Amnesie und Amnestie Millionen Deutsche unterstützten Hitler, Hunderttausende machten mit bei Holocaust und Kriegsverbrechen. Der Verzicht auf eine umfassende Entnazifizierung ist der größte moralische Makel der Nachkriegsgeschichte. Nur: Anders wäre der Aufbau der Republik ungleich schwieriger gewesen.

in kleiner Fall nur, abgelegt im Ar- Es gab auch Fälle wie den, der sich lose Alte. Sie löschten ganze Ortschaf- chiv. Es ist Januar 1945 in einem KZ in Polen im November 1943 abspielte, ten aus. Eim Osten Deutschlands. Dieser Häft- Distrikt Lublin. Binnen Tagesfrist töteten Ein Heer von Tätern – und es ist davon ling aus Italien jammere ständig, klage etwa 2000 Angehörige der SS und der auszugehen, dass ein Großteil von ihnen über Hunger, überhaupt mache er „einen Polizei mehr als 42000 Juden. Es war die den Krieg überlebte. Dies wird als Si- geistesgestörten Eindruck“, sagt der Auf- größte Massenerschießung des Zweiten gnum für das Jahrtausendverbrechen in seher. Also bekommt ein Rottenführer der Weltkriegs. Deutschlands Geschichte einzementiert SS den Befehl, den Italiener zum Schwei- Nur einer der Mordschützen wurde je sein, und erst recht die Gesamtzahl de- gen zu bringen, für immer. in Westdeutschland zur Rechenschaft ge- rer, die in Konzentrations- oder Vernich- Auf welche Weise er mordet, ist durch zogen, ganz spät erst; es war einer aus tungslagern ermordet wurden: elf Millio- eine knappe Zeugenaussage überliefert. Der dem letzten Glied. nen Menschen, wie der Zeitgeschichtler Rottenführer, in der Rangliste der SS weit Bis zu 250 000 Männer und Frauen, Manfred Görtemaker schätzt. unten, hält dem Ausgehungerten ein Stück so wird geschätzt, waren während der Und die Anzahl der Urteile? Wie viele Brot vors Gesicht, der öffnet den Mund, NS-Diktatur am Holocaust beteiligt, als Personen mussten büßen? um hineinzubeißen – und der SS-Mann feu- Planer, Exekutoren und Handlanger. Vor den Gerichten der Siegermächte ert mit einer Pistole in den Rachen. Hunderttausende weitere Deutsche tö- und im Ausland, etwa in Polen, Jugosla- Der Täter und sein Auftraggeber wur- teten eigenhändig für das Regime, sie wien oder Israel, könnten es bis zu 60000 den nie gefasst. schossen auch Kinder nieder und wehr- gewesen sein, wahrscheinlich aber liegt

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Jubelnde Hitler-Anhänger (1938) manden zu begeistern. Aber dies bedeu- „Man kann sie nur töten oder gewinnen“ tete nicht, dass es „eine sichere innere Distanz“ zum Nationalsozialismus gab, Deutschen nun dämmerte, dass sie von wie die Psychoanalytiker Margarete und einer umfassenden Entnazifizierung selbst Alexander Mitscherlich in ihrem großarti- betroffen gewesen wären. gen Essay „Die Unfähigkeit zu trauern“ Plötzlich ging es gegen die vermeintli- feststellten. che „Siegerjustiz“, plötzlich war man für Da waren die Soldaten, die immer noch die Rehabilitierung eines gewaltigen Be- glaubten, gegen die Bolschewisten zu amtenapparats, der den Nationalsozialis- Recht zu Felde gezogen zu sein. Da gab es ten loyal gedient hatte. ein Millionenheer politisch desorientierter Plötzlich war man für die Einstellung al- früherer NSDAP-Mitglieder. Lediglich eine ler Strafverfolgung, für die Freilassung je- Alternative stand zur Wahl: ihre Ausgren- ner Männer, die nicht mehr Kriegsver- zung oder ihre Integration. „Man kann brecher hießen, sondern „Kriegsverur- sie“, formulierte der Politologe und Publi- teilte“, so, als hätte ihre Schuld nur darin zist Eugen Kogon in der ihm möglichen bestanden, am Krieg teilgenommen zu Frivolität, „nur töten oder gewinnen.“ haben. Die junge Bundesrepublik versuchte Plötzlich war man also für den Schluss- Letzteres. Zyniker behaupten daher, das strich. größte geschichtsbekannte Verbrechen sei Die Deportation der Juden, der Mas- abgeschlossen worden mit dem größten senmord: kein Thema. Die Verstrickung Resozialisierungswerk aller Zeiten. der : kein Thema. Über die Es war ein Akt von „säkularer Bedeu- Blutrichter der Nazis sprach kaum je- tung“, sagt Historiker Herbert. Es war mand, „trotz tausendfachen Missbrauchs letztendlich eine Erfolgsgeschichte. der Todesstrafe“ (so der Bundesgerichts- Deutschland im Frühsommer 1945: Ei- hof, aber erst vier Jahrzehnte später). Und nige Spitzenleute aus der Nazi-Führung niemand interessierte sich so recht dafür, hatten sich das Leben genommen, andere dass es sich alte NS-Eliten in neubürgerli- versuchten, sich zu verstecken. Robert cher Sekurität gutgehen ließen – wie etwa Ley, den Chef der Deutschen Arbeits- SS-Obergruppenführer Werner Best, je- front, entdeckten alliierte Fahnder in einer ner Chefideologe der Gestapo und „Kon- Berghütte nahe Berchtesgaden, „Distel- zepteur der Vernichtungspolitik“ (so meyer“ nannte er sich. nennt ihn der Geschichtsforscher Ulrich Auch Julius Streicher, Herausgeber des Hetzblatts „Der Stürmer“, hatte Zuflucht in den Alpen gesucht und sich zur Tar- nung einen Bart wachsen lassen. Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS, ging den

HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES PICTURES / TIME LIFE HUGO JAEGER Briten bei Lüneburg ins Netz; er trug eine Augenklappe. Im gut gefälschten Pass die Zahl deutlich darunter. Im Osten stand: Heinrich Hitzinger. Kurz darauf Deutschlands waren es lediglich 12881, im zerbiss Himmler eine Giftkapsel. Westen nicht mehr als 6498 (davon knapp Aus der ersten Garnitur waren bald die 1000 wegen eines Tötungsdelikts). Gerade allermeisten tot oder sistiert. Aber schon mal 438 wurden zu lebenslanger Haft ver- bei den Rängen darunter sah das Bild an- urteilt. Alle anderen hatten sich nie der ders aus. Mindestens 2000 Nazis, unter ih- Gerechtigkeit zu stellen – im Westen ka- nen einer der Cheforganisatoren des Ho- men sie unter den Schutzschild der neuen locaust, Adolf Eichmann, setzten sich nach Demokratie und durften mit anpacken, Argentinien ab. 60 000, vielleicht sogar still und heimlich. 80000 verschwanden in Deutschland in Dies gehört zur Bilanz eines Rechts- der Illegalität. „U-Boote“ hießen sie oder staats, der Bundesrepublik Deutschland. „Braun-Schweiger“ – die den Mund hiel- Die Versäumnisse der ersten Jahre ten über ihre Vergangenheit. ließen sich nie wieder wettmachen. Zur Manche nahmen im Chaos des Kriegs- Gründungsphilosophie der jungen Repu- endes die Personalien eines gefallenen Ka- blik gehörte der Leitsatz: am besten meraden an, ließen sich selbst für tot er- schweigen, Ruhe bewahren, so wenig Stra- klären und heirateten die eigene, offiziell fe wie möglich. Amnesie und Amnestie, verwitwete Frau noch einmal. Der Iden-

eine ideale Doppelstrategie. AKG titätswechsel brachte Rente und Versor- Anfangs noch, nach dem Schock des Filmplakat (1946) gungsansprüche. Ein Netzwerk von Un- Kriegsendes und noch vor den schnellen „U-Boote“ und „Braun-Schweiger“ terstützern sorgte dafür, dass die Tarnung Urteilen der Alliierten im Hauptkriegs- nicht aufflog, stumme Helfer in der Fami- verbrecherprozess von Nürnberg, hatten Herbert), der nach seiner Haft in Däne- lie, im Viertel, im Dorf, in den Betrieben. fast 80 Prozent der Bürger es für gut und mark in Essen als Syndikus arbeitete und Sie entkamen einem Strafgericht, das richtig gehalten, die nationalsozialisti- alte Kameraden juristisch betreute. die Alliierten lange vor Ende des Kriegs schen Führer auf die Anklagebank zu set- Zwar vermochte die Ideologie der Na- geplant hatten. Im Potsdamer Abkommen zen. 1950, die Nürnberger Folgeprozesse zis nach 1945 – bis auf eine nicht unge- vom August 1945 präzisierten die Sieger waren kaum vorbei, stimmten gerade fährliche Phase Ende der vierziger, An- ihre Absicht, das NS-System für immer noch 38 Prozent dafür – wohl, weil vielen fang der fünfziger Jahre – kaum noch je- auszulöschen und Kriegsverbrecher be-

