71. Jahrgang, 5–6/2021, 1. Februar 2021

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

Kodimey Awokou Heiner Barz MEIN STUTTGART STUTTGART – HAUPTSTADT DER FREIDENKER Anna Katharina Hahn UND ANTHROPOSOPHEN? ZUR CHILLEREICHE. KLEINER VERSUCH Claudia Diehl · Bentley Schieckoff ÜBER STUTTGART INTEGRATION DURCH ERWERBSARBEIT Roland Müller EIN GANG DURCH Jürgen Dispan DIE STADTGESCHICHTE TRANSFORMATION DER SCHLÜSSELINDUSTRIEN Simon Teune ALS HERAUSFORDERUNG FÜR PROTEST 2010 UND 2020. DIE REGIONALWIRTSCHAFT ZWEI HERAUSFORDERUNGEN DER DEMOKRATIE

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Stuttgart APuZ 5–6/2021

KODIMEY AWOKOU HEINER BARZ MEIN STUTTGART STUTTGART – HAUPTSTADT DER FREIDENKER Krawallnächte und Protestbewegungen haben UND ANTHROPOSOPHEN? Stuttgart in letzter Zeit eher unrühmliche Den Titel einer „Hauptstadt des Nonkonfor- Aufmerksamkeit beschert. Darüber wird leicht mismus“ trägt Stuttgart sicherlich zu Unrecht. vergessen, wie gut hier die Balance zwischen Gleichwohl lohnt ein Blick auf die dortigen Tradition und Weltoffenheit gelingt. Eine Anfänge der Waldorfpädagogik und der Anthro- Liebeserklärung an eine Stadt. posophie sowie ihrer Verbindungen zu heutigen Seite 04–07 Protestbewegungen. Seite 26–32

ANNA KATHARINA HAHN ZUR CHILLEREICHE. CLAUDIA DIEHL · BENTLEY SCHIECKOFF KLEINER VERSUCH ÜBER STUTTGART INTEGRATION DURCH ERWERBSARBEIT Stuttgart gehört nicht unbedingt zu den Die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration zuge- populärsten Städten in den einschlägigen wanderter Personen hängt neben individuellen Beliebtheitsrankings. Wer aber einen zweiten Merkmalen vor allem vom Aufnahmekontext ab. Blick wagt, der findet einen Ort voller liebens- Besondere Bedeutung kommt der kommunalen werter Eigenheiten, unbekannter Schätze und Ebene zu. Hier hat die Stadt Stuttgart vieles gechillt-schwäbischer Lässigkeit. richtig gemacht. Seite 08–11 Seite 33–39

ROLAND MÜLLER JÜRGEN DISPAN EIN GANG DURCH DIE STADTGESCHICHTE TRANSFORMATION DER SCHLÜSSELINDUSTRIEN Die Geschichte Stuttgarts wird vor allem in ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE Bezug auf die Doppelfunktion der Stadt als REGIONALWIRTSCHAFT Kommune und Residenz- beziehungsweise Die Region Stuttgart zählt zu den wirtschafts- Hauptstadt einerseits und die Wechselbeziehung und innovationsstärksten in Europa. Aufgrund zwischen Stadt und (Um-)Land andererseits mit der doppelten Transformation durch Digita- den daraus resultierenden Spezifika dargestellt. lisierung und Elektromobilität stehen die ihre Seite 12–19 Regionalwirtschaft prägenden Wirtschaftscluster vor großen Herausforderungen. Seite 40–46 SIMON TEUNE PROTEST 2010 UND 2020. ZWEI HERAUSFORDERUNGEN DER DEMOKRATIE Die Proteste in Stuttgart 2010 und 2020 fordern die Demokratie auf unterschiedliche Weise heraus. Ging es bei „Stuttgart 21“ um die Legitimität von Mehrheitsverfahren, verschwim- men seit 2020 die Grenzen zwischen legitimem Protest und organisiertem Rechtsextremismus. Seite 20–25 EDITORIAL

Stuttgart gilt als Musterstadt der Integration. Die „New York Times“ ernannte die baden-württembergische Landeshauptstadt im „Flüchtlingsherbst“ 2015 zum weltweiten Vorbild gelungener Integrationspolitik, und auch im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik steht die Stadt spätestens seit den 1950er Jahren für die erfolgreiche Verbindung von Migration und Integration, die erst die Grundlage schuf für materiellen Wohlstand, hohe Lebensqualität und ausge- prägten Bürgerstolz. Die Frage, ob „wir das schaffen“, stellte sich in Stuttgart eigentlich nie – es wurde einfach „geschafft“, beim Daimler, beim Porsche oder beim Bosch. Diese integrationspolitische Erfolgsgeschichte mag vor dem Hintergrund, dass in Stuttgart heute Menschen aus 190 Herkunftsnationen leben und 44 Pro- zent der Stuttgarterinnen und Stuttgarter aus Familien mit Migrationserfahrung stammen, umso beeindruckender erscheinen. Möglicherweise ist sie aber schlicht das Resultat liberaler Traditionen, weltoffener Gesinnung, wirtschaftlicher Prosperität und einer konsequenten städtischen Integrationspolitik, die sich, unterstützt durch eine vitale Zivilgesellschaft, schon früh gegen den bundes- und parteipolitischen Mainstream gestemmt hat. Seit den Protesten gegen „Stuttgart 21“, den Ausschreitungen im Sommer 2020 und der Gründung der „Querdenken“-Bewegung bröckelt das Image der Musterstadt. Möglicherweise führt Stuttgart aber nur im Kleinen vor, welche desintegrativen Kräfte und Herausforderungen an der Gesellschaft insgesamt derzeit zerren. Werden gesellschaftliche Probleme nicht adäquat adressiert und verarbeitet und geraten politisches Handeln und individuelle Problemwahrneh- mungen aus dem Lot, dann ist das Aufkommen zivilgesellschaftlicher Proteste nicht überraschend. Es scheint, als würde in Stuttgart derzeit stellvertretend für den Rest der Republik gerungen und gestritten. Darin darf man ruhig auch ein positives Zeichen sehen.

Sascha Kneip

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ESSAY MEIN STUTTGART Kodimey Awokou

Die Krawallnacht von Stuttgart vom 20. Juni 2020, Stadt, in der das Zusammenleben unterschiedlichs- in der Polizisten attackiert, Schaufensterscheiben ter Kulturen gut funktioniert, nicht gerecht. „Wir eingeschlagen und Geschäfte geplündert wurden, sollten es mit Multikulti nicht übertreiben“, 01 war hat Narben hinterlassen. Das Sicherheitsgefühl, das die erste Äußerung des Innenministers von Baden- seit ich denken kann in Stuttgart vorherrscht, wur- Württemberg, Thomas Strobl, die ich zu diesem de mit einem Schlag erschüttert. Selbstverständlich Thema vernommen habe. Ich glaube, Herr Strobl kennen wir auch hier Kriminalität aller Art; dennoch hat nie wirklich in Stuttgart gelebt – richtig gut zu würde ich behaupten, dass in Stuttgart eine friedli- kennen scheint er diese Stadt jedenfalls nicht. che Atmosphäre überwiegt, die es den Menschen er- laubt, sich nicht ständig um ihre Sicherheit sorgen AFRO-SCHWABE zu müssen. Daher kam besagte Nacht für die meis- ten von uns auch so unerwartet. Im Herzen meiner Mein Name ist übrigens Kodimey Awokou. Ich Stadt, vor dem Gebäude, in dem wir viele Jahre unse- bin 1980 in Stuttgart geboren, meine Mutter kam re Büros hatten, eskalierte die Situation und gefähr- ebenfalls hier zur Welt, und mein Vater stammt det einen Frieden, den wir hier alle vielleicht zu sehr aus Togo. Westafrika. Das sag ich immer so, wenn als gegeben erachten. man mich nach meiner Herkunft fragt. Ich habe Die Krawallnacht selbst war schon schlimm. immer das Gefühl, man erwartet das. Ich würde Noch schockierter war ich aber von der darauf fol- am liebsten einfach sagen: „Ich komme aus Stutt- genden öffentlichen Diskussion. Als im Nachgang gart“, aber das reicht den meisten nicht. Ich kann bei einigen Tätern, trotz deutschem Pass, die Her- ihnen das nicht verübeln, bei vielen ist es einfach kunft der Eltern ermittelt wurde, fühlte ich mich nur Interesse. Aber es ist schon ermüdend, das persönlich angegriffen. Das tat weh. Ganz unab- immer wieder erläutern zu müssen. Fast wie eine hängig davon, dass solche Gewaltausbrüche selbst- Rechtfertigung, die einem abverlangt wird. Als verständlich nicht tolerierbar sind, zeigte die De- müsste ich meine Zugehörigkeit zu meiner Hei- batte doch sehr hässlich den Kern des Problems: matstadt begründen. Ab wann ist man Deutscher? Ab wann gehört man Aufgewachsen bin ich am Stöckach, dem pulsie- dazu? Wieso bei denen, die hier geboren sind und renden Verkehrsknotenpunkt, an dem sich der oft die einen deutschen Pass haben, auf die Herkunft der leichtfertig übersehene Stuttgarter Osten mit dem Eltern schauen? Das wirkte auf mich so, als würde Rest der Stadt verbindet. Ich liebe diesen Teil der man die Gewaltausbrüche mit allen Mitteln außer- Stadt besonders. Einmal natürlich wegen der vie- halb der Stuttgarter Gesellschaft verorten wollen. len Erinnerungen, die ich damit verbinde, aber auch Als würde man versuchen, den Grund für die Ge- dank der Einfachheit und Echtheit, der man hier, walt, die die Stadt in eine Art Schockstarre versetzte, fernab von Gentrifizierung und hippen Start-Up- auszulagern. Als könnten das keine Stuttgarter ge- Unternehmen, noch begegnen kann. wesen sein. „In Stuttgart gibt es das nicht“, und da- Die vielen Arbeitersiedlungen in direkter her macht man sich auf die Suche nach dem fremden Nachbarschaft zu schwäbischem Wohlstand auf Übel, selbst wenn man dafür bis zum Geburtsort der relativ engem Raum schaffen eine für mich nach Eltern ausholen muss. wie vor faszinierende, einzigartige Mischung. Es Natürlich muss man nach einer solchen Tat ge- ist bunt, oft auch laut, man kann hier sein, wie nau hinschauen, wer aus welchen Gründen gewalt- man halt ist. Die in Verruf geratene schwäbische tätig geworden ist. Die reflexhafte Art aber, mit der Ordnung, die sich bei genauem Hinsehen als man den Grund für die Gewalt in der Herkunft durchaus nützlich und gar liebenswert erweisen suchte, war verletzend und wurde Stuttgart, einer kann, findet man trotzdem auch hier.

04 Stuttgart APuZ

Hier lebten wir als Familie zu viert in der ich ging dort zur Schule, und in meiner Grund- Hackstraße. Mal gab’s Linsen mit Spätzle, am Tag schulklasse hatte weit mehr als die Hälfte der darauf Akume oder Fufu. Falco und afrikanische Schülerinnen und Schüler einen „Migrationshin- Highlife-Hits dröhnten im Wechsel aus der Stereo- tergrund“ (irgendwie mag ich den Begriff nicht). anlage. Der Häuserkomplex war eine ehemalige Zi- Ich kann mich nicht daran erinnern, dass „Her- garettenfabrik, riesig, mit sehr vielen Wohneinhei- kunft“ in irgendeiner Form Thema an der Schu- ten und unterschiedlichsten Familien. Man sprach le war. Nur von einem Jungen weiß ich noch, des- Deutsch, Türkisch, Kroatisch, Tigrinya, Rumä- sen Mutter ihm am ersten Schultag mit besorgter nisch. Die Mutter des einen arbeitete als Ärztin, Stimme befahl: „Setz dich nicht neben einen Tür- der große Bruder des anderen machte eine Aus- ken!“ Dieses laute Flüstern, das keiner hören soll, bildung beim Daimler, und manche arbeiteten, wie aber doch jeder hört. Wir fanden es damals schon mein Vater, als Karosseriebauer bei Porsche. Für seltsam, so was zu sagen. Ich glaube, er saß dann uns war das alles nicht „Multikulti“ und vor allem die ganze 1. Klasse über neben Ercan. nicht übertrieben. Das war einfach Stuttgart. Der Grund für den Besuch der Kanzlerin war Hier ist es anders, als es in Diskussionen über ein erfreulicher: Die Ostheimer Schule in Stutt- „Brennpunkte“ gerne dargestellt wird. Die Men- gart galt – und gilt immer noch, denke ich – als schen leben zusammen Seite an Seite. Zwar mit ein Beispiel „gelungener Integration“. Eine Schu- den üblichen Reibereien, aber im Großen und le mit Kindern aus verschiedenen Kulturen, an Ganzen friedlich. Bestimmt ist das zum Teil auch der man schnell merkte: So unterschiedlich sind der wirtschaftlichen Situation in Stuttgart zu ver- wir gar nicht. Alle freuten sich auf die große Pau- danken. Eine Unterteilung nach Wohngebieten se, alle wollten Panini-Sticker tauschen (in den – hier das „Araberviertel“, dort das „Türken- 1980ern zumindest) und Tischtennis spielen. Vie- viertel“ –, so etwas gibt es in Stuttgart nicht wirk- le Hausaufgaben mochte Ercan genauso wenig lich. Klar, die Reichen wohnen eher auf dem Hü- wie sein ungehorsamer Sitznachbar. gel, die mit weniger Einkommen im Kessel, aber Zu der Zeit von Kanzlerin Merkels Besuch war man begegnet sich in dieser Stadt früher oder spä- ich Student und wohnte in einer kleinen Wohnung ter immer. Man kann sich nicht einfach in sei- am Ostendplatz, nur ein paar Straßen entfernt von nen Wohlfühlbereich zurückziehen. Allein schon meiner alten Schule, weshalb ich mich entschied, wegen der überschaubaren Größe und Einwoh- dem Spektakel beizuwohnen. Ich erinnere mich nerzahl Stuttgarts lässt sich die Begegnung mit nicht mehr daran, was Frau Merkel genau gesagt Andersdenkenden oder Andersgläubigen nicht hat; ich weiß nur noch, ich fand es gut, dass sie was verhindern. Besser so für alle. gesagt hat, dass sie gekommen war und damit ein Zeichen gesetzt hatte. Allein mit ihrer Anwesen- ALTE SCHULE heit stellte sie sich dem nach den Berliner Ereignis- sen im Raum stehenden Verdacht entgegen, dass Als 2008, zwei Jahre nach den Vorkommnissen an ein friedliches Zusammensein an einer Schule al- der Berliner Rütli-Schule, 02 das Thema Integration lein schon durch einen hohen Anteil an Migranten immer noch hochkochte, besuchte Bundeskanzle- gefährdet sei. Und das in meiner Stadt. rin Angela Merkel die Ostheimer Grund- und Re- alschule in Stuttgart-Ost. Schon meine Mutter war WAS DER OPA NOCH WUSSTE auf diese Schule gegangen. Sie verbrachte dort ihre gesamte Schulzeit, und ich erinnere mich, wie sie Auf der Spurensuche nach dem Ursprung meiner mal zu mir sagte, dass es in der Schule damals kei- Heimatliebe zu Stuttgart lande ich unausweichlich ne Kinder aus anderen Ländern gab. Das änderte bei meinen Großeltern. Ich denke, ich habe mich sich innerhalb einer Generation rapide. Denn auch nirgends so wohl und so zuhause gefühlt wie bei ihnen – egal, wo ich mit ihnen war; ob in ihrem 01 „Mit Multikulti nicht übertreiben“ – „Bild“-Chefredakteur Julian bis ins Detail liebevoll gepflegten Garten oder in Reichelt im Interview mit Thomas Strobl (Stuttgart), 22. 6. 2020, ihrer stets wohlig warm temperierten Wohnung. www.youtube.com/watch?v=y3JCrxTgHtk. Mein Opa, ein Stuttgarter Urgestein, lebte mir 02 2006 löste ein Brief von Lehrerinnen und Lehrern der Schu- le an den Berliner Bildungssenator eine öffentliche Debatte über so viele Eigenschaften vor, die uns Schwaben oft das deutsche Bildungssystem und die Integration von Kindern als negative Klischees vorgehalten werden: ein und Jugendlichen aus Einwandererfamilien aus (Anm. d. Red.). Sinn für Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit

05 APuZ 5–6/2021 aus Respekt vor seinem Gegenüber, Strebsamkeit man zur Kultur beisteuerte, zählte. Vielleicht ver- und natürlich die Treue zum VfB. Dazu noch der klärt die Nostalgie meinen Blick auf diese Ära ein Wunsch nach Harmonie und die tiefe Liebe für wenig, aber ich erinnere mich tatsächlich nur an ein die schwäbische Küche meiner Oma. positives Grundgefühl, eine elektrisierende Auf- Ich hatte ein sehr enges und vertrauensvolles bruchstimmung, die die ganze Stadt antrieb und Verhältnis zu meinen Großeltern und versuchte in vieles hier in Gang gesetzt hat. Gesprächen mit ihnen immer herauszufinden, wie Auch der Grundstein für meine berufliche das Leben in Stuttgart in ihrer Jugend war. Mein Laufbahn wurde in jener Zeit gelegt. Vor mittler- Opa erzählte mir etwa, dass es in seiner Jugend weile über 20 Jahren gründeten Freunde und ich schon Tradition war, dass sich die Raitelsberger im Herzen Stuttgarts das Hip-Hop-Label Chim- mit den Hallschlägern vor einer stadtbekannten perator Productions, das langsam aber stetig wuchs Wirtschaft zu regelmäßigen Prügeleien verabrede- und Künstler wie Die Orsons oder Cro hervor- ten. Stuttgarter wissen, wovon ich rede. Ich fand brachte. Mittlerweile sind aus der Schnapsidee von das interessant, weil beide Viertel in meiner Jugend ein paar Jungs im Jugendhaus Mitte eine Platten- das waren, was man heute wohl als „Problembe- firma, eine Booking-Agentur und eine Spielstät- zirk“ bezeichnen würde. Auch hier wurde die Ur- te entstanden, die allesamt zum Kulturbetrieb in sache von Problemen häufig einem hohen Auslän- Stuttgart beitragen dürfen. Bei all unseren Unter- deranteil zugeschrieben. Mein Opa wurde 1929 nehmungen versuchen wir immer, den Geist der geboren – und schon damals hat man sich dort, goldenen Ära des Stuttgarter Raps und dessen ganz ohne Ausländer, gerne regelmäßig was auf Werte einfließen zu lassen. die Nase gegeben. Die damalige Bewegung einer Jugend, die nicht direkt politisch war, aber doch gemeinsame Nor- NEUE SCHULE men und Werte wie Toleranz und Weltoffenheit pflegte, war ansteckend und weitreichend. Die Dass Stuttgart eine Brutstätte für subkulturelle Stuttgarter Vorwahl 0711, die zum Gütesiegel für Bewegungen ist, trägt einen großen Teil zur Le- Rapkultur aus dem Kessel wurde, steht bis heute bensqualität der Stadt bei – auch wenn das neben für „ein Stuttgart der Solidarität und der Gemein- dem sonstigen, ebenfalls beindruckenden Kultur- schaft, für ein Konzept von Stadt, in dem Men- betrieb wie der Oper oder dem Theater oft nicht schen unterschiedlicher Nationalitäten und Hin- genug zur Geltung kommt. tergründe friedlich miteinander leben“, 03 wie es in Für mich und andere besonders prägend, weit einem von sehr vielen Stuttgarter Kulturschaffen- über Stuttgarts Grenzen hinaus, war zweifellos die den unterstützten offenen Brief der 0711-Gründer Stuttgarter Hip-Hop-Kultur der 1990er Jahre. Die heißt, der als Reaktion auf die sogenannte Quer- Kolchose, ein Zusammenschluss aus Bands und denker-Bewegung initiiert wurde, die sich die Künstlern wie Freundeskreis, Massive Töne, Afrob 0711-Vorwahl ebenfalls zu eigen zu machen ver- und anderen, war unser Vorbild und hat sehr viel in suchte – eine Vereinigung, die unter anderem mit der Stadt bewegt. Die Texte handelten vom Leben Nazis durch zieht und sich dabei anmaßt, in einer Stadt, wie wir sie täglich erlebten, abseits unsere „Süße aus dem Süden mit dem Dialekt“ 04 einer Ghetto-Sehnsucht nach den USA, fernab zu repräsentieren. Dazu heißt es in dem offenen des bedrückenden Alltags französischer Banlieu- Brief weiter: „Wir verurteilen den Missbrauch des es. So wichtig diese harten Formen des Hip-Hops Symbols 0711 für populistische Zwecke und den auch waren und nach wie vor sind, sie spiegelten Versuch, Popkultur aus hetzerischen und spalte- nicht die Realität der Stadt am Neckar wider. Plät- rischen Gründen umzudeuten, auf das Schärfste. ze, Menschen und Ereignisse aus Stuttgart tauchten Die Corona-Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, plötzlich in Texten auf, regionale Sprüche wurden ist wichtig. Auf Demos Seite an Seite mit Reichs- Zeitgeist, man traf sich an den Hotspots und Krea- kriegsflaggenträgern zu marschieren, ist dagegen tivzentren der Stadt und schaffte etwas gemeinsam, unverzeihlich.“ 05 Dem ist nichts hinzuzufügen. vereint durch die Ausdrucksform, die man lebte, alles für die Stadt, die man repräsentierte. Stuttgart 03 Stuttgarter Künstlerkollektiv, An alle 0711er, 7. 11. 2020, war am Puls der Zeit, und man spürte das an jeder http://kolchose.tv/#prettyPhoto/11. Ecke. Dabei spielte es nie eine Rolle, woher die El- 04 Max Herre, 1ste Liebe, 2004, Four Music Productions. tern kamen, ob sie reich oder arm waren; nur, was 05 Stuttgarter Künstlerkollektiv (Anm. 3).

06 Stuttgart APuZ

SCHIMPFEN PLUS ken begründet. Man findet bei kleinsten Regelver- stößen schon auch das gehässige, oft neiderfüllte Spreche ich mit Menschen aus anderen Städten, Meckern. Regelverstöße sind oft zu viel für das kommt immer wieder die Frage nach der Stuttgar- schwäbische Gemüt, und so können die zu hohe ter Protestkultur auf, die Frage, warum wir hier un- Hecke oder die spielenden Kinder im Hinterhof ten ständig meckern, uns dafür zusammentun und schnell zum Streitfall werden. Häufig fehlt das ge- auf die Straße gehen. Allen voran kommt den meis- sunde Maß beziehungsweise der angemessene Ton ten die Protestbewegung gegen „Stuttgart 21“ in den im Umgang mit den Mitmenschen. Und so ent- Sinn, die bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Stutt- puppt sich das Bruddeln oft als Hindernis im fried- garter aller Altersklassen und politischer Gesin- lichen Miteinander und trägt dazu bei, dass wir in nungen waren vereint gegen das Milliardenprojekt. anderen Teilen Deutschlands mitunter als nicht be- Auch wenn es wohl nicht die Mehrheit der Bürger- sonders sympathisch wahrgenommen werden. schaft war, die sich dem Protest anschloss, so schien es doch ein Querschnitt durch eine sehr vielfälti- WOHIN GEHT’S? ge Stadtgesellschaft zu sein. Mit anhaltender Dauer flachte der Protest aus vielerlei Gründen ab. Es wur- Was Stuttgart immer besonders machte, war nicht den Fakten geschaffen, und meiner Meinung nach zuletzt der andauernde Tanz, den das sogenann- hat sich der Protest irgendwann verrannt. Ich erin- te Spießertum mit den progressiven Kräften auf- nere mich an eine Veranstaltung am Schlossplatz, auf führte. Eine echte Aufbruchstimmung ist in Stutt- der ein Redner lauthals schreiend behauptete, das mit gart allerdings schon länger nicht mehr zu spüren. „Stuttgart 21“ sei genauso wie mit den Kriegen in Die Stadt wirkt unentschlossen – als könne sie sich Afghanistan und im Irak, weil auch hier die Bürger nicht entscheiden zwischen bewährter Sicherheit bevormundet würden. Bei solch abstrusem Quatsch, durch Autoindustrie, Handwerk und Law and der Opfer von Krieg und Gewalt verhöhnt, sind die Order einerseits und sozialem und ökologischem gemäßigten Stuttgarter dann halt irgendwann raus Wandel andererseits. aus der Sache. Es ging schließlich um einen Bahnhof. Doch wie dem auch sei: Ich liebe diese Stadt. Aber ja, man kann schon sagen, dass wir Stutt- Hier bin ich geboren, und ich mag den Gedan- garter gerne schimpfen, und das reicht von der ken, irgendwann am Bergfriedhof die letzte Ruhe Oma am Fenster, die Falschparker mit einem be- zu finden, wo die U4 ihre Kurve zum Ostend- herzten „Des isch koi Parkplatz!“ begrüßt, bis hin platz fährt und das Leben in Stuttgart-Ost pul- zu einer ganzen Bewegung, die einen vermeintli- siert. Hier habe ich meine Frau kennengelernt, chen Missstand anprangert. Wir Schwaben werfen hier wachsen unsere Kinder mit dem Selbstver- gerne den Blick auf den Teil einer Sache, der nicht ständnis auf, Teil dieser Stadt zu sein. Sie werden funktioniert und der einer Optimierung bedarf. ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft noch Mein Opa war auch hierfür ein gutes Beispiel: weniger infrage stellen, als es meine Frau und ich Er hatte stets im Blick, was schieflaufen konnte (Migrationshintergrund, weisch?) vielleicht noch und wollte dafür sorgen, jegliche Gefahr des Kon- mussten. Ich denke, wir sind hier in der Kessel- trollverlusts zu minimieren. Das reichte vom Klei- stadt auf einem guten Weg, wenn wir uns weiter- nen bis ins Große: vom randvollen Spezi-Glas, das hin durch Stimmungsmacher und Spalter nicht zu nah am Tischrand stand und bei jeder unkont- aus der Ruhe bringen lassen. rollierten Fuchtelei des Enkels auf dem Boden zu Das weltoffene, das warmherzige Stuttgart, das landen drohte, bis hin zu weitreichenden Entschei- in den richtigen Momenten liebenswert provinzi- dungen für die Absicherung der Familie. Ich habe ell anmutet, das ab und an stur bleibt und dann das nie als störend empfunden, im Gegenteil, eher konservativ ist, wenn es Dinge zu bewahren gilt, als Rückhalt. Man wusste immer, da ist jemand in die all seinen Bürgerinnen und Bürgern nutzen, der Familie, auf den Verlass ist, der die Dinge bes- das Traditionen pflegt, aber stets den Blick auf die ser macht, wenn sie mal nicht laufen. Daher ist Welt und nach vorne wagt: Das ist mein Stuttgart. das Stuttgarter Schimpfen auch kein klassisches Schimpfen, sondern eher ein „Bruddeln“, wie man KODIMEY AWOKOU hier gerne sagt, quasi ein upgedatetes Schimpfen. ist studierter Germanist und Anglist, Produzent und Doch leider liegt die Stuttgarter Mecker-Kultur Geschäftsführer von Chimperator Productions. nicht nur in dem genannten Optimierungsgedan- [email protected]

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ESSAY ZUR CHILLEREICHE Kleiner Versuch über Stuttgart Anna Katharina Hahn

