libertäre GWR 387 märz 2014/387 graswurzelrevolution März 2014 buchseiten

Libertäre Buchseiten Graswurzelrevolution (GWR) Breul 43, D-48143 Münster libertäre buchseiten beilage zu graswurzelrevolution 387, märz 2014 Verlag Graswurzelrevolution auf der Leipziger Buchmesse, www.graswurzel.net 13. – 16.3.2014, Halle 5, C 407

Tardis Geschichte der Besiegten „Nicht das klassische, weiße Seite 3 Kommen Sie da Bild des Kollektivs“ runter! Seite 4 Ein Gespräch mit Willi Bischof und Carina Büker (Verlag edition assemblage)

Anarchismus Hoch 2 „Assemblage ist ursprünglich in Seite 5 der Bildenden Kunst zu einem Begriff mit besonderer Bedeu- tung geworden, der eine Art Buch des Jahres von Kunstwerken bezeichnet. ... Seite 6 Gilles Deleuze und Felix Guattari ... verstehen unter ‘Assemblage’ ein ‘kontingentes Schwarze Flamme Ensemble von Praktiken und Seite 7 Gegenständen, zwischen denen unterschieden werden kann’ (d. h. sie sind keine Ansammlungen Marx und Bakunin von Gleichartigem), ‘die entlang Seite 8 den Achsen von Territorialität und Entterritorialisierung ausgerichtet’ werden können. Resistencia! Damit vertreten sie die These, Seite 8 dass bestimmte Mixturen technischer und administrativer Praktiken neue Räume erschlie- David Graeber: ßen und verständlich machen, Direkte Aktion indem sie Milieus dechiffrieren und neu kodieren.“ (Wikipedia). Seite 9 2011 wurde der Verlag „edition assemblage“ gegründet. Er Genagelt versteht sich als „gesellschafts- kritisches, linkes, politisches Seite 10 und publizistisches Netzwerk“ und erhebt für sich den Widerstand in Indien Anspruch, „thematisch die gesamte gesellschaftskritische Ann-Kathrin Petermann, Willi Bischof und Carina Büker (edition assemblage) Foto: Bernd Drücke Seite 10 f. Breite radikaler linker Politik und Bewegung und kritische Schritt für Schritt ins Wissenschaften zu vertreten“. dann hingegangen und anstatt hin zu Romanen, Kurzge- Utopiegedanken kritisch denkt. Am 23. Januar 2014 führten ein Praktikum zu machen, habe schichten und Theaterstücken. Dieser Engel der Geschichte, Paradies Graswurzelrevolution-Prakti- ich dann gedacht ‘entweder Das ist alles noch ein bisschen fliegt rückwärts und schaut auf Seite 12 kantin Ann-Kathrin Petermann ganz oder gar nicht’ und bin des- in den Anfängen, unser Schwer- die sich auftürmenden Katastro- und GWR-Redakteur Bernd wegen jetzt von Anfang an da- punkt liegt bei politischen Sach- phen der Geschichte, die immer Drücke im Studio des Medien- bei. büchern. Weitere Themen sind größer werden. Mit dieser Uto- Volins „Unbekannte forums Münster das folgende (Queer-)Feminismus, Sozialpo- piefigur würde ich formulieren: “ Gespräch mit Willi Bischof und Willi Bischof: Ich bin seit 25 litik, Bewegungen von unten, Der weitblickendste Engel, Carina Büker von edition Jahren Verleger und nach dem Empowerment und viele ande- fliegt rückwärts und schaut weit Seite 12 assamblage. Unrast Verlag ist die edition as- re. nach hinten und schaut wie es Impressum semblage das zweite Verlags- den Menschen am Rand dieser seite 1 Bernd Drücke: Stellt Euch bit- projekt, das ich mitinitiert habe. Bernd Drücke: Besonders gut Gesellschaft geht. Man sollte Verlag Graswurzelrevolution e.V.: Sitz te mal vor. aus Eurem neuen Programm niemanden zurücklassen in der Heidelberg. Redaktion Graswurzelrevolu- Ann-Kathrin Petermann: Wie gefällt mir das diskussionsan- Gesellschaft, es sollte niemand tion: Breul 43, 48143 Münster, Tel. 0251/ Carina Büker: Ich bin die Cari- ist die Idee zu edition assem- regende Buch „Triple A“ von ausgegrenzt werden. 48290-57, Fax: 0251/48290-32, [email protected], GWR-Vertrieb, na und ich habe auf ein bisschen blage entstanden? Oskar Lubin, über Anarchis- Es erscheint mir wichtig, nicht Vaubanallee 2, 79100 Freiburg, Tel.: 0761/ verschlungenen Pfaden zu die- mus, Aktivismus und Allian- mit einem Traumbild nach vorne 21609407-0, Fax: -9, [email protected]; sem Verlag gefunden. Schon Willi Bischof: Sie entstand, weil zen. Diese „kleine Streitschrift zu schauen, sondern tatsächlich Graswurzelrevolution-Buchverlag: ziemlich lange habe ich mich für uns ein politisches Verlagspro- für ein Upgrading“ hat Horst zu schauen, was schief gegan- [email protected], Fax: 0421/ 6204569 www.graswurzel.net V.i.S.d.P.: politische Themen, also insbe- jekt fehlte und wir kollektiv ar- Blume im Oktober 2013 in der gen ist in dieser Geschichte, was Bernd Drücke, c/o GWR Münster. Auflage: sondere einfach was geht zwi- beiten wollten. Mit dem Ende Graswurzelrevolution Nr. 382 schief geht in dieser Gesell- 5.000. Vertriebskennzeichen D 4025 E. schen den Leuten ab, nicht so des Unrast-Kollektivs und der rezensiert. Versteht sich Euer schaft, wenn wir uns eine ande- Graswurzelrevolution bezeichnet eine tief- greifende gesellschaftliche Umwälzung, in Politik im Parlamentskramsin- Privatisierung des Verlages ent- Verlag als anarchistisch? Ver- re Zukunft vorstellen wollen. der durch Macht von unten alle Formen von ne, interessiert. Aber erst wäh- stand in unserem politischen steht Ihr euch als libertär? Die Perspektive ist, dass man Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden rend meines Studiums habe ich Umfeld das Konzept für unse- Habt Ihr eine Utopie? auf die Gesellschaft und die sollen. Wir kämpfen für eine Welt, in der die da dann auch andere Leute ge- ren neuen Verlag, das politisch Menschen schaut, die ausge- Menschen nicht länger wegen ihres Ge- schlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orien- funden, mit denen ich das dann und organisatorisch aus alten Willi Bischof: Wir publizieren grenzt werden. Sie sind die Ex- tierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeu- auch zusammen machen konn- Fehlern Konsequenzen zieht anarchistische Bücher. Wichti- pert*innen, die selten gehört gung, wegen einer Behinderung, aufgrund te. Das Studium habe ich dann und ein politisches Verlagspro- ger als die Frage, ob wir uns als werden. Wir benötigen mehr rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden. Wir irgendwann abgebrochen und jekt ermöglicht. Anarchisten oder Anarchistin- Bücher, die das Wissen dieser streben an, dass Hierarchie und Kapitalismus bin Buchhändlerin geworden. nen verstehen, ist es mir insbe- Menschen, ihren Widerstand durch eine selbstorganisierte, sozialistische Als das fertig war, wollte ich ein Bernd Drücke: Was macht sondere, dass wir auch den An- und ihre ganz alltäglichen The- Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesell- Praktikum in einem politischen Euer Verlag? Was bringt Ihr archismus oder die anarchisti- men und Kämpfe sprechen las- schaft ersetzt werden. Schwerpunkte unse- Verlag machen und habe dann für Bücher raus? sche Bewegung mit bewegen sen. In dem Sinne wünsche ich rer Arbeit lagen bisher in den Bereichen An- auf der Buchmesse den Willi ge- und prägen. Es ist nicht nur der mir auch für den Anarchismus timilitarismus und Ökologie. Unsere Ziele sol- len – soweit es geht – in unseren Kampf- troffen und ihn danach gefragt. Carina Büker: Wir haben Bü- Anarchismus, sondern es sind eine Bereicherung mit diesen und Organisationsformen vorweggenommen Als ich dann später noch mal cher zu verschiedensten The- auch andere soziale Bewegun- Themen und Perspektiven. und zur Anwendung gebracht werden. Um angerufen habe, wie das jetzt men, die in einem politischen gen und politische Theorien, in Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurück- zudrängen und zu zerstören, setzen wir ge- aussieht mit dem Praktikum, Kontext stehen. Das sind klas- die wir reinwirken wollen. Carina Büker: Ich würde auch waltfreie Aktionsformen ein. In diesem Sin- sagte der mir, ach komm doch sische Anarchismus-, Kommu- Wenn du mich nach einer kon- sagen, dass unser Anarchismus ne bemüht sich die anarchistische Zeitung einfach mal zum Gründungs- nismus-, Antirassimus- und An- kreten Utopie fragst, dann den- eher einer ist, in dem wir be- Graswurzelrevolution, seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbrei- treffen vom neuen Verlag edi- tifa-Sachen, Vielfältiges von ke ich an Walter Benjamin und stimmte Ziele vertreten. tern und weiterzuentwickeln. tion assemblage. Da bin ich theoretischen Standpunkten bis den Geschichtsengel, der den Fortsetzung nächste Seite Zeichnung: Findus libertäre buchseiten graswurzelrevolution märz 2014/387

