4,50 Euro P.b.b. GZ 02Z033338 M, Verlagspostamt 1010 Wien, Nr. 09 Interview mitWerner Faymann unseren Fehlern...« aus »Wir lernen DIE DISKUSSIONSZEITSCHRIFT FÜR POLITIK, GESELL Maria Berger für Österreich Justizpolitik Moderne Sighard Neckel Marktgesellschaft »Leistung« inder SCHAFT UND KULTUR UND SCHAFT Mirko Bogataj Einklang Im DIE NEUE PLUS WAHL 08 WAHL 09 2008 armut tut weh. Margit Fischer

Spenden hilft. PSK 90.175.000 BLZ 60000 solidarität leben

Spendenzahlscheine in jeder Filiale von Post und BAWAG P.S.K. Editorial

er Frühsommer 2008 war innenpolitisch höchst er- eignisreich: Der Koalitionsbruch der ÖVP hat nicht nur Neuwahlen provoziert, sondern auch zu einem DWechsel an der Spitze der SPÖ geführt. Die Verän- derungen dieses politischen Rahmens hat natürlich auch die Gestaltung dieser Ausgabe der ZUKUNFT geprägt. Im In- terview haben wir den neuen Bundesparteivorsitzenden der kosten entwickelt, die in diesem Beitrag - im Kontext der his- SPÖ, , zu seinen Vorstellungen und Zielen torischen und politischen Bedeutung des Mieterschutzes für für die SPÖ und für eine künftige SPÖ-geführte Bundesre- die Sozialdemokratie - vorgestellt werden. gierung befragt. Die Nationalratswahlen am 28. September sind darüber hinaus ein Anlass, um ein Resümee über die ver- Andreas Schieder gibt mit seinem Beitrag den Startschuss für gangenen zwei Jahre zu ziehen und Pläne für die kommende eine längst fällige Diskussion über sozialdemokratische Eu- Gesetzgebungsperiode zu entwickeln. BSA-Präsidentin Maria ropapolitik, die uns in der ZUKUNFT weiter beschäftigen Berger zieht in ihrem Beitrag Bilanz über Gesellschafts- und und auch den Schwerpunkt der Dezember-Ausgabe bilden Justizpolitik. Auch die Bildstrecke steht in diesem Monat mit wird. Julia Raptis setzt mit ihrer Replik auf den in der letzten besonderen Schnappschüssen und Impressionen von der Ös- Ausgabe veröffentlichten Beitrag Franz Eckerts »Freiheit der terreich-Tour Werner Faymanns ganz im Zeichen der Wahl- Religion – Freiheit von der Religion?« eine grundrechtliche auseinandersetzung vom 28. September. Debatte auf hohem Niveau fort. Grundrechtliche Fragen ste- hen zumeist auch im Vordergrund, wenn die Kärntner Slowe- Aber auch abseits des Wahlschwerpunkts widmet sich die- nInnen publizistisch Erwähnung finden. Der Beitrag hat einen se Ausgabe einer Reihe von tagesaktuellen, grundsätzlichen anderen Fokus und stellt aktuelle Entwicklung im kulturellen Fragestellungen. Sighard Neckel beleuchtet in seinem Beitrag Leben der slowenischen Volksgruppe vor. das Spannungsverhältnis zwischen »Leistung« und (ökonomi- schen) »Erfolg«. Seine These ist, dass – anders als von den Be- Das Schlusswort unterliegt ab dieser Ausgabe einer bereits im fürworterInnen des freien Marktes stets behauptet - Leistung letzten Heft angekündigten Veränderung. Der Wirtschafts- in der Marktgesellschaft keineswegs positiven Niederschlag in forscher Markus Marterbauer und die Ökonomin Helene der sozialen Position findet. Er untermauert eindrücklich, wie Schuberth haben sich dankenswerterweise für eine Tätigkeit Leistungen ignoriert und »leistungslose« Einkommen gestärkt als Kolumnist und Kolumnistin in der ZUKUNFT bereit ge- werden und so die Ungleichverteilung in der Gesellschaft zu- funden. Sie werden künftig das Geschehen in Österreich, Eu- nimmt. ropa und der Welt ökonomisch betrachten und abwechselnd in ihrer Kolumne kommentieren. Den Anfang macht Markus Einem konkreten Beispiel für diese Überlegung geht Georg Marterbauer mit einer Aussicht auf die ökonomischen Her- Niedermühlbichler nach. Die steigenden Wohnkosten für ausforderungen für eine kommende Regierung. Mieterinnen und Mieter machen neue Initiativen im wohn- rechtlichen Bereich unumgänglich. Die Mietervereinigung Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre dieser Ausga- hat eine Reihe von Vorschlägen für eine Senkung der Wohn- be!

DIE NEUE WAHL 08

Inhalt

6 »Wir lernen aus unseren Fehlern...« 30 DIE NEUE WAHL 08 Interview mit Werner Faymann 32 »Leistung« in der Marktgesellschaft – eine Zeitdiagnose 10 DIE NEUE WAHL 08 Von Sighard Neckel

12 Eine moderne Justizpolitik für ein soziales Österreich 38 Freiheit von der Religion – eine Gretchen-Frage Von Maria Berger Von Julia Raptis

16 DIE NEUE WAHL 08 41 DIE NEUE WAHL 08

18 Neues zum Wahlrecht 44 Im Einklang Von Mirko Bogataj 19 DIE NEUE WAHL 08 47 DIE NEUE WAHL 08 20 Faires Wohnen für die Zukunft Von Georg Niedermühlbichler 48 Buchtipps Sachliches und Belletristisches 26 DIE NEUE WAHL 08 50 Einstand im Abschwung 28 Mehr Demokratie wagen SCHLUSSWORT von Markus Marterbauer Von Andreas Schieder

IMPRESSUM Herausgeber: Gesellschaft zur Herausgabe der sozialdemokratischen Zeitschrift »Zukunft«, 1014 Wien, Löwelstraße 18. Verlag und Anzeigenannahme: Verlag der SPÖ GmbH, 1014 Wien, Löwelstraße 18 , Tel. 01/534 27 399, Fax DW 363, [email protected] Herausgeberbeirat: Mag. Karl Duffek, Wien (Vorsitzender), René Cuperus, Am- sterdam, Mag.a Brigitte Ederer, Wien, Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek, Wien, Univ.-Prof. Dr. Thomas Meyer, Bonn, Giorgio Napolitano, Rom, Dr. Werner A. Perger, Berlin, Univ.-Doz. Dr. Wolfgang Schroeder, Frankfurt a. Main, Univ.-Prof. Dr. Ivan Szelényi, New Haven, Univ.-Prof. Dr. Georg Votruba, Leipzig, Univ.-Prof.in Dr.in Ruth Wodak, Lancester. Chefredaktion: Dr. Caspar Einem, Ludwig Dvorak (geschäftsführend). Redaktion: Mag. Georg Appl, Bernhard Bauer, Mag.a Alexandra Pernkopf, MMag.a Julia Raptis, Mag. Dr. Michael Rosecker, Dr.in Barbara Rosenberg, Mag. Franz Spitaler, Mag.a Daniela Stepp, Mag. Peter Walder Art Direction: Gábor Békési. Druck: Gutenberg Druck GmbH, 2700 Wiener Neustadt. Fotos: Thomas Jantzen und Johannes Zinner »WIR LERNEN AUS UNSEREN FEHLERN...« INTERVIEW MIT WERNER FAYMANN

»Wir lernen aus unseren Fehlern...«

INTERVIEW Werner Faymann, neuer Bundesparteivorsitzender der SPÖ, bezieht im ZUKUNFT-Interview klar Stellung zu den politischen Vorhaben, für die die SPÖ im Wahlkampf wirbt, dem Koalitionsbruch der ÖVP, der EU-Diskussion und mit wem er nach den Wahlen (nicht) regieren will.

Zukunft: Du bist in einer schwierigen Situation Vorsitzender der Inhaltlich stehe ich zu hundert Prozent hinter dem Brief, die SPÖ geworden. Wie gerne hast Du diese Funktion übernommen? Form würde ich das nächste Mal überdenken, weil der Brief dadurch offenbar anders angekommen ist als er gedacht war. Werner Faymann: Als ich gefragt wurde, ob ich bereit bin Unser Anliegen war es, darauf hinzuweisen, dass die Bevölke- als Bundesparteivorsitzender zu kandidieren, war mir die gro- rung in Zukunft stärker eingebunden werden muss, denn nach ße Verantwortung sehr bewusst. Für mich war klar, dass wir dem irischen Nein, nach den schlechten Euro-Barometer- uns mit ganzer Kraft und ganzem Herzen einsetzen müssen. Werten, können wir uns nicht einfach zurücklehnen. Die Be- Jetzt bin ich mit einer auch für mich überwältigenden Mehr- völkerung aus der Meinungsbildung auszuschließen, nur weil heit am Parteitag zum neuen Vorsitzenden gewählt worden. man Angst hat, dass sie bei Abstimmungen Nein sagen könnte, Dieser Rückhalt freut mich natürlich und macht mich zuver- das halte ich für falsch. Mit Hochglanzbroschüren allein wird sichtlich für die Zukunft. man die Europa-Skepsis nicht bekämpfen können. Da braucht es schon einen ernsthafteren Dialog mit der Bevölkerung. Für welche Ziele steht Werner Faymann? Deshalb kann man für Europa sein und darf trotzdem kritisch Im Mittelpunkt all meiner Überlegungen und meines poli- und auch für eine Volksabstimmung sein. Wir wissen, dass sich tischen Handelns stehen Chancengleichheit und Gerechtig- Europa zu einer Sozialunion mit hohen Standards entwickeln keit. Ich habe selbst als Jugendlicher in den 70er Jahren erlebt, muss, dass die Liberalisierung nicht die Antwort auf alle Fragen was es heißt, wenn vielen Menschen der Zugang zur AHS sein wird und es Entwicklungen gibt, wie in der Transitfrage, eröffnet wird, wenn sich die Wohnsituation für die Menschen die gute Antworten erfordern und unsere Stimme gehört wer- verbessert. Bruno Kreisky hat es mit seinen Reformen ge- den muss. Die Rolle der Rechte der Arbeitnehmerinnen und schafft, vielen Menschen höheren Wohlstand zu ermöglichen, Arbeitnehmer muss betont werden. Österreich hat eine bei- die so genannte Mittelschicht wurde stärker. Ich will, dass die spielgebende Volkswirtschaft und wir müssen unsere Funktion Schere zwischen Arm und Reich nicht wieder auseinander des Brückenbauens, des offenen Dialogs und der wirtschaftli- geht, Menschen müssen von guter Arbeit gut leben können. chen Nischen- und Qualitätsorientierung auf höchstem Ni- Österreich muss sich im internationalen Wettbewerb durch- veau weiter konsequent fortsetzen. setzen, und den gemeinsam erwirtschafteten Ertrag müssen wir gerechter und sozialer verteilen. Das steht für mich im Du sprichst in diesem Zusammenhang oft davon, dass die EU sozi- Mittelpunkt. aler werden muss. Was bedeutet das in Deinen Augen konkret?

Der EU-Brief, den Du gemeinsam mit dem Genossen Gusenbauer Die EU hat Österreich viele Vorteile gebracht. Sie ist ein er- vor dem Sommer an die Krone geschrieben hast, hat für große Aufre- folgreiches Friedensprojekt. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht gung gesorgt. Verstehst Du diese Aufregung? haben wir Österreicher gerade durch die Erweiterung enorm

6 | ZUKUNFT profitiert, die Liberalisierung hat dem Konsumenten einige genommen, die innerparteiliche Kommunikation zu verbes- Vorteile gebracht, aber sie ist nicht die Lösung in allen Fragen. sern, die Landesorganisationen noch stärker in Entscheidungs- Aber der immer stärker wachsende Wettbewerb bringt auch findungsprozesse einzubeziehen. Ich will erreichen, dass wir Nachteile mit sich, die Menschen haben Ängste, sind verun- uns das, was uns aneinander nicht gefällt, nicht über die Medi- sichert ob der Schnelllebigkeit, der ständig wachsenden Kon- en ausrichten, sondern dass das innerparteilich ausgesprochen kurrenz. Hier braucht es auf EU-Ebene klare Regeln, einen wird. offeneren Dialog, wir müssen die Zusammenarbeit bei sozia- len Anliegen verstärken. Auch Themen wie eine Spekulations- Der Koalitionsbruch der ÖVP und der Zeitpunkt dafür kam ja für steuer müssen endlich angegangen werden. Ich bin der Mei- viele überraschend. Bist Du enttäuscht, dass die ÖVP die Koalition nung, wenn die EU nicht sozialer wird, wird sie die Menschen hat platzen lassen? verlieren. Und Europa braucht überzeugte Europäer, damit die Zukunft erfolgreich gestaltet werden kann. hat den Bruch der Koalition mit faden- scheinigen Argumenten begründet. Anscheinend hat er nur Ziemlich sagenumwoben ist ja Dein Verhältnis zu Hans Dichand einen für ihn optimalen Zeitpunkt abgewartet, sich aus der und der Krone. Welchen Einfluss darf eine Zeitung auf die Politik ungeliebten Koalition zu befreien. Dass die ÖVP mit der gro- einer Partei haben? ßen Koalition nicht glücklich ist, hat sie uns vom ersten Tag an zu verstehen gegeben. Anstatt für Österreich zu arbeiten, Die Kronen Zeitung ist eine unabhängige Zeitung, die selbst hat man sich darauf verlegt, jeden Vorschlag der SPÖ zu tor- ihre Themen bestimmt. Und nicht nur die Krone bezieht Stel- pedieren. Ich bin enttäuscht über das mangelnde Verantwor- lung. Auch andere Zeitungen sind immer wieder explizit für tungsbewusstsein, dass die ÖVP an den Tag gelegt hat. Mich oder gegen eine Maßnahme oder eine politische Persönlich- enttäuscht es zusätzlich, dass Fortschritte nur unter großen keit aufgetreten. Druck und scheinbar für die ÖVP nur im Wahlkampf möglich sind. So sind die Vorschläge eines höheren und auch einkom- Der EU-Brief war ja auch einer der Auslöser für den Offenen Brief, mensabhängigen Kindergeldes oder eines höheren Pflegegel- den Genosse Lacina u.a. vor dem Parteitag an die Parteispitze des, die jetzt von der ÖVP plakatiert werden, schon lange von gerichtet haben und in denen sie auch die „Missachtung demokrati- uns gefordert worden. scher Spielregeln“ kritisieren. Der Vorwurf, dass die Linie der Partei nicht in den Gremien koordiniert sei, wurde in den letzten Jahren Seit zwei Jahren hat die ÖVP ein verpflichtendes Kindergarten- ja öfter laut. Gleichzeitig haben die Landesorganisationen wenige bzw. Vorschuljahr und fast jede weitergehende finanzielle Entlastung Gelegenheiten ausgelassen, der Bundespartei über die Medien aus- blockiert: Jetzt plötzlich ist vieles möglich und leistbar, vom Kinder- zurichten, was ihnen nicht passt. Wie ist Deine Herangehensweise gartenjahr bis zur zusätzlichen Familienbeihilfe. Wie erklärst Du an dieses Problem? Dir diesen überraschenden Sinneswandel?

