Amnesie Und Amnestie Millionen Deutsche Unterstützten Hitler, Hunderttausende Machten Mit Bei Holocaust Und Kriegsverbrechen
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Amnesie und Amnestie Millionen Deutsche unterstützten Hitler, Hunderttausende machten mit bei Holocaust und Kriegsverbrechen. Der Verzicht auf eine umfassende Entnazifizierung ist der größte moralische Makel der Nachkriegsgeschichte. Nur: Anders wäre der Aufbau der Republik ungleich schwieriger gewesen. in kleiner Fall nur, abgelegt im Ar- Es gab auch Fälle wie den, der sich lose Alte. Sie löschten ganze Ortschaf- chiv. Es ist Januar 1945 in einem KZ in Polen im November 1943 abspielte, ten aus. Eim Osten Deutschlands. Dieser Häft- Distrikt Lublin. Binnen Tagesfrist töteten Ein Heer von Tätern – und es ist davon ling aus Italien jammere ständig, klage etwa 2000 Angehörige der SS und der auszugehen, dass ein Großteil von ihnen über Hunger, überhaupt mache er „einen Polizei mehr als 42000 Juden. Es war die den Krieg überlebte. Dies wird als Si- geistesgestörten Eindruck“, sagt der Auf- größte Massenerschießung des Zweiten gnum für das Jahrtausendverbrechen in seher. Also bekommt ein Rottenführer der Weltkriegs. Deutschlands Geschichte einzementiert SS den Befehl, den Italiener zum Schwei- Nur einer der Mordschützen wurde je sein, und erst recht die Gesamtzahl de- gen zu bringen, für immer. in Westdeutschland zur Rechenschaft ge- rer, die in Konzentrations- oder Vernich- Auf welche Weise er mordet, ist durch zogen, ganz spät erst; es war einer aus tungslagern ermordet wurden: elf Millio- eine knappe Zeugenaussage überliefert. Der dem letzten Glied. nen Menschen, wie der Zeitgeschichtler Rottenführer, in der Rangliste der SS weit Bis zu 250 000 Männer und Frauen, Manfred Görtemaker schätzt. unten, hält dem Ausgehungerten ein Stück so wird geschätzt, waren während der Und die Anzahl der Urteile? Wie viele Brot vors Gesicht, der öffnet den Mund, NS-Diktatur am Holocaust beteiligt, als Personen mussten büßen? um hineinzubeißen – und der SS-Mann feu- Planer, Exekutoren und Handlanger. Vor den Gerichten der Siegermächte ert mit einer Pistole in den Rachen. Hunderttausende weitere Deutsche tö- und im Ausland, etwa in Polen, Jugosla- Der Täter und sein Auftraggeber wur- teten eigenhändig für das Regime, sie wien oder Israel, könnten es bis zu 60000 den nie gefasst. schossen auch Kinder nieder und wehr- gewesen sein, wahrscheinlich aber liegt 112 spiegel special 1/2006 HITLERS ERBE Jubelnde Hitler-Anhänger (1938) manden zu begeistern. Aber dies bedeu- „Man kann sie nur töten oder gewinnen“ tete nicht, dass es „eine sichere innere Distanz“ zum Nationalsozialismus gab, Deutschen nun dämmerte, dass sie von wie die Psychoanalytiker Margarete und einer umfassenden Entnazifizierung selbst Alexander Mitscherlich in ihrem großarti- betroffen gewesen wären. gen Essay „Die Unfähigkeit zu trauern“ Plötzlich ging es gegen die vermeintli- feststellten. che „Siegerjustiz“, plötzlich war man für Da waren die Soldaten, die immer noch die Rehabilitierung eines gewaltigen Be- glaubten, gegen die Bolschewisten zu amtenapparats, der den Nationalsozialis- Recht zu Felde gezogen zu sein. Da gab es ten loyal gedient hatte. ein Millionenheer politisch desorientierter Plötzlich war man für die Einstellung al- früherer NSDAP-Mitglieder. Lediglich eine ler Strafverfolgung, für die Freilassung je- Alternative stand zur Wahl: ihre Ausgren- ner Männer, die nicht mehr Kriegsver- zung oder ihre Integration. „Man kann brecher hießen, sondern „Kriegsverur- sie“, formulierte der Politologe und Publi- teilte“, so, als hätte ihre Schuld nur darin zist Eugen Kogon in der ihm möglichen bestanden, am Krieg teilgenommen zu Frivolität, „nur töten oder gewinnen.