ehesten „rational vom Handelnden“ zu verstehen ist, genauer gesagt von seinem Standpunkt aus als klug wirkend. Bei der Beurteilung dieser Frage ist auf Tatsachenirrtümer der Handelnden und ihre eventuell abstrusen sonstigen Vorstellungen immer einzugehen (aaO 125), besonders aber, wenn eine Tat psychologisch unverständlich wirkt. Subjektive Handlungsgründe motivieren zu bestimmten Verhaltensweisen und auch empathische Selbstdarstellungen Handelnder geben laut Dray regelmäßig Hinweise auf sie. Die Versetzung in den Standpunkt des Erforschten gehört mA zur geisteswissen- schaftlichen Arbeit, da sie Aspekte und Bedingungen von Einzelfällen zu rekonstruieren hilft. Problematisch ist laut Hempel die Verallgemeinerung der so gewonnenen Hypo-

190aaO 116-121, 123

216 these über die kausale Auswirkung der Motive der Handelnden, welche jeder histori- schen Erklärung zu Grunde liegt, die nach der Methode des Verstehens gewonnen und gemäß dem H-O-Schema formuliert wurde. Die Intuition vieler Forschender dahinter besteht darin, dass sich eine hypothetische Generalisierung induktiv durch den Ver- gleich ähnlicher Fälle bestätigen lässt. Dieser ua von Hempel geäußerte Leitgedanke wird von Dray dahingehend kritisiert, dass die Frage nach häufigen im Kontrast zur Frage nach adäquaten Handlungen zu be- handeln sei. Er fügt jedoch rasch hinzu, dass die Frage, ob Handlungen angebracht wa- ren, vom Historiker nicht mit Hilfe einer geheimnisvollen Intuition beurteilt werden soll, sondern an Hand aller Quellen und Hinweise, die eine Rekonstruktion der Gedan- kenwelt historischer Akteure ermöglichen. Projektionen vom Standpunkt des Forschenden aus sind wohl unvermeidlich, aber nicht nur Quellenmaterial über fremde Denkweisen, sondern auch alle vorstellbaren Denk- möglichkeiten des zu etwas Motivierten sollen bei rationaler Erklärung im Sinne Drays berücksichtigt werden (vgl aaO 130). Der gültige logische Schluss aus Motiven auf die Tat kann uU zu einer inkorrekten Er- klärung führen, wenn relevante Antecedensbedingungen unbekannt sind, ein Problem, mit dem jede empirische Wissenschaft konfrontiert ist (aaO 131). Ich glaube, dass diese Möglichkeit bei spärlichem Quellenmaterial in der Einzelfallerklärung explizit erwähnt werden soll. Rationale Erklärung scheint ein allgemeines Gesetz auf Einzelfälle anzuwenden, und zwar mE mittels probabilistischer Generalisierung über Entscheidungen bei gegebenen Motiven und Überzeugungen. Dennoch will Dray einen Sonderstatus der rationalen Er- klärung nachweisen. Zwar räumt er ein, dass, wenn es klug für A ist, B zu tun, für ähn- liche Menschen in ähnlichen Situationen Ähnliches gilt. Dennoch behauptet er, dass ei- ne aus einer rationalen Erklärung abgeleitete Generalisierung nicht unbedingt durch ein Gegenbeispiel falsifiziert werde, weil es dabei eigentlich nur um ein Handlungsprinzip gehe. Ihm zufolge erklärt dieses Handlungsprinzip auch Vorgänge, die äußerst selten sind, wenn es dadurch widerlegt scheint, dass in einer Kultur oder von einem Individuum meist andere Handlungsprinzipien angewandt werden und daher andere Taten häufiger sind: Es sei berechtigt, aus diesen Überlegungen abzuleiten, dass der Zusammenhang

217 zwischen Handlungsprinzipien für eine Klasse von Situationen und den Entscheidun- gen, die in diesen Situationen von Handelnden gefällt werden, durchaus locker ist und Ausnahmen zulässt. Ich schlage ein nicht streng deterministisches Wahrscheinlichkeitsgesetz für das Hand- lungsprinzip von Kollektivmitgliedern bzw Einzelpersonen vor, um historische Einzel- fälle kausal aus Motiven nach dem H-O-Schema erklären zu können. Für meinen Vorschlag sprechen auch Drays Ausführungen, dass rationale Erklärung darauf beruhe, dass eine Tat nicht überraschend sei, wenn man die Lage des Handeln- den und seine Entscheidungsprinzipien kenne, und dass man diese Prinzipien ausgehend vom Vergleich ähnlicher Fälle des soziokulturellen Lebens erkennen könne. Die ge- wöhnlichen Ausdrücke, mit welchen Historiker erklären und beschreiben, können zT sowohl so gedeutet werden, dass sie eine rationale Erklärung im Sinne Drays bedeuten, als auch im Sinn einer Verallgemeinerung (aaO 134). Ich glaube, dass sie sich in Zwei- felsfällen doch auf Motive beziehen.191 Walsh diskutierte ebenfalls diese Frage und kam zur eindeutigen Erkenntnis, dass sich Historiker bei ihren Erklärungen auf die Menschenkenntnis Gebildeter verlassen und somit auf Volkspsychologie. Ich glaube, dass diese manchmal, aber nicht bei jeder geis- teswissenschaftlichen Erklärung durch wissenschaftliche Psychologie zu ersetzen ist. Dray merkt zu Recht an, dass sich volkspsychologische Erklärungen nicht nur auf die Frage, was getan wird, sondern auch auf die, was vernünftigerweise getan werden soll- te, beziehen können, dass es also zwei Erklärungstypen gibt. Er deutet damit Folgendes an: Es ist objektiv beantwortbar, was für einen Menschen mit bestimmten Bedürfnissen angesichts einer Situation gut bzw ratsam ist. Dies war Geschichtstheoretikern wie Walsh bekannt, die mit Recht glaubten vom „gesunden Menschenverstand“ ausgehend wissen zu können, wie sich Menschen wahrscheinlich verhalten und was von ihrem Standpunkt aus als klug gilt. Die Erklärung einer Handlung als vom Standpunkt des Handelnden aus anscheinend vernünftig wird in der Geschichtsschreibung nur angedeutet, etwa ausgehend von den Präferenzen des Handelnden (aaO 136). Dass Menschen im eigenen Interesse nichts ohne zureichende Handlungsgründe unter- nehmen, ist eine Verallgemeinerung, die im Prinzip zutrifft, obwohl es sich um eine

191aaO 124-134

218 Regel handelt, die Ausnahmen zulässt (vgl aaO 137). Wenn die für menschliche Ent- scheidungen zu erwartenden Nutzenüberlegungen eine konkrete Handlung nicht erklä- ren können, ist es laut Dray methodisch angebracht, nach zusätzlichen Überzeugungen des Akteurs, dabei auch seltsamen bis lächerlichen, zu suchen. Diese Suche kann gele- gentlich durch die Einbeziehung von Hinweisen auf unterbewusste Motive erweitert werden. In Bezug auf bestimmte historische Vorgänge wird sich die rationale Erklärung gemäß Dray dennoch als unmöglich erweisen. In diesem Fall muss auf empirische, meist statistische Gesetze zurückgegriffen werden. Trotz allem lässt sich im Anschluss an Dray behaupten: Handlungen im engeren Sinne des Wortes lassen sich per definitionem rational erklären, da sie aus einer Überlegung folgen, wobei Affekthandlungen einen Sonderfall darstellen. Rationale Erklärung hat mA durch die Anwendung psychologischer, ökonomischer etc Gesetze immer dann er- gänzt zu werden, wenn dies rätselhaft scheinende Verhaltensweisen erfordern. Die Ähnlichkeit historischen Schreibens mit belletristischem beruht, wie Dray erkennt, eben auf rationaler Erklärung. Diese erinnert mE nämlich an die Figurenschilderung in psychologischen Romanen. Für Humanwissenschaften ist es wichtig, dass soziokultu- relle Erscheinungen nicht nur aus der Perspektive des „beobachtenden“ Forschers, son- dern auch aus der Perspektive des Erforschten dargestellt werden (vgl aaO 140). Bei Anwendung auf Gruppenphänomene kann rationale Erklärung versagen, da soziales Geschehen auf der Makroebene gewissermaßen eine Eigendynamik hat und nicht auf die Absichten der einzelnen Handelnden reduzierbar ist, ja oft von niemandem beab- sichtigt, wie Dray aufzeigt. Allerdings können zweckrationalen Handlungen sämtlicher in einer historischen Epoche lebender Individuen mE insgesamt dennoch viele komple- xe historische Ereignisse erklären. Denn jeder Mensch reagiert durch zweckrationale Handlungen auf seine kulturelle Umgebung und auf Veränderungen in dieser. Die Erklärung einer Einzelhandlung durch die psychischen Zustände des Handelnden ist laut Gardiner gelegentlich eine Art psychologisches Wahrscheinlichkeitsgesetz über diese Handlung. Dies gilt mE für verschiedene psychische Zustände und mentale Akte, wie Absichten, politische Überzeugungen und Begierden. Deshalb glaube ich, dass man Hempels zentraler These (aaO 140) zustimmen muss, dass Motive Antecedensbedin- gungen für motivierte Handlungen und mit diesen durch gesetzesartige Regeln ver- knüpft sind.

219 Dies ist laut Dray nicht mit dem Zusammenhang zwischen dem Handeln selbst und den dieses begleitenden Umständen zu verwechseln. ME determinieren eben Motive und Überzeugungen gemeinsam Handlungen, Umstände hingegen nicht, wenngleich sie die Handlungswahrscheinlichkeit senken oder erhöhen können.192 Ryle versucht Gegenargumente gegen die von mir akzeptierte These Hempels vorzu- bringen. Er bringt nämlich den Einwand vor, Motive seien weder Prozesse noch Ereig- nisse. Gedanken sind doch mentale Ereignisse und durch Introspektion zugänglich, er- widere ich. Ryle glaubt, dass eine Erklärung aus Motiven die motivierte Tat mit anderen Handlungen oder Handlungsmöglichkeiten der betreffenden Person in Verbindung setzt. Bezieht sie sich auf Handlungsmöglichkeiten, ist sie offensichtlich eine dispositionelle Erklärung und geht damit von einer gesetzesartigen Regelmäßigkeit aus. Allerdings sind Dispositionen, die auf bloßen Charaktermerkmalen wie zB Ehrgeiz be- ruhen, so beschaffen, dass sie keine genauen Handlungsprognosen erlauben; außerdem gelten manche dispositionelle Erklärungen auf Grund des Charakters nur für eine ein- zigartige Person und nicht für eine Klasse von Objekten (aaO 146). ME ist das H-O- Schema dennoch auf solche Aussagen über nur einen Menschen anwendbar, weil diese ein probabilistisches Gesetz über die Handlungstendenzen dieser Einzelperson als wahr voraussetzen. Ähnliches gilt für Erklärungen auf Grund der Gewohnheiten einer oder mehrerer Personen, wenn sie sich auf eine gesetzesähnliche Regel berufen, die für eine Klasse von Situationen gilt. Vom Standpunkt des Beobachters lassen die psychischen Dispositionen des historischen Akteurs Wahrscheinlichkeitsaussagen über seine Verhaltensweisen zu (vgl aaO 149). Dennoch ist das nur der Fall, wenn die rationale Erklärung nach dem Schema des prak- tischen Syllogismus zutrifft, welche einzig und allein erklären kann, warum sich dieser Akteur gerade so entschied. Beobachtbare und verborgene Dispositionseigenschaften eines Handelnden bleiben, wie Dray berechtigterweise feststellt, in einem wesentlichen Aspekt unerklärt, wenn nicht der Verlauf seiner Gedanken und Pläne ebenfalls rekonstruiert werden. Mentale Akte sind mE die eigentliche Ursache von Handlungen, welche Dispositionen realisieren, womit „rationale“ Erklärung ein Sonderfall der kausalen ist. Dispositionen lassen sich, wie ich weiters kritisch anmerke, auch als Zustände auffassen. Dray sieht

192aaO 135-139, 141, 143-144

220 dies ähnlich, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Gemütszustände wie schlechte Laune die notwendige Bedingung einer Handlung sein können und nicht nur Ereignisse und Vorgänge, sondern auch andere Sachverhalte der Natur Ursachen sein können. Zu- stände sind Bedingungen und als solche auch Ursachen, obwohl Zustände, welche dis- positionelle Eigenschaften sind, für Dray und seine Kenner keine vollständige Erklä- rung eines Einzelfalls liefern, wenn dieser eine Zustandsveränderung ist. In diesem Fall hat ein meist von außen kommender Reiz ein stabiles System zu einer bestimmten Reaktion veranlasst: Und auf diese Weise kann man eine zerbrochene Fens- terscheibe ebenso erklären wie Kriegsausbrüche (letzteres Beispiel von mir). Nur sind im Fall des Kriegsausbruchs einige Ursachen Handlungsgründe (vgl aaO 153), wobei das Fällen gewisser Entscheidungen wegen psychischer Dispositionen wahrscheinlicher werden kann.193 Für die Anwendung rationaler Erklärungen in den Geisteswissenschaften spricht zudem, dass Personen auch dann einen gewissen Entscheidungsspielraum behalten, wenn sie etwa durch Morddrohungen genötigt werden (aaO 154). Ursachen müssen, wie Dray betont, in einer bestimmten Situation notwendige Bedingungen eines Ereignisses sein. In der Geschichtswissenschaft trifft dies auf Handlungsgründe zu, weil es offensichtlich von der eigenen Beurteilung der jeweiligen Situation abhängt, wie man sich verhält (vgl aaO). Die begriffliche Überschneidung zwischen „Ursache“ und „Grund“ wirft in diesem Zu- sammenhang Probleme auf. Gewiss ist jede Ursache ein Grund, etwas zu erwarten, wie jeder Grund auch die Ursache einer gedanklichen Neigung oder einer möglichen Bewer- tung darstellt (vgl Passagen, die sich auf Wolfgang Röds einschlägigen Lexikonartikel beziehen, im Kapitel 3). Der terminologische Unterschied zwischen diesen zwei Begrif- fen ist laut Dray oft eine Frage des Standpunkts oder Zugangs (aaO): Die Ursache einer Handlung lässt sich im Anschluss an Dray als der Sachverhalt definieren, aufgrund dessen der Handelnde ein subjektiv vernünftiges Motiv hatte.

193vgl aaO 144-146, 149-153

221 8d) Wie oder warum, zwei Zugänge zum Erklären Gewöhnlich sollen historische Erklärungen eine Antwort auf die Frage liefern, warum das Explanandum der Fall war (vgl aaO 156), warum es mit Notwendigkeit oder doch einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintrat. Das gilt mE auch, wie eben gezeigt, für Erklärungen nach dem Muster des praktischen Syllogismus, welche sich auf Motive und Handlungsprinzipien beziehen. Gelegentlich befassen sich Forscher, wie Dray am Ende seines Buchs ausführt, mit den Fragen, was eigentlich passierte oder wie es passierte. Im letztgenannten Fall ist es nicht nötig, dass das Explanandum wegen des Explanans eingetreten ist, weil nur erklärt wer- den soll, wie das Explanandum möglich ist. Wenn man aber erklärt, wie etwas möglich ist, kann das doch kein völlig unerwarteter Sachverhalt sein. Ein notwendiger Kausalnexus kann zwischen etwas Singulärem und dessen Bedingun- gen bestehen (vgl aaO 158), wobei diese Einzigartigkeit des Erklärten mE nicht so weit gehen darf, dass keine allgemeinen Gesetze involviert sind. Die Erklärung, wie etwas möglich war, widerlegt die Annahme, dass das Explanandum nicht geschehen sein kann, zu welchem Zwecke sie zusätzliche Tatsachen berichtet, welche es nicht implausibel erscheinen lassen, dass es einst dazu kam. Die Erklärung, warum sich etwas ereignete, widerlegt eo ipso die Annahme, dass damals auch etwas anderes hätte geschehen können, insofern sie vollständig ist, also alle relevanten Fakto- ren erwähnt (vgl aaO 161).194 Beispiele für das Forschungsinteresse, wie bestimmte Vorgänge überhaupt möglich wa- ren, lassen sich auch in chronikartigen und populärwissenschaftlichen Schriften finden. Dies zeigt schon das folgende Zitat, welches einen Text über die Mitverursachung der Französischen Revolution durch die Aufklärungsphilosophie einleitet: „Wie war es möglich, dass die Revolution unter allen Ständen, vom höchsten bis zum niedrigsten, so viele Anhänger finden konnte?“195 In der Geschichtsschreibung wird regelmäßig erklärt, warum eine unerwartete Verände- rung eintrat (aaO 163), indem ausgeführt wird, dass ein zur bekannten Situation hinzu- tretender Faktor eben diese Veränderung viel wahrscheinlicher machte. Drays Beispiele dafür wie die zufällige Abwesenheit einer historisch einflussreichen Persönlichkeit oder

194aaO 154-158, 160-161 195Franz Zach: Die französische Revolution. Klagenfurt: St. Josef-Bücherbrüderschaft 1914, 8-9 (Zitat 8)

222 ein Zweckbündnis gegen einen gemeinsamen Feind stammen aus Darstellungen der bri- tischen neuzeitlichen Geschichte. Die Erklärung, wie etwas möglich war, nimmt auf die Entscheidungsfreiheit histori- scher Akteure Rücksicht, indem sie nicht sämtliche Bedingungen eines soziokulturellen Ereignisses als determiniert annimmt (vgl aaO 164). Sie lässt sich aber auch ausbauen, inwiefern etwas in einem System mit mehreren Freiheitsgraden geschehen konnte, wenn man genauestens alle relevanten Bedingungen aller vorherbestimmten bzw nicht vor- herbestimmten Ereignisse anführt. Ebenso lässt sich in deterministischen, unbelebten Systemen erklären, wie etwas mög- lich war. Drays Beispiel dafür ist eine unerwartete Lawine. Durch die Anführung zu- sätzlicher empirisch überprüfbarer Fakten, etwa eines extrem kalten Winters, wird eine derartige vernünftige Vorannahme, etwas sei unmöglich, widerlegt. Und darin besteht die Erklärung, wie etwas möglich war. Sie ist auch möglich, wenn man sich auf die Mo- tive eines historischen Akteurs bezieht. Im Anschluss an Dray lassen sich alle unerwarteten, für ein soziales System bedeutsa- men Entscheidungen damit „rational erklären“, dass der Handelnde entweder unerwar- tete, meist absurde Handlungsprinzipien hatte oder die Lage falsch einschätzte. Die psy- chologische Möglichkeit eines Motivs lässt sich mA zT aus dem Quellenmaterial nach- weisen, wenn man auch an Geisteskrankheiten usw denkt. Die historische Einzelfallerklärung kann auch den Nichteintritt eines Ereignisses mit dessen Unmöglichkeit begründen (Dray 166). Erklärungen, die sich auf die Art und Weise eines Handlungsablaufs beziehen, können laut Dray außerdem Handlungsanweisungen sein oder erläutern, wie es zu einer Verän- derung gekommen ist. Im letzteren Fall ist dies einer Kausalerklärung sehr ähnlich, in- sofern alle relevanten Begleitumstände eines soziokulturellen Ereignisses aufgelistet werden (vgl aaO 167). Nur scheint mir, dass dadurch von einer bloß möglichen, nicht genau bekannten Verursachung eines Einzelfalls durch seine denkbaren Bedingungen gesprochen wird. Das ist in den Geisteswissenschaften sicher oft der Fall, wobei die un- erwähnten Umstände auf Grund apriorischer oder induktiver Vorannahmen als irrele- vant aussortiert werden. Das ist eine Erklärungsskizze. Die Erklärung, wie etwas, zB ein Massaker (Beispiel von mir), überhaupt möglich war, ist aber nur eine Erklärungsskizze (aaO). Denn man kann die zusätzliche Forschungs-

223 frage formulieren, warum das als möglich erwiesene Ereignis eintrat bzw eintreten musste. Dray gibt dies auch zu und sagt zur Verteidigung seiner Theorie nur, dass Er- klärungen, wie etwas möglich war, eine zufriedenstellende Antwort auf eben diese Fra- ge sind.196 In der Tat kann man die Möglichkeit determinierter Vorgänge erklären, obwohl sich der verborgene Kausalmechanismus nicht oder noch nicht nachweisen lässt. Oder um Dray zu paraphrasieren, muss man kein neues Gesetz B kennen, um die Gültigkeit eines Ge- setzes A für einen konkreten Fall zu widerlegen. Häufig wird, wie Dray andeutet, eine normale Kausalerklärung dennoch anzustreben sein. ME soll man eine probabilistische Erklärung nach dem H-O-Schema sogar fordern, wenn das Bedingungsgeflecht weder sehr komplex ist noch seine Kenntnis an unpräzi- ser Rekonstruktion krankt. Dh es ist erstrebenswert, aber regelmäßig unmöglich, sämtli- che Ursachen eines historischen Einzelfalls aufzuklären, die gemeinsam eine hinrei- chende Bedingung für dessen Eintreten sind (vgl aaO 169). Häufig darf sich der Geis- teswissenschaftler demnach damit begnügen zu wissen, dass Antecedensbedingungen und allgemeine Gesetze ein bestimmtes Einzelereignis nicht ausschließen, und hat eine ziemlich gute Erklärungsskizze geliefert. Für die geisteswissenschaftliche Einzelfallerklärung schlage ich folgende an das Hemp- el-Oppenheim-Schema angenäherte junktorenlogische Formulierung vor:

(A ∧ G) è (C ∨ D) Dabei ist G ein Wahrscheinlichkeitsgesetz und A eine relevante Antecedensbedingung, sodass eine dritte Folge ≠ C, ≠ D der verursachenden dynamischen Konstellation un- wahrscheinlich ist. Syllogismen nach diesem von mir formulierten Schema ermöglichen die Prognose bzw Retrodiktion wahrscheinlicher, aber nicht notwendiger Handlungen wie körperlicher Aggression gegen Mitmenschen aus Frust, zu der es Alternativen wie den Frustabbau durch Sport gibt (vgl aaO 170-172), unter Berücksichtigung der Wil- lensfreiheit als eines relevanten Faktors. Jede Einzelfallerklärung wird einfacher, wenn nur wenige Antecedensbedingungen relevant sein können, etwa wohl bei Entscheidun- gen über körperliche Bedürfnisse. Selbstverständlich sind die meisten in den Geistes- wissenschaften behandelten Einzelereignisse durch mehrere Antecedensbedingungen

196William Dray: Laws and Explanation in History. Oxford: Oxford University Press 1964, 163-168

224 und Gesetze bedingt, zu vielen gibt es auch mehr als nur eine wahrscheinliche Alterna- tive. Lässt sich das H-O-Schema bei der Erklärung eines soziokulturellen Ereignisses nicht anwenden, sind dennoch analoge Vorgangsweisen zu versuchen. Weiß man etwa nur, dass das Ausbleiben eines Umstandes wie einer guten Getreideernte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem Ereignis wie Nahrungsmangel führt, kann man daraus folgern, dass, wenn keine Hungersnot herrscht, wohl eine gute Ernte vorange- gangen sein muss. Auf diese Art und Weise lassen sich notwendige und hinreichende Bedingungen soziokultureller Ereignisse identifizieren.197

8e) Die logische Vereinbarkeit logischer und rationaler Erklärungen Gegen die in diesem Kapitel vorgebrachten Schlussfolgerungen ließe sich einwenden, dass Dray selbst eine dualistische Position vertrat, die sich von meinem eher an Steg- müller angelehnten Standpunkt deutlich unterscheidet. Bekannte Autoren der theoreti- schen Philosophie wie Apel treten dafür ein, dass die Psychologie einen kausal erklä- renden Standpunkt den menschlichen Lebensäußerungen gegenüber einnehmen soll. Ich schließe mich dieser Ansicht an und füge hinzu, dass die Psychologie den Geisteswis- senschaften als Hilfswissenschaft dienen kann, wie viele Disziplinen mathematische Methoden anwenden. Die Psychologie kann durch empirische Forschung feststellen, dass sich Menschen meistens zweckrational in Abhängigkeit von ihrem Kenntnisstand und ihrer Intelligenz verhalten. Die Definition des Menschen als vernunftbegabtes We- sen bestätigt mE diesen Befund. Die rationale Erklärung lässt sich daher sicherlich als Kausalerklärung formulieren, wie bereits Hempel, auf Dray reagierend, erkannte.198 Außerdem spricht auch die Tatsache, dass insbesondere historische Texte tendenziell einen eher beschreibenden oder erzählenden Charakter tragen (siehe Kapitel 12), nicht dagegen, dass sie sich durch das Aufzeigen der von ihnen implizit vorausgesetzten Ge- setze in Erklärungen nach dem H-O-Schema umformulieren lassen. Denn komplexe Handlungen lassen sich regelmäßig so analysieren, dass die Art und Weise ihrer Durch- führung letzten Endes ein Ergebnis der Verknüpfung von Bedingungen und Ereignissen

197vgl aaO 168-172 198Norbert Groeben: Handeln, Tun, Verhalten als Einheiten einer verstehend-erklärenden Psychologie. Tübingen: Francke 1986, 273-276

225 ist. Etwa kann ein Dichter beschreiben, dass jemand köstliches Obst mit einem Messer zerschnitt und aus Liebe verschenkte. Dieser verständliche Text setzt als bekannt vo- raus, dass sich Früchte unter Kraft- und Druckeinwirkung verformen und dass manche Gefühle in bestimmten soziokulturellen Kontexten aufzutreten pflegen. Daher soll man sich Groebens Feststellung anschließen, dass die Psychologie sowohl das Beobachten als auch das Verstehen als Erkenntnismethoden anwenden kann. Grün- de und Ursachen von Handlungen sind in allen Geisteswissenschaften gleichermaßen ein wichtiger Forschungsgegenstand. Das Ziel der geisteswissenschaftlichen Erklärung ist oftmals die Identifikation von Handlungsumständen, die sowohl Gründe als auch Ursachen sind. Die Liebe kann im Beispiel, das im vorigen Absatz angeführt wird, als ein Realgrund im Sinne von Ursa- che der Handlung des Schenkens angesehen werden, weil sie nicht nur dem Handelnden als Motiv bewusst ist, sondern auch die Handlung wirklich leitend und motivierend be- gleitet. Außenstehende Beobachter können dieses Motiv der Handlung, das eine von mehreren Bedingungen von Körperbewegungen ist, nicht nur glaubhaft finden, sondern auch aus dem Zusammenhang mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erschließen. Die- ser hervorragend argumentierte Zugang zur Erklärung in den Geisteswissenschaften ist laut Groeben eine Synthese von empiristischem und hermeneutischem Gedankengut.199

199aaO 228, 322-323

226 Kapitel 9 - Wahrscheinlichkeitsschlüsse und Enthymeme

Die sogenannte alethische Modallogik ist eine Weiterentwicklung der traditionellen Aussagenlogik (Satzlogik, Propositional Logic), welche die Anwendung des Hempel- Oppenheim-Schemas auf die Geisteswissenschaften eröffnet. Einige Axiome dieser Lo- gik der Wahrscheinlichkeitsschlüsse sind unmittelbar einleuchtend. Zunächst einmal impliziert ausschließlich die Notwendigkeit einer Aussage die Unmög- lichkeit der Negation dieser Aussage. Ebenso sind die Negationen von geisteswissen- schaftlichen Tatsachen- und Gesetzesbehauptungen nur dann möglicherweise wahr, wenn die von ihnen negierten Aussagen nicht notwendigerweise zutreffen. Außerdem kann nur Mögliches der Fall sein, nicht nur Notwendiges, sondern auch Kontingentes. Es ist bei Tatsachen- und nur aposteriorisch begründbaren Gesetzesbehauptungen die Regel, dass sie kontingent sind, dh dass ihr Gegenteil zutreffen könnte oder wenigstens verwirklichbar wäre. Dennoch lassen sich zahlreiche formalwissenschaftlich gültige modallogische Schlussregeln formulieren: Insbesondere gilt, dass Q möglich ist, wenn P gewiss der Fall ist und es möglich ist, dass die Subjunktion „Wenn P, dann Q“ der Fall ist. Daraus lässt sich über geisteswissenschaftliche Erklärungen lernen, dass Wahrschein- lichkeitserklärungen ausgehend von Handlungsmotiven oder sozialwissenschaftlichen Gesetzen zutreffen können, wenn die Antecedensbedingungen des zu erklärenden Ereig- nisses Q gewiss der Fall sind oder waren und die erklärenden Wahrscheinlichkeitsge- setze auch bewiesen sind. Denn dann ist dieses Q möglich.200 Wissenschaft erhebt sich damit über das Konkrete mit seinen Details, was Rickert schon wusste, aber nicht unter Bezugnahme auf die Wissenschaft der Logik erklärte. Geistes- wissenschaftliche Erklärungen betrachten nämlich die Wirklichkeit und ihre wesentli- chen Strukturen gleichsam aus einer bestimmten Perspektive (Hársing 13). Allerdings müssen sie sich von sonstigen subjektiven und kulturellen Einflüssen reinigen und sich dabei am H-O-Schema orientieren, um das Ziel wissenschaftlicher Rationalität zu errei- chen. Wissenschaftliche Rationalität besteht ua in der provisorischen Annahme eines „Wahr-Wahrscheinlich-Falsch-Kontinuums“ (vgl aaO 15) mit abrupten Übergängen

200László Hársing: Scientific Reasoning and Epistemic Attitudes. Budapest: Akadémiai Kiadó 1982, besonders 1-12

227 zwischen den drei Kategorien im Zuge der Überprüfung von Hypothesen und hypotheti- schen Erklärungen insbesondere betreffend indeterministische Systeme, obwohl diese Annahme in eindeutig nicht probabilistisch berechenbaren Kontexten unwissenschaft- lich wäre. Hypothesen müssen wir uns in diesem Zusammenhang laut László Hársing als mögli- che Lösungen eines wissenschaftlichen Problems vorstellen; regelmäßig ist es logisch ausgeschlossen, dass mehr als eine von ihnen wahr ist: Geisteswissenschaftliche Erklä- rungen enthalten explizite Gesetzeshypothesen oder implizite, wenn die Theorienent- wicklung auf dem entsprechenden Fachgebiet wenig weit fortgeschritten ist. Diese Hy- pothesen beziehen sich am ehesten auf Regelmäßigkeiten in bestimmten soziokulturel- len Zusammenhängen, seltener auf Generalisierungen über zufälliges Vorhandensein sowie mE auf anthropologische Konstanten oder apriorisch für alle vernunftbegabten Wesen Gültiges. Daneben enthalten geisteswissenschaftliche Erklärungen auch theoreti- sche Hypothesen, dh sie verwenden Begrifflichkeiten, welche die Wirklichkeit be- schreiben und strukturieren, zB ermöglichen, das barocke Frankreich als absolute Mo- narchie aufzufassen (vgl aaO 21). Theoretische Hypothesen müssen als die beste verfügbare Beschreibung des zu erklä- renden Sachverhalts feststehen, wenn wissenschaftliche Arbeit nicht bloße Vermutun- gen, sondern glaubwürdige Erklärungen präsentieren will. Gesetzeshypothesen und zu prüfende theoretische Beschreibungen sollen eine Erklärung möglichst vieler empiri- scher Tatsachen liefern. Erstere ermöglichen dies durch die Bezugnahme auf Zusam- menhänge im zu erforschenden Wirklichkeitsbereich (aaO). In den Humanwissenschaf- ten muss man sich erfahrungsgemäß diesbezüglich regelmäßig mit erklärenden Hypo- thesen über mögliche Ursachen von Einzelfällen begnügen, die eher unser Verständnis für Sachverhalte vertiefen als den Wissenshorizont ins Unbekannte hinaus erweitern. Hintergrundwissen definiert Hársing als etwas nicht aus logischen, sondern aus empiri- schen Gründen ziemlich gut Bekanntes. Daraus ergibt sich mE für die sozialwissen- schaftliche Erklärung mit implizit-trivialen Gesetzesannahmen ein Datenmaterial, wel- ches in mancher Hinsicht gegeben und zweifelsfrei analysierbar ist. ZB lässt sich an der Existenz bestimmter Überlieferungen oder archäologischer Funde nicht zweifeln. Dies ermöglicht auch eine Erhärtung bzw teilweise Bestätigung hypothetischer Annahmen. So kann es zum Wissenszuwachs durch mehr oder weniger ausgereifte geisteswissen-