Ich möchte parteiinterne Kritik nicht missen, denn jede Be- Wenn Molterer plötzlich die Richtigkeit von SPÖ-Forderun- wegung lebt auch von Kritik, wenn diese angebracht und gut gen erkennt und wir noch vor der Wahl einiges für die Men- argumentiert ist. In der SPÖ hat es immer Platz für verschie- schen in diesem Land bewegen können, dann soll mir das na- dene Meinungen gegeben und das wird auch in Zukunft so türlich recht sein. Aber dahinter steckt nicht, wie man immer beibehalten werden. Als Parteivorsitzender habe ich mir vor- wieder glauben machen möchte, die soziale Ader der ÖVP,

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sondern vielmehr hofft man aus wahltaktischen Gründen, mit Ein Vorziehen der Steuerreform ist dringender denn je, denn sozialen Themen punkten zu können. die Menschen leiden unter hohen Preisen, besonders für Fa- milien und Personen mit niedrigem Einkommen wird der Im Wahlkampf steht die SPÖ jetzt vor der schwierigen Situation, Leidensdruck größer. Deshalb will die SPÖ vor allem jene dass viele unserer WählerInnen unzufrieden sind, weil sie sich von Menschen entlasten, die unter 4.000 Euro brutto verdienen. unserer Regierungsbeteiligung mehr erwartet haben. Wie willst Du diese Menschen überzeugen, ihre Stimme der SPÖ zu geben? In Österreich gibt es noch immer Ungerechtigkeiten im Steuersystem. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden Wir lernen aus unseren Fehlern. Vieles, auch gute und wich- steuerlich stark belastet, Pensionisten haben in den Jahren von tige Reformen, sind in der letzten Zeit von Streit und Res- Schwarz-Blau einen Kaufkraftverlust von zehn Prozent auf pektlosigkeit überlagert worden, von Auseinandersetzungen in Basis des Verbraucherpreisindex erfahren. Die Regierung un- der Regierung sowie von innerparteilichen Differenzen. Die ter dem derzeitigen Klubobmann Schüssel hat mit ihren Steu- Bevölkerung will aber keine Streitereien, sondern sie will, dass erreformen nichts dazu beigetragen, die Menschen nachhaltig für Österreich gearbeitet wird, deshalb treten wir mit der Bot- zu entlasten. Für mich ist es daher wichtig, die Progressions- schaft "Genug gestritten" für einen Neuanfang ein. Viele der stufen im Steuersystem stärker zu differenzieren. Der Mittel- Auseinandersetzungen sind auf den Blockadekurs der ÖVP stand darf uns in Österreich nicht existenziell unter Druck zurückzuführen, das zeigt auch ihr Verhalten in den letzten geraten, wie das in anderen Ländern bereits der Fall ist, die Wochen. kleinsten Einkommen müssen auch eine Chance haben, von einer Steuerreform zu profitieren. Welche Themen stellt die SPÖ in den Mittelpunkt ihres Wahlkamp- fes? Jede Steuersenkung bedeutet natürlich im Umkehrschluss auch, dass die öffentliche Hand weniger Mittel zur Verfügung hat, um ihre Auf- Derzeit machen den Menschen vor allem die hohen Preise gaben zu finanzieren. Gleichzeitig steht der Sozialstaat vor großen zu schaffen. Deshalb haben wir ein 5-Punkte Programm vor- Herausforderungen, etwa bei der Pflege, den Krankenkassen bei der gelegt, das wir auch im Parlament beschließen wollen. Die Kinderbetreuung. Wie soll das finanziert werden? Mehrwertsteuer auf Lebensmittel soll gesenkt werden, wir setzen uns für ein höheres Pflegegeld, eine höhere Familien- In einer solidarischen Gesellschaft muss jeder seinen Beitrag beihilfe auch für Familien mit Kindern unter 6 Jahren, die leisten, damit das Sozialsystem aufrecht erhalten werden kann. Verlängerung der Hacklerregelung und eine Steuerreform mit Arbeit wird zu stark besteuert, deswegen trete ich mit so ho- Anfang 2009 ein. hem Nachdruck für eine Steuerreform schon mit Beginn 2009 ein, eine Tarifsenkung bei der Lohnsteuer wäre jetzt umsetz- Zusammenfassend geht es uns darum, das Leben für alle Men- bar. Dabei muss auch beachtet werden, dass der Selbstfinanzie- schen fairer zu gestalten. Dafür stehe ich auch als Person, als rungsgrad solcher Maßnahmen rund 30 Prozent beträgt, das Spitzenkandidat, im Wahlkampf ein. bedeutet, dass dadurch unser Wirtschaftskreislauf neue Impulse bekommt, die positive Auswirkung auf Kaufkraft wirkt auch Die SPÖ fordert die Vorziehung der Steuerreform auf 2009 und die auf unsere viele mittelständischen und kleinen Betriebe aus. Entlastung der unteren und mittleren Einkommen. Was bedeutet das Das gilt auch für Kinderbetreuung, das ist keine reine Ausgabe, im Detail? sondern ermöglicht für viele Eltern unterschiedliche Arbeits-

8 | ZUKUNFT modelle, die wir auch volkswirtschaftlich positiv spüren wer- ligionen nicht mehr zu überbieten. Das BZÖ versucht ähn- den, wie Beispiele in Skandinavien zeigen. liches. Haider hat mit seinen Abschiebeaktionen aus Kärnten gezeigt, dass Menschenrechte für ihn nicht zählen. Die SPÖ setzt sich grundsätzlich für die Beseitigung von Steuerprivilegien im Bereich der Spekulation und der Fi- Abschließend eine Frage nach deiner persönlichen Einschätzung: Was nanztransaktionen ein, klar ist dass es hier nicht um Familien sind Deine Erwartungen für die Wahlen? geht, die sich eine Eigenturmwohnung gekauft haben oder ein Einfamilienhaus vererben wollen. Die Besteuerung der Ich wünsche mir, dass wir das Vertrauen der Wähler zurückge- Arbeitseinkommen und der Vermögen war im internationalen winnen, dass wir nach dem Wahltag sagen können, wir haben Vergleich in Österreich schon vor Auslaufen der Erbschafts-/ die Herzen der Menschen erreicht und dass die Zustimmung Schenkungssteuer ungerecht. Nur rund 0,6 Prozent des BIP groß genug ist, um Österreich auch in Zukunft im Sinne der werden durch vermögensbezogene Steuern aufgebracht. Des- Menschen gestalten zu können. halb müssen wir diesen Bereich intensiv diskutieren und ge- rechte Lösungen finden.

Nach den unerfreulichen Erwartungen der letzten Jahre – kannst Du Dir eine Neuauflage der großen Koalition vorstel- len?

Ich bin kein Gegner der großen Koalition, denn große Re- formprojekte brauchen eine breite Mehrheit und Österreich braucht eine stabile Regierung. Aber mein Wunsch wäre es, dass auf Seiten der ÖVP andere Akteure zum Zug kommen. Über Wilhelm Molterer schwebt noch immer der Schatten Schüssels, das wird ja auch innerhalb der ÖVP kritisiert. Sollte es eine Neuauflage geben, dann brauchen wir politische Per- sönlichkeiten, die, wie wir, wirklich daran interessiert sind, sich WERNER FAYMANN den Zukunftsfragen anzunehmen und eine ernsthafte Zusam- ist seit seinen Jugendtagen in der sozialdemokratischen Bewegung menarbeit zu wollen. aktiv. 1981 wird er Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Wien, 1985 zieht er als jüngster Abgeordneter in den Wiener Gemeinderat ein. 1988 Eine Koalitionsvereinbarung mit FPÖ oder BZÖ schließt Du aus? übernimmt er die Leitung der Wiener Mietervereinigung, 1994 wird er Wohnbaustadtrat und setzt sich in diesen Funktionen tatkräftig für ein Definitiv Ja! Ich will keine Koalition mit Parteien, die Ressen- leistbares und lebenswertes Wohnen ein. In seiner Amtszeit werden in timents schüren und versuchen, daraus politisches Kapital zu Wien fast eine Viertelmillion Wohnungen neu errichtet oder saniert. 2007 schlagen, die Regierungsbank teilen. Der Grazer Wahlkampf wird er zum Bundesminister für Verkehr, Infrastruktur und Technologie hat ja eindeutig gezeigt, welchen Geistes Kind viele FPÖ- ernannt. Am 8. August 2008 wird er auf dem SPÖ-Bundesparteitag in Aussagen sind. Diese waren an Fremdenfeindlichkeit und Linz mit überwältigender Mehrheit zum neuen Bundesparteivorsitzenden mangelndem Respekt gegenüber anderen Kulturen und Re- und Spitzenkandidaten der SPÖ gewählt.

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DIE FOTOS VON THOMAS JANTZEN UND JONNANNES ZINNER SIND SCHNAPPSCHÜSSE AUS DEM WAHLKAMPF DER SPÖ. DIE NEUE WAHL 08 IM MITTELPUNKT STEHT DER DER SPITZENKANDIDAT: WERNER FAYMANN. EINE MODERNE JUSTIZPOLITIK FÜR EIN SOZIALES ÖSTERREICH VON MARIA BERGER

Eine moderne Justizpolitik für ein soziales Österreich

JUSTIZPOLITIK Die Justizpolitik ist seit jeher Schauplatz von Auseinandersetzungen unterschiedlicher Weltanschauun- gen. Justizministerin Maria Berger zeigt, welche Erfolge, Pläne und Ziele sich die Sozialdemokratie im Bereich der Justizpo- litik setzt.

elche überragende Bedeutung der Justizpolitik Die Wahlen am 28. September sind nunmehr auch eine für eine fortschrittliche, demokratische und ge- Entscheidung darüber, ob die umfassenden Reformvorschläge rechte Gesellschaft zukommt, hat als sozialde- der SPÖ für den gesellschaftspolitischen Fortschritt gestärkt W mokratischer Justizminister zuletzt Dr. Christian werden. Broda eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Der Geist der um- fassenden Rechtsreformen aus dieser Zeit, die Österreich ab REFORM DES FAMILIENRECHTS 1970 moderner, offener und liberaler gemacht haben, wirkt Im Jahr 2008 habe ich den Entwurf für ein Familienrechts- bis heute spürbar nach. änderungsgesetz vorgelegt. Dieses Gesetz umfasst eine ganze Reihe von Maßnahmen, mit denen moderne Lebensformen Dementsprechend stellte die Übernahme der Leitung des im österreichischen Rechtssystem deutlich besser abgesichert Justizministeriums durch die SPÖ während der nun auslau- und Schritte zu einer umfassenden Gleichstellung gesetzt wer- fenden Legislaturperiode eine große Chance dar, um erstmals den. Darüber hinaus enthält es zahlreiche Regelungen, um die seit 25 Jahren ein an sozialdemokratischen Grundsätzen ori- wirtschaftliche und soziale Benachteiligung von Unterhalts- entiertes Justizeform-Programm zielgerichtet zu entwickeln berechtigten nach der Scheidung zu vermeiden. Im Einzelnen und umzusetzen. Ich habe diese Chance in den vergangenen bedeutet das: zwei Jahren dazu genutzt, eine ganze Reihe von Maßnahmen und Gesetzesprojekten vorzubereiten und in die öffentliche Die Rechte und Pflichten von Stiefeltern in »Patch- Debatte einzubringen. work«-Familien sollten gestärkt werden, um den Lebens- realitäten zehntausender Familien in Österreich besser zu Einiges davon – die Schaffung einer Korruptions-Staats- entsprechen. Gleiches gilt für die verbesserte rechtliche Stel- anwaltschaft oder die Entlastung der überfüllten Justizanstal- lung von Lebensgefährten bzw. die Beseitigung nicht ge- ten – konnte beschlossen und umgesetzt werden. Viele unserer rechtfertigter Diskriminierungen von Lebensgefährten Vorschläge im Justizbereich wurden aber – wie in anderen im österreichischen Rechtssystem. Lebensgemeinschaften Bereichen auch – trotz ihrer Verankerung im Regierungs- werden im Gesetzesentwurf weiters als Lebensform endlich in programm von der ÖVP blockiert oder verzögert. Das kann den Justizgesetzen berücksichtigt, um so z.B. endlich den nichts daran ändern, dass die SPÖ weiterhin mit aller Kraft absurden Zustand zu beenden, dass Lebensgefährten im Zivil- für ihre Projekte einsteht, die auf eine Modernisierung des prozess (anders z.B. als im Straf- oder Verwaltungsverfahren) Familienrechts, die Gleichstellung homosexueller Lebenspart- kein Aussageverweigerungsrecht besitzen, sondern ihren Le- nerschaften, einen effektiven Gewalt- und Opferschutz, ei- bensgefährten im Zweifelsfall durch eine Aussage vor Gericht nen zeitgemäßen Strafvollzug, ein präventionsförderndes belasten müssen. Ein besonderes Anliegen war und ist mir die Jugendstraf(vollzugs)recht, einen offenen Zugang zum Rechts- Durchsetzung einer Reform des Unterhaltsvorschussge- system und die Stärkung des Mieterschutzes abzielen. setzes. Diese langjährige Forderung der SPÖ-Frauen wurde

12 | ZUKUNFT in den Gesetzesentwurf aufgenommen, um den Unterhalt von familienrechtlichen Absicherung gleichgeschlechtlicher Le- Kindern besser abzusichern. Schon seit Jahrzehnten besteht bensgemeinschaften noch keine vollständige Gleichstellung ja die Möglichkeit, Unterhaltszahlungen für Kinder staatlich im österreichischen Rechtssystem, darstellt. Hier bedarf es bevorschussen zu lassen, wenn trotz bestehender Unterhalts- umfassender Gesetzesänderungen in allen Bereichen, pflichten entsprechende Zahlungen unterbleiben. Der Zugang insbesondere auch im Sozial-, Arbeits- und Innenressorts. zu diesem Unterhaltsvorschuss, den die Republik vom Un- Der erste Schritt für die öffentliche Debatte und Umset- terhaltspflichtigen regressiert, soll nun wesentlich beschleunigt zung einer vollständigen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher werden. Ein bestehender Unterhaltstitel soll künftig für die Partnerschaften wurde aber gesetzt und unterstreicht die wei- Beantragung des Unterhaltsvorschusses ausreichen, die lang- tergehenden Forderungen der SPÖ nach einer vollstän- wierige Durchsetzung eines Exekutionstitels soll als Hindernis digen Gleichstellung im Familien-, wie in allen anderen zur raschen Sicherung des Kinderunterhalts entfallen. Schließ- Rechtsbereichen in Österreich. lich war auch eine verpflichtende Rechtsberatung vor der Scheidung Teil des familienrechtlichen Reformprogramms, VERBESSERTER OPFER- UND GEWALTSCHUTZ um sicherzustellen, dass im Zuge des Scheidungsverfahrens Mit der erfolgreichen Implementierung der Strafprozessre- nicht vorschnell auf existenzielle Rechte verzichtet oder be- form wurden die Rechte von Opfern im Strafverfahren sonders ungünstige Regelungen getroffen werden. bedeutend ausgeweitet. Darüber hinaus hat das Justizminis- terium mit der Opferhilfeorganisation »Weißer Ring« eine LEBENSPARTNERSCHAFTSGESETZ Opferhotline, sowie eine Koordinationsstelle für Opfer- Mit dem Entwurf für ein Lebenspartnerschaftsgesetz liegt hilfe eingerichtet. Der Entwurf für das 2. Gewaltschutzge- erstmals ein konkreter ministerieller Gesetzesvorschlag für setz beinhaltet eine weitere Ausweitung von Opferrechten im die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für homosexuel- Bereich des Zivilverfahrens. Insgesamt versucht das 2. Ge- le Lebenspartnerschaften vor. Dieser erste gesetzliche Schritt waltschutzgesetz aber vor allem bestehende Lücken bei der zur Überwindung des höchst unbefriedigenden Statuts Quo rechtlichen Bekämpfung von Gewalt in der Familie zu schlie- wurde von der ÖVP besonders hartnäckig bekämpft und mit ßen. Dauer und örtlicher Anwendungsbereich von einstweili- teilweise absurden Gegenvorschlägen bedacht. gen Verfügungen, mit denen Gewalttäter weggewiesen werden können, sollen ausgeweitet werden. Eine verbesserte gericht- Konkret sieht der Gesetzesentwurf das Modell einer Le- liche Aufsicht bedingt entlassener Sexualstraftäter soll gericht- benspartnerschaft vor, mit dem gleichgeschlechtliche Paare liche Anordnungen zu einer Therapie und entsprechender endlich eine familienrechtliche Absicherung erfahren. In Lebensführung ermöglichen. Bei allen größeren Staatsanwalt- wesentlichen Teilen werden Rechte und Pflichten der Le- schaften wurden zudem mit 1. Jänner 2008 Spezialreferate benspartner zueinander dem Eherecht nachgebildet. Die für häusliche Gewalt eingerichtet. Lebenspartnerschaften sollen vor dem Standesamt abge- schlossen und haben – mit Ausnahme ihrer selbstverständ- STRAFVOLLZUG UND JUGENDGERICHTSBARKEIT lich möglichen vorzeitigen Auflösung – lebenslange Wirkung. Oberstes Ziel des Strafvollzugs hat aus sozialdemokrati- Die ÖVP wollte Standesämter als Ort einer solchen Zere- scher Sicht die erfolgreiche künftige Kriminalprävention zu monie verhindert wissen. Diese diskriminierende Haltung sein. Das erfordert vor allem auch die wirksame Reintegration ist selbstverständlich inakzeptabel und wurde im Entwurf von Straftätern in die Gesellschaft. Die von der Vorgängerre- nicht berücksichtigt. Klar ist, dass dieser Meilenstein in der gierung verfolgte Politik, die Zahl der Häftlinge, die aufgrund

ZUKUNFT | 13 EINE MODERNE JUSTIZPOLITIK FÜR EIN SOZIALES ÖSTERREICH VON MARIA BERGER

minderschwerer Delikte verurteilt worden waren, ständig zu schafften Jugendgerichtshofes an einem neuen, modernen erhöhen, führte zu überfüllten Strafvollzugsanstalten und zu und bedarfsgerechten Standort, wurde von der ÖVP einmal einer Reihe von Folgeproblemen, die sich äußerst negativ auf mehr blockiert, wird von der Sozialdemokratie aber mit aller eine erfolgreiche Wiedereingliederung auszuwirken drohten. Vehemenz weiter vorangetrieben werden.