Bielefeld wurde schon unterstellt, einfach nicht Sehnsucht nach dem Vergangenen bewahrt die zu existieren. Auch Hannover hat es nicht leicht. Erinnerung an gewesene Schönheit für alle, die Aber Stuttgart? Ist nicht mal einen lauen Witz ihn lesend begleiten. wert. Stattdessen lassen sich mühelos Hasszitate Ich habe aufgehört, mich für Stuttgart zu recht- sammeln, wann immer Stuttgart es in die über- fertigen. Für das Erscheinungsbild meiner Stadt, regionalen Schlagzeilen schafft. Auch bei Be- ihren Reichtum, den Dialekt, die Lebensart ih- liebtheitsumfragen in ganz Deutschland zählt die rer Einwohnerinnen und Einwohner. Von den Be- Landeshauptstadt nie zu den Gewinnerinnen. schimpfungen habe ich die Nase voll, aber auch von Stuttgart-Bashing scheint unzerstörbar in der meinem eigenen, fast demütigen Dagegenhalten. DNA aller Nicht-Schwaben verhäkelt zu sein. Lieber mache ich den Versuch, diesen Ort zu Der „Porno-Hippie-Schwabe“, das Berliner Ge- ergründen, subjektiv und selbstverständlich fast spenst der Nullerjahre, hat sich tief ins deutsche ohne Fußnoten. Mein Verhältnis zu Stuttgart ist Gedächtnis eingefräst, ebenso die Abkürzung enger, als es sich für einen Geburts- oder Wohn- „TSH“ – totaler Schwabenhass. Jan Böhmermann ort gehört. Die Stadt ist meine Bühne, der Schau- findet Stuttgart „so schön wie zwei ineinander ver- platz meiner Romane, meine ewige Baustelle und keilte Porsche Cayenne“, und Alan Posener ora- mein Arbeitsplatz. Dabei kommt sie mir so leben- kelt in der „Zeit“ allen Ernstes, die Stadt sei „eine dig vor wie eine Person, ein altes Mädchen, rup- Verkörperung der existenziellen Tristesse“, und in pig und struppig, schön und liebenswert, verranzt ihrer Luft sei „etwas Verkrampftes, Unfrohes“. 01 und wild, bodenständig und verrückt. Manchmal Ich diskutiere nicht mehr über Stuttgart. Jahr- hasse ich sie regelrecht, bin froh, wenn ich ihr zehntelang habe ich versucht, auf seine Vorzüge entkommen, in den Zug steigen kann, plane den hinzuweisen. Stuttgart lässt sich nur begreifen, Umzug in eine richtige Metropole – und bin doch wenn der zweite Blick eine Chance bekommt. unendlich erleichtert, wenn ich den Fernsehturm Schriftsteller wie Hermann Lenz und Wilhelm wiedersehe, den Hügelkranz der Weinberge, den Genazino haben eine geheime Schule der lie- Stern überm Hauptbahnhof. bevollen Betrachtung ihrer durch den Zweiten Weltkrieg unansehnlich gewordenen Städte gebil- SOUND UND STOLZ det. Der eine beschrieb damit Stuttgart vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre, der Häberle und Pfleiderer stehen ganz in der Nähe andere streifte durch Mannheim und das Frank- der Stuttgarter Börse, am Fuß des Friedrichsbaus. furt der alten Bundesrepublik. Spärlicher Januarschnee weißelt ihre Hüte. Dem Jede Neu-Stuttgarterin, jeder Neu-Stuttgarter Häberle hängt ein Regenschirm über dem Arm, sollte im Bürgerbüro einen Roman aus dem Eu- Pfleiderer umklammert eine Flasche Wein, ver- gen-Rapp-Zyklus von Hermann Lenz als Will- mutlich Trollinger. Zu ihren Füßen wartet der kommensgeschenk erhalten. Wenn dieser zy- Spitz Napoleonle, eine aus der Mode gekommene nisch-sanfte Antiheld an Nachkriegsruinen oder Hunderasse. Niemand beachtet die beiden Bron- den Hässlichkeiten des Wiederaufbaus vorbei- zemänner auf ihrem Sockel. Kaum ein Passant zockelt, murmelt er oft: „Eigentlich scheißlich.“ unter 50 kann mit ihrem halb gejodelten, halb ge- Sein nostalgisches Gejammer um jedes Straßen- jammerten Erkennungsruf „So so! – Ja ja!“ noch schild in Fraktur, jede schmiedeeiserne Zaun- etwas anfangen. Pfleiderer, ein knitzer, also bau- verzierung kann gelegentlich nerven, aber seine ernschlauer, grober und immer leicht am Prolo

08 Stuttgart APuZ entlangschrammender Typus, wurde vom Schau- Stutengarten. Mehr ist nicht verbürgt. Manch- spieler Willi Reichert verkörpert. Den eher poe- mal denke ich, gerade aus dieser Leere entsteht tisch veranlagten Träumer Häberle gab der ehe- ein besonderer Erfindungsreichtum. Berühmte- malige Buchhändler Oscar Heiler. re und schönere Städte verschwinden zuweilen Auf Youtube sind einige Sketche des Komiker- fast unter einem Firnis aus Filmen, Erzählungen, duos wie schwarzweiße Erinnerungen zu sehen. Mythen. In Stuttgart musste man zu anderen Mit- Die Harmlosigkeit ihrer Späßle offenbart sich so- teln greifen: Johann Gottlieb Munder, ein findiger fort. Nur selten und versteckt wird Politisches ge- Buchdrucker und Redakteur der kleinformati- boten, dafür menschelt es allenthalben. Der starke gen Tageszeitung „Die Stuttgarter Stadt-Glocke“ schwäbische Dialekt tut ein Übriges. Sie wirken dachte sich jede Menge „uralter“ Sagen aus und fremd, fast exotisch, besonders auf Norddeutsche. füllte damit sein Blättchen. Diese unterhaltsamen „Furchtlos und treu“ lautet der Wahlspruch und identitätsstiftenden Geschichten wurden so des erst 1817 von Napoleons Gnaden gegründeten oft nachgedruckt – selbstverständlich ohne den Königreichs Württemberg. Auch der VfB Stutt- Verfasser zu nennen –, dass die Landeshauptstadt gart schreibt sich diesen Spruch seit 2014 auf die heute „Das große Stuttgarter Sagenbuch“ ihr Ei- Fahnen. Treu sind die Stuttgarter, denn es gehört gen nennen kann, in dem es von Geistern, verbor- schon etwas dazu, zwei erfundene Kerle in Bron- genen Schätzen und Erdleutle nur so wimmelt. 02 ze zu gießen. Von 1933 bis in die späten Siebziger Passend zum stolzen Wappen-Gaul führen waren Häberle und Pfleiderer nicht nur auf der verschiedene Konditoreien „Roßbolla“, also Pfer- Theaterbühne, sondern auch in Radio und Fern- deäpfel, eine beliebte Pralinenspezialität. An wei- sehen präsent, als beliebte Werbeträger und bun- teren Devotionalien besteht Bedarf. Daher hat desweite Vertreter der „typischen Schwaben“. sich hinter den Sandsteinsäulen des Königsbaus 2021 taugen die beiden Herren sicher nicht am Schlossplatz das „Kaufhaus Mitte“ angesiedelt. mehr als Botschafter Stuttgarts. Eher schon der Es versorgt seine Kundschaft nicht nur mit bunten Comedian Özcan Cosar. Wahrscheinlich ver- Socken, Marmelade in Tuben und lokalem Gin, körpern Häberle und Pfleiderer sogar etwas, das sondern auch mit Insignien, die zeigen, dass ein der Stadt mehr geschadet als genutzt hat, selbst Bekenntnis zu „Stuggi“ nicht peinlich, sondern wenn es lustig ist: das Behäbige, Altmodische und der Ausdruck großstädtischen Lebensgefühls ist, Selbstgenügsame, das Stuttgart anhaftet wie Pech dem alten „I love NY“-Sticker durchaus ebenbür- und Schwefel. tig. Als ich dort neulich einige Hipster in „Benz- Doch wenn ich den Versuch unternehme, town rockt so“-Hoodies bewunderte, dachte ich: meine Heimatstadt zu erklären, gehören die bei- „Gar nicht übel, dieses Selbstbewusstsein“, bis den dazu, ein vergangener Teil des Ganzen, der mein Blick auf ein Buch mit dem Titel „55 Grün- manchmal wieder an die Oberfläche treibt. Be- de, Stuttgart trotzdem zu lieben“ fiel. 03 Ganz so sonders, wenn die Leute reden, auch die ganz leicht fällt er also doch nicht, der neue Stolz. jungen. Denn sie reden immer noch vom „Ve- schper“, wenn sie ihr Pausenbrot meinen, wis- HÄSSLICH UND PRAKTISCH sen, dass ein „Ranzen“ keine Schultasche ist, son- dern ein Schmerbauch und kreuzen die Arme Heute hat Stuttgart nichts mehr davon, in Vor- über der Brust, wenn man ihnen sagt, sie sollen kriegsreiseführern als eine der schönsten deut- „Brezelärmle“ machen. Der Sound ist geblieben, schen Städte gepriesen zu werden. Besonders der auch wenn die Wurzeln vieler Stuttgarterinnen alte Marktplatz muss eine Augenweide gewesen und Stuttgarter mittlerweile in 190 verschiedenen sein. München, die andere Großstadt Süddeutsch- Ländern liegen. lands, liegt nicht weit entfernt; dem Charme der Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass bayerischen Prinzessin kann das Schwabenmädle die Stadt mit dem schwarzen Rössle im Wap- wenig entgegensetzen. pen keine eigene Gründungssage hat. Ein schnö- der Pferdehof hat ihr den Namen geschenkt, ein 02 Ulrich Gohl (Hrsg.), Das große Stuttgarter Sagenbuch, Stuttgart 2012. 01 Erklärungen jenseits von Alkohol und Testosteron, 03 Heiko Volz, 55 Gründe, Stuttgart trotzdem zu lieben. 22.. 6 2020, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/ Denkwürdige Geschichten aus dem Leben eines Eingeborenen, stuttgart-ausschreitungen-wutbuerger-party-gewalt-polizei-elend. Stuttgart 2020.

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„Quadratisch, praktisch, gut“ – so lautet der Stuttgart“, eine Bürgerinitiative, die unter ande- Werbeslogan der bekannten Schokolade, die im rem die Überdachung der verkehrsreichen Kon- nahen Waldenbuch hergestellt wird. Er stammt aus rad-Adenauer-Straße fordert, damit die an ihren dem Jahr 1970 und passt trotzdem hervorragend Seiten gelagerten Theater, Museen, Bibliotheken zur Mentalität, mit der die Nachkriegsgeneration und Parks nicht mehr von der Fahrbahn getrennt an den Wiederaufbau ihrer Städte heranging. Als werden. Für mich gehört die vielfältige Szene der wichtiges Industriezentrum und Verkehrsknoten- Stuttgarter Writer gleichwertig zu diesen eher punkt war Stuttgart zu 68 Prozent zerstört wor- bürgerlichen Versuchen, das eigene Lebensum- den. Beim Wiederaufbau ging es rabiat zu, nach feld zu verändern. Mit großflächigen Graffiti und dem Leitbild einer Autostadt, in der man moto- zahllosen Tags, mit Stickern an jedem Laternen- risiert möglichst schnell von A nach B gelangen mast schreiben sich Leute in das oft graue Gesicht konnte. Plätze und ganze Viertel werden heute ein, das sie umgibt, hinterlassen ihre Botschaften von mehrspurigen Straßen durchtrennt. Abriss- und Bilder. bürgermeister Arnulf Klett opferte ohne Not die Hohe Karlsschule und den Kronprinzenbau, die LÄNDLICH UND GECHILLT die Bomben überstanden hatten. Fast überall, wo neu gebaut wird, sprießen entsetzliche Kreationen Nüchtern wie Leitungswasser wirkt die Eintei- hervor, als lebte im Mutterboden dieser Stadt, de- lung des Stadtkerns in fünf Viertel: Mitte, Süd, ren Architektur-Ausbildung durchaus Renommée West, Nord und Ost. Über den Kessel hinaus hat genießt, ein Pilzmyzel, das uns unermüdlich mit sich Stuttgart ausgedehnt, indem es im Umland frischen Scheußlichkeiten versorgt. Dorf um Dorf verschluckte und heute 23 Bezir- Das Europaviertel hinter der riesigen Bahn- ke umfasst. Die Namen der ehemaligen Weingärt- hofsbaustelle mit seinen nach Fernweh klingen- ner- und Bauernflecken, die inzwischen allesamt den Straßennamen zeigt sich als Mangelgebiet ein großes S vor ihrem Ortsnamen stehen haben, schöpferischer Fantasie, geradezu menschen- bringen nicht nur klanglich Abwechslung: Bot­ feindlich. Wirkliche Lebensorte sucht man hier nang, Rohracker, Möhringen, Obertürkheim. Sie vergebens. Hässlich und funktional nach dem sorgen auch für einen Hauch von Landlust in- Motto: „Hauptsache, es tut“ siegt in Stuttgart lei- mitten der Großstadt. Der augenfälligste Wein- der fast immer über alles, das schön, prächtig oder berg liegt gleich hinter dem Hauptbahnhof. Hier wenigstens gemütlich-verranzt sein könnte. Ob keltert die Stadt ihre eigenen Roten und Weißen, der neue Hauptbahnhof und die Bebauung der gelesen von ehrenamtlichen Helfern. Viele Häu- freiwerdenden Gleisflächen sich in diese ungute ser, besonders in den Vororten, besitzen noch die Tradition einreihen werden, bleibt abzuwarten. riesigen hölzernen Torflügel vor ihren Kellern, Kaum ein Ort, wo sie nicht flattern: an Fas- aus denen die Fässer gerollt wurden. In den Gär- saden und Mauern, Müllcontainern und Bus- ten dahinter gedeihen nicht nur Thujahecken und häuschen – zwei ausgebreitete Engelsflügel. Mit Bambus, sondern auch Quitten und Rhabarber, ihrer pummeligen Form und den lockigen Rän- und zwischen Zwiebeln, Lauch und Salat leuchtet dern könnten sie auch eine Kumuluswolke dar- die Vielfalt der Blumenstauden. Nicht von unge- stellen. Stuttgarts unspektakuläre freie Flächen fähr gibt es in Stuttgart zahlreiche Wochenmärkte. werden durch diese anonyme Schöpfung sicht- Doch Anbau und Verkauf findet auch auf barer, auch wenn viele sich über sie ärgern. Die andere Weise statt: Selbst an furchteinflößen- Flügelwolke ist momentan wohl das bekanntes- den Durchfahrtsstraßen kann man noch auf so- te illegale Graffito der Landeshauptstadt. Gleich- genannte Hauslädle stoßen. Eine alte Obstkiste, zeitig zeigt die Sprayer-Szene in der leeren Bahn- ein Küchenstuhl werden gefällig mit einem sau- hofshalle auf Hunderten von Quadratmetern ihr beren Geschirrtuch bedeckt, darauf präsentie- Können – ganz im Rahmen des Gesetzes und un- ren sich ein paar Schalen Zwetschgen, Walnüsse, ter der Schirmherrschaft des Kunstmuseums und Weintrauben, im Sommer Kirschen oder was- seiner Direktorin Ulrike Groos. sergefüllte Marmeladengläser mit einfachen Blu- Viele Stuttgarter leiden unter den zahlreichen mensträußen, Cosmea, Zinnie, Aster und Ringel- Gruselecken ihrer Heimat, versuchen immer wie- blume. Ein handgeschriebenes Schild verrät die der, die unwirtlichen Teile der Stadt zu gestalten. stets niedrigen Preise, in die Dosen daneben legt Zu solchen Bemühungen gehört der „Aufbruch die ehrliche Kundschaft ihr Kleingeld, passend

10 Stuttgart APuZ abgezählt. Die Inhaber bekommt man nie zu Ge- Aussichtspunkte abklappern, überall andere Leu- sicht. Im Herbst kaufte ich in Obertürkheim, nur te treffen. Von der Sünderstaffel zur Eugenstaffel, eine S-Bahnstation hinter den Daimlerwerken, zur Karlshöhe, weiter auf die Oscar-Heiler- und ein paar hellgrün und violett gestreifte, pflückfri- dann zur Willi-Reichert-Staffel, denn jeder Ko- sche Feigen, das Stück zu 50 Cent, wobei ich das miker hat seine eigene. Am Ende reicht die Puste Geld in den Briefkasten am Haus zu werfen hatte. vielleicht noch für den Aufstieg an den Waldrand, „Wenn man durch Stuttgart streift (…) riecht’s zur Schillereiche, in deren Nähe Friedrich Schil- immer nach angeschwitzten Zwiebeln“, stellt der ler angeblich seinen Freunden „Die Räuber“ vor- Stuttgarter Künstler und Koch Mario Ohno im gelesen hat. Zwar ist dies historisch falsch, aber Dokumentarfilm „Stuttgart, ich hänge an dir“ die Vorstellung bleibt schön. Noch besser gefällt fest. 04 Natürlich riecht es im Kessel auch nach Dö- mir die aktualisierte Beschriftung des Straßen- ner, nach Hopfen und Malz aus den Brauereien, schilds. Dem Schiller ist sein S abhandengekom- nach Pizza, Gyros, Benzin, Kastanienblüten, dem men, sodass man nun unter der Chillereiche ab- Schwefel der Mineralquellen, Stadionwurst, nach hängen kann. Volksfest-Zuckerwatte und verbrannten Gummi- reifen. Wenn ich im Herbst die Steilhänge hinter HOFFNUNGSVOLLE ZUKUNFT Hedelfingen hinauflaufe, steigt es scharf und ver- ODER NECKAR-DETROIT? goren aus den Tresterhaufen auf, diesen braunvi- oletten, von Fruchtfliegen umsummten Bergen Natürlich denke ich manchmal über Stuttgarts gekelterter Trauben, die an den Wegrändern der Zukunft nach. Weniger Autos täten gut. Allein Weinberge liegen. Sobald es ein bisschen wärmer die Vorstellung, einen Teil der Parkplätze als wird, hängen Marihuanawolken über der Stadt. Grünflächen zu nutzen. Frischluft für eine Stadt „Stadtkind“, ein Stuttgarter Online-Maga- im Klimawandel. Aber ein Leben im Kessel ohne zin, stellt unter der Rubrik „10 Fehler, die man die uns alle fütternde Schlüsselindustrie? In mei- in Stuttgart vermeiden sollte“ Tipps für Neulinge nem letzten Roman „Aus und davon“ schauen die vor. Gleich an zweiter Stelle mahnt die Autorin: Teenagerin Stella und ihre Clique eine selbstver- „Feiern gehen wollen – und über Eintrittspreise ständlich fiktive Serie namens „Chinese Beams“. diskutieren. Ja, es kostet Eintritt. Just accept it.“ Darin hat sich Stuttgart samt Umgebung in eine Billig ist hier nichts. Mieten und Baugrund ge- Agrarregion verwandelt, die wohlhabende älte- hören zu den teuersten bundesweit, im Alltags- re Chinesen als Erholungsort besuchen. Ehema- leben sieht es auch nicht besser aus. Stuttgart ist lige Daimler-Ingenieurinnen versuchen, sich und eine junge Stadt. Gern wird vergessen, dass das ihre Familien mit Oldtimer-Fahrten, der Zucht Durchschnittsalter ihrer Einwohnerschaft bei von Hausgrillen und schwäbisch-asiatischen Re- 42 Jahren liegt. Jugendliche haben selten genug staurants über Wasser zu halten. In China wurde Geld für Restaurant- oder Barbesuche. Im Som- das Beamen erfunden, nach alter Star-Trek-Ma- mer gibt es die Stäffele, schwäbisch für Trepp- nier lässt sich jede Entfernung spielend überwin- chen. Durch viele Hänge ziehen sich diese lan- den. Autos, egal mit welchem Antrieb, sind damit gen, steilen Treppen, über 500 sollen es insgesamt endgültig passé. sein. Ursprünglich dienten sie den Winzern dazu, Längst ist der Strukturwandel in vollem Gan- ihre Weinberge zu erklimmen und zu bearbeiten. ge. Stuttgart spürt seine Auswirkungen bereits: Als sich Stuttgart um 1850 ausdehnte, baute man Arbeitsplätze, die Infrastruktur, die Sicherheit, die alten Weinbergstaffeln um, häufig zu pracht- gut aufgestellt zu sein – das alles fühlt sich wacke- vollen Treppenanlagen mit Zwischenwegen und lig an. Der legendäre schwäbische Erfindergeist Aussichtspunkten. Auf den Stäffele sitzt es sich muss dringend aus der Flasche kommen. Bequem ganz umsonst. Knutschen, reden, feiern, kif- darf man es sich im Kessel nicht machen. fen, chillen – umgeben von Häusern, Hinterhö- fen und Gärten. Viele lieben die Stadt gerade we- ANNA KATHARINA HAHN gen ihrer Überschaubarkeit, man kommt schnell ist Schriftstellerin und lebt mit ihrer Familie in überall hin, kann an einem Abend die schönsten Stuttgart. Zuletzt erschien 2020 im Suhrkamp Verlag ihr vierter Roman „Aus und davon“ , für den sie mit 04 Goggo Gensch, Stuttgart, ich hänge an Dir, Dokumentar- dem Preis der Stiftung Ravensburger ausgezeichnet film,. 18. 6 2020, SWR Fernsehen. wurde.

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STUTTGART – EIN GANG DURCH DIE STADTGESCHICHTE Roland Müller

Stuttgarts Geschichte ist in hohem Maße von ten Wirtschaftszweig. Zuvor schon ist eine Stadt- der Topografie sowie von der Doppelfunktion werdung unter dem Markgrafen Hermann von als Kommune und Residenz beziehungsweise Baden anzunehmen. Durch Heirat 1251 an die Hauptstadt geprägt, mithin von der Wechselbe- Grafen von Württemberg gelangt, geriet Stuttgart ziehung zwischen Stadt und Herrschaft einerseits in die nachstaufischen Territorialkonflikte und und Stadt und (Um-)Land andererseits. Beide 1312 für drei Jahre unter Verwaltung der benach- Aspekte sollen bei diesem Versuch eines knappen barten Reichsstadt Esslingen. Überblicks besonders gewichtet werden. Eine Zäsur bedeutete die Verlegung von Sitz Die je nach Perspektive reizvolle oder un- und Grablege der Württemberger nach Stutt- günstige Lage beförderte spekulative Aussagen gart um 1320; hierfür werden strategische Grün- über das „Wesen“ der Stadt und ihre Einwohner; de ins Feld geführt. Die Kirche des neuen Hei- sie wurde auch als politisches Argument instru- lig-Kreuz-Stiftes übernahm auch die Funktion mentalisiert, meist negativ als „Kessel“ assoziiert. einer Stadtpfarrkirche. Stuttgart profitierte von Eine moderne Stadtgeschichte ist ein Desiderat; der Stabilisierung des Territoriums. Jenseits der die Erforschung der Stadtgeschichte wird durch Stadtbefestigung entstand die Esslinger Vorstadt, massive Überlieferungsverluste erschwert. im 15. Jahrhundert wurden Stifts- und Leon- hardskirche erweitert, und die in der neuen, der ZENTRALORT – DEZENTRAL Oberen oder Turnierackervorstadt gebaute drit- te spätgotische Kirche überließ der Landesherr Zweifellos bildet die Entwicklung Stuttgarts ab- den Dominikanern für die einzige Klostergrün- seits vom Fluss und von großen Verkehrswegen dung in der Stadt. Stuttgart hatte jene Gestalt an- siedlungsgeografisch einen Sonderfall. Auf die genommen, die kaum verändert bis zum Ende des günstigere Lage Cannstatts ist wiederholt hin- Alten Reiches 1806 Bestand hatte. gewiesen worden. Über dem Neckar errichteten Eberhard im Bart, 1495 zum Herzog erho- dort am Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. die ben, vereinigte die seit 1442 geteilte Herrschaft im Römer ein Reiterkastell. In der Nähe entstand Münsinger Vertrag; dort war die Zentralfunkti- im Frühmittelalter mit einer Martinskirche ein on Stuttgarts verankert. Mit dem Jerusalempilger kirchliches Zentrum. und Universitätsgründer kam als Angehöriger In der Stadtmitte haben Ausgrabungen zwi- des Hofgerichts der Humanist Johannes Reuch- schen 1998 und 2005 Nachweise für einen ins lin, bekannt als Verteidiger jüdischer Schriften, 8. Jahrhundert reichenden Friedhof und eine nach Stuttgart. Eberhard aber verwies die Juden hochmittelalterliche Siedlung erbracht. Unbelegt, aus Stadt und Land. aber zumindest plausibel ist die Gründung eines Gestüts um die Mitte des 10. Jahrhunderts, das DIE STADT ALS RESIDENZ der Stadt Namen und Wappen verlieh. Frühester Namensbeleg ist eine auf Mitte Stuttgart reichte Anfang des 16. Jahrhunderts des 12. Jahrhunderts datierte Erwähnung eines mit rund 5000 Einwohnern nicht an die führende „Hugo von Stuokarten“ im Codex Hirsaugiensis südwestdeutsche Reichsstadt Ulm heran. Gericht um 1500. Bis zur ersten urkundlichen Erwähnung und Rat sind früh belegt, aber kaum greifbar. dauerte es bis 1229; die von Papst Gregor IX. dem Der herzogliche Vogt agierte in Doppelfunkti- Kloster Bebenhausen bestätigten Weinberge ver- on meist in herrschaftlichem Sinne. Daran soll- weisen auf den bis ins 18. Jahrhundert wichtigs- te sich bis 1806 nichts ändern. Die Tätigkeit der

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Bürgermeister in der Funktion von Kämmerern krieg von Zerstörungen verschont. Die Bevölke- (im heutigen Sinne) dokumentieren die von 1508 rung litt dennoch unter Einquartierungen. bis 1746 erhaltenen Rechnungen; sie werden der- Bei der Verleihung des Bürgerrechts sowie zeit im Stadtarchiv mit Projektfördermitteln der der Zulassung von auswärtigen Händlern zu Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) digi- Märkten zeigten sich Interessenkonflikte zwi- talisiert und versprechen neue Erkenntnisse über schen dem Landesherrn und dem auf Abwehr die frühneuzeitliche Wirtschafts- und Sozial­ bedachten Magistrat. Der Wohlstand der Ober- geschichte. schicht gründete auf dem Weinhandel, während Die mit Hof- und Landesherren insbesonde- die Lohnweingärtner eine karge, von den Unbil- re ökonomisch eng verbundene Oberschicht hat- den der Witterung abhängige Existenz fristeten; te eine starke wirtschaftliche Stellung inne. Dies auch Handwerker in übersetzten Gewerben be- zeigte sich beim Aufstand des „Armen Konrad“ saßen kein sicheres Auskommen. 1514, als jene unter Führung von Stuttgart und Das 18. Jahrhundert eröffnete mit einem Pau- Tübingen dem Herzog gegen Übernahme der kenschlag. Herzog Eberhard Ludwig beschloss, Schulden das Recht zur Steuererhebung sowie sein „schwäbisches Versailles“ in Ludwigsburg die Mitbestimmung in wichtigen Angelegenhei- zu bauen, das er 1718 zur alleinigen Residenz er- ten durch einen Landtag in Stuttgart abzuringen hob. Die wirtschaftlichen Folgen für Stuttgart vermochte. waren gravierend. Der Nachfolger Karl Alexan- Nach einem kaiserlich-habsburgischen Inter- der ist im Stadtgedächtnis geblieben durch die mezzo eroberte Herzog Ulrich 1534 mit Hilfe Berufung des Bankiers Joseph Süß Oppenhei- des hessischen Landgrafen Philipp das Herzog- mer mit dem Auftrag, dem Herzog Einnahmen tum zurück und führte die Reformation ein. Sein zu verschaffen. Die widerstrebende bürgerliche, Nachfolger Christoph schuf unter anderem mit protestantische Machtelite (Ehrbarkeit) ließ Op- einer Landesordnung und der Großen Kirchen- penheimer nach dem Tod des Herzogs und einem ordnung die Grundlage des württembergischen Schauprozess hinrichten. Staatswesens der Frühen Neuzeit. Der Zug zur Herzog Carl Eugen wiederum hatte Stutt- inneren Ordnung erfasste auch die Residenz mit gart den dauerhaften Sitz von Hof und Regie- einer Kodifikation städtischer Rechte und Regeln rung zugesichert. Doch als sich die Landschaft sowie Verordnungen etwa zu Bau und Feuer­ seiner Ausgabenwirtschaft verweigerte, gar beim schutz. Reichshofrat Klage erhob, wählte auch er die Stuttgart erlebte damals eine fürstliche Pracht- Option Ludwigsburg. Nach der Bestätigung entfaltung. Das Schloss wurde im Stil der Renais- Stuttgarts als Residenz im sogenannten Erbver- sance umgestaltet. Im erweiterten Schlossgarten gleich 1770 widmete er sich auch der Stadtgestal- entstand das spektakuläre Lusthaus, bald darauf tung, hielt sich jedoch bevorzugt in der Sommer- als weiterer Prachtbau der sogenannte Neue Bau residenz Hohenheim sowie auf Schloss Solitude von Heinrich Schickhardt. Auf den „schwäbi- auf. schen Leonardo“ gehen auch die Anlage des Schil- Die dem Zeitgeist gemäße Repräsentation be- lerplatzes mit dem „Prinzenbau“ zurück, der mit scherte Stuttgart einen glänzenden Ruf an den ab- Altem Schloss, Kanzlei, Fruchtkasten und Stifts- solutistischen Höfen Europas. Die Stadt profi- kirche bis heute ein Ensemble bildet, sowie erste tierte vom herzoglichen Interesse an Kunst und stolze Bürgerhäuser. Gleichwohl waren die deso- Kultur. 1761 gründete Carl Eugen die Kunstaka- laten hygienischen Verhältnisse ein Dauerthema. demie, 1765 die öffentliche Herzogliche Biblio- Im Dreißigjährigen Krieg traf die Kriegsfurie thek. Eine Besonderheit war 1770 die sogenannte die Stadt nicht unmittelbar; die Besetzung durch Hohe Karlsschule, vom Kaiser 1781 zur Univer- kaiserliche Truppen nach der Schlacht von Nörd- sität erhoben, mit ihrer Kombination von militä- lingen 1634 brachte freilich drückende Lasten. rischer und aufgeklärter Bildungsanstalt. Lands- Vor allem aber raffte die Pest mehr als die Hälf- mannschaftliche und religiöse Toleranz sowie die te der Einwohner hinweg; Zuzug aus dem stark begeisterte Aufnahme der Ideen der Französi- zerstörten Umland minderte den absoluten Ver- schen Revolution durch die Karlsschüler provo- lust. Anders als große Teile des Südwestens blieb zierten die Schließung der Einrichtung durch den Stuttgart bei Vormärschen der Franzosen in den Geheimen Rat und die Landstände nach dem Tod 1670er Jahren und auch im Pfälzischen Erbfolge- des Gründers.