228 schaftliche Erklärungen kommen, vorausgesetzt, dass ausreichend viele zuverlässige Daten zur Verfügung stehen (vgl aaO 25). Denn von jedem hypothetischen Bestandteil einer solchen Erklärung gilt gemäß den lo- gistischen Modellen Hársings, dass entweder diese Hypothese oder ihre Negation wahr ist. Insbesondere bleibt bei historischen Erklärungen, auch wenn sich einige der ver- wendeten Daten als falsch herausstellen, ein anderer Teil des ursprünglichen empiri- schen Wissens doch und trotz dieses Erkenntnisfortschritts glaubwürdig, ja zT bewie- sen. Hintergrundwissen geht als Argument in geisteswissenschaftliche Erklärungen nach dem H-O-Schema ein, insbesondere in Form der konkreten Antecedensbedingun- gen des Explanandums (vgl aaO 29).201 Relative Wahrheit (relative truth) ist bei Hársing eine ungeschickte Formulierung für wahrscheinlich wahr bzw wahrscheinlich falsch. Das von mir im Anschluss an Stan- dardwerke wie Stegmüller vorgeschlagene H-O-Schema der geisteswissenschaftlichen Erklärung ist meist ein Wahrscheinlichkeitsschluss (vgl aaO 33). In geschichtswissen- schaftlichen Diskussionen ist es etwa häufig der Fall, dass der logische Zusammenhang (Subjunktion) zwischen dem Explanans P und dem Explanandum Q sowie letzteres schlicht und einfach bekannt sind, das Explanans P hingegen bloß möglich. Dann ist Q gleich wahrscheinlich wie P (aaO), was an Zweifeln an der erklärenden Regelmäßigkeit (zB wahnsinnige historische Akteure) oder den Antecedensbedingungen (zB Lügen in den Quellen) gleichermaßen liegen kann. In solchen Fällen lässt sich sagen, dass ein Explanandum unter gewissen Umständen sicher eintritt und dass eine bestimmte Ursa- che unter diesen Voraussetzungen wahrscheinlicher als eine andere ist, wie Hársing be- weist. Wahrscheinlichkeitslogik bedeutet, dass einer Aussage p ein numerischer Wahrschein- lichkeitswert zwischen 0 und 1 zugeordnet wird, der nur unter Bezugnahme auf ein vo- rausgesetztes Hintergrundwissen gilt (aaO 38). Doch oft lässt sich auch ohne numeri- sche Messungen mit ausreichenden Begründungen feststellen, dass eine Aussage wahr- scheinlicher ist als eine andere. Das ist zB bei intuitiven Häufigkeitsschätzungen in den

201Hársings Text diente mir als Anregung für einen Text über geisteswissenschaftliche Hypothesen mit Erklärungsfunktion. Der Beweis, dass geisteswissenschaftliche Erklärungen ohne deterministi- sche Gesetze dennoch die Möglichkeit bestimmter Verursachungen aufzeigen, ist gelungen. aaO 13, 15, 19, 21, 24-25, 27-29

229 Humanwissenschaften der Fall, wenn grobe Erfahrung („Augenmaß“) für diesen Zweck genügt. Uu lässt sich ausgehend von den logischen Beziehungen zwischen zwei hypothetischen Aussagen formalwissenschaftlich nachweisen, dass beide gleich wahrscheinlich sind. Das ist etwa bei den folgenden Beispielen der Fall: Kriegshandlungen und legales Blut- vergießen treten notwendigerweise gemeinsam auf; aus der Wahrscheinlichkeit einer Disjunktion folgt etwas über die Wahrscheinlichkeit ihrer Glieder. Was vom Hinter- grundwissen geisteswissenschaftlicher Erklärungen impliziert wird, ist sicher wahr (ma- thematische Formulierung „P=1“) (aaO 40). Außerdem existieren logische Schlussfolgerungen über veränderte Wahrscheinlich- keitswerte für den Fall, dass das Hintergrundwissen durch die Verifikation oder Falsifi- kation von Aussagen erweitert wird. Denn die Erhöhung oder Senkung der Wahrschein- lichkeit einer Aussage wirkt sich auf deren logische Implikationen aus (aaO 43). Wahrscheinlichkeitsschlüsse hören Hársing zu Folge auf Enthymeme zu sein, wenn man arithmetische und wahrscheinlichkeitslogische Axiome wie die eben erwähnten als vollwertige, sicher wahre Prämissen ansetzt. Ein Paradebeispiel dafür ist das wahr- scheinlichkeitslogische Axiom, dass die Wahrscheinlichkeit von P kleiner als die oder gleich der Wahrscheinlichkeit von Q ist, wenn das Hintergrundwissen die Subjunktion „Wenn P, dann Q“ (aber nicht auch Q) impliziert (aaO 51). Eine triviale Überlegung macht dieses Axiom einsichtig: Es ist offensichtlich, dass die erfolgreiche Ausführung einer verbrecherischen (etwa genozidalen) Politik nicht wahrscheinlicher als ihre zu er- wartenden Folgen sein kann (Beispiel von mir).202 Methodologische Auswirkungen haben derartige wahrscheinlichkeitslogische Überle- gungen auch. ZB sind genauere Hypothesen weniger wahrscheinlich als ungenaue, wenn beide Hypothesen ansonsten gleichwertig (ceteris paribus) sind (aaO 57). Darum ist eine literaturwissenschaftliche Hypothese, die nur einen Aspekt des dichterischen Werkes eines Romanciers erklärt, etwa den autobiographischen, wahrscheinlicher als eine Hypothese mit höherem Erklärungsanspruch (Beispiel von mir). Ebenso können sozialwissenschaftliche Aussagen über Möglichkeiten wahr sein, wenngleich analoge Aussagen über Tatsachen bzw Notwendigkeiten falsch sind (aaO).

202aaO 32-33, 35, 37-40, 43-44 und 51

230 Im Zuge des Erkenntnisfortschritts können sich sowohl empirische Zugänge (wie Quel- lenstudien) als auch theoretische (wie Analysen der psychischen Funktion) als nützlich für die Ziele der Wissenschaft erweisen. Aber es gibt Situationen (vor allem im An- fangsstadium der geisteswissenschaftlichen Erklärung), in welchen eine vorwissen- schaftlich-deskriptive Auseinandersetzung mit dem Beobachtbaren und nur vorsichtige und vorläufige Verallgemeinerungen eine vordringliche Aufgabe sind (vgl aaO 63). Denn andernfalls wäre die Wahrscheinlichkeit falscher Hypothesen hoch.203 Überlegungen über die Möglichkeit und Notwendigkeit von Sachverhalten können bei der Anwendung des H-O-Schemas auf geisteswissenschaftliche Probleme durchaus hel- fen. Von Wright entwarf eine formale Sprache, in der diese Möglichkeiten und Notwen- digkeiten abgebildet sind. Daher weiß man etwa, dass die Notwendigkeit einer Aussage P mit der Unmöglichkeit ihrer Negation logisch äquivalent ist. Dieses Wissen praktisch anwendend, kann man etwa vermuten, dass das Auto schon erfunden war und über Da- tierungsfragen entscheiden, wenn man aus dem Quellenmaterial schließen kann, dass der Autotransport für eine konkrete Gesellschaft bereits technisch möglich war. Aller- dings benötigt man für solche Schlussfolgerungen viele Daten. Bildliche Darstellungen von Maschinen allein wären nicht ausreichend, da es sich um Kunstwerke des Genres Science Fiction handeln könnte (Beispiel von mir). Die volle Vergleichbarkeit ist zwischen zwei Hypothesen dann gegeben, wenn sie sich auf das selbe Problem oder ein daraus resultierendes „Nachfolgeproblem“ beziehen (aaO 121), wobei letzteres der Fall ist, wenn sich das Ausgangsproblem wegen zusätzli- cher Informationen partiell verlagert hat. In solchen Fällen kann in einer geisteswissen- schaftlichen Erklärung eine Präferenz für die wahrscheinlichste von mehreren rivalisie- renden Hypothesen ausgesprochen werden. Wissenschaftliche Probleme gibt es nur, wenn Menschen kognitive Bedürfnisse bewusst werden, die Neugier gegenüber diesen Problemen erwecken (aaO 127). Theoretische Entwicklung kann auch in den Geisteswissenschaften an vier Parametern gemessen werden: Übereinstimmung mit den Erfahrungsdaten, Vollkommenheit der theoretischen Formulierung, Ausmaß des am Forschungsstand Problematischen, Entwicklung des Diskurses zum Thema (vgl aaO 131). Dies erleichtert die Auswahl der am besten geeig- neten Erklärung und lässt sich gemäß Hársing mit mathematischen Modellen veran-

203vgl aaO 57, 63 und 70

231 schaulichen, die ua besagen, dass der Weiterentwicklung des Diskurses über das Prob- lem ein Abnehmen des Problemempfindens, das als Spannung wahrgenommen wird, entspricht. Die gewünschte Übereinstimmung mit den Erfahrungsdaten hängt mit der Zahl der prüfbaren Konsequenzen der Hypothese zusammen, mit Einzelfällen, die für oder gegen sie sprechen, wobei jedoch auch an Wahrnehmungstäuschungen und Fehlinterpretatio- nen des Geisteswissenschaftlers zu denken ist. Darauf und auf Fehler aller Art, auch auf die paradigmenbewahrende Einstellung vieler Forscher, gehen mathematische Modelle der Wissenschaftstheorie mit Hilfe von Korrekturfaktoren ein. Generell gilt: Je mehr bestätigende Instanzen, desto besser (vgl aaO 137-138). ZB ist eine historische Erklä- rung um so besser, je mehr Quellenberichte über Fragen wie die Kriegsschuld eines Landes vorliegen (Beispiel von mir). Daher entscheidet man sich auch für neue geistes- wissenschaftliche Erklärungen anstatt bewährter, wenn sie eher mit dem empirisch er- mittelten Datenmaterial übereinstimmen, also wahrscheinlicher sind. Aber es gibt noch andere Kriterien, an Hand derer man die Qualität geisteswissenschaft- licher Erklärungen feststellen kann: Perfekte Theorieformulierungen sollten allgemein, einfach und genau sein (aaO). Eine zu akzeptierende Hypothese muss zudem bedeutend zur Weiterentwicklung des Forschungsstandes beigetragen haben (vgl aaO 143).204 In den Geisteswissenschaften gibt es zahllose Beispiele rivalisierender Hypothesen, die jeweils etwas anderes als einen verursachenden Faktor des Explanans für dasselbe Ex- planandum zu identifizieren behaupten. Erklärt man den genauen Verlauf der Ethnoge- nese des ungarischen Volkes, steht der Standardauffassung, „die Ungarn“ seien erst um das Jahr 896 in ihr heutiges Siedlungsgebiet eingewandert, die Gegenthese gegenüber, die awarische (oder sogar die hunnische) Besiedlung der pannonischen Tiefebene gehö- re ebenso zu den relevanten Bedingungen der späteren Entstehung von Sprachgrenzen in diesem Raum. Die Verfechter der alternativen Theorie konnten die sprachliche Verwandtschaft zwi- schen dem Ungarischen und dem Awarischen auf Grund der spärlichen Überlieferung von Sprachzeugnissen allerdings nicht nachweisen. Es gilt Hársing zufolge als wahr- scheinlicher, dass die Reste der Awarensiedlung im heutigen ungarischen Sprachraum nicht wesentlich zur späteren madjarischen Ethnogenese beitrugen. Ein endgültiges Ur-

204vgl aaO 114-115, 121, 123, 131-132, 137-138, 141, 143

232 teil darüber hängt aber mE von zusätzlichen Informationen über das Aussterben der Awaren ab. Wenn die Awaren keine dem Ungarischen ähnliche Sprache sprachen, ist der Standard- auffassung zuzustimmen, weil die Anwesenheit von nicht slawischen Bevölkerungs- elementen keine der wichtigeren Bedingungen der ungarischen Ethnogenese war. Der Eindruck des plötzlichen Verschwindens der Awaren am Ende des neunten Jahrhun- derts (vgl aaO 92) ist angesichts der dürftigen Quellenlage interpretationsbedürftig und kein schlüssiges Argument gegen die Standardhypothese. Dennoch können einem auch in solchen Fällen Überlegungen über die Wahrscheinlichkeit von Kausalbedingungen unter bestimmten Voraussetzungen bei der Entscheidung für die plausibelste verfügbare Erklärung helfen. Entscheidungen zwischen mehr oder weniger wahrscheinlichen Hy- pothesen erfordern nicht unbedingt eine exakte Quantifizierung und müssen als solche gekennzeichnet werden. Etwa sprechen bestimmte Bedingungen eher als andere für ein Verschmelzen des frühen ungarischen Volks mit dem awarischen, so dass auch gemäß Hársing eventuell bloße Schlussfolgerungen über bedingte Wahrscheinlichkeiten auf- schlussreich sind.205 Beispiele für ein Enthymem im Sinne des Aristoteles sollen unsere Betrachtungen ab- runden. Wenn Hans Musiker ist und nur Naturwissenschaftler zu einer gewissen Ta- gung eingeladen sind, ist Hans nicht eingeladen. Dieses Argument setzt- wohl aufgrund von volkstümlichen Auffassungen über die Arbeitsteilung- stillschweigend voraus, dass kein Musiker zugleich Naturwissenschaftler ist. Diese Annahme ist aber falsch. Es ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass sich jemand beiden Tätigkeitsberei- chen beruflich widmet und auf ihnen Spitzenleistungen erbringt. Trotzdem ist es wahr- scheinlich, dass Naturwissenschaftler nicht Berufsmusiker sind, weil ihre Arbeit sehr anstrengend sein kann. Ich glaube, dass sich derartige implizite Erklärungsprämissen bei der Auswertung von Primär- und Sekundärquellen feststellen und formulieren lassen, um zu Erklärungen nach dem Hempel-Oppenheim-Schema zu gelangen. Dabei muss man angeben, ob es

205vgl aaO 92-93. Siehe auch László Révész: Archäologische Forschungen zur Landnahmezeit in Un- garn. Ergebnisse, methodologische Probleme, ungelöste Fragen. In: Joachim Henning (Hg): Europa im 10. Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit. Mainz 2002, 123–130 und https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Ungarns#Landnahmezeit (9.10.2017, 18:06 Uhr) sowie Ulrich Krengel: Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Für Studium, Berufspraxis und Lehramt. Wiesbaden: Vieweg 2005 und https://de.wikipedia.org/wiki/Bedingte_Wahrscheinlichkeit (9.10.2017, 18:49 Uhr)

233 sich um einen bloßen Wahrscheinlichkeitsschluss handelt oder nicht. Handelt es sich um bloße Definitionsfragen, ist das unproblematisch, etwa ist es überflüssig, im Argu- ment anzuführen, dass eine Schwester weiblich ist.206 Erschwerend kommt hinzu, dass Argumente in geisteswissenschaftlichen Erklärungen häufig die Form eines Sorites haben, also eine Aufeinanderfolge von Syllogismen, bei denen die Zwischenschlüsse vorausgesetzt werden. ZB wird in einem Buch über das Mittelalter nicht ausgeführt werden, dass das, was für jeden mittelalterlichen Menschen wahrscheinlich ist, auch für eine Nonne wahrscheinlich ist. Dennoch können ua die An- sichten dieser Nonne über das Motiv eines Verbrechers und die angebrachte Strafe mit diesem Zwischenschritt zusammenhängen.207 Kausalerklärungen müssen als Implikationen (Subjunktionen) symbolisiert werden, ob- wohl nicht alle Implikationen ein Kausalverhältnis ausdrücken. Es ist unproblematisch, dass es nur zulässig ist, einen Gliedsatz mit „weil“, „da“ usw einzuleiten, falls dieser Satz auch mit „wenn“ eingeleitet werden kann, ohne seine Bedeutung dadurch völlig zu ändern. Dh Kausalsätze spezifizieren die Bedeutung eines ihnen zugrundeliegenden Konditionalsatzes. Das Problematische daran sind eventuelle Pseudoerklärungen, die auf nicht kausalen Verknüpfungen beruhen. Naturnotwendigkeiten von begrifflichen Notwendigkeiten zu unterscheiden, ist, scheint mir, nicht immer einfach. Um zum Beispielbegriff „Schwes- ter“ zurückzukehren, folgt es nicht aus dem Begriff der Schwester, ist aber mE ein vollwertiges Erklärungsprinzip der Mediävistik, dass Frauen im Mittelalter Männern gegenüber in der Sphäre des öffentlichen Lebens fast immer benachteiligt wurden. Die- ses Erklärungsprinzip ist eine gesetzesartige Aussage, die eine einem statistischen Ge- setz gleichkommende Induktion darstellt, somit auch der Beschreibung einer Naturnot- wendigkeit ähnlich, da der Mensch als Kulturwesen ua auch soziokulturell geprägt ist. Dass sich solche kulturelle Bedingungen ändern können, bedeutet nicht, dass sie nicht Ereignisse verursachen, wie sich auch die Zusammensetzung der Erdatmosphäre ändern kann und dennoch eine notwendige Bedingung vieler Prozesse ist. Ich glaube, dass kul- turell bedingte Sachzwänge ähnlich einer Naturnotwendigkeit wirken können, solange Kulturveränderungen infolge der Machtverhältnisse nicht machbar sind.

206Theodor Bucher: Einführung in die angewandte Logik. Berlin: De Gruyter 1987, 154-155 207aaO 153-154

234 Da die meisten sozialwissenschaftlichen Erklärungsregeln aber viele Ausnahmen auf- weisen, wenngleich sie sich nur auf einen bestimmten soziokulturellen Kontext bezie- hen, empfiehlt es sich, sie mit Existenzquantifikationen zu symbolisieren. Nicht statisti- sche Naturgesetze hingegen werden in der Sprache der modernen Logik als Allquantifi- kationen dargestellt. Somit lässt sich das Hempel-Oppenheim-Schema auf Einzelfallerklärungen anwenden, indem man symbolisiert, dass eine bestimmte Verursachung möglich ist und manchmal gegeben war. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass man nicht zwei unterschiedliche Einzelereignisse vermengen soll. Enthält eine historische Erklärung etwa eine Aussage über einen Krieg und etwas Unbeliebtes, dürfen wir nicht glauben, dass der Krieg an sich unbeliebt war. Eliminiert man mehrere Existenzquantoren aus den Prämissen eines bestimmten Explanans, muss man für jede Prämisse eine andere Einsetzungskonstante verwenden (Bucher 177). Auf diese Weise schließen wir auf eine wahrscheinliche Er- klärung für die Unbeliebtheit Ludwig des XIV. (siehe Kapitel 8) aus den gesetzesartigen Existenzaussagen „Nach verlorenen Kriegen wird gewöhnlich nach Sündenböcken ge- sucht und auch Politiker können zu solchen werden“ und „Kriege pflegen dem öffentli- chen Wohl und der Zufriedenheit schaden, insbesondere wenn sie hohe Kosten und nur geringen Nutzen verursachen“ und der Antecedensbedingung, dass dieser König ein- deutig für mehrere blutige Kriege verantwortlich war. Weiß man, dass keine andere Ur- sache für Unpopularität etc gegeben sein kann, lässt sich auch eine eindeutige Dedukti- on des zu erklärenden historischen Einzelfalls aus seinen Prämissen erreichen und somit ein leicht verändertes Hempel-Oppenheim-Schema ohne Allsatz anwenden. Versuchen wir nun eine Symbolisierung dieses Gedankenganges. Die erste gesetzesartige Aussage über Sündenböcke und verlorene Kriege werde fol- gendermaßen dargestellt: ∃x (Kx è (Px è Sx)), die zweite gesetzesartige Aussage über kostspielige Kriege und verbreitetes Unzufriedenheitsgefühl hingegen so symboli- siert: ∃y ((Vy ∧ Wy) è Uy). In dieser Symbolisierung bedeutet K einen verlorenen Krieg, P einen Politiker, S einen Sündenbock, V etwas Verlustreiches, W eine bewaff- nete Auseinandersetzung und U weit verbreitete Unzufriedenheit. Zuverlässige Quellen bezeugen eindeutig, dass alle sechs soeben symbolisierten Aussagen tatsächlich der Fall waren. Setzt man in die erste Formel für die Variable x die Konstante l (Abkürzung für Ludwig

235 XIV.) ein, erhält man eine Aussage über eine mögliche Verursachung der Abneigung gegen diesen König. Ersetzt man in der zweiten Formel die Variable y durch die Kon- stante f (Abkürzung für Frankreich), erhält man eine weitere Aussage über potentielle Unzufriedenheitsgründe seiner Untertanen. Auf Grund psychologischer Forschungen weiß man auch, dass Niederlagen Frustration hervorrufen und daher oft Aggressivität verursachen.208 Es handelt sich also um zwei wahre Aussagen über mögliche Stimmungsschwankungen im französischen Barock, wobei andere Ursachen der Unpopularität des „Sonnenkö- nigs“ unwahrscheinlich bleiben, aber nicht völlig ausgeschlossen sind. Die empirische Überprüfung psychologischer Prozesse ist freilich wegen der Fragwürdigkeit von Selbstdarstellungen und Verhaltensinterpretationen nur in begrenztem Ausmaß möglich. Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass eine Verallgemeinerung aus ihnen nicht ableitbar ist, auch wenn man wie bei unserem Beispiel weiß, dass die verwendeten Im- plikationen sicher zutrafen und man den Existenzquantor daher weglassen darf. Im Weiteren kann man davon ausgehen, dass Enttäuschung über und somit auch Unzu- friedenheit über den tatsächlichen Kriegsverlauf geherrscht haben müssen. Bekanntlich hatte eine Mehrzahl von Franzosen viel in den Kampf investiert und waren enttäuscht gewesen, da ihre Pläne vereitelt wurden, ohne dass ein Ersatz in Sicht gewesen wäre. Dass es nur wenige engagierte Soldaten oder Untertanen geben sollte, ist für barocke Sozialgefüge nicht besonders typisch. Die Existenz einer allgemeinen Unzufriedenheit wird durch diesen einfachen Syllogismus nachgewiesen, zumal lustlose Untertanen erst recht unter den Belastungen gestöhnt haben werden. Es bleibt noch zu fragen, warum die Schuld ausgerechnet beim König gesucht wurde, wie glaubwürdige Quellen berich- ten. Ich vermute, dass seine persönliche Verantwortung für die verstimmten Massen of- fensichtlich war. Also ist die von uns deduzierte statistische Erklärung alles in allem sehr plausibel. Diese Deduktion funktioniert am besten, wenn alle denkbaren relevanten Bedingungen eines Ereignisses bekannt sind, so dass man weiß, dass eine bestimmte Verursachung der Fall war. Sind mehrere Ursachen für dasselbe Ereignis denkbar, gilt doch, dass man weiß, dass solche Ursache-Wirkung-Verbindungen in ähnlichen Kontexten existierten

208Vgl John Dollard et alii: Frustration and Aggression. New Haven: Yale University Press 1939; auch https://de.wikipedia.org/wiki/Frustrations-Aggressions-Hypothese (Abrufdatum: 6.11.2017, 11:41 Uhr)

236 und deshalb mit einer bestimmten, ungefähr abschätzbaren Wahrscheinlichkeit der Fall waren. Dann muss man sich allerdings damit begnügen, einen bloß wahrscheinlichen Zusammenhang in Bezug auf das zu erklärende Ereignis zu konstatieren. Schließlich werden statistische Erklärungen auch in der Physik akzeptiert.209 Bei der Anwendung des H-O-Schemas lässt sich in bestimmten Fällen die klassische Aussagenlogik durch eine Form der Modallogik ersetzen. Weiß man in Folge einer Fül- le von Daten genau, dass nur eine denkbare Ursache vorgelegen haben mag, kann man aus der logischen Unmöglichkeit von „Wenn P, dann Q“ auf die Notwendigkeit der Ne- gation dieser Aussage schließen und diesen Schluss so lange wiederholen, bis man die Ursache eines historischen Ereignisses eindeutig identifiziert hat. Wenn das Datenmate- rial schlechter und umfangärmer ist, empfiehlt sich der Übergang zu Wahrheitsmatrizen vierwertiger Logik. Etwa ist es logisch möglich, dass wir es in einer geisteswissen- schaftlichen Erklärung mit einem notwendigen Kausalnexus zu tun haben, obwohl wir uns dessen aufgrund unserer unvollkommenen Tatsachenkenntnis nicht sicher sein kön- nen.210 Auch die Ergebnisse der Theorie der Relationen lassen sich auf humanwissenschaftliche Erklärungen anwenden. Diese befassen sich regelmäßig mit non-reflexiven, non- symmetrischen und non-transitiven Verbindungen, aber nicht immer, da in der Philoso- phiegeschichte ausgerechnet Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen zwei Den- krichtungen sowie Nachfolgebeziehungen zum Explanandum werden können. Manche Erklärungen beziehen sich auf Phänomene mit dem Charakter einer mathematischen Funktion. Dies ist etwa bei der Behandlung von Vaterschafts- und Rezeptionsbeziehun- gen der Fall, obwohl Geisteswissenschaftler dies nicht quantitativ ausdrücken. Die ein- deutige Zuordenbarkeit von Aristoteleszitaten zu Platotexten, die sie anregten, kann zur Feststellung eines eindeutigen Ursache-Wirkung-Zusammenhangs beitragen.211 Dass unzureichend begründete Verallgemeinerungen im Explanans der Erklärung einen Trugschluss bewirken können, lässt sich nicht leugnen. Das würde in historischen Er- klärungen (Retrodiktionen) zu ähnlich absurden Konsequenzen führen, wie der Fehl- schluss, dass Diamanten billig seien, da sie Steine und da Steine billiges Baumaterial

209Theodor Bucher: Einführung in die angewandte Logik. Berlin: De Gruyter 1987, 64-67, 164-177; vgl: Torsten Fließbach (2006): Lehrbuch zur Theoretischen Physik: Statistische Physik. sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Statistische_Mechanik (2.11.2017, 15:45 Uhr) 210Theodor Bucher: Einführung in die angewandte Logik. Berlin: De Gruyter 1987, 241-243, 252-254 211aaO 227-230, 234-235, 238

237 seien. Der hier zitierte Fehlschluss, ein typischer Quaternio terminorum, kann schon dadurch auftreten, dass man harmlos wirkende Verallgemeinerungen zulässt, etwa an- nimmt, jeder Krieg sei hauptsächlich aus ökonomischen Gründen geführt worden. Die Existenz des Fanatismus würde aber durch diese Generalisierung geleugnet, so dass ein falsches Explanans vorläge, das auch durch seinen eigenen empirischen Gehalt leicht zu widerlegen wäre. Verallgemeinerungen können zu einem Quaternio terminorum führen, wenn sie sehr unzutreffend sind. Denn die schwammige Ausdrucksweise von Alltags- gesprächen könnte sowohl als Allaussage als auch als Existenzaussage über ein Subjekt und mindestens ein Prädikat verstanden werden und so zu Ableitungsfehlern führen. Als Beispiel dafür sei angeführt, dass Sätze wie „Musik ist schön“ Ausnahmen zulassen könnten. Das ermöglicht aber in derselben Weise eine Begriffsverwechslung, wie wenn die Verwendung eines Wortes mit zwei Bedeutungen, zwischen welchen der Argumen- tierende nicht unterscheidet, zu einem Trugschluss führt.212

212aaO 146-147

238 Kapitel 10 – Die Begründbarkeit von moralischen Urteilen im Zusammenhang mit geisteswissenschaftlichen Erklärungen

Die Meinung, jede wissenschaftliche Erklärung solle eine Tatsachenbehauptung sein, ist schon längst zu einem Gemeinplatz des wissenschaftstheoretischen Diskurses gewor- den. Dennoch gilt es ebenfalls als selbstverständlich, dass man sich daneben mit Wert- urteilen auf das von Geisteswissenschaften Erklärte bezieht. Werturteile des Forschen- den müssen aber in geisteswissenschaftlichen Texten explizit als solche gekennzeichnet sein und dürfen nicht wie Tatsachenfeststellungen auftreten. Die Werturteile der erforschten Personen sind hingegen ein wichtiger Faktor der zu er- klärenden sozialen Realität und müssen bei statistisch-psychologischen Überlegungen ebenso wie bei Erklärungen mittels praktischer Syllogismen gleichermaßen in den Prä- missen und/oder im Explanandum selbst berücksichtigt werden. Unter dem Gesichts- punkt von Werturteilen im Objektbereich der Untersuchung ist es auch eine legitime wissenschaftliche Fragestellung, inwieweit die Werturteile der von den Geisteswissen- schaften Erforschten vernünftig und für wen sie nützlich waren. Dies zu behandeln, wä- re kein bloß subjektiver Anteil in Forschungsberichten. Die nun folgenden Textteile sollen aufzeigen, dass moralische Urteile mit geisteswis- senschaftlichen Erklärungen nach dem H-O-Schema in Verbindung gebracht werden können. Letztere helfen uns nämlich Motive und Gesinnungen von Handelnden nachzu- vollziehen und als vernünftig oder unvernünftig zu qualifizieren. Dazu gibt es zahlrei- che Überlegungen der Klassiker der Philosophiegeschichte, von denen nur einige als besonders wirkmächtig ausgewählte Gedanken vorgestellt seien: Mill nahm den Gedanken der werturteilsfreien Sozialwissenschaft schon teilweise vor- weg und brachte ihn im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Alles was in Regeln oder Vor- schriften, nicht in Aussagen über Tatsächliches spricht, ist Kunst; und die Ethik oder Moral ist eigentlich ein Teil der Kunst, welche den Wissenschaften von der menschli- chen Natur und Gesellschaft entspricht.“213 Mill kannte schon den floskelhaften Truismus späterer Diskussionen, dass Wissenschaf- ten die adäquaten Mittel zur Erreichung von (etwa von der Kunst) vorgegebenen Zielen liefern können. Dem fügt er hinzu, dass es in so komplizierten Angelegenheiten wie der

213John Stuart Mill: Zur Logik der Moralwissenschaften. Frankfurt am Main: Klostermann 1997, 170.