Mit einer Reihe von Maßnahmen und Vorschlägen habe VERBESSERTER ZUGANG ZUM RECHTSSYSTEM ich diesen Tendenzen entgegenzuwirken versucht. Mehr be- Mit der Einrichtung der Justizombudsstellen im November dingte Entlassungen wurden durch den verstärkten, regel- 2007 stehen den Bürgerinnen und Bürgern nun neue Anlauf- mäßigen Einsatz von Therapien, Weisungen und Be- stellen zur Verfügung, die ein verbessertes Informations- und währungshilfe begleitet. Eine erste Bilanz gibt diesem Weg Beschwerdeservice gewährleisten. Die Justizombudsstellen recht, der unter dem Motto »Mehr Sicherheit durch we- sind überdies unabhängig und regional präsent. Die Einrich- niger Haft« steht. Die Zahl der Häftlinge, die zwischen 2001 tung dieser Stellen ist ein Beitrag zur Verwirklichung des in und 2007 von 6.800 auf 9.000 Personen gestiegen war, ist bis den verschiedensten Rechtsbereichen verfolgten Ziels der zum 1. Juli auf 8.000 Personen gesunken. SPÖ, den Bürgerinnen und Bürgern erleichterten Zugang zur Durchsetzung ihrer Rechte zu gewähren. Dies gilt auch für »SCHWITZEN STATT SITZEN« die Politik meiner Amtsvorgänger bezüglich der Schließung Ermöglicht wurde dies durch vermehrte bedingte Entlassun- von Bezirksgerichten. Gleich bei Amtsantritt habe ich die Be- gen, der neu geschaffenen Regelungen zur freiwilligen Ausrei- deutung der Bezirksgerichte für den gleichen Zugang zum se von Nicht-Österreichern (inkl. Rückkehrverbot) und die Recht hervorgestrichen und weitere Zusammenlegungen Durchführung des Projekts »Schwitzen statt sitzen«, dass die von Bezirksberichten ausgeschlossen. Als weitere Beispie- Erbringung gemeinnütziger Tätigkeiten anstelle von Ersatz- le sei auf die Stärkung von Opferrechten im Strafverfahren freiheitsstrafen vorsieht. Zeitgleich ist die Zahl der Anzeigen ebenso verweisen wie auf die SPÖ-Pläne zur Stärkung des im ersten Halbjahr 2008 um sechs Prozent zurückgegangen. Mieterschutzes Die durch sinkende Häftlingszahlen ermöglichte verbesserte Betreuung von Straftätern in den Strafvollzugsanstalten und WOHNKOSTEN SENKEN die ausgebaute Betreuung bedingt entlassener Straftäter ma- Ein zentrales Anliegen sozialdemokratischer Justizpolitik stellt chen sich also durch ein Mehr an Sicherheit für alle bezahlt. auch die Stärkung der in den vorangegangenen Jahren emp- findlich reduzierten Rechte von Mieterinnen und Mietern Besonders wichtig war mir die Wiederherstellung ei- und eine spürbare Senkung der Wohnkosten dar. Steigende ner funktionstüchtigen Jugendgerichtsbarkeit. Einmal Wohnkosten sind ein Hauptfaktor der jüngsten Teuerungs- »gestrauchelte« Jugendliche dürfen nicht einfach weggesperrt wellen. Zu Beginn dieses Jahres habe ich daher ein Maßnah- und unter den wenig geeigneten Bedingungen eines Erwach- menpaket vorgestellt, mit denen die Mieterinnen und Mieter senengefängnisses endgültig auf die schiefe Bahn geführt wer- spürbar zu entlasten wären. Neben der Durchforstung des Be- den. Gerade im Bereich von Jugendgerichtsbarkeit und -straf- triebskostenkataloges (z.B. Herausnahme der Grundsteuer, die vollzug bedarf es spezialisierter Einrichtungen, die straffällig ja keine Betriebskosten im eigentlichen Sinne darstellt) um- gewordene Jugendliche den Weg zurück in ein geordnetes fasste dies auch eine Reduktion der europaweit zu den höchs- Leben ermöglichen. Das von mir forcierte Projekt einer ver- ten zählenden Maklergebühren, sowie eine umfassende Re- besserten Wiedereinführung des von Schwarz-Blau abge- form der Wertanpassungen der Mieten. Statt einer jährlichen

14 | ZUKUNFT Erhöhung sollten die Richtwertmietzinse künftig nur erhöht werden, wenn die kumulierte Preissteigerung zehn Prozent überschreitet. Die ÖVP hat im Interesse der Vermieter eine so weitgehende Entlastung der Mieterinnen und Mieter vor- läufig blockiert. Immerhin konnte aber von der SPÖ mit dem Mietrechtlichen Inflationslinderungsgesetz (MILG) eine Re- duktion der in diesem Frühjahr anstehenden Richtwertmiet- zinserhöhungen erreicht werden. Eine weitergehende Reform des Mietrechts, um Wohnkosten zu senken und Mieterrechte zu stärken wird von der SPÖ als Kernanliegen im Justizbe- reich aber vehement weiterverfolgt werden.

FAMILIENRECHT DES 21. JAHRHUNDERTS Die SPÖ geht mit einem sehr umfassenden Paket an justiz- politischen Vorstellungen in die anstehende Wahlauseinander- setzung. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, dass wir im Justizbereich Wort halten und mit einer Vielzahl von Vorhaben den jahrelangen Rückstau an Maßnahmen zur gesellschaftspolitischen Modernisierung vorantreiben wollen.

Die Wahlen am 28. September sind daher auch eine Ab- stimmung über die SPÖ-Vorschläge für ein Familienrecht des 21. Jahrhunderts, die völlige Gleichstellung gleichgeschlecht- licher Partnerschaften, die Entlastung und Stärkung von Mie- terinnen und Mietern und einen modernen und effizienten Strafrechtsvollzug. Diese Auseinandersetzung um die Kernan- liegen sozialdemokratischer Justizpolitik werden wir mit aller Kraft vorantreiben, um den gesellschaftlichen Fortschritt zu beflügeln.

DR.IN MARIA BERGER ist Bundesministerin für Justiz und seit Juni 2008 Präsidentin des BSA. Zuvor war sie langjährige Europaabgeordnete und Leiterin der SPÖ-Delegation im Europäischen Parlament.

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DIE NEUE WAHL 08 NEUES ZUM WAHLRECHT

Neues zum Wahlrecht

NATIONALRATSWAHL Bei den diesjährigen Nationalratswahlen erleben die im Vorjahr vorgenommenen Wahlrechtsän- derungen ihre Premiere. Ein kurzer Überblick über Briefwahl, Wählen ab 16 und Co.

it einer Änderung des Bundes-Verfassungsgesetzes Wahlkarte beantragt. Der Wahlberechtigte hat bei der Brief- und dem Wahlrechtsänderungsgesetz 2007 hat der wahl durch Unterschrift an Eides statt zu erklären, dass die Gesetzgeber den im Regierungsprogramm vorge- Stimmabgabe persönlich und geheim, d.h. unbeobachtet von M sehenen Vorhaben für eine Wahlrechtsreform ent- Dritten erfolgt, ein/e Zeuge/in ist nicht mehr erforderlich. sprochen. Sie umfasst so zentrale Inhalte wie die Verlängerung der Gesetzgebungsperiode des Nationalrates von vier auf fünf PRAKTISCHE HINWEISE Jahre ebenso, wie die Bereinigung nichtgenutzter Bestimmun- Um die Briefwahl wahrnehmen (oder mit der Wahlkarte gen, wie z.B. die Ermächtigung der Landesgesetzgeber zur in einem anderem als dem Wahllokal des Wohnsitzsprengels Anordnung einer Wahlpflicht bei den Bundespräsidentschafts- wählen) zu können , muss eine Wahlkarte bis 24. September wahlen( die zuletzt in keinem Bundesland mehr bestand). Vor schriftlich oder bis 26. September, 12 Uhr mündlich bei der allem aber wurde mit der jüngsten Wahlrechtsreform Wählen Gemeinde (in Wien: beim zuständigen Magistratischen Be- mit 16 eingeführt und die Briefwahl zugelassen. zirksamt) beantragt werden. In letzterem Fall muss die Wahl- karte persönlich abgeholt werden. Die Wahlkarte ist ein Ku- WÄHLEN MIT 16 vert, das neben einem Stimmzettel und einem beige-farbenen Der zentrale Erfolg der SPÖ bei der Reform des Wahlrechts Kuvert für den Stimmzettel auch die KandidatInnenlisten der war zweifellos die Umsetzung der Senkung des aktiven Wahl- Parteien im jeweiligen Landeswahlkreis und den Vordruck für alters. Aktiv wahlberechtigt ist jeder und jede, die am Wahltag eine eidesstattliche Erklärung beinhaltet. das 16. Lebensjahr vollendet und sich am Stichtag (in diesem Fall: der 29. Juli 2008) im Besitz der österreichischen Staats- Die Wahlkarte kann entweder für die Stimmabgabe in ei- bürgerschaft befunden hat. Das passive Wahlalter, also das nem fremden Wahlsprengel oder für die Briefwahl eingesetzt Recht für eine Vertretungskörperschaft zu kandidieren, blieb werden. Wer seine Stimme per Brief abgeben möchte, muss mit 19 Jahren unverändert. Diese Senkung des aktiven Wahlal- den (geheim) ausgefüllten und im beige-farbenen Kuvert ters hat über die Nationalratswahlen hinaus auch für Europa- verschlossenen Stimmzettel gemeinsam mit der ausgefüllten und Bundespräsidentschaftswahlen Geltung und wird auch in eidesstattlichen Erklärung mit dem ausreichend frankierten den Bundesländern, in denen die ÖVP bislang eine Wahlal- Wahlkartenkuvert (in Österreich: 75 Cent)an seine Bezirks- tersenkung blockiert hat, für Landtags-, Gemeinderats- und wahlbehörde schicken, wo das Kuvert acht Tage nach der Wahl Bürgermeisterwahlen nachvollzogen. eintreffen muss, um gültig zu sein. Damit die Stimme gül- tig ist, muss darüber hinaus die eidesstattliche Erklärung die BRIEFWAHL Identität des/der Wahlberechtigten belegen und von ihm/ihr Während die SPÖ die Wahlaltersenkung als ihren Erfolg bei selbst bis Wahlschluss in Österreich (17 Uhr MESZ) ausgefüllt der Wahlrechtsänderung verbuchen konnte, stellt die Einfüh- werden. Eine Übermittlung ist nur per Post möglich, aus dem rung der Briefwahl die Erfüllung einer langjährigen ÖVP- Ausland kann die Übermittlung allenfalls auch auf dem Weg Forderung dar. Die bisherigen Bedenken der SPÖ hinsichtlich der Vertretungsbehörde erfolgen. der Wahrung des Wahlgeheimnisses konnten offenbar aus- geräumt werden. Die Briefwahl ist zulässig, wenn der Wahl- Inwieweit sich die Briefwahl bewährt und die geheime berechtigte am Wahltag voraussichtlich an der Stimmabgabe Stimmabgabe in diesem System gewahrt bleiben kann, wird verhindert ist und bei der Wahlbehörde die Stimmabgabe per sich bei den Nationalratswahlen zu zeigen haben.

18 | ZUKUNFT DIE NEUE WAHL 08 FAIRES WOHNEN FÜR DIE ZUKUNFT VON GEORG NIEDERMÜHLBICHLER

Faires Wohnen für die Zukunft

WOHNRECHT Steigende Wohnkosten und ein Abbau von Mieterrechten kennzeichnete die letzten Jahre aus Sicht vieler Mieter. Ausgehend von der Tradition der Sozialdemokratie als Mieterschutzbewegung skizziert der Präsident der Mieterver- einigung Österreichs, LAbg. Georg Niedermühlbichler, Perspektiven für eine sozialdemokratische Wohnrechtspolitik

enn im laufenden Wahlkampf politische Kom- hat. Die Wohnung hat folglich einen höheren Stellenwert als mentatoren wieder die schwindende Unter- eine beliebige Handelsware oder Dienstleistung. Die Bereit- scheidbarkeit der Parteien und ihrer jeweiligen stellung von Wohnraum ist in dieser Sichtweise ein Teilbereich WProgrammatik beklagen, übersehen sie dabei der Daseinsvorsorge, auch wenn er für gewöhnlich nicht unter nicht zuletzt einen Bereich: Die Wohnpolitik. Im besonderen diesen Begriff subsumiert wird. Maße vorzuwerfen ist ihnen das allerdings nicht. Das Ausmaß des öffentlichen Diskurses zum Thema war während der letz- Das ist auch zu Recht der Fall: Denn bereits diese Tatsache, ten Jahre gering und die wohnpolitische Bilanz der zu Ende dass eine gesicherte und qualitativ angemessene Unterkunft gehenden Legislaturperiode mehr als bescheiden. Doch zu- ein existenzielles menschliches Bedürfnis darstellt, führt das letzt hat die Initiative der SPÖ zur Verhinderung der Katego- bürgerliche Konzept von der Marktlogik ad absurdum. Die riemietzins-Erhöhungen wieder die einander diametral ent- Option des »Konsumverzichts« steht dem Wohnungssuchen- gegengesetzten Konzeptionen der Sozialdemokratie und des den als Nachfragenden auf dem Markt nicht zur Verfügung. bürgerlichen Lagers erkennbar werden lassen. Es war höchs- Wohnen muss schließlich jeder. Angebotsseitig ist der Markt te Zeit. Nicht nur zur Behebung der Ratlosigkeit politischer ebenso und gleich in mehrfacher Hinsicht beschränkt. Es Kommentatoren. kommen nur Wohnungen in einem gewissen Umkreis in Fra- ge. Demografische Gegebenheiten sorgen zusätzlich dafür, dass Auf eine schlichte Formel gebracht lautet die Grundsatz- die Nachfrage stets höher bleibt als das Angebot. Den »freien frage: Was ist eine Wohnung? Aus konservativer Sicht ist die Wohnungsmarkt« gibt es nicht einmal im idealtypischen Ge- Frage rasch beantwortet: Die Wohnung ist eine Ware wie jede dankenexperiment. andere. Vermieter und Wohnungssuchender begegnen einan- der auf einem Markt und gelangen dort zu einer Überein- Die Notwendigkeit für regulative Maßnahmen der Gesell- kunft im Form eines privatrechtlichen Vertrags. Die Qualität schaft ist folglich auch dann zu begründen, wenn nicht die des Angebotes bestimmt als angemessenen Preis den Mietzins. Wertvorstellungen der Sozialdemokratie als Ausgangspunkt Staatliche Eingriffe stören dieses ideale Gleichgewicht. Das der Überlegungen gewählt werden. Der österreichische Kon- Zauberwort der ÖVP heißt daher – wie so oft – Deregulie- servativismus der Gegenwart ist dennoch nicht bereit, auch rung. nur diesen ersten Schritt weg von der vollständigen Unter- ordnung unter die wirtschaftlichen Interessen der Wohnungs- EIN GRUNDRECHT vermieter zu gehen. Vom zweiten Schritt, der noch vor eini- In der Geschichte der Sozialdemokratie wurde die gleiche gen Jahrzehnten nicht nur ausschließlich sozialdemokratisches Frage bereits sehr früh und völlig anders beantwortet. Der An- Denken darstellte, sondern auch einen gewissen Stellenwert spruch auf angemessenes Wohnen ist ein Grundrecht, das die in der christlich-sozialen Tradition hatte, ist heute längst nicht Gesellschaft jedem einzelnen ihrer Mitglieder zu garantieren mehr die Rede.

20 | ZUKUNFT Gesicherte Wohnverhältnisse sind dennoch einer der Eck- hältnisse. In einer ihrer ersten Verlautbarungen beschrieb die pfeiler der sozialen Sicherheit. Sie zu gewährleisten ist einer- Mietervereinigung ihre damals vorrangigen Ziele: einheitliche seits eine gemeinschaftliche Verpflichtung gegenüber dem Mietverträge, Wohnraumbewirtschaftung, Rechtsschutz und Einzelnen, andererseits ein gesamtgesellschaftliches Interesse Förderung gemeinnütziger Wohnbautätigkeit. und es bedarf nicht erst der expliziten Darstellung aller sozi- alen Folgewirkungen von drohendem Wohnungsverlust und WOHNBAUSTEUER Obdachlosigkeit, um diesen Gedanken zu verdeutlichen. Allein schon die Gründung einer eigenen Organisation, die sich ausschließlich dem Mieterschutz widmete, wäre bereits Im gewissen Maße lässt sich daher ein bürgerlichen Wer- ein hinreichender Beweis für den hohen Stellenwert, den die teverlust konstatieren, allzu sehr zu betonen braucht man ihn Wohnungsfrage in der Sozialdemokratie von allen Anfang an aber nicht. Soziale Ansätze waren auch historisch gesehen nie- hatte. Doch auch in personeller Hinsicht ist diese Tatsache mals die Kennzeichen konservativer Wohnpolitik. Der Mie- eindrucksvoll dokumentiert. Unter den Mieterschützern der terschutz ist seit mehr als einem Jahrhundert ein ausschließli- ersten Generation befanden sich so bedeutende politische Per- ches Anliegen der Sozialdemokratie. Und auch wenn die - aus sönlichkeiten wie die sozialdemokratischen Reichsratsabge- Kriegsnotwendigkeiten ergangene - Mieterschutzverordnung ordneten Leopold Winarsky und Jakob Reumann, die spätere von 1917 für gewöhnlich als Beginn des Mieterschutzes in Nationalratsabgeordnete Adelheid Popp und Dr. Robert Dan- Österreich bezeichnet wird, so stimmt das wohl in rechtsge- neberg, der in weiterer Folge als Wiener Stadtrat und Miter- schichtlicher, nicht aber in politischer Hinsicht. finder der Wohnbausteuer nicht nur die finanziellen Grundla- gen für die Errichtung der Gemeindewohnhausanlagen schuf, GEGEN DIE WOHNUNGSNOT sondern auch für jenes Mietengesetz von 1922 verantwortlich In die sozialdemokratische Programmatik hielt der Mieter- zeichnete, mit dem der Mieterschutz erstmals österreichweit schutz bereits auf dem Parteitag der SDAP von 1907 seinen einheitlich im Rechtsbestand verankert wurde. Einzug. Erstmals wurde dort die Forderung nach einer akti- ven Wohnungspolitik erhoben, mit der die drückende Woh- Der historische Exkurs muss schlagwortartig bleiben. Die nungsnot gelindert, die Hausherrenwillkür eingedämmt und Literatur über sozialdemokratisches Engagement für den Mie- die Rechtssicherheit im Wohnbereich hergestellt werden soll- terschutz füllt Bibliotheken und Archive. Von den ersten An- te. Ihre Elemente sollten in der Schaffung eines einheitlichen fängen der Schaffung einer besonderen Rechtsstellung der Reichswohnungsgesetzes und von staatlichen Wohnungsäm- Mieter über die Leistungen im Wiederaufbau, den weitgehen- tern, des kommunalen Liegenschaftserwerbs und der kommu- den Kündigungsschutz und den klaren Mietzinsbegrenzungen nalen Bautätigkeit, sowie in steuerlichen Erleichterungen und durch die sozialdemokratischen Alleinregierung im Jahr 1982 qualitativen Mindeststandards für Wohnungen bestehen. bis zum sozialen Wohnbau der Gegenwart: Wohnpolitik blieb zu allen Zeiten einer der programmatischen und praktischen Vier Jahre danach erfolgte die Gründung der Mieterver- Schwerpunkte sozialdemokratischer Zielsetzungen und Er- einigung Österreich, zu Beginn noch unter der Bezeichnung rungenschaften für den Mieterschutz waren Errungenschaften »Allgemeiner Mieterverein«. Mieterstreiks und gewalttätige der Sozialdemokratie. Hungerrevolten in den Wiener Vorstädten prägten dieses Jahr 1911 – Akte kollektiver Verzweiflung aufgrund unerschwing- Wozu aber dieser Rückblick? Nun, die aktuellen Be- lich teurer Lebensmittel und verheerend schlechter Wohnver- züge liegen auf der Hand. Damals wie heute bestanden die