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LANGER WEG ZUR GROẞSTADT 1848 gelangten die Liberalen nach der Revolu- tion in rasch in die Regierung. Der Kopf 1806 wurde Stuttgart königliche Residenz und des „Märzministeriums“, Friedrich Römer, rang war doch eine bescheidene Stadt. Der Monarch dem König die Zustimmung zum Grundrechts- musste sich in Kriegszeiten auf die Fertigstellung katalog und zur Reichsverfassung vom März des Schlosses und dessen Umgebung beschrän- 1849 ab; so konnte Stuttgart zum Fluchtpunkt ken. In der Königstraße entstand mit St. Eber- der Nationalversammlung werden (wie 1920 hard die erste katholische Kirche. Auch Juden, beim Kapp-Putsch). Doch bald nach einer festli- vorwiegend aus ehemaligen Reichsritterschaf- chen Begrüßung durch die Stadt ließ Römer mit ten, waren nun württembergische Untertanen. Waffengewalt die Demokraten des „Rumpfpar- Privilegien für Bankiersfamilien wie die Familie laments“ stoppen, die eine Reichsregentschaft Kaulla, die mit der Abwicklung der königlichen wählten und ein Reichsheer aufstellen wollten. Geldgeschäfte betraut war, folgte erst 1828 eine Nach der Rückkehr aus dem Exil machten allgemeine Regelung, vier Jahre später die Grün- Karl Mayer, Ludwig Pfau und Julius Haußmann dung einer jüdischen Gemeinde. Stuttgart zum Zentrum des politischen Liberalis- Den Ausbau der Residenz begann recht ei- mus. Sie gründeten 1864 die Volkspartei; aus de- gentlich König Wilhelm I., der sich als Baumeis- ren Versammlung 1866 erwuchs die Tradition des ter gerierte. Staatsarchiv und Naturalienkabinett, Dreikönigstreffens. Staatsgalerie und Prinzessinnenpalais entstanden In der stark agrarisch geprägten Region ge- an der Neckarstraße, der heutigen „Kulturmei- noss nach der Hungerkatastrophe von 1816/17 le“. Die Öffnung nach Süden und Westen war die Verbesserung der Landwirtschaft Priorität. eine Weichenstellung: Die Parkanlagen bilden bis Sichtbares Zeichen war die Gründung einer Ver- heute die „grüne Lunge“ der Stadt. suchsanstalt in Hohenheim, der heutigen Univer- Selbstverwaltung und Partizipation blieben sität. 1829 wurde auch eine Kunst- und Gewerbe- begrenzt: Die Gemeinderäte wurden (bis 1849) schule, das Polytechnikum, eröffnet; es sollte die auf Lebenszeit gewählt, an der Spitze von Rat Keimzelle der Universität Stuttgart werden. und Verwaltung stand ein vom König (bis 1890) Waren schon merkantilistische Manufaktur- auf Lebenszeit ernannter Stadtschultheiß – trotz gründungen erfolglos geblieben, spielte Stuttgart des Ehrentitels „Oberbürgermeister“ unter Auf- als Produktionsstandort in der Frühindustriali- sicht eines staatlichen Stadtdirektors. Nach dem sierung keine Rolle. Hingegen entstanden ent- Hambacher Fest und der Aufdeckung einer Mi- lang des Neckars mit günstig verfügbarer Wasser- litärverschwörung 1833 drohte der König noch- kraft mechanische Produktionsstätten, so auch in mals mit dem Auszug nach Ludwigsburg. Cannstatt und im Weiler Berg, 1836 nach Stuttgart Die Aufstellung eines Schiller-Denkmals Ber- eingemeindet. Gerade für Württemberg und Stutt- tel Thorvaldsens 1839 durch den Stuttgarter Lie- gart brachte die Eisenbahn einen enormen Schub. derkranz geriet zur liberalen Manifestation. Der Die erste Bahn verkehrte 1845 bezeichnenderwei- berühmte dänische Bildhauer hatte früh Kontakt se von Cannstatt nach Esslingen; Stuttgart wurde zum Stuttgarter Klassizisten Johann Heinrich durch Tunnel ein Jahr später angeschlossen. Dannecker, der mit seinem Schwager Gottlob Leitsektor zu Beginn der Industrialisierung Heinrich Rapp einen Kreis von Kunstinteres- war die chemische Industrie. Die Fabrikanten sierten versammelte und auch die Kunstsamm- übernahmen – anders als der Mythos vom Tüft- lung Boisserée ausstellte. Dass man diese 1827 ler besagt – Innovationen aus dem Ausland und nach München ziehen ließ, mag Ursprung eines pflegten weitgespannte Handelsverbindungen. bis heute anhaltenden Neidkomplexes sein. Hin- An wichtigen Gründungen und Transaktionen in gegen entwickelte sich nach dem Zuzug des Ver- Stadt und Land war ein überschaubarer Kreis von legers Johann Friedrich Cotta 1810, der auch die Unternehmern und Bankiers beteiligt. Die meis- Grundlagen für die Verlags- und Buchhandels- ten waren bei den Bismarck-treuen Nationallibe- stadt legte, ein reges literarisches Leben auch in ralen aktiv und auch philanthropisch engagiert, Salons. zuvörderst Eduard Pfeiffer, Mitbegründer des Im Vormärz nahmen die politischen und so- Arbeiterbildungsvereins und des „Vereins für das zialen Spannungen zu, verschärft durch Missern- Wohl der arbeitenden Klassen“. Er wurde 1909 ten kam es im Mai 1847 zu einem Brotkrawall. erster jüdischer Ehrenbürger Stuttgarts.

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Mit den 1886 und 1890 gegründeten Firmen Das Wachstum stellte außergewöhnliche An- von Bosch und Daimler, bei denen binnen kur- forderungen an die Infrastruktur. Seit 1873 be- zer Frist einige Tausend Arbeitsplätze entstan- trieb die Stadt die Abwassersysteme in eigener den, gelang ein entscheidender Schritt. Auf einem Regie und folgte dabei einem Plan des englischen handwerklich hohen Niveau entwickelte sich Ingenieurs James Gordon. Das privat betriebene Stuttgart dank einer differenzierten Struktur vor Gaswerk wurde 1899, drei Jahre später die Elek- allem im Maschinen- und Motorenbau, in Fein- trizitätsversorgung kommunalisiert. Die 1868 mechanik und Elektrotechnik sowie einer qua- eröffnete Pferdebahn wurde seit 1895 auf elek- lifizierten Arbeiterschaft zum bedeutenden In- trischen Betrieb umgerüstet; der Ausbau über dustriestandort. Wegen des begrenzten Raums die Stadtgrenzen förderte die Verflechtung des profitierten auch die Nachbargemeinden; Feuer- Wirtschafts­raums. bach stieg durch Zuzug zum viertgrößten Indus- Der Bauboom hatte Bodenspekulation und triestandort Württembergs auf. hohe Mieten zur Folge. Trotz der vielen Neubau- Die sozioökonomische Entwicklung verän- ten verursachten die Hausbesitzer durch Über- derte die politische Landschaft. 1892 gelangte der belegung schlimme Wohnverhältnisse. Die Stadt erste Sozialdemokrat in den Bürgerausschuss, be- versuchte um 1900, die Hangbebauung zu steu- reits 1909 war die SPD stärkste Partei. Dank des ern. Waren ältere Villenbauten noch vom Miet- liberalen Rufs hatten in der Zeit der Sozialisten- wohnungsbau eingeholt worden, markierten gesetze mehrere Zentralverbände – Vorläufer der nun topografische Höhenlinien zugleich soziale Gewerkschaften – ihren Sitz nach Stuttgart ver- Trennlinien. legt. 1910 waren bei Bosch, der 1906 als einer Die kommunale Leistungsverwaltung doku- der ersten Arbeitgeber den Achtstundentag ein- mentierte auch in Stuttgart ihr Selbstbewusstsein geführt hatte, 95 Prozent der Arbeiter gewerk- durch ein neues Rathaus 1905. Im selben Jahr er- schaftlich organisiert; 1913 dauerte ein Arbeits- öffnete die Vereinigung mit Cannstatt, Wangen kampf dort fast sieben Wochen. Nur in Stuttgart und Untertürkheim den Zugang zum Neckar mit konnte im Reich 1907 ein Internationaler Sozi- Flächen für Infrastruktur- und Verkehrsprojekte alistenkongress stattfinden, verbunden mit der sowie den Wohnungsbau. Ersten Internationalen Konferenz Sozialistischer Frauen mit der hier lebenden Clara Zetkin. „OASE“ IN DER KRISE UND „STADT Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war aus DER AUSLANDSDEUTSCHEN“ der kleinen Residenz eine Großstadt mit fast 300 000 Einwohnern geworden; 80,4 Prozent der Die Revolution von 1918/19 war fast mit Bedau- Stuttgarter waren evangelisch, 17,1 Prozent ka- ern gegenüber dem als liberal geltenden König tholisch und 1,5 Prozent jüdisch. Katholiken wie Wilhelm II. abgelaufen. Den Weg ins parlamenta- Juden entwickelten ein reiches Vereinsleben, blie- rische System konnte auch in Stuttgart ein Spar- ben aber noch meist unter sich. Stuttgart blieb takistenaufstand im Januar 1919 nicht aufhalten. eine protestantische Stadt. Im Gemeinderat gab es eine bürgerliche Mehr- Ein selbstbewusstes, urbanes Bürgertum ent- heit; seit 1920 stellte die SPD die stärkste Frakti- stand erst allmählich. Deutlich zeigte sich dies im on, stets mit weniger als einem Drittel der Sitze. kulturellen Leben, das nach wie vor vom Inte- Im Rathaus herrschte Kontinuität. Oberbür- resse des Monarchen, mithin von Landeseinrich- germeister Karl Lautenschlager amtierte seit 1911 tungen geprägt war. Nach einem Brand 1902 und und wurde 1921 wiedergewählt, auch die Refe- einem Interimstheater eröffnete im Herbst 1912 renten – durchweg Fachbeamte – waren vor 1918 der Neubau von Theater und Oper nach Plänen ins Amt gekommen. Das Hauptaugenmerk galt Max Littmanns. Höhepunkt war die vom Kom- nach Überwindung der direkten Kriegsfolgen ponisten Richard Strauss dirigierte Uraufführung und der Inflation der Wohnungsnot in der „teu- von „Ariadne auf Naxos“. Das 1913 eingeweihte ersten Stadt im Reich“, so Lautenschlager 1924. Kunstgebäude des Architekten Theodor Fischer Bis 1931 baute die Stadt rund 4000 Wohnungen, gilt als erstes Hauptwerk der ersten „Stuttgarter kaum weniger als jeweils private Bauherrn und Schule“ der Architekten; dessen Assistent und gemeinnützige Genossenschaften. Nachfolger Paul Bonatz hatte 1911 mit Friedrich Auch die Weißenhof-Siedlung ist in diesem Scholer den Bahnhofswettbewerb gewonnen. Kontext entstanden. Das umstrittene Projekt ver-

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Plakat des Verkehrsvereins Stuttgart, ca. 1930. Die Moderne unter dem Motto „Stuttgart empor“ repräsentieren das Kaufhaus Schocken, der Tagblatt-Turm und der Hauptbahnhof (von links), die Stiftskirche steht für das dunkle Mittelalter. Quelle: Stadtarchiv Stuttgart, Signatur 9400-2331.

16 Stuttgart APuZ schaffte Stuttgart internationale Beachtung. Maß- beitslosigkeit unter dem Durchschnitt der übri- stäbe setzten auch Bauten wie das Kaufhaus Scho- gen Großstädte. Neben der spezifischen Wirt- cken von Erich Mendelsohn, der Tagblatt-Turm schaftsstruktur wirkte sich die Verflechtung mit von E. Otto Oßwald oder Richard Döckers Licht- dem Umland aus, vor allem der hohe Anteil von haus Luz. Die größte Baustelle entstand durch die Pendlern mit landwirtschaftlichem Nebener- Verlegung des Hauptbahnhofs, der 1922 mit der werb. Die hohe Zahl von Kurzarbeitern zeigt, Hälfte der Bahnsteige in Betrieb genommen und dass die Unternehmen die qualifizierte Arbeiter- bis 1927 fertiggestellt wurde. Die Stadt hielt in schaft halten wollten. Aktiengesellschaften zur Verwertung des Gelän- Die gesamtgesellschaftliche Krise erreichte des eine Mehrheit und beteiligte sich auch an der Stuttgart dennoch mit Macht. Die Nationalsozi- Neckarkanalisierung. In diesem Zusammenhang alisten hatten in dieser Stadt der ökonomischen erfolgte die Eingemeindung von Neckargemein- Stabilität und der gesellschaftlichen Kontinuität den, wobei das Land die Übernahme armer Dör- einen schweren Stand. Zwar hatte die NSDAP im fer sowie hohe Entschädigungen an die Oberäm- Juli 1920 eine der ersten Ortsgruppen außerhalb ter zur Bedingung machte. Die Eingemeindungen Bayerns gegründet, sie war aber nach der Neu- waren im Gemeinderat umstritten; Liberalkonser- gründung 1925 personell und konzeptionell zer- vative und Rechte kritisierten generell Investitio- stritten. Umso mehr waren die Nationalsozialis- nen, Grunderwerb sowie wirtschaftliche Aktivitä- ten 1933 auf Zusammenarbeit angewiesen, die die ten der von den Parteien der Weimarer Koalition überwiegend anpassungsbereiten Eliten in Ver- gestützten „Regierung Lautenschlager“. waltung und Wirtschaft nicht verweigerten. Zum gesellschaftlichen Wandel gehörte ein Im Rathaus übernahm das Aushängeschild kultureller Aufbruch. Oper und Theater zeigten der NSDAP, der aus einer alteingesessenen Fa- sich auf der Höhe der Zeit, Brechts „Dreigro- milie stammende Karl Strölin, die Führung. Es schenoper“ bot zuerst Claudius Kraushaar im pri- gelang ihm, sich als Macher mit Einfluss zu prä- vaten Schauspielhaus. Aus dem Schülerkreis von sentieren. Gerade mit technokratischer Effizienz Adolf Hölzel fielen besonders Oskar Schlem- erwies sich die Stadtverwaltung als maßgeblicher mer, Willi Baumeister und Max Ackermann auf, Machtträger. Dass beispielsweise entgegen der der auch Verbindungen zur modernen Tanzsze- Rechtslage und Zuständigkeit ein „Asozialenla- ne pflegte. In der Staatsgalerie bedeutete der Weg- ger“ eingerichtet wurde, entlarvt den nach 1945 gang von Direktor Otto Fischer, der 1924 mit der postulierten Gegensatz zwischen einer angeblich Ausstellung „Neue Deutsche Kunst“ für Furore normenstaatlich agierenden Verwaltung und ei- gesorgt hatte, eine Zäsur. Und der Landtag debat- ner Parteiclique als Schutzbehauptung. tierte immer öfter über das Programm der Staats- Da im NS-System direkte Beziehungen zur theater. Zum Eklat kam es, als Nationalsozialisten Reichsführung, in erster Linie zu Hitler, und im Oktober 1930 eine Vorführung sprengten und „reichsweite“ Aufgaben ausschlaggebend waren, dafür Zustimmung im bürgerlichen Lager fanden. bemühte man sich mit Erfolg um den Titel einer Kommunale Kultureinrichtungen existier- „Stadt der Auslandsdeutschen“. Die Erwartun- ten nicht; selbst ein Stadtarchiv wurde erst 1928 gen wurden jedoch enttäuscht; Stuttgart gelang- gegründet. Eine großzügige Schenkung bildete te nicht in den Kreis der sogenannten Neugestal- 1925 den Grundstock einer Kunstsammlung; die tungsstädte. Planungen für Herrschaftsbauten Stadt begnügte sich jedoch mit der Ausschmü- wie auch Wohnungsbau und Verkehr blieben Pa- ckung von Repräsentationsräumen und Amtsstu- pier; eine Verlegung des Hauptbahnhofs wurde ben. Der Verein zur Förderung der Volksbildung, zurückgestellt. kaum zu überschätzende Keimzelle von Kultur- Meist schon vor 1933 existierende Interessen- und Bildungsinstituten, war eine private Initia- konflikte zwischen Stadt und Land wurden im tive, maßgeblich finanziert von Bosch. Überregi- Spannungsfeld von Großstadtfeindlichkeit und onale Beachtung fanden die erste Waldorfschule Rüstungsinfrastruktur ideologisiert. Während sowie Reformschulkonzepte; sie prägten, wie die die „Stadt ohne Raum“ ihre Eingemeindungs- wiederum von Bosch geförderte Homöopathie, wünsche auch mit einer „Auflockerung des Sied- das Image der Stadt. lungsraums“ begründete, lehnten mit demselben In der Wirtschaftskrise galten Stuttgart und Argument Gauleitung und Teile der Ministerial- die Region als „Oase“. Tatsächlich lag die Ar- bürokratie Eingemeindung, Neckarkanalisierung

17 APuZ 5–6/2021 und Ausbau der kommunalen Energieversorgung die USA erzwangen jedoch am 8. Juli 1945 ei- ab. Stuttgart konnte sich dennoch mit den 1933 nen Flaggenwechsel. In Stuttgart markierte eine gebildeten Technischen Werken behaupten und Rede von US-Außenminister James F. Byrnes schaffte mitten im Krieg durch die Eingemein- im September 1946 den Wechsel zur Integration dung unter anderem von Vaihingen und Möhrin- Deutschlands in den Westen. gen den „Sprung auf die Filder“. Die Parteien kooperierten in den Nachkriegs- Zugleich bot die Topografie eine Chance: jahren; anders als im Land, wo die Allparteienkoa- Die 3. Reichsgartenschau 1939 in der „wunder- lition über die Berlin-Blockade zerbrach, verblieb schönen Hauptstadt des Schwabenlandes“ war die KPD auf der Referentenbank. Versorgungs- in moderner Manier als stadt- und landschafts- krisen, Konflikte um die Betriebsverfassung so- gestaltendes Projekt konzipiert; sie begründete wie die sozialen Folgen der Währungsreform den Ruf Stuttgarts als Gartenstadt über 1945 hi- führten aber auch in Stuttgart zu gewerkschaft- naus. Noch mehr als das Deutsche Turnfest 1933 lichen Protesten. Eine überzogene Reaktion der oder die auslandsdeutschen Feiern wirkte dieses Militärregierung löste am 28. Oktober 1948 den scheinbar unpolitische Fest integrierend für die „Tumult von Stuttgart“ samt Ausgangs- und Ver- „NS-Volksgemeinschaft“. sammlungsverbot aus. Diese Gemeinschaft war in erster Linie durch Unter dem von den Alliierten eingesetzten, Exklusion definiert. Die Ausschaltung politi- dann mehrfach wiedergewählten Oberbürger- scher Gegner erfolgte wie anderswo binnen we- meister Arnulf Klett (1945–1973), der 1948 Stutt- niger Jahre; vermerkt sei, dass in Stuttgart keine gart als Bundeshauptstadt ins Gespräch brachte, Bücherverbrennung stattfand. Unter Beteiligung standen zunächst Versorgungsprobleme, Trüm- des kommunalen Gesundheitsamts wurden über merbeseitigung – auf dem Birkenkopf („Monte 1000 kranke, behinderte oder sozial auffällige Scherbelino“) aufgetürmt – sowie die Bekämp- Menschen zwangssterilisiert. fung der Wohnungsnot im Vordergrund. Unter Hatte sich die Stadt vor den Olympischen den Neubauten fielen unter anderem die Lieder- Spielen 1936 aus Parteikreisen noch Kritik für halle, der Landtag sowie der vom Süddeutschen Zurückhaltung gegenüber jüdischen Einwohnern Rundfunk errichtete Fernsehturm auf – heute ein zugezogen, verfolgte sie dann einen bürokrati- Wahrzeichen der Stadt; seinerzeit hatte der Ge- schen Kurs der Ausschaltung. Seit Ende 1941 meinderat eine Beteiligung abgelehnt. Die 1952 wurden rund 2500 jüdische Bürger deportiert, eingeweihte Synagoge der überwiegend von ehe- das Sammellager befand sich auf dem Gelände der maligen „Displaced Persons“ gebildeten jüdi- Reichsgartenschau. Es trifft den Systemkern, dass schen Gemeinde war der erste Neubau eines jüdi- mit einem Ort die erfolgreichste Manifestation schen Gotteshauses in der Bundesrepublik nach der „Volksgemeinschaft“ wie auch die schreck- der Shoah. lichste Exklusion verbunden ist. Daran erinnern Zwar entstand mit der Schulstraße 1950 eine heute Gedenkorte im Höhenpark sowie das „Zei- der ersten Fußgängerstraßen, Priorität hatte je- chen der Erinnerung“ am Inneren Nordbahnhof. doch die autogerechte Stadt. Zahlreiche bedeu- Der Luftkrieg erreichte Stuttgart Anfang tende Bauten verschiedener Epochen fielen der 1943, das als Zentrum der Rüstungsindustrie – in Spitzhacke zum Opfer, darunter trotz internatio- dem über 50 000 Menschen Zwangsarbeit leisten naler Proteste das Kaufhaus Schocken. Ein inner- mussten – und als Verkehrsknotenpunkt wichti- städtischer Verkehrsring schlug breite Schneisen ges Angriffsziel war. Die Lage, entfernt von den und sorgt bis heute für Debatten. Seit den 1970er alliierten Basen und in hügeligem Gelände, hatte Jahren wurden innerstädtische Straßenbahnstre- der Stadt eine Frist beschert. Schutz boten auch cken getunnelt und Fußgängerzonen geschaffen, die von den Anwohnern in die Hänge getriebe- 1978 die ersten S-Bahn-Linien eröffnet. Gelun- nen sogenannten Pionierstollen. Bei 53 Luftan- gene Altstadtsanierungen erfolgten in Bad Cann- griffen verloren rund 4500 Menschen ihr Leben. statt und im sogenannten Bohnenviertel, der ehe- maligen Esslinger Vorstadt. HAUPTSTADT DES SÜDWESTSTAATS Mit dem „Wirtschaftswunder“ kamen seit 1955 zahlreiche Arbeitsmigranten nach Stuttgart. Französische Truppen besetzten Stuttgart als Begünstigt durch die florierende Wirtschaft und Faustpfand für die Schaffung einer eigenen Zone, eine relativ homogene Stadtgesellschaft sowie das

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Engagement von Stadt und Zivilgesellschaft gilt torisch bedingt sind die größten Kulturinstitu- Stuttgart als weithin gelungenes Beispiel für Inte- te Einrichtungen des Landes: die Staatstheater, gration. Der populäre Oberbürgermeister Man- mit Oper, Ballett und Schauspiel größtes Drei­ fred Rommel (1975–1996) wie auch sein ebenfalls sparten­haus Deutschlands, die auch durch den der CDU angehörender Nachfolger Wolfgang Stirling-Bau bekannte Staatsgalerie sowie das Schuster (1997–2012) folgten in der Migrations- Landesmuseum. Die Stadt hat seit 2005 Kunst- und Integrationspolitik nicht der ­Parteilinie. museum, Stadtarchiv, Stadtbibliothek und Stadt- Schon seit dem 19. Jahrhundert hatte sich die museum neu eröffnet. Zum guten Ruf trägt seit Region am Mittleren Neckar als Wirtschaftsraum 1984 das Theaterhaus bei, eines der größten so- herausgebildet. Die fortschreitende Verflechtung ziokulturellen Zentren in privater Trägerschaft; und die damit verbundenen Fragen erforderten großen Zuspruch verzeichnen die Museen von Abstimmung und Planung. Einen ersten Ansatz, Daimler-Benz und Porsche. den kommunalen Bezirksplanungsverband von Die letzten Jahre prägte die Stadtgesellschaft 1931, löste die NS-Landesplanung ab, die kaum eine bundesweit beachtete Auseinandersetzung mehr als polykratische Konflikte bewirkte. Bei über das Projekt „Stuttgart 21“, zugleich Kulmi- der nach dem Vorbild anderer Länder seit 1966 nationspunkt von Debatten über das Gesicht der in Gang gesetzten Verwaltungs- und Territori- Stadt sowie, darüber hinaus, über die Bürgerbe- alreform konnte Stuttgart keine Zugewinne ver- teiligung bei Planungsprozessen. buchen, umgeben von den Großstädten Esslin- Stuttgart trägt erst seit 1977 offiziell den Ti- gen und Ludwigsburg sowie der Agglomeration tel einer Landeshauptstadt des 1952 gebildeten Böblingen/Sindelfingen. Auch die Distanz der Südweststaats. Diese Rolle wird allenfalls anek- überwiegend aus ländlichen Räumen kommen- dotisch kritisiert. Im historisch dezentral gepräg- den Abgeordneten nicht zuletzt der stärksten ten Südwesten haben sich wirtschaftsstarke, teils Partei, der CDU, wirkte sich aus. Schließlich er- länderübergreifende Regionen entwickelt, die folgte 1984 die Gründung eines Verbands Region Geschichte und Traditionen selbstbewusst in die Stuttgart mit dem Stadtkreis Stuttgart sowie den Moderne transferiert haben. Landkreisen Böblingen, Ludwigsburg, Rems- Stuttgart ist mit rund 610 000 Menschen aus Murr, Esslingen und Göppingen. Er ist anders über 180 Nationen und zugleich als Mittelpunkt als die 1973 gebildeten Regionalverbände durch einer Region mit über 2,7 Millionen Einwohnern eine direkt gewählte Regionalversammlung legiti- ein herausragendes Wirtschafts- und Technolo- miert. Seine Zuständigkeit umfasst die Raumord- giezentrum; die Stadt war vor der Corona-Pande- nung, die Verkehrsplanung und die Wirtschafts- mie schuldenfrei und hatte Investitionsrücklagen förderung in der Region. Stuttgart nimmt eine gebildet. Da mag man die Ferndiagnose von einer wichtige Rolle ein und ist zugleich eingehegt. Erstarrung „in ewigem Wohlstand“, wie sie kürz- In der Ära Rommel löste 1975 die CDU, die bis lich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ 1956 noch hinter den Liberalen gelegen hatte, die zu lesen war, als bloßen Neid bewerten. Aber SPD als stärkste Partei im Gemeinderat ab, die mit die globale Klimakrise mit den einhergehenden 28 von 60 Sitzen 1965 noch der absoluten Mehrheit Transformationsprozessen der Wirtschaft gerade nahe war. Die Grünen zogen 1980 erstmals mit drei am Automobilstandort, die umfassende digitale Sitzen in den Gemeinderat ein und konnten ihre Revolution sowie die gesellschaftlichen Verände- Position vier Jahre später auf zehn Mandate aus- rungen samt der derzeit deutlichen Spaltungsten- bauen. Erstmals 2009 und wieder seit 2019 stellen denzen stellen grundlegende Herausforderungen sie die stärkste Fraktion im Gemeinderat, in dem und erfordern neue Antworten; ein neues Kapitel mittlerweile 14 Listen vertreten sind. Eine in den der Stadtgeschichte wird aufgeschlagen. vergangenen Jahren postulierte öko-soziale Mehr- heit existierte bei wichtigen Themen jedoch nicht – von der Haltung zum Projekt „Stuttgart 21“ bis hin zu förmlichen Haushaltskoalitionen von CDU ROLAND MÜLLER und Grünen in der Amtszeit des grünen Oberbür- ist promovierter Historiker, Leiter des Stadtarchivs germeisters Fritz Kuhn (2013–2020). Stuttgart und Honorarprofessor am Historischen Stuttgart belegt inzwischen als Kulturstadt Institut der Universität Stuttgart. vorderste Plätze bei einschlägigen Rankings. His- [email protected]