239 Politik töricht wäre, sich auf nicht wissenschaftlich argumentierbare Regeln zu verlas- sen. Außerdem weiß er, dass sich Menschen natürlich auch fragen, was wünschenswert ist. Er schafft es, uns eine sehr allgemeine, aber sehr wohl zutreffende Feststellung zu diesem Thema zu hinterlassen: „ (...) denn gäbe es mehrere letzte Grundsätze des Ver- haltens, so könnte es geschehen, dass dasselbe Verhalten von einem dieser Grundsätze gebilligt und von einem anderen verurteilt würde, und es würde immer noch eines all- gemeineren Grundsatzes als Schiedsrichters zwischen ihnen bedürfen.“214 Zur Erklärung seines Eudämonismus (dh seiner am Glücksziel orientierten Ethik) defi- niert er den edlen Charakter, indem er ausführt: „Ich will damit nicht behaupten, dass die Beförderung von Glück an sich selbst das Ziel aller Handlungen oder auch nur aller Handlungsweisen sein sollte. Sie ist die Rechtfertigung aller Ziele und sollte die oberste Leitung über sie innehaben, doch sie ist nicht selbst das einzige Ziel.“215 Dies ist mE eine analytische Wahrheit, weil es ein Selbstwiderspruch ist, anzunehmen, dass etwas für jemanden ein Glück sei und dennoch nicht wünschenswert für ihn. Aller- dings ergeben sich dennoch Bewertungsprobleme, da man kaum bestreiten wird, dass etwas Beglückendes auch unangenehme Nebenwirkungen haben und im Rahmen sozia- ler Interaktionen für den einen Menschen eine Freude und für einen anderen ein Leid sein kann. An beides versuchen die meisten historischen Akteure zu denken, was bei Erklärungen mit Hilfe von praktischen Syllogismen zu berücksichtigen ist (vgl Kapitel 4). Geisteswissenschaftliche Erklärungen haben daher, wie ich betonen möchte, auch die Entstehung von Wertvorstellungen und Bräuchen zum Gegenstand. Die objektive Gültigkeit von Wertvorstellungen lässt sich in diesem Zusammenhang schon deshalb diskutieren, weil gesellschaftliche Gewohnheiten kontraproduktiv bzw Werturteile wi- dersprüchlich sein können.

214aaO 171-173, 176, 179 (Zitat 179) 215aaO 180

240 10b) Praktische Syllogismen im Vergleich mit anderen Argumenten Vergleicht man praktische Syllogismen mit anderen Schlüssen, erkennt man laut Ota Weinberger, dass auch die ersteren schematisierbar sind und die aus ihnen zu ziehende Konklusion aus ihnen zwingend folgt. Von Wright nahm dies ebenso an, obschon er da- rauf einging, dass aus einer falschen Prämisse eines praktischen Syllogismus eine fal- sche Konklusion folgen muss. Auf dieses Problem beziehen sich viele gesellschaftskri- tische Ansätze, welche eine Prämisse einer zweckrationalen Überlegung, zB übertriebe- nes fast rücksichtsloses Profitstreben von Unternehmen, verwerfen, wenn sie eine ver- änderte Handlungsweise fordern. In einer derartigen Diskussion über Unternehmens- strategien würde wohl auf ein höheres Gut wie die Gesundheit der Anrainer (Beispiel von mir) hingewiesen werden. Auch Weinberger erwähnt die Möglichkeit der Rekonstruktion der Beweggründe von Personen an Hand ihrer Handlungen (Weinberger 136). Ich glaube, dass man bei der Anwendung dieser Methode regelmäßig die Wertvorstellungen der Handelnden bzw bei geistig abnormen Verbrechern deren Abwesenheit zu berücksichtigen hat. Etwa schei- nen mir ausgerechnet Wertvorstellungen, die im Zusammenhang mit dem Beruf des Of- fiziers stehen, eine wesentliche Bedingung von Entscheidungen über die Dauer von Kriegen gewesen zu sein. Bei derartigen Diskussionen kann man davon ausgehen, dass das bloße Verfolgen eines bestimmten Zwecks dazu ausreicht, ein Streben nach den Mitteln zum Zweck hervorzu- rufen, worauf schon Kant hingewiesen hat (aaO 137). Ein Entscheidungsproblem ergibt sich sowohl in alltäglichen als auch in historischen Handlungskontexten zuweilen dar- aus, dass ein Ziel mit mehreren Mitteln erreicht werden kann (siehe Kapitel 4), dass es etwa eine große Enttäuschung für einen nach Genuss Strebenden bedeuten kann, über Salz zu verfügen, nicht jedoch über Brot; notwendige, aber nicht hinreichende Bedin- gungen zu einem Ziel sind laut Weinberger nicht unbedingt erstrebenswert. Dieser Normentheoretiker erkennt außerdem, dass die Mittel zum Zweck nur dann ver- nünftigerweise erstrebt werden, wenn sie zusammen mit dem Zweck insgesamt nützlich für den Handelnden oder dessen höchstes Gut sind. Beispielsweise wären aus diesem Grund populäre Bau- und Sozialmaßnahmen (wie Pensionserhöhungen), welche zum Staatsbankrott führen, abzulehnen (Beispiele von mir). Ähnliches gilt für unmenschli-

241 che politische Maßnahmen, die sich laut von Wright keineswegs durch kleinere sozial- technische Verbesserungen rechtfertigen lassen. Weinberger schreibt zutreffend Folgendes über praktische Syllogismen: „Sie sind „ra- tionale Rekonstruktionen“ der handlungsbestimmenden Informationsverarbeitung, nicht verallgemeinerte Beschreibungen handelnder Personen.“ (aaO 141)216

10c) Mittel, Zwecke und Paradoxien des Egoismus Eine gegenseitige Abhängigkeit von teleologischen und kausalen Zusammenhängen ist auch bei der moralischen Handlungsbegründung festzustellen (vgl aaO 142). Denn es ist eine Frage von empirischen Kausalverhältnissen aller Art, welche Mittel zur Verwirkli- chung einmal gewählter Ziele wie des ewigen Friedens oder der Vollbeschäftigung bei- tragen. Derartige Ziele sind zT Selbstzweck, meistens aber von einem höheren Ziel wie dem Glück, das in der sozialen Harmonie besteht, abgeleitet. Ein Ziel ist, wie Weinberger betont, stets als etwas Positives und Wertvolles definiert. Zwei Ziele können einander entweder gleichwertig sein oder es kann eine eindeutige Priorität zugunsten eines von beiden bestehen. Insgesamt entscheidet man sich vernünftigerweise immer für die Vor- gangsweise, bei welcher ein optimales Verhältnis zwischen dem Nutzen, den das Ziel bringt, und den Kosten und Bemühungen, die mit den Mitteln verbunden sind, anzu- nehmen ist (aaO 145). Allerdings gehen die meisten Handelnden von einem komplexen Zielsystem aus, so dass es schwierig ist, ihre Entscheidungen zu rekonstruieren, und man laut Weinberger meist eine nur teilweise Analyse vornimmt. Erklärt man etwa die Verhaftung des damaligen Papstes durch Napoleon I., werden gewisse machtpolitische Überlegungen im praktischen Syllogismus nicht alle Bestrebungen Napoleons zum Ausdruck bringen (Beispiel von mir). Handlungsweisen geben Hinweise auf Motive, wie Motive Taten nahelegen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Konklusion eines praktischen Syllogismus relativ zu den Prämissen „rational zwingend (aaO 147)“ ist. Ich bin überzeugt, dass aus diesem Grund Wertvorstellungen wie der Glaube, etwas Besonderes leisten zu müssen, in soziokultu-

216Ota Weinberger: Alternative Handlungstheorie. Gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Georg Henrik von Wrights praktischer Philosophie. Wien: Böhlau 1996, 132, 135-138, 140

242 rellen Kontexten nicht selten die eigentliche Triebfeder sind, obwohl auch egoistisches Suchtverhalten (wie Geldgier) das zu rekonstruierende Motiv eines historischen Akteurs sein kann. Überhaupt kann handlungsbestimmendes Denken auf sehr ungewöhnlichen Zielen beruhen. Aktivitäten sind demnach regelmäßig die Realisierung des Ergebnisses einer Kette von Überlegungen, deren Ziele sich mE schon deshalb als weise oder töricht bewerten lassen, weil konsequent egoistische Lebensweisen riskant sind und langfristig erfahrungsgemäß nicht gut funktionieren (siehe unten).217 Bei der wissenschaftlichen Erklärung der Entstehung von Normen lässt sich deshalb auch auf die kantsche Denkfigur der inneren Widersprüchlichkeit aller bösen Maximen zurückgreifen. Eine Überschätzung der eigenen Wichtigkeit unterläuft einem überzeug- ten Egoisten gewiss immer, wenn er etwas plant. Ebenso wird man einsehen müssen, dass vordergründig rationale, selbstsüchtige Verhal- tensweisen wie Schwarzfahren (Beispiel von Tim Henning) nur vom Erfolg gekrönt sein können, wenn sie die Ausnahme sind: Der öffentliche Verkehr würde in Konkurs gehen, wenn niemand Fahrkarten kaufte. Dass ein derartiges schädliches Verhalten für manche Menschen erstrebenswert ist und für andere nicht, lässt sich ebenso wenig ein- sichtig machen. Die finanzielle Ersparnis würde allen Menschen gleichermaßen zu einer kleinen Freude verhelfen. Wäre es legitim, aus Geldgier schwarzzufahren, wäre es aus demselben Grund legitim, von Fahrgästen, die den Transport dringend brauchen, einen unverschämt hohen Preis zu verlangen. Dieses Beispiel zeigt eindeutig den potentiell selbstgefährdenden und also irrationalen Charakter aller unmoralischen Handlungen.218 Ich sehe im Zusammenhang mit dieser zeitlosen Fragestellung und der Formulierung des kategorischen Imperativs, der nachweist, dass man nicht egoistisch sein soll, auch den Gesichtspunkt der Gefährdung der Funktion sozialer Systeme, deren Kollaps zu be- fürchten ist, wenn ihre Angehörigen ernsthaft danach streben, einander zu übervorteilen. Diese Überlegung kann mE bei der Entstehung von Regeln des Zusammenlebens aller Art von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Etwa würde der Bankrott der Eisen- bahn ihren Stammkunden noch mehr schaden, als dies ein hoher Preis dem gelegentli- chen Schwarzfahrer anzutun vermöchte. Auf diese Art und Weise können geisteswis- senschaftliche Erklärungen mE nicht nur die Entstehung sozialer Normen rekonstruie-

217vgl aaO 142-143, 145-148 218Tim Henning: Kants Ethik. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam 2016, 13-15

243 ren, sondern ausgehend von deren Möglichkeiten und Interessen ihre Funktionalität und Zweckdienlichkeit für die Mitglieder eines gegebenen Gesellschaftssystems nachwei- sen. Bei dieser Erklärung der Zweckmäßigkeit von Normen und Werturteilen gerät man al- lerdings auf das Gebiet der Metaphilosophie (Weinberger 284), wenn nach der Berech- tigung der philosophischen Analyse selbst gefragt wird. Im Rahmen wissenschaftstheo- retischer Diskussionen kann man dieser Problemverlagerung mE ausweichen, indem man einen pragmatischen Zweckmäßigkeitsbegriff verwendet, wozu es zB ausreicht, sich auf objektive Faktoren wie die Interessen der ehrlichen Transporteure und Kunden des öffentlichen Verkehrs zu berufen.

10d) Handlungstheorie und Handlungsgründe Derartige wissenschaftstheoretische Diskussionen erfüllen damit die von Weinberger in seiner Handlungstheorie erhobene Forderung, es habe bei der Analyse von bewusst aus- geführten Taten nicht bloß um Fragen des Sprachgebrauchs, sondern um Strukturen zu gehen, die Problemsituationen zu Grunde liegen. Dafür ist es nicht nur in moralisieren- den Erörterungen, sondern auch in Studien über soziokulturell mitbedingte Rechte und Pflichten von Personen erforderlich, über eindeutige Begriffe des Sollens und Dürfens zu verfügen (vgl Weinberger 298). Die Handlungsgründe einer Person sind als Mitursa- chen ihres geplanten Verhaltens zu betrachten, ohne die es keine vollwertige Erklärung gibt, wobei die Absichten dieses Subjekts einschließlich seiner Werturteile ein Aus- druck seiner relevanten inneren Aktivität sind (vgl aaO 299). Entscheidungen lenken diese innere Aktivität in geordnete Bahnen ua deshalb, da Informationen unser Verhal- ten mitbestimmen. Darauf beruht die Rekonstruktion historischer Ereignisse mit Hilfe von praktischen Syllogismen ebenso wie die Begründung von Strafbarkeitsbehauptun- gen, die auch zu den Aufgaben von Geisteswissenschaftlern zählen kann. Allerdings sind Werturteile im letzteren Fall explizit zu machen und von Tatsachenbehauptungen zu trennen. Weinberger bemerkte Folgendes zu Recht über die Begriffe, die ein Hand- lungstheoretiker benötigt: „Wenn man Handeln nicht nur von der Seite der Argumenta- tionsstruktur, sondern als reale Erscheinung betrachtet, sind es vor allem die Beziehun-

244 gen zwischen den persönlichen Handlungsdeterminanten des Einzelnen und determinie- renden gesellschaftlichen Relationen.“ (aaO 301). Ich glaube, dass ein goldener Mittelweg zwischen zu individualistischer und zu kollek- tivistischer Auffassung der Einflüsse auf die bewusste Handlungsplanung und die mit ihr verbundenen Werturteile ein wesentliches Element der Optimierung vieler geistes- wissenschaftlicher Erklärungen darstellt.219 Diese Erklärungsoptimierung soll von der folgenden anthropologischen Einsicht ausge- hen: Allgemein gilt für Tätigkeiten, die man von einem moralischen oder sozialtechni- schen Standpunkt aus als richtig oder falsch beurteilen kann, dass sie ua auch auf ab- sichtlich-bewusste Informationsverarbeitungsprozesse zurückgehen. Eine weitere Ana- lyse von Bedingungen soziokultureller Ereignisse mit dem Ziel, sie nach dem H-O- Schema zu erklären, wendet daher wissenschaftliche Theorien auf das handlungsbezo- gene Denken an, wie Präferenzlogik, Teleologie und Normenlogik. Dh die Interpretati- on der Motive durch einen Geisteswissenschaftler bezieht sich auf Überlegungen, die Entscheidungen vorausgegangen sein können bzw müssen.220 Weiters gehen geisteswissenschaftliche Erklärungen davon aus, dass zu bestimmten Zeitpunkten mehrere Vorgangsweisen möglich sind (vgl Kapitel 4). Nur wenn das der Fall ist, können Ereignisse als mehr oder weniger vernünftig und lobenswert charakteri- siert werden (vgl Weinberger 97). Vernünftige Entscheidungen werden bei der Beurteilung von Menschen im Allgemei- nen vorausgesetzt. ME beweisen schon die im Alltag und in den Geisteswissenschaften beobachteten Verhaltensregelmäßigkeiten, dass eine bloß willkürliche Auswahl zwi- schen Handlungsmöglichkeiten nicht die Regel sein kann. Also muss von begründeten Entscheidungen ausgegangen werden, zu deren Wahlprinzipien neben den kognitiven Überzeugungen des Handelnden im engeren Sinn auch seine Einstellungen zählen. Als Beispiel für diese Rolle der Einstellungen führe ich an, dass Weltanschauungen und mit ihnen zusammenhängende Gefühle ein Faktor im Entstehungsprozess von Kunstwerken sind (aaO 98).

219Diese Passage knüpft noch einmal an das vierte Kapitel dieser Dissertation an. Ota Weinberger: Alternative Handlungstheorie. Gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Georg Henrik von Wrights praktischer Philosophie. Wien: Böhlau 1996, 284, 294, 297-301 220vgl aaO 102

245 Unabhängig von der Art der Entscheidungen, die Verhaltensweisen vorausgehen, und der Art der damit zusammenhängenden Einstellungen, geht es, formal gesehen, stets um denselben Wahlprozess. Dies sei von mir durch das Beispiel illustriert, dass zwei öster- reichische Parteien, ausgehend von ihrem Programm, nach identischen Denkoperatio- nen inhaltlich unterschiedliche Gesetzestexte formulieren (vgl aaO 100). Maßnahmen und Entscheidungen beziehen sich regelmäßig auf eine Reihe von einzel- nen Taten (aaO 112), wie bei einer längeren Autofahrt sind bei ihnen mehrere Ent- schlüsse notwendig: Damit hängt ua das Problem zusammen, dass Geisteswissenschaft- ler neben Grundsatzentscheidungen auch Beschlüsse über die Umsetzung von Plänen zu erklären haben (Beispiele von mir). Ein Zitat soll zeigen, was sowohl zu jeder morali- schen Beurteilung als auch zu jeder Erklärung nach dem H-O-Schema gehört, sofern sie sich auf menschliches Verhalten beziehen: „Zur Erkenntnis der Handlung muss neben die Feststellung des beobachteten Verhaltensablaufes die deutende Rekonstruktion der Handlungsüberlegung treten.“ (aaO 113). Erklärung ausgehend von Motiven lässt sich aus der Geschichtswissenschaft nicht wegdenken, führt aber regelmäßig zum Problem einer nur unvollständigen Verifizierbarkeit (vgl aaO).221

10e) Präferenzentscheidungen und Einflüsse auf sie Derartige Erklärungen beschäftigen sich regelmäßig mit Präferenzentscheidungen, etwa dem Entschluss eines Politikers, aus religiösen Gründen Frieden statt Rache zu erstre- ben (Beispiel von mir). Bei moralischen Bewertungen spielen Intentionen ebenso wie Handlungsergebnisse eine Rolle, was ich an Hand des Unterschieds zwischen Jagdun- fall und Mord veranschaulichen möchte. Dies zeigt mE auch, dass ähnliche Absichten nur ein Teil des Bedingungsgefüges ähnlicher Einzelhandlungen sind. Wie Weinberger bemerkt, lässt sich empirisch feststellen, dass gewisse Vorkommnisse wahrscheinlich bewusste Taten sind, wenn sie regelmäßig in Zusammenhang mit bestimmten Informa- tionen auftreten. Als Beispiel sehe ich das Wahlverhalten von Stimmbürgern in Abhän- gigkeit von den von ihnen konsumierten Massenmedien an. Damit hängt auch eine wei- tere These Weinbergers zusammen, nämlich die, dass Institutionen die Einstellungen von Einzelnen teilweise beeinflussen (aaO 114-115).

221aaO 97-98, 100, 112-113

246 Natürlich wirken auch Individuen auf Institutionen zurück. All das ist nicht nur bei mo- ralischen Beurteilungen zu berücksichtigen, sondern auch bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen. Als Beispiel dafür wäre die moralische und soziologische Beurteilung der kulturgeschichtlichen Wirksamkeit eines Berühmten, der eine Reform durchführte, wo- bei eine Einrichtung wie die Universität für ihn ein „Handlungsrahmen“ (Formulierung von Weinberger) war. Ebenso spricht die Erfahrung dafür, dass Normen aller Art not- wendige Bedingungen bestimmter Handlungsweisen sind. Ich brauche nicht zu betonen, dass sich daher auch „wertfreie“ Sozialwissenschaften auf die Wertvorstellungen von Handelnden zu beziehen haben, insbesondere auf ihre Zweck-Mittel-Überlegungen. Mein Beispiel dafür ist, dass der Zweck der Profitmaximierung in der Wirtschaftsge- schichte zusammen mit dem Mittel der Entlassung von Angestellten eine konkrete Maßnahme erklärt (vgl aaO 116). Gewollte Sachverhalte und Wahlakte sind offensichtlich eine Bedingung der Handlun- gen, die man als sozial nützlich oder schädlich zu beurteilen pflegt. Das Zwecksystem des Handelnden ist daher eine wichtige Prämisse moralphilosophischer Syllogismen und geisteswissenschaftlicher Erklärungen. Dabei sind die Beziehungen zwischen den Zwecken von Menschen zu berücksichtigen. Als Beispiel nenne ich einen ungerechten König, der Waffen kauft, um Krieg zu führen, nur um berühmt zu werden. Selbstwider- sprüche in den Vorstellungen historischer Akteure sind ebenso ein Element von geis- teswissenschaftlichen Explanantia wie das Umdisponieren von im öffentlichen Leben Aktiven aufgrund von Zwischenergebnissen ihrer Tätigkeit. Beides ist auch für das mo- ralische Urteil relevant. Das kann man an folgenden Beispielen von mir sehen: Reaktio- nen auf verlorene Schlachten können fatal oder nützlich sein; unmögliche Wünsche, zB Kriege mit schnellen dauerhaften Erfolgen ohne größere Verluste und mit für Soldaten positiv bereichernden Abenteuern, sind dennoch Motive, die ihr Unwesen treiben. Oft lassen sich Motive weiter auf Bedürfnisse zurückführen, was ein von Schopenhauer stammender Gedanke ist.222 Der urteilsähnliche Charakter des Willens, der eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung bewussten Handelns ist, ist mE eine unproblematische Voraussetzung bei der Erklärung mit Hilfe von Motiven. Auch Indeterministen behaupten nicht (Weinber- ger 189), dass Entscheidungen unabhängig vom Wissen und den Einstellungen des täti-

222aaO 114-116, 118, 120, 122, 124, 126

247 gen Subjekts sind. Unser Erleben spricht dafür, dass jeder Mensch trotz dieser Beweg- gründe regelmäßig mehrere Handlungsmöglichkeiten hat. Jedenfalls sind soziokulturel- le Ereignisse mE niemals nur von äußeren Umständen determiniert, sondern immer auch vom Subjekt im weitesten Sinn des Wortes (vgl Kapitel 4). Dies sollen die folgenden beiden Zitate verdeutlichen: „Jeder Akteur erlebt es, welche Momente seine Handlungsentscheidungen bestimmen; es sind Momente von Informati- onscharakter, nicht physikalisch-chemische Zustände, wie es die bedingenden Umstän- de kausaler Gesetze der Naturwissenschaften sind.“ (aaO 191) „Mit der empirisch - dierten These von der Existenz von Handlungsspielräumen ist die Konzeption verbun- den, daß durch einen Informationsprozess - auf Informationsprozessen gegründeten Se- lektionsprozess - zwischen den zur Verfügung stehenden Alternativen entschieden wer- den kann. (aaO 193) Dies ermöglicht offensichtlich sowohl das moralische Urteil, jemand sei mehr oder we- niger gewissenhaft, als auch die geisteswissenschaftliche Erklärung von Entscheidungen über Verhaltensalternativen, welche Wissenschaften wie der Ereignisgeschichte mE zu Grunde liegt. Allerdings bemerkte Weinberger ein dennoch existierendes Prognoseprob- lem: Handlungsspielräume entwickeln sich in Abhängigkeit von aus diversen Gründen indeterminierten Entwicklungen der Natur, der Gesellschaft und des Wissens sowie der Vorlieben des historischen Akteurs (aaO 194). Als Beispiele dafür nenne ich Klimaver- änderungen, Wirtschaftskrisen, wissenschaftliche Entdeckungen und die Sehnsucht nach Abwechslung: dies sind Faktoren politischer Entscheidungen, welche auch eine moralische Dimension haben. Weinberger erkennt (aaO 196), dass Informationen, die regelmäßig Randbedingungen von geisteswissenschaftlichen Erklärungen nach dem Hempel-Oppenheim-Schema sind, der Wissenschaft nicht immer bekannt sind. Diese Tatsache erschwert mE moralische Urteile etwa über die richtige Klimapolitik, die beste Bevölkerungspolitik und die opti- male Sozialpolitik sowie die angebrachte Höhe von Sozialleistungen. Laut Weinberger sind die praktischen Prinzipien, die der Ausnutzung der Handlungs- freiheit zu Grunde liegen, nicht einmal dem Tätigen so genau bekannt, dass absolut zu- treffende Prognosen möglich wären. Ich glaube indes, dass sich manche Verursa-

248 chungsmöglichkeiten dennoch als sehr unwahrscheinlich kennzeichnen lassen, da es der reine Wahnsinn wäre, sie zu verwirklichen.223 Weinberger charakterisiert Akteure folgendermaßen (aaO 201): „Es gibt ein lenkendes Informationssystem und ein gelenktes System des Handelns (der Realisation der Hand- lung) als Teilsystem des handelnden Subjekts.“ Er meint, dass das lenkende System auch die Entscheidungen ausgehend von Tatsa- chenwissen und Einstellungen fällt. Dies deckt sich mit der Theorie (vgl Kapitel 4), die geisteswissenschaftliche Erklärung operiere mit praktischen Syllogismen usw, um wahrscheinliche oder gewisse Motivkausalitäten festzustellen. Das moralische Urteil wird an den Einstellungen ansetzen, die laut Kant (siehe unten), wenn sie verfehlt sind, auch unlogisch sind. Die Informationen, welche eine notwendige Bedingung geplanten Handelns sind, sind eine auf materiell-neurologischen Begebenheiten basierende Tatsache, auch wenn sie sich als bloß latentes, aber abrufbares Wissen manifestieren (Weinberger 202). Bei allen geisteswissenschaftlichen Erklärungen ist zu berücksichtigen, dass keine unproblemati- sche Wiederholbarkeit von Taten gegeben ist, mit denen auf dieselben Reize reagiert wird; mE soll man daher stets von einer nicht restlos erkennbaren Entscheidungsfin- dung in einem System mit mehreren Freiheitsgraden ausgehen (vgl aaO 203). Die menschliche Entscheidung deute ich als Randbedingung geisteswissenschaftlicher Befunde, obwohl in der Erklärung eines soziokulturellen Ereignisses nach dem H-O- Schema zusätzlich eine Aussage über Notwendigkeiten bzw wesensmäßige Zusammen- hänge enthalten sein sollte. Allerdings ist nicht jedes Ereignis eindeutig determiniert. Daher scheinen mir bei der Erklärung von Interessenskonflikten etc meist ein statisti- sches Gesetz oder eine Augenmaßinduktion die Rolle der gesetzesartigen Aussage zu übernehmen. Bei der Beurteilung und Erklärung von Handlungen ist daher schematisch von Mög- lichkeiten im Rahmen von Notwendigkeiten auszugehen, wobei man aus Erfahrung weiß, dass manche logischen Möglichkeiten in bestimmten Kontexten dennoch ausge- schlossen sind (aaO 211). Über das moralische Urteil behaupte ich also, dass es nicht vom Motiv und den äußeren Umständen allein, sondern auch von der Vernunft des Be- troffenen abhängt, was geschieht. Gegen die Determination dieser Vernunft spricht wei-

223aaO 189-191, 193-194, 196-197

249 ters, dass sie nicht programmiert sein kann. Dieser Ansicht bin ich im Anschluss an Popper.224

10f) Selbstverständliches Wissen von Handelnden über Kausalität Wenn es um die Frage geht, ob ein Handelnder auf Grund eines bloßen Irrtums schäd- lich war, ist von seinem Wissen über vor allem naturgesetzliche, aber auch kulturbe- dingte deterministische oder statistische Kausalbeziehungen auszugehen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an einen möglichen Irrtum über die Brennbarkeit von Chemika- lien. Aber auch andere Entscheidungen wie etwa über eine Notlüge oder eine Steuerer- höhung beruhen gewöhnlich auf der Annahme eines Vorwissens zur Rechtfertigung solcher Entschlüsse. Manche gesetzesartige Aussagen, von denen Planende ausgehen, haben die Eigenschaft, sich nicht nur auf bestimmte Wirklichkeitsbereiche zu beziehen, sondern auf viele denkbare Welten. Das ist zB der Fall, wenn ich von der Ungiftigkeit jeder frischen gel- ben Zitrone für jeden gesunden Menschen ausgehe, und nicht nur von der vorläufigen Zitronenverträglichkeit meiner Bekannten. Diese Annahme schließt die Existenz von Lebensmittelallergien nicht aus. Man kann das einen intuitiven Kausalitätsglauben des Menschen nennen, der ihm vernünftiges ebenso wie bewusst moralisches Verhalten er- möglicht. Dadurch erkennen auch Nichtwissenschaftler Wesensbeziehungen, die auf lebensmittelchemische, genetische etc Naturgesetze ebenso zurückgehen können wie auf die Möglichkeiten der menschlichen Psyche. Etliche solche gesetzesartige Aussa- gen, von denen Handelnde überzeugt sind, sind allerdings Quasigesetze, die nur unter bestimmten Bedingungen gelten, eventuell mit gewissen räumlichen und zeitlichen Ein- schränkungen. Es gilt etwa zu Recht als selbstverständlich, dass sich viele Verhaltens- weisen nur in Kriegszeiten rechtfertigen lassen. Dass die Erklärung eines ganz bestimmten Ereignisses wie des Platzens eines Luftbal- lons notwendigerweise wahr ist, können wir nur wissen, wenn die Gesetzmäßigkeit auf der sie basiert, eine zutreffende Wesensaussage enthält (Weinberger 219). Schon aus diesem Grund können Verallgemeinerungen in Bezug auf menschliche Aktivitäten un- vernünftig bzw unmoralisch sein; erklärt eine Geisteswissenschaft hingegen etwa To-

224aaO 201-203, 205, 211

250 desursachen, sind ihre Behauptungen Sonderfälle eines allgemeinen Gesetzes und bei überschaubaren Systemen wissenschaftlich bewiesen. Normen und Wertvorstellungen sind nicht nur subjektiv für die jeweils Agierenden selbst ein Motiv, dies oder jenes zu tun bzw zu unterlassen, sondern auch für die Wis- senschaften vom Menschen (aaO 222). Ich weiß ua aus der eigenen Lebenserfahrung, dass der Wunsch, gelobt zu werden, ebenso motivieren kann wie die Hoffnung auf sinn- liche Genüsse. Dieses Motiv findet sich auch bei Weinberger wie folgende Faktoren der Erklärung von sozialen Ereignissen: die Vorbildwirkung, die Angst vor Strafen und die Bestimmung der Erwartungen einer Person an seine Mitmenschen durch gesellschaft- lich akzeptierte Normen (aaO).