ZUKUNFT | 21 FAIRES WOHNEN FÜR DIE ZUKUNFT VON GEORG NIEDERMÜHLBICHLER

drei wesentlichen Säulen der Wohnpolitik in Mieterschutz, Dessen ungeachtet ist der private Wohnungsmarkt den- Preisregulierung und öffentlicher Förderung des Wohnbaus. noch eine Realität. Und auf dem Markt bleibt die Wohnung Und damals wie heute lag darin eine der Hauptkonfliktlinien immer auch Ware. Sie muss es auch sein, damit der Gesamtbe- zwischen bürgerlicher und sozialdemokratischer Konzeption. stand an Wohnraum erhalten und erweitert werden kann. Jene Auch wenn die Probleme der Menschen in den Anfangsta- Erkenntnis und die Berücksichtigung dieses Doppelcharakters gen der Mieterbewegung ohne jeden Zweifel noch ungleich waren daher auch stets das Leitmotiv für die politische Praxis: dramatischer waren als die heutigen, im Grunde waren es die Regulative, welche die Mieterträge über die Maßen beschrän- gleichen, die auch den gegenwärtigen Wahlkampf dominieren: ken, lösen keine Probleme, sondern schaffen neue, indem sie die Teuerung im Allgemeinen und die explodierenden Wohn- die Bausubstanz dem Verfall preisgeben. Auch dafür finden sich kosten im Besonderen. Und damals wie heute fand und findet ausreichend Beispiele in der Vergangenheit. Wenn daher heu- man in der Politik die Mieterschützer in der Sozialdemokratie te das zentrale Motto der Mietervereinigung Österreich »Fair – und man findet sie nur dort. Wohnen« lautet, so ist es nicht zuletzt auch ein Ausdruck des Bekenntnisses zu angemessenen Vermietererträgen im rechtli- HOHER STELLENWERT chen Rahmen eines sozial ausgewogenen Wohnrechts. Mit Parteivorsitzenden Werner Faymann kandiert ein ehema- liger Mietervereinigungsvorsitzender als Spitzenkandidat der Blickt man nun aber zurück auf die zwei Jahre der ab- SPÖ; und mit Mag. Ruth Becher und sind noch laufenden Legislaturperiode, so kommt man nicht umhin zwei weitere frühere Vorsitzende der Mietervereinigung als festzustellen, dass die Sozialdemokratie mit ihrer differenzier- Abgeordnete der SPÖ im Hohen Haus tätig. Es mag vielleicht ten Sichtweise und der Zielsetzung des Interessensausgleichs etwas plakativ wirken, auf diesen Umstand hinzuweisen. Er ist beim Wohnen allein gelassen wurde. Bei näherer Betrachtung aber ein äußeres Zeichen jenes hohen Stellenwerts, den der erkennt man bereits im Koalitionsabkommen den Ausdruck Mieterschutz im Rahmen der Sozialdemokratie nach wie vor mangelnder Gesprächsbereitschaft seitens der ÖVP, welche hat. Auf konservativer Seite sucht man nach solchen Beispielen sich darin manifestierte, dass – trotz der sehr konkreten sozi- vergeblich. Insbesondere in einer Zeit, in der sich die ÖVP in aldemokratischen Vorstellungen in der Verhandlungen – zum ihrer öffentlichen Darstellung als Vertreterin von Mieterinter- Wohnrecht über weite Strecken nur Allgemeinplätze und un- essen präsentieren will, lohnt es sich daher, darauf ausdrücklich verbindliche Bekenntnisse festgeschrieben werden konnten. aufmerksam zu machen. In den wenigen Punkten, wo es gelungen war, mit der ÖVP konkrete Schritte zu vereinbaren, scheiterte die Umsetzung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es kaum einen an- am ihrem hinhaltenden Widerstand. deren Bereich gibt, in dem sozialdemokratische Auffassungen über die Jahre hinweg so konsistent geblieben sind, wie jenen MEHR ALS VERDREIFACHT der ihrer wohnpolitischen Grundsätze. Die Ziele mietrechtli- Beispiel 1: Die Mieten auf dem privaten Wohnungsmarkt cher Gesetzgebung, wenngleich auch eine Angelegenheit des haben sich seit Einführung des Richtwertsystems im Jahre Zivilrechts, waren stets vorrangig öffentlich-rechtlicher Natur: 1994 mehr als verdreifacht. Da die Provisionen der Immo- Das Recht auf angemessenen und leistbaren Wohnraum zählt bilienmakler in direktem Zusammenhang mit der Höhe der im Rahmen der Sozialdemokratie zum Grundrechtsbestand Mieten stehen, sind nicht nur die laufenden Kosten sondern jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft, auch wenn es als auch die einmaligen Aufwendungen bei der Wohnraumbe- solches niemals Teil der geschriebenen Verfassung war. schaffung im gleichen Ausmaß gestiegen. Hinzu kommt dabei

22 | ZUKUNFT noch, dass seit 2002 durch die weitgehenden Befristungsmög- Eigentum ableiten, wie beispielsweise die Grundsteuer und lichkeiten im Mietrecht auch die absolute Anzahl an Mietver- die Hausversicherungen, wurden entweder abgelehnt oder tragsabschlüssen und der dafür fälligen Provisionen stetig im überhaupt ignoriert. Die ÖVP-Übersetzung der Wahrheit ins Steigen begriffen ist. Das Ergebnis sind Ertragssteigerungen »Jäger- und Försterlatein«. der Immobilienvermittler im enormen Ausmaß, die von den Wohnungssuchenden zu bezahlen sind. Eine Neuregelung der MIETZINSERHÖHUNG gesetzlichen Bestimmungen im Rahmen der Immobilienmak- Bezeichnend für diese Grundhaltung der ÖVP ist, dass sie die ler-Verordnung war deshalb auch Teil des Koalitionsabkom- einzige wohnrechtliche Maßnahme der Koalition, das soge- mens. Der Entwurf wurde seitens des dafür zuständigen Wirt- nannte »Mietrechtliche Inflationslinderungsgesetz (MILG)« als schaftsministeriums zwar vorgelegt, sah aber Kostensenkungen Erfolg für die Mieter verkaufen möchte. Der ausschließliche nur bei jenem Zehntel des gesamten Wohnungsbestandes vor, Inhalt dieses Gesetzes besteht in der Herabsetzung der, mit der unter den vollen Anwendungsbereich des Mietrechtsge- dem Verbraucherpreisindex jährlich mitsteigenden, Richtwert- setzes fällt. Die SPÖ wies die Vorlage als unzureichend zurück. mieten von 3,6 Prozent auf 2,2 Prozent für das Jahr 2008. Was Neufassung erfolgte keine mehr. Dafür teilte Minister Barten- die ÖVP als »reale Entlastung«, den sie der Justizministerin stein der Öffentlichkeit mit, dass die SPÖ Kostensenkungen abverhandelt habe, ist nichts weiter, als eine etwas maßvollere für Mieter verhindere. Die Ausformung eines besonderen Mietzinserhöhung als gesetzlich eigentlich vorgesehen. Wahrheitsbegriffs. Dass aber die Regelung der jährlichen Anpassung über- Beispiel 2: Bei jedem Mietvertragsabschluss ist in Abhän- haupt erst auf Druck der ÖVP eingeführt wurde, wird dabei gigkeit von der Höhe der Gesamtmiete eine Bundesgebühr zu geflissentlich übersehen. Ebenso, dass auch im Zuge der De- entrichten. Auch diese zahlt in der Praxis der Mieter. SPÖ und batte um das MILG seitens SPÖ, AK und Mietervereinigung ÖVP einigten sich in den Koalitionsverhandlungen darauf, wieder die Rückkehr zur Klausel gefordert wurde, wonach diese Gebühr ersatzlos zu streichen. Zuständig gewesen wäre die Anpassung der Mieten erst ab einer zehnprozentigen Stei- der Finanzminister, der sich aber bis zuletzt schlicht weigerte, gerung des Verbraucherpreisindex seit der letzten Erhöhung die gemeinsame Vereinbarung umzusetzen. Dafür verlangt die zulässig sein solle und somit im Jahre 2008 überhaupt nicht ÖVP in der Öffentlichkeit von den Gemeinden einen Ge- erfolgt wäre. Und ein weiteres Mal begegnet man der Wahr- bührenstopp, um Wohnkosten zu senken. Eine andere Ausfor- heit, wie sie die ÖVP begreift: als eine Tochter der Zeit. mung des gleichen besonderen Wahrheitsbegriffs. Wenn bei vielen anderen, steckengebliebenen Reformvor- Beispiel 3: Getroffen wurde auch die allgemeine Verein- haben damit argumentiert wurde, dass diese Blockadepolitik barung zwischen beiden Parteien, den Betriebskostenkatalog der ÖVP nur dem schlichten Zweck diene, Regierungserfolge zu durchforsten. Wie sich später allerdings herausstellte, wollte unter einer sozialdemokratischen Kanzlerschaft zu verunmög- die ÖVP unter dem Begriff der »Durchforstung« aber die lichen, so liegt bei der Wohnpolitik noch eine weitergehende »Aufforstung« des Katalogs jener Kostenfaktoren, die von den Ursache nahe: Im Hinblick auf die Mietzinserträge könnte der Vermietern an die Mieter weiterverrechnet werden können, Status Quo für Vermieter kaum zufriedenstellender sein. verstanden wissen. Die SPÖ-Forderungen, den Betriebskos- tenkatalog um jene Aufwendungen zu reduzieren, die nicht Die Änderungen im Wohnrecht seit 1994 brachten aus aufgrund der Nutzung anfallen, sondern sich direkt aus dem Mietersicht eine Reihe von einseitigen Verschlechterungen

ZUKUNFT | 23 FAIRES WOHNEN FÜR DIE ZUKUNFT VON GEORG NIEDERMÜHLBICHLER

und im Sinne sozialdemokratischer Wohnpolitik eklatante lichkeiten bei Mietverträgen weitestgehend einzuschränken, Rückschläge wie die Aushöhlung des Mieterschutzes durch sind nichts weniger als der Ausdruck sozialer Verantwortung. die praktisch unbeschränkten Befristungen seit 2002, die fak- tische Abschaffung jeglicher Preisregulierung bei den Richt- FOLGEN DER INFLATION wertmieten durch die unklaren Zuschlagsregelungen und ihre Die Wohnbauförderung schließlich, als das zentrale Instrument in der Praxis völlig willkürliche Anwendung, sowie – im Be- zur öffentlichen Steuerung des Angebots-/Nachfrageverhält- reich der Wohnbauförderung – der weitgehende Wegfall der nis auf dem Wohnungsmarkt, unterliegt bereits seit 1996 einer Zweckbindung. betragsmäßigen Begrenzung. Bedingt durch die Inflation geht dadurch von Jahr zu Jahr der öffentliche Mitteleinsatz für die Anders formuliert: In den drei wesentlichen Bereichen Schaffung und Erhaltung von Wohnraum weiter zurück. Das Mieterschutz, Preisregulierung und Wohnbauförderung ist findet seinen Niederschlag in den sinkenden Zahlen neu er- sozialdemokratische Politik bereits seit geraumer Zeit in der richteter Wohnungen. Der Wegfall der Zweckbindungen ver- Defensive – ein Zustand, den ÖVP und Wirtschaftskammer schärft diese Tendenz noch. Gleichzeitig steigt aber der Bedarf durch Dialogverweigerung trachten, aufrecht zu erhalten. an zusätzlichen Wohnungen – aufgrund des Bevölkerungs- wachstums, der starken Tendenz zu Haushalten mit geringerer WICHTIGER SCHRITT Personenanzahl, sowie der Binnenwanderung von ländlichen Der Weg zu »Fairem Wohnen« führt daher nur über den ver- in urbanen Bereiche – beständig an. stärkten öffentlichen Diskurs und die Formulierung klarer wohnrechtlicher Zielsetzungen als Angebot an die Wählerin- Aber dem Sinken der öffentlichen Ausgaben steht nicht nen und Wähler. Mit der SPÖ-Initiative zur Verhinderung der, nur die steigende Nachfrage gegenüber. Ebenso im dauerhaf- für September bevorstehenden, Kategoriemietzinserhöhungen ten Aufwärtstrend befinden sich die staatlichen Einnahmen wurde in Bereich der Preisregulierung ein wichtiger Schritt aus Steuern und Gebühren, mit denen die Wohn- und Wohn- und ein richtiges Signal gesetzt. Zwar verschloss sich die ÖVP nebenkosten belastet sind. Denn auch hier gilt: Dreifache auch in diesem Fall effektiven Kostenentlastungen beim Woh- Miete ist gleich dreifache Umsatzsteuer. Analog verhält es sich nen, ein gewichtiger Unterschied besteht dennoch: Ganz Ös- bei Provisionen und Vertragsgebühren. Auf diese Weise wird terreich sah ihr dabei zu. im Rahmen des Bundesbudgets der Bereich Wohnen immer mehr zum Nettozahler – obwohl gerade dort das Geld fehlt. Klarstellungen dieser Art sind noch nicht das Ziel. Aber vielleicht sind sie ein Teil des Weges, der zum ehestmöglichen ERHÖHTE WOHNKOSTEN Zeitpunkt beschritten werden muss. Vor allem das System der Damit verschärft sich aber die Lage auf dem Wohnungsmarkt Zuschläge zum Richtwert bedarf einer Reform durch Präzi- zusätzlich: Die nachfrageseitige Verschiebung des Gleich- sierung und Begrenzung. Das gleiche gilt beim Aufwand für gewichts erhöht den Preisdruck und damit die Wohnkosten die Wohnungsbeschaffung und bei den Betriebskosten. immer weiter, weil auch der mietrechtliche Preisregelungs- mechanismus durch das Fehlen gesetzlich verbindlicher Re- Und auch in den anderen Bereichen der Wohnpolitik be- gelungen bei den Zuschlägen zum Richtwert nicht wirksam steht längst dringender Handlungsbedarf. Der Kündigungs- werden kann. Das kann nicht die Perspektive der Vernunft schutz im Mietrecht ist ein wesentlicher Bestandteil sozialer und schon gar nicht eine Perspektive sozialer Wohnungspo- Sicherheit – ihn wieder herzustellen und die Befristungsmög- litik sein. Diese kann nur in der Verstärkung und nicht in der

24 | ZUKUNFT Rücknahme des Investitionsvolumens der öffentlichen Hand liegen. Zur Disposition stehen dabei die Einnahmen des Bundes aus der Besteuerung der Wohnkosten. Diese Mittel als »Wohnbauförderung Neu« – zusätzlich zur bestehenden Wohnbauförderung und zweckgebunden für den Neubau – wieder dem Wohnsektor zufließen zu lassen, brächte nicht nur positive Auswirkungen auf dem Wohnungs-, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt.

Die grundlegende Zielsetzung sozialdemokratischer Wohnpo- litik wird auch in der Zukunft darin bestehen, durch Preisre- gulierung, Mieterschutz und Wohnbauförderung »Faires Woh- nen« sicherzustellen. Die neuen Herausforderungen bestehen im Auffinden der geeigneten Wege und ihrer wirksamen Dar- stellung in der Öffentlichkeit. Am Rande hätte eine weitere Intensivierung dieser Bemühungen noch einen zusätzlichen und positiven Nebenaspekt: Ratlosen politischen Kommen- tatoren wäre dadurch bei ihren Lokalisierungsversuchen der konzeptionellen Unterschiede zwischen sozialdemokratischer und bürgerlicher Wohnpolitik auch weitergeholfen.

GEORG NIEDERMÜHLBICHLER ist Präsident der Mietervereinigung Österreichs, Bezirksvorsitzender der SPÖ- Innere Stadt und Abgeordneter zum Wiener Landtag.