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PROTEST IN STUTTGART 2010 UND 2020 Zwei Herausforderungen der Demokratie Simon Teune

Im Abstand von zehn Jahren sind Proteste in hobene und Fakten verdrehende politische Eli- Stuttgart zweimal zu einem bundesweiten Ge- te. 2010 und 2020 wurde eine hoch emotionale, sprächsthema geworden. Zweimal drehte sich scharfe, personalisierende und in Teilen das Ge- die Diskussion darum, welche Rolle Proteste in genüber herabsetzende Kritik laut, sowohl an den der Demokratie spielen und wo die Grenzen le- Regierenden als auch an den kommerziellen und gitimer Einmischung verlaufen. Im Herbst 2010 öffentlich-rechtlichen Medien. Beide Protestseri- war es der heftige Widerspruch gegen das Infra- en gingen darüber hinaus mit einer starken Pola- strukturprojekt „Stuttgart 21“, der eine Diskussi- risierung einher, in der es keine neutrale Position on darüber auslöste, in welchem Verhältnis Stra- zu geben schien. Die Auseinandersetzungen wur- ßenproteste und durch demokratische Verfahren den nicht nur auf der Straße und in den Kommen- legitimierte Entscheidungen stünden. Ein Jahr- taren von Journa­ ­list*innen­ und Social-Media- zehnt später, im Sommer 2020, führte die Initi- Nutzer*­innen, sondern auch im privaten Umfeld, ative „Querdenken 711“ zu ähnlichen, aber et- in der Familie, im Verein und in der Nachbar- was anders akzentuierten Debatten. Die Fragen schaft mit voller Härte geführt. Diese Tiefenwir- lauteten hier: Was sind die Grundlagen und die kung dürfte auch eine Erklärung dafür sein, dass Maßstäbe der Kritik an den Maßnahmen zur Ein- beide Episoden eine breitere gesellschaftliche De- dämmung der Covid-19- beziehungsweise der batte auslösten. Trotz dieser Ähnlichkeiten wei- Corona-Pandemie? Ist es legitim, die Einschrän- chen die Proteste aber auch deutlich voneinander kungen mit totalitären Systemen zu vergleichen ab – in ihrer Organisation, ihrer Entwicklung und und den Schulterschluss mit Demokratiefeinden in der Reichweite der Kritik. zu suchen? Mit diesen beiden Protestserien stand Stuttgart in einem Jahrzehnt gleich zweimal für STUTTGART 21 – grundsätzliche Diskussionen über demokrati- VERZWEIFLUNG AM VERFAHREN sche Verfahren und das Recht der Bürger*­innen auf Widerspruch. Beide Konflikte sind aber auch Als im Spätsommer 2010 bundesweite Medien Wegmarken für größere Veränderungen in der die Auseinandersetzungen um das Bauprojekt in deutschen Protestlandschaft. Stuttgart in den Blick nahmen, war der Konflikt bereits auf einem Höhepunkt angekommen. 01 ZWEIERLEI Schon kurz nach Bekanntgabe der Pläne für einen HERAUSFORDERUNGEN? Bahnhofsneubau und die Umnutzung des Gleis­ areals im Jahr 1994 schlossen sich umwelt- und Sowohl die Bündnisse gegen „Stuttgart 21“ als verkehrspolitische Initiativen zusammen, um ihre auch die Initiative „Querdenken 711“ haben Kritik an dem Projekt gemeinsam zu artikulieren. durch eine Serie von Protesten bundesweite Auf- Ihr Widerspruch richtete sich gegen die immer merksamkeit auf sich gezogen. Beide Episoden weiter steigenden Kosten und die profitorien- zeigen auf den ersten Blick einige Ähnlichkei- tierte, invasive Umgestaltung der Stadt. Sie be- ten. Die Proteste gegen den Tiefbahnhof und ge- zweifelten den verkehrspolitischen Sinn und die gen die Corona-Maßnahmen brachten viele Men- Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs. Deshalb schen auf die Straße, die nie zuvor in ihrem Leben entwickelten die Pro­jekt­geg­ner*­innen ein Alter- bei einer Demonstration gewesen waren. In bei- nativkonzept zur Erhaltung des Kopfbahnhofs den Fällen verstanden sich die Protestierenden als und sammelten über 60 000 Unterschriften, um die rationale Stimme des Volkes gegen eine abge- die Stadt mit einem Volksbegehren zum Ausstieg

20 Stuttgart APuZ aus dem Projekt zu bewegen. Nachdem das Bür- stattung die empörte „Dame mit der Perlenkette“ gerbegehren vom Gemeinderat abgelehnt und die zitiert. 02 Die Zusammensetzung der Protestieren- Ablehnung durch das Verwaltungsgericht bestä- den wich jedoch nur wenig von anderen großen tigt wurde, verlagerte sich der Widerspruch stär- Protesten ab: Der Großteil ordnete sich deutlich ker auf die Straße. Seit November 2009 fanden links von der Mitte ein. „Montagsdemonstrationen“ gegen „Stuttgart 21“ Im Konfliktverlauf entwickelte sich die kon- statt; bis heute ist die Protestserie nicht abgeris- krete Kritik am Bahnprojekt zu einer konfron- sen. Mit dem Baubeginn im Spätsommer 2010 tativen und grundsätzlichen Kritik am Funktio- spitzte sich der Konflikt zu. Zahlreiche Straßen- nieren des demokratischen Systems und an der proteste mit wachsenden Teilnahmezahlen liefen Arbeit der politisch Verantwortlichen. Die Ab- parallel zu Aktionen zivilen Ungehorsams: Blo- lehnung des Volksbegehrens und der Baubeginn ckaden der Bauarbeiten und Besetzungen im alten waren dabei Ereignisse, bei denen die Verzweif- Bahnhofsgebäude sowie auf von der Fällung be- lung an den formalen demokratischen Verfahren drohten Bäumen. In dieser Situation gipfelten die greifbar wurde. Eine Befragung von Protestieren- Auseinandersetzungen am „schwarzen Donners- den nach dem „schwarzen Donnerstag“ zeigte, tag“, dem 30. September 2010, in einer Konfron- wie stark sich der Konflikt zugespitzt hatte: Die tation mit der Polizei mit zahlreichen Verletzten. Befragten äußerten zum einen eine starke Kritik Eine Schlichtung im Oktober und November des am Funktionieren der Demokratie und zum an- Jahres sowie eine landesweite Volksabstimmung deren eine starke Zustimmung zu zivilem Unge- zugunsten des Projektes im folgenden Jahr führ- horsam als legitime Form der Auseinanderset- ten schließlich zu einer Demobilisierung der Pro- zung. 03 Die Kritik war jedoch nicht nur auf die testbewegung. politischen Eliten gerichtet, sondern auch auf die Mit den Landtagswahlen im März 2011 ver- regionale Medienlandschaft, die sich frühzeitig lor die Regierung aus CDU und FDP ihre Mehr- für das Projekt „Stuttgart 21“ positioniert hatte heit, und eine Koalition von Bündnis 90/Die und in der Wahrnehmung der Pro­jekt­gegner*­ ­ Grünen und SPD löste sie ab. In Stuttgart wur- innen kritische Perspektiven ausblendete. de mit Fritz Kuhn der erste Grüne zum Ober- Die Proteste gegen „Stuttgart 21“ forderten bürgermeister einer deutschen Landeshauptstadt die Demokratie heraus, indem sie weitreichen- gewählt. Die Hoffnung vieler Gegner*innen­ von de Entscheidungen infrage stellten, die in demo- „Stuttgart 21“, dass die Grünen, die an den Pro- kratischen Verfahren zustande gekommen waren. testen beteiligt waren, in Bezug auf das Projekt Der Gemeinderat der Stadt, der Landtag und der eine grundsätzlich andere Politik verfolgen wür- Bundestag hatten dem Vorhaben mit Mehrhei- den, bestätigte sich indes nicht. ten von Union, SPD und FDP zugestimmt. Die Die Proteste gegen „Stuttgart 21“ folgten dem Protestierenden hatten dagegen das Ziel, das über klassischen Organisationsmuster sozialer Bewe- Jahre geplante Megaprojekt mit einem Finanzvo- gungen: Bestehende Organisationen und Initiati- lumen von mehreren Milliarden Euro, in dem die ven schlossen sich in einem Bündnis zusammen, Stadt und das Land vertraglich gebunden waren, um ein geteiltes, klar definiertes Ziel zu erreichen. zu verhindern. Die Pro­jekt­geg­ner*­innen verstan- Sie brachten dabei Ressourcen wie Geld, Materi- den sich als Korrektiv, das mit gesundem Men- al und Expertise ein und mobilisierten Mitglieder schenverstand und Expertise auf Gefahren und und An­hän­ger*innen.­ Die Proteste brachten viele Mängel von „Stuttgart 21“ hinwies, die bei der Menschen auf die Straße, die noch nie oder schon Entscheidungsfindung nicht oder nur unzurei- lange nicht mehr demonstriert hatten. Beob­ ach­ ­ chend berücksichtigt worden waren. Unter dem ter* ­innen betonten besonders die Beteiligung Motto „Oben bleiben!“ sollte die Alternativlo- konservativer Demonstrierender; als typische sigkeit der Entscheidungen infrage gestellt wer- Protestierende wurde in der Medienberichter-

02 Vgl. Britta Baumgarten/Dieter Rucht, Die Protestierenden 01 Vgl. Annette Ohme-Reinicke, Das große Unbehagen. Die gegen „Stuttgart 21“ – einzigartig oder typisch?, in: Frank Protestbewegung gegen „Stuttgart 21“: Aufbruch zu neuem Brettschneider/Wolfgang Schuster (Hrsg.), Stuttgart 21. Ein bürgerlichen Selbstbewusstsein?, Stuttgart 2012; Julia von Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, Wiesbaden 2012, Staden, Stuttgart 21 – eine Rekonstruktion der Proteste. Soziale S. 97–125, hier S. 98. Bewegungen in Zeiten der Postdemokratie, Bielefeld 2020. 03 Vgl. ebd.

21 APuZ 5–6/2021 den. Be­für­wor­ter*­innen des Projektes verwiesen fährlichkeit und die Verbreitung des neuen Virus dagegen auf die demokratische Legitimation des mussten konkurrierende Grundrechte abgewo- Vorhabens und die Bindung an die unterzeich- gen werden. In der Folge schränkten die Landes- neten Verträge. Die Protestierenden zogen diese regierungen die Versammlungsfreiheit, die freie demokratischen Verfahren nicht in Zweifel. Sie Berufsausübung und andere Grundrechte zum verwiesen stattdessen darauf, dass auch auf demo- Teil ein, um die Pandemie zu kontrollieren und kratischem Wege falsche Entscheidungen gefällt das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu ge- werden können. So zeigte sich an „Stuttgart 21“ währleisten. Der Widerspruch gegen die Maß- das Dilemma, dass eine Demokratie auf enga- nahmen zur Eindämmung der Corona-Pande- gierte und fachkundige Bürger*­innen baut, dass mie begann nicht mit der Initiative „Querdenken sich deren Engagement aber durchaus an forma- 711“ in Stuttgart. An vielen Orten gab es direkt len demokratischen Verfahren brechen kann. Die nach deren Einführung Proteste von bestehenden Pro­jektgeg­ ­ner*innen­ hatten alle Mittel der Ein- Netzwerken und Organisationen, die sich – mit mischung genutzt, um Ihre Kritik vorzubringen, Abstand und Masken – unter anderem gegen eine blieben am Ende aber mit der Wahrnehmung zu- autoritäre Corona-Politik, für die Unterstützung rück, nicht gehört worden zu sein. Der Politik- besonders betroffener Berufsgruppen und für wissenschaftler Winfried Thaa sieht das zentrale den gleichberechtigten Schutz von Geflüchteten Versäumnis der politischen Verantwortlichen da- in Europa einsetzten. rin, den Bahnhofsneubau „überhaupt als eine po- „Querdenken 711“ begann das Engagement litische, also im Konflikt widerstreitender Prinzi- mit einer Botschaft, die in wöchentlichen Pro- pien und Werte zu entscheidende Angelegenheit testen in Berlin seit Ende März Hunderte auf die zu betrachten“. 04 Während der Bahnhofsneubau Straße gebracht hatte. Die ersten Versammlungen von den Projektträgern vorangetrieben wurde, auf dem Stuttgarter Schlossplatz meldete der Ini- war der Fall „Stuttgart 21“ für Projekt­ ­pla­ner*­ tiator Michael Ballweg unter dem Motto „Mahn- innen und Par­ti­zi­pa­ti­ons­ge­stal­ter*­innen zu einem wache für das Grundgesetz“ an. In der frühen Präzedenzfall für die Folgen fehlender Mitbe- Phase standen Forderungen nach der Priorisie- stimmung und mangelhafter Projektkommunika- rung individueller Freiheiten gegenüber dem In- tion geworden. 05 Gleichzeitig wurden die Protes- fektionsschutz im Vordergrund. Problematisiert te gegen das Projekt in der öffentlichen Debatte wurden vor allem die Vorschrift, in bestimm- als eine neue Stufe bürgerlichen Gestaltungswil- ten Umgebungen einen Mund-Nasen-Schutz zu lens und Selbstbewusstseins gewertet. 06 tragen, und die anfängliche Einschränkung po- litischer Versammlungen. Die Versammlungs- „QUERDENKEN 711“ – verbote wurden zu Beginn der Pandemie noch VERTEIDIGUNG ODER ausgesprochen und polizeilich durchgesetzt, ÜBERWINDUNG DES dann aber immer wieder durch Gerichte für un- GRUNDGESETZES? verhältnismäßig erklärt. Bei den Protesten in Berlin wie auch in Stuttgart Als im März 2020 das Corona-Virus auch waren von Anfang an Akteure und Bericht­ ­er­stat­ Deutschland erreicht und die Weltgesundheits- ter*innen­ der extremen Rechten und Verschwör­ ­ organisation die Situation zur Pandemie erklärt ungs­un­ter­neh­mer*­innen Teil der Proteste, die die hatte, entwickelte sich bald eine Debatte über die Pandemie zum Anlass nahmen, um auf Corona Wirksamkeit und die Folgen von Maßnahmen bezogene Verschwörungserzählungen und eine zur Eindämmung der Neuinfektionen. Unter pauschale Regierungskritik in die Breite zu tra- Bedingungen unsicheren Wissens über die Ge- gen. Youtube-Videos, in denen die vom Corona- Virus ausgehende Gefahr infrage gestellt und die 04 Winfried Thaa, „Stuttgart 21“ – Krise oder Repolitisierung staatlichen Maßnahmen sowie kommende Imp- der repräsentativen Demokratie?, in: Politische Vierteljahres- fungen als Strategie der Kontrolle dargestellt wur- schrift 1/2013, S. 1–20, hier S. 16. den, hatten in den ersten Wochen der Pandemie 05 Vgl. Ortwin Renn et al., Lessons learned aus Stuttgart 21. zum Teil siebenstellige Zugriffszahlen. Sie bestärk- Bürgermitwirkung bei Planungs-und Bauprojekten, in: Spektrum der Mediation 42/2011, S. 4–11. ten in Stuttgart und anderswo viele Menschen, sich 06 Vgl. Roland Roth, Bürgermacht: eine Streitschrift für mehr den Protesten anzuschließen, unter ihnen ein gro- Partizipation, Hamburg 2011. ßer Teil ohne Erfahrungen mit politischem Pro-

22 Stuttgart APuZ test. Berichte von den Protesten und der anfänglich fen, die spontan auf die neue Situation reagier- noch harten staatlichen Reaktion darauf brachten ten. „Querdenken 711“ in Stuttgart wie auch die rechtsextremen und verschwörungsunternehme- „Kommunikationsstelle demokratischer Wider- rischen Youtube-Kanälen zusätzliche Reichweite, stand“ in Berlin wurden als Blaupause genom- und sie beförderten die Empörung über die Ein- men und an anderen Orten von neu entstande- schränkung der Versammlungsfreiheit. nen lokalen Gruppen organisiert, zum Teil aber Vor diesem Hintergrund verzeichnete die Ini- auch von bestehenden Netzwerken. Insbeson- tiative „Querdenken 711“ in den ersten Wochen dere in Ostdeutschland machten sich erfahrene ihres Bestehens ein rasantes Wachstum. Von ein Rechtsextreme die Proteste zu eigen und fungier- paar Dutzend Teilnehmenden bei der vor dem ten als An­melder*innen.­ Die Teilnehmenden der Bundesverfassungsgericht eingeklagten Mahnwa- Kundgebungen wurden nicht durch bestehende che am 18. April 2020 wuchs deren Zahl – nach Organisationen mobilisiert, sondern vorwiegend Angaben des Organisationsteams – auf 20 000 bei durch persönliche Netzwerke und über soziale der Kundgebung auf dem Cannstatter Wasen am Medien. Dadurch, dass die Protestbotschaft offen 9. Mai 2020. Während die Protestwelle in Stuttgart und mit einem positiven Bezug auf die Grund- schon bald wieder abflaute (am 30. Mai versam- rechte formuliert war, fühlten sich sehr unter- melten sich nur noch 150 Menschen), verlagerten schiedliche Gruppen angesprochen und betei- die Organisatoren ihren Schwerpunkt auf regio- ligten sich an den Protesten: Einzelpersonen, die nale und bundesweite Mobilisierungen in Mann- sich in ihrem Leben eingeschränkt fühlten, aber heim, Berlin und Konstanz. Überall dort, wo auch bereits bestehende Milieus wie anthroposo- „Querdenken“-Proteste stattfanden, waren Beob­ ­ phische und evangelikale Impfgeg­ ner*­ ­innen, die ach­ter*­innen verwirrt von der Zusammensetzung eine Impfung als schwerwiegenden Eingriff in ei- der Teilnehmenden. Bekannte Rechtsextreme de- nen zur Selbstheilung fähigen Körper sahen, oder monstrierten neben Hippies und Familien im Rechtsextreme, die hinter der Pandemie einen Outdoor-Dress, Teilnehmende schwenkten auf Plan zur Ausweitung der Macht liberaler Eliten der gleichen Veranstaltung die Reichsflagge und vermuteten. die Regenbogenfahne. Neben der ungewöhnli- Zunächst hatte bei den Protesten von „Quer- chen Mischung, die auch schon in Berlin zu beob- denken 711“ der Bezug auf die ersten zwan- achten gewesen war, verlieh die schiere Größe der zig (Grundrechts-)Artikel des Grundgeset- Proteste in der Pandemie „Querdenken 711“ grö- zes dominiert. Neben der eher diffusen Klage ßeren Nachrichtenwert. Die Proteste in Stuttgart über Grundrechtseinschränkungen wurden bald und die Bezeichnung „Querdenken“ standen nun „Maskenzwang“ und „Impfpflicht“ zu zentralen in der öffentlichen Debatte stellvertretend für den Deutungsmustern, die unterschiedliche Milieus Widerspruch gegen die staatlichen Maßnahmen. zusammenbrachten. Sie verdichteten das diffu- Initiativen an anderen Orten übernahmen die Bot- se Unwohlsein zu einem Angriff durch eine bös- schaften und die Selbstbezeichnung mit der jewei- willig handelnde Regierung. Die Maske wurde in ligen Ortsvorwahl. Mit den bundesweiten Pro- dieser Deutung gleichgesetzt mit der Unterwer- testen in Berlin am 1. und 29. August 2020 wuchs fung unter ein System der Unfreiheit. Sie nicht zu die Aufmerksamkeit für „Querdenken“ abermals tragen, wurde zum Akt des Widerstandes über- deutlich, insbesondere jenseits der linearen, pro- höht. Bei der Berliner „Kommunikationsstel- fessionellen Medien. Durch die bundesweiten le Demokratischer Widerstand“, deren Zeitung Proteste verdoppelten sich die Google-Suchanfra- auch in Stuttgart verteilt wurde, war der Aufruf gen und die Zahl der Zugriffe auf den Telegram- zur Verteidigung des Grundgesetzes von Beginn Kanal von „Querdenken 711“, während die Zahl an mit der konspirativen Erzählung von einer der Medienberichte deutlich zurückging.­ 07 „Corona-Diktatur“ verbunden. 08 Bestärkt fühl- Die Protestserie gegen die Corona-Maßnah- ten sich die Demonstrierenden durch eine Be- men wurde von Einzelpersonen ins Leben geru- richterstattung, die in ihren Augen Kritik an den Corona-Maßnahmen keinen Raum geben und

07 Vgl. Andrzej Jarynowski/Alexander Semenov/Vitaly Belik, Protest Perspective Against COVID-19 Risk Mitigation Strategies 08 Vgl. Carolin Amlinger, Über das Querdenken. Der epis- on the German Internet, http://userpage.fu-​berlin.de/~belik/ temische Widerstand der Corona-Proteste in: Zeitschrift für files/JAR20f.pdf. Fantastikforschung 1/2020, S. 20–26.

23 APuZ 5–6/2021 den Protest verunglimpfen würde. 09 Diese Deu- si­ker*­innen auch von der Bühne verbreitet. Unter tungsangebote fügten sich zu einem seit den ers- anderem zitierte Michael Ballweg bei seiner Rede ten Kundgebungen präsenten sekundären Anti- den Leitspruch der Verschwörungsgemeinschaft semitismus und zu revisionistischen Vergleichen, „QAnon“: „Where we go one, we go all.“ mit denen sich Teilnehmende wahlweise mit den Die Herausforderung der Demokratie, die systematisch verfolgten und ermordeten euro- sich bei den Protesten von „Querdenken 711“ päischen Jüdinnen und Juden gleichsetzten oder zeigt, ist bereits im Namen der Initiative angelegt: mit dem Widerstand gegen die nationalsozialisti- Die Protestierenden sehen sich im „epistemischen sche Herrschaft. Die Wahrnehmung von Regie- Widerstand“. 10 Ihr entscheidendes Bindeglied ist rung und Medien als feindliches Gegenüber führ- die Selbstwahrnehmung, einer von Regierung und te zu einer Schließung und zum Schulterschluss Medien unterdrückten Wahrheit ans Licht zu ver- mit allen, die die Kritik an den Maßnahmen teil- helfen. Die Teilnehmenden verbindet weniger eine ten. Hinweise auf die unwidersprochene Verbrei- gemeinsame Kritik in der Sache als ein generali- tung von Verschwörungserzählungen wie auch siertes Misstrauen gegen politische Institutionen auf die Anwesenheit der extremen Rechten wur- und Po­li­ti­ker*­innen in Regierungsverantwortung. den von den Protestierenden als Versuch gedeu- Die Wahrnehmung von Regierenden und etablier- tet, sie mundtot zu machen. ten Medien als verschworene Elite, die es darauf Die extreme Rechte war von Beginn an bei den anlegt, Kritik zum Schweigen zu bringen, gip- Protesten präsent, ohne Vorkenntnisse aber häufig felte in der weit verbreiteten Gleichsetzung von nicht zu identifizieren. Spätestens seit der ersten den Corona-Maßnahmen und nationalsozialisti- bundesweiten Demonstration von „Querdenken scher Herrschaft. Dass eine große Mehrheit der 711“ in Berlin am 1. August 2020, zu dem das ge- Bevölkerung die politischen Entscheidungen in samte rechtsextreme Spektrum geschlossen aufge- der Pandemie unterstützt und dass große Teile die rufen hatte, war nicht zu übersehen, dass dieses die Maßnahmen als nicht weitgehend genug werten, Proteste als Forum nutzte, um neue Kontakte zu wird nicht als Irritation der eigenen Haltung ver- knüpfen und die eigenen Deutungen mehrheitsfä- standen, sondern als Erfolg eines auf Verblendung hig zu machen. Die fehlende Abgrenzung zeigte angelegten Systems. Die Protestierenden setzen sich nicht nur in der Verharmlosung von Reichs- nicht auf eine andere Zusammensetzung der Re- kriegsflaggen als bloße Symbole des Widerstands, gierung oder auf institutionalisierte Verfahren, sondern auch in der Verbreitung von Reichs- sondern auf den performativen Akt des gemein- bürgernarrativen. So zeigte der mit der Pande- samen Protestes als Symbol des Widerstands. Das mie unverbundene Ruf nach einem Friedensver- Politische wird reduziert auf ein Bekenntnis zur trag auf den Demonstrationen in Berlin, dass die einen oder zur anderen Seite. Für die Abwägung in rechtsextremen Kreisen verbreitete Erzählung widerstreitender Interessen bleibt kein Raum. eines nicht-souveränen Deutschlands große Re- Zur Herausforderung für die Demokratie sonanz fand. Der gleichen Argumentation folgte wird auch das neue Bündnis der Demonstrieren- der Pressesprecher von „Querdenken 711“, als er den. Der Anspruch, die Verfassung zu verteidi- das Grundgesetz als „Besatzungsrecht“ bezeich- gen, und die gemeinsame Aktion mit erklärten nete. Damit trat neben den positiven Bezug auf Gegner*­innen der Verfassung wird von den Pro- das Grundgesetz die Forderung nach einer verfas- testierenden nicht als Widerspruch gesehen. Die sungsgebenden Versammlung, die das Grundge- Anwesenheit von Rechtsextremen und Hooligans setz ersetzen sollte. In seiner Rede zu den Teilneh- wird abgestritten oder relativiert; als diese bei den menden am 1. August erklärte Michael Ballweg Protesten in am 7. November 2020 oder die Demonstration kurzerhand zu ebendieser während der Bundestagssitzung zum Beschluss verfassungsgebenden Versammlung. Auch Ver- des Infektionsschutzgesetzes am 19. Novem- schwörungserzählungen fanden sich nicht nur in ber die Polizei angriffen, erhielten sie Rückende- der Menge, auf Protestschildern und -zeichen, ckung von den anderen Demonstrierenden. Da- sondern sie wurden von Redner*innen­ und Mu­ mit markieren die „Querdenken“-Proteste nicht nur einen weiteren Schritt der Entgrenzung,

09 Vgl. Oliver Nachtwey/Robert Schäfer/Nadine Frei, die es der extremen Rechten erleichtert, sich als Politische Soziologie der Corona-Proteste, Basel 2020, https:// doi.org/ ​10.​31235/osf.io/zyp3f. 10 Vgl. Amlinger (Anm. 8).