Fortsetzung von Buchseite 1 „Nicht das klassische, weiße Bild des Kollektivs“

und da wohnen einige Leute in haben, aber ich bin, glaub ich, Münster und viele in anderen nicht in der Lage, drei gute Sät- Städten. Wir treffen uns zwei ze am Stück alleine zu schrei- mal jährlich entweder in Müns- ben. Das ist eine Arbeitsteilung, ter oder Berlin und sprechen da die sich total gut ergibt. dann Grundsatzdinge durch. Während bei uns im Büro der Ann-Kathrin Petermann: Die Alltag abläuft, passiert auf die- edition assemblage sagt über sen Treffen dann so etwas wie: sich selbst, dass es ein Wunsch Wir fällen Entscheidungen, wel- von ihnen ist, in neuen Kon- che Themen wir im Programm stellationen, gemeinsame Pro- haben wollen oder welches jekte zu realisieren. Was sind Buch wir jetzt konkret wirklich das für Projekte? machen und welches nicht. Zwischendurch kommunizieren Willi Bischof: In Münster arbei- wir über ein Forum, aber die ten wir mit verschiedenen Grup- Hauptsachen sind auf diesen pen zusammen und mit zwei In- Programmkonferenzen. fozentren. Eine Perspektive ist der Wunsch nach einem Auto- Bernd Drücke: Wie seid Ihr nomen Zentrum hier in Müns- dazu gekommen, überhaupt ter, das von Antifa bis Antire- so einen politischen Verlag ins pressionsarbeit, über viele ver- Leben zu rufen? Wie verlief schiedene aktive Gruppen hier Eure politische Sozialisation? reicht. Dort machen wir gemein- same Pläne und organisieren Carina Büker: Meine politische uns, das ist unser Anspruch mit- Sozialisation fing ganz klischee- einander. Wir haben ein klassi- haft mit Antifa-Arbeit an, weil sches Standing im Buchhandel das die erste Gruppe in meinem und eine professionelle Auslie- Alter war, zu der ich Kontakt ferung. Außerdem arbeiten wir gefunden habe. Im Prinzip wird mit professionellen, guten Dru- ja jeder Mensch quasi von klein ckereien zusammen, haben im auf mit Themen des menschli- der edition AV und der AG chen Miteinanders konfrontiert, SPAK die Vertriebskooperation es sei denn, man ist alleine in book:fair gegründet. Intern ar- auch nicht unbedingt positive haben schon ein dickes Pro- irgendeinen Raum gesperrt. beiten wir mit verschiedenen Reaktionen, aber ich glaube, er gramm. Neben unseren Inhalten Dass ich dann irgendwann den Projekten zusammen oder es geht da ganz gut mit um. spielen auch Kleinigkeiten wie Wunsch hatte, politische Bücher entwickeln sich Projekte. Er macht viele Veranstaltungen schöne bunte Cover eine Rolle, zu machen, kam daher, dass ich Das heißt, jeder findet seinen und das Buch wird gut ange- nicht das klassische Schwarz- Wir lehnen Herrschaft ab, haben eine Ausbildung als Buchhänd- Platz und es entstehen neue He- nommen. Ich glaube, wenn man Rot der politischen Verlage, was eine Utopie von einem guten, lerin gemacht habe. Da habe ich rausgeber*innengruppen, die erfahren will wie sich das alles man meistens auf den Tischen nicht hierarchischen Umgang gemerkt, wie Menschen mit Bü- eigene Reihen konzipieren und zusammensetzt und dass das findet. Da merkt man dann, dass von Menschen miteinander. chern umgehen und wie wich- sich selbständig organisieren. eben nicht nur eine Partei ist, die das, was wir machen, auch von Aber es ist nicht so, dass wir uns tig das für sie ist. Wie groß der Beispielsweise die Reihe Wit- da agiert, sondern ein ganzes den Leuten geschätzt wird. Das das Label ‘anarchistisch’ geben Unterschied ist, ob jemand in nessed, eine Reihe von Schwar- Konglomerat dahinter steckt, macht Spaß. Für 2014 freue ich oder dass wir andere Wege zu den Laden geht und sich einen zen Autor*innen; die Reihe An- dann ist das ein gutes Einstiegs- mich gerade persönlich ganz be- dem gleichen Ziel ablehnen. Pullover kauft oder in die Buch- tifaschistische Politik, die klas- buch dazu. Es ist auch leicht zu sonders auf eine Kinderbuch- Ich glaube ein konsequent zu handlung kommt und dann sisch die antifaschistischen The- lesen, das finde ich auch immer reihe, deren erster Titel jetzt er- seite 2 Ende gedachter Kommunismus wirklich etwas zum Lesen ha- men bearbeitet; die Reihe kritik wichtig, dass politische Themen scheinen wird: „Das Wort das kommt letztendlich auf das ben will. Da war dann meine praxis kitchen politics, die sich für möglichst viele zugänglich Bauchschmerzen macht“. Gleiche raus wie der Anarchis- Idee: Ich möchte gerne daran mit queerfeministischen The- gemacht werden. Im Mittelpunkt stehen dabei mus. Insofern finde ich es über- mitarbeiten, politische Bücher men, Ökonomie, Kapitalismus schwarze deutsche Zwillinge, haupt nicht so wichtig, wie man zu machen, die als Sachbücher und Kommunismus beschäftigt. Ann-Kathrin Petermann: Die Lukas und Lennard, die so eini- sich nennt oder welche Wege Themen auf den Punkt bringen, edition assemblage arbeitet ja ges erleben und davon erzählen. unsere Leser*innen, Autor*in- die als Literatur spannend sind, Carina Büker: Wir verstehen nach den Prinzipien einer so- Die Reihe richtet sich an Kin- nen und wir selber persönlich nicht mit dem Zeigefinger etwas uns weder als Dienstleistungs- lidarischen Ökonomie. Was der im Grundschulalter, der ers- bevorzugen, sondern dass wir vorgeben, sondern die die Rea- verlag, der alles druckt, was uns kann man sich darunter vor- te Band spielt auch in der Schu- auf ein ähnliches oder gemein- lität auch auf besondere Weise irgendjemand rein reicht, noch stellen? le, und ich bin gespannt, wie es sames Ziel zuarbeiten. zeigen, so dass Leute dazu an- sind wir diejenigen, die Auto- in den Folgebänden weitergeht. gestoßen werden, über Dinge r*innen anrufen und etwas ‘be- Carina Büker: Das heißt kon- Willi Bischof: Das Bild, das wir nachzudenken und sich zu en- stellen’. Es geht immer um die kret, dass wir mit dem Geld, was Bernd Drücke: Welche Pers- vom Kollektiv haben, und die gagieren oder auch einfach an Zusammenarbeit, das Entwik- wir zur Verfügung haben, nicht pektiven seht ihr allgemein, Art wie wir uns organisieren, ihrem persönlichen Verhalten keln, die Kommunikation und darauf aus sind, mehr daraus zu einmal für die linken Verlage drückt viel aus. Asamblea kennt etwas zu ändern. Indem man Im- darum, dass etwas entstehen machen. Im Sinne von ‘wir wol- und auf der anderen Seite für man zum Beispiel aus Südeu- pulse gibt, was dieser Welt hel- soll. len Profit für uns persönlich’ soziale Bewegungen, in denen ropa und aus der Occupy-Bewe- fen könnte, damit es Leuten bes- oder ‘wir wollen, dass der Ver- Ihr euch bewegt und die Ihr gung als Versammlung. Bei uns ser geht. Bernd Drücke: Viel Aufsehen lag immer reicher wird’, son- mit den Inhalten der im Ver- versammeln sich nicht einfach erregte das bei Euch 2013 er- dern das Geld ist Mittel zum lag publizierten Bücher ja in Gleiche, sondern alle sind sehr Willi Bischof: Neben Büchern schienene Buch „Rechte Euro- Zweck, um coole Bücher zu ma- gewisser Weise spiegelt? unterschiedlich in ihrer Politik und Schreiben, politisierte mich Rebellion - Alternative für chen und die unter die Leute zu und ihrem Herangehen. Das vor allem die autonome Bewe- Deutschland und Zivile Koa- bringen. Das heißt dann auch, Carina Büker: Es ist wichtig, braucht seinen Platz und eine gung in den 80ern. In Münster lition e.V.