10g) Maximen und Moralbegründung als Gegenstand bzw Komponente der Wis- senschaften vom Menschen Dieser Erscheinungsbereich ist mE ein weiteres Paradebeispiel der so oft zu beobach- tenden Wechselwirkungen zwischen den Individuen unter einander und mit den Grup- pen, welchen sie angehören. Einerseits werden Moralvorstellungen einer Person von ihren Mitmenschen und ihrem kulturellen Milieu geprägt, andrerseits wirkt auch der Einzelne ausgehend von seinen mehr oder weniger moralischen Einstellungen auf sozia- le Strukturen. Dies ist nun sowohl bei humanwissenschaftlichen Diskursen über Hand- lungsgründe als auch beim moralphilosophischen Urteil zu berücksichtigen. Es lässt sich als zweifelsfrei gesichertes Wissen feststellen, dass geplante Taten auch von dem abhängen, was man in Alltagsdiskussionen den Charakter eines Menschen nennt, und dass dieser Charakter auch den Umgang mit relevanten externen Reizen mo- difizieren kann; das allein ist für Weinberger auch eine Begründung für die Verantwor- tung des Menschen, der im Laufe seines Lebens an seinem Charakter arbeiten und be- dingungslos gemäß einmal akzeptierter, begründeter Normen handeln kann. (aaO 224). Dies scheint mir auch ein wichtiger Faktor geisteswissenschaftlicher Erklärungen zu sein, weil ich nicht glaube, dass ein anderer Grund als der Nationalstolz selbst gewisse Nationalitätenkonflikte verursacht hat. Damit hängt zudem zusammen, dass gesell- schaftliche Normen wie Ehrvorstellungen ebenso wie psychische Erkrankungen eine

251 Randbedingung geisteswissenschaftlicher Erklärungen und ein mildernder Umstand bei juristischen bzw moralischen Urteilen zu sein pflegen (vgl aaO).225 Kant hat in seinem moralphilosophischen Meisterwerk „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ Überlegungen hinterlassen, die auch für die heutige Sozialtheorie relevant sind, etwa hat er den Willen als die praktische Vernunft bestimmt (Henning 31). Da der Wille nichts anderes sein kann als die Fähigkeit, sich gemäß gewisser Prinzipien zu ent- scheiden, und ansonsten unsere Entscheidungen bloß instinktgesteuert oder zufällig wä- ren, lässt sich diese Definition nicht bestreiten. Zumindest die mit dem subjektiven Motiv einhergehende Vorstellung eines guten Handlungsgrundes begleitet jedes menschliche Tun (aaO 34). Kants berühmte Überle- gungen definieren bekanntlich den guten Willen als das Entscheidungsprinzip, welches darin besteht, dass man sich auf eine bestimmte Art und Weise verhält, weil man einen intersubjektiv vernünftigen Grund dafür hat. Das heißt aber, der gute Wille bestehe in der Akzeptanz einer gesetzesähnlichen Norm. Ich behaupte, dass es nicht nur in moralphilosophischen Diskussionen, sondern auch in geisteswissenschaftlichen Erklärungen nützlich ist, nach den Maximen eines Handeln- den zu fragen. Erklärt etwa ein Faschismusforscher die Maxime eines Faschisten für absurd, zeigt er, dass sie nicht verallgemeinerungsfähig ist, sondern ein Mensch wie Hitler mit zweierlei Maß misst, wenn er behauptet, er dürfe Städte bombardieren, sein Kriegsgegner hingegen nicht. Anders ausgedrückt, würde es allen Menschen mit unge- rechten Maximen schaden, wenn ihre Mitmenschen im Umgang mit ihnen sich an die- selben Grundsätze hielten. Kantforscher unterscheiden bei solchen Motiven, die es Forschern ermöglichen, Ereig- nisse mittels praktischer Syllogismen zu erklären, aber vom Standpunkt des harmoni- schen Zusammenlebens aus irrational sind, zwischen Widersprüchen im Denken und Widersprüchen im Wollen (vgl aaO 47). Ein Beispiel für ersteres sind unmögliche Vor- stellungen, wie dass jeder beim Kartenspielen immer gewinnt. Ein Beispiel für letzteres sind widersprüchliche Zwecke, die sich selbst vereiteln würden, wenn sie jeder erstreb- te, wie aus Egoismus der einzige Leihbibliotheksbenutzer zu sein (vgl aaO 54-55). Wi- dersprüche im Wollen sind besonders interessant, weil bei ernsthaftem Begehren der praktische Syllogismus anwendbar ist und Prognosen zulässt, dies bei widersprüchli-

225aaO 206, 216-219, 222, 224

252 chen Vorsätzen aber schwierig ist. Dies ist natürlich auch der Fall, wenn jemand will, dass jeder rücksichtlos sei, das ihm aber nicht schaden könne (vgl aaO). Es ist zwar vorstellbar, dass ein Staat bzw seine Angehörigen wollen, dass immer Krieg herrscht, aber nicht möglich, dass dies für ihn nicht zahlreiche Kosten und Probleme verursacht. Diese unmoralische Maxime der Politik ist für manche historische Ereignis- se die einzige Randbedingung, die eine Erklärung nach dem H-O-Schema ermöglicht. Die Entstehung dieser Maxime dürfte auf einer Fehleinschätzung der Kriegsfolgen oder fragwürdigen Ehrvorstellungen beruhen. Was die Unvernünftigkeit unmoralischer Maximen betrifft, gilt es mE auch zu beden- ken, dass aus dem Modus Tollens folgt, dass das Gegenteil des Erlaubten Unrecht ist: Bei Gebotenem ist es rechtslogisch gesehen offensichtlich, dass es ungerecht ist, es zu unterlassen. Aber auch bei bloß Erlaubtem gilt, dass es auf Grund des Modus Tollens folgt, dass ein Rechtsbruch (dh ein Unrecht) ist, jemanden an etwas zu hindern, was ihm erlaubt, mithin sein Recht ist. Daher ist man an bloß willkürliche Gesetze nicht gebun- den, ja macht sich durch sie in Anbetracht eines möglichen Machtwechsels sogar poten- tiell vogelfrei, was irrational ist. Was die Verantwortung für Kriege usw betrifft, gilt Folgendes: Menschen können gera- de deshalb als Angehörige von Kollektiven tätig sein, weil sie ihr Verhalten gemäß be- stimmten Informationen und Plänen ausrichten können, worunter auch die Identifikation mit Zielen einer Gruppe fällt. Die Identifikation mit den Gruppenzielen führt mithin zu einer Entscheidung des Individuums, für welche es in Anbetracht seines Informations- standes verantwortlich ist. Dabei kann es zu Normkonflikten für den Entscheidenden kommen. In diesem Fall gelingt die Erklärung seines Verhaltens am besten, wenn man weiß, welches praktisch-sittliche Prinzip ihm am wichtigsten war. In dieser Hinsicht gilt weiter auch dies: Im Anschluss an Kelsens Rechtsdynamik weiß man, dass abgeleitete Normen ihre Gültigkeit von übergeordneten normativen Grund- sätzen erhalten; deren Gültigkeit kann begründungsbedürftig sein, doch ist mancherlei ohnehin erstrebenswert (vgl meine Thesen über Mill am Anfang dieses Kapitels). Dies erklärt viele Reformen, die im Laufe der Geschichte innerhalb von Institutionen vorge-

253 kommen sind, zB wissenschaftsgeschichtliche Paradigmenwechsel wegen des Wahr- heitsziels.226 Paul Lorenzen hat ebenfalls eine interessante Moralbegründung geliefert. Insbesondere sei seine Unterscheidung zwischen Erlaubtem und Gebotenem genannt. Diese rechtfer- tigt jedoch nicht den Vorsatz, andere Menschen an der Ausübung ihrer Rechte zu hin- dern, etwa einen Verein zu verbieten, dessen Statuten gesetzeskonform sind. Ich glaube nämlich, dass historische Akteure regelmäßig den Eindruck haben bzw erwecken wol- len, sich zwischen mehreren erlaubten Handlungen zu entscheiden. Ich vermute, dass im Umgang mit eigenen Sachen (Eigentum) mehr Freiheit besteht, besser gesagt, dass man gewöhnlich persönlichen Vorlieben nachgeben soll. In anderen Kontexten ist es hingegen geboten, das geringere Übel für die Allgemeinheit zu wählen, da sonst die Ge- fahren des Machtmissbrauchs bestehen.227 Unter der Voraussetzung analoger Ziele bzw handlungsleitender Überzeugungen, etwa des aristotelischen Glaubens, das Glück sei das höchste Gut, kann man rational darüber diskutieren, was jemand in einer bestimmten Situation hätte tun sollen. Politiker, die dazu beigetragen haben, viele ziemlich unschuldige Menschen glücklich zu machen, wird man, wenn man diese Voraussetzung teilt, für höchstwahrscheinlich vorbildliche Fachleute halten. Denn wie pragmatisch ein historisch Urteilender (siehe Kapitel 11) auch denken mag, interessiert er sich doch für die gesellschaftlichen Folgen dessen, was er erforscht. Damit hängt zusammen, dass Geisteswissenschaftler danach fragen, ob sich ein histori- scher Akteur mehr oder weniger egoistisch verhalten hat, weil auch das Motiv regelmä- ßig eine notwendige Bedingung der möglichen Erklärungen soziokultureller Ereignisse ist. Ein und dieselbe politische Entscheidung, etwa eine Erhöhung der Sozialhilfe, kann nämlich von einer selbstsüchtig ehrgeizigen Überlegung ebenso motiviert sein wie von Menschenliebe und moralischer Gesinnung. Dies besagt dasselbe wie Kants Unter- scheidung zwischen pflichtgemäßem Handeln und hochmoralischem Handeln aus Pflicht. Wer indes das egoistische Motiv des Politikers vernünftiger findet als das phi- lanthropische, gefährdet mE letztlich unvernünftigerweise seine eigenen Interessen.

226vgl Ota Weinberger: Alternative Handlungstheorie. Gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Georg Henrik von Wrights praktischer Philosophie. Wien: Böhlau 1996, 245, 247 227Vgl Paul Lorenzen: Normative Logic and Ethics. Mannheim: Bibliographisches Institut 1969, 61, 71-72

254 Denn es ist undenkbar, dass etwas für viele Menschen Schädliches für einen selbst un- gefährlich ist, wenn man nicht davor geschützt ist.228 In diesem Zusammenhang greifen geisteswissenschaftliche Erklärungen auf die Mo- dallogik, dh auf die Wissenschaft von bloßen Möglichkeiten zurück. Das Motiv eines Menschen in Not kann etwa nicht verstanden werden, wenn man nicht berücksichtigt, dass dieser ein Opfer widriger Umstände ist und sich nicht gleich verhalten kann wie ein Mensch in einem für ihn günstigen sozialen Umfeld, ohne sich selbst sehr zu scha- den. Dass nur Mögliches sittlich gefordert sein kann, ist eine Prämisse vieler praktischer Syllogismen auch von durchschnittlichen historischen Akteuren, weshalb dies für wert- freie sozialwissenschaftliche Erklärungen eine Rolle spielt. Es wäre sicher dumm, ei- nem Politiker deswegen einen Vorwurf zu machen, da er nicht mehr Geld umverteilte, als er zur Verfügung hatte oder deswegen, da er so wenig umverteilte, um eine kontra- meritorische Hungersnot zu vermeiden.229 Damit hängen gewisse Grenzen des Kulturrelativismus zusammen, vor allem in Bezug auf eindeutig gemeingefährliche Verhaltensweisen. Diese sind schon deshalb, da es er- laubt ist sich zu wehren, für den Täter so riskant (vgl Kraft 56), dass es eine Illusion ist, sie rational und erstrebenswert zu finden. Auch gewisse Lebensumstände sind ein uU einklagbares Menschenrecht, weil menschenunwürdige Lebensbedingungen nicht nur, wie schon ihr Name sagt, dem Begriff der Menschenwürde widersprechen, sondern es auch das Verbrechen der unterlassenen Hilfestellung darstellen kann, den Betroffenen keine Hilfe zu leisten.230 Allein dieses Problem liefert Philosophierenden einen Denkanstoß in Richtung Natur- recht, da Gesetze dem Allgemeinwohl, den Interessen der Mehrheit usw dienen sollten, obwohl rechtsfreie Moral (kein Gesetz gegen kleine Lügen) und moralfreies Recht (ge- wisse Verfahrensordnungen) ebenfalls existieren (vgl Seiffert 83-85, 90).231 Die Er- kenntnis des moralisch Verbindlichen kann nicht rein empirisch erfolgen (Kraft 12), allerdings kann eine empirisch-kulturwissenschaftlich orientierte Moralwissenschaft feststellen, dass sich gewisse Normen bewährt haben und mit sehr hoher Wahrschein-

228Vgl Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie (Band 3). München: C. H. Beck 2001, 58-61, 65 229aaO 46-48, 50, 83-87 230Vgl Victor Kraft: Rationale Moralbegründung. Wien: Kommissionsverlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1963, 57, 59-61 231Vgl Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie (Band 3). München: C. H. Beck 2001, 83-90

255 lichkeit zum Glück bestimmter Menschengruppen beitragen. Die soeben angeführte in- duktiv-populärwissenschaftliche Moralbegründung kann auch eine der Überzeugungen gewesen sein, die Gesetzgeber zu ihren Entscheidungen motiviert haben und die heute noch Politikern und Alltagsmenschen beim Versuch, einen Kompromiss mit ihren Mit- menschen einzugehen, helfen. Erklärt man als Kulturwissenschaftler Normen, muss man zudem die Situation berücksichtigen, welche die Angehörigen einer Kultur zu für uns unverständlichen, barbarischen Sitten wie Lynchjustiz verführt hat. Die Anwendung der Moraldefinition, dass moralisch ist, das zu wollen, was ohnehin jeder tun sollte (aaO 13), erleichtert dennoch eine Kritik an Kulturen aller Art, welche die schädlichen Ext- reme Ethnozentrismus und Kulturrelativismus vermeidet. Die Anthropologie liefert jedem geistig normalen Menschen die Einsicht, dass es kein Zusammenleben ohne Normen geben kann und dass bestimmte Normen sowie Beiträge des Einzelnen (Steuer, Arbeit für die Gemeinschaft) für das Funktionieren einer konkre- ten Gesellschaftsordnung unverzichtbar sind (vgl aaO 17). Ich vermute, dass dies auch Menschen, für welche Moral keinen hohen Stellenwert hat, bei ihren Entschlüssen be- rücksichtigen. Werturteile sind wahr, wenn das von ihnen Gepriesene wie zB der Friede geschätzt werden soll (vgl aaO 32, 34). Eine Ahnung dieser Erkenntnis scheint mir ebenfalls eine Prämisse in vielen praktischen Syllogismen zu sein, mittels welcher sich Handlungen historischer Akteure erklären lassen. Etwa ist die Vorstellung einer Nützlichkeit und kausalen Wirksamkeit magischer Praktiken regelmäßig mit Werturteilen verknüpft, welche man bei Andersdenkenden vergeblich suchen wird (aaO 31). Die kulturwissenschaftliche Kritik setzt an fremden Wertvorstellungen an und verwirft abergläubische Vorstellungen (Schadenszauber) und politische Programme, die kaum Nutzen bringen. Diese Kritik an praktischen Syllogismen kann mE wertenden Charak- ters sein, wobei die Voraussetzungen der eigenen Moral explizit angeführt sein müssen, oder sich darauf beschränken, lediglich die mit dem Entschluss verbundenen Nachteile zu konstatieren. Normen sollten prinzipiell für alle Menschen erstrebenswert sein (vgl aaO 39), um als die reine Wahrheit gelten zu können. Diese Normdefinition ermöglicht einen kulturwis- senschaftlichen Diskurs darüber, ob gewisse Verbote und Gebote vernünftig sind. Ich halte im Anschluss an Victor Kraft dafür, dass viele Ziele den Angehörigen einer Ge-

256 sellschaft gemeinsam sein müssen, es sei denn, es ist der feste Vorsatz der Herrschen- den, einen bestimmten Teil der Gesellschaftsmitglieder systematisch zu betrügen und auszunützen. Insbesondere ist es ein Ziel aller Gesellschaften, die körperliche Integrität ihrer vollwertigen Träger zu wahren, um einer Anarchie und damit einem Krieg aller gegen alle vorzubeugen (aaO). Dass es ohne ein harmonisches Zusammenleben nicht möglich ist, mit zuverlässigen Partnern zusammenzuarbeiten, bedarf keiner weiteren Begründung. Dies erklärt einerseits doch das Zustandekommen von Normen und Moralvorstellungen als vernunft- und gefühlsbedingt, welche sich trotz mancher Unterschiede in allen Kul- turen ähneln, andrerseits hängt damit zusammen, dass uneinsichtige Gruppenzugehörige die ihnen vorgegebenen Regeln brechen (vgl aaO 43). Damit meine ich, dass die Ent- scheidung eines Einzelnen zu Verbrechen gegen seine eigene Gemeinschaft regelmäßig eine Folge von Unverständnis für ihre Werte ist. Das ist auch der Fall, wenn ein egoisti- scher Abenteurer aus Geldgier seine bisherigen Freunde verrät, weil er eben dadurch willkürlich für sich eine Ausnahmestellung erhofft (vgl aaO 57). Der Gedanke der ge- genseitigen Verpflichtung lässt sich als ein Motiv vieler individueller und kollektiver Handlungen sowie als ein Grundprinzip der Moral nachweisen (aaO 44, 47). Da per definitionem nur Nützliches moralisch ist, verfolgt Moral selbst ein Ziel, näm- lich ein lebenswertes Leben bzw zumindest eine Sicherung der Grundbedürfnisse. Dass dieser Zweck ohne die Beteiligung des Individuums an Kultur und Gesellschaft nicht erreicht werden kann, ist allgemein bekannt und eine Folge unserer angeborenen Be- dürftigkeit (vgl aaO 57). Davon gehen Menschen regelmäßig bei ihrer Handlungspla- nung aus, ob instinktiv oder in Folge ihrer Bildung (aaO 58). Das bedeutet darüber hinaus für unser Thema, dass erst die Klassifizierung der mit Hilfe von praktischen Syllogismen beschreibbaren Gedankengänge, Entscheidungen und Ta- ten als prosozial bzw antisozial sowie als Folgefehler von populären Irrtümern manche Erklärungen aus Motiven ermöglicht.232 Was den Unterschied zwischen Werturteilen und deskriptiven Aussagen betrifft, be- streite ich nicht, dass man beide Satzklassen auseinanderhalten und diese Differenzie- rung explizit machen muss. Doch vertrete ich die von Arthur Danto diskutierte These,

232Vgl Victor Kraft: Rationale Moralbegründung. Wien: Kommissionsverlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1963, 5-15, 17, 24-65.

257 dass eine Berücksichtigung der mit berichteten Tatsachen verbundenen moralischen Probleme der Beschreibung soziokultureller Sachverhalte einen weiteren wichtigen As- pekt hinzufügt. ME hilft es bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen, wenn zusätzlich erörtert wird, für wen gewisse Handlungen wünschenswert und in welcher Hinsicht sie erlaubt sind.233

233Glaubte man, dass überhaupt alles Mögliche oder alles für einen mehrerer von der jeweiligen Situation betroffenen Personen Wünschenswerte passieren soll, könnte man sich in lächerliche Selbstwidersprüche verwickeln. Dazu: Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, 223

258 Kapitel 11 – Das Wesen des Soziokulturellen und seiner Dynamik

Meine Überlegungen über geisteswissenschaftliche Erklärungen haben immer wieder das Problem des Zufalls aufgegriffen. Diesem wollen wir uns nun näher zuwenden, um zu verstehen, auf welcher Realität die Erklärung ausgehend von Motivkausalitäten be- ruht. Nicht selten geht die Beschäftigung mit dem Allgemeinen mit einer Betonung der Rolle der Kausalverknüpfungen, die Beschäftigung mit dem Besonderen hingegen mit einem Glauben an die Wirkung von Zufällen in der Geschichte Hand in Hand. Schon Ranke ist zur grundlegenden Einsicht gelangt, dass historische Ereignisse einander zwar bedin- gen, aber nicht mit Notwendigkeit. Man könnte den Zufall als das nicht vorhersehbare Eintreten von Ereignissen auf Grund eines Kräfteungleichgewichts in komplexen Sys- temen definieren. Dieser Gedanke kam mir im Anschluss an Nicolai Hartmann. Schon aus diesem Grund forderten Denker wie Ernst Troeltsch und Gadamer eine ein- geschränkte oder besondere Form des kausalen Denkens für die wissenschaftliche Be- schäftigung mit soziokulturellen Entwicklungen. Ein völliger Verzicht auf das Kausali- tätsprinzip würde aber nicht nur wissenschaftliche Erklärungen ausschließen, sondern auch romanhafte beschreibende Erzählungen mit Wahrheitsanspruch. Steht der Gedanke der kausalen Erklärung nicht im Vordergrund, werden laut Karl-Georg Faber in erster Linie Wie-Fragen nach dem genauen Verlauf des Geschehens erörtert. Ich glaube, dass solche (populär)wissenschaftlichen Darstellungen soziokultureller Ereignisse das von ihnen Geschilderte aber als unter bestimmten Bedingungen möglich plausibilisieren möchten (vgl Kapitel 8). Stellt man sich den Alltag in einer fremden Kultur vor, nimmt man regelmäßig die Exis- tenz ziemlich vieler Kausalverknüpfungen an; darum stellt sich dem Historiker das Problem, welche der zahllosen Bedingungen eines soziokulturellen Ereignisses seine eigentliche oder uU seine Hauptursache war. Monokausale Erklärungen wären meist verfehlt, wie auch die Kenntnis sämtlicher notwendiger Bedingungen eines Ereignisses utopisch sein wird. Um Handlungsmotive genau zu verstehen, müssten die psychischen Dispositionen eruierbar sein (vgl Faber 72). Schon naive Chronisten wählen deshalb aus

259 dem Datenmaterial bestimmte Sachverhalte als besonders relevant und daher berich- tenswert aus.234 Ursachen komplexer Ereigniszusammenhänge lassen sich zudem in mehrere Typen ein- teilen: In der Umgangssprache unterscheidet man bereits Anlässe bzw Anstöße von tie- fer liegenden Ursachen, während Forscher zwischen Intentionen und äußeren Umstän- den als den beiden Hauptklassen von Bedingungen soziokultureller Ereignisse unter- scheiden. Ein Beispiel für gesetzesartige Aussagen in einer historischen Erklärung nach dem H-O- Schema wäre etwa „Ökonomische, politische etc Gegensätze im Kapitalismus der Jahre um 1900 führten notwendig zum Krieg“ (Faber 75). Derartige Prämissen scheinen aus- zuschließen, dass es sich um Zufallsprozesse handelt, können aber dennoch fragwürdig sein. Der Beispielsatz ist mE eigentlich falsch, wie schon die Neutralität von Staaten wie der Schweiz zeigt, weshalb er zu einer statistischen Aussage umformuliert werden sollte. Wohl habe ich in dieser Arbeit auf die besonders große Rolle der Randbedingungen in den Geisteswissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften hingewiesen, al- lerdings benötigen Geisteswissenschaftler gesetzesartige Aussagen, schon wenn sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen zwei Entwicklungen feststellen. Sie könnten sonst kaum Regelmäßigkeiten konstatieren. Dies zeigt auch folgendes Zitat (aaO 76-77): „Selbst wenn es nie gelingt, diese Regelmäßigkeiten in den Rang von be- stätigten Gesetzeshypothesen zu erheben, so ist das Bemühen der Historie um wissen- schaftliche Erklärung ohne die Annahme einer solchen Gesetzlichkeit nicht vorstellbar.“ Zu Gesetzeshypothesen kommt man in Humanwissenschaften bekanntlich durch Induk- tion, Geisteswissenschaften bleiben mE regelmäßig bei „Augenmaßinduktionen“ mit Ausnahmen stecken, ob sie von der Alltagserfahrung oder vom Fallvergleich ausgehen. Dies ist jedoch kein Arbeitsfehler, sondern Quantifizierbarkeit, Verallgemeinerbarkeit und Wiederholbarkeit sind kaum gegeben, weil die Eigenheiten nur eines Ereignisses im Vordergrund des Interesses stehen. Dies besagt auch das folgende Zitat (aaO 78-79): „Die Einsicht, dass in jeder kausalen Erklärung eine Fülle variabler Größen steckt, wel-

234Vgl Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. München: C. H. Beck 1982, 66-72; Was meinen Bezug auf Nicolai Hartmann betrifft, vgl Nicolai Hartmann: Ethik. Berlin: Walter de Gruyter 1962, 629-712

260 che die Ableitung eines allgemeinen Gesetzes ausschließt, gibt den Schlüssel für eine einschränkende Präzisierung des „Covering-Law-Modells“ in die Hand.“ Gewiss gibt es auch Singuläres. Dennoch bin ich überzeugt, dass kein Gegenstand so einzigartig ist, dass er nicht in mancherlei Hinsicht vergleichbar wäre. Diese Einsicht drückt Faber (aaO 79) mit folgenden Worten aus: „Jede kausale Erklärung richtet sich auf die Wirklichkeit, soweit sie der Generalisierung zugänglich ist und klassifiziert werden kann, und zwar je nach Fragestellung des Historikers auf einen bestimmten Ausschnitt dieser Realität.“235 Schon die sehr wichtigen Randbedingungen solcher Erklärungen erschweren ihre Über- tragbarkeit von einem Fall auf den anderen. Bei analogen physikalischen Erklärungen kann es hingegen der Fall sein, dass die variablen Randbedingungen nur quantitative Ausprägungen desselben Phänomens sind. Jede sprachliche Beschreibung der Vergangenheit transzendiert andrerseits schon durch die Verwendung von Begriffen und die Postulierung trivialer Zusammenhänge die Vor- stellung „atomisierter Einzelheiten“ (vgl Kapitel 2). Neues, Unvorhersehbares wird vom Geisteswissenschaftler im Prinzip immer als etwas Einmaliges, aber keinesfalls in jeder Hinsicht Zusammenhangsloses dargestellt. Weder die menschliche Wahlfreiheit noch die Variations- und Mutationsmöglichkeiten der Natur lassen sich auf die allgemeinen Faktoren, mit denen sie durch Kausalgesetze verknüpft sind, reduzieren. Dh die allge- meinen Faktoren ermöglichen mehrere Entwicklungsverläufe in komplexen Systemen, also auch den Zufall und die menschliche Freiheit, welche durch praktische Syllogis- men erklärbar ist (vgl Kapitel 13). Beschreibt ein Geisteswissenschaftler solche Systeme, kann es von der Fragestellung abhängen, welche Bedingung eines soziokulturellen Ereignisses als die Hauptursache im Vordergrund des Interesses steht. Daher ergänzen einander ereignis- und strukturge- schichtliche Betrachtungsweisen, da erstere eher das Spezifische an einem Ereignis er- klären, letztere hingegen das, was es mit vergleichbaren Ereignissen gemeinsam hat. Etwa (Beispiel von mir) erklären spezifische Formulierungen der Aufklärung eher das einzigartige geistige Klima des 18. Jahrhunderts und gewisse historische Ereignisse,

235Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. München: C. H. Beck 1982, 73, 75-76, 78- 79

261 während religions- und erkenntniskritische Gedanken der Aufklärung auf die strukturel- len Möglichkeiten des Diskurses über diese Fragen zurückzuführen und zeitlos sind.

11b) Überschneidung von Kausalfaktoren, Zufall und Singularität Wahrnehmungsgewissheit über einen Zufall (als Zufall) kann Ausdruck bloßer Unwis- senheit sein, etwa eine Aussage über das Zusammentreffen unabhängiger Kausalketten (Faber 84; siehe auch oben) oder etwas schlechthin Indeterminiertes. Die beiden letzt- genannten Bedeutungen sind auf den soziokulturellen Wirklichkeitsbereich regelmäßig anwendbar: In der Tagespolitik, bei Buchneuerscheinungen usw überschneiden sich nämlich die von mehreren einflussreichen Wirkfaktoren ausgelösten Kausalketten; da- bei spielen auch spontane Entscheidungen eine Rolle, welche nicht völlig von der Le- benserfahrung des Handelnden etc vorherbestimmt sind. Diese Auswirkungen von Zu- fall und Freiheit kommen in geisteswissenschaftlichen Erklärungen nach dem H-O- Schema als singuläre Randbedingungen vor, vergleichbar den Mutationen in evoluti- onsbiologischen Erklärungen. Solche Randbedingungen können nicht weiter auf Ursa- chen zurückgeführt werden. Denn schon Hegel definierte den Zufall als möglich, aber nicht notwendig. Daraus folgere ich für soziokulturelle Ereignisse wie den Erfolg einer philosophischen Strömung, dass ihre Möglichkeit eine vorherbestimmende Ursache hatte, ihr tatsächli- ches Eintreten aber nicht. Man veranschauliche sich dies durch die Unmöglichkeit an- zugeben, dass bei einer bestimmten Lottoziehung ausgerechnet diese (auf Anforderung hin benannten) sechs Kugeln gezogen werden. Faber beschrieb diesen Sachverhalt (aaO 86-87): „Für die historische Wirklichkeit als Realisierung des Möglichen gilt das Prin- zip der Kausalität. Umgekehrt: Man mag die geschichtliche Wirklichkeit durch noch so viele übergreifende Erwägungen wissenschaftlich in den Griff zu bekommen suchen: ihr zufälliger Charakter kann damit nicht eliminiert werden.“ Das liegt schon daran, dass an der Herausbildung konkreter Einzelheiten, etwa philoso- phischer Argumente, so viele Faktoren beteiligt waren, dass ihr Zusammentreffen un- wahrscheinlich ist. Wie soll man sich etwa den Universalienstreit ohne Platos Wirken vorstellen? Zufälliges und Individuelles bleiben als Randbedingungen von Ereignissen

262 in Systemen mit mehreren Freiheitsgraden wichtige Prämissen der meisten geisteswis- senschaftlichen Erklärungen. Begrifflich ist das kaum noch beschreibbar, grob begrifflich erfassbar ist es doch, an- ders als Faber anzudeuten scheint; denn der Begriff des Einzigartigen, der Begriff des Approximativen und der Begriff der Ähnlichkeit erlauben dem Forscher eine begriffli- che Erfassung des soziokulturellen Einzelfalls, den er zu analysieren und zu erklären berufen ist. Es ist in diesem Zusammenhang außerdem die Frage, ob geplante, dh mit menschlichen Intentionen verknüpfte Ursachen in einer höher entwickelten Gesellschaft eher dominieren als auf Sachzwänge und äußere Umstände zurückgehende Ursachen (Faber 88).236 Fabers Standardwerk besticht durch seine Bezugnahme auf andere Schriften zur Histo- rik wie Popper (aaO 45): Die von ersterem referierte, in der Tradition des Historismus stehende Forderung nach der Behandlung einzigartiger historischer Details lässt sich mE durch die Betonung der Wichtigkeit der Randbedingungen erfüllen. Dass auch Er- folg und Wirksamkeit des Einzigartigen zu erklären seien, wurde jedoch meines Wis- sens von keinem seriösen Geschichtstheoretiker bestritten. Popper löst diese scheinbare Aporie durch den Gedanken der Anwendung von Gesetzen auf bestimmte Aspekte von nicht identisch Wiederholbarem auf (vgl Kapitel 13). Trotz dieser Bezugnahme auf Popper steht Faber vor dem Problem, den Begriff des Individuellen analysieren zu müssen, da es der Erkenntnis nur insofern zugänglich ist, als es Vergleichbarem ähnelt. Das geisteswissenschaftlich zu erklärende Individuelle, zB eine konkrete Gestalt des Literaturbetriebs, ist einerseits durch seine raumzeitliche Position gekennzeichnet, andrerseits durch seine überdauernde Identität trotz oberfläch- licher Veränderungen (vgl aaO 49). Faber bemerkt diesbezüglich zu Recht, dass dies auch für Naturereignisse wie einen bestimmten Vulkanausbruch gilt, der sich zumindest quantitativ von vergleichbaren Ereignissen unterscheidet sowie eine bestimmte Zeit- spanne dauert, also etwas Individuelles im Sinn des letzten Satzes ist. Dies illustriert die Anwendbarkeit von allgemeinen Gesetzen auf Individuelles. Individuell in diesem Sinn sind nicht nur Personen, welche historische Akteure sind, sondern auch Staaten, Bauwerke und Ereigniskomplexe wie Kriege (aaO 51). Trotz der Wechselwirkung zwischen soziokulturellen Systemen und den Menschen, welche in sie