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Bündnispartner und Re­prä­sen­tant*­innen nicht Tief­bahn­hof­geg­ner*­innen gaben Protesten an an- gehörter Bürger*innen­ zu gerieren. Die Selbster- deren Orten Aufschwung, die sich gegen geplan- mächtigung zu Wi­der­stands­kämp­fer*­innen gegen te Infrastrukturmaßnahmen zur Wehr setzten. die „Corona-Diktatur“ senkt auch die Schwelle Sie haben dazu geführt, dass sich der Kreis derer, zur Anwendung von Gewalt. die Protest als Mittel der politischen Artikulation nutzen, erweiterte. Zur gleichen Zeit führten eine PROTEST UND DEMOKRATIE strategische Neuorientierung der extremen Rech- ten und die Verbreitung sozialer Medien zu einer Die Proteste in Stuttgart in den Jahren 2010 und neuen sozialen Bewegung von rechts. 11 NPD und 2020 haben die Demokratie auf verschiedenen Kameradschaften rückten von Protesten mit posi- Ebenen herausgefordert. In der Auseinander- tivem Bezug auf den Nationalsozialismus ab und setzung um das Projekt „Stuttgart 21“ konkur- widmeten sich anschlussfähigen Themen wie der rierten zwei Vorstellungen von Demokratie: Die Unterbringung von Asylsuchenden, ohne sichtbar eine betonte die Legitimität durch Verfahren und als organisierte Rechte aufzutreten. Kurz nachdem Planbarkeit durch die Anerkennung demokrati- „Stuttgart 21“ vom Radar bundesweiter Medien scher Entscheidungen; die andere stellte die Be- verschwand, entwickelte sich mit dem Etikett „Pe- teiligung der Bürger*­innen in den Vordergrund, gida“ eine neue Protestwelle, in der gesellschaftlich das Denken in Alternativen und die Möglichkeit weit verbreitete und in der Meinungsforschung seit zur Revision von Entscheidungen. Jahren vermessene Ressentiments auf der Straße Im Konflikt um die Maßnahmen zur Eindäm- sichtbar wurden. Auch diese Proteste bauten nicht mung der Corona-Pandemie fällt es schwer, die auf den Netzwerken von Organisationen auf, son- Konfliktlinien adäquat zu beschreiben. In den Pro- dern sie schöpften ein in erster Linie über Face- testen vermischt sich nachvollziehbare Kritik an book-Gruppen aufgebautes Unbehagen ab. Auch der Einschränkung von Grundrechten und an der hier mischte sich in konspirative Erzählungen von Entmachtung der Parlamente mit dem Verschwö- der „Umvolkung“ eine pauschale Elitenkritik mit rungsglauben an eine sinistre Allianz der Eliten der Imagination eines Angriffs auf die eigene Grup- aus Politik, Medien und Wirtschaft. Auch perso- pe. Ein Plakat bei den „Pegida“-Protesten brach- nell verschwimmen die Grenzen zwischen unzu- te diese Haltung auf die Formel „BRD = Dikta- friedenen, gerade erst politisierten Bürger*­innen tur“. Auch hier waren Beob­ ach­ ter*­ ­innen verwirrt auf der einen Seite und organisierten Rechtsextre- von der Vielstimmigkeit der Protestmotive und der men auf der anderen Seite. In dieser Vermischung bunten Mischung der Teilnehmenden. Weder die besteht die erste Herausforderung der Demokra- Deutungsmuster noch die Organisationsform der tie. Die zweite Herausforderung ergibt sich aus der „Querdenker“-Proteste sind neu, mit ihnen hat Haltung des „epistemischen Widerstands“: Wenn sich allerdings der Furor der Fundamentalopposi- der Kitt des Protestes darin besteht, eine Wahrheit tion und die Akzeptanz der extremen Rechten als aufzudecken, die andere noch nicht erkannt haben, Bündnispartner auf neue Milieus ausgebreitet: Die dann gibt es keine gemeinsame Diskussionsgrund- Proteste gegen die Corona-Maßnahmen sprechen lage. Zuspitzungen und Feinderklärungen liegen eher als etwa „Pegida“ Frauen an, eher die obere nah. Die ablehnende Reaktion von Regierenden, Mittelschicht und eher Westdeutsche. Anders als Jour­na­list*­innen und Ge­gen­de­mons­trant*­innen dort gibt es bei den „Querdenken“-Protesten aller- ist Teil dieser Dynamik, insofern sie den Effekt der dings keinen rassistischen Konsens, und die AfD Abschottung nach Außen verstärken. wird nur von einem Teil der Teilnehmenden als Re- In den zehn Jahren, die zwischen den Protes- präsentantin ihrer Interessen wahrgenommen. 12 ten gegen „Stuttgart 21“ und gegen die Maßnah- Dieser Komplexität gerecht zu werden, ist eine an- men zur Eindämmung der Corona-Pandemie lie- dere Herausforderung der jüngsten Proteste. gen, hat sich die Protestlandschaft in Deutschland stark verändert. Die selbstbewussten Proteste der SIMON TEUNE ist politischer Soziologe mit dem Schwerpunkt Protest- und Bewegungsforschung und Vorsitzender 11 Vgl. Alexander Häusler/Fabian Virchow (Hrsg.), Neue sozi- ale Bewegung von rechts? Zukunftsängste – Abstieg der Mitte – des Vorstandes des Instituts für Protest- und Ressentiments. Eine Flugschrift, Hamburg 2016. Bewegungsforschung in Berlin. 12 Nachtwey/Schäfer/Frei (Anm. 9), S. 10. [email protected]​berlin.de

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STUTTGART – HAUPTSTADT DER FREIDENKER UND ANTHROPOSOPHEN? Heiner Barz

Man kann den Versuch, der baden-württember- „Querdenker“ als außerparlamentarische Oppo- gischen Landeshauptstadt Stuttgart das Etikett sitionsbewegung weithin Aufmerksamkeit auf der freigeistigen, nonkonformistischen, ja rebel- sich gezogen. lischen Hochburg anzuhängen, mit guten Grün- den infrage stellen. Die deutsche Geschichte EPIZENTRUM kennt viele Städte, in denen Symbolträchtiges ge- DER WALDORFPÄDAGOGIK schah, auch und gerade im Hinblick auf die Ver- breitung von neuen Ideen, die Proklamierung In der gesellschaftlichen Umbruchsituation in von innovativen Gesellschaftsmodellen, den Zu- den Monaten nach dem Ende des Ersten Welt- sammenstoß zwischen alten und aufstrebenden kriegs wurde um die Neugestaltung zentraler In- gesellschaftlichen Kräften. Erinnert sei nur an die stitutionen des gesellschaftlichen Lebens, der Po- Weimarer Republik, an die Frankfurter Paulskir- litik und der Wirtschaft gerungen. Soldaten- und che oder an die Leipziger Montagsdemonstrati- Arbeiterräte, sozialdemokratische und bürgerli- onen. Einflussreiche Bildungskonzepte wurden che Strömungen, aber auch die noch immer mäch- nicht nur in Stuttgart, wo die Waldorfpädagogik tigen Eliten des wilhelminischen Kaiserreichs ihren Anfang nahm, sondern auch in Berlin – von kämpften um Macht und Einfluss. 02 Unter den Wilhelm von Humboldt – oder in Jena – von Pe- vielen Erneuerungsbestrebungen fielen 1919 Vor- ter Petersen – auf den Weg gebracht. Obendrein träge im Großraum Stuttgart des ansonsten eher finden wir in Stuttgart ja nicht nur die Highlights durch esoterische Aktivitäten bekannten Philoso- einer Protestkultur, sondern auch die Automobil- phen und Wanderpredigers Rudolf Steiner nicht Pioniere Daimler und Porsche, Firmen wie Bosch wirklich ins Gewicht. Er setzte sich für stärke- oder Breuninger und die Klischees der sparsamen re Einflussmöglichkeiten der Arbeiterschaft ein, schwäbischen Hausfrau oder der pedantisch be- freilich mit einem besonderen Konzept. Steiners folgten Kehrwoche. Zurecht mag man also die sogenannte Dreigliederungsbewegung propagier- Einzigartigkeit von Stuttgart als Nonkonformis- te eine gesellschaftspolitische Neuorientierung, mus-Hauptstadt bezweifeln. All diesen berech- die individualistisch-unternehmerische Aspek- tigten Einwänden zum Trotz wollen wir auf den te des Liberalismus mit Ideen der sozialen Ge- folgenden Seiten von der Arbeitshypothese aus- rechtigkeit aus der eher sozialistischen Tradition gehen, Stuttgart sei doch mit einigem Recht in verbinden wollte. Die Zuordnung der Ideale der den Ruf der Hauptstadt der Freidenker und der Französischen Revolution zu zentralen Gesell- alternativen Pädagogik geraten. Für dieses Nar- schaftsbereichen – Freiheit in Geistesleben und rativ lässt sich nicht nur der Umzug des Rumpf- Kultur, Gleichheit in der Politik und vor dem Ge- parlaments der Frankfurter Nationalversamm- setz, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben – sollte lung im Juni 1849 nach Stuttgart 01 oder der nicht der Schlüssel für eine freiheitliche und gleichzei- zufällig bis heute in Stuttgart ansässige Bund der tig solidarische, eine wirtschaftlich wie kulturell Freien Waldorfschulen anführen. Auch der – üb- produktive neue Gesellschaftsordnung sein. Im rigens bis heute anhaltende – Bürgerprotest gegen Rückblick muss man konstatieren, dass auch die- „Stuttgart 21“ symbolisiert eine Zäsur der bun- ses Konzept der Gesellschaftserneuerung Schiff- desdeutschen Protestgeschichte. Und im Coro- bruch erlitten hat. Und trotzdem hat es einen na-Jahr 2020 haben die in Stuttgart verwurzelten nachhaltigen Impuls hinterlassen: Die Gründung

26 Stuttgart APuZ der ersten Waldorfschule auf der Uhlandshöhe in tragte Rudolf Steiner mit der Ausarbeitung des Stuttgart als Schule für die Kinder der Arbeiter Schulprogramms und der Ausbildung der Leh- und Angestellten der Waldorf-Astoria-Zigaret- rer. Steiner wiederum beauftragte Karl Stock- tenfabrik war eine von vielen Initiativen, die im meyer, einen anderen Getreuen, ihn bei der Suche Geiste dieser Dreigliederungsbewegung gestartet nach geeigneten Persönlichkeiten, die als Lehrer wurden. infrage kämen, zu unterstützen. Er wies ihn an, Steiner sprach von Ende April bis Anfang er müsse nun auf die Reise gehen wie ein The- August 1919 in Stuttgart und Umgebung vor den aterdirektor, der sein Ensemble zusammensucht. Mitgliedern der Anthroposophischen Gesell- Vor der handverlesenen Gruppe von 17 Kandida- schaft, vor interessierten Bürgern in den großen ten, darunter 8 Frauen, hielt Steiner dann ab dem Sälen der Stadt, vor den weitgehend sozialistisch 21. August 1919 seinen berühmten Lehrerkur- orientierten Arbeitern bei Daimler, Bosch und sus. Direkt im Anschluss erfolgte am 7. Septem- anderer großer Betriebe. Den Unternehmer Ro- ber der feierliche Gründungsakt im vollbesetzten bert Bosch konnte Steiner mit seinen Ideen nicht Stuttgarter Stadtgartensaal vor mehr als tausend überzeugen. In dessen Biografie schreibt der spä- Besuchern. In der Festansprache betonte Steiner, tere Bundespräsident Theodor Heuss: „Stuttgart dass mit dieser „lebendigen Erziehungstat“ kei- erlebte damals seinen Sonderfall von sozialre- ne Weltanschauungsschule beabsichtigt sei, viel- formatorischem Reformertum. (…) der Sinn für mehr die verschiedenen Konfessionen ungehin- das Spekulative, der im schwäbischen Volkstum dert ihren jeweiligen Religionsunterricht erteilen steckt, schien ihm vorübergehend Aussichten auf ­könnten. breitere Wirkung zu geben.“ 03 Der dann tatsächlich am 18. September 1919 Aber Steiner hatte einen umtriebigen Verbün- startende Schulbetrieb – vorher mussten erst deten: Der Industrielle Emil Molt, Inhaber der noch die Möbel geliefert werden – mit 256 Kin- prosperierenden Waldorf-Astoria-Zigarettenfa- dern sollte sich in den folgenden 100 Jahren als brik, war von Steiners Ideen überzeugt, ließ sei- Keimzelle einer eigentümlichen, weltumspannen- ne Beziehungen spielen und brachte seinen eige- den Bildungskonzeption erweisen. Zusammen nen Betrieb in die neu gegründete Gesellschaft mit der Montessori-Pädagogik dürfte die Wal- „Der kommende Tag“ ein. Diese „Aktiengesell- dorfschule das einflussreichste Erbstück der so- schaft zur Förderung wirtschaftlicher und geisti- genannten Reformpädagogik sein, und das welt- ger Werte“ wurde am 13. März 1920 gegründet. 04 weit. 06 Im Kontext der reformpädagogischen Vorsitzender des Aufsichtsrates war bis 1923 Ru- Bewegung stellt sie jedoch mindestens insofern dolf Steiner. Am 23. April 1919 schlug Molt auf einen Sonderfall dar, als ihr Spiritus Rector seine einer Betriebsratsversammlung die Gründung ei- pädagogische Konzeption gewissermaßen als Ne- ner Schule für die Kinder der Arbeiter vor. Die benprodukt einer ziemlich allumfassenden Le- Anwesenden waren begeistert. Danach ging alles bens-, Gesellschafts- und Weltbildreform angese- sehr schnell. 05 Molt kümmerte sich um die Ge- hen hatte und eher ein Universalquerdenker war nehmigung durch das Ministerium, kaufte das als ein Schulreformer. Die Waldorfpädagogik ist Café Uhlandshöhe als Schulgebäude und beauf- wohl auch insofern einzigartig, als es ihr gelungen ist, eine regelrechte Bildungskette zu etablieren,

01 Vgl. z. B. Bernhard Wördehoff, „Gegen Demokraten helfen nur die vom vorschulischen über den schulischen und Soldaten“, 23. 12. 2011, www.zeit.de/​1989/​25/gegen-​demokraten-​ außerschulischen Bereich inzwischen bis hinauf helfen- ​nur-​soldaten. Vgl. auch den Beitrag von Roland Müller in zu staatlich anerkannten Hochschulen reicht. dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 02 Vgl. Reinhard Sturm, Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19, RUDOLF STEINER in: Informationen zur Politischen Bildung Nr. 261/2011, Weima- rer Republik, www.bpb.de/​55949. ALS PRÄGENDE FIGUR 03 Theodor Heuss, Robert Bosch. Leben und Leistung, Tübingen 1946, S. 356. Zweifellos gehört Rudolf Steiner zu den inter- 04 Der Verbund aus einem guten Dutzend Unternehmen essantesten und gleichzeitig umstrittensten Per- musste schon 1925 im Zuge von Inflation und Wirtschaftskrise aufgelöst werden. Vgl. https://anthrowiki.at/Der_Kommende_​ T a g _ AG​ . 06 Vgl. Heiner Barz (Hrsg.), Handbuch Bildungsreform und Re- 05 Vgl. Heiner Barz, Kindgemäßes Lernen. Was die Waldorf- formpädagogik, Wiesbaden 2018 und ders., Reformpädagogik. schule anders macht, Freiburg/Br. 1996, S. 20 ff. Innovative Impulse und kritische Aspekte, Weinheim 2018.

27 APuZ 5–6/2021 sönlichkeiten an der Schwelle zwischen 19. und Schlüsselrolle für die Anthroposophie kommt 20. Jahrhundert. 07 Er hat in zahlreichen, ja fast der Waldorfpädagogik wohl aber dennoch allein allen Lebensbereichen bis heute sichtbare Spu- schon deshalb zu, weil die Anthroposophie da- ren hinterlassen, weil er schon zu Lebzeiten An- mit über eigene Sozialisationsinstitutionen zur hänger um sich scharte, die einerseits von ihm Traditionsweitergabe und Nachwuchsrekrutie- für die verschiedensten Herausforderungen neue rung verfügt. Auch wenn an Waldorfschulen nur Antworten erwarteten und die andererseits, an wenige Schüler aus anthroposophisch orientier- Steiners Anregungen anknüpfend, neue Bewe- ten Elternhäusern unterrichtet werden, so kann gungen auf den Weg brachten und über seinen doch andererseits nicht bestritten werden, dass Tod hinaus ausbauten. Dies gilt für die biolo- auch der Anthroposophie nahestehende Famili- gisch-dynamische Landwirtschaft, die mit De- en hier ein aus ihrer Sicht adäquates Bildungs- meter sozusagen das erste Gütesiegel lange vor angebot vorfinden. Somit dürfte die Anthro- der heutigen Öko- und Bio-Welle im Markt eta- posophie eine der wenigen weltanschaulichen blieren konnte. Es gilt für die anthroposophische Gruppierungen sein, die – ähnlich wie die katho- Medizin mit ihren eigenen Kliniken. Es gilt nicht lische Kirche – über eigene Bildungseinrichtun- weniger für die darauf aufbauende Heilmittel- gen für alle Altersgruppen auf allen Ebenen ver- und Naturkosmetik-Produktion von Firmen wie fügt. Zu diesen gehören mittlerweile nicht nur Weleda oder Hauschka. Es gilt für die „Chris- über 2000 Waldorfkindergärten und über 1000 tengemeinschaft“, die anthroposophische Vari- Waldorfschulen weltweit, sondern auch betrieb- ante einer christlichen Kirche, die von Friedrich liche Berufsausbildungsstätten, heilpädagogi- Rittelmeyer und anderen Theologen nach An- sche Einrichtungen, zahlreiche Lehrerbildungs- regungen Steiners 1922 gegründet wurde. Die und Kunstausbildungsstätten und nicht zuletzt Ideen der Dreigliederungsbewegung finden bis auch staatlich anerkannte private Hochschulen heute nicht nur ihren Niederschlag in Selbst- wie Deutschlands erste Privatuniversität Witten- verwaltungskonzepten etwa der Waldorfschu- Herdecke (gegründet 1982 von Konrad Schily), len, sondern auch bei so überraschenden Finanz- die Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn (seit marktakteuren wie der Bochumer GLS-Bank, 2002 staatlich anerkannt) oder die Freie Hoch- der „Gemeinschaftsbank für Leihen und Schen- schule in Stuttgart (seit 1999 staatlich anerkannt), ken“. Erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen wie in direkter Nachbarschaft zur Waldorfschule auf die expandierende Natur-Supermarktkette Al- der Uhlandshöhe. natura, Europas größte Drogeriemarktkette dm Auch wenn der Unternehmer Emil Molt durch oder die deutsche Nr. 2 nach SAP im Software- sein existenzielles Engagement in der schließlich Markt, die Software AG Stiftung, werden als an- scheiternden Dreigliederungsbewegung seinen throposophienah verortet. Man findet Steiners Betrieb und sein Vermögen verloren hatte, lässt Wirkungsgeschichte bei so epochalen Kunst-Re- sich festhalten: Mit der von ihm initiierten und in volutionären wie Wassily Kandinsky oder Jo- den ersten Jahren gemanagten Waldorfschule Uh- seph Beuys (beide beriefen sich explizit auf ihn). landshöhe hat er den Grundstein für ein weltum- Einen Platz in der Architekturgeschichte hat spannendes NGO-Konglomerat gelegt. In seiner Steiner spätestens mit dem Entwurf des zweiten Person wie in der Waldorfpädagogik verschmilzt Goetheanums in Dornach in der Schweiz, dem die sprichwörtliche schwäbische Tatkraft mit spi- weltweit ersten als Stahlbetonbau mit Sichtbe- rituellen Resonanzen, die vielleicht auch in der tonfassade ausgeführten Saalbau.­ im Raum Stuttgart stark präsenten pietistischen Die in der Öffentlichkeit am stärksten mit Werkfrömmigkeit eine Wurzel haben mögen: dem Namen Rudolf Steiner assoziierte Waldorf- „Stuttgart hat es sicher nicht unwesentlich dem schule mit der dort gepflegten Eurythmie ist im Zigarettenfabrikanten Molt zu verdanken, die Gesamtportfolio der anthroposophischen Ini- ‚weltliche Hauptstadt‘ der anthroposophischen tiativen und Organisationen also keineswegs Bewegung geworden zu sein.“ 08 so zentral wie es scheinen mag. Eine gewisse

08 Dietrich Esterl, Die erste Waldorfschule. Stuttgart Uhlands- 07 Vgl. ders., Rudolf Steiner und die Waldorfpädagogik, in: höhe, 1919 bis 2004. Daten – Dokumente – Bilder, Stuttgart Till-Sebastian Idel/Heiner Ullrich (Hrsg.), Handbuch Reformpäd- 2006, S. 44. Der eigentliche Hauptsitz der anthroposophischen agogik, Weinheim 2017, S. 117–131. Bewegung befindet sich übrigens in Dornach, Schweiz.

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Im Stuttgarter Osten 09 sind anthroposo- fen, oft der Fall ist. 10 Der Bewegung blieb der ei- phische Einrichtungen dementsprechend dicht gentliche Erfolg, nämlich die Verhinderung des gesät: Buchhandlung, Verlag, Demeter-Le- umweltpolitisch, verkehrstechnisch und wirt- bensmittel, das Eurythmeum, das Freie Jugend- schaftlich umstrittenen Großprojekts, versagt. seminar, die Freie Fachschule für Sozialpädago- Indessen lieferte der Konflikt um Stuttgart 21 gik, Haus Morgenstern, die Freie Hochschule die Schwungkraft, um die CDU-Vorherrschaft der Christengemeinschaft, die GLS Bank und in Baden-Württemberg nach 58 Jahren zu bre- anderes mehr. Dass die Waldorfpädagogik heu- chen: 2011 wurde mit Winfried Kretschmann te in Stuttgart gleich mit fünf Schulen ver- erstmals ein Grüner Ministerpräsident eines treten ist, während sie beispielsweise in ei- Bundeslandes. ner vergleichbar großen Landeshauptstadt wie In der Rückschau 11 zeigen sich eklatante Ver- Düsseldorf nur eine Schule betreibt, verwun- strickungen zwischen Politik, Medien und In- dert daher kaum. Dass die anthroposophische dustrie. Zuletzt wurde am 5. November 2020 Prägung der Stadt das Aufkommen von Pro- gemeldet, dass der ehemalige baden-württem- testbewegungen wie jener gegen „Stuttgart 21“ bergische Ministerpräsident Günther Oettinger erklären kann, darf gleichwohl skeptisch beur- in den Aufsichtsrat des Unternehmens Herren- teilt werden. knecht einzieht – also des Unternehmens, das mit seinen Tunnelbohrmaschinen zu den gro- STUTTGART 21 – ßen Profiteuren des Megaprojekts gehört. Oet- FEHLDEUTUNGEN tinger hatte sich unter anderem mit einer Fi- EINES WENDEPUNKTS nanzierungszusage über 950 Millionen Euro durch das Land für das S21-Projekt stark ge- Im Zusammenhang mit dem Protest ge- macht. Die „Stuttgarter Zeitung“, Teil der Süd- gen das gigantische Bahnhofs-Neubaupro- westdeutschen Medien Holding (SWMH), 12 die jekt „Stuttgart 21“ kam der schillernde Begriff 2008 wiederum ein Darlehen über 300 Millionen des „Wutbürgers“ in Mode, in dem sich eine Euro von der landeseigenen Landesbank Baden- Neujustierung des Verhältnisses von gesell- Württemberg erhalten hatte, stellte sich, gegen schaftskritischer Protestkultur und saturier- alle von renommierten Experten vorgebrach- tem Establishment ankündigte. Waren die Pro- ten Kritikpunkte, konsequent auf die Seite der testbewegungen der bundesrepublikanischen Projektbetreiber. Die großen Medien überbo- Vergangenheit, wie die 68er-Bewegung, die ten sich darin, die Protestierenden entweder als Anti-Vietnamkriegs- oder die Anti-Atomkraft- chancenlos zu belächeln oder aber als kriminell Demos, maßgeblich eher von Schülern und Stu- zu diffamieren. Ein Höhepunkt war der Kampf- denten getragen, schienen sich 2010 unter dem begriff des „Wutbürgers“ in einem „Spiegel“- Motto „Oben bleiben“ (gegen den Umbau zum Essay 2010 13 – gegenüber dem das andere, po- Tiefbahnhof gerichtet) auf einmal vor allem äl- sitive Etikett des „Mutbürgers“ weitgehend tere, wohlhabende und ansonsten eher konser- ignoriert wurde. 14 Denn während der Mutbür- vativ ausgerichtete Bevölkerungsgruppen zu ei- ger sich in der Tradition Kants bewegt – „Habe nem zähen Dauerprotest zusammenzufinden. den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu be- Sozialwissenschaftler weisen darauf hin, dass dienen“ –, wird dem Wutbürger alle Vernünf- hier exemplarisch ein Kulturkonflikt sichtbar geworden sei, in dem sich die Konfliktpartei- en nicht nach der simplen Logik „Betroffene vs. 10 Vgl. Albrecht Göschel, „Stuttgart 21“: Ein postmoderner Kul- Profiteure“ sortieren ließen – sondern in dem turkonflikt, in: Frank Brettschneider/Wolfgang Schuster (Hrsg.), Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, sich gerade Menschen gegen Eingriffe in ihre Wiesbaden 2013, S. 149–172, hier S. 152. Vgl. auch den Beitrag Lebenswelt wehrten, die selbst nicht materiell von Simon Teune in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). betroffen waren, wie das anderswo, etwa beim 11 Vgl. Arno Luik, Schaden in der Oberleitung. Das geplante Bau neuer Start- und Landebahnen auf Flughä- Desaster der Deutschen Bahn, Frank­furt/M. 2019. 12 Ihr gehört u. a. auch die Süddeutsche Zeitung. 13 Vgl. Dirk Kurbjuweit, Der Wutbürger, 11. 10. 2010, 09 Vgl. Kulturtreff Stuttgart Ost, Ostwege. Von Waldorf-Astoria www.spiegel.de/spiegel/​a-​724587.html. zur Waldorfschule, Stuttgart o. J. [ca. 2016], www.yumpu.com/de/ 14 Vgl. aber Barbara Supp, Die Mutbürger, 18. 10. 2010, document/view/​51493707. www.spiegel.de/spiegel/print/​d-74549707.html.