spiegel special 1/2006 113 HITLERS ERBE zahlen zu lassen – „mit dem Leben, mit war eine Partei geschaffen worden, die nisch gehaltene, autobiografische Roman ihrer Freiheit und ihrem Schweiß und NDPD. des umstrittenen Schriftstellers Ernst von Blut“ (US-Militärgouverneur Lucius D. Im Westen gingen die Amerikaner – im Salomon – Titel: „Der Fragebogen“ – ei- Clay). Gegensatz zu den eher zurückhaltenden ner der ersten Bestseller nach dem Krieg. Auch stand die Absicht dahinter, die Briten und den Franzosen – zunächst hart O-Ton Salomon: anderen Deutschen gleichsam im Kollek- und konsequent vor. 13,4 Millionen Deut- Nicht die katholische Kirche ist es, die in tiv zu therapieren: weg vom Totalitaris- sche über 18 Jahre mussten einen Frage- Fragen der Erforschung meines Gewis- mus, hin zur Demokratie. Alsbald waren bogen mit 131 Positionen ausfüllen, davon sens an mich herangetreten ist, sondern in allen Besatzungszonen sämtliche NS- hing ab, ob jemand als „Hauptschuldi- eine Institution, weitaus weniger be- Organisationen verboten und jene Geset- ger“, „Belasteter“, „Minderbelasteter“, wundernswürdig, die Alliierte Militärre- ze aufgehoben, die den Ungeist des Völ- „Mitläufer“ oder „Entlasteter“ eingeord- gierung … Sie naht mir nicht wie der kischen verströmten. Nazi-Symbole durf- net werden konnte. Geistliche dem armen Sünder in der von ten nicht mehr gezeigt werden, auch nicht Allein der Teil zur Mitgliedschaft in der der Welt abgeschiedenen Zelle des das Hakenkreuz im Koppelschloss. Hitler-Partei und ihren zahlreichen Beichtstuhls, sie sendet mir den Frage- Das war die kleine Form. Nebenorganisationen umfasste 60 Einzel- bogen ins Haus und beginnt sofort bar- Die große Form: 85 000 Steckbriefe fragen. Die meisten Deutschen empfan- schen Tones wie ein Untersuchungsrich- wurden ausgestellt, nach dem ersten den die Beantwortung als Zumutung. ter gegenüber dem Verbrecher. Nürnberger Prozess gegen die Haupttäter Vielleicht deshalb wurde der kritisch-zy- Als im März 1946 die Entnazifizierung kam es bis 1949 in der fränkischen Metro- in der US-Zone deutschen Dienststellen pole zu zwölf weiteren Verhandlungen mit übertragen wurde, verspotteten Patrioten 177 Angeklagten – gegen Ärzte wegen aller Couleur bitter-empört die neueinge- Menschenversuchen und der Tötung so- richteten Spruchkammern als „Bruch- genannter Geisteskranker („Euthanasie“), kammern“ oder „Sprüchekammern“. gegen Industrielle, gegen regimekonfor- Gleichzeitig mogelten sich Zehntau- me Juristen, denen Recht und Gerechtig- sende aus der Verantwortung, indem sie keit egal gewesen waren, gegen Diploma- gefälschte Erklärungen vorlegten. Ein bes- ten, Militärs und gegen Angehörige jener serer Begriff für solche Papiere hätte nicht Einsatzgruppen, die im Osten Europas ge- erfunden werden können: „Persilschei- wütet hatten. ne“. Darin versicherten sich die West- Schon bei der frühen justitiellen Auf- deutschen gegenseitig, stets anständig ge- arbeitung durch die Alliierten, gerade in blieben zu sein. Nürnberg, kam die tiefe Verstrickung der Das Personal der NS-Diktatur schien Wehrmacht in die Verbrechen der SS sich „mehr oder weniger in nichts“ ver- ebenso ans Tageslicht wie präzise Be- flüchtigt zu haben, wie der Wissenschaft- fehlswege bei der „Endlösung der Juden- ler Clemens Vollnhals ironisch anmerkt. frage“. Doch die aufgedeckten Fakten hat- Das Ergebnis der Entnazifizierung in der ten „schlechterdings keine Chance“, ins amerikanischen Zone bis Ende 1949 lau- öffentliche Bewusstsein zu geraten, for- tete denn auch: 22122 Belastete, gerade muliert der Historiker Norbert Frei – weil mal 1654 Hauptschuldige. es einerseits vielen schwer erschien, die Dass die engagiert angetretenen Ameri- Dimensionen des Vernichtungskriegs und kaner so schnell ihren Elan verloren, war