236vgl aaO 80-84, 86-88

263 eingebunden sind, ist mir kein Argument gegen einen gemäßigten methodologischen Individualismus bekannt, welcher stets den Einzelnen und seine Entscheidungen für ei- nen wesentlichen Faktor im Bedingungsgefüge soziokultureller Ereignisse hält (vgl fol- gendes Kapitel). Adjektive und Demonstrativpronomina allein reichen aus, um aus All- gemeinbegriffen Syntagmen (zB dieser Krieg, die Französische Revolution) zu erzeu- gen, welche etwas konkret Individuelles bezeichnen. Doch lässt sich nur durch eine der- artige Bezugnahme auf Allgemeinbegriffe das Einmalige der Vergangenheit verständ- lich machen (aaO 52-53). Zur Lösung dieses scheinbaren wissenschaftstheoretischen Problems schlage ich vor, historische Persönlichkeiten so zu charakterisieren, dass man sie zugleich als einzigar- tig, individuell und von anderen Menschen eben verschieden erkennt sowie diese Be- schreibung als nur annäherungsweise zutreffend bezeichnet. Dh ich glaube, dass die Begriffe des Einzelfalls und der „Annäherung an die soziokulturelle Wirklichkeit“ im Begriff der „geisteswissenschaftlichen Tatsachenfeststellung“ enthalten sein müssen. Diesbezüglich ist an Kants Einsicht zu erinnern, dass jede wissenschaftliche Aussage mindestens ein Begriffswort enthält, das sich auf Allgemeines und Wiederholbares be- zieht. Außerdem betont Faber zu Recht, dass nichts als historisch bedeutsam gelten kann, dass nicht im Zusammenhang des „Ereignisstroms“ der Geschichte steht und in seiner Wirksamkeit als Antecedensbedingung durch Allgemeinbegriffe beschreibbar ist, wel- che mE triviale Kausalgesetze implizieren, wie den Einfluss bestimmter Politiker, zum Beispiel den Einfluss erfolgreicher Diktatoren. Wie soll man den Nachvollzug des See- lenlebens eines Revolutionärs etc auch ohne Rekurs auf Allgemeinbegriffe intersubjek- tiv überprüfbar machen? Wenngleich die Einzelfallanalyse im Vordergrund des Interesses eines historisch arbei- tenden Geisteswissenschaftlers stehen muss, er also ein Phänomen wie die Französische Revolution nicht in erster Linie als ein Exemplar der Gattung der Umstürze studieren wird (aaO 59), benötigt er allgemeine Analyseprinzipien. Für die Objekte geisteswis- senschaftlicher Erklärungen gilt regelmäßig Fabers Charakterisierung ihrer begriffli- chen Erfassung durch die Wissenschaften, wie folgt (aaO 60): „So bleibt denn auch am Ende jenes Prozesses nicht etwa das reine Individuum übrig, sondern eine Kombination von Merkmalen, die – als solche allgemein – das untersuchte Objekt von denjenigen

264 unterscheidet, mit denen es im Laufe des Spezifizierens verglichen worden ist.“ Ebenso verweist Faber auf die Tatsache, dass die vergleichende Geschichtsforschung gerade wiederholt auftretende Erscheinungen untersucht, etwa die Sprachgeschichte die Vereinfachung der altslawischen und der lateinischen Grammatik (Beispiel von mir). Beide Fälle von Sprachwandel sind etwas Allgemeines, konkret die psycho- und sozio- linguistisch bedingte Anpassung der Sprachstruktur an die Bedürfnisse ihrer Sprecher, welche aber vom Historiker niemals ohne Bezug auf ihren zeitlichen und geographi- schen Kontext aufgefasst und erklärt werden (vgl aaO 62). Faber findet dafür darüberhinaus die bemerkenswerte Formulierung, dass geisteswis- senschaftliche Erklärungen regelmäßig etwas zu ihrem Gegenstand haben, das man am besten „historisches Faktum“ (aaO 63) nennen würde und das sowohl abstrakte als auch konkrete sowie sowohl allgemeine als auch individuelle Aspekte hat. Ein solches Fak- tum, wie das Ende des Duals in den meisten slawischen Sprachen, bezieht sich auf et- was durch Erfahrung Gegebenes, wird aber von theoretischer Reflexion ausgehend be- schrieben. Dies verdeutliche das folgende Zitat (aaO 64): „Diese Einsicht wird besser ausgedrückt mit dem Satz, dass Tatsachen Aussagen über die Wirklichkeit oder „theore- tisch gedeutete Aspekte der Realität“ darstellen. Historische Fakten unterscheiden sich von anderen Tatsachen durch ihren Bezug auf menschliches Tun in der Vergangen- heit.“237 Das Allgemeine, sich Wiederholende an solchen historischen Fakten lässt sich wohl re- gelmäßig als Typus von Ereignissen bzw als Struktur sozialer Umstände beschreiben. Obwohl Max Weber den Unterschied zwischen Geschichte und Soziologie darin er- blickte, dass erstere nach Individuellem, letztere nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und dem Typischen forsche, muss man mA bestreiten, dass es Geisteswissenschaftlern bei ihren Erklärungen nicht regelmäßig sowohl um Typisches als auch um Einzigartiges geht. Denn beides wirkt bei konkreten soziokulturellen Erscheinungen zusammen (aaO 90-91). Humanwissenschaftliche Erklärungen nach dem H-O-Schema müssen also durch ihre Begrifflichkeit das Besondere mit dem Regelhaften in Verbindung bringen. Dies sieht man auch am folgenden Zitat (aaO 92): „Typenbegriffe, die in der Regel durch die Kombination mehrerer konstanter oder sich wiederholender Merkmale gebil- det werden, bezeichnen – nach Jürgen Habermas – „eine Qualität der Übersetzbarkeit“

237aaO 45-65

265 und ermöglichen damit den Vergleich in der Geschichte. Je mehr Begriffe additiv in einem Typus zusammengefasst werden, umso seltener wird er in der Wirklichkeit vor- kommen, aber umso schärfer ist das durch ihn Bezeichnete umrissen.“ Faber regte mich auch zu folgendem Gedanken an: Gewiss verursachen schwammige Begriffe uU Erklärungsschwierigkeiten, welche durch die Anwendung weniger allge- meiner Begriffe überwindbar sind. Ich vermute, dass die Konkretisierung eines Begriffs wie Lyrik durch ein Adjektiv wie biedermeierlich bei manchen scheinbar unlösbaren Forschungsfragen die Anwendung des D-N-Schemas erleichtert. Willkürlich gebildete Merkmalkombinationen sind dazu hingegen kaum in der Lage. Gleichbleibendes wird mit Strukturtypen erfasst, Wiederholbares mit Verlaufstypen, welche aber beide nicht so beschaffen sind, dass das zu erklärende Phänomen in ihnen aufginge (aaO 94-95).

11c) Typus, Strukturen und Grenzen der Handlungsmöglichkeiten Auch das Typische an und für Individuen ist ein Thema geisteswissenschaftlicher Erklä- rungen, welches aber nicht zu verdecken vermag, dass das Typische eine Teilmenge des Allgemeinen ist, da es nur durch Allgemeinbegriffe sprachlich ausgedrückt werden kann. Faber erkannte, dass sich derartige Begriffe eindeutig auf etwas in der Realität Gegebenes beziehen müssen, um der Wissenschaft einen Dienst erweisen zu können. Dies scheint mir bei Syntagmen wie postmoderne Wirtschaftskrise im Gegensatz zu an- deren Wendungen wie neuer Zauberlehrling eindeutig der Fall zu sein. Idealtypen sind mE prinzipiell nicht wirklichkeitsgetreu genug, erfüllen aber eine gewisse heuristische Funktion, indem sie etwa den Typus reaktionärer bzw progressiver Politik per se verste- hen lassen. Auch Bestrebungen wie Philanthropie können in diesem Kontext als ideal- typische Verhaltensweisen aufgefasst werden, welche Individuen mehr oder weniger verwirklichen. Strukturen spielen in geisteswissenschaftlichen Erklärungen eine prominente Rolle, doch kann der Verweis auf die Gesellschaftsstruktur auch die bloße Konstatierung eines soziokulturellen Zusammenhangs bedeuten. Erklärt man etwa den Erfolg eines Dichters mit den literarischen Zeitschriften, den allgemeinen Tendenzen und seinem finanziellen Background etc als Bedingungen seines künstlerischen Schaffens, werden Zusammen- hänge behauptet, welche mehr oder weniger strukturell sind. Dies kann auf die Erklä-

266 rung von vordergründigen Ereignissen mit Hilfe von Strukturgesetzen (und nicht etwa dynamischen Entwicklungsgesetzen) im Sinne Peter Bollhagens hinauslaufen (vgl aaO 102). Worauf sich diese Strukturgesetze beziehen, soll folgendes Zitat klarmachen (aaO): „Die Struktur einer Gesellschaft oder eines geschichtlichen Prozesses ist gerade- zu gekennzeichnet durch die Wiederholung der Konfigurationen, wenn man so will: durch ein Muster. Zum anderen – und das ist wichtiger – unterscheidet sich die Struktur vom einfachen Simultantypus dadurch, dass die sie aufbauenden Elemente nicht bezie- hungslos nebeneinander stehen oder gar willkürlich kombiniert werden, sondern funkti- onal aufeinander bezogen sind.“ Ich persönlich definiere Strukturen und Typen als Beschreibungen von Handlungsmög- lichkeiten, da nur Strukturen wie eine arbeitsteilige Gesellschaft bestimmte Arten der Kriegsführung ermöglichen und lediglich Typen wie der imperialistische Feldherr wie- der andere Kriegstaten zu vollbringen pflegen. In diesem Kontext sei auch das Zusam- menwirken von Strukturen und Typen festgestellt. Hätte ein unromantisch gestimmter Techniker in einer liberal-individualistischen Gesellschaft seine Kreativität nicht auf eine ganz besondere Art ausgelebt (etwa früher Skype erfunden)? Historisch relevante Strukturen äußern sich laut Faber darin, dass sich Konfigurationen und Konstellationen wiederholen. Das bringt ihn zur klugen Annahme, dass Strukturen und Ereignisse zwei Seiten der Ganzheit der geschichtlichen Wirklichkeit darstellen. Da Strukturelemente miteinander in Beziehungen stehen, können Veränderungen an einem von ihnen weitreichende Auswirkungen haben, die an den Dominoeffekt erinnern. Man muss sich Fabers Analyse anschließen, dass der Einzelne selbst ein wesentliches Ele- ment historischer Strukturen ist, der mit seinen Eigenheiten mehrere soziokulturelle Subsysteme wie Beruf, Verein, Gesellschaft usw prägt, aber nicht völlig in ihnen auf- geht. Dies bedeutet jedoch auch, dass regelmäßig vielfältige Einflussfaktoren studiert werden müssen, wenn der Erfolg sozialen Handelns zu erklären ist. Dies besagt auch das folgende Zitat (aaO 107): „Unhistorisch wird dieses Verfahren erst dann, wenn die herauspräparierten Strukturen in ihrer scheinbaren Ruhe hypostasiert werden oder wenn einer einzigen Struktur eine absolute Dominanz über alle anderen Faktoren des ge- schichtlichen Lebens zuerkannt wird.“ Geisteswissenschaftliche Erklärungen müssen mE demnach scheinbar statische Elemen- te in ihrer potentiellen Dynamik entlarven und auf die rasche Wandelbarkeit bestimmter

267 Gesellschaftsstrukturen hinweisen, ohne Alternativen zu halluzinieren. Mein Beispiel dafür ist insbesondere die Frage, inwieweit eine moderne Gesellschaft durch Umschu- lungen reformiert werden kann.238 Es stellt sich nun die Forschungsfrage, was angesichts der untrennbaren Verquickung von Typischem und Singulärem vom hermeneutischen Geist in der Praxis der geistes- wissenschaftlichen Erklärung bleibt. Es lässt sich aber kaum bestreiten, dass diese re- gelmäßig damit konfrontiert ist, menschliches Handeln als subjektiv sinnvoll erklären zu müssen, um eine der wesentlichen Komponenten seiner Verursachung angeben und es vergleichbar machen zu können (vgl Faber 110).

11d) Willensakte und Motive als Kausalfaktoren Beim Ausformulieren geisteswissenschaftlicher Erklärungen kann man nicht davon abs- trahieren, dass ausgerechnet der Wille vieler Einzelpersonen derjenige Faktor des Wir- kens und Werdens ist, der andere Einflüsse vermittelt. Ein Gefüge von Motiven und Absichten verbirgt sich nämlich hinter allen objektiven Ergebnissen und Produkten menschlichen Handelns (aaO 112-113). Dieser Sachverhalt kommt im folgenden ge- schichtstheoretischen Zitat zum Ausdruck (aaO 115): „Die Wissenschaftlichkeit der Historie steht und fällt mit der Anerkennung der Tatsache, dass die dem Historiker zur Verfügung stehende Überlieferung – die Quellen – einen riesigen Komplex von objekti- vierbaren Überresten menschlichen Tuns in der Vergangenheit darstellt und als solche auch die den Handlungen zugrundeliegenden Intentionen enthält.“ Dieser Bezug auf mögliche Ursachen hat gar nichts mit einer unkritischen Berufung auf autoritative Überlieferungen gemeinsam. Heuristisch fruchtbares Verstehen darf sich deshalb nicht mit einer unkritischen Akzeptanz der Überlieferung begnügen, sondern hat den zeitlosen Mitteilungsanspruch von Quellen an der Norm seiner kritischen Ver- nunft zu prüfen.239 Es ist also ein Kernbestandteil vieler geisteswissenschaftlicher Erklärungen, an Hand der ihrerseits kritisch überprüften Überlieferung, Entscheidungssituationen zu rekon- struieren, in welchen ganz bestimmte mögliche menschliche Handlungen zu erwarten

238vgl aaO 89-108 239aaO 110, 112-113, 115, 123, 125, 127

268 gewesen wären, ja im Idealfall die einzige denkmögliche Verhaltensweise eines be- stimmten Menschentyps. Es ist leicht einzusehen, dass dabei die Gefahr von Fehlinter- pretationen besteht. Die von Werturteilen unabhängige Ermittlung des wahrscheinlichs- ten Handlungsmotivs ist daher ein Kernbestandteil sowohl der historischen als auch mancher systematischer humanwissenschaftlicher Erklärungen (vgl aaO 131-133). Da Handeln stets intentional bestimmt ist, ist es unwissenschaftlich, die Motive nicht zu den notwendigen Bedingungen soziokultureller Ereignisse zu zählen; freilich sind Mo- tive nur einer von mehreren handlungsrelevanten Faktoren. Motive sind jedoch niemals direkt beobachtbar, sondern werden stets aus Handlungen oder kommunikativen Akten rekonstruiert. Eine im Geiste der analytischen Philosophie gereinigte Hermeneutik muss daher auch expressis verbis induktive Schätzungen menschlicher Handlungswahrscheinlichkeiten in ihre Aussagen hineinnehmen. Dadurch soll das Ziel erreicht werden, über ein objektives Wissen über Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten menschlichen Handelns im Allgemeinen und in bestimmten Situationen zu verfügen. Durch derlei Wissen wird nicht nur eine zusammenhangslose Mannigfaltigkeit von Einzeltatsachen systematisier- und erklärbar, sondern ein Modell der objektiven Zusammenhänge in einem indeterministischen, komplexen System ver- fügbar (vgl aaO 140). Außerdem sind die bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen vorausgesetzten geset- zesartigen Aussagen falsifizierbar und entsprechen wissenschaftlichen Kriterien, denn neue Erfahrungen modifizieren sowohl unsere Erwartungen über Menschentypen als auch über überlieferte Quellen. Zwar werden Wahrscheinlichkeitsgesetze nicht durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegt, aber durch viele Anomalien in ihrer Gültigkeit relativiert. Insgesamt gesehen, kann ein interdisziplinäres und objektives hermeneuti- sches Verfahren einen möglichen Motivationshorizont von Handelnden aufzeigen. Dh die Natur des Menschen schließt manche Handlungsmotive aus, während sie andere als abnormes geistiges Verhalten, dessen Auftreten unwahrscheinlich ist, diskreditiert. Zudem kann wegen des Zusammenhangs dieser möglichen Bedingungen menschlichen Handelns nachgewiesen werden, dass durch soziokulturelle Ereignisse Wirkungszu- sammenhänge entstehen, die über das subjektiv Beabsichtigte hinausgehen und auf es zurückwirken. Posthermeneutische geisteswissenschaftliche Erklärungen stehen regel- mäßig vor der Aufgabe, diese Wechselwirkungen zwischen sozialen Strukturen zu be-

269 rücksichtigen, mag es sich dabei etwa um die Vorliebe für bestimmte Musikstile (Bei- spiel von mir) oder überhaupt um Reaktionen auf die soziale Umwelt handeln. 240

11e) Darstellungen, Zugänge und Urteile Die sprachliche Gestalt geisteswissenschaftlicher Erklärungen ist eine Folge der wissen- schaftlichen Kultur, sowohl der Gepflogenheiten als auch der Forschungsansätze. Eine Schwerpunktverlagerung von wahren Geschichten hin zu interdisziplinären Analysen ist bei allen geisteswissenschaftlichen Erklärungen ratsam, obwohl Ereignisse wie Völker- wanderungen auch narrativ dargestellt werden sollen, wenn sie das Explanandum oder Antecedensbedingungen sind. Regelmäßig lässt sich insbesondere das Explanandum historischer Wissenschaften darstellen, ohne dass man mehr als die Mittel der jeweili- gen Umgangssprache für diesen Zweck benötigte. Ein bloß metaphorischer oder mani- pulativer Gebrauch umgangssprachlicher Worte kann dabei allerdings schädlich wer- den, was sich mA am besten am ideologisierenden Gebrauch des Begriffs Unterdrü- ckung nachweisen lässt. Faber weist darauf hin, dass das Ergebnis geisteswissenschaftlicher Erklärungen regel- mäßig auf ein historisches Urteil hinausläuft, worunter er versteht, dass einem ge- schichtlichen Phänomen objektive Bedeutung im Sinne von Wirksamkeit zugesprochen wird (vgl aaO 165). Ein soziokulturelles Ereignis kann, wie ihm nicht verborgen blieb, nur in Bezug auf Wirklichkeitsbereiche wichtig sein. Ich glaube, dass auch diese Form von Zusammenhängen häufig vom Erklärenden stillschweigend vorausgesetzt wird, manchmal indes explizit genannt werden muss, etwa wenn es sich um eine bemerkens- werte Spätwirkung einer historischen Episode handelt. Die Angabe der möglicherweise gültigen Kausalgesetze halte ich für die einzige Möglichkeit, Urteile über historische Bedeutung objektiv kontrollierbar zu machen. Ideologiekritische Schulung befähigt den Autor wissenschaftlicher Texte, zwischen erklärenden Urteilen über die Wirksamkeit historischer Ereignisse und normativen Urteilen zu unterscheiden, welche loben bzw tadeln. Diesbezüglich ist an den Klassikern Rickert und Weber zu kritisieren, dass objektive kulturwissenschaftliche Erklärungen regelmäßig bloß Sachverhalte miteinander in Be-

240aaO 131-133, 138-140, 143-146

270 ziehung setzen, ohne eigentliche Werturteile zu fällen. Die weltanschaulich motivierte Entscheidung eines Geisteswissenschaftlers für ein gewisses Thema, wie die Entwick- lung eines Nationalstaats, schließt nämlich laut Faber nicht aus, dass er wirklich objek- tive Tatsachen im Zusammenhang mit diesem Thema entdeckt. Dass ein gesellschaftli- cher Umgestaltungsprozess stets viele Aspekte, Bedingungen und Auswirkungen hat, grenzt an eine Binsenweisheit, muss aber mE in der Praxis der Geisteswissenschaften dermaßen berücksichtigt werden, dass der Erklärung eines komplexen Ereignisses eine interdisziplinäre Bedingungsanalyse vorangeht, die möglichst viele relevante Kon- textfaktoren auswertet (vgl aaO 174-175). Geisteswissenschaftler sollen sich auch auf fremde Werturteile als einen Bedingungs- faktor soziokultureller Ereignisse beziehen, ohne diese zu übernehmen (vgl aaO 180). Die eigenen Wertstandpunkte müssen sie natürlich als solche kennzeichnen, da sie nicht empirisch-geisteswissenschaftliche Erkenntnis sind, sondern letztlich apriorisch meta- physische Einsichten (vgl Kapitel 10).241 Diese bedeuten ebenso wie eine anthropologische Erfahrung, dass es ein naturgegebe- nes vernünftiges Interesse jedes Menschen am Zusammenleben gibt (vgl Kapitel 10). Diese auch von Habermas erzielte Erkenntnis des Interesses ist nicht selbst notwendi- gerweise interessegeleitet und eine gesetzesartige Aussage, welche für geisteswissen- schaftliche Wahrscheinlichkeitsaussagen benötigt wird. Ich vermute, dass das Streben des Einzelnen nach zwischenmenschlicher Anerkennung in handlungswissenschaftli- chen Erklärungen zT ebenfalls stillschweigend vorausgesetzt wird. Dieses triviale psy- chologische Gesetz, von welchem nicht viele Ausnahmen zu erwarten sind, illustriert auch Fabers These, dass das Verstehen in den Geisteswissenschaften nicht an die Stelle der empirisch-analytischen Methoden tritt, sondern sie ergänzt. Wer über mögliche Mo- tive als Handlungsbedingungen spekuliert, führt mA eigentlich eine volkspsychologi- sche Analyse durch. Diese setzt die Grundbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis, nämlich das Kausalitätsprinzip und die Durchdringung von Individuellem und Allge- meinem als selbstverständlich voraus. Außerdem sind Erklärungsversuche aller Art re- gelmäßig von einer relativen Objektivität gekennzeichnet, insofern sie bewusste Hand- lungen nicht bloß subjektiv willkürlich deuten.242

241aaO 159, 161, 164-170, 173-175, 180-182 242vgl aaO 187, 193, 195-196, 202

271 Je intensiver die Beschäftigung eines Geisteswissenschaftlers mit menschlichem Ver- halten unter bestimmten Umständen, insbesondere jenen einer untergegangenen Kultur, wird, desto stärker tritt die Rolle seines Menschenbildes und seiner Meinung über das prinzipiell Menschenmögliche im Rahmen seiner Erklärungsbemühungen in den Vor- dergrund. Vollwertige humanwissenschaftliche Theorien sollen daher über die geistes- geschichtlichen Einflüsse auf ihr Menschenbild reflektieren und auf das aktuellste anth- ropologische Wissen zugreifen (vgl aaO 205-206). Viele geisteswissenschaftliche Erklärungen sind durch Bezugnahme auf Strukturen der menschlichen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen verbesserbar; dabei haben sie auf im buchstäblichen Sinn systematische Sozialwissenschaften zurückzugrei- fen, wie Faber wusste. Eine Grenze für die Anwendung dieses methodischen Rats sind mE die selbst indeterministischen Strukturen menschlichen Handelns ebenso wie chao- tische Systeme, in welchen sich Kraftwirkungen ausgleichen. Damit hängt die laut Faber zentrale wissenschaftstheoretische Frage zusammen, inwieweit konstante Struk- turen der menschlichen Lebenswirklichkeit mit den Variablen geschichtlicher Vorgänge zusammenwirken, so dass etwas geschieht. Der zitierte Geschichtstheoretiker macht auf die Tatsache aufmerksam, dass die zeitgenössische Forschung nicht nur das Wandelbare am Menschlichen aufzeigt, sondern auch das Gleichbleibende, welches sich in bestimm- ten Strukturen niederschlägt, welche die Handlungen und Entscheidungen von Einzel- nen beeinflussen. Diesen von mir konstatierten Sachverhalt soll folgendes Zitat belegen (Faber 211): „Dabei wird übersehen, dass solche Invarianten in Korrelation zur Variabi- lität stehen und auf diese Weise zwar nicht eliminiert, aber in ihren Wirkungen relati- viert werden können.“243 Diese hier präsentierte historische Anthropologie ist, wie Faber im Nachwort zu seinem Hauptwerk erörterte, mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild sehr gut vereinbar. Denn Physiker nehmen ein an und für sich unbestimmtes Eintreten von Ereignissen ebenso an wie Biologen zufällige Mutationen. Dies zeigt, dass Interaktionen zwischen variablen und konstanten Faktoren kein Spezifikum geisteswissenschaftlicher Erklärun- gen sind. Derartige Analogien zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bringt das folgende Zitat meisterhaft zum Ausdruck (aaO 238): „Es überrascht deshalb nicht, dass

243Diese Textpassage nimmt implizit auf den Historiker Karl Bosl und die Habermassche Vorstellung eines guten Lebens Bezug, insofern sich aus dem sozial Möglichen auch mehr oder weniger ratsame gesellschaftspolitische Handlungsoptionen ableiten lassen. AaO 205-206, 208-209, 211, 218, 220

272 das historische Ereignis nicht selten metaphorisch als Mutation umschrieben wird, wo- mit gesagt wird, dass im menschlichen Handeln, das Veränderungen der historischen Strukturen bewirkt, etwas prinzipiell nicht Ableitbares steckt, was Ranke dazu veran- lasste, die Ereignisse in der Geschichte trotz ihrer Stellung in einem Bedingungszu- sammenhang als „Szenen der menschlichen Freiheit“ zu verstehen.“ Geisteswissenschaftliche Erklärungen sind außerdem an Formen der sprachlichen Dar- stellung gebunden, welche regelmäßig eine narrative Komponente umfassen, da die An- tecedensbedingungen von Ereignissen auf den Gebieten der Sprachkultur, der Künste, des Vereinslebens etc besonders bei genetischen Erklärungen erzählt zu werden pflegen. Dies äußert sich konkret darin, dass Geschichtserzählungen auf die zeitliche Aufeinan- derfolge und Irreversibilität von soziokulturellen Ereignissen ebenso wie auf die Inten- tionalität und das Überzeugungs- und Wertsystem der Handelnden Bezug nehmen müs- sen (aaO 242). Eine Erklärung mit Hilfe praktischer Syllogismen kann nämlich auf kei- ne andere Art und Weise erfolgen. Wenn in einer geisteswissenschaftlichen Erklärung der Stellenwert der psychologischen und soziologischen Gesetze höher ist, als dies bei Erklärungen mit praktischen Syllogismen der Fall ist, müssen sich Historiker intensiv der Beschreibung von Strukturen widmen. Dies erkannte auch Faber.244 Ich glaube, dass man die kausale Umstandsergänzung „aus nicht eruierbaren Ursachen“ zu Erzählungen historischer Ereignisse hinzufügen könnte, wenn letztere Strukturen einfach aussparen. Strukturen wie die höfische Kultur des Mittelalters sind aber eine Bedingung von Ereignissen wie der Hochblüte des Minnesangs (vgl Dejan Kos), wäh- rend Ereignisse wie Religionskriege ohne strukturartige Institutionen wie Staat, Heer, Kultusgemeinde unvorstellbar oder nicht analysierbar sind (Beispiele von mir). Daher wird man mir zustimmen, dass Strukturen und Ereignisse gleichermaßen im Explanans der meisten geisteswissenschaftlichen Erklärungen vorkommen müssen. Dies bedeutet zugleich eine scharfe Unterscheidung zwischen kognitiven Systemen, insbesondere den handelnden Personen und ihren Umwelten. Diese Differenzierung be- gründet nicht nur die Möglichkeit der Willensfreiheit, sondern auch die Gelegenheit zur Kulturveränderung unter günstigen Umständen. Das ist erkenntnistheoretisch unprob- lematisch, da konstruktivistische Ansätze erstens eine weitgehende Autonomie des er- kennenden Subjekts voraussetzen und da sie zweitens realistischen Ansätzen nicht me-

244vgl aaO 238-240, 242-243

273 taphysisch gleichwertig sein können. Wer würde es nämlich für wissenschaftlich halten, Überlieferungen oder Quellen etc unabhängig von konstanten Reizkonstellationen an- zunehmen? Dennoch sind einige Kerngedanken der konstruktivistischen Erkenntnistheorie in eine aktuelle Darstellung der geisteswissenschaftlichen Erklärung aufzunehmen: Wissen ist ua als situative Fähigkeit, Probleme zu lösen, definiert. Damit hängt mein Vorschlag zusammen, Ereignisse, welche Einzelfälle sind, mit Hilfe praktischer Syllogismen zu erklären. Außerdem ist darauf zu achten, dass Disziplinen wie die Literaturwissenschaft per definitionem mit einem Geflecht von Wechselwirkungen zwischen kognitiven und gesellschaftlichen Faktoren zu tun haben, welchen am ehesten mit systemtheoretischen Zugängen beizukommen ist. Erfassen wir soziokulturelle Ereignisse aller Art als durch Zusammenhänge in einem genau beschreibbaren Individuum-Umwelt-System definiert, so haben wir mA eine em- pirische Sozialwissenschaft geschaffen, welche die organisatorische Geschlossenheit und Selbstbezüglichkeit kognitiver Systeme berücksichtigt. Derartige Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Philosophiegeschichte sind Handlungswissenschaften, wenn- gleich sie auch den Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Handelnden be- rücksichtigen müssen.245 Faber nahm auf diesen Sachverhalt Bezug, als er betonte, dass die Geschichtswissen- schaft für ihre Erklärungen eines systematischen, relativ statischen Zugangs zu sozialen Phänomenen bedarf. Dass Historiker nicht alles historisieren und als geschichtlich ge- worden betrachten, ist aus folgendem Grund unproblematisch: Entstehung, Dynamik und Verschwinden von sozialen Systemen sind regelmäßig mit Bezug auf bestimmte zu erklärende Ereignisse kausal irrelevant. Umgekehrt ist es nicht auszuschließen, dass Er- zählen und hermeneutisches Verstehen zur Arbeitsweise systematischer Sozialwissen- schaftler hinzukommen, wenn sie Einzelfälle analysieren, etwa eine bestimmte politi- sche Partei. Darum gelangt Faber zur fundamentalen Erkenntnis, dass sich alle Kulturwissenschaf- ten mit vom Menschen gestalteten Strukturen und Gewohnheiten befassen und sich so- wohl „systematischer“ als auch „historischer“ Zugänge bedienen, je nach dem welchen

245Dejan Kos: Theoretische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Maribor: Slavistično društvo (Zora 21) 2003, 113-114

274 Aspekt der Wirklichkeit sie erklären wollen (vgl aaO 247-248). Geschichtswissen- schaftliche Einzelfallanalysen sind regelmäßig am wenigsten systematisch, Theorien über prinzipielle Möglichkeiten soziokultureller Systeme und ihrer Aspekte am wenigs- ten historisch (zB ist Letzteres bei einer Theorie des Romans oder Geldes der Fall). In etlichen geisteswissenschaftlichen Erklärungen begegnen wir daher neben individuali- sierend historischen Prämissen für praktische Syllogismen (etwa subjektive Vorlieben) auch systematisch-kausalen Zusammenhängen (wie wirtschaftlichen Zwängen) und letzten Endes zufälligen Dispositionseigenschaften, zB dem Informationsstand der Han- delnden (Beispiele von mir).246

12) Klärung des Zusammenhangs zwischen Erzählung und Erklärung

In Bezug auf diese Forschungsfrage ist auf Dantos „Analytische Philosophie der Ge- schichte“ zu verweisen. Wer Arthur Danto kennt, weiß, dass er es für möglich hält, dass Erzählung und Erklärung in einander übergehen. Die von ihm als wünschenswert postu- lierte raum-zeitliche Bestimmtheit des erklärten bzw erzählten Geschehens kann zur Formulierung der Randbedingungen einer Erklärung nach dem H-O-Schema beitragen. Außerdem entstehen narrative Texte schon durch die Verwendung von Final-, Konseku- tiv- und Kausalsätzen. Denn diese setzen zT das Kausalprinzip und zweckrationales Verhalten historischer Akteure voraus. Teleologische Erklärungen lassen sich aus diesem Grunde optimal präsentieren, wenn ein Geisteswissenschaftler für diesen Zweck die sprachliche Form bzw Textgattung der Erzählung mit Wahrheitsanspruch gewählt hat. Dieser Vorsatz ist jedoch nur dann als gelungen zu betrachten, wenn das Explanandum in der Erzählung erwähnt und logisch aus einer ausführlichen, ebenfalls erzählten Erklärungsskizze folgt. Gibt es eine dem typischen Leser bekannte innere Logik nicht sogar beim Märchen? Dieser vom intelligenten Leser wahrgenommene Handlungszusammenhang entsteht durch die kunstvolle Darstellung des wissenschaftlich Schreibenden, wenn nur allge-