29 APuZ 5–6/2021 tigkeit abgesprochen und eine kurzsichtige, von den-Württemberg vorgelegt worden war, 20 laute- Emotionen gesteuerte, gleichsam kindisch-ego- te vielmehr: „Stimmen Sie der Gesetzesvorlage istische Aufgeregtheit unterstellt. Dass Stutt- ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungs- gart 21 ökologisch, ökonomisch und verkehrs- rechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für technisch ein Desaster werden würde, hatten in das Bahnprojekt Stuttgart 21‘ (S21-Kündigungs- den jahrelangen Auseinandersetzungen Zigtau- gesetz) zu?“ Man darf davon ausgehen, dass zu- sende Aktivisten immer wieder behauptet, und mindest größere Teile der Wählerschaft kein kla- Dutzende hochrangige Expertisen hatten die res Bild davon hatten, was ein „Ja“ oder „Nein“ Argumente sortiert: angefangen bei der Umge- zu dieser Frage hinsichtlich der Verwirklichung hung von Brandschutzstandards, die etwa der von S21 tatsächlich bedeutete. 21 Wer hier „Ja“ Brandschutzexperte Hans-Joachim Keim be- ankreuzte, war gegen S21, und wer „Ja zu S21“ klagte („Eine Katastrophe mit Ansage“ 15), über meinte, musste „Nein“ ankreuzen. Dass Kritiker die Reduzierung der Bahnhofsleistungsfähigkeit diese Ausgestaltung der Volksabstimmung min- (8 statt 16 Gleise und damit ein Rückbau statt destens als irreführend empfanden, ist gut nach- eines Ausbaus des Bahnverkehrsaufkommens) vollziehbar. bis zu den unkalkulierbaren Risiken des Tunnel- Dass sich inzwischen viele der Hauptver- baus durch Anhydritgestein, das beim Kontakt antwortlichen von S21 distanzieren und auf ein- mit Grundwasser aufzuquellen droht und die mal die alten Argumente der Gegner als „neuen darüber liegenden Gebäude beschädigen könn- Sachstand“ entdeckt haben, kommt manchem te. 16 Ursprünglich für 2,5 Milliarden Euro kal- zynisch vor. 2016 jedenfalls wird der damalige kuliert, rechnet der Bundesrechnungshof inzwi- Bahnchef Rüdiger Grube mit den Worten zitiert: schen mit Kosten über 10 Milliarden Euro – und „Ich habe Stuttgart 21 nicht erfunden und hätte dabei sind versteckte Kosten noch gar nicht ent- es auch nicht gemacht.“ 22 Und der neue Bahnchef halten, wie etwa die rund 3 Milliarden Euro teu- Richard Lutz sagt: „Mit dem Wissen von heu- re, aber unumgängliche Nachrüstung sämtlicher te würde man das Projekt nicht mehr bauen.“ 23 Züge und Strecken mit dem „European Train Ebenfalls umgefallen, freilich in die andere Rich- Control System“ (ETCS), weil es in den neuen tung, ist Ministerpräsident Kretschmann. Er hat- engen Tunneln keinen Platz für die traditionel- te vor der Landtagswahl 2011 davon gesprochen, len Licht-Signalanlagen gibt. 17 dass die Mitfinanzierung von S21 durch das Land Während sich die im März 2011 gewähl- Baden-Württemberg verfassungswidrig sei und te grün-rote Landesregierung für die von ihr im dass es mit ihm keine Fortsetzung des Verfas- November 2011 angesetzte S21-Volksabstim- sungsbruchs geben werde. Einmal im Amt sieht mung bescheinigt, ein „neues Kapitel der baden- sich Kretschmann an die unter falschen Voraus- württembergischen Demokratie“ aufgeschlagen setzungen abgehaltene Volkabstimmung gebun- zu haben, 18 sprechen Kritiker des S21-Projektes den – ansonsten schweigt er und muss in Kauf davon, dass es sich dabei um einen „Betrug am nehmen, dass Kritiker ihn an seinen eigenen Wor- Wähler“ gehandelt habe. 19 Denn gefragt wurde ten messen und des Verfassungsbruchs zeihen. nicht etwa: „Sind Sie für oder gegen S21?“ Die Frage, die nicht nur den Wahlberechtigten im 20 Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Denn dass sich Men- Raum Stuttgart, sondern den Wählern in ganz Ba- schen fernab von Stuttgart, sagen wir: in Lörrach oder in Lindau, über die fehlenden Brandschutzvorkehrungen im von Politik, Medien und Experten hochgelobten S21-Zukunftsprojekt nicht 15 Sicherheitsexperte beurteilt Brandschutz bei Stuttgart 21, allzu viel Gedanken machen würden, davon war auszugehen. 10.. 6 2018, www.stern.de/-8116488.html. 21 Vgl. Uwe Wagschal, Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 – 16 So ist es im schönen Städtchen Staufen im Zuge von Geo- ein direktdemokratisches Lehrstück?, in: ders./Ulrich Eith/Michael thermiebohrungen seit 2007 zu Hebungsrissen an Hunderten Wehner (Hrsg.), Der historische Machtwechsel: Grün-Rot in Baden- von Häusern gekommen. Württemberg, Baden-Baden 2013, S. 181–206, hier S. 183. 17 Vgl. Luik (Anm. 11), S. 41. 22 Bahnchef Grube distanziert sich von Stuttgart 21, 18 Vgl. Pressestelle der Landesregierung Baden-Württemberg, 25. 11. 2016, www.welt.de/regionales/baden-​wuerttemberg/ S21-Volksabstimmung ist neues Kapitel der baden-württembergi- article159762243. schen Demokratie, 14. 10. 2011, www.baden-​wuerttemberg.de/ 23 „Heute würde man Stuttgart 21 nicht mehr bauen“, de/service/alle-​meldungen/meldung/pid/s21-​volksabstimmung-​ 20.. 4 2018, www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/richard-​lutz-​ ist- ​neues-​kapitel-​der-​baden-​wuerttembergischen-​demokratie. h e u t e - ​w u e r d e - ​m a n - s​ t u t t g a r t - ​2 1 - ​n i c h t - ​m e h r - ​b a u e n - a​ - ​1 2 0 3 9 7 1 . 19 Vgl. Luik (Anm. 11), S. 68. html.

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Dass der Ruf Baden-Württembergs als „deut- Tausende von Bürgern, die ihren Protest gegen sches Mutterland der direkten Demokratie“ 24 die Einschränkung von grundgesetzlich garan- sich durch dieses brachial durchgesetzte und mit tierten Rechten im Rahmen der Corona-Bekämp- Scheinargumenten und fragwürdigen Verfah- fung zum Ausdruck bringen wollten. Bundesweit ren legitimierte Symbolprojekt gefestigt hat, darf entstand in den folgenden Wochen ein loser Ver- mit Fug und Recht bezweifelt werden. Sympto- bund von „Querdenken“-Initiativen, die jeweils matisch ist womöglich eher, dass hier die Grü- die Telefonvorwahl im Namen tragen: „Querden- nen erstmals den Rubikon überschritten haben: ken 731“ (Ulm), „Querdenken 761“ (Freiburg), Durch einen zweifelhaften Volksentscheid ver- „Querdenken 30“ (Berlin) und andere mehr. halfen sie dem desaströsen S21-Projekt erst zum Am 1. und 31. August 2020 fanden, organi- Durchbruch. Was den Bahnhofsbau angeht, ste- siert von „Querdenken 711“, in Berlin große hen sie mit Sicherheit nicht mehr dort, wo sie ei- Demonstrationen statt, für die bundesweit mo- gentlich herkommen – nämlich auf der Seite de- bilisiert wurde. Während in der Medienberichter- rer, die gegen ökologischen Irrsinn und staatliche stattung vielfach vor allem die Anwesenheit von Willkür protestieren. Stattdessen sitzen sie heute Rechtsextremen, Reichsbürgern und Verschwö- insbesondere in Baden-Württemberg in Rathäu- rungstheoretikern betont wurde, 26 hielt der Ver- sern und Gesundheitsministerien und verhän- fassungsschutz gegenüber der „Frankfurter All- gen Ausgangs- und Demonstrationsverbote über gemeinen Sonntagszeitung“ zur Demonstration die Bevölkerung. Dass ausgerechnet die Initiato- am 1. August in Berlin fest, dass von Rechtsex- ren des S21-Projekts einst die Drehung des alten tremen kein „prägende[r] Einfluss auf den De- Kopfbahnhofs um 90 Grad als Durchgangsbahn- monstrationszug oder die Gesamtkundgebung“ hof unter dem Motto „Quer-Denken“ angeprie- ausgegangen sei. 27 Ein Forscherteam um den Bas- sen hatten, wird freilich von den „Querdenkern“ ler Soziologen Oliver Nachtwey hat im Dezem- der Corona-Krise kaum einer wissen. ber 2020 zudem die Ergebnisse einer explorativen Online-Befragung von 1152 Querdenker-Akti- QUERDENKEN 711 – visten vorgelegt. 28 Demnach rekrutieren sich die QUER ZUM Teilnehmer eher aus dem links-grünen Spektrum: RECHTS-LINKS-SCHEMA? Bei der letzten Bundestagswahl haben nach die- sen Zahlen 23 Prozent die Grünen, 18 Prozent die Zuletzt hat sich im Zuge der Corona-Krise in Linke gewählt. Die AfD folgt mit 15 Prozent erst Stuttgart die Initiative „Querdenken 711“ als auf Platz 3 der Parteipräferenzen (CDU/CSU: bundesweit auffälligste Protestbewegung ge- 10 Prozent, FDP: 7 Prozent, SPD: 6 Prozent, Die gen freiheitseinschränkende Maßnahmen gebil- Partei: 4 Prozent). det. Mit dem Unternehmer Michael Ballweg an Berührungspunkte zwischen „Querdenkern“ der Spitze – Selbstcharakteristik: „Unternehmer, und Anthroposophen – und damit auch Men- Querdenker, Familienmensch, Hundebesitzer“ –, schen, die früher zur Kernklientel der Grünen ge- organisierte „Querdenken“ am 18. April 2020 hörten, weil sie alternative Heilmethoden, Medi- eine erste Demonstration mit 50 angemeldeten tation und östliche Spiritualität für sich entdeckt Teilnehmern, deren Genehmigung erst per Eil­ haben – scheinen naheliegend. So hat die anthro- entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht posophienahe Zeitschrift „Kernpunkte“ im Au- gegen das ursprüngliche Verbot durch die Stadt gust 2020 eine Sonderausgabe zur Initiative Quer- Stuttgart erstritten werden musste. 25 Die späte- ren Kundgebungen, die vom Stuttgarter Schloss- platz wegen der großen Teilnehmerzahlen auf den 26 Zwei Beispiele: Wieder Fake News zu Demonstrationen, 30.. 8 2020, www.tagesschau.de/faktenfinder/berlin-​corona-​ Cannstatter Wasen verlegt wurden, besuchten demo- ​103.html; „Querdenken 711“ – Wer ist die Demogruppe aus Stuttgart?, 2. 9. 2020, www.br.de/nachrichten/deutschland-​welt/ querdenken- 7​ 1 1 - w​ e r - ​i s t - ​d i e - ​demogruppe- ​a u s - ​s t u t t g a r t , ​S 9 L e I F v . 24 Matthias Fatke/Markus Freitag, Zuhause statt oben bleiben. 27 Wenige Rechtsextreme bei Corona-Demo, 8. 8. 2020, Stuttgart 21 und die direkte Demokratie in Baden-Württemberg, www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-​demo-​nur-​einzelne-​ in: Wagschal/Eith/Wehner (Anm. 21), S. 207–228, hier S. 211. rechtsextreme-​16894746.html. 25 Vgl. Demonstration trotz Corona in Stuttgart – Gericht 28 Vgl. Oliver Nachtwey/Robert Schäfer/Nadine Frei, Politische kippt Verbot, 18. 4. 2020, www.swr.de/swraktuell/baden-​wuert- Soziologie der Corona-Proteste. Grundauswertung, Universität temberg/bundesverfassungsgericht-​demo-​verbot-​100.html. Basel, 17. 12. 2020, https://doi.org/​10.​31235/osf.io/zyp3f.

31 APuZ 5–6/2021 denken veröffentlicht, in der Michael Ballweg und xistischen und der atheistisch-rationalistischen seine auf meditative Selbsterkenntnis gründen- Strömungen des 19. Jahrhunderts auch der na- de Motivation einen breiten Raum einnehmen. 29 turphilosophische Monismus eines Ernst Häckel Biografische Verbindungen von Ballweg zur Wal- als Spielart des Freidenkertums gilt und letzterer dorfpädagogik werden gleichwohl nicht berichtet. eine wichtige Inspirationsquelle für die Anthro- Allerdings sah sich der Bund der Freien Waldorf- posophie Rudolf Steiners darstellte, erscheint es schulen bereits im Juni 2020 dazu veranlasst, sich durchaus berechtigt, auch die Waldorfpädagogik von Verschwörungstheorien im Zusammenhang in dieser Tradition zu sehen.“ 31 mit der Covid-19-Pandemie zu distanzieren. 30 Ob Stuttgart wirklich den Titel einer „Haupt- stadt des Nonkonformismus“ beanspruchen kann, QUERDENKER muss offen bleiben. Gleichwohl lohnt sich der UND FREIDENKER Blick auf die dortigen Anfänge der Waldorfpäda- gogik und der Anthroposophie sowie ihrer Ver- Ihrem Selbstverständnis nach will die Anthropo- bindungen zu heutigen Protestbewegungen wie sophie, auf deren Menschenbild die Waldorfpäd- „Stuttgart 21“ oder „Querdenken“. Ob dies nun agogik aufgebaut ist, keine Bekenntnis-, sondern als Freidenker- oder Querdenkertum verstanden eine Erkenntnisgemeinschaft sein. Ob man den wird, liegt vielfach im Auge des Betrachters.­ Anspruch, nicht durch einen gemeinsamen Glau- ben, sondern durch undogmatisches Streben nach HEINER BARZ Wissen verbunden zu sein, in jedem real existie- ist Professor für Erziehungswissenschaft und leitet renden Exemplar dieser Weltanschauung ver- die Abteilung für Bildungsforschung und Bildungs- wirklicht findet, steht auf einem anderen Blatt. management an der Heinrich-Heine-Universität Der Anspruch jedenfalls ist, dass sich hier eine Düsseldorf. Orientierungssuche ohne Scheuklappen Bahn ge- [email protected] brochen habe, die Ost und West, Tradition und Technik, Innenschau und Welterkenntnis zusam- menführen will zu einem umfassenden Bild der Welt. Damit ist ein klassischer Ansatz der Frei- denker formuliert, dessen Durchsetzungsfähig- keit und Fortbestehen in schwäbischer Kulisse für die gesamte Bundesrepublik eine Bereiche- rung ist – oder doch zumindest sein kann. Das Standardwerk der protestantischen Theologie, „Religion in Geschichte und Gegen- wart“, definiert Freidenker jedenfalls vielfach an- schlussfähig: „Ursprünglich für die deistische (im Unterschied zur theistischen) Lehre gebraucht, bezeichnet der Begriff der Freidenker (freethin- kers, libres penseurs) eine Denkschule, die ‚in Glaubenssachen jede Unterwerfung unter eine traditionelle Autorität ablehnt und für sich das Recht zur freien Meinungsbildung beansprucht.‘ (…) Insofern im Umkreis der sozialistisch-mar-

29 Vgl. Kernpunkte 10/2020, https://kernpunktecom.files. wordpress.com/​2020/​08/kernpunkte-​no.-​102020.pdf. 30 Vgl. Bund der Freien Waldorfschulen für einen faktenbasier- ten Diskurs zur Covid-19-Pandemie, 22. 6. 2020, www.waldorf- schule.de/artikel/bund-der-freien-waldorfschulen-fuer-einen- faktenbasierten-diskurs-zur-covid-19-pandemie-an-schulen. 31 Kurt Hutten, Freidenker, in: Kurt Galling (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Tübingen 19863, Sp. 1093–1096.

32 Stuttgart APuZ

INTEGRATION DURCH ERWERBSARBEIT Voraussetzungen, Herausforderungen und die Rolle der Kommunen

Claudia Diehl · Bentley Schieckoff

Wie fortgeschritten die Arbeitsmarktintegration hängig von der Definition von Integration immer von Einwanderern ist, welche Faktoren sie hem- von der jeweiligen Fragestellung ab. Hier kann men oder fördern, und welchen Beitrag Kommu- zwischen „Ausländern“, das heißt: Personen mit nen leisten können, um der Benachteiligung vie- ausländischem Pass, und Inländern im rechtlichen ler Einwanderer am Arbeitsmarkt zu begegnen, Sinn unterschieden werden. Häufig interessiert sind Fragen, die Wissenschaft, Politik und Gesell- man sich aber auch unabhängig von der Staatsbür- schaft seit Langem beschäftigen. Wir versuchen gerschaft allgemeiner für Personen mit „Migrati- im Folgenden eine Antwort, indem wir zunächst onshintergrund“ und grenzt diese von Personen den schillernden Begriff der „Integration“ präzi- ab, deren Eltern schon in Deutschland geboren sieren und – mit einem besonderen Fokus auf der wurden. Migrationshintergrund bedeutet, dass Stadt Stuttgart – die Gruppen näher beschreiben, jemand entweder selbst aus dem Ausland nach die derzeit das Integrationsgeschehen prägen. An- Deutschland eingewandert ist (die sogenannte ers- schließend diskutieren wir die Faktoren, die die te Einwanderergeneration) oder in Deutschland Arbeitsmarktintegration von Eingewanderten als Kind eines zugewanderten Elternteils geboren und ihren Nachkommen fördern oder hemmen wurde (die sogenannte zweite Einwandererge- können, um abschließend, wiederum am Beispiel neration), die deutsche Staatsbürgerschaft durch Stuttgarts, Ansatzpunkte zur Förderung ihrer In- Einbürgerung erworben hat oder als ethnische/r tegration auf kommunaler Ebene vorzustellen. 01 Deutsche/r („Spätaussiedler“) nach Deutschland gekommen ist. Diese auch in der amtlichen Sta- WAS BEDEUTET tistik verwendete Abgrenzung wird bisweilen kri- EIGENTLICH INTEGRATION? tisch betrachtet, weil sie das „Anderssein“ oder das „nicht wirklich Dazugehören“ selbst von hier Der Begriff „Integration“ wird im wissenschaftlichen geborenen Personen betont. Allerdings lässt sich Diskurs nicht einheitlich verwendet. Im Bereich der hier anführen, dass die Erfahrung von Migration – empirisch-quantifizierenden Forschung wird darun- sei es der eigenen Person oder der eigenen Eltern ter häufig das Ausmaß verstanden, in dem Einwan- – häufig ein lebenschancenprägendes Ereignis dar- derer das Wissen und die Fähigkeit besitzen, ein er- stellt. Eine Unterscheidung zwischen Personen folgreiches Leben im Zielland zu führen. 02 Empirisch mit und ohne Migrationshintergrund kann daher wird dabei untersucht, inwieweit eine Angleichung sinnvoll und gerechtfertigt sein, nicht zuletzt, um von Mehrheits- und Minderheitenangehörigen im anhaltende Benachteiligungen zu identifizieren. Hinblick auf die Verteilung bestimmter Merkmale Innerhalb des Personenkreises mit Migrations- stattgefunden hat. In anderen Definitionen von Inte- hintergrund kann weiter zwischen verschiedenen gration wird der Blick stärker auf die Aufnahmege- Herkunftsgruppen oder Herkunftsregionen wie sellschaft gerichtet und das Moment der „Teilhabe“ etwa EU-Migranten und Drittstaatenangehörigen betont. Dabei liegt der Fokus weniger auf den Merk- unterschieden werden. malen der Zugewanderten selbst als vielmehr auf den In empirischen Studien zum Integrationsge- gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Integra- schehen werden verschiedene Integrationsdimen- tion fördern oder erschweren können. sionen unterschieden; eine zweifellos als wün- Wer genau dabei zur Mehrheitsgesellschaft schenswert erachtete „Angleichung“ zwischen oder zur Minderheit gezählt wird, hängt unab- Personen mit und ohne Migrationshintergrund

33 APuZ 5–6/2021 im Hinblick auf ihre Situation auf dem Woh- Ziellandes zu sprechen, Kontakte mit Einheimi- nungs- und Arbeitsmarkt oder im Bildungssys- schen zu knüpfen und geteilte Werte, Normen und tem („strukturelle Integration“) kann zunächst Bräuche kennenzulernen, eine wichtige Rolle. Es einmal unabhängig von dem Erlernen einer neu- gibt aber auch den umgekehrten Zusammenhang: en Sprache („kognitive Integration“), dem Knüp- Sprachkenntnisse, Kontakte und auch normative fen von Kontakten zu Einheimischen („sozia- Orientierungen fördern den Einstieg in und den le Integration“) oder der Identifikation mit dem Aufstieg am Arbeitsmarkt. 05 Im Folgenden soll Zielland („identifikative Integration“) betrach- gezeigt werden, wie es um die Arbeitsmarktinte- tet werden. 03 Gerade im Hinblick auf die letzt- gration von Einwanderern in Deutschland im All- genannten Integrationsdimensionen wird weder gemeinen und, soweit es die vorhandenen Daten davon ausgegangen, dass Integration eine völ- zulassen, in Stuttgart im Besonderen steht. lige Angleichung von Einwanderern und Ein- heimischen bedeutet, noch wird diese als wün- INTEGRATIONSGESCHEHEN schenswert betrachtet. Integration, so wird in der IN DEUTSCHLAND – reformulierten Assimilations- oder Integrations- UND IN STUTTGART forschung vielmehr argumentiert, markiert nicht einen bestimmten Grad an Ähnlichkeit, sondern In der Bundesrepublik leben derzeit gut 1,6 Mil- eine graduelle Veränderung in Richtung einer lionen Personen mit Migrationshintergrund, dies größeren Ähnlichkeit. 04 Der Begriff der „Integra- entspricht etwa 20 Prozent der Wohnbevölke- tion“ wird im deutschsprachigen Raum dem der rung Deutschlands. Viele Einwanderer wohnen „Assimilation“ vorgezogen, weil er als weniger bereits recht lange im Land, die durchschnittliche normativ und vorbelastet wahrgenommen wird. Aufenthaltsdauer der EU-Bürgerinnen und -Bür- Dies gilt insbesondere für politiknahe Diskurse. ger mit ausländischer Staatsangehörigkeit beträgt Der Bereich der strukturellen Integration gilt 23 Jahre, die der Einwanderer aus der Türkei so- aus der Perspektive der Ungleichheitsforschung gar rund 32 Jahre. 06 Mit 43 Prozent lebt ein gro- als besonders wichtig, gerade weil in vielen westli- ßer Teil der Personen mit Migrationshintergrund chen Einwanderungsländern ein substanzieller Teil in Großstädten. 07 Der Integrationsdynamik dort der Migrantinnen und Migranten ein niedriges Bil- gebührt daher ein besonderes Interesse. dungsniveau aufweist. Bildung und Beruf sind wie- In Stuttgart hatten 2019 rund 45 Prozent der derum entscheidend für Lebenschancen in anderen Bevölkerung einen Migrationshintergrund (1999 Bereichen, von der Lebenserwartung bis hin zur waren es noch 36 Prozent) 08, das heißt, es gibt Lebenszufriedenheit. Es spricht auch viel dafür, fast ebenso viele Stuttgarterinnen und Stuttgar- dass eine erfolgreiche Teilhabe am Arbeitsmarkt ter mit Migrationshintergrund wie solche ohne. die sprachliche, soziale und identifikative Integra- Rund 43 Prozent der erstgenannten Gruppe sind tion fördert. Hier spielen die mit der Erwerbsar- Deutsche. Die meisten haben den deutschen Pass beit verbundenen Gelegenheiten, die Sprache des durch Einbürgerung erhalten, bei einem kleine- ren Teil handelt es sich um als „ethnisch Deut- sche“ zugewanderte Spätaussiedler. Im Diskurs 01 Für ihre engagierte Mitarbeit bei der Erstellung dieses des klassischen Einwanderungslands USA wird Manuskripts danken wir Julia Magold, für die Bereitstellung wichtigen Informationsmaterials und vieler Hintergrundinfor- mationen Ayşe Özbabacan, der Integrationsbeauftragten der 05 Vgl. Ruud Koopmans, Does Assimilation Work? Sociocultural Landeshauptstadt Stuttgart. Für etwaige Unzulänglichkeiten in Determinants of Labour Market Participation of European Muslims, der Darstellung sind alleine wir verantwortlich. in: Journal of Ethnic and Migration Studies 2/2016, S. 197–216. 02 Vgl. Niklas Harder et al., Multidimensional Measure of 06 Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätig- Immigrant Integration, in: Proceedings of the National Academy keit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mik- of Sciences of the United States of America (PNAS) 45/2018, rozensus 2019, Fachserie 1, Reihe 2.2, Wiesbaden 2020, S. 106. S. 11483–11488, hier S. 11484. 07 Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integra- 03 Vgl. Hartmut Esser, Pluralisierung oder Assimilation? Effekte tion und Migration, Steuern, was zu steuern ist. Was können der multiplen Inklusion auf die Integration von Migranten, in: Einwanderungs- und Integrationsgesetze leisten? Jahresgutach- Zeitschrift für Soziologie 5/2009, S. 358–378. ten 2018, Berlin 2018, S. 130. 04 Vgl. Rogers Brubaker, The Return of Assimilation? Changing 08 Alle Angaben zu Stuttgart beruhen auf eigenen Berechnun- Perspectives on Immigration and Its Sequels in France, gen auf Grundlage von Daten aus der Komunis-Datenbank, dem and the United States, in: Ethnic and Racial Studies 4/2001, digitalen Informationssystem des Statistischen Amts Stuttgarts. S. 531–548, hier S. 534. www.domino1.stuttgart.de/web/komunis/komunissde.nsf.

34 Stuttgart APuZ aus solchen Zahlenverhältnissen zwischen „Min- Zusammensetzung nach Herkunftsländern hete- derheit“ und „Mehrheit“ schnell geschlossen, rogener geworden, sondern auch bezüglich ih- dass es bald keine „white majority“ mehr gebe res Qualifikationsniveaus. So ist der Anteil derer, beziehungsweise die Mehrheit zur Minderheit die über einen tertiären Bildungsabschluss verfü- würde. 09 Diese Sichtweise greift aber zu kurz, gen, nicht nur im Zeitverlauf deutlich angestie- schließlich ist ein zunehmender Teil der Personen gen. 12 Er ist auch in der zweiten Einwandererge- mit Migrationshintergrund in Deutschland auf- neration höher als bei den Eingewanderten selbst. gewachsen und wurde dort sozialisiert. Treffen- Dennoch zeigen sich immer noch deutliche Un- der wäre also die Beschreibung, dass die Mehrheit terschiede im Hinblick auf die Integration im Bil- bunter und vielfältiger wird – und sich durch neu dungssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Dies gilt Zugewanderte ständig weiter wandelt. für verschiedene Indikatoren wie etwa die beruf- Heute prägen verschiedene Gruppen die in liche Stellung, 13 das Einkommen 14 oder das Risi- Deutschland lebende Bevölkerung mit Migrati- ko, arbeitslos zu sein. 15 onshintergrund, vor allem die als sogenannte Gast- In Stuttgart setzt sich die Bevölkerung mit arbeiter Zugewanderten und ihre Nachkommen, Migrationshintergrund aus vielen verschiede- die ethnisch deutschen Spätaussiedler und die im nen Nationalitäten zusammen. Die größten Aus- Zuge der EU-Osterweiterung nach Deutschland ländergruppen waren 2019 Personen mit einer Gezogenen. Hochqualifizierte Einwanderer sowie Staatsbürgerschaft der Nachfolgestaaten Jugosla- die in vielen Fällen lediglich temporär in Deutsch- wiens, gefolgt von Türken und Italienern. Auch land lebenden und Freizügigkeit genießenden EU- hier dominieren also die ursprünglich als soge- Bürger werden im öffentlichen Diskurs häufig gar nannte Gastarbeiter in die Industriestadt Stutt- nicht als Einwanderer wahrgenommen. Sie wer- gart gezogenen Herkunftsgruppen und ihre den eher als „international Mobile“ betrachtet, de- Nachkommen. Spätestens in den 1980er Jahren ren Integration nicht weiter thematisiert oder gar haben bei diesen Herkunftsgruppen allerdings fa- problematisiert wird. 10 In den Jahren 2015 und miliäre Migrationsmotive an Bedeutung gewon- 2016 kamen viele Geflüchtete aus Asien und dem nen, ab den 1990er Jahren die Fluchtmigration, Nahen und Mittleren Osten (vor allem aus Syrien) etwa aus den Krisengebieten des Balkans, und ab und aus afrikanischen Ländern (vor allem aus Eri- 2000 die Zuwanderung im Zuge der EU-Perso- trea) nach Deutschland, deren Integrationsprozess nenfreizügigkeit. Personen aus Polen etwa ma- noch am Anfang steht, aber auf einem guten Weg 11 ist. Im Mittelpunkt der Integrationsforschung 12 Für Deutschland insgesamt vgl. Maximilian Sprengholz steht vor allem die erstgenannte Gruppe der Gast- et al., From „Guestworkers“ to EU Migrants. A Gendered View arbeiter und ihrer Nachkommen. Sie prägt auch on the Labor Market Integration of Different Arrival Cohorts in den „deutschen Blick“ auf das Thema Migration Germany, in: Michaela Kreyenfeld et al. (Hrsg.), Employment and Family Behaviour after Migration. The Experience of First – nicht nur der Forschenden, sondern auch der Generation Female Migrants, Journal of Family Research, Spe- Allgemeinbevölkerung. Da im Rahmen der Gast- cial Issue 2021 (i. E.). arbeiterrekrutierung überwiegend gering Qualifi- 13 Für Türkeistämmige und Personen mit Wurzeln im ehemali- zierte angeworben wurden, wird in Deutschland gen Jugoslawien vgl. Claudia Diehl/Nadia Granato, Germany: Einwanderung häufig mit „Integrationsproble- Intergenerational Inequalities in the Education System and the Labour Market for Native-born Children of Immigrants from men“ in Verbindung gebracht. Turkey and the Former Yugoslavia, in: Organisation für wirt- Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Catching ist allerdings seit dem Zuzug der Gastarbeiterin- Up? Country Studies in Intergenerational Mobility and Children nen und Gastarbeiter nicht nur hinsichtlich ihrer of Immigrants, Paris 2018, S. 71–92. 14 Vgl. Yann Algan et al., The Economic Situation of First and Second-Generation Immigrants in France, Germany and the 09 Vgl. Richard Alba, The Great Demographic Illusion. Majori- United Kingdom, in: The Economic Journal 542/2010, S. F4–F30; ty, Minority, and the Expanding American Mainstream, Princeton Zerrin Salikutluk et al., The Situation of Female Immigrants on 2020. the German Labour Market. A Multi-Perspective Approach, 10 Vgl. Thomas Faist, The Mobility Turn. A New Paradigm SOEP Papers on Multidisciplinary Panel Data Research for the Social Sciences?, in: Ethnic and Racial Studies 11/2013, 1072/2020. S. 1637–1646. 15 Vgl. Renee R. Luthra, Explaining Ethnic Inequality in the 11 Vgl. Herbert Brücker et al., Geflüchtete machen Fortschritte German Labor Market. Labor Market Institutions, Context of bei Sprache und Beschäftigung, Deutsches Institut für Wirtschafts- Reception, and Boundaries, in: European Sociological Review forschung, DIW Wochenbericht 4/2019, S. 55–70. 5/2013, S. 1095–1107.