der rassistischen Mordpolitik wirklich zu AP auch eine Reaktion auf den schärfer wer- erfassen, andererseits die meisten sich ge- Kanzler Adenauer (M.), Adlatus Globke (l.) denden Ost-West-Konflikt – die Deutschen gen den Blick zurück sperrten. Und des- „Mit der Nazi-Riecherei Schluss machen“ wurden gebraucht. „Hätten die nominellen halb sollten jene Realitäten noch auf Jahr- Parteimitglieder nicht ihre vollen bürger- zehnte hinaus verdrängt bleiben. lichen Rechte und die Möglichkeit zu- Der Neuanfang stand nicht nur auf dem rückerhalten, wieder ein normales Leben Fundament des Strafrechts. Auch die Ent- zu führen“, befand Clay, „dann hätte sich nazifizierung, ein anfangs hochambitio- bestimmt früher oder später ein ernsthaf- niertes Programm, folgte durchaus einem ter politischer Unruheherd entwickelt.“ Sühnegedanken. Man kann es auch so sagen: Das ur- Obschon das Ziel der Alliierten – „Ent- sprüngliche Ziel der Entnazifizierung war fernung von Nationalsozialisten … aus es, den Westdeutschen die Demokratie Ämtern und verantwortlichen Stellungen“ beizubringen. Jetzt galt die Maxime: Wer – klar fixiert war, verlief die technische weiterhin die Entnazifizierung wollte, der Durchführung in den vier Besatzungs- gefährdete die Demokratie. zonen unterschiedlich Wenn irgend möglich, wurde in den In der sowjetischen Zone diente sie Zeitungen und im Radio das heikle Thema vorrangig dem Zweck, die Gesellschaft im der NS-Verbrechen ausgeklammert. Sinne Moskaus umzubauen; über 500000 So postulierte Chefredakteur Klaus Personen waren von der Entnazifizierung Mehnert („Christ und Welt“), der von betroffen, viele mussten den öffentlichen 1936 bis 1945 für die Propagandaabteilung Dienst quittieren, andere fristeten in Spe- der Deutschen Botschaft zu Shanghai ge- ziallagern ein Leben bis zum Tode. Und arbeitet hatte, der Staat könne es sich manchem Gegner der Kommunisten wur- nicht leisten, „auf tüchtige Leute“ zu ver- de eine braune Vergangenheit angedich- zichten – bloß „weil sie Nazis“ gewesen

tet. Der Masse ehemaliger NS-Parteigän- / DER SPIEGEL EHLERT MAX seien, denn: „Millionen der Besten liegen ger indes bot sich die gütige Aufnahme Propagandist Remer (1949) auf den Schlachtfeldern oder sitzen in si- ins neue politische System. Eigens dafür „Der Rechtsradikalismus zerfaserte“ birischen Lagern.“

114 spiegel special 1/2006 Angeklagte Nazi-Größen in Nürnberg (1945): Das Wissen um die „Endlösung der Judenfrage“ wurde jahrzehntelang verdrängt

Bei einer solchen Stimmungslage war es te. „Was in Deutschland aufhören soll“, quasi amtlich jene Schlussstrichmenta- nur folgerichtig, dass die gerade gewählte verlangte er, sei „die Menschenjagd“. lität, die Teile der Gesellschaft schon ver- Adenauer-Regierung bereits im Dezem- Menschenjagd? Ein Fall nur, ein Beispiel: innerlicht hatten. Darüber hinaus bezeugt ber 1949 ein erstes Amnestiegesetz auf Ein früherer Politischer Leiter der sie ein zweites Ergebnis, das ebenso we- NATIONAL ARCHIVES NATIONAL den Weg brachte. „Wir haben so verwirr- NSDAP war von einer Strafkammer zu sentlich war, nämlich die „rasch fort- te Zeitverhältnisse hinter uns“, räsonierte einem Jahr Gefängnis wegen Verbrechens schreitende Delegitimierung“ der Verfol- der Bundeskanzler, „dass es sich emp- gegen die Menschlichkeit verurteilt wor- gung von NS-Straftaten, wie Historiker fiehlt, generell Tabula rasa zu machen.“ den, weil er nach dem November-Pogrom Frei folgert. Vordergründig schien es in dem Gesetz 1938 einen Katholiken für dessen Bemer- Die westdeutsche Justiz durfte lange um die Zeit nach der Kapitulation zu kung, nun würden „wohl auch bald die nur verhandeln, wenn es um Straftaten gehen, ums Schwarzschlachten und um christlichen Kirchen drankommen“, mit von Deutschen an Deutschen und Staa- Schiebertum. Die wirkliche Bedeutung der Faust ins Gesicht geschlagen und ihn tenlosen ging. Dennoch hatte sie bis ins des Unternehmens wurde in „auffälligem bei der Gestapo verpfiffen hatte. Diesel- Jahr 1950 hinein kräftig verurteilt. Doch Streben nach sprachlicher Keuschheit“ ben Richter amnestierten kurz darauf den dann erlahmte der Eifer zusehends bis (Historiker Frei) camoufliert; denn vor Ex-Funktionär mit der Begründung, er zum fast völligen Stillstand aller Be- allem bezog sich die Amnestie auch auf habe „im Affekt und aus der Ideologie mühungen. Straftäter der Kriegs- und Vorkriegszeit, seiner Zeit gehandelt“ – Grausamkeit In dieser Atmosphäre entschloss sich bis hin zum SS-Schergen, der KZ-Insassen oder eine ehrlose Gesinnung sei nicht an- die Bundesregierung, eine andere, gleich- möglicherweise totgeprügelt hatte. zunehmen. falls unliebsame Entscheidung der Alliier- Der von allen Parteien anerkannte Bis zum 31. Januar 1951 kamen exakt ten einer Revision zu unterziehen – den Grundgedanke sei, referierte der Bundes- 792176 Personen in den Genuss der Straf- Rausschmiss von etwa 160000 Beamten, tagsabgeordnete Bernhard Reismann befreiung; kein Zahlenwerk weist es aus, die seinerzeit dem Hitler-Staat gedient (Zentrum), „Vergessen über die Vergan- aber zu vermuten ist, dass zu den Profi- hatten. genheit zu decken“. Selbst Adolf Arndt, teuren Zehntausende NS-Täter gehörten. Heute kennt kaum noch jemand den Staatsrechtler und Chefjurist der SPD- Die erste Amnestie gilt längst als ein Begriff, der zum Symbol werden sollte Fraktion, bediente sich pathetischer Wor- symbolischer Akt. Erstmals bestätigte sie für die Personalpolitik der Adenauer-