“ haben. Die junge Bundesrepublik versuchte Plötzlich war man also für den Schluss- Letzteres. Zyniker behaupten daher, das strich. größte geschichtsbekannte Verbrechen sei Die Deportation der Juden, der Mas- abgeschlossen worden mit dem größten senmord: kein Thema. Die Verstrickung Resozialisierungswerk aller Zeiten. der Wehrmacht: kein Thema. Über die Es war ein Akt von „säkularer Bedeu- Blutrichter der Nazis sprach kaum je- tung“, sagt Historiker Herbert. Es war mand, „trotz tausendfachen Missbrauchs letztendlich eine Erfolgsgeschichte. der Todesstrafe“ (so der Bundesgerichts- Deutschland im Frühsommer 1945: Ei- hof, aber erst vier Jahrzehnte später). Und nige Spitzenleute aus der Nazi-Führung niemand interessierte sich so recht dafür, hatten sich das Leben genommen, andere dass es sich alte NS-Eliten in neubürgerli- versuchten, sich zu verstecken. Robert cher Sekurität gutgehen ließen – wie etwa Ley, den Chef der Deutschen Arbeits- SS-Obergruppenführer Werner Best, je- front, entdeckten alliierte Fahnder in einer ner Chefideologe der Gestapo und „Kon- Berghütte nahe Berchtesgaden, „Distel- zepteur der Vernichtungspolitik“ (so meyer“ nannte er sich. nennt ihn der Geschichtsforscher Ulrich Auch Julius Streicher, Herausgeber des Hetzblatts „Der Stürmer“, hatte Zuflucht in den Alpen gesucht und sich zur Tar- nung einen Bart wachsen lassen. Heinrich Himmler, der Reichsführer-SS, ging den HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES PICTURES / TIME LIFE HUGO JAEGER Briten bei Lüneburg ins Netz; er trug eine Augenklappe. Im gut gefälschten Pass die Zahl deutlich darunter. Im Osten stand: Heinrich Hitzinger. Kurz darauf Deutschlands waren es lediglich 12881, im zerbiss Himmler eine Giftkapsel. Westen nicht mehr als 6498 (davon knapp Aus der ersten Garnitur waren bald die 1000 wegen eines Tötungsdelikts). Gerade allermeisten tot oder sistiert. Aber schon mal 438 wurden zu lebenslanger Haft ver- bei den Rängen darunter sah das Bild an- urteilt. Alle anderen hatten sich nie der ders aus. Mindestens 2000 Nazis, unter ih- Gerechtigkeit zu stellen – im Westen ka- nen einer der Cheforganisatoren des Ho- men sie unter den Schutzschild der neuen locaust, Adolf Eichmann, setzten sich nach Demokratie und durften mit anpacken, Argentinien ab. 60 000, vielleicht sogar still und heimlich. 