246vgl Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft. München: C. H. Beck 1982, 243, 247- 248

275 mein bekannte Trivialitäten im Sinne von Poppers Theorie der Geschichte unerwähnt bleiben. Darauf macht auch Habermas aufmerksam, indem er die sozialwissenschaftlich Gebildeten bekannte Tatsache referiert, dass alle Geschichten neben singulären auch allgemeine Elemente enthalten.247

12b) Analytische Philosophie der Geschichte Wenden wir uns nun Dantos eigenen Thesen zu: Ein Faktor bei der Unterscheidung zwischen Erzählungen mit Wahrheitsanspruch und geisteswissenschaftlichen Erklärun- gen nach dem H-O-Schema ist der Begriff der Bedeutung, welche durch den Bezug auf Gegenwart und Zukunft sowie auf eine metaphysische Weltdeutung bestimmt wird (Danto 14). Sein geschichtsphilosophisches Programm schildert er so (aaO 11): „Dage- gen steht die analytische Philosophie der Geschichte nicht nur mit der Philosophie in Beziehung: Sie ist wohl Philosophie, doch eine Philosophie, die auf spezielle begriffli- che Probleme angewendet wird, die sich aus der Praxis der Historiker ebenso ergeben wie aus der substantialistischen Philosophie der Geschichte.“ Erklärende Theorien sozi- okultureller Prozesse müssen laut Danto kausal sein, indem sie zB auf Zusammenhänge zwischen ökonomischen und anderen Problemen hinweisen. Dies regt einen zur Refle- xion über das Ausmaß der Beeinflussbarkeit solcher Vorgänge an. Ich bin sicher, dass eine gelungene Erklärung nach dem H-O-Schema sowohl die Wiederholbarkeit be- stimmter Vorgänge als auch die Unwiederholbarkeit anderer konkreter Prozesse bewei- sen kann. Dieser Gedanke ist auch mit Marxens Geschichtsphilosophie kompatibel (aaO 13), wie mE schon das bekannte Syntagma „Reich der Freiheit“ beweist. Er lässt sich auch mit dem folgenden Dantozitat begründen (aaO 14): „Wenn wir die Verbindung zwischen Geschichte und Geschichtsphilosophie in der Weise sehen, wie ich es hier vorgeschlagen habe, könnten wir versucht sein, diese Verbindung analog derjenigen zwischen observatorischer Astronomie und theoretischer Astronomie aufzufassen.“ Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die ans Induktionsproblem erin- nernde Frage (vgl Kapitel 1), ob zwei soziokulturelle Ereignisse einander so sehr äh- neln, dass ihre Vergleichbarkeit zu weitgehend analogen Erklärungen führt. Ist dies der

247vgl Werner Schiffer: Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz. Stuttgart: J. B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung 1980, 1, 56, 81

276 Fall, wird eine Erkenntnis für eine Klasse von Ereignissen ermöglicht, zB für alle Krie- ge oder für eine Gruppe von Sprachen (aaO 45). Wer würde etwa bezweifeln (Beispiel von mir), dass alle slawischen Sprachen konjugiert werden? Die Sprach- und Wissenschaftsanalyse liefert überhaupt eine Einsicht in die Strukturen des Seins, wenn der Wahrheitsanspruch der analysierten Sätze nicht gegenstandslos ist (vgl aaO 7). Dh es geht uns um die begriffliche Erkenntnis über Kriege etc und um die Erforschung ihrer Ursachen. Dies zeigt folgendes Dantozitat (aaO 8): „Dieses Buch ist eine Analyse des historischen Denkens und der Sprache, dargestellt als ein systemati- sches Netzwerk von Beweisführungen und Klärungen, wobei die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sich zu einer deskriptiven Metaphysik der historischen Existenz zu- sammenfügen sollen.“ Bezieht sich Geschichtsphilosophie auf die Weltgeschichte als Ganzes, hat sie auch die Zukunft zu erörtern, aber nicht jede Vergangenheit bzw Zu- kunft trägt einen historischen Charakter (aaO 13). Überwiegen also unter bestimmten Umständen eher soziokulturelle Gestaltungsmöglichkeiten oder ihnen diametral entge- gengesetzte Sachzwänge? Dies erörtert auch ein weiteres Dantozitat (aaO 19): „Ferner wäre es unrichtig und verzerrte die Sicht, wenn man der Historiographie unterstellen wollte, dass sie aus nichts weiterem bestehe als aus zusammengetragenen Materialien, die sie zukünftigen Philosophien der Geschichte bereitzustellen habe.“ Im Allgemeinen erklären nämlich auch Chroniken skizzenhaft, warum etwas geschehen ist. Was Prognosen betrifft, erkennt Danto, dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist, insofern es wirklich mehrere Gestaltungsmöglichkeiten für bestimmte Handelnde gibt. Ich glau- be, dass Geisteswissenschaftler dieses Problem durch Erklärungen mit Hilfe des prakti- schen Syllogismus oder mittels probabilistischer Erklärungsmodelle so weit in den Griff bekommen können, dass vollwertige wissenschaftliche Theorien analog der statistischen Physik möglich sind. Diese Möglichkeit scheint mir in folgendem Dantozitat angedeutet (aaO 27): „Ge- schichten konstituieren den natürlichen Kontext, in dem Ereignisse historische Bedeu- tung gewinnen (...)“ Dementsprechend schreibt Danto über Thukydides, dass gewisse Zukunftsprognosen dennoch wissenschaftlich korrekt sind, insofern sie bloß das Induk- tionsprinzip voraussetzen. Dies zeigt ein einschlägiges Zitat (aaO 41) am besten: „Be- dingungen, die jenen gleichen, werden in Zukunft dieselben Auswirkungen haben, die sie in der Vergangenheit hatten, und demnach werden zukünftig ähnliche Kriege ausge-

277 tragen werden, wie sie sich in der Vergangenheit ereignet haben.“ Ich möchte betonen, dass zu derlei Umständen auch die Systemeigenschaft gehören kann, nach der unter ein und denselben Bedingungen mehrere Entwicklungsmöglichkei- ten gegeben sein können. Typisch menschliche Reaktionsweisen halte ich nämlich für mit Augenmaßinduktion erkennbar, wenngleich es sich meist um Regeln mit Ausnah- men handelt. Allerdings müssen reale Zusammenhänge zwischen historischen Ereignis- sen existieren, damit objektive geisteswissenschaftliche Erklärungen gelingen (aaO 49- 50), welche auch wahre Beschreibungen von Ereignissen zur Voraussetzung haben. Danto selbst drückt dies meisterhaft aus (aaO 50): „Die Antwort darauf ist, dass jede Erklärung eines Ereignisses die Beziehung auf ein anderes Ereignis fordert, und solange wir keine wahre Beschreibung dieses anderen haben, ist es uns nicht gelungen, das vor- gegebene Ereignis zu erklären.“ Damit hängt wohl auch das Prognoseproblem zusam- men (aaO 51). Clarence Irving Lewis erkannte, dass Prognosen logisch impliziert werden, wenn je- mand Gegenständen Eigenschaften zuschreibt. Dh Behauptungen, wie „Etwas ist schwer“, sind unzutreffend bzw widersprüchlich, wenn sie nicht bedeuten, dass es zu Ereignissen wie bestimmten Messergebnissen kommen muss. Dies ist auch bei geistes- wissenschaftlichen Erklärungen regelmäßig der Fall: Stillschweigend werden Subjunk- tionen (Wenn-Dann-Sätze) in ihnen vorausgesetzt, selbst wenn es sich vordergründig um bloße Beschreibungen handelt; etwa wird davon ausgegangen, dass im antiken Krieg keine Kanonen verwendet wurden (Beispiel von mir). Diese Erkenntnis erleich- tert die Anwendung des H-O-Schemas auf Forschungsfragen wie unterschiedliche Op- ferzahlen in Kriegen. Dabei wird von im Prinzip empirisch überprüfbaren Handlungs- auswirkungen ausgegangen (vgl aaO 65). ZB kann man im Anschluss daran behaupten, dass man bei der Beschäftigung mit dem zur Zeit verfügbaren sprachgeschichtlichen Material beträchtliche Ähnlichkeiten zwischen Slowenisch und Slowakisch bemerken wird. C. I. Lewis macht in diesem Zusammenhang auf eine Grundtatsache der Wissen- schaftstheorie der Geisteswissenschaften aufmerksam: Unsere Erfahrung mit Spuren bzw Überresten der Vergangenheit ist eine notwendige Voraussetzung der Formulie- rung des zu erklärenden Sachverhalts und seiner singulären Antecedensbedingungen, wenn konkrete Staatsaktionen etc intersubjektiv und empirisch erforscht werden. Diese Problemlage verdeutliche ein Zitat (aaO 69): „Dementsprechend schließen sich

278 die Schlacht von Hastings plus der Wandteppich von Bayeux plus alle anderen Wirkun- gen der Schlacht von Hastings [1066] zu einem einzigen, sich in die Zeit erstreckenden Objekt zusammen.“ Das bedeutet jedoch, dass historische Erklärungen nachweisen, dass nur bestimmte Ereignisse hinreichende Bedingungen ihrer heute noch nachweisba- ren Folgen gewesen sein können. Dies setzt allerdings eine wissenschaftlich bestätigte Kausaldeutung von Quellen, Funden etc voraus (vgl aaO 71). Im Anschluss an Alfred Jules Ayer soll nun die Identität von Aussagen über die Ver- gangenheit mit Aussagen über die Folgen dieser Vergangenheit bestritten werden. Doch schließt dies mE nicht aus, dass ein Explanandum, welches in einem eindeutig festge- stellten Sachverhalt besteht, logisch aus einem empirisch überprüfbaren Explanans folgt. Das soeben erwähnte Explanandum bezieht sich auf das, was unter bestimmten Bedingungen für gewisse Beobachter wahrnehmbar gewesen wäre (aaO 85). „Vergan- gen“ ist eine relationale und nicht etwa „intrinsische“ (dh nur mit dem beschriebenen Sachverhalt verbundene) Eigenschaft von Zuständen bzw Ereignissen, weshalb in geis- teswissenschaftlichen Explananda regelmäßig eine Information enthalten ist, deren Wahrheit ua vom Zeitpunkt der Äußerung der sie betreffenden Aussage abhängt (aaO 95). Historische Schriften enthalten regelmäßig implizit oder explizit induktive bzw anthropologisch-apriorische Kausalannahmen, welche „theoriefreie Beobachtung“ transzendieren (vgl aaO 106). Danto erkennt, dass sich historische Erklärungen und Beschreibungen trotz allem wirk- lich auf die Vergangenheit beziehen und die ihnen zu Grunde liegenden, wenigstens zT falsifizierbaren Sachverhaltsfeststellungen etwas bedeuten, ob sie wahr oder falsch sind. Das Vorliegen relationaler Eigenschaften lässt sich nämlich ebenso wie das materiell- physikalischer empirisch falsifizieren, zB durch neue Quellen in Textwissenschaften usw248. In der Tat müsste man, so fährt Danto fort, den üblichen Sprachgebrauch sehr verän- dern, wenn man von Narben spräche, ohne damit diesen vorangegangene Wunden zu implizieren. Dieser Sachverhalt lässt sich auch so deuten, dass vergangenheitsbezogene Begriffe der Alltagssprachen uns helfen, unsere gegenwärtigen Erfahrungen zu organi- sieren, wie dies naturwissenschaftliche Fachbegriffe tun (vgl aaO 133). Danto liefert

248Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, 7-8, 11, 13-14, 19, 27, 41, 45, 49-51, 64-65, 67, 69, 71, 82, 85, 95, 100, 104, 106, 468

279 uns für diese quasitheoretische Rolle trivialer Annahmen über Vergangenheit und Kau- salität auch ein Beispiel, welches aus dem geisteswissenschaftlichen Diskurs bekannt ist, und zwar die Frage, ob zwei literarische Werke nur einen oder zwei Autoren haben. Dies nennt er auch ein Beispiel der Anwendung alltäglicher Begriffe auf eine wissen- schaftliche Streitfrage. Außerdem kann er zeigen, dass aus der Tatsache, dass die Wirklichkeit der Vergangen- heit nicht mehr existiert, nicht folgt, dass sie nie existiert hat. Im Zusammenhang damit regt er uns zur Erkenntnis an, dass es dem Begriff der Dauer widerspricht, welchen wir bei der Annahme eines noch so kurzen Moments verwenden, dass es gar keine Vergan- genheit gab. Dinge und Ereignisse wie die Wahrnehmung von Spuren setzen aber Aus- dehnung und Dauer voraus (vgl aaO 142). Abgesehen davon, ist die Leugnung der Ewigkeit der Zeit selbst unlogisch, da es widersinnig ist eine Zeit vor bzw nach der Zeit anzunehmen. Ein Zitat soll nun zeigen (Danto 145), wie sehr unsere Annahmen über die Datierung von Überresten bzw das Alter bestimmter Dinge und Phänomene mit impliziten oder expliziten Kausalüberzeugungen verknüpft ist: „Doch eine Welt anzunehmen, die seit einem Monat besteht, gäbe uns zwar einige Narben, jedoch keine echten Fossile. Sagt man, die Welt sei eine Million Jahre alt, so stellt dies den eigentlichen Gebrauch des vergangenheitsbeziehenden (sic!; besser wäre vergangenheitsbezogenen) Prädikats „ist ein Fossil“ wieder her.“

12c) Beweismaterial und Paradigma als Aspekte geisteswissenschaftlicher Erklä- rung Bestimmte Aspekte und Teile der gegenwärtigen Wirklichkeit werden von Geisteswis- senschaftlern als Urkunde (Dokument) über die vergangene Wirklichkeit verwendet, doch das bedeutet, dass uns das Explanandum und die Antecedensbedingungen des Ex- planans nur zugänglich sind, insofern sie Spuren hinterlassen haben, zB Quellen aller Art (vgl aaO 147). Danto macht seine Leser in diesem Zusammenhang auf die Tatsache aufmerksam, dass man auf etwas anderes als das Beweismittel selbst Bezug nimmt, wenn man es als Beweismaterial für etwas auffasst. Dies ist eine eindeutige logische Implikation, welche ich bei der Anwendung des H-O-Schemas auf die historischen

280 Wissenschaften voraussetze. Fragwürdige Quellen und Trugschlüsse über Kausalbezie- hungen können dennoch falsche Geschichtsbilder verursachen. Man denke nur an die Möglichkeit von Kunstfälschungen (Beispiel von mir). Ein primitiver Empirismus wird durch diese Problematik widerlegt, wodurch sich einem eine besondere Spielart des Empirismus, welche mit einem weitgehendem Deduktivis- mus und Falsifikationismus verknüpft ist, als Voraussetzung einer Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften aufdrängt (vgl aaO 165). Dies bedeutet, dass Schlussfolge- rungen kein Schönheitsfehler bei der Darstellung historischer Erkenntnisse sind, son- dern vielmehr die Ableitung aus theoretischen Prämissen über Kausalzusammenhänge und dem intersubjektiv kontrollierbaren Quellenmaterial der einzige Weg ist, korrekt humanwissenschaftliche Probleme zu lösen; dh unser Datenmaterial wird durch Theo- rien organisiert (vgl aaO): Schon im Alltagsgespräch über Dinge wie handgeknüpfte, maschinengefertigte, orientalische etc Teppiche stecken implizite Kausalannahmen über menschliches Tun und Treiben (Beispiel von mir). Danto referiert auch den aus dem ideologiekritischen Diskurs bekannten Standpunkt, dass sich Historiker von Vorannahmen, die von anerkannten Wissenschaftlern über- nommen wurden, leiten lassen, zT auch wenn diese Paradigmen widerlegt scheinen. Walsh hatte nämlich zutreffend bemerkt, dass Historiker nicht nur von populärphiloso- phischen Positionen ausgehen, sondern dass man ohne Voraussetzungen über die menschliche Natur keine Klarheit in Bezug auf geisteswissenschaftliche Forschungsfra- gen erreichen kann. Als methodische Regel der Quellenkritik ergibt sich mE daraus, dass man Berichte über soziokulturelle Ereignisse nur dann glaubwürdig finden darf, wenn sie sich auf Grund unserer Kenntnis ähnlicher Systeme ohne komplizierte Zusatzannahmen wie etwa die Landung von Außerirdischen als prinzipiell möglich nachweisen lassen (vgl aaO 174). In diesem Zusammenhang unterscheidet Danto drei Arten von Meinungsverschieden- heiten unter Historikern: divergierende Überzeugungen über Einzelereignisse, über die- se erklärende theoretische Annahmen sowie über wissenschaftliche Qualitätskriterien. MA nach sollten all diese Streitfragen jedoch zumindest prinzipiell einer logischen oder empirischen Entscheidung zugänglich sein. Damit hängt auch zusammen, dass alle Wis- senschaften theoretische Schemata als Erklärungshilfe und Mittel zum Zweck der Da- tenstrukturierung heranziehen, wie Danto bemerkt. Anschließend macht er darauf auf-

281 merksam, dass sich historische Wissenschaften regelmäßig anderer Methoden der Dar- stellung der relevanten Wahrnehmungen bedienen als die meisten Naturwissenschaften, indem sie die erzählende Form einsetzen. Dies bedeutet seine bekannte Aussage (aaO 184): „Die Geschichte erzählt Geschichten (History tells stories).“ Laut Danto beantworten Historiker regelmäßig die Frage, was zu einem Zeitpunkt an einem Ort passierte, mehr oder weniger detailliert: Freilich könne die Schilderung der Vergangenheit nicht mit dieser identisch sein, werde in der Praxis viele Details weglas- sen und zudem interpretationsbedürftig sein. Er diskutiert im Anschluss an Walsh, da- rauf aufbauend, über erklärende Berichte, welche die Tatsachenberichte in Chroniken transzendieren. Darum ist mE ausgerechnet das H-O-Schema in den Geisteswissenschaften angebracht, um mehr oder weniger willkürliche Hypothesen und Deutungen zu vermeiden. Durch seine Anwendung wird es möglich, soziokulturelle Entwicklungen zusammenhängend darzustellen, ohne bloß Einzelereignisse aufzulisten (vgl aaO 197). Aufgrund der bereits erwähnten inneren Logik aller üblichen Erzähltexte ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Historiker auf begriffliche Beweise verlassen, nicht nur auf empirische Belege: Berichte über Berufe regen einen etwa zu Erzählungen über menschliche Fähigkeiten an, die es zur im Bericht beschriebenen Zeit gegeben haben mag (vgl aaO 200). Danto erwähnt jedoch diesbezüglich das Problem, dass es zu Irrtü- mern auf Grund bloßer Analogien kommen kann, wenn man nicht von identischen, son- dern von ähnlichen Begriffen ausgeht: Weiß man etwa nur, dass es um eine technische Verbesserung geht (Beispiel von mir), folgt daraus wenig. Je mehr Belege und Quellen zur Verfügung stehen, desto eher sind Historiker in der La- ge, das Besondere zu erklären und zu schildern. Das liegt ua daran, dass Chroniken und ihnen ähnliche Primärquellen für die Geisteswissenschaften eine solche Rolle spielen, dass sie der Funktion von experimentellen Daten und gezielten Beobachtungen für die Naturwissenschaften vergleichbar sind (aaO 211).

282 12d) Erzähltexte und Erklärungsskizzen Dantos Überlegungen bezweifeln die Existenz historischer Erzählungen, welche nicht zugleich ein wenig erklären, da diese zusammenhanglose Satzreihen wären. Weiters stellt er fest, dass folgenreiche Ereignisse in humanwissenschaftlichen Texten eher als erwähnenswert gelten. Darüberhinaus macht er deutlich, dass schon die bloße Beschrei- bung eines komplexen Ereignisses auf Zusammenhänge zwischen mehreren menschli- chen Handlungen verweisen kann. Dieses Phänomen der Darstellung von Zusammen- hängen und Schlüsselereignissen in Erzähltexten lässt sich mE wohl nur als das Vorlie- gen von kausalen Erklärungsskizzen deuten. Ein ausführliches Zitat (aaO 224) belege meinen Standpunkt: „Ich habe die Auffassung vertreten, dass Erzählungen als Arten von Theorie angesehen werden können, die der Bewahrheitung fähig sind und die in die Ereignisse - durch gewisse Gruppierungen - eine Art Ordnung und Struktur bringen. Eine so betrachtete Erzählung bleibt gleichwohl lokalisiert in Raum und Zeit, sie gibt Antwort auf eine historische Frage und lässt sich dementsprechend von einer allgemei- nen Theorie unterscheiden, die nicht solcherart lokalisiert ist und demgemäß nicht die Antwort auf eine historische Frage darstellt.“249 Danto weist weiters darauf hin, dass es erzählende Sätze gibt, welche sich auf zwei Er- eignisse beziehen, aber nur das zeitlich frühere von ihnen beschreiben. Ich bin sicher, dass man sich ihm dahingehend anschließen soll, dass eine aus derartigen erzählenden Sätzen bestehende Geschichtsschreibung nur eine Vorform reifer Humanwissenschaft ist. Dennoch pflegt auch sie Erklärungsskizzen zu enthalten. Eine definitive und vollständige Beschreibung der Vergangenheit wäre auf der Ebene des Phänomenalen gewiss nicht verbesserbar (vgl aaO 241). Allerdings lässt Danto nicht unerwähnt, dass es Folgen vergangener Ereignisse gibt, welche Augenzeugen nicht vorhersehen konnten. Ich führe als Beispiel dafür aus dem Alltag ua Verkehrsun- fälle an. In diesem Zusammenhang ist zwischen zureichenden Bedingungen und Ursa- chen zu unterscheiden, da ansonsten Trugschlüsse über die Wirkung der Zukunft auf die Vergangenheit drohen (vgl aaO 251). Ist es nicht ein einleuchtender Beweis, dass auf Ereignisse, welche nicht mehr andauern, nichts mehr einwirken kann? Wohl verändern sich die Folgen der Explananda der historischen Erklärungen der Geisteswissenschaf-

249vgl aaO 131, 135-136, 142, 145, 147, 149, 165, 170, 174, 179, 184-185, 189, 192, 197, 200, 206, 211, 213, 218, 224, 229

283 ten, doch nicht diese selbst. Dantos Überlegungen regen einen insofern zum Rückgriff auf praktische Syllogismen bei der Interpretation humanwissenschaftlicher Rohdaten an, als er den Fachausdruck „Projektverbum“ prägt. Solche Verben implizieren nämlich das Vorliegen eines Handlungsziels, zu dessen Verwirklichung gewisse Verhaltensweisen beitragen (vgl aaO 259). Dies widerspricht keinem Ideal der Wissenschaftlichkeit, da es objektiv ist, die Existenz des subjektiven Weltbezugs zu schildern. Damit hängt zusammen, dass es für die Falsifikation geistes- wissenschaftlicher Hypothesen (aaO 262) notwendig sein kann, auch die Absichten his- torischer Akteure zu eruieren. Um zu wissen, wer Politiker werden möchte (Beispiel von mir), werden bloße Beobachtungen etwa nicht ausreichen. In wissenschaftlichen Texten lässt sich dieses Problem durch erzählende Beschreibungen mit Wahrscheinlich- keitsaussagen über die Intentionen der Handelnden umgehen. Bezieht man zwei Ereig- nisse durch erzählende Sprache auf einander, entsteht eine spezifische temporale Struk- tur (aaO 269). Dh dass in Abhängigkeit von erkenntnisleitenden Interessen mehrere Organisationen der Vergangenheit denkbar sind. Ich bin jedoch überzeugt, dass in derartigen histori- schen Erklärungen regelmäßig auf objektiv überprüfbare Kausalbeziehungen zu verwei- sen ist. Sowohl für Prognosen als auch für Erklärungen von Vergangenem benötigt man kon- krete Ereignisse als Randbedingungen und gesetzesartige Prämissen, wie auch Danto andeutet. Dennoch deckt er weitgehende Unterschiede zwischen Prognosen über Zu- künftiges und Erklärungen von Vergangenem auf und führt dies auf unterschiedliche Kräfte zurück, die Ereignisse verhindern bzw verursachen können. Logisch mögliche Alternativerklärungen wie Tankwagen statt Regenguss sind regelmäßig noch unwahr- scheinlicher als das Eintreten von Faktoren, welche Prognosen widerlegen, etwa Ände- rungen der Windrichtung (Beispiele von Danto). Dies verdeutliche ein Zitat (aaO 280): „Photographien, Augenzeugenberichte und dergleichen sind erst hinterher vorhanden, nicht aber vor dem Eintreten der Ereignisse, die sie bezeugen, und es sind derartige Ma- terialien, mit denen es die Historiographie zu tun hat. Man mache sich einmal die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten klar, die entstehen, wenn man versuchen will, genau die Stellen vorherzusagen, auf die ein Mensch seinen Fuß setzen wird, der einen Sand- streifen überquert: und wie einfach es demgegenüber ist, die jeweiligen Stellen nach-

284 träglich zu bestimmen, solange Fußspuren vorhanden sind.“ Willkürlich kontrollierbare Verhaltensweisen sind somit eine Grenze der sozialwissen- schaftlichen Prognose (vgl aaO 291): Während die meisten Prognosen Gegenmaßnah- men der Betroffenen gestatten, kann man sich dem historischen Urteil nicht entziehen, insofern es nicht vorhersehbar ist.250

12e) Prognoseprobleme, Handlungsfreiheit und implizite Verallgemeinerungen In Bezug auf die prinzipiellen Grenzen historischer Prognosen erkennt Danto, dass Aussagen über die Zukunft problematisch sind, insofern sie regelmäßig weder definitiv falsch noch definitiv wahr sind. Meine Lösung dieses seit Aristoteles virulenten Prob- lems ist folgende: Wenn sich nicht sagen lässt, ob eine Prognose wahr oder falsch ist, ist es per definitionem möglich, dass sie eintreten wird. Dafür gibt es zwei Ursachen: unse- re Unkenntnis relevanter Faktoren und mehrere Ablaufmöglichkeiten in indeterminier- ten Systemen. Ich schließe mich damit Aristoteles an, welcher über alle Aussagen be- hauptete, dass sie entweder wahr oder falsch sind, es sei denn sie beziehen sich auf et- was sowohl Zukünftiges als auch Singuläres (vgl aaO 305-306). Ist dies der Fall, ist das zukünftige Ereignis in mindestens einer Hinsicht indeterminiert. Dies impliziert jedoch, dass die Behauptung, es werde eintreten, eigentlich falsch ist. Denn das Eintreten indeterminierter Ereignisverläufe ist gewiss möglich, aber nicht vorhersehbar. Nur wenn alle notwendigen Bedingungen eines Ereignisses bekannt und gegeben sind, kann es mE unfehlbare Zukunftsprognosen geben. Danto ist klar, dass Aussagen über den Zeitpunkt eines Ereignisses von anderen Aussagen darüber wohl zu unterscheiden sind. Außerdem nimmt er meine Ausführungen vorweg, insofern er die Möglichkeit des Wissens über eine indeterminierte Zukunft leugnet und zu Recht fragt, welcher Realität Aussagen über eine Zukunft entsprechen, da sie noch nicht der Fall ist. Damit hängen jedoch auch Schwierigkeiten bei Retrodiktionen zusammen, wenn es um Sachverhalte geht, die vor ihrem Eintreten nicht völlig determiniert waren.251 Danto bemerkt außerdem, dass Geisteswissenschaftler regelmäßig mit Hilfe von Erzäh- lungen erklären, ebenso wie man im Alltag Verkehrsunfälle durch einen Bericht darüber

250vgl aaO 232, 241, 245-246, 251, 259, 262, 264, 269, 274, 280, 291 251vgl aaO 305-306, 309-310, 315, 318

285 aufklären will. Schon dieses Beispiel bringt ihn dazu, einen Unterschied zwischen Aus- führungen darüber, was geschah bzw warum es geschah, aufzuzeigen. In der For- schungspraxis kann dies mE in einander übergehen. Aber wissenschaftspsychologische und –soziologische Überlegungen über die Funktio- nen von Erzählungen mit Wahrheitsanspruch können nicht alle wissenschaftstheoreti- schen Zweifel beseitigen, da zB viele Erzählungen mit denselben Anfängen und Enden vorstellbar sind (aaO 324). Danto erwähnt auch einen Kerngedanken des hermeneuti- schen Paradigmas, nämlich die Einzigartigkeit des menschlichen Handelns aus Freiheit. Doch habe ich schon wiederholt gezeigt, dass auch dieses psychologisch-probabilistisch erklärbar ist. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten werden Wissenschaftstheoretiker kaum bestrei- ten, dass für geisteswissenschaftliche Erklärungen in der Regel spezifische Bedingun- gen eines singulären soziokulturellen Ereignisses relevant sind (vgl aaO 331). Danto wusste bereits (in einer Poppertradition stehend), dass Geisteswissenschaftler implizit populäre Verallgemeinerungen voraussetzen, als er Folgendes schrieb (aaO 334): „Es ist nun allerdings eine Tatsache, dass die Historiker selbst, wenn sie es unternehmen, Er- eignisse zu erklären, es zwar unterlassen, irgendwelche Gesetze genauer zu benennen, jedoch dessenungeachtet stillschweigend ihre Existenz voraussetzen, so dass dement- sprechend ihre Erklärungen stets den Charakter echter, verkürzter logischer Schlüsse haben.“ Bei derartigen Diskussionen ist es eine der Hauptirrtumsquellen, dass Kausalzusam- menhänge übersehen bzw halluziniert werden können: Laut Danto gilt es darum zu klä- ren, welche Rolle gesetzesartigen Aussagen in humanwissenschaftlichen Kontexten zu- kommt. Es ist jedoch unmöglich dieses Problem zu lösen, ohne sich auf eine konkrete Beschreibung soziokultureller Ereignisse zu beziehen (vgl aaO 349). Danto hoffte zu Recht darauf, dass sogar scheinbar Unerklärliches wie eine bestimmte Form der Stra- ßenbeflaggung durch begrifflich ausgefeilte Beschreibungen besser wissenschaftlich behandelbar wird. Andrerseits war ihm auch bewusst, dass historische Erklärungen ua in Anbetracht der Tatsache, dass bestimmte Ziele auf unterschiedliche Art und Weise erreicht werden können, an ihre Grenzen stoßen. Fälle, auf welche man kulturwissenschaftliche Verall- gemeinerungen anwendet, sind nämlich selten eine homogene Klasse, denn schon die

286 Verwendung von Eigennamen etc in der Beschreibung des Explanandums und seiner spezifischen Bedingungen kann zu beträchtlichen Unterschieden zwischen den zu erklä- renden Einzelfällen führen (vgl aaO 367). Die Möglichkeit von Einzelfällen kann man nachweisen, falls es gelingt, sie mit Hilfe allgemeiner Gesetze und Beschreibungen, welche Allgemeinbegriffe enthalten, darzustellen, doch dies ist bereits eine Art wahr- scheinlichkeitstheoretischer Synthese zwischen individualisierenden und generalisie- renden Paradigmen der Wissenschaftstheorie (vgl aaO 370).252 Explananda, welche im Sinne dieser Arbeit, einer Erklärung mit Hilfe praktischer Syl- logismen bedürfen, befassen sich regelmäßig mit dem Sinneswandel eines historischen Akteurs (aaO 373). Das ist einer von mehreren Gründen, warum sie sich als logisch konsistente Erzählungen darstellen lassen. Danto findet dafür die formelhaft verallge- meinernde Formulierung, dass Geisteswissenschaftler ua danach fragen, warum ein und das selbe Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Eigenschaft hatte und zu einem späteren Zeitpunkt eine andere. Ihm zu Folge wird dies zumeist dadurch erklärt, dass sich ein bemerkenswertes Ereignis zwischen diesen beiden Zeitpunkten zugetragen hat. Verändert sich die Bereitschaft einer Person, etwas zu tun, so ändert sich eine besondere Dispositionseigenschaft (vgl Ende der Einleitung). Allerdings können sich Geisteswis- senschaftler auch auf materielle Eigenschaften wie die Qualität von Waffen (Beispiel von mir) beziehen. Diese zu Erzählungen umformulierbare Erklärungsform vergleicht Danto mit Hegels dialektischem Dreierschritt. Danach stellt er die These auf (aaO 378), dass das Ereignis, welches die zu erklärende Veränderung herbeiführt, unter Bezugnahme auf einen all- gemeinen Begriff geschildert werden müsse. Wer würde seiner entsprechenden These widersprechen, dass die Auswahl solcher Darstellungen Erklärungsskizzen über Verur- sachungsmöglichkeiten voraussetzt? Forschungspsychologisch lässt sich mE auch nachweisen, dass es wirklich ein intuitives Verstehen menschlichen Verhaltens gibt, mit welchem alltagsrelevante Veränderungen auf Ereignisse zurückgeführt werden (vgl aaO 384). Danto behauptet sinngemäß, dass Historiker wohl Einzelfälle mittels empirisch bewährter Prinzipien erklären, aber kaum neue Erklärungsprinzipien entdecken. Außer- dem macht er darauf aufmerksam, dass historische Ereignisse aufgrund der vorstellba- ren Vielfalt möglicher Ursachen nicht gleich eindeutig als Folge anderer Sachverhalte

252vgl aaO 321-322, 324, 328, 331, 333-334, 340, 346-347, 349, 351, 360, 362, 367, 370-371

287 angesehen werden wie durch einfache Naturgesetze bedingte Vorkommnisse (vgl Kapi- tel 8). Ich bezweifle in diesem Zusammenhang, dass die menschliche Meinungsbildung von so wenigen Faktoren abhängt, dass sie regelmäßig nicht probabilistische Erklärun- gen zulässt.