35 APuZ 5–6/2021 chen in Stuttgart nur einen kleinen Teil von un- che eine wichtige Voraussetzung. 18 Hinsichtlich ter 3 Prozent der ausländischen Bevölkerung aus. der sozialen Netzwerke hat sich gezeigt, dass Obwohl sich das Zuzugsgeschehen nach Stutt- Kontakte zu Mehrheitsangehörigen hilfreicher gart derzeit diversifiziert, ist die „Bestandsbevöl- sind als Kontakte zu anderen Migrantinnen und kerung“ also noch stark von den ursprünglich als Migranten, da sie etwa den Zugang zu Informa- Gastarbeiter zugezogenen Herkunftsgruppen ge- tionen über berufliche Möglichkeiten und freie prägt. Dies schlägt sich auch in ihrem Qualifika- Stellen erleichtern. 19 Schließlich ist die individu- tionsniveau nieder. Laut Zensus 2011 hatten bei- elle Motivation zur Erwerbstätigkeit und zur Su- spielsweise 18 Prozent der Stuttgarterinnen und che nach einem Arbeitsplatz ein Aspekt, der be- Stuttgarter mit Migrationshintergrund keinen rücksichtigt werden muss, gerade wenn es um die Schulabschluss; bei Deutschen ohne Migrations- Arbeits­marktintegration­ von Frauen geht. Auf- hintergrund war dies nur bei 2 Prozent der Fall. 16 grund traditioneller Vorstellungen, die den Mann Auch in Stuttgart ist Arbeitslosigkeit unter Aus- als „Brotverdiener“ verstehen, sind männliche ländern deutlich weiter verbreitet als unter Deut- Zuwanderer nach Ankunft für gewöhnlich hoch schen. 2019 waren rund 45 Prozent der arbeitslos motiviert, Arbeit zu suchen. 20 Ob weibliche Ein- gemeldeten Personen in Stuttgart im rechtlichen wanderer auf dem Arbeitsmarkt überhaupt aktiv Sinne Ausländer. Da der Anteil der Ausländer an werden, hängt auch von im Herkunftsland gel- den Personen mit Migrationshintergrund aber tenden Geschlechternormen ab. 21 Die Erwerbstä- nur bei etwas mehr als der Hälfte liegt, ist das Ri- tigkeit von Frauen wirkt sich nicht nur positiv auf siko von Stuttgarterinnen und Stuttgartern ohne das Haushaltseinkommen und ihre eigene Unab- deutschen Pass, arbeitslos zu sein, etwa doppelt hängigkeit aus, sondern auch auf ihre Kinder. So so hoch wie das der „Passdeutschen“. besuchen die Kinder berufstätiger Mütter häufi- ger und früher eine Betreuungseinrichtung als die WAS FÖRDERT, WAS HEMMT Kinder nicht-berufstätiger Mütter, was wiederum DIE ARBEITSMARKTINTEGRATION? ihren Spracherwerb und Bildungserfolg fördert. 22 Auch der Aufnahmekontext spielt eine wichti- Fragt man nach den Faktoren, die die Arbeits­ ge Rolle für die Arbeitsmarktintegration. Hierun- markt­integration von Eingewanderten und ihren ter sind zum einen die allgemeinen Merkmale des Nachkommen beeinflussen, lassen sich zwei wich- Arbeitsmarkts zu verstehen. Wie gut gelingt gene- tige Ebenen unterscheiden. Zum einen sind hier rell der Einstieg in den Arbeitsmarkt für Personen, die Merkmale der Migrantinnen und Migranten die ihren Bildungsabschluss im Ausland erworben selbst zu nennen, zum anderen die Charakteristi- haben? Andere Merkmale des Arbeitsmarkts, wie ka des Aufnahmekontexts. Bei Letzterem ist nicht nur an die nationalen, sondern auch an die kom- 18 Vgl. Eric Schuss, The Impact of Language Skills on Immig- munalen Integrationsbedingungen zu denken. rants’ Labor Market Integration. A Brief Revision With a New Die Ressourcen und Motivationen der Mi- Approach, in: The B. E. Journal of Economic Analysis & Policy granten selbst haben entscheidenden Einfluss 4/2018, S. 1–19. auf die Arbeitsmarktintegration. Aus ihrem Her- 19 Vgl. Bram Lancee/Anne Hartung, Turkish Migrants and kunftsland bringen sie Fähigkeiten und Wissen Native Germans Compared. The Effects of Inter-Ethnic and Intra-Ethnic Friendships on the Transition from Unemployment to mit, dazu zählen Bildungsabschlüsse und Berufs- Work, in: International Migration 1/2012, S. 39–54. erfahrung. Diese Faktoren werden oft als „Hu- 20 Vgl. Marvin Bürmann et al., Beschäftigung und Bildungsin- mankapital“ bezeichnet. 17 Weitere Ressourcen vestitionen von Geflüchteten in Deutschland, DIW Wochenbe- sind die Fähigkeiten in der Sprache des Einwan- richt 42/2018, S. 919–928. derungslandes und soziale Netzwerke. Um Ar- 21 Vgl. Francine D. Blau, Immigrants and Gender Roles. Assimi- lation vs. Culture, Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, IZA beit zu finden, ist das Erlernen der neuen Spra- Discussion Paper 9534/2015; dies./Lawrence M. Kahn/Kerry L. Papps, Gender, Source Country Characteristics and Labour 16 Vgl. Inge Heilweck-Backes, Deutsche und nichtdeutsche Market Assimilation Among Immigrants 1980–2000, National Arbeitslose in den Stuttgarter Stadtbezirken 2013, Statistik und Bureau of Economic Research Working Paper 14387, Cam- Informationsmanagement, Monatsheft 5/2014, Stuttgart 2014, bridge, MA 2008. S. 8. 22 Vgl. Frauke H. Peter/​C. Katharina Spieß, Kinder mit 17 Vgl. Gary S. Becker, Human Capital: A Theoretical and Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen und Horten. Empirical Analysis with Special Reference to Education, Chicago Unterschiede zwischen den Gruppen nicht vernachlässigen!, 1993. DIW Wochenbericht 1–2/2015, S. 12–22.

36 Stuttgart APuZ etwa die Arbeitslosenquote, können sich regio- de auf der kommunalen Ebene, auf der Integration nal stark unterscheiden. Sie beeinflussen nicht nur, letztlich stattfindet. 26 In Stuttgart wurde diese He- wie erfolgreich die Jobsuche ist, sondern auch das rausforderung schon 2001 im Rahmen des „Stutt- Ausmaß an ethnischer Diskriminierung, das ar- garter Bündnis für Integration“ angenommen. 27 beitssuchende Migrantinnen und Migranten oder Bei vielen Neuzuwanderern erschweren feh- Personen mit Migrationshintergrund erfahren. lende oder nicht ausreichende deutsche Sprach- Diese sind bei der Jobsuche oft weniger erfolg- kenntnisse den Einstieg in den Arbeitsmarkt. reich – selbst, wenn sie hoch motiviert sind, ähn- Hier besteht ein wichtiger Ansatzpunkt für po- liche Qualifikationen wie Einheimische aufwei- litische Interventionen. In Deutschland ist das sen und sich auf ähnliche Stellen bewerben. Auf Sprachkursangebot bereits sehr umfangreich, der Herkunft basierende Diskriminierung bei der auch berufsbezogene Sprachkurse werden ange- Einstellung wurde in vielen experimentellen Stu- boten. 28 Sprachkurse, gerade in Kombination mit dien erforscht. Dazu werden fiktive Bewerbun- Integrationskursen, bieten auch die Gelegenheit, gen, die sich nur durch die – anhand des Namens etwas über die Regeln, Normen und Bräuche des oder eines Fotos angedeutete – Herkunft der Be- Ziellandes zu lernen. Deren Übernahme kann werberin oder des Bewerbers voneinander unter- freilich nicht in Kursen verordnet werden, sie er- scheiden, auf dieselbe Stellenausschreibung einge- folgt wohl am ehesten in der Alltagsinteraktion reicht. In einer Studie zur Diskriminierung beim auf Grundlage gegenseitiger Akzeptanz. Zugang zu Praktikumsstellen fanden Forscher he- Um Neuzugewanderte zu erreichen, ist der ein- raus, dass gebürtige Deutsche häufiger Rückmel- fache Zugang zu Informationen entscheidend. In dungen bekamen als türkische Bewerber, sowohl Stuttgart sind diese auf einer zentralisierten Platt- bei Frauen als auch bei Männern. 23 Ein deutlicher form zumindest auf Deutsch und Englisch ver- Nachteil wurde auch bei Bewerbungen von Frau- fügbar. Hier finden Neubürgerinnen und -bürger en festgestellt, die auf ihrem Foto im Lebenslauf Informationen darüber, wie man sich behördlich ein Kopftuch trugen. 24 Insgesamt zeigen allerdings registriert, eine Wohnung und Kinderbetreuung international vergleichende Studien, dass Arbeits- findet, die „mitgebrachten“ Qualifikationen aner- marktdiskriminierung in Deutschland – etwa im kennen lässt und an Deutschkursen teilnimmt. Im Vergleich zum Nachbarland Frankreich – nur mo- Sinne einer „Willkommenskultur“ ist diese Web- derat ausgeprägt ist. 25 Da in vielen Bereichen der site einladend und ansprechend gestaltet und er- Arbeitskräftebedarf hoch ist, ist Diskriminierung mutigt Neuankömmlinge, Termine zu vereinbaren, für die Unternehmen „teuer“, da für sie ein Teil um Hilfe zu bekommen. Diese Plattform kann als des Bewerberpools von vornherein nicht infrage ein Hinweis darauf gelten, wie stark sich das Selbst- kommt, wenn sie keine Personen mit Migrations- verständnis Deutschlands gewandelt hat: Einwan- hintergrund einstellen wollen. derung wird nicht mehr prinzipiell abgewehrt (die vielzitierte Parole „Deutschland ist kein Einwan- KOMMUNALES HANDELN – BEISPIELE AUS DER 26 Vgl. Michael Bommes, „Integration findet vor Ort statt.“ MODELLSTADT STUTTGART Über die Neugestaltung kommunaler Integrationspolitik, in: ders./Marianne Krüger-Potratz (Hrsg.), Migrationsreport 2008. Fakten, Analysen, Perspektiven, Frankfurt/M.–New York 2008, Ausgehend von diesen Einflussfaktoren der Ar- S. 159–194. Zur Rolle der Kommunen bei der Integration vgl. beitsmarktintegration lassen sich wichtige Ansatz- Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und punkte für politisches Handeln identifizieren, gera- Migration (Anm. 7), S. 127 ff. und Gari Pavković, Viele Konzepte, zu wenig Ergebnisse. Zur interkulturellen Öffnung kommunaler Verwaltungen, in: Tillmann Löhr (Hrsg.), Kommunale Integrati- 23 Vgl. Leo Kaas/Christian Manger, Ethnic Discrimination in onspolitik. Strukturen, Akteure, Praxiserfahrungen, Berlin 2020, Germany’s Labour Market. A Field Experiment, in: German S. 87–100. Economic Review 1/2011, S. 1–20. 27 Weitere Informationen unter https://kommunalwettbewerb-​ 24 Vgl. Doris Weichselbaumer, Multiple Discrimination against zusammenleben.de/sites/default/files/broschuere10jahre.pdf Female Immigrants Wearing Headscarves, in: Industrial and und unter https://welcome.stuttgart.de. Labor Relations Review 3/2020, S. 600–627. 28 Vgl. die Evaluationsstudie des Bundesamts für Migration 25 Vgl. Lincoln Quillian et al., Do Some Countries Discrimina- und Flüchtlinge (BAMF): Karin Schuller/Susanne Lochner/Nina te More than Others? Evidence from 97 Field Experiments of Rother, Das Integrationspanel. Ergebnisse einer Längsschnittstu- Racial Discrimination in Hiring, in: Sociological Science 6/2019, die zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Integrationskursen, S. 467–496. Forschungsbericht 11 des BAMF, Nürnberg 2011, insb. S. 158.

37 APuZ 5–6/2021 derungsland“ stand 1982 im Koalitionsvertrag von an Förderbedürfnisse angepasst. Hinzu kommt CDU/CSU und FDP), sondern ihre aktive Gestal- der vermehrte Einsatz von Personal mit Migrati- tung und die Integration der Zugewanderten wird onshintergrund, die Möglichkeit für Grundschu- als wichtiger Auftrag betrachtet. Beispielhaft hier- len, den städtischen Qualitätsentwicklungsfonds für sind viele der seit 2018 in Stuttgart entstande- zur Weiterentwicklung der Qualität der Bildungs- nen Initiativen im Bereich des „Empowerment angebote zu nutzen, und die verstärkte Ermuti- VON Geflüchteten FÜR Geflüchtete“. 29 gung der Eltern, sich einzubringen. In Kursen wie So wichtig auf Einwanderer zugeschnittene „Mama lernt Deutsch“ wird über die Vermittlung Maßnahmen sind, die größte Herausforderung von Sprachkenntnissen hinaus beispielsweise auch besteht wohl darin, zu verhindern, dass sich ethni- das Bildungssystem den Teilnehmenden näherge- sche Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt in der bracht und die Zusammenarbeit mit der Schule ge- Folgegeneration fortsetzen. Angesichts der gera- fördert. Das Elternseminar der Stadt Stuttgart bie- de in Deutschland engen Verknüpfung von Bil- tet eine weitere Möglichkeit zur Unterstützung dungserfolg und Arbeitsmarktintegration spielt von Eltern in ihrem Erziehungsauftrag. Begleitet der Abbau von herkunftsbedingten Bildungs- werden solche Maßnahmen durch ehrenamtliches ungleichheiten eine entscheidende Rolle. „Her- Engagement, beispielsweise mithilfe des Vereins kunftsbedingt“ bezieht sich dabei nicht nur auf die „Leseohren“, der Vorleseveranstaltungen für Kin- ethnische Herkunft, sondern auch auf die soziale, der organisiert und auch Lesepaten für verschiede- das heißt, auf den sozioökonomischen Status der ne Muttersprachen anbietet. 32 Eltern. 30 Es gilt also generell, den Bildungserfolg Beim Übergang von der Schule in den Beruf von Kindern aus „bildungsfernen Haushalten“ zu werden vor allem Hauptschüler durch Bildungs- verbessern, und zusätzlich, Kinder mit Migrati- paten gefördert, nach dem Motto „Kein Ab- onshintergrund und mit Nachholbedarf bei den schluss ohne Anschluss!“ 33 Mit der Ausbildungs- Deutschkenntnissen zu unterstützen. Gerade für kampagne „Deine Stadt – Deine Zukunft“ wurde jüngere Kinder sind dabei alltagsintegrierte Mög- in Stuttgart zwischen 2011 und 2015 der Anteil lichkeiten, Deutsch zu lernen, wichtig. Hier spielt der Auszubildenden mit Migrationshintergrund die Verringerung der ethnischen und sozialen Se- verdoppelt. 34 Paten-Projekte wie „STARTklar“, gregation in Schulen eine wichtige Rolle. Sie spie- bei denen Senioren Jugendliche bei der Berufsvor- gelt zwar teilweise die residenzielle Segregation bereitung unterstützen, oder „LISA“, das sich an der Nachbarschaft wider, ist aber häufig aufgrund junge Leute ohne Schulabschluss richtet, wurden des Schulwahlverhaltens vor allem deutscher El- ins Leben gerufen, um Ausbildungs- und Berufs- tern noch stärker ausgeprägt als diese. 31 aussichten zu verbessern, auch unter besonderer Mit der Verbesserung der Startchancen benach- Berücksichtigung der Nachteile von Personen mit teiligter Kinder sollte möglichst früh im Lebens- Migrationshintergrund. 35 Auch der interkulturel- lauf begonnen werden, da Kompetenzunterschiede len Öffnung der Verwaltung und der Jobcenter bereits zum Zeitpunkt der Einschulung ausgeprägt kommt in diesem Zusammenhang eine hohe Be- sind. In Stuttgart hatten 2019 rund 60 Prozent der deutung zu. 36 Große Kommunen sind schließlich Kinder unter sechs Jahren einen Migrationshinter- auch selbst wichtige Arbeitgeber für Personen mit grund – der Förderung von Sprache und Bildung Migrationshintergrund. In Stuttgart ist etwa die in den Kindertageseinrichtungen kommt auch Erhöhung des Anteils von Migranten bei Neu- daher große Bedeutung zu. Durch regelmäßige einstellungen und Ausbildungen für den Öffent- Sprachstandserhebungen­ und die Vergabe zusätz- lichen Dienst ein festgelegter Handlungsbereich. licher Mittel an Kindertagesstätten mit einem ho- hen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund 32 Vgl. Wolfgang Schuster, Stuttgarter Bündnis für Integration. wird die Sprachförderung gezielt eingesetzt und Perspektiven für unsere internationale Stadt, Stuttgart 2009 (Fortschreibung von 2006), S. 14 ff. 29 Vgl. www.stuttgart.de/medien/ibs/Stuttgarter-​Empower- 33 Vgl. ebd., S. 22. ment- ​Brochuere.pdf. 34 Vgl. Ayşe Özbabacan/Gari Pavković, Stuttgart. Die 30 Vgl. Claudia Diehl/Christian Hunkler/Cornelia Kristen Interkulturelle Stadt. Ankommen, bleiben, mitgestalten, in: Frank (Hrsg.), Ethnische Ungleichheiten im Bildungsverlauf. Mechanis- Gesemann/Roland Roth (Hrsg.), Handbuch Lokale Integrations- men, Befunde, Debatten, Wiesbaden 2016. politik, Wiesbaden 2018, S. 775–786. 31 Vgl. Andreas Horr, Nachbarschaftseffekte, in: ebd., 35 Vgl. Schuster (Anm. 32), S. 21 f. S. 397–430. 36 Vgl. für Stuttgart ebd., S. 32, und Pavković (Anm. 26).

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FAZIT der weitgehend unerwartete Zuzug einer gro- ßen Zahl Geflüchteter –, zeigt sich vor Ort be- Dieser kurze Ein- und Überblick sollte gezeigt sonders beeindruckend, welche Entwicklung haben, dass die Arbeitsmarktintegration von Deutschland in den letzten Dekaden genommen Migrantinnen und Migranten von vielen Fak- hat: weg von einer Integrationspolitik, die man toren abhängt. Neben den individuellen Merk- sicher an vielen Stellen als „paternalistisch-folk- malen der Zugewanderten selbst spielt auch der loristisch“ bezeichnen konnte und hin zu kom- Aufnahmekontext eine wichtige Rolle, und hier munalem Handeln, das sich dem Ziel der gleich- ist wiederum die kommunale Ebene entschei- berechtigten Teilhabe verpflichtet fühlt – in dem dend. Dort findet Integration im Alltag statt, Bewusstsein, dass diese letztlich im Interesse al- und auch wenn viele der hier diskutierten Ein- ler liegt. flussfaktoren der Integration auf kommunaler Ebene kaum gesteuert werden können, bieten CLAUDIA DIEHL sich vielfältige Ansatzpunkte zur Förderung ei- ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universi- nes gleichberechtigten Miteinanders. Stuttgart tät Konstanz. hat als Stadt diese Herausforderung in vieler- claudia.diehl@uni-​konstanz.de lei Hinsicht vorbildlich angenommen, und in zahlreichen Projekten wird respektvoll und auf BENTLEY SCHIECKOFF Augenhöhe zusammengearbeitet. Auch wenn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für es weiterhin viel zu tun gibt und sich ständig Mikrosoziologie der Universität Konstanz. neue Herausforderungen stellen – zuletzt etwa bentley.schieckoff@uni-​konstanz.de

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DIE REGION STUTTGART IM UMBRUCH Transformation der Schlüsselindustrien als Herausforderung für die Regionalwirtschaft

Jürgen Dispan

Die Region Stuttgart 01 zählt seit Jahrzehnten zu den In der Region Stuttgart ist der Industrie- wirtschafts- und innovationsstärksten Großstadt- Dienstleistungs-Verbund stark von zwei regio- regionen in Europa. Auch für Baden-Württemberg nalen Clustern geprägt: dem Automotive-Cluster hat die Region mit einem Anteil von 30 Prozent und dem Produktionstechnik-Cluster. Integrale an der Wirtschaftskraft (bei einem Flächenanteil Bestandteile dieser exportorientierten Cluster von 10 Prozent und einem Einwohneranteil von sind die Automobilindustrie und der Maschinen- 25 Prozent) eine überaus große ökonomische Be- bau. Beide Cluster stehen – ungeachtet der guten deutung. 02 Bei einer hohen Veränderungsdynamik wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen der Regionalwirtschaft steigt die Beschäftigung in Jahre – vor strukturellen Herausforderungen, der Region Stuttgart seit mehr als zwei Jahrzehnten insbesondere im Rahmen der Transformations- fast durchgehend an. Einer der wesentlichen struk- prozesse Elektromobilität und Digitalisierung. turellen Beschäftigungstrends ist die fortschreiten- Aktuell wird diese doppelte Transformati- de Tertiärisierung in sektoraler und funktionaler on von der Corona-Krise nicht nur überlagert, Hinsicht: Ein immer größerer Beschäftigtenanteil sondern auch beschleunigt. In einer ohnehin be- ist im Dienstleistungssektor tätig, gleichzeitig üben reits geschwächten Industriekonjunktur sorgte immer mehr Menschen – auch im Produzierenden das Corona-Virus für einen beispiellosen Kon- Gewerbe – Dienstleistungstätigkeiten aus. junktureinbruch mit tiefgreifenden Implikatio- nen. Im Vergleich zum Vorjahresmonat fielen im REGIONALWIRTSCHAFT April 2020 die Auftragseingänge, die Produktion IM ÜBERBLICK und der Umsatz mit einem Rückgang von rund 40 Prozent „erdrutschartig ins Minus“. 05 Entspre- Die Regionalwirtschaft kann als Dienstleistungs- chend waren Ende April 2020 rund 290 000 Per- wirtschaft um den industriellen Kern charakterisiert sonen in der Region Stuttgart in Kurzarbeit, also werden – der Industrie-Dienstleistungs-Verbund fast jeder vierte Beschäftigte. Die Arbeitslosen- mit einer starken Verzahnung der beiden Sektoren zahlen lagen im November 2020 mit 4,4 Prozent ist für die Region Stuttgart ein entscheidender Er- um ein Drittel höher als im November 2019. Die folgsfaktor. Gleichwohl wird sie nach wie vor zu Zahlen zeigen, dass die Region Stuttgart 2020/21 Recht als Industrieregion bezeichnet. Die Bedeu- in eine ernste Wirtschaftskrise geraten ist, deren tung des Produzierenden Gewerbes zeigen dessen Ausgang nicht zuletzt aufgrund des ungewissen relativ hohen Anteile an der Bruttowertschöpfung,­ Infektionsgeschehens nur schwer abschätzbar ist. am Innovationsgeschehen, an den Beschäftigten Auf eine regionalpolitische Besonderheit sei wie auch an den Arbeitnehmerverdiensten. 03 Das hier noch hingewiesen: Der Region Stuttgart wur- Produzierende Gewerbe mit seinen Industrie- und den bereits vor mehr als 25 Jahren weitergehen- Handwerksunternehmen gilt in der Region Stutt- de Kompetenzen und Aufgaben übertragen als gart, wie in Baden-Württemberg insgesamt, als den meisten anderen Regionen Deutschlands. Zur „Wohlstandsmotor“, „Exportschlager“ und „Job- Stärkung der regionalen Zusammenarbeit wurde motor“. 04 Und innerhalb dieses Sektors stechen die 1994 der Verband Region Stuttgart (VRS) gegrün- beiden Branchen Automobilindustrie und Maschi- det. 06 Mit dem VRS und seiner direkt gewählten nenbau hervor, weshalb der Fokus im Folgenden Regionalversammlung wurde in der Region eine stark auf diese Schlüsselindustrien gerichtet wird. eigene politische Organisation geschaffen, die

40 Stuttgart APuZ aufgrund ihres Modellcharakters bundesweit für Wirtschaftsconsultants und Softwareschmieden. Aufmerksamkeit sorgte. Neben der ureigenen Gleichzeitig ist die starke industrielle Basis eine Aufgabe der Regionalplanung und Raumordnung wesentliche Grundlage für expandierende Dienst- liegen die Schwerpunkte des VRS im Verkehrswe- leistungsbranchen. Damit ist der Industrie-Dienst- sen (Regionalverkehrsplanung, öffentlicher Per- leistungs-Verbund von sich positiv verstärkenden sonennahverkehr mit Trägerschaft der S-Bahn, Wechselwirkungen geprägt. Ausdehnung des Verkehrsverbunds), im Umwelt- Als besonders wachstumsstark kristallisierten schutz (Landschaftsplanung, Konzeption Land- sich seit den 1990er Jahren die unternehmensbe- schaftspark und Teile der Abfallwirtschaft) sowie zogenen Dienstleistungen heraus. Eine wesentli- in der Wirtschaftsförderung, für die als Tochterge- che Triebfeder für das Wachstum dieses Dienst- sellschaft die Wirtschaftsförderung Region Stutt- leistungsbereichs sind Outsourcing-Prozesse aus gart GmbH gegründet ­wurde. Industrieunternehmen, wobei sowohl einfache als auch komplexe Tätigkeiten – von der Gebäuderei- INDUSTRIEREGION STUTTGART nigung bis zur Produktentwicklung – ausgelagert werden. Gerade wissensintensive Dienstleister Die Wirtschaft der Region Stuttgart ist – weitaus sind oft in die Innovationsprozesse ihrer industri- stärker als in anderen Großstadtregionen – vom ellen Kunden eingebunden. Ein funktionierender Produzierenden Gewerbe mit seiner dominie- Industrie-Dienstleistungs-Verbund ist nach wie renden Investitionsgüterindustrie geprägt. Von vor ein überaus wichtiger Wettbewerbsfaktor für 1,28 Millionen Beschäftigten in der Region wa- den Wirtschaftsstandort und die Region Stuttgart. ren 2019 gut 420 000 in diesem Sektor tätig. Dieses Eine wichtige Basis für den Erfolg dieses Ver- nach wie vor hohe Gewicht des Produzierenden bunds sind die gut ausgebildeten Fachkräfte, also Gewerbes mit zahlreichen Industrie- und Hand- sowohl die Facharbeiterinnen und Facharbeiter werksunternehmen und deren vielfältiger Verzah- aus dem dualen Ausbildungssystem als auch die nung mit produktionsorientierten Dienstleistern akademischen Fachkräfte aus technischen und kann als ein Alleinstellungsmerkmal der Region weiteren Studiengängen. Weitere wichtige regio- Stuttgart bezeichnet werden. Ihre technologische nale Erfolgsfaktoren sind intakte Wertschöpfungs- Leistungsfähigkeit und Innovationskraft gewin- netzwerke und das sehr gute Umfeld für Inno- nen die Unternehmen auch aus der Verknüpfung vationen. Darüber hinaus profitiert die regionale mit Forschungseinrichtungen und unternehmens- Industrie von den günstigen Rahmenbedingun- bezogenen Dienstleistungen wie Ingenieurbüros, gen und der insgesamt hohen Standortqualität Deutschlands: der gut ausgebauten Infrastruktur, dem hohen Bildungsgrad, der stabilen Versorgung 01 Die Region Stuttgart im Zentrum Baden-Württembergs mit Energie und Rohstoffen, dem erprobten Sys- umfasst die Landeshauptstadt sowie die Landkreise Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg und den Rems-Murr-Kreis. tem der industriellen Beziehungen sowie der allge- 02 Der Beitrag stützt sich im Wesentlichen auf die seit den meinen Rechtssicherheit. 1990er Jahren regelmäßig erscheinenden Strukturberichte für Wie schon erwähnt, sind die mit Abstand die Region Stuttgart, die vom Verband Region Stuttgart sowie wichtigsten und im zurückliegenden Jahrzehnt der regionalen IG Metall, der Handwerkskammer und der IHK auch wachstumsstärksten Branchen des Verarbei- herausgegeben werden; zuletzt 2019: Jürgen Dispan/Andreas Koch/Tobias König, Strukturbericht Region Stuttgart 2019. tenden Gewerbes in der Region Stuttgart die Au- Entwicklung von Wirtschaft und Beschäftigung. Schwerpunkt: tomobilindustrie und der Maschinenbau. Einige Mobilitätsdienstleistungen, Stuttgart 2019. dieser Maschinenbauer und Automatisierungs- 03 Vgl. Regionales Wirtschaftswachstum in Baden-Württem- spezialisten gehören zu den Weltmarktführern berg 2000 bis 2016 in sechs Teilen, Statistisches Monatsheft in ihrem Technologiebereich, andere gehören zu Baden-Württemberg 8/2019 bis 2/2020. 04 Vgl. Ministerium für Finanzen und Wirtschaft Baden- den „Hidden Champions“ ihrer Sparte. Zu bei- Württemberg, Industrieperspektive Baden-Württemberg 2025, den Clustern gehören nicht nur Unternehmen Stuttgart 2015. aus den Kernbranchen Automobil- und Maschi- 05 Matthias Kuhn, Vor Corona: Die Industrie und deren Struk- nenbau, sondern auch aus vielen weiteren In- tur in Baden-Württemberg, Statistisches Monatsheft Baden- dustrie- und Dienstleistungsbranchen, die in ih- Württemberg 8/2020, S. 27. 06 Vgl. Gesetz über die Stärkung der Zusammenarbeit in der rer Gesamtheit die Region Stuttgart weltweit als Region Stuttgart vom 7. 2. 1994, Land Baden-Württemberg, GBl. Problemlöserregion für globale Herausforderun- S. 92. gen erscheinen lassen.