“ von Andreas Kem- dass wir, wenn wir mal etwas dass aktuelle Dinge direkt und Struktur, die nicht autoritär ist. war das das Umwälzzentrum per. Könnt ihr dazu etwas er- mehr Geld haben, andere Pro- spektrenübergreifend diskutiert Das braucht auch eine Wirt- und das autonome Kulturzent- zählen? jekte damit unterstützen. Das werden. Es soll kein Thema in schaftsform, die Sachen kollek- rum Themroc und die anarchis- heißt zum Beispiel auch, dass der Anarcho-Ecke hängen blei- tiviert und nicht privatisiert. Das tische Zeitschrift ProjektIL. Es Willi Bischof: Es gibt einen An- wir das Projekt ‘Bücher statt ben und für das andere interes- sind anarchistische Themen und ging um Anti-AKW, um Haus- spruch, auf aktuelle Themen Zinsen’ haben. Da können zum sieren sich nur bestimmte ande- wir haben nicht das klassische besetzung, um Patriarchatskritik schnell zu reagieren. Da haben Beispiel Leute ihr Geld im Ver- re Gruppen. Wir gucken, wie weiße Bild des Kollektivs ge- und um solche Fragen, Themen wir ein großes Umfeld und ken- lag anlegen, aber nicht für eine Sachen zusammengeführt wer- wählt, nach dem Motto: Wir und Strukturen. Irgendwann ha- nen uns in den verschiedenen Gewinnbeteiligung, sondern sie den können, ohne dass dabei die sind gleich, wir haben alle die be ich dann festgestellt, dass ich Bewegungen aus. Wir wissen, kriegen stattdessen dann Bücher Verschiedenheit der Menschen gleichen Ansprüche. literarisch nicht mehr schreibe, welche Leute und Themen wir im Wert von zehn Prozent des und ihrer Kämpfe verloren geht. sondern politische Texte verfas- im Verlauf ansprechen können. Angelegten pro Jahr. Das ist ei- Also um mehr solidarisches Ann-Kathrin Petermann: Wie se. Später entstand die Idee, dass Wir suchen die Diskussion und ne nette Sache, wenn man etwas Miteinander zu finden. sieht Euer Arbeitsalltag aus? Broschüren nicht reichen und fragen uns, wo wir als radikale sowieso lesen will und gerade Wie ist der Vertrieb geregelt? wir Menschen mit Büchern er- Linke reagieren müssen. Dann nicht weiß, wo man sein Geld Bernd Drücke: Seid Ihr 2014 reichen möchten. So bin ich da- versuchen wir auch mit Büchern hin tun soll. auf den Buchmessen in Leip- Carina Büker: Unser Arbeits- zu gekommen Buch- und Ver- zu intervenieren und es entste- zig und Frankfurt vertreten? alltag sieht so aus, dass meistens lagsprojekte anzugehen. hen oft in drei-vier Wochen aus Ann-Kathrin Petermann: Willi und ich gemeinsam im Bü- intensiv geführten Debatten Gibt es bisher gute Resonan- Carina Büker: In Leipzig die- ro sitzen, seit kurzem ist auch Carina Büker: Es gibt unglaub- Fachbeiträge. Jetzt tauchte die zen? Was habt Ihr für 2014 ses Jahr leider nicht. In Frank- der Robin dabei. Wir erledigen lich viele Leute, die tolle Sachen AfD auf und wir waren tatsäch- noch geplant? furt sind wir im Oktober aber unsere Sachen und sprechen viel zu sagen haben und die auch ir- lich der erste Verlag, der etwas wieder. Mal sehen, ob es 2015 darüber, wie wir Probleme an- gendwie ausdrücken können, grundlegendes zu diesem Phä- Willi Bischof: Die Resonanz war mit Leipzig klappt. gehen. Zudem arbeiten wir an aber oft Probleme mit Recht- nomen sagen konnte. ziemlich gut, im Buchhandel den Buchprojekten und den Vor- schreibung und Grammatik ha- wird es sehr gut aufgenommen. Ann-Kathrin Petermann und schauen. Darüber hinaus sind ben. Da habe ich meinen Platz Carina Büker: Andreas Kemper Wir planen ungefähr zehn bis Bernd Drücke: Herzlichen wir ja auch mit anderen Leuten als Lektorin gefunden, weil ich hat sich tief in diesen Sumpf von fünfzehn Bücher im Jahr. Dank für das Gespräch. organisiert, vor allem in unse- eine geborene Klugscheißerin Vereinen und Verbänden, die da- rem Programmrat. Das ist sozu- bin. Ich kann super an Sachen hinter stehen, reingefuchst. Da Carina Büker: Seit der Grün- sagen der Überbau des Verlags rumfeilen, die andere gemacht kamen dann natürlich von denen dung ging es rasant voran, wir Link zum Verlag: www.edition-assemblage.de libertäre märz 2014/387 graswurzelrevolution buchseiten Eine Geschichte der Besiegten Der neue Antikriegscomic des Anarchisten Jacques Tardi

Jacques Tardi: ICH RENÉ TARDI, Tardis Vater meldete sich frei- hätte tun können. In den Schul- KRIEGSGEFANGENER IM STALAG willig zur Armee. 1940 zieht heften des Vaters sind immer IIB, Edition Moderne, Zürich er als Panzerführer in den wieder kleine Zeichnungen zu 2013, 200 Seiten, farbig, 22 x 30 Krieg gegen Deutschland. finden. Da, wo die Worte des cm, Hardcover, 49 SFr / 35 Euro, „Unschlagbar“ seien sie, wird Vaters versagten, griff auch er ISBN 978-3-03731-112-7 den jungen Männern einge- zum Bild. Das gleiche gilt für bläut und lange glauben sie den Comic. Das Bild vermag Der Anarchosyndikalist und An- daran. Bis die Nazis Paris nicht selten über das Wort hin- timilitarist Jacques Tardi (*1946) überrollen. „Invincible“, also auszugehen und eindringlicher ist einer der ganz Großen der fran- „Unbesiegbar“ prankt auf ei- zu erzählen, was das Wort schon zösischen Comicszene. nem der zerschossenen, fran- nicht mehr beschreiben kann. In seinem Œuvre nimmt die inten- zösischen Panzer, die in Tardis Für gewöhnlich zeichnet Tardi sive Auseinandersetzung mit dem graphic novel abgebildet sind. in schwarz und weiß. Um das zu Ersten Weltkrieg (z.B. „Elender Sinnbild für den Hochmut und erzählen, was er erzählen möch- Krieg“) eine zentrale Rolle ein, das Verderben. te, braucht er keine Farbe. Wenn neben adaptieren Kriminalge- Immerzu schimpft René Tardi in dem einen oder anderen sei- schichten aus der Feder von Léo – auf den eigenen Staat, der ner Comics doch mal Farbe auf- Malet, einem Zyklus über die Pa- sie schlecht vorbereitet in die- tauchen sollte, so Tardi, würde riser Kommune („Die Macht des sen Krieg geschickt hat, auf der Verleger dahinter stecken, Volkes) u.v.m. die Deutschen, die all diese der meinte, in der Farbe ein wei- Mit seinem neuesten Werk „ICH, Verbrechen begehen, auf den teres Verkaufsargument gefun- RENÉ TARDI, KRIEGSGEFAN- Krieg, auf den Hunger und auf den zu haben. GENER IIB“ beschäftigt sich Tar- die Kälte. Bei „Stalag IIB“ ist es etwas an- di nun erstmals auch mit dem Nach einem Jahr Kriegsbetei- deres, wie Tardi betont. Hier ist Zweiten Weltkrieg – erzählt durch ligung kommt der Vater in die Kolorierung von seiner die Augen seines Vaters René. deutsche Gefangenschaft. Zu- Tochter Rachel vorgenommen René