12f) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Erzählungen und geisteswissen- schaftlichen Argumenten Diese Problemstellung verweist auf die Existenz gewisser Analogien zwischen realisti- schen Erzählungen und wissenschaftlich-deduktiven Beweisen, aber auch auf die Gren- zen dieser Ähnlichkeit. Dies verdeutliche das folgende Zitat (aaO 396): „Vom logischen Standpunkt erheben wir die Forderung, dass durchgängig dieselbe Variable durch die- selben Konstanten ersetzt wird. Das narrative Analogon könnten wir als Einheit des Subjekts bezeichnen. In der oben dargestellten Beweisführung kann in der Konklusion keine Konstante auftauchen, die nicht vorher bereits in den Prämissen erscheint.“ Das bedeutet für geisteswissenschaftliche Erklärungen ua, dass Analogieschlüsse falsch sein können, obwohl ein allgemeingültiges Gesetz, zB über Revolutionen als solche, bekannt ist. Es wäre etwa ein Trugschluss, dass aus der Tatsache, dass eine Revolution stattfand, eine Änderung des Wirtschaftssystems gefolgert werden kann (Beispiel von mir). Danto unterscheidet weiters atomische Erzählungen, bei welchen eine einzige Verände- rung eines Subjekts in Folge eines konkreten Ereignisses berichtet wird, und molekulare Erzählungen, bei welchen eine Aneinanderreihung atomarer Erzählungen Vorfälle wie die Reise eines Politikers verständlich macht. Diese Unterscheidung führt er ein, um darauf aufmerksam zu machen, dass Geisteswissenschaftler an größeren oder an kleine- ren Veränderungen interessiert sein können. Bei der Beschreibung solcher Veränderungen kann man von der Existenz anthropologi- scher Konstanten wie des Schmerzempfindens ausgehen (vgl aaO 411), ohne schon da- mit das Andersartige anderer Epochen zu unterschätzen. Von Danto kann man weiters lernen, dass die Beschäftigung mit den Überzeugungen anderer Menschen zwar bedeu- tet, dass jemand diese Überzeugungen hatte, nicht jedoch, dass diese Überzeugungen der Wahrheit ähnlich waren. Gerade dies ist ein Beispiel für epochenbedingte Verständ- nisprobleme, welche geisteswissenschaftliche Erklärungen erschweren können. Offen-

288 sichtlich muss man die weitgehende Unwissenheit über mögliche Handlungsfolgen be- rücksichtigen, wenn man sich hermeneutisch in das Erleben historischer Akteure ein- fühlen will; ebenso sieht man auch Gegenstände, welche für eine kulturelle Vergangen- heit typisch sind, wie Spinnräder und sakrale Kunst mit anderen Augen als die Men- schen der Vergangenheit (vgl aaO 420). Wer weiß etwa nicht (Beispiel von mir), dass wir die Kultur des klassischen Altertums heutzutage nicht mehr als gleich unübertreff- lich oder selbstverständlich wahrnehmen, wie dies bei manchen antiken Autoren der Fall war? Danto beschreibt dieses Phänomen, indem er betont, dass es Informationen bezüglich einer Alternative erleichtern, die Vorbildlichkeit bestimmter Lebensformen einzusehen.253

12g) Interaktionen zwischen Individuen und Kollektiven Wenden wir uns nun der Frage zu, inwieweit eher Einzelpersonen oder eher Kollektive im Vordergrund geisteswissenschaftlicher Erklärungen stehen sollen. Laut Danto ent- halten geisteswissenschaftliche Publikationen regelmäßig historische Sätze, dh Tatsa- chenfeststellungen mit Bezug auf die Vergangenheit, welche sich auf ganz konkrete und reale Personen beziehen. Er weiß aber auch von historischen Sätzen, welche etwas über ethnische, soziale etc Kollektive aussagen, wozu Sätze zählen, deren Subjekt Ereignisse wie Kriege oder geistige Strömungen sind. Das Zusammenwirken vieler Einzelner ohne Aussagen über Gruppen darzustellen, scheint ihm nicht praktikabel. Dem stimme ich zu, frage allerdings inwieweit die gegenseitige Beeinflussung im Rahmen soziokulturel- ler Ereignisse eine Eigendynamik annimmt. Wie John William Nevill Watkins glaube ich, dass soziale Institutionen aus Einzelnen bestehen, deren Meinungen und sonstige Dispositionen die konkrete Gestalt soziokultureller Ereignisse bestimmen. Dennoch wird damit mE nicht die Existenz von Kollektiven in Frage gestellt (vgl aaO 429). Denn auch die Mitmenschen gehören zur Umwelt eines Handelnden und wirken zusammen, wie viele Bäume einen Wald bilden. Auch bei Danto finden wir diese Wechselwirkung angedeutet, aus welcher soziale Gleichgewichtszustände bzw Systemumgestaltungen hervorgehen. Nach der Erwähnung der Tatsache, dass nur das Verhalten Einzelner beobachtbar ist, schreibt er (aaO 436):

253vgl aaO 373, 375-376, 378, 384, 387-388, 395-396, 399-400, 411, 416, 420, 425

289 „Aber dieses Verhalten muss nichtsdestoweniger gewürdigt und verstanden werden durch Bezugnahme auf ein soziales System im Prozess der Veränderung, und es muss als ein Beweis dafür genommen werden, dass das System selbst sich verändert.“ Wer weiß nicht auch aus eigener Erfahrung, dass durch gegenseitige Beeinflussung schon bei Ballspielen soziale Systeme entstehen, welche einem Organismus ähneln? All das wurde auch in etlichen nach 1970 entstandenen Publikationen berücksichtigt: Wenngleich diese Danto eventuell nicht explizit erwähnen, greifen sie doch auf Gedan- ken wie den Funktionalismus Malinowskis (vgl Kapitel 6) zurück. Man findet den Zu- sammenhang zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft nicht rätselhaft, wenn man über derartige Ansätze reflektiert. Bereits Dilthey betonte die Bedeutung jenes Zusammenhangs für geisteswissenschaftli- che Forschungen. Vielmehr hilft zB mir eine Analogie zur Vektorrechnung beim Ver- ständnis des Problems, dass das Zusammenwirken der Bestandteile eines Systems nicht immer in derselben Weise additiv ist wie die Länge zweier Zeitspannen. Geht es näm- lich um die Wirkungen soziokultureller Einflüsse, muss man wissen, dass sie sich ähn- lich wie die gerichteten Größen der Physik, zB Kräfte, verhalten. Wer würde etwa be- zweifeln, dass bei Erforschung von Kulturkontakten nicht nur das Ausmaß, sondern auch die Richtung der kulturellen, gedanklichen etc Einflüsse eine Rolle spielt? Ebenso ist es allgemein bekannt, dass es in den Geisteswissenschaften auch auf die Konfigura- tion der Bestandteile eines Systems ankommen kann. Dies ist doch auch bei Rechenope- rationen wie Division oder bei der Anordnung von Farbstreifen auf Fahnentüchern der Fall, um nur sehr einfache Beispiele anzuführen. Diese sollten verdeutlichen, dass es emergente Eigenschaften soziokultureller Systeme und Ereignisse gibt, welche indes keinen mystischen Charakter tragen.254 Gesellschaftliche Zwänge sowie individuelle Willensregungen formen sich gegenseitig und können daher für geisteswissenschaftliche Erklärungen gleichermaßen von Bedeu- tung sein (vgl Danto 446). Die diesbezügliche Schwerpunktsetzung hängt von der Fra- gestellung ab: Erklärt man Wirtschaftskrisen, wird man mehr auf soziale Systeme ach- ten, während der Einzelne bei Explananda wie Tagebucheintragungen im Vordergrund steht.

254Acham thematisiert Richtungen von Einflüssen usw: vgl Karl Acham; Winfried Schulze (1990) Einleitung. In: Karl Acham und Winfried Schulze (Hg): Teil und Ganzes. München: Deutscher Ta- schenbuch Verlag 1990, 11-14

290 Danto geht auf diese Problematik ein, wenn er ausführt, dass auf Grund gesetzesartiger Zusammenhänge gewisse Tatsachen des individuellen Seelenlebens Anfangsbedingun- gen für bestimmte Zustände sozialer Systeme sein können und umgekehrt. Dabei würde es sich um eine Kausalverknüpfung zwischen zwei unterschiedlichen Phänomenklassen handeln. Ich meine allerdings, dass die Annahme, eine solche Beziehung sei keine Wechselwirkung, sondern ein einseitiges Determinationsverhältnis letztlich absurd ist. Weder sind vernunftbegabte Wesen völlig von ihrer Umwelt programmierbar, noch können sie von den sozialen Interaktionsmöglichkeiten gänzlich unbeeinflusst blei- ben.255

Kapitel 13 – Popper als Vorläufer der Theorie der geisteswissenschaftlichen H-O- Erklärung

Jede Kritik an totalitären Weltbildern sowie dem übertrieben sozialprognostischen His- torizismus impliziert einen Bezug auf die menschliche Freiheit in indeterministischen Systemen. Außerdem kann man diese Systeme sicher mit wissenschaftlichen Methoden behandeln, wenn auch mit besonderen. In seinem berühmten, polemischen Aufsatz „Das Elend des Historizismus“ referiert Popper zunächst ausführlich die Doktrinen, die er widerlegen möchte, und zwar zuerst Gedankengänge, die auf den prinzipiellen Unterschieden zwischen Natur- und Sozial- wissenschaften aufbauen. Dabei beschreibt er den einflussreichen Standpunkt, die Wan- delbarkeit soziologischer Gesetze verhindere die Anwendung mancher naturwissen- schaftlicher Forschungsmethoden als eine Spielart des Historizismus (Popper 5). Diese Richtung bestreitet die Wiederholbarkeit eventueller sozialer Experimente, weil man nicht wesentlich in die Gesellschaft eingreifen könne, ohne sie zu verändern: Das hänge schon mit bloßen Gewöhnungseffekten zusammen. Weiters geht Popper auf das Einma- lige an soziokulturellen Ereignissen und auf den Einfluss der sozialwissenschaftlichen Prognose auf das Prognostizierte ein. Er zählt auch fragwürdige Schlussfolgerungen aus

255Die Einbeziehung systemtheoretischer und gruppendynamischer Ansätze würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen: Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, 427-429, 435-436, 442, 446, 455

291 diesem Problemkomplex auf, wie den übertriebenen Zweifel an der Möglichkeit objek- tiver Sozialwissenschaften und den holistischen Zugang zum Phänomen der Gruppe, die auf ihre Mitglieder zurückwirkt. Außerdem erwähnt Popper die durchaus übertriebene Ansicht, die Sozialwissenschaft arbeite nicht mittels Induktion, sondern mit intuitiver Einfühlung. Im Zusammenhang damit kommt er auf den wahren Kern dieser Ansicht zu sprechen, nämlich auf die Re- konstruktion der Intentionen der Handelnden und den Einfluss von Ereignissen auf so- ziale Umfelder, welche ua Kernbestandteile geisteswissenschaftlicher Erklärungen sind. Historizisten hatten zudem andrerseits die zutreffende Einsicht, dass die in solchen Ein- zelfallerklärungen angeführten Einflüsse nicht exakt quantifizierbar sind. Geisteswissenschaftliche Erklärungen müssen auch auf Veränderungen bei soziokultu- rellen Ereignissen eingehen. Ich bestreite, dass diese Aufgabe anders lösbar ist als durch die Denkweise, welche Popper als methodischen Essentialismus bezeichnet. Wenn Ge- sellschaften bzw Kulturen unter Einwirkung innerer oder äußerer Einflüsse umgestaltet werden, realisieren sie per definitionem nur ihre Potentiale. Das wusste schon Aristote- les. Dies ist aber kein Argument für den Historizismus, da Unvorhersagbarkeit und Ein- zigartigkeit zum Wesen von Vorgängen gehören und im Gegenstandsbereich der Geis- teswissenschaften regelmäßig vorkommen. Popper hält mit Recht manche Sozialprognosen für möglich. Es fragt sich aber, wie man nicht nur neue Ereignisse, sondern auch neue Strukturen prognostizieren soll, wäh- rend Vorhersagen in Bezug auf neue Überzeugungen überhaupt unmöglich zu sein pfle- gen (Popper XI-XII).256

13b) Grenzen der Sozialprognose und realistische Planungen Die pronaturalistischen Doktrinen des Historizismus charakterisiert Popper durch ihre langfristigen Großprognosen und erläutert dies durch die Analogie zwischen Astrono- mie, die Sonnenfinsternisse vorhersagt, und Soziologie, deren Ziel die Vorhersage von Revolutionen sei. Er betont aber, dass er nicht behauptet, der Historizist hoffe auf eine Prognose, die gleich zuverlässig wie die astronomische wäre. Vielmehr gebe dieser die

256Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus. Tübingen: J. C. B. Mohr 1979, 5, 8, 10-11, 13-14, 17, 21, 26-27, XI-XII

292 systematischen Mängel soziologischer Zukunftsforschung zu, da die Komplexität der sozialen Wechselwirkungen und der „qualitative Charakter soziologischer Begriffe“ (Popper 30) auch für Historizisten zu Ungenauigkeiten führen müsse, obwohl er andrer- seits Verstehen ermögliche. Dieser Historizismus greift laut Popper ausschließlich auf das von der Historie ermittel- te Datenmaterial als empirische Grundlage einer Soziologie zurück, die langfristige Prognosen wagt. Mit dieser idiosynkratrischen Vision der Sozialforschung hängt die Vorstellung zusammen, dass eine soziale Dynamik erkannt werden soll, welche der Lehre über die möglichen Wirkungen physikalischer Kräfte analog ist. Das bedeutet, dass die Erkenntnis historischer Kräfte geistiger und materieller Art das Ziel des historizistischen Paradigmas der Wissenschaft von den gesellschaftlichen Ver- änderungen ist, deren Prognosen von Popper zutreffend Prophezeiungen genannt wer- den. Er referiert zudem die sehr seltsame historizistische These, es gebe keine allgemei- nen Gesellschaftsgesetze, sondern Entwicklungsgesetze des Umschlags von einer Epo- che zur nächsten. Dies kann schon deshalb nicht wahr sein, weil es sich nicht sagen lie- ße, dass bestimmte Gesellschaften nicht funktionieren können und es irrational wäre, sie nicht zu ändern, wenn gar keine sozial- und kulturwissenschaftlichen Gesetze epochen- übergreifend konstant blieben. Ich postuliere hiermit eine begrenzte Anzahl sozialer Möglichkeiten. Dieser die Zukunft enträtselnden historizistischen Soziologie, welche auch Politikbera- tung ist, stellt er technisch-pragmatische Prognosen gegenüber, welche uns darüber in- formieren, mit Hilfe welcher Maßnahmen wir gewisse Handlungsergebnisse erreichen können. Popper führt anschließend aus, dass eine technologische Sozialwissenschaft vorstellbar ist, die anders als historizistische Ansätze nicht nach großen Tendenzen und Kräften hinter sozialen Veränderungen fragen würde, sondern nach Tatsachen, welche Entwicklungsmöglichkeiten Grenzen setzen. Die Kenntnis solcher Tatsachen halte ich für eine Voraussetzung der Optimierung geisteswissenschaftlicher Erklärungen. Von Popper wird zugegeben, dass sogar der Historizismus Grenzen der Planbarkeit und des Aktivismus einräumt, indem er postuliert, dass es notwendige Phasen einer zwangsläu- figen Veränderung gibt. Es grenzt mE ans Paradoxe, wenn Historizisten zur praktischen

293 Tätigkeit anspornen, obwohl ihre Prognosen an Prophezeiungen gemahnen und viele Maßnahmen als unrealistisch abwerten.257 Im dritten größeren Abschnitt seines Aufsatzes wendet sich Popper der Kritik an antina- turalistischen Doktrinen des Historizismus zu: Sein origineller Gegenvorschlag besteht in der Entwicklung der Idee zur sozialreformerischen „Stückwerktechnologie“. Im Zu- sammenhang damit stellt er fest, dass Sozialwissenschaftler aus dem Diskurs über die Folgen politischer etc Maßnahmen viele Entwicklungsimpulse bezogen haben. Ich glaube, dass daraus für das Thema der geisteswissenschaftlichen Erklärung folgt, dass man die möglichen Auswirkungen von bestimmten Bedingungskomplexen kennen und studieren soll (vgl Kapitel 7, vor allem Hübner). ZB lassen sich Aussagen über denkba- re Folgen von Maßnahmen wie Tempolimits (Beispiel von mir) eher als andere klar ausdrücken und empirisch überprüfen. Ich halte es für richtig, der Idee Poppers zu fol- gen, dass man gesetzesartige Aussagen über soziokulturelle Gepflogenheiten in der praktisch verwertbaren „technologischen“ Ausdrucksweise formulieren soll. Diese be- sagt, dass gewisse soziale Zustände nicht realisierbar sind, da bestimmte kurzfristige Ergebnisse nicht ohne unerwünschte Nebenwirkungen eintreten. Solch ein Wortlaut von Textfassungen lässt sich als allgemeine Aussage ins Explanans von H-O-Schemata ein- fügen, wobei sie meist Dispositionen oder ähnliche statistische Möglichkeiten ausdrü- cken, zB die von ihm explizit genannte Möglichkeit des Machtmissbrauchs in sozialen Interaktionen (Popper 49-50). Die Meinung, man könne nicht zweckrational in die Gesellschaft eingreifen, bezeichnet Popper als Antiinterventionismus und verwirft sie als unlogisch, weil sie Interventionen zur Verhinderung von Interventionen empfehlen könnte. In diesem Zusammenhang stellt sich die Forschungsfrage, inwieweit sich die Grenzen der gesellschaftlichen Ge- staltbarkeit objektiv feststellen und bei der Darstellung diverser geisteswissenschaftli- cher Erklärungen berücksichtigen lassen. Popper warnt jedoch vor übertriebenen Übernahmen naturwissenschaftlicher Methoden, da Zustimmung und Zwang etwa Faktoren des politischen Klimas sind, aber weder im rechten Winkel zueinander stehen noch messbar sein können. Auf diese Weise kritisiert er eine Publikation, die an Schwindel erinnert (aaO 52).

257aaO 30, 32-35, 37, 41-42

294 Poppers Sozialtechnik macht keine Aussagen über das Ziel, auf dessen Verwirklichung sie mit schrittweisen Reformen hinarbeitet. Allerdings scheint mir die Begründung von Wertvorstellungen unabhängig von den Sozialwissenschaften zu funktionieren. Das in diesen Textpassagen explizit genannte, ja vorausgesetzte Ziel der allgemeinen Wohl- fahrt (aaO 53) finde ich für jedermann erstrebenswert, denn übertriebener Leistungs- druck und sehr ungleiche Verteilung der Arbeitsbelastung gefährden den Einzelnen und die Gesellschaft. Poppers Betonung der Rolle von Personen in Institutionen verweist uns auf Erklärungen mit praktischen Syllogismen, welche Verallgemeinerungen wie Russells Hypothese von der Umwandelbarkeit von Reichtum in Gewalt als nur begrenzt anwendbar aufdecken. Wie der „Stückwerksingenieur“ durch seine skeptische Haltung das Laster des politischen Leichtsinns vermeidet, versucht die von mir dargestellte sta- tistische Erklärung der Möglichkeiten in soziokulturellen Systemen mit mehreren Frei- heitsgraden eine sokratische Position einzunehmen, die den goldenen Mittelweg zwi- schen übertriebenen Verallgemeinerungen und oberflächlichen Beschreibungen dar- stellt. Popper stellt dieser Stückwerkssozialtechnik die holistisch-utopische Sozialtechnik ge- genüber, welche die Gesamtgesellschaft verändern will. Er bemerkt auch zutreffend, dass sich holistische Gesellschaftsentwürfe durch die Idee, sich nicht an die Menschen anzupassen, sondern sie nach ihren Plänen zu gestalten, gegen wissenschaftliche Kritik immunisieren können. Um angesichts solcher sozialer Sachverhalte objektiv zu bleiben, empfiehlt es sich mE, gesellschaftspolitische Eingriffe mit Hilfe des praktischen Syllo- gismus zu analysieren und von trivialen Voraussetzungen wie dem Utilitarismus auszu- gehen. Historizisten halten umgekehrt die Stückwerkstechnologie für utopisch, übersehen dabei jedoch laut Popper Probleme bei der empirischen Beschäftigung mit Ganzheiten. ME müssen geisteswissenschaftliche Erklärungen daher mehr als bisher auf Einzelfaktoren eingehen, ohne Interdependenzen zu übersehen. Eine metaphysisch-psychologische Lehre vom Erstrebenswerten schlage ich als Ersatz für ein historisches Entwicklungsge- setz in der Sozialtechnik und manchen geisteswissenschaftlichen Erklärungen vor.258

258aaO 47-54, 56, 58

295 13c) Soziale Strukturen in Wechselwirkung mit zwischenmenschlichen Interaktio- nen Poppers nächstes Anliegen ist die Kritik am Holismus. Dabei unterscheidet er zwei Ar- ten, das Wort „Ganzheit“ zu gebrauchen, da sowohl überhaupt alle Aspekte einer Sache gemeint sein können als auch nur diejenigen ihrer Eigenschaften, welche sie zu einer Struktur im Unterschied zur Anhäufung machen. Eigentlich gibt es Wissenschaft nur von „Ganzheit“ im Sinn von Strukturen, weil sämtliche Aspekte eines einzelnen Sach- verhalts nicht beschrieben werden können. Das Abstrahieren von Nebensächlichem beim Versuch, soziale Strukturen zu erkennen, kann der Qualität von geisteswissenschaftlichen Erklärungen schaden; Popper weist darauf hin, dass unzählige zwischenmenschliche Beziehungen das Phänomen Gesell- schaft ausmachen (vgl aaO 63). Das gilt es mE bei geisteswissenschaftlichen Erklärun- gen zu berücksichtigen: Wie Popper erkannte, dass die Planung sozialer Beziehungen selbst Beziehungen schafft und ihr Grenzen gesetzt sind, weil sie von Gesellschaftsmit- gliedern ausgeht, müssen Geisteswissenschaftler erkennen, dass nicht die soziale Struk- tur allein die sozialen Interaktionen determiniert. Die alte Volksweisheit, dass Gesellschaften Ganzheiten sind, ist wahr, bedeutet aller- dings nur, dass sie nicht völlig chaotisch und mit wenigen Wechselwirkungen funktio- nieren. Die Geschichte liefert Informationen über mögliche Wirkungen von sozialem Handeln und die Fehlbarkeit von Politikern. Beides ist bei der Erklärung mit prakti- schen Syllogismen zu berücksichtigen: Es spielt eine Rolle, inwieweit jemand aus sei- nen Fehlern lernen konnte und inwieweit auf seine Ansichten eingewirkt wurde. In Folge der Wandelbarkeit soziokultureller Umstände hätten bewährte Maßnahmen andere Auswirkungen als erwartet, wenn sie in einer anderen Epoche verwirklicht wür- den. Diese Einsicht Poppers bedeutet für unser Thema (vgl aaO 76), dass geisteswis- senschaftliche Erklärungen wegen der Denkbarkeit solcher möglicher Überraschungen verbessert werden können. Derlei Verbesserungen werden durch Gedankenexperimente und Feldarbeit von Anthropologen gleichermaßen ermöglicht. Obgleich es bei vielen gesetzesartigen Aussagen, welche für geisteswissenschaftliche Erklärungen verwendet werden, der Fall ist, dass sie zu anderen Zeitpunkten ungültig sein können, bestreitet Popper zu Recht die Unmöglichkeit von humanwissenschaftli- chen Verallgemeinerungen bzw der Feststellbarkeit anthropologischer Konstanten.

296 Er erläutert dies mit Beispielen, wie der in Abhängigkeit von der Entfernung zu Nord- und Südpol variierenden Länge von Tag und Nacht. Dieses Problem verdeutlicht auch folgendes Zitat (aaO 81): „Würden wir Gesetze zulassen, die selbst Veränderungen un- terliegen, dann könnten wir Veränderungen niemals durch Gesetze erklären.“ Mit anderen Worten: Eine Erklärung nach dem H-O-Schema wäre ausgeschlossen, wenn prinzipiell alles möglich wäre (aaO 82). ME ist die Antwort auf die Frage, ob et- was in Abhängigkeit von Faktoren wie dem Stand der Technik menschenmöglich ist, in der Regel bloß eine Feststellung von Trivialitäten.259

13d) Soziale Trends im Unterschied zu Entwicklungsgesetzen Im vierten Hauptabschnitt seines programmatischen Textes widmet sich Popper der Kritik an der pronaturalistischen Spielart des Historizismus. Er falsifiziert diese Lehre mit treffenden Argumenten und stellt sie als Folge eines Missverständnisses naturwis- senschaftlicher Methoden dar. Er charakterisiert diese Irrlehre folgendermaßen (aaO 83): „Insbesondere könnte man die Auffassung, dass die Aufgabe der Sozialwissen- schaften in der Entdeckung des Entwicklungsgesetzes der Gesellschaft besteht, als die zentrale Doktrin des Historizismus bezeichnen.“ Um sich mit dieser Geisteshaltung auseinanderzusetzen, führt Popper die Unterschei- dung zwischen allgemeinen Gesetzeshypothesen und dem ein, was er „Hypothesen sin- gulär-historischen Charakters“ nennt (aaO 84). Gewiss ist nämlich die Annahme, viele Tierarten stammten von gemeinsamen Vorfahren ab, kein Naturgesetz, sondern die Dar- stellung eines vermuteten naturgeschichtlichen Einzelfalls, welcher selbst durch Gesetze wie Mutation und Vererbung erklärt werden muss. Die Beobachtung einzigartiger Vor- gänge gibt uns laut Popper keinen Grund zur Hoffnung, allgemeine Gesetze zu entde- cken. Das kann nicht falsch sein, da mE gesetzesartige Aussagen, welche bei geistes- wissenschaftlichen Erklärungen helfen, nur dann zur Verfügung stehen, wenn zahlrei- che sehr ähnliche Fälle bekannt und mögliche Wirkkräfte identifizierbar sind. Dies ist nur scheinbar mit der Meinung, Geschichte wiederhole sich, logisch kompatibel, da Pa- rallelen zwischen verschiedenen Kulturen in der Regel wegen recht unähnlicher Um- stände und zahlreicher Handlungsalternativen der Prognose Grenzen setzen. Diese

259aaO 61-63, 66-67, 70, 75-76, 79, 81-82

297 Handlungsalternativen schaffen eine Situation, deren Veränderung am besten mit prak- tischen Syllogismen erklärbar ist. Popper selbst schreibt zu diesem Thema (aaO 89): „Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass dynamische physikalische Systeme deshalb exakte Prognosen erlauben, weil sie stationär sind, dh sich nicht entwickeln und in ihren Strukturen verändern.“ Dies ist zB bei Planetensystemen der Fall, die nicht-stationären sozialen Systemen wie der Kunstszene um 1900 sehr unähnlich sind. Aus diesem Grund muss man sich dessen bewusst werden und es bei der Formulierung wissenschaftlicher Hypothesen auch ex- plizit sagen, dass Ausdrücke wie „Geschwindigkeit sozialer Bewegung“ bloße Meta- phern sind. Eben das besagt auch folgendes Zitat (aaO 90): „Insbesondere ist die Hoff- nung, wir könnten eines Tages die „Bewegungsgesetze der Gesellschaft“ finden, wie Newton die Bewegungsgesetze der physikalischen Körper fand, nichts als das Ergebnis dieser Missverständnisse. Da es keine Bewegung der Gesellschaft gibt, die der Bewe- gung physikalischer Körper in irgendeinem Sinne ähnlich oder analog wäre, kann es auch keine solchen Gesetze geben.“ Indes räumt Popper ein, dass Trends der Gesellschaftsentwicklung eine statistisch nachweisbare Tatsache sind. Zwischen Trends und Gesetzen aber nicht zu unterschei- den, halte ich für einen Denkfehler. Poppers Behauptung, dass die Existenzaussage über einen Trend an einer bestimmten raumzeitlichen Position keine Allquantifikation ist, sondern eine Existenzquantifikation, lässt sich nicht bestreiten. Zwischen Gesetzen und Trends nimmt er in einer Fußnote zu seinem Text folgenden Zusammenhang an: Geset- ze können ua bedeuten, dass bestimmte Trends anzutreffen sein werden, falls gewisse Bedingungen herrschen. Dies ist mE der einzige wahre Kern der Mythologie der histo- rizistischen Prognose; denn geisteswissenschaftliche Erklärungen leiten die Existenz von Trends regelmäßig aus dem Menschenmöglichen und aus konkreten Umständen sowie deren Zusammenspiel ab. Dabei tritt verkomplizierend hinzu (Popper 92), dass gewöhnlich mehrere Gesetzmäßigkeiten wirksam sind, wenn mehrere Ereignisse kausal zusammenhängen. Der Diskussionsstand wird durch folgende Worte zusammengefasst (aaO 92): „Die Vorstellung, dass (außer in Fällen wie dem der Pendelbewegung oder eines Sonnensystems) irgendeine konkrete Abfolge von Ereignissen durch ein Gesetz oder ein bestimmtes System von Gesetzen beschrieben oder erklärt werden könnte, ist einfach falsch. Es gibt weder Sukzessions- noch Entwicklungsgesetze.“

298 Anschließend bemerkt Popper Mills Verwechslung zwischen Tendenz und Gesetz, wel- che mE ein glatter Kategorienfehler ist. – Damit möchte ich sagen, dass der Sieg der vernünftigeren Kultur zwar wünschenswert, aber nicht sicher ist. Popper bemängelt auch zu Recht den bloß metaphorischen Charakter mancher generali- sierender sozialwissenschaftlicher Texte. Dann geht er auf Mills Kernthese (vgl Kapitel 3c) ein, dass Humanwissenschaften ihre induktiven Verallgemeinerungen durch Ablei- tung aus induktiven, meist psychologischen Gesetzen beweisen müssen. Ich finde dies im Anschluss an Popper prinzipiell akzeptabel. Denn wer zweifelt daran, dass Gesetze, Trends und Einzelfälle durch Zurückführung auf ein bewährtes allgemeineres Gesetz gleichermaßen kausal erklärt werden? Beschäftigt man sich mit geisteswissenschaftlichen Erklärungen, gilt es, daran zu den- ken (Popper 97), dass die Randbedingungen des D-N-Schemas in der Alltags- und Wis- senschaftssprache in der Regel als Ursache bezeichnet werden und der zu erklärende Sachverhalt als Wirkung. Dies gilt nur unter der Voraussetzung einer Gesetzmäßigkeit, welche einem jedoch nicht einmal bewusst wird, falls sie trivial ist (vgl der Verweis auf Popper in Kapitel 2).