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DIE NEUE WAHL 08 MEHR DEMOKRATIE WAGEN VON ANDREAS SCHIEDER

Mehr Demokratie wagen

EUROPAPOLITIK Das »Nein« Irlands zum Vertrag von Lissabon, die große EU-Skepsis vieler ÖsterreicherInnen und die Ankündigung von und Werner Faymann, EU-Verträge künftig auch einer Volksabstimmung unterziehen zu wollen, hat in Österreich großen Diskussionsbedarf zum Thema EU aufgezeigt. Andreas Schieder möchte Europas Krise als Chance verstehen und aus der Wirtschaftsunion endlich ein politisches Projekt seiner BürgerInnen bauen.

ls engagierter und begeisterter Europäer freue ich Europas sein muss. Wer die Union erhalten und schützen will, mich, dass endlich eine lang fällige Diskussion über muss sie so verändern, dass sie von ihren Menschen angenom- Europa begonnen hat, die sich tatsächlich substanti- men wird. Nur ein prosperierendes, soziales und demokrati- A ell mit europäischen Fragen auseinandersetzt. Denn sches Europa garantiert Wohlstand, stabilisiert die Demokratie eines steht fest: Kurz nach ihrem 50. Geburtstag und sichert den Frieden. hat die Union einen Punkt erreicht, wo Ratlosigkeit über die zukünftige Entwicklung herrscht. Für EuropäerInnen gilt es, Ein Raum der gemeinsamen Währung braucht auch eine stär- diese Krise als Chance zu verstehen und aus der Wirtschafts- kere Zusammenarbeit der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der union ein politisches Projekt zu formen. Wandel, den Europa erlebt und weiterhin erleben wird, muss eines stärker in den Mittelpunkt stellen: Er muss sozial ver- Europa und die Union sind kein Selbstzweck. Es geht da- träglich sein – zentraler Bezugspunkt muss der Mensch und rum, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern unser nicht das Kapital sein. Dafür braucht es ein Bekenntnis aller Europa zu gestalten. Und wer die Menschen wirklich mitneh- Mitgliedstaaten zu nationalen Mindestlöhnen in einer Höhe men will in diesem Prozess, muss eine allumfassende Diskussi- die die Begünstigten über die Armutsgrenze hebt. on über eine Neuausrichtung der Politik führen. Ein Gelingen der europäischen Einigung ist mir zu wichtig, um Europa den Die europäische Politik wird sich auch von der Austeritäts- dumpfen Nationalisten oder den neurotischen Zwangsjublern politik der Sparzwänge verabschieden müssen. Es bedarf einer und Schönrednerinnen zu überlassen. Ein more of the same an Hinwendung zu einer intelligenten Fiskalpolitik, die nachhal- bunter Werbeinformation gewinnt weder das Herz noch das tiges Wachstum unterstützt und Arbeitsplätze schafft. Um diese Hirn der Menschen. Schritte auch bei den BürgerInnen spürbar werden zu lassen, ist eine Ergänzung des Binnenmarkts durch eine starke, mo- Es braucht primär eine andere, optimistische Politik. Eine derne, soziale Säule von Nöten. Die Kommission ist gefordert, Politik, die den Demokratiedefiziten, die fraglos in Europa be- die sozialen Folgekosten des Binnenmarktes zu erheben. Mit stehen, entgegenwirkt. Es gilt, durch Referenden und früh- einer Sozialschutzklausel muss sichergestellt werden, dass Ar- zeitiges Einbinden der Menschen, die Legitimation der EU- beitsrechts- und Sozialschutzbestimmungen eingehalten wer- Verträge und der EU-Kommission zu forcieren, Maßnahmen den. gegen die fehlende Gewaltenteilung und das fehlende Initia- tivrecht des Parlaments zu ergreifen DAS MODELL EUROPA Europa hat die Chance, ein Europa der Spitzenklasse zu wer- Ein solcher Wechsel in der Politik ist auch deshalb notwen- den. Eine Union, die international durch ihre Wettbewerbsfä- dig, weil es der nächste, natürliche Schritt in der Entwicklung higkeit, und ihren wissensbasierten Wirtschaftsraum besticht.

28 | ZUKUNFT Das geht aber nur mit der notwendigen sozialen Sicherheit. Wir wollen kein Europa, in dem Wettbewerb Verlierer produ- ziert. Um das zu gewährleisten, braucht es einen verbesserten Zugang zu schulischer, akademischer und beruflicher Bildung – mehr Aus-, Fort- und Weiterbildung für jeden in Europa.

Was es nicht braucht ist auch klar: Steuerwettbewerb nach unten und Steuerdumping. Hier müssen die nationalen Be- hörden stärker zusammenarbeiten und eine gemeinsame Be- messungsgrundlage der Körperschaftssteuer wird nötig sein.

MEHRWERT EUROPAS Meine Vorstellung, unsere, sozialdemokratische Idee eines neuen, modernen, sozialen, gerechten und demokratischen Europas steht fest: Den Mehrwert Europas für seine Menschen fühlbar zu machen und so wieder für die gemeinsame euro- päische Idee zu begeistern. Allerdings gehen wir in unserer Europapolitik von den wirklichen Verhältnissen aus. Wir neh- men das in Angriff, was nach Einschätzung der Lage und der Umstände machbar ist. Wir können nur das tun, wozu auch die BürgerInnen bereit sind, worauf wir uns mit ihnen ver- ständigen können, wovon wir sie überzeugen können. Wir sind bestrebt, gemeinsam den BürgerInnen ein Europa der so- zialen Wärme, der gelebten Demokratie und des Wohlstands zu schaffen.

ANDREAS SCHIEDER ist Staatssekretär für öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform. In seiner langjährigen Tätigkeit im Wiener Gemeinderat war er zuvor u.a. als Vorsitzender der Europakommission tätig, 1997-1999 war er Präsident der Europäischen JungsozialistInnen (ECOSY) , 2002-2006 war er Mitglied im EU-Ausschuss der Regionen. Nach seiner Wahl in den Nationalrat übernahm er 2007 die Funktion des Außenpolitischen Sprechers der SPÖ.

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DIE NEUE WAHL 08 »LEISTUNG« IN DER MARKTGESELLSCHAFT – EINE ZEITDIAGNOSE VON SIGHARD NECKEL

»Leistung« in der Marktge- sellschaft – eine Zeitdiagnose

GESELLSCHAFT Moderne Arbeitsgesellschaften beanspruchten stets, soziale Positionen nach dem Prinzip der »Leis- tungsgerechtigkeit« zu verteilen. Gegenwärtig deuten sich jedoch in dieser Hinsicht grundlegende Veränderungen an. Die Marktgesellschaft, so die These, steht zum Leistungsprinzip in Widerspruch und stellt nicht - wie häufig behauptet wird - eine ganz besonders leistungsorientierte Sozialordnung dar.

erausragende Leistungen sind zu allen Zeiten ge- Ökonomische Erträge und sozialer Statusgewinn sind aber sellschaftlich anerkannt worden, und ihren Erbrin- heute weniger denn je nur als Wirkungen zuvor erbrachter gern wurde soziale Wertschätzung und mitunter Leistungen zu begreifen. Vielmehr haben wir es in der gesell- H Verehrung zuteil. Insofern ist »Leistung« ein Wert, schaftlichen Gegenwart vielfach mit leistungslosen Erfolgen der weit in die Geschichte menschlicher Kulturen zurück- zu tun, während für breite Bevölkerungsschichten gilt, dass reicht. Doch erst die bürgerliche Gesellschaft erhob »Leistung« Leistungen in Arbeit und Beruf längst nicht garantieren, in der auch zu einem umfassenden gesellschaftlichen Ordnungsprin- Erlangung eines sozialen Status auch erfolgreich zu sein. In zip: Was eine Person besitzt, welche soziale Stellung jemand Zeiten, in denen einerseits viele Sozialgruppen kaum Chan- innehat und welche Karriere sie oder er einschlagen kann, cen auf den Arbeitsmärkten haben und andererseits die höchs- sollte nicht länger durch das ständische Prinzip der Herkunft ten wirtschaftlichen Erträge jenseits von Arbeit und Güterer- bestimmt werden, sondern allein Ergebnis der eigenen Arbeit zeugung erlangt werden, scheinen nicht allein »Leistungen« und Leistung sein. Mit dem Aufstieg des Bürgertums entstand über die soziale Position zu entscheiden, sondern zunehmend so das ideelle Modell der »Leistungsgesellschaft«, welches für »Erfolge« auf den unwägbaren Gelegenheitsmärkten von Fi- das ganze Industriezeitalter verbindlich wurde, und das bis nanzspekulationen, Kulturindustrie und medialer Prominenz. heute das Selbstverständnis moderner Nationen prägt. In der Werbung für ihren Investmentfonds hat die deutsche »Postbank« vor einiger Zeit diese Entwicklung auf die geläu- EINE FUNDAMENTALNORM fige Formel gebracht: »Wer arbeitet, hat keine Zeit, Geld zu Nach wie vor ist das Leistungsprinzip eine Fundamentalnorm verdienen.« im Selbstverständnis moderner Gesellschaften. »Leistung« gibt die Kriterien vor, nach denen Lebenschancen verteilt, Teilhabe Versucht man, die Realität des Leistungsprinzips in un- am wirtschaftlichen Reichtum gewährt und die soziale Un- serer Gegenwart näher zu beschreiben, kommt man daher gleichheit zwischen Personen, Gruppen und Klassen gerecht- nicht umhin, sehr gegenläufige Entwicklungen zu konstatie- fertigt werden sollen. In scharfer Abgrenzung zu allen bloß ren. Diese gegenläufigen Entwicklungen möchte ich auf die zugeschriebenen Eigenschaften beansprucht das Leistungs- Formel bringen, dass wir zur Zeit paradoxerweise die Gleich- prinzip, Einkünfte, Zugänge, Ränge und Ämter allein nach zeitigkeit der Ausweitung und der Aushöhlung des Leistungs- den Maßstäben von Wissen und Können zu vergeben. Seine prinzips erleben. zentralen Anwendungsbereiche stellen demgemäß die gesell- schaftlichen Sphären des sozialen Wettbewerbs dar. Bildung, LEISTUNGSELITE Arbeit und wirtschaftlicher Erwerb sind seine wichtigsten Beginnen wir mit der Ausweitung des Leistungsprinzips, so Domänen. In ihnen gilt als offizielle Norm, dass »Leistungs- lässt sich feststellen, dass Leistungsmaßstäbe auch in gesell- gerechtigkeit« vorherrschen soll. schaftliche Bereiche importiert werden, die zuvor nach den

32 | ZUKUNFT Prinzipien von Anrechten oder Bedürftigkeit organisiert wor- kommen. Inmitten einer Kultur, die sich wie kaum je zuvor den sind. Die Verschärfung von Zumutbarkeitskriterien und ausdrücklich als »leistungsorientiert« versteht, nimmt somit Kontrollprozeduren bei der Arbeitslosenhilfe (in Deutschland faktisch das Geburtsprinzip eine entscheidende Weichenstel- »Hartz IV«) steht dafür ebenso ein wie die Einführung »leis- lung für die Entwicklung von Lebenschancen vor. tungsorientierter« Elemente in der Kranken- und Rentenver- sicherung. Ein charakteristisches Merkmal unserer heutigen Öko- nomie ist, dass über den Wert von Leistungen Angebot und Während in den Sozialsystemen also »Leistung« als Pflicht Nachfrage auf globalisierten Märkten bestimmen. Qualifizier- für die Verlierer der modernen Marktökonomien etabliert te Arbeitskräfte, nach denen eine weltweite Nachfrage besteht, worden ist, befinden sich die Gewinner der wirtschaftlichen beziehen daraus große Einkommensvorteile, während die Globalisierung in der günstigen Lage, dass Leistungskatego- Leistungen des Durchschnitts eine Entwertung erfahren, ob- rien für den Erwerb ihrer Vorteile nicht verbindlich sind, die gleich sie in der Regel mit einer erheblich erhöhten Arbeits- sich vor allem leistungsfernen Mechanismen verdanken, näm- belastung verbunden sind. Auch hat sich die Funktionsweise lich privilegierten Herkunftsbedingungen und den neuartigen von Märkten im globalen Kapitalismus selber verändert. Seit Gewinnchancen des »Casino-Kapitalismus«. Gerade wirt- die Finanzmärkte weltweit die wirtschaftlichen Konjunktur- schaftliche Spitzenkräfte neigen ja dazu, sich selbst den Status zyklen bestimmen, geben Aktienkurse die wichtigsten ökono- einer »Leistungselite« zuzuschreiben, die ihre hervorgehobene mischen Gewinnchancen vor. An ihnen partizipiert am meis- Stellung allein eigenen Qualifikationen verdankt. Die gesell- ten das obere Management, das seine Macht, die ihm mit dem schaftliche Wirklichkeit hingegen sieht wesentlich nüchterner Verblassen des Eigentümerkapitalismus zuwuchs, entschlossen aus. zum eigenen Vorteil eingesetzt hat.

Die zunehmende Bildungsabhängigkeit von Führungs- So haben sich etwa in Deutschland durch großzügige Jah- positionen steht faktisch den fördernden Mechanismen einer resgehälter und Aktienoptionen die Einkünfte der modernen privilegierten Herkunft nicht entgegen, sondern befestigt sie. Managerklasse bis auf das Dreihundertfache gegenüber den So stellt sich denn auch die soziale Schließung des gesellschaft- Einkommen von Facharbeitern erhöht, deren Entlohnung – lichen Spitzenpersonals heute eher rigider dar als dies etwa in wie bei fast allen tarifvertraglich vergüteten Arbeitskräften – den Zeiten kollektiver Aufstiegsprozesse nach dem Zweiten im letzten Jahrzehnt nur um einige wenige Prozente anwach- Weltkrieg der Fall gewesen ist: Die besten Chancen für Kar- sen konnte. rieren in Wirtschaft und Wissenschaft haben Promovierte, die dem gehobenen Bürgertum oder dem Großbürgertum ent- Die »Winner-Take-All-Märkte« – wie amerikanische stammen. Wirtschaftswissenschaftler sie nennen – der ökonomischen In der bedeutenden Rolle, die Erbschaften und andere Spitzengruppen setzen minimale Leistungsdifferenzen in ma- Vermögensübertragungen für die moderne Lebensführung ximale Ertragsunterschiede um, sofern die eigentliche Quali- spielen, findet das Herkunftsprinzip auch einen wichtigen ma- tät der Berufsausübung und das konkrete Ausmaß einer Leis- teriellen Niederschlag. Durch den leistungslosen Erwerb von tungserbringung hierbei überhaupt eine entscheidende Rolle Sachwerten, Geld und Aktienkapital kommt derzeit schon die spielen. Am effektivsten wirkt die bloße Zugehörigkeit zu den Hälfte des bestehenden privaten Vermögensbesitzes zustande, Kartellen und Netzwerken der Vorteilsmehrung an sich, die der sich noch weit ungleicher verteilt als etwa die Arbeitsein- analog zum »Matthäus-Effekt« (»Wer hat, dem wird gegeben.«)

ZUKUNFT | 33 »LEISTUNG« IN DER MARKTGESELLSCHAFT – EINE ZEITDIAGNOSE VON SIGHARD NECKEL

eine Eigendynamik von Steigerung und Überbietung initiiert: tingenten Erfolgsbedingungen globaler Geldanlagen unter- Einmal in eine Spitzenposition gelangt, sorgen die »Winner- worfen, deren Beeinflussung weitgehend außerhalb der Verfü- Take-All-Märkte« dafür, dass der Einzelne immer weiter nach gungsmacht des Einzelnen liegt. oben getragen wird, und die soziale Distanz zu Gruppen, die den Anschluss verpassten, wächst mit jedem Schritt. Alle Einkünfte (und auch Verluste), die die modernen Finanzmärkte gewähren, lassen sich kaum auf individuelle Nicht Leistungsdifferenzen entscheiden dann über die Leistungen beziehen, sondern entstehen im Medium schwan- erreichbare soziale Position und die Höhe der Einkünfte, kender Börsenkurse, riskanter Spekulationen und zufälliger sondern die Beteiligung an der privilegierten Nutzung ent- Mitnahmeeffekte – mithin durch all jene Kontingenzen einer sprechender Gelegenheitsstrukturen. Die faktischen Vertei- reinen Ökonomie von Erwartungen, die dem Handel mit An- lungsregeln folgen nicht dem Leistungsprinzip, sondern sind lagekapital von vornherein inhärent sind. abhängig von Marktchancen und Macht, und zeichnen sich in den oberen Etagen der sozialen Schichtung gerade dadurch LEISTUNGSLOSER ERFOLG aus, ihre Wertmaßstäbe weit außerhalb aller Leistungsbezüge Die systematische Flüchtigkeit der Finanzmärkte entwickelt zu finden. Bewertungen, die im Positiven wie im Negativen unabhängig von dem tatsächlichen Leistungsvermögen der Unternehmen GÜNSTIGE GELEGENHEITEN existieren. Statt als eine Instanz zu wirken, die vermeintlich Ertragsgrößen und nicht Leistungsbeiträge spielen denn auch neutral über eine gerechte Leistungsentlohnung befindet, be- die wichtigste Rolle in jenen Wirtschaftsbereichen, die heute fördern die Märkte der globalen Ökonomie so den leistungs- die höchsten Renditen einbringen. Im gesamten sogenannten losen oder »passiven« materiellen Erfolg, für den kein eigenes »quartären« Dienstleistungssektor von Banken und Versiche- Zutun maßgebend und rationales Handeln ursächlich kaum rungen, Design-Anbietern und PR-Agenturen, Börsenhandel verantwortlich ist. Damit entfallen wesentliche Voraussetzun- und Investmentmaklern, Unternehmensberatung und Marke- gen dafür, solche Erfolge noch den Resultaten von Leistun- tingexperten werden Gewinne eines Ausmaßes realisiert, die gen anrechnen zu können. Um nichts weniger gilt diese Ir- allein der Selbstbestätigung des eigenen Erfolgs dienen sollen. rationalität auch für Kursstürze an den Börsen, die mit der Ihren Statuswert gewinnen diese Erträge gerade dadurch, dass gigantischen Geldvernichtung, die sie zur Folge haben, nicht sie außerhalb aller Maßstäbe des Leistungsprinzips liegen, da- nur »spekulative Blasen« auflösen, sondern immer auch die fi- mit sich ihre Außergewöhnlichkeit auch tatsächlich erweisen nanziellen Reserven und mithin die Leistungsergebnisse von kann. Millionen von Anlegern dezimieren.