Tardi war nach eigenem Be- nächst in ein Zwischenlager worden. Allerdings verlässt sie kunden ein euphorischer Idealist, nach Trier, später in das La- den Pfad ihres Vaters nicht. bevor er in den Krieg zog. Wie ger Stalag IIB, in Pommern, Den zuweilen düsteren Zeich- wurde aus ihm ein verbitterter, im- im heutigen Polen. Neben nungen von Tardi fügt sie trost- mer zu wütender Mensch, fragte kurzzeitigen Arbeitseinsätzen lose Grautöne hinzu, hier und da sich auch der Zeichner, als er den herrscht hier vorrangig die lediglich akzentuiert durch das Vater bat, seine Geschichte auf- Monotonie und immer wieder Blutrot der Hakenkreuzfahnen. zuschreiben. Drei Schulhefte, ge- Hunger, Hunger, Hunger. „Es füllt mit Erinnerungen an Krieg wurde immerzu nur über Fres- Jacques Tardi ist mit seinem bis- und Gefangenschaft, bekommt sen geredet“, erzählt Tardi se- her persönlichsten Werk „ICH, der Sohn ausgehändigt. Doch die- nior. Insgesamt bleibt René RENÉ TARDI, KRIEGSGE- ser zögert mit der Umsetzung der Tardi vier Jahre in Gefangen- FANGENER IIB“ eine großar- Geschichte in Comicform. Erst schaft. tige graphic novel gelungen. nach dem Tod des Vaters beginnt Lässt sich eine solche Ge- Wieder einmal. er mit der Arbeit und bedauert, die schichte als Comic erzählen? Abb. aus: Jacques Tardi: ICH RENÉ TARDI, KRIEGSGEFANGENER IM STALAG IIB seite 3 eine oder andere Frage nicht mehr Ja, und das vielleicht besser, Minou Lefebre stellen zu können. als es ein anderes Medium libertäre buchseiten graswurzelrevolution märz 2014/387 Bleib da oben! Von aktivistischen Eichhörnchen und unnachgiebigen Repressionssystemen

„Kommen sie da runter!“ – Was chen. So werden ihr telekine- verbirgt sich hinter dieser Auf- tische Fähigkeiten zugeschrie- Cécile Lecomte: „Kommen forderung? ben, die es sogar fast vor Gericht Sie da runter!“ - Kurzge- Die sehr persönliche Biographie schafften. Schwere Körperver- schichten und Texte aus einer Aktivistin. Ein Kompen- letzung habe sie begangen, als dem politischen Alltag einer dium der Vielfalt des (Kletter-) ohne ihre Anwesenheit ein Po- Kletterkünstlerin. Verlag aktivismus. Ein Lehrbuch über lizeibeamter aus der Schiebetür Graswurzelrevolution, den kreativen Umgang mit Po- eines fahrenden Fahrzeugs fiel. Heidelberg 2014. Mit DVD, lizeirepression und dem Führen Ah.... ja. 189 Seiten, 25 Abbildun- von politischen Prozessen. gen, 16,90 Euro, ISBN 978- „Dieses Buch soll vermitteln, Kapitel III und IV. 3-939045-23-6 was politisch aktivistisches Le- ben bedeutet. Es ist zugleich ein Es wird ungemütlicher. Cécile Appell, sich politisch zu enga- versteht es, uns Leser*innen gieren“, so die Autorin. mitzunehmen in aktivistische Erfahrungswelten, die mir das Cécile Lecomte, auch genannt blanke Entsetzen in die lesenden das Eichhörnchen, ist weit über Augen trieben. Die Staatsgewalt die Grenzen der Anti-Atom-Be- physisch zu spüren zu bekom- wegung hinaus bekannt. Denn men, ist die brutalste Art, sich Cécile hat fantasievolle Protest- mit ihrer Absurdität auseinan- formen populär gemacht, indem derzusetzen. sie seit über zehn Jahren mit Doch auch das bleibt in einem Akrobatik und viel Mut die aktivistisch geprägten Leben Form der Sitzblockade in die leider oft nicht aus. Bei weitem dritte Dimension transferiert. nicht ohne Spuren, aber den- Was viele nicht wissen: Wer sich noch gestärkt, geht Cécile aus kreativ, humorvoll und friedlich ihren biographischen Erfahrun- zur Wehr setzt gegen atomare gen heraus. Mich ließen die Ge- Bedrohung, genveränderte schichten inne halten und reflek- Pflanzen, gegen Militarismus, tieren. Wie stark wäre ich gewe- muss sich zwangsläufig auch sen? Wie aktiv wäre ich geblie- mit Polizeirepression und juris- ben? tische Unzumutbarkeiten aus- seite 4 einandersetzen. Kapitel V und VI. Kapitel I Kapitel V konfrontiert uns mit dem Schlimmsten, was uns in Im ersten Kapitel werden wir unserem politischen Alltag pas- Knall auf Fall eingeführt in die sieren kann – mit dem Tod ei- aktivistische Welt Céciles. Bei- nes Aktivisten bei einer Aktion, spiele aus dem Alltag der Au- dem Tod von einem von uns, torin machen Lust darauf „Ein- dem Tod von Sébastien Briat. Cécile Lecomte Foto: privat fach frech [zu] sein!“, wenn uns „Er starb nicht nach einem Dis- etwas politisch nicht passt. cobesuch betrunken am Steuer, Ein Beispiel berichtet von einer sondern bei einer Aktion, um Kapitel VIII Kapitel X Die Rezension ist aus der Pers- zuvor nie dagewesenen Abseil- seiner Überzeugung Gehoör zu pektive einer Aktivistin ge- Aktion von einer 75 Meter ho- verschaffen“, zitiert Cécile die Kapitel VIII fokussiert noch ein- Im Kapitel X werden wir wieder schrieben. Aber auch gerade für hen ICE-Brücke über das da- Erklärung der Freund*innen mal auf zahlreiche Situationen, einmal eingeladen zu einer Vor- nicht-aktivistische Menschen runter liegende Castor-Gleis. von Sébastien. in denen Cécile ihre Kletter- führung des absurden Theaters scheint es mir ein schönes Lehr- Wir Aktivist*innen klatschen Es folgen Erlebnisse aus Céciles künste für politische Protestak- der Justiz. In den Hauptrollen: buch zu sein – nicht nur um ei- juchzend in die Hände, die Pres- Leben, die von der Überwa- tionen nutze. ein renitentes Eichhörnchen und nen Einblick in die Praxis von se stürzt sich drauf, die Polizei chung ihrer Person berichten einige Laien gegen und die „un- kreativen Widerstandsaktionen hingegen ist mal wieder perplex und die durch ihren gnadenlo- IX-tes Kapitel fehlbare“ Justiz. Seid gespannt! zu bekommen, sondern auch um und überfordert. Und damit hat sen Realismus schon wieder Cécile liefert mit ihrem offenen vielleicht zum ersten Mal unge- das Buch auch schon erreicht, witzig wirken. Besser könnte Cécile sitzt ein. Ihre Erfahrun- Schreibstil eine gelungene Me- schönt davon zu erfahren, dass was Cécile erreichen möchte. mensch es sich nicht ausdenken. gen im Knast haben bei ihr psy- lange zwischen einem die psy- staatliche Repression gegenüber Doch wer nun schon das Buch chische Spuren hinterlassen. chische Integrität sicherndem politisch unbequemen Men- zuklappt, wird viel verpassen! Kapitel VII. Dennoch, oder gerade deshalb, Galgenhumor und der gebote- schen System und nichts mit unterzieht sie ihre Erfahrungen nen Ernsthaftigkeit. Rechtsstaatlichkeit zu tun hat. Kaptitel II In Kapitel VII erzählt uns Cécile einer kritischen Analyse. Ihr Er- Es hat bei mir viele Reaktionen Und als Beilage zum Buch gibt von Situationen, in denen staat- gebnis: Statt Resozialisierung hervorgerufen: Von Gackern, es einen sehenswerten, dreißig- Im zweiten Kaptitel begegnen liche Institutionen aufs absur- und Erleben allgemeiner Le- bis Kichern und Schnorcheln, minütigen Dokumentarfilm auf uns skurrile Geschichten aus deste begründet das Eichhörn- bensverhältnisse bedeutet Knast vom Kloß im Hals bis zum Luft- DVD. dem Nähkästchen der polizeili- chen zur Gefahrenabwehr in die Knappheit und Erziehung zur anhalten, vom Trauern bis zum chen Praxis mit dem Eichhörn- Mangel nahmen. Unterordnung. Ausrufen eines lauten „Pah!“. Jana Ballenthien

Anzeige libertäre märz 2014/387 graswurzelrevolution buchseiten „Anarchismus Hoch 2“ Libertäre Vielfalt und gegenseitige Hilfe