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Entscheidende Erfolgsfaktoren für die regi- wie Metallgewerbe, Kunststoffverarbeitung, Ma- onale Wirtschaftskraft liegen in den vielfältigen schinenbau oder Elektrotechnik zum Automotive- Wechselwirkungen zwischen den beiden Clus- Cluster. Hinzu kommen weitere Unternehmen aus tern und damit in ihrer gegenseitigen Verflech- dem Dienstleistungssektor, Forschungseinrichtun- tung und Durchlässigkeit, aber auch in deren Of- gen und Hochschulinstitute sowie intermediäre fenheit für internationale Beziehungen in ihrer Akteure wie die Clusterinitiative Automotive Re- Funktion als Knoten in globalen Netzwerken. 07 gion Stuttgart (CARS) der Wirtschaftsförderung Das hohe Niveau der regionalen Innovationsfä- Region Stuttgart und die Landesagentur e-mo- higkeit wird nicht zuletzt durch die Spitzenposi- bil BW. Insgesamt gehen vom Automobil abhän- tion der Region insgesamt und insbesondere der gige Wertschöpfung und Beschäftigung weit über Kreise Böblingen, Stuttgart und Ludwigsburg im das hinaus, was im statistisch abgegrenzten Wirt- regelmäßig erscheinenden Innovationsindex des schaftszweig „Herstellung von Kraftwagen und Statistischen Landesamts belegt. Kraftwagenteilen“ zu Buche schlägt. Im regionalen Automotive-Cluster arbeiteten AUTOMOTIVE-CLUSTER 2018 rund 215 500 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, was einem Anteil von gut 17 Prozent Die Region Stuttgart ist wie kaum eine andere Re- an allen Beschäftigten in der Region entspricht. In gion von der Automobilwirtschaft geprägt. Hier – den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl in der Wiege des Automobils – nahm die techni- der im Cluster Beschäftigten kontinuierlich um sche Entwicklung von Motoren und Fahrzeugen fast 20 Prozent erhöht (jahresdurchschnittlich um vor 135 Jahren ihren Anfang, und auch heute gehört 1,8 Prozent). Ein noch stärkeres Wachstum und die Region zu den führenden „Automotive Ecosys- die damit zunehmende Dominanz des Produkts tems“ der Welt. Automobilhersteller, ihre Zuliefe- Automobil für die Regionalwirtschaft zeigt die rer und Dienstleister wie auch Forschungsinstitu- Betrachtung von wirtschaftlichen Kennziffern. 08 te konzentrieren hier ihre Kompetenzen rund ums Insgesamt reicht der Automotive-Cluster der Re- Automobil. Seit einigen Jahrzehnten gilt die Region gion Stuttgart weit über den Kernbereich der Au- weltweit als ein Paradebeispiel für einen komplett tomobilindustrie hinaus. Er ist nach quantitativem ausgebildeten Automotive-Cluster. und qualitativem Umfang sowie nach Komplexi- Für die Wirtschaftskraft des Automotive-Clus- tät als ein komplett ausgebildeter Cluster zu be- ters der Region Stuttgart stehen insbesondere Un- zeichnen. Zwei besondere Merkmale sind für die ternehmen wie die Daimler AG und die Porsche Automobilwirtschaft der Region Stuttgart her- AG als Hersteller von Premium-Automobilen. vorzuheben: Beide haben ihren Hauptsitz in der Stadt Stutt- gart und bedeutende Entwicklungszentren und 1. Marktseitig sind die Dominanz des Premi- Produktionsstätten in der Region. Die hohe Inno- umsegments und die starke Exportorientie- vations- und Leistungsfähigkeit des Automotive- rung prägnant. Der regionale Automotive- Clusters wäre jedoch ohne die Unternehmen der Cluster profitiert dabei von der nach wie Automobilzulieferindustrie nicht denkbar. Zum vor wachsenden Nachfrage nach qualitativ einen sind das große Konzerne wie die Robert hochwertigen Fahrzeugen der Oberklasse Bosch GmbH als weltweit größter Automobilzu- in den internationalen Wachstumsmärkten. lieferer sowie die Unternehmen Mahle, Eberspä- cher und Mann+Hummel, die unter den 100 global 2. Technologieseitig ist die starke Orientie- führenden Zulieferern geführt werden. Zum ande- rung auf den Antriebsstrang beziehungs- ren gehören zahlreiche kleine und mittlere Unter- weise auf Verbrennungsmotoren her- nehmen (KMU) zu den elementaren Bestandteilen auszustellen, die zunehmend zu einem des Clusters. In der Region Stuttgart zählen rund Risikofaktor für die wirtschaftliche Ent- 400 KMU-Zulieferer aus verschiedenen Branchen wicklung und Beschäftigung in der Region wird, sofern die Transformation zu klima- schonenden und umweltfreundlichen An- 07 Vgl. Walter Kaiser, Regionales Cluster oder globaler Kno- ten? Automobiltechnik im Raum Stuttgart, in: Hartmut Berghoff/ trieben nicht gelingt. Jörg Sydow (Hrsg.), Unternehmerische Netzwerke, Stuttgart 2007, S. 175–195. 08 Vgl. Dispan/Koch/König (Anm. 2).

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HERAUSFORDERUNG Negative Beschäftigungseffekte können nur dann ELEKTROMOBILITÄT in Grenzen gehalten werden, wenn der Automoti- ve-Cluster auch bei den alternativen Antriebstech- Die Automobilwirtschaft wird in den 2020er Jah- nologien seine weltweit führende Rolle behält und ren von einem umfassenden und tiefgreifenden bei den neuen Komponenten Marktanteile in ähn- Wandel geprägt sein. Die doppelte Internationali- licher Höhe wie heute gewinnen kann. 12 Demnach sierung mit weltweiten Wertschöpfungskonzepten sollte die Transformation der Automobilindustrie und der Lokalisierung von Produktion und For- proaktiv angegangen werden. Nicht die Transfor- schungs- und Entwicklungsprojekten in den regio- mation zur Elektromobilität selbst, sondern ver- nalen Märkten Asiens, Amerikas und Europas wie passte Gestaltungschancen bei deren aktiver Wei- auch die innereuropäische Verlagerung zur Nut- terentwicklung können die wirtschaftliche Stärke zung von Kostenvorteilen in „Best-Cost-Coun- gefährden, wie es im Fazit der Strukturstudie heißt. tries“ wird nach wie vor vorangetrieben. 09 Hinzu Schritte in Richtung Transformation zur Elek­ kommt der Transformationsprozess der nächsten tro­mo­bili­ tät­ zeigen sich zum einen bei den Schwer- Jahre, der von Digitalisierung, Dekarbonisierung punkten der Entwicklungszentren verschiedener und neuen Mobilitätskonzepten geprägt sein wird. Unternehmen des Automotive-Clusters, zum an- Zu einer Zauberformel der Branche ist ACES ge- deren in Investitionen an Produktionsstandor- worden: „Autonomous, Connected, Electrified, ten. Beispielsweise investierte Porsche mehr als Shared“. 10 Mit Elektrifizierung, Vernetzung und 700 Millionen Euro in den Stammsitz Zuffenhau- autonomem Fahren geht ein umfassender Tech- sen, um eine Fabrik (in der Fabrik) für den Elek­ nologiewandel bei den Produkten einher, der von tro­sportwagen­ Taycan und mit ihr rund 1500 neue der Digitalisierung der Unternehmensprozesse (In- Arbeitsplätze aufzubauen. Daimler investiert im dustrie 4.0) begleitet wird. Gleichzeitig bereitet das Mercedes-Benz Werk Untertürkheim in den Wan- Zusammenspiel von digitalen Technologien und del dieses Leitwerks für Antriebstechnik in Rich- sozioökonomischen Mega­trends den Weg für neue tung Elektromobilität. Zudem eröffnete Daimler Geschäftsmodelle im Bereich von Mobilitätsdienst- im Werk Sindelfingen mit der „Factory 56“ eine leistungen und intermodalen Mobilitätslösungen. hochmoderne und ultraeffiziente Montagehalle Zudem verändern sich auch die Strukturen der au- mit sehr flexibler und digital vernetzter Produk- tomobilen Wertschöpfungssysteme durch neue tion, in der die S-Klasse und das Elektroauto EQS Wettbewerber und immer kürzere Innovations- auf der gleichen Linie produziert werden. und Marktzyklen. Die große Herausforderung Aufgrund dieser Investitionen der Automobil- liegt weniger in der Einführung neuer Produkte, hersteller in Elektromobilität, aber auch aufgrund Technologien und Services, sondern vielmehr in der Aktivitäten von regionalen (insbesondere den der Gleichzeitigkeit der Veränderungsanforderun- großen) Zulieferern, hat die Region Stuttgart gute gen sowie der Dynamik und Vielschichtigkeit des Voraussetzungen, im zukünftig immer bedeuten- Transformationsprozesses in den nächsten Jahren. deren Markt für Elektromobilität eine wichti- Wie die Automobilwirtschaft weltweit, so steht ge Rolle zu spielen. Die industriellen Strukturen auch der Automotive-Cluster der Region Stuttgart mit dem Automotive-Cluster, die Ressourcen und vor seiner größten Transformation. Auf den Tech- Kompetenzen im Bereich der Forschung und Ent- nologiewandel mit den drei großen Trends Elek­ wicklung wie auch die – im internationalen Ver- trifizierung, Digitalisierung und autonomes Fahren gleich – herausragend ausgebildeten Fachkräfte wie auch auf deren Beschäftigungseffekte geht die bieten enorme Potenziale. Entscheidend für die Strukturstudie BW-e-mobil 2019 detailliert ein. 11 zukünftige Arbeitsplatzentwicklung wird sein, ob diese Potenziale zum Zuge kommen und auch in

09 Vgl. Martin Schwarz-Kocher et al., Standortperspektiven in der Automobilzulieferindustrie, Düsseldorf 2019. Wertschöpfung und Beschäftigung vgl. auch Nationale Plattform 10 In den Unternehmensstrategien aller Automobilhersteller Zukunft der Mobilität, 1. Zwischenbericht zur strategischen Perso- finden sich diese vier Begriffe so oder ähnlich wieder. Beispiels- nalplanung und -entwicklung im Mobilitätssektor, Berlin 2020. weise steht bei der Daimler AG der „strategische Baustein 12 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine auf der Strukturstudie CASE“ für dieselben Zukunftsfelder. BW-e-mobil basierende regionale Studie. Vgl. IG Metall Region 11 Vgl. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)/IMU In- Stuttgart/Wirtschaftsförderung Region Stuttgart, Transfor- stitut/Bridging IT, Strukturstudie BW-e-mobil 2019, Stuttgart 2019, mation Elektromobilität in der Region Stuttgart, Whitepaper, S. 16–67. Zu den Wirkungen der Elektromobilität hinsichtlich Stuttgart 2019.

43 APuZ 5–6/2021 weitere Wertschöpfung und Produktion an den mentare Bestandteile sind Forschungs- und Aus- Automobil- und Zulieferstandorten der Region bildungseinrichtungen, flankiert von der Clus- umgesetzt werden können. Die Kernfrage ist also: terinitiative Maschinenbau Region Stuttgart und Schafft die Region Stuttgart den Systemwechsel weiteren Kompetenzzentren und Initiativen. Im zur Elektromobilität als Technologiestandort und Gesamtbild der Unternehmen, Institutionen und als Produktionsstandort? Netzwerke verfügt die Region über einen welt- weit führenden Produktionstechnik-Cluster mit PRODUKTIONSTECHNIK-CLUSTER besonderen Kompetenzen bei der Lösung kom- plexer fertigungstechnischer Aufgaben und He- Der Maschinen- und Anlagenbau ist als Kern der rausforderungen. Die damit verbundenen regio- Investitionsgüterindustrie von überaus hoher Re- nalen Stärken im Maschinen- und Anlagenbau, in levanz für die Wirtschaftsleistung und Wettbe- der Automatisierungstechnik sowie bei den Ent- werbsfähigkeit Deutschlands sowie für die Be- wicklern und Ausrüstern von industriellen Infor- schäftigung in vielen Regionen, insbesondere in mations- und Kommunikationssystemen bieten der Region Stuttgart. Maschinen und Anlagen be- sehr gute Voraussetzungen für eine Vorreiterrolle einflussen maßgeblich die Produktivitäts-, Qua- bei der Digitalisierung und Vernetzung der Pro- litäts- und Kostenentwicklung in den produzie- duktion beziehungsweise bei der Industrie 4.0. renden Unternehmen vieler Branchen. Die große Bedeutung des Maschinenbaus gilt in ganz beson- DIGITALE TRANSFORMATION derer Art und Weise für die Regionalwirtschaft im ALS HERAUSFORDERUNG Zentrum Baden-Württembergs. Der Maschinen- bau ist nach Umsatz und Beschäftigung hinter der Auch der Maschinenbau steht in den 2020er Jah- Automobilindustrie die zweitgrößte Branche des ren vor großen Herausforderungen in wirtschaft- Produzierenden Gewerbes in der Region Stutt- licher, technologischer und beschäftigungspoli- gart. In den rund 400 Betrieben des Maschinen- tischer Hinsicht. Internationalisierungsprozesse baus waren 2019 gut 106 000 Beschäftigte tätig, die und die Märkte in Schwellenländern werden im- einen Umsatz von 23,2 Milliarden Euro (bei einem mer wichtiger, neue Wettbewerber steigen ins Exportanteil von 65,4 Prozent) erwirtschafteten. mittlere und ins Hightech-Segment des Maschi- Der Fokus der regionalen Unternehmen liegt nenbaus auf, und internationale Investoren beteili- auf Spezialmaschinen, Bearbeitungszentren und gen sich an deutschen Maschinenbauunternehmen Systemlösungen, vielfach aber auch auf hochwer- oder übernehmen diese gar. Technologietrends wie tigen Komponenten, die in Maschinen und An- Digitalisierung und Industrie 4.0 wirken sich zu- lagen verbaut werden. Die Vielfalt der Branche nehmend auf die Branche aus. Der demografische zeigt sich in der Region Stuttgart in einem Mix Wandel und die Fachkräftesicherung in Zeiten von unterschiedlichen Sparten des Maschinen- der Digitalisierung der Arbeitswelt („Arbeit 4.0“) baus, wenn auch ein besonderer, international be- müssen von den Unternehmen bewältigt werden. deutsamer Schwerpunkt in der Produktion von Gerade in den Megatrends Digitalisierung, Platt- Werkzeugmaschinen für die metallverarbeiten- formökonomie und Künstliche Intelligenz liegt de Industrie liegt. Die starke Konzentration von eine große Herausforderung für den Maschinen- Maschinenherstellern resultiert zum einen aus und Anlagenbau und damit auch für den Pro- den größeren Unternehmen, zum anderen aus duktionstechnik-Cluster der Region Stuttgart. 13 zahlreichen weiteren, KMU-geprägten Maschi- Digitalisierungsstrategien und entsprechende In- nenbauern, die über die gesamte Region hinweg vestitionen werden für die Unternehmen immer verteilt sind. Viele dieser klassischen Mittelständ- wichtiger – und zwar sowohl aus der Perspek- ler, häufig in Familienbesitz und inhabergeführt, tive des Anbieters von digitalisierten Produkten, haben sich in ihren Nischenmärkten zu Techno- Services und Geschäftsmodellen als auch aus der logieführern entwickelt und wurden zu wichti- des Anwenders bei der Vernetzung der internen gen Elementen des Produktionstechnik-Clusters der Region Stuttgart. Der Cluster wird ebenfalls 13 Zu Entwicklungstrends und Beschäftigungswirkungen der durch Komponentenhersteller und Zulieferer für digitalen Transformation im Maschinenbau vgl. Jürgen Dispan/ den Maschinenbau, durch Ingenieurbüros und Martin Schwarz-Kocher, Digitalisierung im Maschinenbau, Wor- Softwareunternehmen komplettiert. Weitere ele- king Paper der Hans-Böckler-Stiftung 94/2018.

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Prozesse im eigenen Unternehmen und im Wert- ken der deutschen Maschinenbauer, insbesondere schöpfungsnetzwerk. 14 aber auch der regionalen Hersteller, in den nicht- Große Problemfelder für die Digitalisierung preislichen Wettbewerbsfaktoren liegen. Dazu im Maschinenbau liegen in der Personalverfügbar- zählen Faktoren wie die Qualität der Produkte, keit, dem Wissenstransfer und der Aus- und Wei- Innovationsvermögen und Problemlösungskom- terbildung der Mitarbeiter. Damit stehen Engpässe petenz, Zuverlässigkeit und Liefertreue sowie bei qualifizierten Fachkräften bei den Maschinen- produktbegleitende Dienstleistungen und After- bauunternehmen heute noch im Vordergrund. Je- sales-Services. Der Maschinenbau ist geprägt von doch werden die Beschäftigungswirkungen durch Einzel- und Kleinserienfertigung; nur in wenigen Digitalisierung in den nächsten Jahren fast alle Branchensparten werden standardisierte Produkte Bereiche des Maschinenbaus treffen. Mit der di- in Großserien hergestellt. Ein weiteres Spezifikum gitalen Transformation kommt es zu strukturel- des Maschinenbaus in der Region Stuttgart liegt in len Veränderungen zwischen unterschiedlichen der vielfältigen Betriebsgrößenstruktur der Unter- Beschäftigtengruppen wie auch zu qualitativen nehmen und in den Eigentumsverhältnissen. Die- Veränderungen der Arbeitsbedingungen. Quan- se häufig inhabergeführten Familienunternehmen titative Arbeitsplatzeffekte durch Digitalisie- verfolgen in der Regel langfristige Strategien, was rung werden im Maschinenbau durch gegenläufi- eine nachhaltige Unternehmensentwicklung eben- ge Prozesse geprägt sein: Neue digitale Angebote so begünstigt wie betriebliche Partizipation und und damit erreichbares Wachstum werden Ar- Mitbestimmung. Gerade der Maschinenbau ist auf beitsplätze sichern und schaffen. Dagegen werden das Fachwissen und die Kreativität seiner Beleg- die Effizienzgewinne durch Digitalisierung bei schaften angewiesen. Ihnen Mitsprache und Betei- den internen Prozessen Arbeitsplätze verändern ligung zu bieten, befördert auch künftig den wirt- oder gar überflüssig machen. Unter der Prämis- schaftlichen Erfolg der Branche. se „Wachstum durch digitale Angebote“ wird der Saldo aus beidem in den nächsten Jahren neutral FAZIT bis eher positiv sein. Mittel- bis langfristig gesehen wird es wohl dennoch in allen Teilbranchen des Die Region Stuttgart als einer der innovativsten, Maschinenbaus aufgrund der Rationalisierungs- wirtschafts- und exportstärksten Industriestandor- effekte eher zu einem Arbeitsplatzabbau kom- te Europas steht vor vielfältigen Herausforderun- men. Noch stärker als direkte Bereiche in der Pro- gen, die sich mit Digitalisierung, Elektromobilität, duktion werden dann die klassischen Büro- und Klimawandel, Handelsbarrieren sowie Verlage- Informationstätigkeiten unter Druck kommen. rung von Produktions- und Entwicklungsfunktio- Digitale Tools, Software-Bots und die durchgän- nen auf den Punkt bringen lassen. In den regiona- gige Vernetzung greifen insbesondere bei Tätig- len Clustern und Innovationssystemen verändern keiten entlang der „indirekten Kette“ vom Ver- sich die gewachsenen und etablierten Strukturen trieb über Entwicklung, Konstruktion, Einkauf, und es gilt, Entwicklungsblockaden (Lock-in-Ef- Produktionsplanung/-steuerung, Buchhaltung, fekte) zu vermeiden. Es entstehen aber auch neue Controlling bis hin zum Aftersales-­Service. Möglichkeiten im Kontext von Zukunftstechno- Auch im Zeitalter der Digitalisierung stehen logien und neuen Geschäftsmodellen, wie etwa für die weltweiten Kunden des regionalen Maschi- der Erfolg des Göppinger Softwareunternehmens nenbaus (und deren Investitionsentscheidungen) Teamviewer zeigt. Strukturwandel und Transfor- die Faktoren Produktivität, Effizienz, Verfüg- mation in der Region Stuttgart hatten bereits vor barkeit, Präzision und Qualität bei angemesse- der Corona-Pandemie begonnen, werden aber nen Preisen ganz oben auf der Prioritätenliste. durch deren sozioökonomische Folgen stark be- Genau diese Erfolgsfaktoren gilt es auch mit Di- schleunigt. Diese Gemengelage erfordert nicht we- gitalisierung und Künstlicher Intelligenz zu stüt- niger als „weitreichende Veränderungen und Neu- zen. Es ist hervorzuheben, dass die größten Stär- ausrichtungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft der Region Stuttgart“. 15 Demnach ist der spezifische Industrie-Dienstleistungs-Ver- 14 Vgl. Jürgen Dispan, Digitale Transformation im Maschinen- und Anlagenbau. Digitalisierungsstrategien und Gestaltung von Arbeit 4.0, in: Ernst Hartmann (Hrsg.), Digitalisierung souverän 15 Verband Region Stuttgart, Sitzungsvorlage Nr. 084/2020, gestalten, Berlin 2021, S. 118–132. 25. 11. 2020, S. 9.

45 APuZ 5–6/2021 bund, also die industrielle Basis mit ihren tech- laufwirtschaft, klimaneutrale Produktion, erneuer- nischen und systemischen Problemlösungskom- bare Energien, Ressourceneffizienz, Bioökonomie petenzen, verbunden mit den wissensintensiven und Künstliche Intelligenz. Mit diesen Grundla- Dienstleistungen und dem hohen Qualifikations- gen, Zielsetzungen und Themenfeldern, mit dem niveau, eine gute Grundlage für die künftige Inno- Mix aus innovativen Unternehmen in allen Grö- vations- und Wettbewerbsstärke als nachhaltiger ßenklassen, mit der exzellenten Forschungsinfra­ ­ Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort. struktur und gewachsenen Netzwerken hat die Die regionalen Akteure sind sich weitgehend Region Stuttgart aus Sicht der regionalen Akteure einig, dass die langfristige Performanz der Region gute Chancen, ihre Position als international aner- Stuttgart eng mit einer erfolgreichen Transformati- kannte Problemlöserregion weiter zu festigen. on der Schlüsselindustrien, aber auch mit der Nut- Problemlöserregion oder Problemregion der zung von Diversifikationspotenzialen in Zukunfts- 2020er Jahre 16 – es bestehen beste Chancen für technologien, innovativen Lösungen sowie der Ersteres, aber auch Risiken für die weitere Regi- Weiterentwicklung der wissensintensiven Dienst- onalentwicklung. Damit – wie mancherorts ora- leistungen verknüpft ist. Entsprechende Themen- kelt wird – „Stuttgart nicht Detroit wird“ und um felder für die regionalwirtschaftliche Entwicklung ein „Ruhrgebiet des 21. Jahrhunderts“ zu verhin- sind beispielsweise nachhaltige Mobilität, Kreis- dern, muss sich die Region dem Strukturwandel stellen und Strategien zur proaktiven Gestaltung 16 „Stuttgart – Problemregion der 90er Jahre“ war der Titel ei- auf den Weg bringen. nes Strukturgutachtens der IG Metall und des IMU Instituts, das in Regional- und Landespolitik kontrovers diskutiert wurde. Der JÜRGEN DISPAN prosperierende Raum Stuttgart stehe, so ein zentrales Ergebnis ist promovierter Wirtschaftsgeograf und arbeitet dieser Studie, durch den Strukturwandel in den industriellen Schlüsselbranchen vor einem erheblichen Arbeitsplatzabbau. als Wissenschaftler mit den Schwerpunkten „Region Vgl. Gerhard Richter, Stuttgart – Problemregion der 90er Jah- – Branche – Arbeitswelt“ beim IMU Institut Stuttgart. re?, München 1988. jdispan@imu-​institut.de

46 Impressum Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Telefon: (0228) 9 95 15-0

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