spiegel special 1/2006 115 Regierung: „Hunderteinund- dreißiger“. Artikel 131 des Grundgesetzes initiierte die Wiedereinstellung jener Be- amten, die „aus anderen als beamten- oder tarifrechtli- chen Gründen“ entlassen worden waren – nämlich auf- grund ihrer NS-Vergangen- heit. Einzelheiten jedoch sei- en durch ein Bundesgesetz zu regeln. Und dieses Gesetz rehabilitierte die Geschassten schlichtweg. Durchaus berechtigt ist natürlich die Frage, mit wem denn außer den „Ehema- ligen“ der Wiederaufbau hät- te funktionieren können? Adenauer jedenfalls fand, wie er einem Bundestagsab- geordneten erklärte: „Sie müssen die Menschen so nehmen, wie sie sind.“ Lehrer etwa, die schon

in der Diktatur unterrichtet X / STUDIO PARIS KEYSTONE hatten und die bei der Ein- Hinrichtung in Landsberg (1946): Nur wenige hatten sich der Gerechtigkeit zu stellen übung der Demokratie des- halb keine sonderlich gute Rolle spielen besetzt. Unter Hitler hatte es weniger Vertriebenenminister werden konnte – konnten. NSDAP-Mitglieder auf entsprechenden Oberländer, der 1923 am Hitler-Putsch be- Polizisten etwa, vor allem im Wiesba- Posten im Auswärtigen Amt gegeben. teiligt und Parteigenosse seit 1933 war, der dener Bundeskriminalamt. In der oberen Im Bundestag verteidigte der Kanzler drei Jahre lang den „Bund deutscher Etage, die Ende der fünfziger Jahre aus 47 im Herbst 1952 Personalpolitik: Osten“ geleitet hatte, einen Nazi-Trupp, Beamten bestand, hatten bis auf 2 alle eine „Wenn Sie sich die Dinge einmal in Ruhe der die Einwanderung von Polen in den braune Weste. Sie waren bei der Gestapo überlegen, dann werden Sie nicht sagen Grenzgebieten zu verhindern suchte. gewesen, bei Einsatzgruppen oder bei können, dass man anders hätte verfahren Dass einer wie Hans Globke Chef des der Geheimen Feldpolizei, die sich in können. Man kann doch ein Auswärtiges Bundeskanzleramts werden konnte – Weißrussland skrupellos an der Ausrot- Amt nicht aufbauen, wenn man nicht we- Globke, der Mitverfasser eines offiziellen tung der jüdischen Bevölkerung beteiligt nigstens zunächst an den leitenden Stellen Kommentars zu den Nürnberger Rasse- hatte. Leute hat, die von der Geschichte von gesetzen. Globke, dessen Idee es wohl Staatsanwälte und Richter etwa. Allein früher her etwas verstehen … Ich meine, war, deutsche Juden zu zwingen, ihrem in Nordrhein-Westfalen liefen seit 1957 wir sollten jetzt mit der Nazi-Riecherei Vornamen „Israel“ oder „Sara“ hinzuzu- über 70 Ermittlungsverfahren gegen belas- Schluss machen.