Elektrisch Eklektisch Elastisch
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22. SEPTEMBER 2013, NR. 38 FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG SEITE 41 v FFeuilletoneuilleton v „Lieber, was gibt’s Neues?“ M. R.-R. 2010, beim Buchmessenempfang in Frankfurt Foto Julia Zimmermann ie Fragen hier, die hat er wer „Mein Leben“ gelesen hat, der gern gemocht. Spätestens weiß, wie einsam dieser Mann oft war. dienstags rief er immer an, Dass man ihn bei der „Zeit“ gern um sich zu erkundigen, ob schreiben ließ, man ihn aber nicht in neue Fragen gekommen der Redaktion haben wollte, hat ihn tief Dseien. Es waren immer neue Fragen ge- getroffen. Ja, und als er bei der F.A.Z. kommen, und dann wollte er wissen, ob seinen Vertrag unterschrieben hatte, es auch gute Fragen seien. Ich fand sie aber noch nicht dort arbeitete, kam es meist ganz gut, er fand sie oft fürchter- zu jener Einladung, in die Villa des Ver- lich. Er sagte das zumindest häufig. Ich legers Wolf Jobst Siedler in Berlin-Dah- glaube, er war manchmal gerne unzu- lem, aus Anlass des Erscheinens des frieden und kritisch. Und er war natür- Hitler-Buches des F.A.Z.-Herausge- lich anspruchsvoll. Die Fragen an ihn bers Joachim Fest. Nein, man hatte ih- sollten immer die allerbesten Fragen nen, Marcel und Tosia Reich-Ranicki, sein, und er hatte eben nie im Leben nicht gesagt, wen sie an jenem festli- Lust, etwas Mittelmäßiges zu loben, chen Abend in diesem Haus treffen nur weil es andere vielleicht gern hören würden. Es war für beide eine Überra- wollten, oder nur, um irgendwie nett zu schung. „Tosia wurde blass. Auch ich sein. Aber er liebte die Fragen. Er woll- Wir hätten noch so viele Fragen gehabt. Marcel Reich-Ranicki ist gestorben. Uns fühlte mich plötzlich nicht ganz wohl“, te gefragt werden, und er wollte Ant- Danke! schreibt Reich-Ranicki später. Der Eh- bleibt, außer einer großen Traurigkeit, das Staunen über diesen wunderbaren Mann worten geben, bis zuletzt. rengast begrüßt sie beide ganz beson- Ein kleiner Unglaube und Stolz ders herzlich. Wer war es? „Dieser de- schien auch immer mit dabei zu sein. Von Volker Weidermann zente Herr war ein Verbrecher, einer Dass er, der in Polen geborene Jude der schrecklichsten Kriegsverbrecher in Marcel Reich-Ranicki, der keine deut- der Geschichte Deutschlands. Er hatte sche Universität besuchen durfte und den Tod unzähliger Menschen verschul- det. Noch unlängst hatte er zu den der nach dem Willen vieler Deutscher engsten Mitarbeitern und Vertrauten längst nicht mehr hätte am Leben sein noch stimmt, dass er immer noch diese Wie es ihm gehe, hat ein Leser – ner Klaviertastatur anzuschlagen: „To- schönen, grünen Weide, die rings um- Adolf Hitlers gehört.“ Albert Speer. So sollen, dass er nun zu einer Art Ein- bewunderte Autorität ist, dass die Men- Reich-Ranicki hatte zuvor einige Ausga- nio Kröger“. Wer sonst. Das Buch sei- her liegt und doch unerreichbar bleibt, hat ihn Marcel Reich-Ranicki in sei- Mann-Sachverständigenrat geworden schen wirklich all diese Dinge von ihm ben pausieren müssen – ihn gefragt, nes Lebens. hat mich nie ganz verlassen. Diese nem Lebensbuch beschrieben. Er war, der Weise aus Frankfurt, ein Ora- wissen wollen. Und dass er diese Fra- „langsam wieder besser“ hat er geant- In seiner Autobiographie hatte er es Furcht und diese Sehnsucht gehören zu selbst habe damals nur entsetzt ge- kel, die höchste Autorität, das empfand gen immer noch beantworten kann wie wortet. Ob er immer noch den „Spie- so erklärt: Dieser Tonio Kröger sei ein den Leitmotiven meines Lebens.