Anarchismus bedeutet Vielfalt, ist bunt, lebendig, grenzt sich selbst nicht ein, sucht sich Ak- tionsfelder und findet sie über- all. Schlicht deshalb, weil sich Herrschaft, Hierarchien, Macht- verhältnisse, Ausbeutung aller Art, Ungleichheit aller Art und Ungerechtigkeit überall finden lassen. Insofern erfindet sich die anarchistische Bewegung im- mer wieder neu. Bernd Drücke (Hg.): Anarchis- Ganz in diesem Sinne „funktio- mus Hoch 2. Soziale Bewe- nieren“ die beiden „ja! Anar- gung, Utopie, Realität, chismus“-Bände, die Bernd Zukunft. Interviews und Drücke verantwortet: indem er Gespräche, Karin Kramer Personen interviewt, die unter- Verlag, Berlin 2014, 240 schiedlicher kaum sein können, Seiten, 24 Abbildungen, 18 die sich verschiedenste Betäti- Euro, ISBN 978-3-87956-375- gungsfelder ausgesucht haben 3 und doch alle im anarchisti- schen Sinn unterwegs sind. Auf Bernd Drücke (Hg.): ja! diese Weise gelingt es dem Anarchismus. Gelebte Utopie Graswurzelrevolution-Redak- im 21. Jahrhundert. Inter- teur diesen „vielfältigen Anar- views und Gespräche, Karin chismus“ fassbarer und für Au- Kramer Verlag, Berlin, ßenstehende begreifbarer zu überarbeitete Neuauflage, machen. voraussichtlich Oktober Weil jede der interviewten Per- 2014, 280 Seiten, 55 sonen gleichzeitig für ihren je- Abbildungen, 19,80 Euro, weils gewählten Ansatz ein- ISBN 978-3-87956-307-1 steht, wird für die LeserInnen gleichzeitig deutlich, dass es hier nicht um eine Beliebigkeit der Themen geht, sondern dass diese Themenfelder „gelebt“ „Vor diesem Buch muss ich im Interesse der Friedensarbeit dringend warnen. Es ist derart lebendig, dass ich, kaum dass ich es aufgeschlagen hatte und mich auf werden und dass diesen Hand- das erste Gespräch gestürzt habe, die Zeit vergaß und darüber zu spät zum Treffen des Bochumer Friedensplenums kam.“ (Felix Oekentorp über das Buch „ja! lungen eine gemeinsame Hal- Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert“, in: ZivilCourage, Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK ) tung zugrunde liegt, die diese seite 5 unterschiedlichen Betätigungs- felder verbindet. in der Regel erst dann, wenn sie russischen Anarchismusfor- das Projekt A scheiterte und die viele Handlungsmöglichkeiten Darüber hinaus wird verständ- tot sind. scher Vadim Damier, den ehe- Castoren erreichten letztlich ih- hat, um wirkungsvoll einzugrei- lich, dass die Personen sich mit Um Personen geht es in den bei- maligen DDR-Bürgerrechtler ren Bestimmungsort. Und den- fen und dass dieses Tun nicht dem was sie tun charakterisie- den Bänden, in der Gefahr des und Umweltblätter-Redakteur noch veränderten und verändern umsonst ist. In diesem Sinne ren lassen und dass dieses Tun Personenkults steht die Auswahl Wolfgang Rüddenklau, den Li- die Aktionen die Gesellschaft wäre zu wünschen, dass „Anar- zu einem wesentlichen Teil ih- „Anarchismus Hoch 2“ aber auf bertad-Verleger Jochen und bringen Diskussionen in chismus Hoch 3“ nicht der letz- rer unverwechselbaren Identität Grund der Vielzahl von Perso- Schmück, den Umweltaktivis- Gang, die den Mainstream pro- te geplante Band der Reihe wer- geworden ist, die sie durch das nen und deren Verschiedenheit ten und Arzt Michael Wilk, die gressiv beeinflussen. In diesem den möge! Leben und seine Anforderungen sicherlich nicht. Umweltaktivistin Franziska Sinne passt für viele der Satz, Vielleicht haben diese Bände trägt. Wir finden den Liedermacher Wittig, den ehemaligen „Projekt mit dem ein Nachruf auf Au- am Ende sogar eine Innenwir- Nun sind AnarchistInnen immer Konstantin Wecker, den Comic- A“-Kommunarden Bernd Els- gustin Souchy begann „Viel er- kung auf die anarchistische Be- auch schnell zu Recht skeptisch, zeichner Gerhard Seyfried, die ner sowie die österreichischen strebt, wenig erreicht“ - eine wegung? Etwa indem wir erken- wenn es um „Personenkult“ Zeichnerin Ziska Riemann, die Anarchisten Gabriel Kuhn und ehrliche Bilanz. Und doch ha- nen, dass in der Akzeptanz und geht. In den Szenediskussionen anarchafeministische Bloggerin Sebastian Kalicha. ben alle immens viel bewegt Wertschätzung der Vielfalt und wird da jedoch oftmals allzu Antje Schrupp, den Soziologen Allen gemeinsam ist, dass ihr und werden dies weiterhin tun; der gegenseitigen Unterstüt- schnell „gebrandmarkt“, ohne Luz Kerkeling, den emeritierten politisches Engagement ihr Le- sie stehen mit ihrer Person dafür zung, aber nicht im Kampf um dass in Frage steht, dass auch Politikprofessor Wolf-Dieter ben prägt; oftmals gehören Sie ein. Sie leben vor, dass mensch den „richtigen“ Weg, unsere ei- die anarchistische Bewegung ih- Narr, die französische Kletter- nicht zu den „Siegern“, so wur- auch in einer neoliberalen, glo- gentliche Stärke liegt! re „Helden“ verehrt, - allerdings aktivistin Cécile Lecomte, den de die Startbahn West gebaut, balisierten, kapitalistischen Welt Wolfgang Haug Anzeige libertäre buchseiten graswurzelrevolution märz 2014/387 Das Buch des Jahres Deutsche AnarchosyndikalistInnen im Spanischen Bürgerkrieg

Von vielen lang erwartet, ist im tInnen – unter Einschluss oppo- Oktober 2013 die deutsche Aus- sitioneller Nazis? gabe des dicken Buches über die Eine weitere Stärke des Buches Dieter Nelles / Ulrich Linse / Mitwirkung deutscher Anarcho- liegt in seiner Mehrstimmigkeit, Harald Piotrowski / Carlos syndikalistInnen an der spani- die wiederum mit der kompli- Garcia: Deutsche schen Revolution bzw. des (Bür- zierten Entstehungsgeschichte AntifaschistInnen in Barcelo- ger-)Kriegs erschienen. Im De- zu tun hat. Harald Piotrowski na 1933 – 1939. Die Gruppe zember 2013 wurde „Deutsche und Carlos Garcia, beide Barce- Deutsche Anarcho- AntifaschistInnen in Barcelona lona, gehörten 2006 zu den He- syndikalisten“ (DAS). 1933-1939“ von der Berliner Bi- rausgebern eines Sammelban- Verlag Graswurzelrevolution, bliothek der Freien als „Buch des1 , in dem Berichte auslän- Heidelberg 2013. 425 S., des Jahres“ ausgezeichnet. discher libertärer und links- zahlr. Abb., 24.90 Euro, ISBN sozialistischer Zeitzeugen der 978-3-939045-22-9 Etwa 250 Deutsche kämpften in Maiereignisse 1937 erstmals ins anarchistischen Milizen, man- Spanische übersetzt wurden, da- che davon waren auch Mitglied runter solche der Gruppe DAS. der Gruppe DAS (Deutsche An- Als deren Geschichte weiter er- archosyndikalisten), der in Bar- forscht werden sollte, stießen sie celona ansässigen Sektion der auf Dieter Nelles, der bereits in Fortführung der anarchosyndi- den 80er Jahren gemeinsam mit kalistischen FAUD (Freien Ar- Ulrich Linse u.a. an dem The- beiter Union) im Exil. Deren ma gearbeitet hatte, ohne dass Haupttätigkeit bestand - zwi- das Projekt zu einem Abschluss schen Putsch und Revolution im kam. Texte aus diesem alten Juli 1936 und dem Ende ihrer Projekt wurden nun, teils über- Existenz als Gruppe im Zusam- arbeitet, mit den neueren Arbei- menhang mit den Maiereignis- ten von Piotrowski und Garcia sen 1937 - im Wesentlichen in zusammengefügt und erschie- der Bekämpfung des örtlichen nen so zunächst in spanischer Nazi-Netzwerkes, die u.a. in der Sprache2 . Veröffentlichung des „Schwarz- Zur Mehrstimmigkeit gehört, rotbuches“ resultierte, einer um- dass bei Nelles und Linse Innen- fangreichen Zusammenstellung ansichten eine zentrale Rolle „Die Verpflegung. Ascaso-Division“. Milizionäre der Ascaso-Division in Banastás (Huesca) - Steineichenwald. Bei der von Nazi-Dokumenten, die die spielen, also Berichte und Kor- Essenszubereitung, Lieder singend, Gitarre spielend und Hände klatschend. (Foto: Kati Horna, aufgenommen 1937) Abb. AktivistInnen der Gruppe DAS respondenzen der Akteure, wäh- aus: Dieter Nelles / Ulrich Linse / Harald Piotrowski / Carlos Garcia: Deutsche AntifaschistInnen in Barcelona 1933 – beschlagnahmen konnten. rend Piotrowski und Garcia 1939. Die Gruppe Deutsche Anarchosyndikalisten“ (DAS). Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2013 seite 6 Zeitweise waren die deutschen durch Archivrecherchen vor Ort AnarchosyndikalistInnen sogar bislang unbekannte Außenan- ganz allgemein mit der Kontrol- sichten zusteuern konnten, etwa le Deutscher in Barcelona be- Presseartikel, amtliche Doku- blikanischen Gefängnissen, gruppe in dieser Hinsicht nur in zis ausgeliefert, Zuchthaus, traut, worin nun eine gewisse mente usw. manche hat’s auch erwischt. geringem Maße aktiv war - dazu überlebt, DDR, und dann Ironie liegt: ausgerechnet Anar- Auffallend ist auch, dass sich Hiervon berichten das letzte Ka- vielleicht auch gar keine Gele- schreibt der 1991: Das habe ihn chistInnen als „Fremdenpoli- die Texte im Tonfall unterschei- pitel des Buches sowie der aus- genheit hatte. In den Zitaten, mit nie verlassen, damals in Spani- zei“? den: bei Linse und Nelles domi- führliche biographische An- denen sowohl Piotrowski / Gar- en mit anderen zusammen „et- Zu den Stärken des Buches ge- niert eine nüchtern-sachliche hang, so dass sich, gemeinsam cia als auch Nelles ihre Texte was ‚Historisches’ in Gang ge- hört es, dass es diesen und an- Darstellungsweise, während mit den vorangestellten Kapi- enden lassen, dominieren fol- bracht“ zu haben. dere „schwierige“ Aspekte kei- Piotrowski und Garcia eine ge- teln zur Einwanderung nach gende Perspektiven: Bei Pio- Das kann nun dem oder der zu neswegs ausblendet. Davon gab wisse rhetorische Schärfe erken- Barcelona vor 1936 sowie der trowski / Garcia ist es der deut- pathetisch sein, ich finde aber es viele: interne politische und nen lassen, vor allem, wenn es Frühgeschichte der Gruppe sche Syndikalist Mauricio Lip- schon, dass es eine Art von Wür- persönliche Konflikte, das um die Stalinisten geht, um die DAS, ein umfassendes Bild er- schulz, der über seine Haft in de hat. Eine seltsame Art von schwierige Verhältnis zur CNT, Bürokratie und die katalani- gibt. Kleine Unebenheiten gibt einem Gefängnis der Volks- Würde, für die es vielleicht noch oder den Dualismus derselben, schen Eliten, da gibt es Sarkas- es, ins Gewicht fallen sie mei- frontler berichtet – also: das Ab- nicht einmal eine Revolution die gleichzeitig staatstragend mus, Aggressivität, und sogar ner Ansicht nach nicht. würgen der Revolution durch ei- braucht. und revolutionär auftrat. Gera- mal ein Ausrufezeichen! Beides ne Allianz von Stalinisten und de im Kleinen ist Erstaunliches scheint dem Thema angemes- Was bleibt davon? überkommenen Eliten. Heiko Schmidt, Berlin zu lesen: die Gruppe DAS sen. Nelles zitiert aus einem Brief schloss Johannes Noll aus, weil Der „Kurze Sommer der Anar- Zum einen sicherlich der Re- von Karl Brauner. Der war über Anmerkungen: er gewaltloser Anarchist war? chie“ war bekanntlich kurz, und spekt vor dem Engagement ge- die KPO zur FAUD gekommen, 1 C. García / H. Piotrowski / S. Rosés: Barcelo- Und Ferdinand Götze, 1933 Lei- der Einfluss der Gruppe DAS ist gen die Nazis. Die konstrukti- seit 1934 in Spanien, Mitglied na, mayo 1937. Testimonios desde las barri- cadas. Alicornio Ediciones, Barcelona 2006. ter der illegalen Geschäftskom- spätestens seit Herbst 1936 im ven Leistungen der sozialen Re- der CNT, im Juli 1936 an der 2 D. Nelles / H. Piotrowski / U. Linse / C. García: mission der FAUD, versuchte Schwinden gewesen, und nach volution? Die scheinen in die- Niederschlagung des Putsches Antifascistas alemanes en Barcelona (1933 – sich in Spanien an einer Art Su- den Maiereignissen war es als sem Buch nur hier und da auf, beteiligt, dann Milizionär, 1937 1939). El Grupo DAS: sus actividades contra la red nazi y en el frente de Agagón. Editorial per-Volksfront, nämlich einem Gruppe bald vorbei. Etliche sind was aber nicht an der Darstel- verhaftet, geflohen, illegal in Sintra, Barcelona 2010. Rezensiert von Martin Zusammenschluss aller nicht- außer Landes gedrängt worden, lung liegt, sondern daran, dass Barcelona, wieder inhaftiert, in Baxmeyer in der Graswurzelrevolution Nr. 362, kommunistischen Antifaschis- anderen saßen plötzlich in repu- die hier behandelte Personen- Frankreich interniert, an die Na- Oktober 2011

Anzeige libertäre märz 2014/387 graswurzelrevolution buchseiten Reflexionen der Schwarzen Flamme

„Schwarze Flamme“ ist eine po- die afrikanischen, asiatischen archist tradition“ wie wildcat, ren aber umgewandelte „norma- litische Intervention: In einem und lateinamerikanischen Ar- Kosmoprolet oder auch labour- le“ Gewerkschaften, die daher gesamtgesellschaftlichen Rah- beiterbewegungen mit, dann net. Das entspricht durchaus der auch als Einheitsgewerkschaf- men interveniert das Buch ge- muss man feststellen, dass der Argumentationsweise Lucien ten fungierten – die deutsche gen das Aufkommen der soge- Anarchismus bis zur russischen van der Walts und Michael FVdG/FAUD war hier eine Aus- nannten „Libertarians“, die den Oktoberrevolution 1917 die glo- Schmidts, die ähnlich den De- nahme. Die häufigere syndika- Anarchismus für kapitalistische bale Hegemonie innerhalb der Leonismus, die marxistische Va- listische Strategie war also das Denkweisen in Anspruch neh- Arbeiterbewegung hatte und riante des Syndikalismus mit Engagement in bestehenden Ge- men. Europa – insbesondere die deut- Betonung der Notwendigkeit ei- werkschaften mit der Strategie, Die Hauptthese der Südafrika- sche Sozialdemokratie – eher ner revolutionären Partei, in die diese „umzukrempeln“. ner Lucien van der Walt und Mi- die Ausnahme ist.ii anarchistische Tradition einge- „Gewerkschaftsdualismus“, al- chael Schmidt ist, dass es kei- Selbst für die USA kann man bis meinden. so die eigene Gründung einer nen Sinn mache, einen Sozial- zur Zeit der „red scare“ 1917 – Syndikalismus ist für die Auto- zweiten Gewerkschaft, „ist je- anarchismus oder auch kommu- 1920 noch den Einfluss der In- ren entsprechend der vorherigen denfalls kein notwendiges nistischen Anarchismus neben dustrial Workers of the World Anarchismus-Definition keine Merkmal des Syndikalismus“ andere Anarchismen zu stellen, (IWW) als relevanteste Organi- eigene Theorie, sondern ledig- (S.283), betonen die Autoren. da der Anarchismus als soziale sation der nordamerikanischen lich anarchistische Strategie. Wo diese Strategie nicht ange- Bewegung immer Bestandteil Arbeiterbewegung konstatieren. Konkret unterscheiden sie drei wendet wurde, lag dies meist einer sozialistischen, klassen- Damit wenden sich die Autoren syndikalistische Strategien, die daran, dass man die bestehen- kämpferischen Arbeiterbewe- vor allem gegen die These des es zu diskutieren und evtl. auch den Gewerkschaften für nicht gung war. Sie richtet sich gegen „spanischen Exzeptionalismus“, zu überdenken gilt: Die erste, reformierbar gehalten hat und den Extrem-Neoliberalismus. nach der der Anarchismus nur heute übliche, Variante benen- hält. Als dritte syndikalistische Auch in der linken anarchisti- in der Spanischen Revolution