“ fügen. tete Juristen; zur Anklage kam keines. In Nazi-Riecherei, Schluss machen – die Und wenn schon solche Kontinuitäten Karlsruhe bügelte Generalstaatsanwalt Resozialisierung auf bundespolitischer akzeptiert wurden, dann war es nicht ver- und Ex-Sonderrichter Albert Woll etliche Ebene sah so aus, dass einer wie Friedrich wunderlich, dass frühere Minderheiten im Fälle weg. Selbst jener Kollege blieb un- Karl Vialon erst hoher Beamter im Kanz- neuen Deutschland Minderheiten blieben. behelligt, der in Prag an mindestens 59 leramt und dann Staatssekretär im Ent- Zurückgekehrte Emigranten wie Willy Todesurteilen beteiligt war. wicklungshilfeministerium werden konnte Brandt spürten deutliche Zurückhaltung, Ministeriale etwa. Zahlreiche Führungs- – Vialon, der als Leiter der Finanzabtei- häufig gar Ablehnung. Bei einer Umfrage kräfte des Bundesjustizministeriums hat- lung im „Reichskommissariat für das Ost- gaben 1954 gut 40 Prozent der Befragten ten eine dunkle Vergangenheit als Kriegs- land“ Wertgegenstände jüdischer NS-Op- an, Emigranten sollten kein hohes Regie- und Sonderrichter, fer registriert und die rungsamt ausüben; nur 13 Prozent waren und zwei Drittel aller Vermietung von Juden anderer Meinung, ein Großteil blieb un- leitenden Positionen als Arbeitskräfte orga- entschieden. im Auswärtigen Amt nisiert hatte. Gleichermaßen unsensibel, fast sogar waren mit ehemali- Dass einer wie feindselig, gingen viele Bürger mit einem gen Parteigenossen Theodor Oberländer besonderen Vermächtnis der jüngsten Ver- Hitlers langer 17. September: 20. September: Der 14. November 1945 bis In Lüneburg beginnt Alliierte Kontrollrat hebt 1. Oktober 1946: Im Nürnberger Schatten der erste Kriegsver- zahlreiche NS-Gesetze Hauptkriegsverbrecherprozess Erschießungen in Pan‡evo, Jugoslawien (1941) brecherprozess auf auf, darunter das Er- werden zwölf führende National- 1943 deutschem Boden. mächtigungsgesetz, sozialisten zum Tode verurteilt. 1. November: Die Alliierten erklären, 1945 Acht SS-Männer und das Hitler diktatorische Nazi-Verbrechen nach Kriegsende 8. August: Die Alliierten drei SS-Aufseherin- Vollmachten gab. 1946 strafrechtlich zu verfolgen. Millionen beschließen in die nen aus dem KZ Wenig später werden 12. Januar: Die Alliierten ordnen Menschen fallen während des Zweiten Einrichtung eines interna- Bergen-Belsen wer- alle NS-Organisationen an, alle Nationalsozialisten aus Weltkriegs NS-Gewalttaten zum Opfer. tionalen Militärtribunals. den hingerichtet. auch formal aufgelöst. öffentlichen Ämtern zu entfernen.

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willt, eine rechtsradikale Massenbewegung hinzu- nehmen. 1951 schrieb er dem französischen Außen- minister Robert Schuman, er sei entschlossen – „ich darf dies mit Nachdruck versichern“ –, gegen jed- weden Feind „der Republik vorzugehen, mit aller Schärfe“. Auf Antrag der Bundesregierung entschied das Bundesverfassungsge- richt im Oktober 1952, dass die SRP zu verbieten sei – mit der Konsequenz, dass Remer und Co. fortan nur noch für kleine Zirkel attraktiv waren. „Der Rechtsradikalismus“, ana- lysiert der Bonner Histori- ker Hans-Peter Schwarz, „zerfaserte wieder in eine Vielzahl kleiner Parteien und Organisationen.“