“ schwiegen. Ihm war an einem Streit er auch selbst wohl immer wieder als kein Zweiter. Aber er war müde, die gel“ so gern lese, fragte ein anderer, Mensch, „der an seiner Unzugehörig- Die Sehnsucht, dazuzugehören. Ge- mit Fest nicht gelegen. Er hat nie mit kurios. Wie sein ganzes Leben. Kräfte schwanden immer mehr. Seine sich wohl an Reich-Ranickis Satz erin- keit leidet und wie ein Fremdling im ei- hörte er denn nicht dazu? Sein Aufstieg ihm darüber gesprochen. Und er war sich niemals wirklich si- Antworten wurden immer kürzer und nernd, er wolle schon allein deshalb genen Haus lebt – in ihm habe ich im deutschen Kulturleben nach seiner Die Rettung fand er immer in der cher, dass das auch so bleiben würde, knapper. Zuletzt war es wie ein langsa- nicht sterben, weil er dann nicht mehr mich wiedererkannt. Seine Klage, er sei Rückkehr aus Polen 1958 war doch mär- Literatur. Immer. Das war schon vor dass er auf sicherem Boden stand. Je äl- mes, öffentliches Verschwinden, Sonn- erfahre, was im nächsten „Spiegel“ ste- oft sterbensmüde, ,das Menschliche dar- chenhaft. Bewundert, gefürchtet, über- dem Getto so. Wenn er dem Deutsch- ter er wurde, desto wichtiger wurden tag für Sonntag. Er wollte es so. Er tat, he. Ja, den lese er immer noch, antwor- zustellen, ohne am Menschlichen teilzu- all war er ja dabei, bei jedem Treffen lehrer gebannt zuhörte, wenn er, der ihm die Fragen der Leser. Dieses Drän- was er konnte. tete er. Und welche Figur im Werk von haben‘, hat mich tief getroffen. Die der Gruppe 47, bald schon auf wichti- Jude, der der beste Deutschschüler sei- gen und Hoffen auf neue Fragen jede Die letzten Fragen und seine letzten Thomas Mann ihm an nächsten stehe, Furcht, nur in der Literatur zu leben gem Posten bei der „Zeit“, dann Litera- ner Klasse war, als längst schon auf den Woche, das war, als wollte er sich im- Antworten – ich weiß nicht, ich glaube, fragte wieder ein anderer Leser, wie um und vom Menschlichen ausgeschlossen turchef der F.A.Z., dann im Fernsehen, Schandpfählen Berlins die Parole stand: mer aufs Neue vergewissern, dass es es musste so aufhören – gingen ja so: noch einmal seinen liebsten Ton auf ei- zu sein, die Sehnsucht also nach jener und der Ruhm wuchs und wuchs. Aber Fortsetzung auf Seite 42 FAZ-3KUMJ7OFAZ-1t5bvyü Premieren 46 ELEKTRISCH EKLEKTISCH ELASTISCH Kleine Meinungen 48 Pro & Contra 48 Das neue Album der stilsicheren Die „Berliner Art Week“ fordert mal wieder Ein Gespräch mit Klaas Heufer-Umlauf Die lieben Kollegen 49 Janelle Monáe, Seite 48 auf zum Galerien-Marathon, Seite 47 über das Fernsehen, Seite 49 Fernsehen 50 42 FEUILLETON FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 22. SEPTEMBER 2013, NR. 38 manchmal jahrelang gesessen hatten. Und dann Fortsetzung von Seite 41 kommt dieser Mann und zerreißt das Buch womög- lich auf dem Titelbild des „Spiegels“ oder in einer kleinen Notiz. Er kannte keine Kompromisse, keine Schmeicheleien. Abschied Ich fand immer am beeindruckendsten die Szene, die er selbst in „Mein Leben“ beschreibt, er war noch nicht lange in Deutschland, Heinrich Böll hatte ihm in seiner ersten Zeit viel und lebenspraktisch gehol- fen, und eines seiner nächsten Bücher verriss Reich- von M.R.