nen sie als Gewerkschaftsdua- Strategie benennen die Autoren schen Subkultur ist das ein Auf- 1936/37 einen Masseneinfluss lismus: Man gründet eine eige- einen „autonomen Syndikalis- reger, denn entsprechend dieser entwickelt hätte (S.339 – 343). ne, anarchosyndikalistische mus“, „die Bildung unabhängi- Hauptthese klammern die bei- Im Gegenteil ist ihre Kernthese: Richtungsgewerkschaft. ger Basisbewegungen innerhalb den Autoren einige „anarchisti- Die Nachteile dieses Vorgehens bestehender Gewerkschaften“ sche Klassiker“ aus, namentlich „Die Geschichte der liegen auf der Hand: Erstens (S.292), also z.B. Betriebsgrup- Pierre-Joseph Proudhon, Max Arbeiterbewegung und der Linken kommt man kaum um das Pro- pen, Workers Centers, proleta- Stirner, , Ben- in vielen Teilen der Welt kann nicht blem herum, dass eine Gewerk- rische Stadtteilgruppen, die sich jamin Tucker und Lew Tolstoi. verstanden werden, wenn deren schaft – auch und gerade eine unabhängig von den Gewerk- Man sollte diese These nicht anarchistische und syndikalistische – dazu da sein schaften engagieren. überbewerten, denn sie bedeu- syndikalistische Strömungen soll, ArbeiterInnen als solche zu Ein Massenanarchismus, der tet nicht, dass diese Denker kei- ignoriert oder als unbedeutend organisieren, man aber mit der sich meist in einer syndikalisti- nen Einfluss auf den Anarchis- behandelt werden“ (S.343). dezidierten Richtungsbenen- schen Strategie ausdrückt, ist al- mus gehabt hätten. Sie waren nung eigentlich nur Gesin- so durchaus offen für verschie- lediglich nicht Bestandteil einer Alternativ zur bisherigen Tei- nungsgenossInnen erreicht. dene Organisationsmodelle. archosyndikalistischen Gruppe dezidiert anarchistischen Bewe- lung in verschiedene Anarchis- Damit einher geht zweitens das Eine Diskussion über diese drei darauf verzichten, in einer Mas- gung. men teilen die Autoren die Problem, dass die syndikalisti- Organisationsmodelle impliziert senorganisation würde man sich Der Einfluss Proudhons wird „broad anarchist tradition“ (die sche Gewerkschaft marginal einen weiteren Aspekt, den die recht schnell nach spezifischen explizit benannt (S.217, S.233) Übersetzer haben den Begriff im bleiben muss, solange keine ge- Autoren stark machen: In der Interessen und Vorlieben zusam- seite 7 und dem Einfluss Stirnerschen englischen Original beibehal- sellschaftliche Umbruchsitua- Tradition von Bakunins Ge- mentun. Dann gilt es aber, ge- Denkens ein Unterkapitel ge- ten) in zwei Strömungen, den tion in Sicht ist. Eine solche Or- heimbünden, dem Text „Organi- rade unter AnarchistInnen, hier widmet (S.300 – 304). Dass be- „Massenanarchismus“ und den ganisation ist den Autoren „kei- sationsplattform der Allgemei- die demokratische Kontrolle stimmte Denkweisen den Anar- „aufständischen“ oder „insur- ne Gewerkschaft […], sondern nen Anarchistischen Union“ aufrechtzuerhalten. Dafür halte chismus beeinflussen, macht rektionalistischen Anarchis- eine strikt anarchistische oder russischer Exilanarchisten Lucien van der Walt / ich den Vorschlag der Autoren aber aus den Denkern selber mus“. syndikalistische politische Or- (1926) und der FAI in Spanien Michael Schmidt: Schwarze für ungeeignet. noch keine Anarchisten, sonst, Diese Auffassung der anarchis- ganisation, die sich als Gewerk- plädieren sie für die Existenz Flamme. Revolutionäre so die Autoren, müsste auch tischen Tradition hat eine wei- schaft verkleidet“ (S.305). anarchistischer, politischer Or- Dennoch: Klassenpolitik im Anarchis- Karl Marx mit genannt werden: tere Implikation, die offenbar Drittens neigt eine solche Orga- ganisationen, die im Sinne des mus und Syndikalismus. Aus „Es wäre, wenn man diese De- auch die Autoren eigentlich nisation zu einem gewissen Pu- Anarchismus Einfluss auf die dem Englischen übersetzt In diesen Aspekten liegt die ei- finition verwendet, nur allzu lo- nicht mittragen wollen: Nimmt rismus, z.B. in den Fragen der Massenorganisationen ausüben und mit einem Nachwort gentliche Bedeutung, aber auch gisch, auch den klassischen man die These genau, dass der Betriebsratsarbeit, der Tarifver- – sie plädieren also für einen versehen von Andreas Kontroversität von „Schwarze Marxismus in die anarchistische Anarchismus eine materialis- träge oder auch der Frage nach Organisationsdualismus, der Förster und Holger Marcks. Flamme“. Lucien van der Walt Kategorie mit einzubeziehen, in tisch-sozialistische Klassen- bezahlten FunktionärInnen. Die dem Dualismus von (politi- Deutsche Erstausgabe, und Michael Schmidt kommt Anbetracht dessen, dass das kampfbewegung ist, dann muss Schlüsse, die die beiden Auto- scher) Partei und (sozialer) Ge- Großformat, Edition Nautilus, das Verdienst zu, eine solche endgültige Ziel dieser Lehre ei- man konstatieren, dass es heute ren ziehen, sind (obwohl nicht werkschaft nicht allzu fern ist. Hamburg 2013, 560 Seiten, Strategiedebatte angeregt zu ha- ne nichtstaatliche Gesellschaft keine anarchistische Bewegung neu) für den aktuellen Anarcho- Diese Organisationen sollen die 39,90 Euro, ISBN 978-3- ben. Es liegt an uns, sie zu füh- ohne Entfremdung und Zwang mehr gibt. Denn der nach 1968 syndikalismus hierzulande ein „militante Minderheit bewusster 89401-783-5 ren. ist“ (S.61). entstandene „Neo-Anarchis- Affront: „Für eine große und er- Aktivisten“ (S.333) sammeln Aber auch das tun die Autoren mus“ hat mit dieser Tradition folgreiche syndikalistische Ge- und „revolutionäres Bewusst- Torsten Bewernitz nicht, denn „Schwarze Flamme“ sicherlich nicht mehr zu tun als werkschaft ist es […] unum- sein erzeugen“ (S.320). ist genauso eine Intervention ge- Stirnerscher Individualismus gänglich, zumindest ein paar be- Letzte Formulierung ist nahe an Anmerkungen: gen eine marxistisch geprägte oder Proudhonscher Mutualis- zahlte Funktionäre zu haben“ der Leninschen Unterschätzung i Vgl. dazu die Einleitung in van der Linden, Marcel; Roth, Karl Heinz (Hrsg.): Über Marx hi- Geschichtsauffassung, die den mus. Die andere Variante wäre, (S.236). Und: „Auch eine syn- der arbeitenden Klasse, die ge- naus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in Anarchismus als marginale die Breite der antikapitalisti- dikalistische Gewerkschaft […] samte Argumentation legt un- der Konfrontation mit den globalen Arbeitsver- Strömung der Arbeiterbewe- schen Bewegungen in den An- muss in einer vorrevolutionären demokratische Strategien nahe. hältnissen des 21. Jahrhunderts. Berlin 2009. ii Ausführlich wird diese Argumentation auch gung darstellt. Diese These sei archismus einzugemeinden. Zeit zahlreiche Kompromisse Allerdings: In gewissem Sinne ausgeführt in: Hirsch, Steve und Lucien van der nur haltbar, wenn man von ei- Occupy, das Ya-Basta-Netz- mit der herrschenden Klasse ist dieser autoritär erscheinen- Walt (Hg.): and Syndicalism in the nem Eurozentrismus und einem werk, Interventionistische Lin- schließen […]“ (S.274). de Vorschlag Alltag anarchisti- Colonial and Postcolonial World, 1880-1940. The Praxis of National Liberation, Internatio- „methodologischen Nationalis- ke, selbst Teile von attac wären Fast alle erfolgreichen syndika- scher Organisierung. nalism and Social Revolution. Boston/Leiden mus“i ausgehe: Betrachtet man dann ebenso Teil der „broad an- listischen Gewerkschaften wa- Man mag in einer spezifisch an- 2010.