AP (R.) Andererseits sprach sich Angeklagte NS-Verbrecher*: Dimensionen des Vernichtungskriegs und der rassistischen Mordpolitik die politische Klasse für eine Amnestie jener Kriegs- gangenheit um – dem fehlgeschlagenen Eine solche Verdrängung forderte ge- verbrecher aus, die durch alliierte Richter Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Die radezu die Extremisten vom rechten Rand verurteilt worden waren, wohl auch, weil mutigen Akteure um Claus Schenk Graf heraus. Im Norden Deutschlands, vor al- denen die Sympathien Hunderttausender von Stauffenberg galten vielen bei Grün- lem in Niedersachsen, bildete sich mit der zuflogen. dung der Republik nach wie vor als Ver- Sozialistischen Reichspartei (SRP) eine Da war „Panzer-Meyer“, Kurt Meyer, räter, ja, es war sogar die Rede von einem Truppe, die auf das Führerprinzip setzte. General der Waffen-SS, zum Tode verur- zweiten „Dolchstoß“. Zielgruppe im Besonderen waren ehema- teilt wegen der Exekution von etwa 20 ka- Selbst die Regierung verhielt sich ziem- lige Frontsoldaten. nadischen Kriegsgefangenen. Adenauer lich reserviert gegenüber jenen, die ihr Der Held jener Männer hieß Otto Ernst setzte sich für ihn ein, und nach wenigen Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Adenau- Remer, ein halbes Jahrzehnt zuvor noch Jahren kam Meyer frei. Dem Kanzler er entließ 1953 den Widerstandskämpfer Kommandeur des in Berlin stationierten dankte er für „mancherlei Hilfe“. Hans Lukaschek als Vertriebenenminister Wachbataillons „Großdeutschland“, das Und da war Martin Sandberger, Doktor und berief statt seiner den Alt-Nazi Ober- bei der Niederschlagung des Stauffen- der Jurisprudenz, einst Referendar bei länder. berg-Attentats eine entscheidende Rolle dem späteren SPD-Granden Carlo Schmid Noch Ende der Fünfziger galt in der gespielt hatte. Remer war ein großmäuli- an der Universität Tübingen. Sandberger jungen Bundeswehr, deren neue Chefs ger, intellektuell etwas beschränkter hatte als Führer des Sonderkommandos alte Kameraden waren, die Berufung auf Demagoge. 1a Estland „judenfrei“ gemacht und die die Verschwörer fast als umstürzlerisches Die SRP-Ergebnisse der Landtagswah- direkte Verantwortung für die Tötung von Ansinnen. len 1951 in Niedersachsen und Bremen (11 „etwa 350“ Kommunisten zugegeben. beziehungsweise 7,7 Prozent) konnten Dafür war er 1948 in Nürnberg zum Tode * Links: Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem; rechts: Ilse durchaus Anlass zur Besorgnis geben. In durch den Strang verurteilt worden. Sand- Koch, die Frau des ehemaligen Lagerkommandanten von einigen Kommunen gelang es den Rechts- berger saß als „Lebenslänglicher“ an his- Buchenwald, 1947 vor dem amerikanischen Militärgericht in Dachau. radikalen sogar, stärkste Partei zu wer- torischer Stätte ein: in der Festung Lands- den; bei Betriebsratswahlen im Wolfsbur- berg am Lech, dort, wo Hitler einen Teil ger Volkswagenwerk präsentierte die IG Pamphlets „Mein Kampf“ ge- Metall SRP-Kandidaten auf ihrer Liste – schrieben hatte. aus heutiger Sicht ein unglaubliches Zu- Die öffentliche Solidarität mit den geständnis. Mördern von gestern entwickelte sich in Kanzler Adenauer war bei aller Bereit- der Folgezeit zu einer gewaltigen Welle, schaft, Alt-Nazis zu integrieren, nicht ge- an der nicht nur obskure Vereine wie die

1951 1955 1958 10. April: Der Bun- 5. Mai: Die alliierten 29. August: In Ulm fällt das Urteil im destag beschließt Beschränkungen der „Einsatzgruppenprozess“, dem ersten die Wiedereinstel- deutschen Justiz ent- großen westdeutschen Verfahren we- lung von Beamten, fallen. Die Alliierten gen Massenmords in der Sowjetunion. welche die Alliierten verbieten aber, von 1. Dezember: Einrichtung der „Zentralen wegen ihrer NS- ihnen abgeschlosse- Leichen Stelle“ in Ludwigsburg. Die Strafverfol- im KZ Vergangenheit ne Verfahren wieder gung von NS-Verbrechen wird ab jetzt Buchenwald entlassen hatten. aufzunehmen. (1945) systematisch betrieben.