-R. Ranicki in gebotener Deutlichkeit. Keine Reaktion von Böll. Bis sie sich wenig später auf einem Empfang „Wenn der Jude deutsch schreibt, dann lügt er.“ Im wiedersahen. Sie sehen sich schon von weitem. Reich- Schauspielhaus, das ihm das wichtigste Theater seines Ranicki befürchtet einen Skandal. Böll kommt auf ihn Lebens bleiben würde; dann bei den heimlichen Zu- zu, scheint ihn zu umarmen, flüstert aber nur in sammentreffen mit seinem Schwager Gerhard Böhm Reich-Ranickis Ohr: „Arschloch!“ und anderen jungen Lesern, als sie einander 1937, er Klar. Heinrich Böll hat aus seiner Perspektive innerlich vor Unruhe zitternd, den Brief Thomas recht. Was soll das? Wenn es ihm nicht gefällt, kann Manns an den Dekan der Bonner Universität vorla- er nicht wenigstens schweigen? Wenn ich doch so sen, in dem sich der Dichter des „Tonio Kröger“ erst- freundlich zu ihm war? Konnte er nicht. Wollte er mals öffentlich gegen die Machthaber des neuen nicht. Dafür war ihm Böll zu wichtig. Dafür war ihm Deutschlands stellte. Ja, zitternd. Denn was hätte es die Literatur zu wichtig. Und es ist völlig klar, dass die bedeutet, wenn der Autor des „TonioKröger“ sich wo- gesamte deutsche Literatur der Epoche, die er beglei- möglich doch an die Seite Nazi-Deutschlands gestellt tet hat, niemals die Bedeutung erlangt hätte ohne ihn. hätte? Was hätte er dann noch gehabt? Die Werke der stets so lautstark Leidenden Martin „Ich fühlte mich verlassen“, wird er viele Jahre spä- Walser und Günter Grass wären ohne diesen oft lästi- ter schreiben, als er vom Tod Thomas Manns erfährt. gen kritischen Begleiter und Verreißer und Lobredner Jetzt ist er noch bei ihm. Nach jenem Brief an den De- in der öffentlichen Wahrnehmung und damit auch in kan als größerer Schatz denn je. der Wirklichkeit viel unbedeutendere gewesen. Er Und danach, ja, dieses deutsche Märchen, es ist ja gab ihnen oft erst die herausragende Bedeutung, die so oft erzählt worden und in den letzten Tagen immer sie dann meinten, laut und weinerlich gegen ihn vertei- wieder. Die Kästner-Gedichte im Getto, überhaupt Gedichte, weil man nicht anfängt, einen Roman zu le- sen, wenn man nicht erwartet, lange genug zu leben, um noch das Ende lesen zu können. Der Auftrag an ihn, das Todesurteil für alle Juden des Gettos zu über- Jetzt sitzt er in seinem setzen; das Musikstück, das er während dieser Arbeit großen schwarzen hörte, und sein Gedanke, das sei doch eine gute Thea- ter-Szene, dessen Teiler ist. Und schließlich das Ums- Sessel, blaues Hemd und Überleben-Erzählen für jenen Bolek, der ihnen Unter- schlupf gewährt hatte, der sie aber jederzeit dem Tode Hosenträger, wartet auf übergeben konnte, für den Fall, dass er sich eines Ta- ges langweilen sollte, mit Marcels Geschichten. Er Neuigkeiten, auf eine gute langweilte sich nicht. Geschichte. Ich bemühe Daran haben sicher viele denken müssen, die das Glück hatten, mit ihm arbeiten zu dürfen – wenn er mich sehr, anrief oder wenn er angerufen wurde, immer diese Frage: „Lieber, was gibt es Neues?“ Es war ja eine manchmal lacht er.