Die wohl schillerndste Gestalt nimmt das Erfolgsprinzip in Der Modus der Reichtumsverteilung stellt sich auf diese der heutigen Ökonomie auf jenen Märkten an, wo keine be- Weise von der Norm der Leistungsgerechtigkeit auf die Er- rechenbaren Leistungen oder Einsätze zählen, sondern allein werbschance um, zum »Risiko« beim Vermögenseinsatz bereit günstige Gelegenheiten über Erfolg oder Scheitern entschei- und in der Lage zu sein. Ein Risiko bemisst sich am Ausmaß det. Die Gewinner von Aktienspekulationen und kurzfristiger des ökonomischen Wagnisses, das man um einer Gewinnchan- Vorteile auf den Finanz- und Devisenmärkten etablieren eine ce willen einzugehen bereit ist, und nicht an Aufwand und Wirtschaftskultur der Zufälligkeit, die dem Leistungsprinzip Güte nützlicher Arbeit wie idealerweise das Leistungsprinzip. alle Grundlagen entzieht. Die Börsenspekulation ist den kon- Eine Ökonomie, die das ökonomische Risikohandeln zum

34 | ZUKUNFT Prototyp wirtschaftlichen Handelns an sich werden lässt, ent- erweisen. Vom Profitcenter im Supermarkt bis zu den Prä- wertet leistungsbezogene Qualifikationen und bindet ökono- miensystemen im Management gilt, dass Geschäftserfolge die mische Vorgänge umfassend an Kontingenz. Leistungsbewertung bestimmen. Derartiges Benchmarking honoriert Leistungen nicht vom Aufwand, sondern ausschließ- Die Herrschaft der Zufälligkeit, die in den modernen lich von den Ergebnissen her. Die Bewältigung notwendiger Marktökonomien waltet, findet überall dort ihre kulturelle Routinearbeiten, die Last schwerer oder ermüdender Tätig- Fortsetzung, wo die Chancen günstiger Gelegenheiten auch keiten und das unauffällige Wirken hinter den Kulissen sieht die alltägliche Lebenswelt bestimmen. Hier kreiert sie das sich dadurch einer materiellen und symbolischen Abwertung Leitbild des schnellen und mühelosen Erwerbes von Reich- ausgesetzt, weil hauptsächlich Ertragsgrößen und keine Pro- tum und Ruhm, das in unteren Schichten und in der jünge- zessleistungen zählen. ren Generation als Hoffnung auf die plötzliche Entdeckung in Medien-, Mode- und Popkultur, als Schicksalsglaube über Makroökonomisch kommt darin zum Tragen, dass die Fi- sozialen Aufstieg und als moderne Magie medialer Glücks- nanzwelt sich gegenüber der Güterproduktion weitgehend spiele die Alltagskultur durchtränkt. Konsum, Kulturindustrie verselbständigt hat und das virtuelle Kapital der globalen Fi- und Medienangebote weisen heute insofern eine strukturel- nanzmärkte die Arbeitsleistung jeder Volkswirtschaft weit in le Verwandtschaft mit den Funktionsweisen der marktgesell- den Schatten stellt. Lebenspraktisch sind all jene Leistungen schaftlichen Ökonomie auf, als sie eine Vielzahl kontingenter zunehmend delegitimiert, die keine Gewinne abwerfen: von Gelegenheitsstrukturen für leistungsferne Erträge offerieren. den öffentlichen Diensten, den »brotlosen« Wissenschaften und den helfenden Berufen bis zu den Gruppen von Arbeitskräften Eine andere Variante des »Abenteurerkapitalismus« (Max in Handel, Versorgung und Industrie, die Unternehmensbera- Weber), es mit der Spekulation auf das eigene Glück zu ver- ter notorisch als betriebliche »Überlast« identifizieren. suchen, richtet sich an das allgemeine Publikum, und so re- präsentiert sich die Willkür der Märkte in der Medienkultur AUSGEHÖHLT als Dauerveranstaltung von Lotterien und Schönheitswettbe- Fassen wir zusammen: Im selben Moment, in dem »Leistung« werben. In der leistungsorientierten Arbeitsgesellschaft war es wie kaum je zuvor zu einem Zentralbegriff des gesellschaft- typischerweise die Prüfung von beruflichem Wissen, die einer lichen Selbstverständnisses geworden ist und er sich auf Le- Person soziale Erfolgschancen eröffnet hat. Im Konsumkapi- bensbereiche erweitert, die bisher anderen normativen Regeln talismus der heutigen Zeit zählt dagegen vor allem die ge- folgten, vollzieht sich eine Aushöhlung des Leistungsprinzips lungene Präsentation. In den Bildmedien, in Werbung, Mar- ausgerechnet in seinem klassischen Kernbereich des wirt- keting und Verkauf stellt deshalb nicht die Prüfung, sondern schaftlichen Erwerbs, in dem Leistungskategorien mit den das Casting die prototypische Instanz der Zuweisung von Er- verwandelten ökonomischen Realitäten des globalen Kapita- folgschancen dar. lismus faktisch erodieren.

MARKTERFOLGE ZÄHLEN Die Gleichzeitigkeit der Ausweitung und Aushöhlung des Während sich also die reale Belohnungsverteilung in großer Leistungsprinzips, so konträr sie sich auch darstellen mag, ge- Unabhängigkeit von Leistungsbeiträgen bewegt, werden um- horcht indes einer gemeinsamen ökonomischen Logik. Sie ist gekehrt im Zeichen des Shareholder-Value zunehmend nur überall dort aufzufinden, wo allein die Kriterien wirtschaftli- solche Leistungen gratifiziert, die sich auch als Markterfolge cher Effizienz die Organisation gesellschaftlicher Funktionsbe-

ZUKUNFT | 35 »LEISTUNG« IN DER MARKTGESELLSCHAFT – EINE ZEITDIAGNOSE VON SIGHARD NECKEL

reiche bestimmen und der Markt dabei als eine Art permanen- sichtspunkt der Preise relevant, die man bei einem Angebot tes ökonomisches Tribunal fungiert. Die »Vermarktlichung« erzielt oder bei der Nachfrage entrichtet. Max Weber hat die- der modernen Gesellschaft treibt eine umfassende »Ökonomi- sen Sachverhalt mit den Worten beschrieben, dass der Markt sierung des Sozialen« an, deren Maßstab der reine Markterfolg als solcher keine materiale Wertrealisierung sichert, sondern ist. Dieser gebietet es, einerseits Leistungen überall dort ein- allein nach dem formal rationalen Prinzip der Geldrechnung zufordern, wo durch andere Verteilungsprinzipien Kosten ent- funktioniert. stehen, und andererseits die Leistungsbezüge wirtschaftlicher Gewinne zu minimieren, sofern sich nur die Erträge steigern Entscheidend ist, dass in die Gewinnorientierung von lassen. Bildung, Beschäftigung und Sozialpolitik werden da- Märkten keine Regeln eingelassen sind, die von sich aus schon her insofern strengeren Leistungskriterien unterworfen, als sie leistungsgerechte Preise gewährleisten würden. Märkte sind wirtschaftliche Resultate zeitigen sollen, während Reichtums- ausschließlich an ökonomischen Ergebnissen interessiert, ge- zuwächse und Unternehmensgewinne vielfach kaum noch als genüber der Art ihres Zustandekommens sind sie gleichsam Leistungsergebnisse zustande kommen. »blind« und neutral. Für den Markt stellen Leistungen in erster Linie Kosten dar, die möglichst zu reduzieren sind. Und ob MARKT VS. LEISTUNG ein Markterfolg überhaupt auf leistungsbezogener Arbeit be- Die reine Ergebnisorientierung des Marktes greift in dem ruht oder sich günstigen Gelegenheitsstrukturen, individuel- Maße auf das Soziale über, wie sich die Regeln von Angebot ler Risikobereitschaft, positiven Zuschreibungen oder schlicht und Nachfrage verallgemeinern und sich hierdurch moderne dem Zufall verdankt, hat keinen Einfluss auf die Höhe seiner Sozialordnungen in Marktgesellschaften verwandeln. Mit der Honorierung. zunehmenden Macht, die Märkte auf die Gesellschaft ausüben, ordnen sie sich auch die normativen Prinzipien unter, nach GESELLSCHAFT DES MARKTES denen der wirtschaftliche Erwerb organisiert werden soll. Die Dadurch unterscheidet sich der Markt von der Funktionswei- Norm der Leistungsgerechtigkeit ist dafür ein hervorstechen- se des Leistungsprinzips, das mit seinem inneren Regelwerk des Beispiel. Denn entgegen der landläufigen Überzeugung, von Aufwand und Entschädigung Normen der Gegenseitig- dass Märkte prinzipiell dem Leistungsgedanken förderlich keit folgt. Der Markt ist mithin keine »meritokratische« Insti- sind, ist die Dominanz des Markterfolgs heute zu einer Ge- tution, die an sich schon Leistungen belohnt. Er verteilt nicht fährdung des Leistungsprinzips geworden. Das Markt- und das nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, sondern nach Leistungsprinzip haben gesellschaftsgeschichtlich zwar ver- dem günstigsten Angebot, der stärksten Nachfrage und den wandte Wurzeln, die im Liberalismus begründet liegen. Doch besten Preisen. Gleichwohl kommt im modernen Kapitalis- stehen – wie nicht wenige andere Prinzipien des Liberalismus mus dem Markt die zentrale Funktion zu, über den Wert von auch – »Markt« und »Leistung« nicht zwangsläufig schon in Leistungen zu befinden. einem harmonischen Verhältnis zueinander, sondern weisen innere Konflikte auf. Wenn aber Leistungen sich nur im Markterfolg verwirkli- chen lassen, und Markterfolge sich auch leistungsfrei einstellen Der Markt ist an Tauschwerten orientiert, sein eigener können, bietet eine Gesellschaft des Marktes keine Gewähr, Wertmaßstab ist das Geld, das ein verkäufliches Gut kostet dass materielle Erfolge den Leistungsnormen entsprechen, oder einbringen kann. Ob und in welchem Umfang sozia- die sie legitimieren sollen. Erst zusätzliche Regulationen und le Normen dabei eine Rolle spielen, ist nur unter dem Ge- »Einbettungen« von Märkten in Gestalt von Gesetzgebung

36 | ZUKUNFT und Verträgen können allzu eklatante Verzerrungen des Leis- tungsprinzips abmildern. Jene hinzutretenden Regulationen aber sind es, die im Zuge einer neoliberalen Politik heute ge- rade abgeschafft werden.

Es gibt gute Gründe dafür, die moderne Gesellschaft nicht aus dem Anspruch auf Leistungsgerechtigkeit zu entlassen: Jenseits leistungsbezogener Rechtfertigungen sozialer Un- gleichheit waltet die nackte Willkür oder bestenfalls die Hoff- nung, bei der nächsten Runde in der Lotterie der gesellschaft- lichen Verteilung nicht erneut unter den Pechvögeln zu sein. Leistungsbegriffe sind daher weit entfernt davon, allein eine ideologische Tarnkappe von Herrschaft darzustellen. Vielmehr sind sie ein normativer Bezugsrahmen für gesellschaftliche Kämpfe um soziale und ökonomische Teilhabe und bergen ein Potential legitimer Kritik immer dann, wenn eine Gesellschaft nützliche Beiträge bestimmter Individuen und Gruppen miss- achtet.

Die Idee einer gerechten Gesellschaft kann daher auf das Leistungsprinzip nicht verzichten. Sie sollte aber auch der Vielfalt von Leistungsbeiträgen und – nicht zuletzt – der Be- schränkung von Leistungsmaßstäben gewahr sein. Gegenüber der heute herrschenden Marktlogik, die die Leistungsrhetorik ebenso wuchern lässt wie sie die Leistungsgerechtigkeit unter- gräbt, stellte dies gewiss eine humane Perspektive im Umgang mit menschlichen Leistungen dar.

UNIV.-PROF. DR.SIGHARD NECKEL lehrte an verschiedenen deutschen Universitäten, ist Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a.M. und Mitheraus- geber der Zeitschrift »Leviathan«. Seit dem Wintersemester 2007/2008 ist er Universitätsprofessor für Allgemeine Soziologie und Analyse der Gegenwartsgesellschaft an der Universität Wien.

ZUKUNFT | 37 FREIHEIT VON DER RELIGION – EINE GRETCHEN-FRAGE VON JULIA RAPTIS

Freiheit von der Religion – eine Gretchen-Frage

RELIGIONSFREIHEIT Eine Entgegnung auf Franz Eckerts Artikel aus der letzten Zukunft »Freiheit der Religionen – Frei- heit von der Religion?«.

ückbesinnung auf die Religionen? – Der Wunsch lungen, Teilnahme an Meditationsseminaren und Zurückhal- scheint Vater des Gedankens …Wenn Franz Eckert tung bei der Eheschließung, Kinderzeugung und beim Kauf von der Rückbesinnung auf die Religionen spricht, von Einbaumöbeln. R dann sprechen die Zahlen dagegen: Laut den Daten der Volkszählungen geht seit 1910 grundsätzlich der Anteil der STAAT, WIE HAST DU’S MIT DER RELIGION? Gläubigen konstant zurück; kleinere Religionsgemeinschaften Zwar ohne chinesische Flüche und deutsche Philosophen zu (andere als katholisch, evangelisch oder israelitisch) gewinnen zitieren, vollziehe ich jedoch nun mit Franz Eckert ebenso den im Gegensatz zu den größeren dazu. Die letzten Daten einer Schwenk vom Individuum zum Staat. Während uns Eckert Volkszählung stammen zwar aus 2001, jedoch ist eine Tren- eine bunte verfassungsrechtliche Potpourri anbietet, werde ich dumkehr (zumindest zugunsten der katholischen Kirche) in versuchen zu argumentieren, warum der österreichische Staat den letzten sieben Jahren eher unwahrscheinlich. des 21. Jahrhunderts sein – pardon – g’schlampertes Verhält- nis zur Religion (und im Speziellen zur katholischen Kirche) Die katholische Kirche hat selbst bekannt gegeben, dass so- aufgeben und dort, wo notwendig, auch aktiv religionsfreie wohl die Zahl der Kirchenaustritte (36.816), also auch jene Räume schaffen sollte. der Neu- und Wiedereintritte von Erwachsenen (rund 4.800) im Jahr 2007 stagniert hat – über Kindertaufen und die Anzahl Zunächst zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedin- von katholischen Immigranten ist nichts zu erfahren. Auch gungen: In Österreich ist die positive und negative Religions- diese Zahlen deuten wohl nicht auf eine Rückbesinnung freiheit in ihrer individuellen, kollektiven und kooperativen zur Religion hin. Die islamische Glaubensgemeinschaft kann Ausprägung in Art. 14 und 15 Staatsgrundgesetz, Art. 63 Abs. 2 zwar auf einen Zuwachs von 250.000 Mitgliedern seit dem Staatsvertrag von St. Germain und in Art. 9 der Europäischen Jahr ihrer Gründung 1979 vorweisen, spekulativ sei jedoch an- Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) zu genommen, dass sich die Veränderung der Mitgliederzahl von finden. Geschützt ist sowohl die Freiheit zu glauben (positiv) 100.000 auf 350.000 hauptsächlich durch Migration und nicht als auch die Freiheit nicht zu glauben (negativ), Art. 9 EMKR durch Neueintritte »Rückbesinnungswilliger« ergibt. hat schließlich die Weltanschauungen, d.h. Überzeugungen ohne transzendenten Bezug, den Religionen komplett gleich- Franz Eckert hat mit seiner Analyse, dass die Menschen mit gestellt. Was die EU-Grundrechtecharta (GRC) angeht, ist zunehmender Unsicherheit in vielen Bereichen – sei es Part- Franz Eckert zu widersprechen, der meint, Art. 10 leg. cit. ken- nerschaft, Familie, Wohnort, Berufsleben – zu kämpfen haben, ne keine Einschränkung: Die Erläuterungen zur GRC stellen sicherlich recht. Ich zweifle allerdings stark an seiner Schluss- eindeutig klar, dass Art. 10 GRC dem Regelungsgehalt von folgerung, dass dies zu einer Rückbesinnung auf Religionen Art. 9 EMRK entspricht und daher auch Art. 9 Abs. 2 EMRK, führt – und schon gar nicht in den Schoß der »klassischen« der Einschränkungen ermöglicht, im Rahmen der GRC zu monotheistischen Religionen. beachten ist.1

Meines provokanten Erachtens bringt die erwähnte Unsi- Die Einschränkungen der Religionsfreiheit sind des Pudels cherheit die Menschen viel eher zum Abschluss von privaten Kern (Faust-KennerInnen mögen mir diese vielleicht etwas Pensionsversicherungen, Durchführung von Familienaufstel- unpassende Metapher verzeihen) in dieser Thematik: Franz

38 | ZUKUNFT 1) Zum Verhältnis zwischen nationalem Recht, EMRK und GRC, sowie der Günstigkeitsklausel siehe Klingenbrunner/Raptis, Die Justiziabilität der Grundrechte-Charta nach dem Reformvertrag von Lissabon, JRP 2008, 139.

2) Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demo- kratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffent- lichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind.

Eckert rückt in dieser Fragestellung kollidierende Grund- als stark umstritten, ob die erwähnte österreichische Regelung rechtspositionen ins Zentrum – also etwa Religionsfreiheit verfassungskonform ist. Nach der neusten EGMR-Judikatur des einen gegen die des anderen oder gegen die Meinungs- im Fall Alexandridis gegen Griechenland und davor schon im Fall oder Pressefreiheit des anderen – in den Vordergrund – und Buscarini et al gegen San Marino kann mit ziemlicher Sicherheit bezeichnet dies irrtümlicherweise als »Kollisionsnormen« davon ausgegangen werden, dass die Bestimmung des § 1 Eid- (verzeihen Sie mir die juristische Pedanterie). Dabei meint er, gesetzes, der die Anrufung Gottes bei der Ablegung des Eides die individuelle Religionsfreiheit dürfe überhaupt nicht ein- vorsieht, verfassungswidrig ist. geschränkt werden. Alle Religionen sind gleich und manche sind gleicher… Dies ist schlichtweg falsch: Der Europäische Gerichtshof zumindest für den österreichischen Staat: Im rezenten Er- für Menschenrechte hält sehr wohl eine Beschränkung der in- kenntnis Zeugen Jehovas gegen Österreich hat der EGMR es als dividuellen Religionsfreiheit– bei Erfüllung der Erfordernisse nicht gerechtfertigt gesehen, dass die Zeugen Jehovas mehr als von Art. 9 Abs. 2 EMRK2 – für möglich: In den Fällen Leyla 20 Jahre auf die Zuerkennung einer Rechtspersönlichkeit (dies Sahin gegen die Türkei und Dahlab gegen die Schweiz hat er ein erfolgte erst 1998 auf der Basis des Bekenntnisgemeinschaf- Verbot des Tragens eines Kopftuches bzw. Schleiers durch eine tengesetz) warten mussten, da die Behörden diverse Anträge Studentin an einer Universität respektive durch eine Lehre- unbeantwortet ließen. Im Gegensatz zum Verfassungsgerichts- rin an einer staatlichen Volksschule als EMRK-konform be- hof (VfSlg 16.102/2001) sieht er außerdem die Warteperiode funden. Um die Säkularität des Staates zu garantieren, kann von zehn Jahren gem § 11 Abs 1 Z 1 Bekenntnisgemeinschaf- derselbe auch in bestimmten Kontexten das Tragen religiöser tengesetz, die eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft abwar- Kleidung verbieten – freilich wäre ein allgemeines »Kopf- ten muss, bis sie Anerkennung nach dem Anerkennungsgesetz tuchverbot«, wie dies manche fordern, EMRK-widrig. suchen kann, im Falle einer lang existierenden, international verbreiteten religiösen Gruppierung wie den Zeugen Jehovas Die Säkularität des Staates ist freilich kein Selbstzweck, als nicht EMRK-konform an. Religiöse Gruppen, die »an- sondern erfüllt die u.a. die wichtige Funktion Nicht-Gläubige erkannt« (was den Status einer öffentlich-rechtlichen Kör- bzw. religiöse Minderheiten vor einflussreichen Mehrheitsre- perschaft und andere Vorteile mit sich bringt) werden wol- ligionen zu schützen. Für das österreichische, g’schlamperte len, haben es in Österreich sehr schwer – neuere spirituelle Verhältnis zwischen Religion und Staat gibt es viele Beispiele: Strömungen haben gegenüber traditionell praktizierten somit Franz Eckert nennt uns das sogenannte »Schulkreuz« (d.h. das einen Nachteil. Kruzifix in Klassenzimmern von Schulen, an denen mehr als die Hälfte der SchülerInnen ChristInnen sind) als Beispiel und DIE KIRCHE NICHT IM STAAT LASSEN qualifiziert es als »zulässig und gerechtfertigt« – entre parenthè- Der österreichische Staat sollte sich zur absoluten Säkulari- ses erwähnt er »einzelne anderslautende Entscheidungen«. Las- tät verpflichten, dazu muss auch dringend eine Debatte über sen Sie mich etwas konkreter werden: Das deutsche Bundes- die Einführung von religionsfreien Räumen an staatlichen verfassungsgericht hat eine – der österreichischen Regelung Einrichtungen (vor allem im Bildungssystem) geführt wer- in § 2b Religionsunterrichtsgesetz sehr ähnlich – bayerische den. Als Beispiel kann hier der französische Staat gelten, der Regelung für verfassungswidrig befunden, weil der Zwang religiöse Symbole und religiösen Unterricht innerhalb des zum »Lernen unterm Kreuz« die negative Religionsfreiheit staatlichen Schulsystems nicht erlaubt. Diese religionsfreien der nicht-gläubigen oder nicht-christlichen SchülerInnen Räume ermöglichen (insbesondere jungen Menschen) wahr- verletzt. In der österreichischen Verfassungsrechtslehre gilt es haftige Religionsfreiheit – nämlich ohne Druck einer Mehr-

ZUKUNFT | 39 FREIHEIT VON DER RELIGION – EINE GRETCHEN-FRAGE VON JULIA RAPTIS

heit oder eines Elternhauses oder sonstigen sozialen Umfelds Religionen – nämlich dort, wo sie aufgrund der faktischen einen Glauben bzw. eine Weltanschauung zu wählen – oder Gegebenheiten quasi unumgänglich ist, wie z.B. bei der Ver- eben auch nicht zu wählen. Ob man tatsächlich so weit gehen köstigung von Grundwehrdienern oder der Verwaltung von möchte, das Tragen von Kreuzen, Kopftüchern bzw. -schleiern, Friedhöfen (aber auch über diese Notwendigkeit kann selbst- Vollbärten, Kippas etc. auch SchülerInnen oder Personen, die verständlich diskutiert werden). vor Gericht auftreten, zu verbieten, wäre durch einen breiten öffentlichen Diskurs zu erörtern. Bei diesen Kooperationen muss der Staat allerdings abso- lute konfessionelle Parität garantieren – d.h. keine Religions- Klar ist jedoch, dass Religionsunterricht an Schulen und richtung bevorzugen (was man von der momentanen Syste- Kreuze in Klassenzimmern, Spitälern oder Gerichten nichts matik nicht behaupten kann, siehe oben).Es kann daher nicht verloren haben, da mit selbigen diese Institutionen dem Gebot angehen, dass z.B. Eltern ihre Kinder taufen bzw. sich selbst der Säkularität des Staates widersprechen. Die konfessionelle gegen einen Kirchenaustritt entscheiden, weil der Gemeinde- Neutralität des Staates muss oberste Priorität haben, nur so kindergarten einer fiktiven Gemeinde X nicht genug Plätze kann sichergestellt werden, dass Nicht-Gläubige und Gläu- für alle Kinder bietet und daher die Eltern auf einen Betreu- bige aller religiösen Richtungen (unabhängig, ob sie einer ungsplatz im Pfarrkindergarten von X angewiesen sind. Und »anerkannten« Religion angehören oder nicht) in allen Le- es allgemein bekannt ist, dass die Zuteilung der Betreuungs- bensbereichen, wo sie mit dem Staat in Berührung kommen plätze– sei es offen oder unausgesprochen – von der Religi- gleich behandelt werden. Übrigens verlangt auch der verfas- onszugehörigkeit der Eltern und Kinder abhängt. sungsrechtlich gewährleistete Gleichheitssatz (Art. 2 Staats- grundgesetz, Art. 7 Bundesverfassungsgesetz), dass alle Staats- Ähnliches gilt für viele v.a. soziale Einrichtungen, wo Re- bürgerInnen gleich behandelt werden – und »Vorrechte des ligionen mit dem Staat kooperieren – und ihm zweifellos teil- Bekenntnisses« explizit ausgeschlossen werden. weise kostspielige Aufgaben abnehmen. Der säkulare Staat hat ein säkulares Angebot an Diensten von allgemeinem Interesse MOSCHEEN, PFARRKINDERGÄRTEN UND MEHR und sozialen Einrichtungen zu schaffen, das all jenen offen Franz Eckert ist dort zuzustimmen, wo er die Meinung ver- steht, die keine religiösen Einrichtungen in Anspruch nehmen tritt, dass der Bau von Moscheen, die alle rechtlichen Rah- können oder möchten. menbedingung erfüllen, selbstverständlich genauso zu geneh- migen ist, wie jeder andere Neubau. Ebenso schließe ich mich Religionsfreiheit als Menschenrecht muss in individuel- ihm an, dass Rechtsvorschriften, die »maßgeschneidert« den ler, kollektiver und kooperativer Hinsicht garantiert werden Bau von Moscheen verhindern wollen wohl vom VfGH we- – allerdings von einem absolut säkularen Staat, der auch die gen Verfassungswidrigkeit aufgehoben werden müssten. Auch, Religionsfreiheit der Nicht-Gläubigen oder religiöser Min- was die Zurückweisung der Forderung »Erst Kirchen in mus- derheiten garantiert und sich gegen religiöse Einflüsse, die die limischen Ländern, dann Moscheen in christlichen Ländern« Unterwanderung der konfessionellen Neutralität des Staates angeht, sind wir uns – aufgrund der uneingeschränkten, nicht zum Ziel haben, zur Wehr setzt. reziproken Gültigkeit der Menschenrechte - einig. Am Ende seines Beitrages fordert Franz Eckert maximale Zusammen- MMAG.A JULIA LEMONIA RAPTIS, LL.M. arbeit zwischen Staat und Religionen – und hier endet auch ist Mitarbeiterin am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der schon wieder unsere Übereinstimmung: Grundsätzlich spricht Universität Wien, Vorstandsmitglied der Fachgruppe JuristInnen und zwar nichts gegen die punktuelle Kooperation des Staates mit Koordinatorin der Internationalen Arbeitsgruppe im BSA.

40 | ZUKUNFT DIE NEUE WAHL 08

DIE NEUE WAHL 08 IM EINKLANG VON MIRKO BOGATAJ

Im Einklang KÄRNTNER SLOWENEN Zur Präsentation seines Buches über die Kärtner Slowenen im Parlament hielt Mirko Bogataj eine Rede, die es uns mehr als Wert erschien ihren platz Platz in der »Zukunft« zu finden.

ie Atmosphäre eines Landes ist ein äußerst subtiles vom Bürgermeister bis zum Bundeskanzler. Andererseits aber Gefühl für die Menschen. Es ist nicht leicht, eine sind sie unsere Angestellten und werden mit unseren Steuer- solche Atmosphäre zu beschreiben, doch man spürt geldern bezahlt. Sie wurden gewählt, um Probleme zu lösen. D sofort ihre Kraft und Wirkung. In einer positiven Daran sollten sie auch gemessen werden. Atmosphäre können wunderbare Dinge geschehen. Man freut sich und ist rundum zufrieden, weil einem der »Gruppen- Aber es sind nicht wirklich die, die wirklich hassen, es sind geist« entgegenkommt, einen umfasst und trägt - freundlich, nicht die allein, die wir als Übeltäter anprangern. Es sind – teilnahmsvoll und kreativ. und das ist schmerzhaft zuzugeben – wir selbst. Es sind wir, die mitlaufen, die Opportunisten sind, die ihre Ruhe haben Wer dagegen das Pech hat, in einer negativen seelisch-geis- wollen – es sind eher die Herren Karl’s dieser Welt, die das tigen Umgebung zu leben, dem bereitet schon der bloße Ge- Böse erst möglich machen. »Wir haben immer mit gelebt mit danke an seine Ohnmacht allmorgendlich Magenbeschwerden. unserer Heimat«, sagte meine Grossmutter nach dem Ortsta- -Es ist wahrhaft trostlos, wie viele Minderheitenangehörige ihr felsturm, »wenn auch vom Rand«. Leben in einer negativen, destruktiven Atmosphäre fristen. Sie leben praktisch unter Menschen, die Macht über sie haben. Ein Mann, eine Frau am Rand – und so machtlos, wie Und doch haben Menschen manchmal nur deswegen Macht es kaum je ein Mann oder eine Frau war: keine Hausmacht, über sie, weil sie ihnen ihre Macht abtreten. keine Seilschaften. Aber jede Menge Gegner, Neider, Denun- zianten, Frustrierte in den eigenen Reihen. Die Demokratie in Kärnten wird durch Brandstifter und applaudierende Biedermänner herausgefordert, aber Schaden Was uns fehlt? Selbstvertrauen. Selbstwertgefühl. Selbstach- nimmt sie vor allem durch Rechtfertigungen, Relativierun- tung. Selbstbewusstsein. Niemand anderer kann uns das geben. gen und Verharmlosungen von Politikern und Parteien. Das schafft ein bedenkliches Vakuum – den Nährboden für Popu- Nein, das ist nicht der Slowenen Ding: Stellung beziehen, listen. Sie propagieren eine »bürgernahe Politik« und greifen sich eingraben, erbittert beharren auf ein paar Fußbreit Boden. Konfliktthemen lautstark auf. Überall dort, wo die etablierten Dieses Spiel da draußen, Gezerre um Grenzpfosten und Orts- Parteien drastisch an Glaubwürdigkeit verloren haben, weil sie tafeln, um Marken und Zeichen, Macht und Einfluss, es ist mehr an Machterhalt als an gesellschaftlichen Konfliktlösun- nicht ihres; doch müssen sie es zum Teil mitspielen. Um nicht gen interessiert sind, artikulieren diese Menschen »des Volkes ganz von der Landkarte gewischt zu werden. Für immer. Stimme« – und werden gewählt. DIE RÄNDER BRECHEN AUF ZUR MITTE Es schaudert einem! Solche Leute wird es immer geben Dieses Buch, das eine Geschichte vorstellt, die in Kärntner – man findet sie in allen Kulturen, bei allen Rassen, bei al- Schulen nicht gelehrt wird, legt verborgene Wurzeln, unbe- len Religionen. Auch bei uns. Denn die Politiker sind auch wusste Motivationen und Quellen frei: den inneren Reichtum nur Menschen und sie wollen die nächsten Wahlen gewinnen, einer Welt an der Grenze, einer Welt am Rand zweier Mit-

44 | ZUKUNFT ten – also einer der reichsten Welten unseres Kontinents -,die beiden Seiten einfach das Beste heraus: ein bisschen Herz, ein Konflikte zweier Kulturen und Volksstämme, Erfahrung mit wenig Schmerz, aber, bitte, geregelt. Entwurzelung und Bruch, mit Gemeinschaft und Tradition unter der Oberfläche der Dinge und Geschehnisse. Orte, Ge- Das Buch ist ein Versuch, die Eigenart dieses besonderen stalten, Episoden aus der Geschichte leuchten hier gleichsam Stückchens Europas zu begreifen und zu übersetzen. Ja, Du in der Nussschale auf. solltest Dich damit auseinandersetzen. Oder zumindest dieje- nigen, die in diesem Hohen Haus den Begriff Europa verwen- Es ist heute besonders aktuell: Wenn und wo Grenzen den. Das sollte ein Initiationsritus sein, denn ein Rand zwei- verändert werden, Ränder hereinbrechen in die Mitte, sind er Mitten ist das Unterbewusstsein des Kontinents. Es ist ein die Seismographen der Wahrheit unentbehrlich. Grenzgänger, dunkler Brunnen, in dessen tiefen Schatten diejenigen schau- Menschen, daheim in zwei Welten. Am Rand zweier Mitten. en sollten, die glauben, der Lauf der Dinge sei für alle Zeiten festgelegt. Mein Land ist noch Zwischenland und Wartehalle. DER RAND Südkärnten, das ist jenes österreichische Land an der Grenze, Von der Mitte, also von Wien oder Ljubljana aus, ist eine Rei- von dem böse Zungen behaupten, es liege im Blinddarm der se in das Unterland im Süden Kärntens eine Reise an den Republik. Österreich auf der einen Seite, jenseits der Berge Rand, an dem sich alles um Perspektiven, Zukunft, Zerfall, Slowenien, so will es die Geschichte. Die Menschen ziehen Abseits, um Hoffnung und Hoffnungslosigkeit dreht. Um die noch ganz andere Linien durch die Landschaft: Fast durch die Hoffnung, dass das Land am Rand etwas mehr wird als nur Menschen verläuft die Grenze, oft eine unsichtbare. der Rand. Und vielleicht auch die Hoffnung, dass die bis dato desinteressierte Kärntner Öffentlichkeit endlich die Welt vor Aber jetzt scheint doch endlich einiges anders zu werden. der eigenen Haustür entdeckt. Eine unbekannte, doch vitale Die einst messerscharfe Grenze zerbröckelt, das Jahrzehnte lang Welt mag da entdecken können, wer sich nicht hinter den abgetrennte Hinterland – der Slowenen und der Österreicher Bergen verbarrikadiert. – ist bereits ohne Reisepass zu erreichen. Mit der schrittwei- sen Umsetzung der europäischen Integration deutet sich auch Es sind viele kleine Geschichten, die dieses Buch erzählt. eine Möglichkeit an, die Hyäne des Nationalen zu befrieden Doch eigentlich erzählt es nur eine: die vom Zwischenland als und das Zeitalter der Konfrontationen am Rand zu beenden. einem Raum, der sich dadurch erst definiert, dass etwas Neues Inzwischen ist die Einsicht gewachsen, dass das »Europa der am Entstehen sei, für das wir noch keine Begriffe haben. Ein Menschen« auch an seinen Nahtstellen zusammenwachsen Land zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«. Das Buch be- muss. Damit die Ränder sich nicht mehr nach der Mitte ver- richtet von den Hoffnungen der Grenzgänger und derjenigen, zehren müssen. Kein Ort im Universum ist am Rand, jeder ist die Neuland betreten. Doch unausgesprochen dahinter steht an der Mitte. Aber wo ist die Mitte? Wo ist der Rand? Ist nicht eine größere Hoffnung: Als Laboratorium sehe ich das Land der Rand die Mitte und die Mitte der Rand? zwischen den Rändern, als Schnittstelle zwischen altem und neuem Europa. Als eine neue Mitte. VOM RAND ZUR MITTE Die Sprache verbindet. Die Sprache trennt. Niemand darf die Mein Land ist noch ein Zwischenland. In dem südlichsten Sprache eines anderen bestimmen im Namen irgendwelcher Bundesland Österreichs gehen deutsche Perfektion und slo- so genannten Zugehörigkeit. Jede Sprache gehört jedem. Mir wenische Seele eine schöne Symbiose ein. Man pickt sich von wurde meine Muttersprache verboten, ich wurde als Kind