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So stellte das Oberlan- desgericht in Hamm 1955 frühere Gestapo-Schergen straffrei, die Dutzende Kriegsgefangene liquidiert hatten – eben weil sie sich angeblich nicht im Klaren darüber gewesen seien, „rechtswidrig“ gehandelt zu haben. Wie schon fünf Jahre zu- vor wurde auch diesmal wieder den „U-Booten“, den Illegalen, die Möglich- keit geboten, sich zu stel- len und ein Leben ohne ständige Sorge vor Ent- tarnung zu führen. Jeden- falls dann, wenn sie sich keiner schweren Verbre- chen schuldig gemacht hatten. Das Ergebnis war ver- blüffend – verblüffend ma- ger. Gerade mal 1292 Men- schen offenbarten sich bis Mitte 1955, im Laufe der Zeit mag die Zahl ge-

AP / SÜDDEUTSCHER VERLAG AP / SÜDDEUTSCHER stiegen sein; eine ge- Entlassene Kriegsverbrecher vor dem Gefängnis Landsberg (1949): Sympathien von Hunderttausenden naue Bilanz gibt es nicht. Die meisten blieben ver- „Stille Hilfe“ beteiligt waren, sondern zwischen Oktober 1944 und Juli 1945 – schwunden, Helfershelfer und Mitläufer, vor allem die Kirchen, deren moralische ungesühnt bleiben durften, wenn sie „in aber auch mutmaßliche Massenmörder. Autorität in der Nachkriegsphase als un- der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Wie jener Bruno Albrecht, der 1957 ins umstritten galt. Rechtspflicht, insbesondere eines Befehls“ Darmstädter Alice-Hospital eingeliefert Schon gegen die Entnazifizierung wa- begangen worden waren, und dem Täter wurde. Erst als er gestorben war, kam sei- ren sie zu Felde gezogen, jetzt trommelten keine Einsichtsfähigkeit hätte zugemutet ne wahre Identität heraus: Fritz Katz- sie auf unrühmliche Weise für die Freilas- werden können. Und die Folge war, dass mann, als General der Waffen-SS einer sung der Gefangenen – in „einer indiffe- etliche NS-Verbrecher davonkamen, weil der Höchsten in der Himmler-Organisa- renten Haltung der Ignoranz, in der alle sie für sich unwidersprochen den Befehls- tion – er soll für den Tod von 400 000 Inhaftierten unabhängig von ihren Taten notstand reklamieren konnten, ob er nun galizischen Juden verantwortlich gewe- zu Opfern gemacht wurden“, wie der objektiv gegeben war oder lediglich so sen sein. Buchautor Bernhard Brunner urteilt. So empfunden wurde. Oder Sigfried Uiberreither, Hitlers Gau- baten der evangelische Bischof Otto Di- leiter in der Steiermark, Reichstagsabge- belius und Kirchenpräsident Martin ordneter, Obergruppenführer der SA, Niemöller die Alliierten um „Gnade für nach der Aktenlage schuld am qualvollen diejenigen, die, mit dem Brandmal des Tod von mehr als 1000 Slowenen. Fünf Kriegsverbrechens gestempelt, in Gefan- Staatsanwaltschaften in Österreich und genschaft gehalten werden“. Zwar werde Deutschland führten Ermittlungsverfah- der Friede nicht wiederhergestellt, „aber ren gegen ihn, das letzte stellten Dort- eine Quelle der Bitterkeit wird damit ver- munder Fahnder am 6. Februar 1991 ein, siegen“. „wegen Nichtermittlung“ der Person. Ui- Die intensiven Bemühungen waren berreither hatte, unter dem Mädchenna- schließlich erfolgreich – zehn Jahre nach men seiner Frau, seit Anfang der fünfziger ihrem Prozess wurden die letzten „Lands- Jahre in einer deutschen Kleinstadt ge- berger“ in die Freiheit entlassen, auch lebt – unbehelligt bis zu seinem Tod 1984. Sandberger. „Er war ein fleißiger, intelli- Oder Anton Burger. Der frühere genter und begabter Jurist“, beschrieb ihn SS-Hauptsturmführer im Mörderreferat Carlo Schmid, der Sozialdemokrat. „Ohne Eichmanns und zeitweilige Kommandant den Einbruch der Herrschaft des Natio- des KZ Theresienstadt nannte sich Stei- nalsozialismus wäre Sandberger ein or- ner, Dolezel, Egidy, Fasching, Katzerow- dentlicher, tüchtiger und strebsamer Be- sky, Kralik und Weisz. Als Wilhelm Bau- amter geworden.“ er tauchte der Österreicher in der Bun- Der ersten Amnestie von 1949 folgte desrepublik unter – bis er 1993 enttarnt 1954 eine zweite, sie ging noch viel weiter, wurde. weil jetzt auch Straftaten während des Zu- Aber da war Burger schon zwei Jah-

sammenbruchs – festgelegt für die Zeit BPK re tot. Als Wilhelm Bauer wurde er auf Minister Oberländer* dem Essener Parkfriedhof begraben, Feld * CDU-Wahlplakat, 1957. Beteiligt am Hitler-Putsch 25. Georg Bönisch

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