80000 verschwanden in Deutschland in Dies gehört zur Bilanz eines Rechts- der Illegalität. „U-Boote“ hießen sie oder staats, der Bundesrepublik Deutschland. „Braun-Schweiger“ – die den Mund hiel- Die Versäumnisse der ersten Jahre ten über ihre Vergangenheit. ließen sich nie wieder wettmachen. Zur Manche nahmen im Chaos des Kriegs- Gründungsphilosophie der jungen Repu- endes die Personalien eines gefallenen Ka- blik gehörte der Leitsatz: am besten meraden an, ließen sich selbst für tot er- schweigen, Ruhe bewahren, so wenig Stra- klären und heirateten die eigene, offiziell fe wie möglich. Amnesie und Amnestie, verwitwete Frau noch einmal. Der Iden- eine ideale Doppelstrategie. AKG titätswechsel brachte Rente und Versor- Anfangs noch, nach dem Schock des Filmplakat (1946) gungsansprüche. Ein Netzwerk von Un- Kriegsendes und noch vor den schnellen „U-Boote“ und „Braun-Schweiger“ terstützern sorgte dafür, dass die Tarnung Urteilen der Alliierten im Hauptkriegs- nicht aufflog, stumme Helfer in der Fami- verbrecherprozess von Nürnberg, hatten Herbert), der nach seiner Haft in Däne- lie, im Viertel, im Dorf, in den Betrieben. fast 80 Prozent der Bürger es für gut und mark in Essen als Syndikus arbeitete und Sie entkamen einem Strafgericht, das richtig gehalten, die nationalsozialisti- alte Kameraden juristisch betreute. die Alliierten lange vor Ende des Kriegs schen Führer auf die Anklagebank zu set- Zwar vermochte die Ideologie der Na- geplant hatten. Im Potsdamer Abkommen zen. 1950, die Nürnberger Folgeprozesse zis nach 1945 – bis auf eine nicht unge- vom August 1945 präzisierten die Sieger waren kaum vorbei, stimmten gerade fährliche Phase Ende der vierziger, An- ihre Absicht, das NS-System für immer noch 38 Prozent dafür – wohl, weil vielen fang der fünfziger Jahre – kaum noch je- auszulöschen und Kriegsverbrecher be- spiegel special 1/2006 113 HITLERS ERBE zahlen zu lassen – „mit dem Leben, mit war eine Partei geschaffen worden, die nisch gehaltene, autobiografische Roman ihrer Freiheit und ihrem Schweiß und NDPD. des umstrittenen Schriftstellers Ernst von Blut“ (US-Militärgouverneur Lucius D. Im Westen gingen die Amerikaner – im Salomon – Titel: „Der Fragebogen“ – ei- Clay). Gegensatz zu den eher zurückhaltenden ner der ersten Bestseller nach dem Krieg. Auch stand die Absicht dahinter, die Briten und den Franzosen – zunächst hart O-Ton Salomon: anderen Deutschen gleichsam im Kollek- und konsequent vor. 13,4 Millionen Deut- Nicht die katholische Kirche ist es, die in tiv zu therapieren: weg vom Totalitaris- sche über 18 Jahre mussten einen Frage- Fragen der Erforschung meines Gewis- mus, hin zur Demokratie. Alsbald waren bogen mit 131 Positionen ausfüllen, davon sens an mich herangetreten ist, sondern in allen Besatzungszonen sämtliche NS- hing ab, ob jemand als „Hauptschuldi- eine Institution, weitaus weniger be- Organisationen verboten und jene Geset- ger“, „Belasteter“, „Minderbelasteter“, wundernswürdig, die Alliierte Militärre- ze aufgehoben, die den Ungeist des Völ- „Mitläufer“ oder „Entlasteter“ eingeord- gierung … Sie naht mir nicht wie der kischen verströmten. Nazi-Symbole durf- net werden konnte. Geistliche dem armen Sünder in der von ten nicht mehr gezeigt werden, auch nicht Allein der Teil zur Mitgliedschaft in der der Welt abgeschiedenen Zelle des das Hakenkreuz im Koppelschloss. Hitler-Partei und ihren zahlreichen Beichtstuhls, sie sendet mir den Frage- Das war die kleine Form. Nebenorganisationen umfasste 60 Einzel- bogen ins Haus und beginnt sofort bar- Die große Form: 85 000 Steckbriefe fragen. Die meisten Deutschen empfan- schen Tones wie ein Untersuchungsrich- wurden ausgestellt, nach dem ersten den die Beantwortung als Zumutung.