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aus ihr verstoßen. In der deutschen Sprache wurden auch alle allen gehört. Und der Rand ? Das Land dazwischen, zwischen Vorkehrungen erdacht und getroffen, um meinen Grosseltern der großen deutschen Welt und der großen slawischen Welt. die Heimat zu nehmen. Das Deutsche wurde die Sprache der Menschen, die in zwei Welten, zwei Sprachen, zwei Kulturen Entwürdigung und der Zurückweisung, die Sprache wurde stehen. Mein Volk verbindet Welten. Damit es bald nur eine geschändet und verdorben wie sonst keine andere, Paul Celan Mitte gibt. hat es gesagt: Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah, aber, wie er auch sagte: Sie, die Sprache, blieb ANSTELLE EINES NACHWORTES unverloren, ja trotz allem, und mir, trotz allem, wurde sie zu- Ich habe dieses Buch geschrieben, um Einsichten für ein bes- rückgeschenkt, bewahrt geblieben. seres Zusammenleben zu vermitteln. Wir – Mirko und Berg- hild - beide praktizieren es seit bald fünfzig Jahren. Dabei will Das Slowenische, die Sprache der Befreiung und des Wi- ich nicht behaupten, dass ich weiß, was ein besseres Zusam- derstands, hat mir das Deutsche in meiner Jugend zurückge- menleben für die anderen Kärntner bedeutet. Ihnen kann es schenkt, wieder verfügbar und wie unversehrt. Die Sprache ganz und gar gleichgültig sein, was ich unter einem besseren blieb erhalten, gerettet. Wieder brauchbar gemacht wurde sie Zusammenleben verstehe, wichtig für sie ist nur ihre eigene durch die andere Sprache, die Sprache der Aufnahme und der Lebensweise. Ich glaube jedoch, wenn sie alle wie Du und ich Rettung, die auch mein Menschenbild bewahren konnte. ein Leben führen, das uns glücklich macht, dann geht es dem ganzen Land ein wenig besser. Ein Land für sie und für uns Durch die deutsche kam mir die Muttersprache zurück, – in dem wir sie respektieren und sie uns respektieren und in erhalten, unverwundet und nicht verschandelt. Für mich, aus dem es ausreichend Raum gibt für unsere Unterschiede – ist der Sprache Verjagten, war es eine Aufgabe wieder zu lernen, befrie digender als ein Sie- oder Wir-Land, in dem entweder dass Deutsch die herrliche Sprache Bachmanns und Handkes wir oben und sie unten sind oder umgekehrt. geblieben ist und bleiben wird. Menschliche Vielfalt, nicht menschliche Gleichheit, macht Sie, meine zweite Sprache, blieb unverloren, ja, trotz al- das Leben lebenswert und spannend. lem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch Verstummen, durch Abweisen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse ungewisser Zukunft. Sie ging hindurch und gab lange kei- ne Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, angereichert von all dem. MIRKO BOGATAJ DIE MITTE war erster Absolvent des Slowenischen Gymnasiums, Lehrer, Journalist, Ob ich wohl ein bisschen subjektiv bin, wenn es um mein Leiter der Slowenischen Hörfunk- und Fernsehprogramme des ORF. Er Volk geht? Nein, wenn es um die Kärntner Slowenen geht, ist Präsident der »European Ethnic Broadcasting Association«, Vizeprä- dann bin ich sehr subjektiv. Das Thema ist für mich eine emo- sident der »european journalists« und Autor mehrerer Bücher in Deutsch tionale Hingabe, Kärnten ist für mich ein Mysterium. Mein und Slowenisch. Zuletzt erschien von ihm: Die Kärntner Slowenen. Ein Volk am Rand der Mitte. Einer Mitte, die niemanden, sondern Volk am Rand der Mitte, kitab-Verlag, Klagenfurt 2008.

46 | ZUKUNFT DIE NEUE WAHL 08 SACHBÜCHER

USA, altes China & Kaukasus

Thomas O. Höllmann Declan Hill DAS ALTE CHINA SICHERE SIEGE

Einer der besten Kenner des alten China Drei Jahre recherchierte der kanadische bringt archäologische Fundstücke zum Journalist Declan Hill für sein Buch. Es Sprechen, noch besser: zum Erzählen. So geht um Fußball, organisiertes Verbrechen erfahren wir viel über die Machtfülle des und wie Spiele manipuliert werden. Es Kaisers, die Unterwürfigkeit der Beam- ist der ständig wachsende Wettmarkt, der ten, von der Begeisterung für Fußball, heute dafür sorgt, dass der Ausgang auch vom Wandel der Schönheitsideale, von großer und wichtiger Spiele oft nicht mehr dem Zufall über- der Vorliebe für Seide, die schon vor mehr als 2000 Jahren ein lassen wird. An diesen Manipulationen sind Schiedsrichter und Exportschlager war, und vom Odometer. Spieler. beteiligt. C. H. Beck, 328 Seiten, 30,80 Euro Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 15,40 Euro

Marie-Carin Gumppenberg / Udo Joe Klein Steinbach (Hg.) DER KAUKASUS VOM ENDE DER POLITIK

Namhafte Experten beleuchten Arme- Wie Meinungsforscher und Wahlkampf- nien, Aserbaidschan und Georgien, die strategen die Demokratie ruinieren, so russischen Regionen im Nordkaukasus der Untertitel dieses Buches, das von der (Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien) US-Politikpropaganda erzählt. Überzeu- sowie die Nachbarstaaten Türkei und gungen werden durch Meinungsumfra- Iran. Die großen Konfliktregionen – gen ersetzt, Charisma durch Wahlkampf- Abchasien, Süd-Ossetien, Berg-Karabach sowie Tschetscheni- Management, politischer Instinkt durch en – werden ausführlich historisch und politisch beschrieben, Zielgruppenforschung und Medienanalysen. Politikberater wenn auch manchmal sehr detailverliebt. beherrschen das Feld. C. H. Beck, 256 Seiten, 13,40 Euro Propyläen Verlag, 335 Seiten, 23,60 Euro

Michael Makropoulos Gerhard Spörl / Marc Hujer DIE THEORIE DER MASSENKULTUR WIEDERVEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA Massenkultur ist nicht Kulturindustrie. Massenkultur ist eine besondere Form Wer auch immer nach George W. Bush moderner Erfahrung. Man kann über sie an die Macht kommt – er hat die Aufgabe hochmütig die Nase rümpfen oder sie und die Chance, das Land wiederzuver- einfach als Kategorie der normalisierten einen und zu versöhnen und die Super- Mediengesellschaft, also einer Gesellschaft, macht neu zu positionieren. Die beiden in der die Quote zählt, in der Statistiken „Spiegel“-Journalisten zeichnen ein optimistisches Bild von von zentraler Bedeutung sind, kurz: in der »normal« ist, was einem verunsicherten Land. Und kommen zu dem Schluss: häufig ist und was dem Durchschnitt entspricht, sehen. die USA wollen den Wandel und die USA blicken nach vor. Wilhelm Fink Verlag, 170 Seiten, 23,60 Euro Scherz Verlag, 322 Seiten, 15,40 Euro

48 | ZUKUNFT BELLETRISTIK

Alle Bücher sind auch in der Buchhandlung Löwelstraße (1014 Wien, Löwelstraße 18; [email protected]) erhältlich. Wirtschaftswunder & Weltgericht

Ruth Klüger AMY BLOOM DIE UNGLAUBLICHE UNTERWEGS VERLOREN REISE DER LILLIAN LEYB

Der American Way of Life in der zweiten Lillians Aufstieg in New York scheint Hälfte des 20. Jahrhunderts, die komple- unaufhaltsam, bis eines Tages ein Ver- xe Beziehung zu den zwei Söhnen, die wandter behauptet, Lillians Tochter habe unglückliche Ehe und die als Befreiung das Massaker in Russland überlebt und sei empfundene Scheidung sind Themen möglicherweise nach Sibirien gebracht dieser Autobiografie. Hier erzählt eine worden. Lillian verlässt sie New York Frau, die sich ihre Muttersprache ebenso und macht sich völlig mittellos auf eine abenteuerliche Reise. zurückerobert wie ihre Geburtsstadt Wien, die sich den Schat- Quer durch Nordamerika, entlang dem legendären Yukon ten der Vergangenheit, aber auch denen der Gegenwart stellt. Telegraph Trail, und reist Sibirien entgegen. Zsolnay Verlag 240 Seiten, 20,50 Euro Hoffmann und Campe, 319 Seiten, 20,60 Euro

Friedrich Hebbel Norbert Gstrein WELTGERICHT MIT PAUSEN DIE WINTER IM SÜDEN

„Ich halte Hebbel für den wichtigs- Ein Vater und seine Tochter. Er hat sie ten deutsch schreibenden Aphoristiker nach dem Krieg als Kind in Wien verlas- zwischen Jean Paul und Nietzsche - noch sen und ist nach Argentinien gegangen, weiter gefasst: zwischen dem von ihm wo er jeden Sinn für die Realität verloren hoch bewunderten Lichtenberg und den hat. Sie hat jahrelang Abbitte dafür geleis- aufmerksamen Hebbel-Lesern Kafka und tet, dass er im Krieg auf der falschen Seite Canetti“, schreibt Herausgeber Alfred stand. Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, kommen beide Brendel. Für ihn sind die Tagebücher Hebbels dessen Haupt- in ihre jugoslawische Heimat zurück und finden dort ihre Ver- werk. Und Brendel könnte Recht haben. gangenheit wieder – und die eines ganzen Landes. Carl Hanser Verlag, 176 Seiten, 13,30 Euro Carl Hanser Verlag, 288 Seiten, 20,50 Euro

Sven Regener Rainer Moritz FREMDE SIGNALE ICH WIRTSCHAFTSWUNDERKIND

Der dritte Teil von Sven Regeners Wie war es damals in den Sechziger- und Herr-Lehmann-Trilogie ist eine sehr Siebzigerjahren in der Bundesrepublik vergnügliche Lektüre. Berlin-Kreuzberg, Deutschland, als der erste VW-Käfer vors November 1980: Im Schatten der Mauer Haus kam, Willy Brandt zurücktrat und gedeiht ein Paralleluniversum von Künst- man nach Österreich auf Urlaub fuhr? lern, Hausbesetzern, Kneipenbesitzern, Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Kneipenbesuchern, Hunden, Punks, Bier, Literaturhauses, erzählt dokumentarisch Standpunkten, Reden und Verräterschweine – und Frank und sympathisch phlegmatisch seine Lebensgeschichte. Es Lehmann aus Bremen, der alles mal so richtig durchdenkt. gelingt ihm, das damalige Lebensgefühl einzufangen. Eichborn Verlag, 284 Seiten, 20,60 Euro Piper, 298 Seiten, 20,40 Euro

ZUKUNFT | 49 SCHLUSSWORT VON MARKUS MARTERBAUER Einstand im Abschwung

ngesichts des Konjunkturabschwungs, der von den Die im Wahlkampf vorgeschlagenen Pakete streuen hingegen USA ausgehend nun auch die EU und Österreich viel breiter und sind damit auch recht teuer. erfasst hat, könnten Wahlkampf und bevorstehen- A de Regierungsbildung fast als Zeitverschwendung In der Bewältigung des Konjunkturabschwungs darf die angesehen werden. Zwar mögen manche Wirtschaftsforscher Regierung jedoch die grundlegenden Probleme nicht ver- die Talfahrt als unvermeidliches Element des üblichen Auf und nachlässigen. Deren wichtigstes, die rasante Ausweitung der Ab des Wirtschaftslebens abtun und höhere Söhne und Töch- Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen, birgt enorme ter von der reinigenden Kraft der Krise schwärmen; doch die Sprengkraft für die Gesellschaft. Gegen ihre Folgen hilft vor kleinen Leute bekommen den Abschwung hautnah zu spü- allem die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen. ren, vor allem in Form steigender Arbeitslosigkeit. Seit Herbst Denn nur wenn das Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem 2005 ist die Arbeitslosigkeit um 50.000 auf 207.000 Personen hohe Qualität haben, können Chancengleichheit und gerech- gesunken, doch nun ist die Trendwende da und man muss mit te Verteilung erreicht werden. Der Ausbau von Kindergärten einem merklichen Anstieg rechnen. und Horten, der Aufbau eines Pflegesystems, die Erhöhung der sozialen Durchlässigkeit des Schulsystems kämen vor al- Für die Betroffenen bedeutet das hohe Einkommensver- lem Kindern und Frauen zugute und wären damit echte Zu- luste, im schlimmsten Fall Armutsgefährdung. Sinkende Real- kunftsinvestitionen. einkommen treffen derzeit fast alle Beschäftigten, sie verdienen heuer im Durchschnitt netto und real um 0,7 Prozent weniger Diese Leistungen kosten aber Geld, womit wir bei den als im Vorjahr, und die Pensionisten/innen, für die der Verlust Steuern wären. Im Wahlkampf überbieten einander die Par- etwa doppelt so hoch ist. Arbeitslosigkeit und niedrigere Ein- teien mit kostspieligen Ideen der Steuersenkung, von Ge- kommen ziehen wiederum niedrigere Steuereinnahmen und schenken für die Spitzenverdiener/innen bis zu niedrigerer damit einen Anstieg des Budgetdefizits nach sich. Mehrwertsteuer auf Nahrungsmittel. Unberücksichtigt bleibt, dass starke Steuersenkungen die Finanzierbarkeit des Sozial- Kein einfacher Mix an Problemen für die neue Regie- staates gefährden. Viel wichtiger wäre es, die Besteuerung von rung, sie wird sich in ihrem ersten Amtsjahr wohl primär Vermögen zu erhöhen, etwa im Bereich der Grundsteuer, der mit den Folgen des Abschwungs auseinandersetzen müssen. Vermögenszuwachssteuer und der Erbschaftssteuer. Die Mit- Was kann man ihr konjunkturpolitisch raten? Überfällig ist tel sollten zur Verringerung der Abgaben auf Arbeit verwendet das Aktivieren der EU-Ebene. Nur wenn alle Staaten – ihren werden, primär durch Senkung der SV-Beiträge und des ho- jeweiligen Bedürfnissen entsprechend, aber doch koordiniert hen Eingangssatzes von 38,3 Prozent in der Einkommensteu- – investieren, kann die Wirtschaftslage stabilisiert werden. In er. Für die Durchsetzung dieser Prinzipien einer Abgabenre- Österreich geht es dabei nicht um Zusatzprogramme für die form sind die Neuwahlen ohne Zweifel notwendig, denn sie ohnehin gut ausgelastete Bauwirtschaft, sondern vorrangig bräuchte eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse. um Maßnahmen für die kleinen Leute, etwa die Erhöhung von Arbeitslosengeldern, Sozialhilfe und Mindestpensionen oder die Verbesserung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. MARKUS MARTERBAUER arbeitet als Wirtschaftsforscher in Wien. Er ist Autor des 2007 bei Nur diese Gruppen geben ihr Einkommen auch rasch Zsolnay erschienen Buches »Wem gehört der Wohlstand? Perspektiven wieder aus und beleben damit Produktion und Beschäftigung. für eine neue österreichische Wirtschaftspolitik«.

50 | ZUKUNFT »Der zuverlässigste Weg, die Zukunft zu sehen, ist das Verstehen der Gegenwart.«

JOHN NAISBITT

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