13e) Erklärung von Trends durch singuläre Randbedingungen Popper macht auf Unterschiede zwischen Kausalerklärungen von gesetzesartigen Sach- verhalten und von Einzelfällen aufmerksam. Worin bestehen diese? – Wenn das erklärte Gesetz dem erklärenden Gesetz nicht widerspricht, muss letzteres so formuliert sein, dass seine Formulierung spezifische, nicht singuläre Randbedingungen enthält. Popper schreibt dazu (aaO 100): „Erklärte Trends gibt es wirklich, doch ihr Andauern hängt vom Andauern gewisser spezifischer Randbedingungen ab (die ihrerseits wieder Trends sein können). Nun übersehen Mill und die anderen Historizisten die Abhängigkeit der Trends von den Randbedingungen. Sie arbeiten mit Trends, als wären diese unbedingt wie Gesetze.“ (Hervorhebungen von Popper) Offensichtlich ist dies mE der Fall, wenn man von einer eindeutig determinierten sozia- len Zukunft ausgeht. Denn viele Trends ließen sich umkehren, etwa (Beispiele von mir) durch Verhinderung der Verelendung der Unterschicht oder durch Einschreiten gegen die Bevölkerungsexplosion usw; sie sind eben kein quasi naturgesetzlicher Sachzwang.

299 Daher ist auch bei sozialen Prognosen ein System mit mehreren Freiheitsgraden anzu- nehmen, in welchem manche Ereignisse, zB konkrete Wirtschaftsreformen, mittels praktischer Syllogismen erklärbar sind. Popper gibt uns im Hinblick auf das von mir eben umrissene Problem den Auftrag, die Bedingungen zu ermitteln, unter welchen spezifische Trends wirken können. Ich be- trachte es als irrational, an Trends zu glauben, deren Kausalmechanismus man nicht versteht und deren Wahrscheinlichkeit sich nicht einmal intuitiv abschätzen lässt.260 Ich bin sicher, dass kein ernsthafter Zweifel daran besteht, dass alle Wissenschaften mit ihren jeweiligen besonderen Methoden danach streben, Kausalerklärungen zu finden und zu prüfen, welche deduktiv begründbar sind (aaO 103). Auch für geisteswissen- schaftliche Erklärungen gilt daher, dass sie die selbe logische Struktur aufweisen wie wissenschaftliche Prognosen und Prüfungen, welche sich zT auch nur auf Wahrschein- lichkeiten beziehen. Anders als Popper bin ich für die zusätzliche Annahme apriori- scher anthropologischer Grundsätze, die ähnlich der Arithmetik beweisbar sind und Er- klärungen wie dem praktischen Syllogismus zu Grunde liegen. Popper macht seine Leser weiters darauf aufmerksam, dass viele von Geisteswissen- schaftlern selbstverständlich verwendete Begriffe wie Schule und Schlacht nur schein- bar konkret sind und man sich vor ihrer Verdinglichung hüten soll (aaO 106). Außer- dem weisen Popper und Friedrich von Hayek zu Recht darauf hin, dass die Kenntnis der Ursache von Phänomenen in komplexen Systemen nicht unbedingt konkrete Prog- nosen ermöglicht. Poppers Beispiel dafür ist, dass es viele denkbare Gewitterfolgen gibt. Schon deshalb muss man sich regelmäßig mit bloß möglichen Erklärungen begnü- gen (vgl Kapitel 7). Ebenfalls schon 1944 erkannte Popper die zT vorhandene rationale Gestaltbarkeit sozialer Situationen als den Hauptunterschied zwischen Geistes- und Na- turwissenschaften neben den oberflächlichen Unterschieden Quantifikation und Expe- riment (vgl Kapitel 8). Daraus entwickelt er die Methode des Vergleichs von rationalem Handeln in einer Situation mit dem tatsächlichen oder wegen kultureller Gepflogenhei- ten zu erwartenden Handeln, bestreitet aber, dass dies zu einer Reduktion der Human- wissenschaften auf Psychologie führe. Er schreibt weiters (aaO 112): „Ich will die von den Historizisten so oft als altmodisch angesehene Auffassung verteidigen, dass die Ge-

260aaO 83-84, 86-87, 89-95, 97-98, 100-101

300 schichtswissenschaft durch ihr Interesse für tatsächliche, singuläre, spezifische Ereig- nisse im Gegensatz zu Gesetzen der Verallgemeinerung charakterisiert ist.“ Für Popper ist dies kein Widerspruch zum D-N-Schema und zu seiner Anwendung auf die Geisteswissenschaften, sondern die Konstatierung der Tatsache, dass historische Wissenschaften sich eher mit Aussagen über singuläre Ereignisse und Bedingungen be- fassen, freilich gesetzesartige Aussagen voraussetzend. Befasst man sich also mit einem Thema wie Literaturgeschichte, prüft man singuläre Hypothesen, indem man diese als Randbedingungen verwendet und aus ihnen und trivialen gesetzesartigen Aussagen Prognosen wie etwa über den Erfolg eines neuen Romans deduziert (Beispiel von mir). Jede geisteswissenschaftliche Kausalerklärung von Einzelereignissen ist historisch und erzählt zugleich das Wie und Warum eines Vorgangs. Das ist im populären Wissen- schaftsvorverständnis bekannt. Poppers Beispiel für triviale Voraussetzungen ist, dass Giordano Bruno die Verbrennung nicht überleben konnte (aaO 114). Die Terminologie geisteswissenschaftlicher Erklärungen kann ihm zufolge soziologi- sche oder populärsoziologische Annahmen enthalten; zB über die Rolle von Regierun- gen. Er kann auch den realen Hintergrund des Paradigmenstreits zwischen an Struktur- gesetzen interessierten und an Einzigartigem interessierten Geisteswissenschaftlern (aaO 114-115) darauf zurückzuführen, dass man für alle kausalen Erklärungen sowohl allgemeine Gesetze als auch konkrete Ereignisse benötigt. Historische Ereignisse wer- den in geisteswissenschaftlichen Erklärungen als typisch in einer Hinsicht klassifiziert, aber auch in ihren einzigartigen Aspekten beschrieben. Dh geisteswissenschaftliche Er- klärungen haben mögliche Randbedingungen, die zT Zufall sind. Eben dies bedeutet für mich im Anschluss an Popper die Möglichkeit von Neuem, das sich nicht vorhersagen lässt (vgl Faber im Kapitel 11).

13f) Methodischer Individualismus und soziokulturelle Möglichkeiten Die „Logik von Situationen“ ist sicher zu berücksichtigen, was laut Popper aber nicht gegen einen methodologischen Individualismus bei geisteswissenschaftlichen Erklärun- gen spricht. Wie der Begründer des kritischen Rationalismus glaube auch ich, dass man die Existenz von Institutionen und Traditionen, welche Entscheidungen von Individuen

301 beeinflussen, in das Explanans von Erklärungen, zB von kulturgeschichtlichen Analy- sen, aufnehmen muss. Die Tatsache, dass der selektive, interessengeleitete Zugang des Historikers zum Quel- len- und Datenmaterial (vgl aaO 118) eine Interpretation und zugleich eine wichtige Bedingung des Erkenntnisprozesses ist, darf Philosophierende nicht zu subjektivisti- schen oder relativistischen Gesinnungen verführen. Vielmehr muss ein Historiker sein Interesse explizieren und betonen, dass er sich eben mit einem von mehreren Aspekten soziokultureller Prozesse befasst. Dabei muss man berücksichtigen, dass Beispiele, die Vorannahmen bestätigen, keine Allsätze verifizieren. Etwa sind viele Ereignisse von Klassengegensätzen bedingt, obwohl sich auch andere Kausalzusammenhänge nachwei- sen lassen, etwa Bedingungen der Entstehung von Überzeugungen. Popper kann etwa beweisen, dass auch aus der Natur des Menschen abgeleitete wissen- schaftlich korrekte Zukunftsprognosen weniger glorreich sind, als sie wirken, da ua der Einfluss unserer natürlichen Umwelt (zB Klimawandel) fortschrittliche Tendenzen hemmen kann. Außerdem macht er darauf aufmerksam, dass die Funktionsweise von Institutionen von deren Angehörigen abhängt, was einmal mehr für den von mir als of- fensichtlich empfundenen Grundsatz spricht, dass alle Kollektivphänomene auf das See- lenleben Einzelner zurückzuführen seien. Dies verführt ihn aber nicht dazu, die Rück- wirkung der sozialen Einrichtungen auf das Individuum zu übersehen, wie das folgende Zitat zeigt (Popper 123): „Die Psychologie kann sogar nicht die Grundlage der Sozial- wissenschaften sein. Erstens, weil sie selbst nur eine von den Sozialwissenschaften ist: „die menschliche Natur“ variiert beträchtlich mit den sozialen Institutionen, daher setze ihr Studium Kenntnis dieser Institutionen voraus.“ Daher postuliere ich, dass geisteswissenschaftliche Erklärungen regelmäßig auf einer interdisziplinären Bedingungsanalyse mit Hilfe des praktischen Syllogismus aufbauen. Für meine Theorie spricht, dass unbeabsichtigte Handlungsfolgen ebenso Gegenstand des geisteswissenschaftlichen Interesses sind (vgl aaO 124). Popper nennt die Freiheit eine Bedingung des Fortschritts, erklärt die Geschichtsgesetztäuschung als Folge der emotionalen Überforderung des Menschen durch eine scheinbar beliebige Gesellschaft und einer ambivalenten Einstellung zur Veränderung. Um es frei nach Popper zu formulieren: Grenzen der historischen Gestaltbarkeit zu pos- tulieren und zugleich zu bestreiten, indem man den Historizismus tradiert, ist Scharlata-

302 nerie. Als Ersatz für derartige Metaerzählungen schlage ich im Anschluss an die analy- tische Philosophie der Geschichte das Paradigma der möglichen Erklärung vor, welches den soziokulturellen Lebensbereich als System mit einer beschränkten Anzahl von Frei- heitsgraden auffasst und die Mitverantwortung der einzelnen Entscheidenden sowie die Bedeutung ihrer Überzeugungen berücksichtigt.261

261aaO 103-104, 106, 109-115, 117-118, 120, 123-126

303

304 Ausblick, Zusammenfassung und Nutzanwendung

Nach sorgfältiger Erörterung geisteswissenschaftlicher Erklärungsformen stehen wir vor der Frage, welche Perspektiven und Aufgaben sich angesichts des neuesten Forschungs- standes für die Geschichtstheorie auftun.262 Vordergründig stets wissenschaftstheore- tisch orientiert war es mir zugleich ein Anliegen, zutreffende Begründungen für mög- lichst akkurat formulierte humanwissenschaftliche Erklärungen mit einer zeitgemäßen analytischen Philosophie der Geschichte zu verbinden. Wie im Alltag kann man nämlich in den Wissenschaften nichts erklären, wenn nicht verdeutlicht wurde, worüber gesprochen wird. Darum sind meine Stellungnahmen über die menschliche Freiheit sowie die Gestaltungs- bzw Verursachungsmöglichkeiten in soziokulturellen Systemen ein Denkanstoß für eine philosophische Anthropologie, wel- che die Geschichtsphilosophie von Allem - im schlechten Sinne - Spekulativen reinigt, um aufzuzeigen, dass die zu Recht kritisierte Sinngebung des Sinnlosen einer begriffli- chen Einsicht in die Möglichkeiten, Zufälligkeiten und Notwendigkeiten menschlichen Handelns zu weichen hat.263 Dadurch wird ein Fundament aus Tatsachen gelegt, auf welchem sowohl eine Erkennt- nis der Horizonte menschlicher Sinngebung und Verantwortung als auch ein Erahnen des nur mehr spekulativ Vorstellbaren aufbauen: Ausgehend von einer probabilistischen Interpretation des H-O-Schemas und den metaphysischen Voraussetzungen induktiver Forschung lässt sich eine Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften entwickeln, die deren Strukturähnlichkeit und Verwandtschaft mit den Naturwissenschaften sichtbar macht. Apriorische und psychologische Zugänge zum menschlichen Handeln und sei- nen Motiven sind in der Wissenschaftstheorie so wichtig, dass von einer Vernachlässi- gung des spezifisch Geisteswissenschaftlichen keine Rede sein kann: Man denke an praktische Syllogismen, an die Analyse des Ausdrucks von Seelischem und an die Fra- ge nach der Bedeutung spezifischer Randbedingungen. Damit hängen geschichtsphilo-

262vgl Frank Fabian: Die größten Fälschungen der Geschichte. Was so nicht in unseren Schulbüchern steht. München: Bassermann 2013, 306 263vgl Konrad Liessmann, Gerhard Zenaty: Vom Denken. Einführung in die Philosophie. Wien: Braumüller 1996, 114-115, 118

305 sophische Probleme wie wahrscheinlichkeitstheoretische und moralische Dimensionen menschlichen Handelns ebenso zusammen wie wissenschaftstheoretische Fragen nach der Rolle der Erzählung in der Darstellung des zu Erklärenden oder die Grenzen der Prognostizierbarkeit der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen auf Grund gesellschaftli- cher Trends. In diesem Sinn bliebe viel über das im soziokulturellen Lebensbereich Erkennbare, Mögliche und Wünschenswerte zu diskutieren, angefangen von methodologischen und Darstellungsfragen der Geisteswissenschaften bis hin zu Grundsatzentscheidungen über annehmbare bzw unannehmbare Positionen bezüglich der Stellung des Menschen im Kosmos. Das erarbeitete Wissen über das Wesen geisteswissenschaftlicher Erklärungen übernimmt für derartige zukünftige Forschungsprojekte die Funktion eines Wegweisers: Wir müssen uns nämlich vor übertriebenen Verallgemeinerungen wie vor einer Kon- zentration ausschließlich auf das Singuläre an Einzelfällen, vor einer Überbewertung des Zufalls und der Freiheit wie vor einer Überbetonung determinierter Prozesse gleich- ermaßen hüten. Dies ist eine Vorarbeit für die logisch-empirische Suche nach dem gol- denen Mittelweg zwischen einer zu engen und einer zu weiten Vorstellung von mögli- chen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen in den Wissenschaften vom Menschen. Spötter könnten fragen, warum allzu viele wissenschaftliche Bemühungen in metatheo- retische Überlegungen über die logische Struktur der Geisteswissenschaften investiert worden sind. Darauf lässt sich eine Antwort finden: Konfrontiert mit dem Zusammenstoß von Geschichtsbildern, Kunstauffassungen, Ge- sellschaftsvisionen usw bedarf ein bildungswilliger Mensch erstens einer Orientierungs- bzw Entscheidungshilfe. Ich behaupte, dass gerade die akademische Philosophie dazu berufen ist, den Teilnehmern am Diskurs über die Wissenschaften vom Menschen Grenzen zu setzen. Dies soll dadurch geschehen, dass objektiv aufgezeigt wird, inwie- fern Thesen über die möglichen Bedingungen soziokultureller Ereignisse beweisbar bzw bewiesen sind. Wer nicht versteht, zwischen umkehrbaren und unumkehrbaren Trends zu unterschei- den, riskiert nämlich zudem, ein Opfer des Teufelskreises eines Glaubens an falsche Propheten zu werden. Die analytische Philosophie liefert uns mit dem H-O-Schema ein Werkzeug, mit welchem wir Spreu vom Weizen trennen können: Sie weist nach, dass

306 viele, insbesondere historische Erklärungen auf bloßen Wahrscheinlichkeitsschlüssen beruhen. Dies erleichtert zweitens die Feststellung des Forschungsstandes in geisteswissenschaft- lichen Fragen und die Ablehnung eventueller Gegenthesen als unwissenschaftlich: Liegt etwa ein Historikerstreit vor, lässt sich regelmäßig zeigen, dass es sehr unwahrschein- lich oder unmöglich ist, dass eine andere Ursache als die vermutete bestimmte Wirkun- gen hervorgebracht hat. Ähnlich dem Freispruch eines Mordverdächtigen wegen eines Alibis oder auf Grund einer gerichtsmedizinischen Untersuchung ermöglichen die An- wendung des H-O-Schemas und des praktischen Syllogismus eine definitive Entschei- dung über Fragen wie die Kriegsschuld eines Landes oder die kulturellen Einflüsse auf bestimmte Politiker. Darauf aufbauend hoffe ich drittens auf die Ausarbeitung einer zeitgemäßen Ge- schichtsphilosophie. Diese möge, metaphorisch gesprochen, wie ein Schwan aus dem hässlichen Entchen der Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts hervorgehen, wel- che regelmäßig ein säkularisierter Mythos gewesen war. Einsicht in die individuelle Freiheit einerseits und anthropologische Konstanten andrerseits führen, so bin ich über- zeugt, jedes vernünftige Wesen zum Ethos der Mitmenschlichkeit und der Menschen- rechte hin.264 Somit werden philosophisch Gebildete auch behutsame Reformen (vgl meine Ausführungen über Popper in Kapitel 13) mit dem Ziel der Optimierung der Le- bensqualität und der Güterverteilung (für eine sanftmütig waltende und strafende Menschheit) erstreben; dies nenne ich den Grundkonsens der globalisierten, soziallibe- ralen Gesellschaft, dh einer toleranten Gemeinschaft, in welcher die ökonomische und politische Freiheit durch die gegenseitige Solidarität der Stärkeren mit den Schwächeren eingeschränkt ist.265 Außerdem erleichtert die Reflexion über die menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten in indeterminierten Systemen die Überwindung illusorischer Hoffnungen auf Fortschritte bzw originelle Leistungen, die sich nicht ereignen können. Das hilft wiederum bei der Unterscheidung zwischen abgeschlossenen und noch andauernden bzw möglichen sozi- okulturellen Transformationsprozessen, dh bei der Beantwortung der Frage, inwiefern sich heute noch Ansätze zu einer Strukturgeschichte erkennen lassen.

264Zu den Menschenrechten vgl Marcel Gauchet: Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991 265Vgl Ottfried Höffe: Einführung in die utilitaristische Ethik. München: Beck 1975

307 Abschließende Stellungnahme zu verwendeten Standardautoren Auf Poppers wissenschaftsphilosophischen Positionen baue ich dankbar auf, doch be- mühe ich mich im Anschluss an Harré alle Spuren eines überspitzten Skeptizismus aus der Wissenschaftstheorie zu entfernen. Darum nähere ich meine Theorie der Geistes- wissenschaften Hempel an, von welchem ich mich freilich durch die Ablehnung von positivistischem Gedankengut unterscheide. Meine Kerngedanken versuche ich mit Befunden der Autoren von Lexikonartikeln (zB Apel) über die wissenschaftstheoretischen Probleme der geisteswissenschaftlichen Dis- ziplinen zu stützen. In diesem Sinne erstrebe ich eine objektive Hermeneutik, durch welche die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften, anders als das Paradigma der Einheitswissenschaft zu behaupten scheint, nicht in ihren Methoden, sondern nur in den Strukturen der Einzelfallerklärungen gleicht. Obwohl ich Gadamers Hermeneutik in ihre Schranken verweise und das an Vorurteile Gemahnende verwerfe, erkenne ich also ihren heuristischen und lebensphilosophischen Wert an. Das folgende Zitat soll meinen Standpunkt der objektiven Hermeneutik illust- rieren und seinen Zusammenhang mit dem Forschungsstand belegen: „Wägt man die analytische und die hermeneutische Definition gegeneinander ab, so zeigt sich die Komplementarität; die hermeneutische spricht von den Bedingungen der I. [dh Interpre- tation], die analytische vom Verfahren der I.266 Meine Einführung apriorischer Elemente in die Geschichtstheorie ist gewiss eine Wie- derbelebung kantianischer Philosopheme. Allerdings vermeidet sie individualisierende Einseitigkeiten Rickerts, indem sie sich weitgehend der Historik Stegmüllers anschließt und diesen hauptsächlich durch eine stärkere Betonung der Bedeutung der Randbedin- gungen geisteswissenschaftlicher Erklärungen modifiziert. Von Wright sind ohnehin zentrale Anregungen für meinen Zugang zum Wesen der Hu- manwissenschaften zu verdanken, wie der Bezug auf Systeme mit mehreren Freiheits- graden und auf den praktischen Syllogismus. Letzterer dient mir als Mittel zur Korrek- tur von Einseitigkeiten, welche Drays Konzeption von rationaler Erklärung anhaften. Praktische Syllogismen helfen nämlich geisteswissenschaftliche Argumente zu folge- richtigen Wahrscheinlichkeitsschlüssen auszubauen, wo andere soziologische oder psy-

266Heide Göttner: Geisteswissenschaften. In: Josef Speck: Handbuch wissenschaftstheoretischer Be- griffe. Band 2 (G-Q). Göttingen: Vandenhoeck 1980, 315

308 chologische Gesetze fehlen. Dennoch hat mich Dray zur Betonung von Veränderungs- möglichkeiten als Erklärungsgegenstand inspiriert, während ich von Wright ergänzend eine präzisere Untersuchung der kausalen Relevanz fordere, welche historischer Be- deutsamkeit zu Grunde liegt. Im Kapitel VII dieser Dissertation lasse ich mich von Autoren wie Hübner, Lübbe usw zum Nachdenken über Elemente denkbarer Modelle der geisteswissenschaftlichen Er- klärung ebenso anregen (zB durch die handlungswissenschaftlichen Axiome vom Zwecksinn und von Grundregeln bestimmter soziokultureller Systeme) wie zur Berück- sichtigung gewisser Faktoren (Erbverträge, kulturelle Prägung etc), versuche dies je- doch meinen Vorstellungen über ein System der objektiven Hermeneutik anzupassen. Von Faber übernehme ich insbesondere den Diskurs über die Rolle des Zufalls, was meine antihistorizistische Position stützt und Poppers Unterscheidung zwischen sozia- len Trends und deterministischen Gesetzen untermauert. Andrerseits bemühe ich mich wie stets so auch in diesem Zusammenhang die aktuelle Historik als einen potentiellen Teilbereich der philosophischen Wissenschaftstheorie darzustellen. Ebenso übernehme ich von Danto die These von der narrativen Form vieler üblicher historischer Erklärungen mit vorausgesetzten trivialen Regelmäßigkeiten, vermeide und dekonstruiere aber subjektivistische Schlussfolgerungen. Sollte mir die Existenz von Wahrscheinlichkeitsschlüssen bestritten werden, verweise ich auf das Kapitel IX meiner Arbeit. Wenn aus P sowie (PèQ) Q folgt, weiß ich unter den selbstverständlichen Voraussetzungen des Induktionsprinzips und der Wahrschein- lichkeitstheorie auch, dass statistisch-nomologische Erklärungen nicht nur möglicher- weise zutreffen, sondern auch bis zu einem gewissen Ausmaße zu erwarten sind. Alter- nativerklärungen können uU gleich überraschend sein wie zwei aufeinander folgende Lottogewinne. Ebenso sind Wahrscheinlichkeitsaussagen mit Aussagen über reale Er- eignismöglichkeiten logisch äquivalent. Was Quantifikationsprobleme betrifft, implizie- ren Existenzaussagen also sowohl Möglichkeiten als auch Wahrscheinlichkeiten, wenn- gleich es problematisch ist, aus Möglichkeiten bzw Wahrscheinlichkeiten auf reale Häu- figkeiten zu schließen. Doch werden bei geisteswissenschaftlichen Erklärungen regel- mäßig empirisch gegebene Häufigkeiten und apriorische Annahmen über Ereigniswahr- scheinlichkeiten vorausgesetzt. Meine Formeln im Kapitel 9 behaupten bloß die Mög- lichkeit einer konkreten historischen Verursachung. Alternativerklärungen oder die Be-

309 hauptung, es handle sich bei den als Subjunktionen symbolisierten Zusammenhängen um Zufallskorrelationen, müssten aber erst argumentiert werden.

310 Nachwort

Mein Plädoyer für eine objektive Hermeneutik will die Möglichkeit der logisch- empirischen Begründung sämtlicher sorgfältig formulierter geisteswissenschaftlicher Erklärungen aufzeigen, ohne dass dies zugleich ein reduktionistisches Weltbild bedeu- tet. Vielmehr müssen viele Kausalerklärungen nicht nur die Elemente eines Systems, son- dern auch dessen höchste Strukturebene berücksichtigen. Dies gilt insbesondere, wenn nicht Zustände als etwas Statisches, sondern Entwicklungsmöglichkeiten Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses sind. Bei der Erklärung jedweder kulturellen Evoluti- on ist zu beachten, dass reale Strukturvariationen von den Randbedingungen aller Hie- rarchieebenen des gegebenen soziokulturellen Systems abhängen, eben deshalb jedoch auch von den Umstrukturierungsmöglichkeiten, welche das Ausmaß und die Geschwin- digkeit von Vorgängen und Weiterentwicklungen einschränken (Rieppel 40-41).267 Ich frage im Anschluss an Kant: Liegt nicht Großartiges in der Einsicht, dass Freiheit, Zufall und Notwendigkeit unser Zusammenleben formen wie physikalische Kräfte ein Sternensystem? Habermas scheint das Ziel einer objektiven Hermeneutik nicht verfolgt zu haben (Acham 27): Er unterschied nämlich „historisch-hermeneutische Wissenschaften“ von „systematischen Handlungswissenschaften“ und bestritt den deduktiven Aufbau der ers- teren zu Recht. Ich kann mich indes nur Acham anschließen, der es für einen geistesge- schichtlichen Rückschritt hinter Dilthey hielt, die nomologische Rekonstruierbarkeit hermeneutischer Erklärungen abzuleugnen. Hermeneutik würde nur wenig erkennen, wenn sie nicht von Kausalzusammenhängen ausginge. Ich glaube daher, dass sie wie die Habermasschen Handlungswissenschaften untersucht, inwieweit soziale bzw kom- munikative Situationen von Gesetzmäßigkeiten bestimmt oder für die Handelnden kon- trollierbar waren. Geisteswissenschaftliche Erklärungen betrachte ich also als insofern

267vgl Karl Acham und Winfried Schulze (Hg): Teil und Ganzes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, 40-41

311 sozialkritisch fruchtbar, als sie Möglichkeiten der Förderung bzw Hemmung menschli- chen Handelns thematisieren. Dies ist mit Achams Ansicht kompatibel, dass eine aktuelle Hermeneutik ihre Verständ- nisleistungen durch die interdisziplinäre Anwendung der Theorien anderer Wissen- schaften erhöht und begründet. Dadurch wird, wie bereits Heinrich Gomperz 1929 wusste, die Anwendung des H-O-Schemas auf Themen wie Geschichte der altgriechi- schen Philosophie zu einer Sonderform des Verstehens. Was hindert uns daran, dies als den Königsweg zur Erklärung zielgerichteten Verhaltens zu erkennen? Dieses ist aller- dings teils funktional, teils intentional zu untersuchen, teils ein schwer nachvollziehba- rer Ausdrucksakt (aaO 33). Motivationsanalysen sind zweifellos ein Kernstück geisteswissenschaftlicher Arbeit. Objektive Hermeneutik bedeutet daher ua eine Erklärung der Motivation historischer Akteure als Ausdruck der Schwankungen eines psychischen Systems mit mehreren Freiheitsgraden. Dennoch ist es sogar dem Laien bekannt, dass eine ausführliche Be- schäftigung mit individuellen Zielsetzungen nicht alles soziokulturell Relevante er- forschbar macht; offensichtlich wirken soziale Bedingungen wie Institutionen verzer- rend auf die Motivstruktur: Dies erklärt, warum es statistische Gesetze über das Verhal- ten von Menschengruppen in bestimmten Gesellschaften gibt, welche Trends be- schreibbar machen, aber nicht das Handeln von Einzelnen prognostizierbar (aaO 35). Damit hängt laut Acham auch die ökologische und ökonomische Bedingtheit mancher menschlicher Weltorientierungen zusammen: Wer weiß etwa nicht, dass die Angst vor „dem bösen Nachbarn“ und die Furcht vor den Schäden in Folge von großen Umwelt- zerstörungen unsere alltäglichen Entscheidungen prägen?268 Ich behaupte im Anschluss daran, dass unsere Freiheit sich darin äußert, dass wir die Pflicht haben, unser Wissen, dass man Wertpräferenzen sorgfältig abwägen soll, zur Richtlinie unseres Handelns zu machen. Dieser moralische Imperativ ist eine der Weis- heiten zeitgenössischer analytischer Geschichtsphilosophie, welche zugleich einen As- pekt des Systems der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften darstellt. Außerdem ist es mein Anliegen, einen neuen Aspekt zur geschichtstheoretischen Dis- kussion über die Darstellung der Erkenntnis der soziokulturellen Vergangenheit beizu-

268vgl Karl Acham: Zum Verhältnis von Hermeneutik und Sozialwissenschaften. In: Conceptus 6 (1972), 26-28, 30, 33, 35, 37

312 tragen: Wie kann es einem Geisteswissenschaftler gelingen, sprachlich eindeutig auszu- drücken, dass er eine objektive Erklärung von Sachverhalten geliefert hat, obwohl rele- vante historische Möglichkeiten und Notwendigkeiten bei ihm unerörtert bleiben? Man wird mir kaum widersprechen, dass die Anwendung des H-O-Schemas auf soziokultu- relle Phänomene und Wahrscheinlichkeitsschlüsse ausgehend von realen Verursa- chungsmöglichkeiten sowie eventuell auch von statistischen Gesetzen ein Zeichen der Güte geisteswissenschaftlicher Erklärungen sind. Dies habe ich in kritischer Auseinan- dersetzung mit einigen renommierten Werken der Fachliteratur zu zeigen versucht. Da- mit schließt sich nun der Ring meines Textes, welcher vom Anfang des Vorworts eröff- net wurde.

313

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