Anzeige libertäre buchseiten graswurzelrevolution märz 2014/387 Gegen Ausbeutung, für Autonomie Luz Kerkelings Studie zum „indigenen Widerstand“ im Süden Mexikos lässt die AkteurInnen selbst zu Wort kommen

Es ist einer scheinbar libertären mit einem Aufstand im Bundes- bende Landbevölkerung in zen- Geste geschuldet, wenn der So- staat Chiapas für internationa- tralisierten Einheiten zusam- ziologe Bruno Latour die „Ver- len Wirbel sorgte, ein eigenes menfassen sollen und von Ker- Luz Kerkeling: Resistencia! narrtheit der Sozialtheoretiker in Kapitel und verschiedene Ne- keling als „komplexer Kontroll- Südmexiko: Umwelt- emanzipative Politik“ beklagt. benbetrachtungen gewidmet. mechanismus“ (117) bezeichnet zerstörung, Die Sozialwissenschaften, gera- Aber er steht nicht allein im werden, sind als Auslöser für Marginalisierung und de die sich als kritisch bezeich- Zentrum der Arbeit, und es ist Widerstand beschrieben. indigener Widerstand. nenden, hätten sich immer über das erste Verdienst Kerkelings, Kerkeling überzeugt dabei ei- Unrast Verlag, Münster die Akteurinnen und Akteure einer hiesigen LeserInnenschaft nerseits mit detailliertem und 2013, 576 Seiten, 26,80 selbst gestellt. Sie hätten so ge- einen Einblick in ähnliche Kon- immer wieder beinahe erschla- Euro, ISBN 978-3-89771- tan, als wüssten sie es besser, als fliktfelder und Bewegungsdy- gendem Faktenwissen und lie- 038-2 könnten nur sie die Schleier von namiken zu liefern, die neben fert damit bereits eine für La- Verblödung und Verblendung Chiapas auch noch Oaxaca und teinamerikastudien fortan un- lüften und enthüllen, was die Guerrero umfassen. umgängliche Arbeit zu Sozial- einfachen Leute selbst nicht se- Alle drei gehören zu denjenigen struktur und Politik in Mexiko. hen. Und, wie die „kritische So- der 32 mexikanischen Bundes- Inhaltlich ist das oft nieder- ziologie“ in den Augen Latours, staaten, in denen sowohl die Ar- schmetternd, wenn etwa aufge- überall Macht am Werke zu se- mut als auch der Anteil der indi- zeigt wird, dass allein durch das hen, würde die Leute eher be- genen Bevölkerungsgruppen an Nordamerikanische Freihan- täuben statt aufrütteln und das der Gesamtbevölkerung beson- delsabkommen (NAFTA) in sei schon ein „politisches Ver- ders groß ist. Das ist keine zu- zehn Jahren mehr als 6,2 Milli- brechen“ (148). Harte Worte – fällige Koinzidenz, sondern ein onen Bauern und Bäuerinnen in geäußert in „Eine neue Sozio- systematischer Zusammenhang. die Migration gezwungen wur- logie für eine neue Gesellschaft“ Auch solche Hintergründe, vor den. (132) (Frankfurt a. M. 2010) , die sich denen der schließlich untersuch- Auf diese Art von Machteffek- vor allem gegen Pierre Bourdieu te „indigene Widerstand“ sich ten hinzuweisen, ist dennoch al- und seine AnhängerInnen rich- abspielt, präsentiert das Buch les andere als entmutigend. Ers- ten. mit langen Zitaten aus der Sicht tens, weil Machteffekte hier Nun ist Luz Kerkeling kein So- der Befragten. nicht als diffuse Wolke erschei- zialtheoretiker. Aber sein neues Kerkeling hat bei mehrmaligen nen, die alles vernebelt, sondern Buch ist eine soziologische Stu- Aufenthalten vor Ort über 100 in Form konkret benennbarer die, und die ist ganz explizit em- Interviews geführt. Nicht nur Kräfte beschrieben werden (et- anzipatorischer Politik ver- mit Aktivistinnen und Aktivis- wa Agrar- und Pharmakonzerne, beschrieben. Und dies geschieht brauchsweisen von Worten wie pflichtet. Man muss Latour wi- ten, sondern auch mit NGO- neoliberale Think Tanks, die immer entlang der Auskünfte „Zivilgesellschaft“ müssten dersprechen und das geht mit MitarbeiterInnen, wissenschaft- mexikanische Regierung etc.). und Sichtweisen der Beteiligten. schließlich vielleicht doch aus dieser Arbeit in der Hand sehr lichen ExpertInnen zu den je- Das heißt nicht, dass Kerkeling Dabei werden auch quer zu den einer Metaperspektive bewertet seite 8 gut. Wollten wir es in der La- weiligen Themen und anderen. von einem homogenen, repres- jeweiligen Gruppen und Anläs- und aufgelöst werden. Und tour’schen Drastik tun, müssten Auch staatliche Quellen, Statis- siven Block oder von Herr- sen liegende bzw. sie durchzie- zwar, um seine Relevanz beur- wir sagen: Es wäre eine Kata- tiken wie Statements, werden schaftsmechanismen ausgeht, hende Kampfschauplätze be- teilen zu können. Zu konstatie- strophe, gäbe es nicht weiterhin integriert. die sich nicht verändern. rücksichtigt: Kerkeling widmet ren, dass die Perspektive desje- solch parteiische und machtana- Indigener Widerstand besteht Das Entwicklungsprogramm den Kämpfen von Frauen ein ei- nigen, der hier über zehn Jahre lytische, solch akribische und aus einer Vielzahl von radika- „Chiapas Solidario“ etwa schil- genes Kapitel und vergleicht analysiert und vergleicht, zu an- vielstimmige Studien wie die len Basisorganisationen, er fin- dert er als Regierungsform, in Forderungen und Problemlagen deren Ergebnissen kommt als von Kerkeling! det sich punktuell gegen infra- der explizit mit dem Aufgreifen zwischen den Bewegungen. diejenigen, die direkt involviert strukturelle und/oder touristi- vormals linker, oppositioneller Der alltäglichen Mehrfachbelas- sind, kann jedenfalls auch als Inwiefern? sche Großprojekte zusammen Vorstellungen und Vokabeln ge- tung und der Diskriminierung logisch und ehrlich statt als ver- oder existiert organisatorisch arbeitet wird. auch in den eigenen Reihen wird werflich gelten. Kerkeling beschreibt seine Ar- langfristig wie im Falle der Za- Zweitens, und das ist ja das mit selbstbewusster geführten Das Problem, dass man sich da- beit selbst als „eine akteursori- patistas oder des Nationalen In- Hauptanliegen des Buches, Kämpfen gegen die Viktimisie- mit potenziell wieder über die entierte und deskriptiv-analyti- digenen Kongresses (CNI). kommen eben gerade diejenigen rung begegnet, mit konkreten Leute selbst stellt, oder zumin- sche Langzeitstudie“ (17). Die Themen und Situationen, an zu Wort, die sich zur Wehr set- Gesundheits- und Ernährungs- dest neben sie, hat auch Latour Er bezeichnet sich selbst in An- denen sich solche Widerstände zen. Die vielfachen Autonomie- projekten sowie mit Erklärun- nicht gelöst. Es sozialtheore- führungszeichen als „Lautspre- entzünden, sind so vielfältig wie bestrebungen werden immer gen wie jener der ökologischen tisch zu lösen, hat Kerkeling cher“ für die Themen und Men- systematisch, insofern sie alle auch als Alternative zur kapita- Fraueninitiative OMESP, in der sich im Übrigen nicht zur Auf- schen, denen er sich gewidmet im Kontext kapitalistischer Ent- listischen Modernisierung dis- es schlicht heißt: „Keine Art des gabe gemacht. Die, die er sich hat. Auf theoretische Interven- wicklungs- und Modernisie- kutiert. Verschiedene aktivisti- Wandels wäre gut, wenn wir da- gestellt hat, ein nah an den tionen kommt es ihm weniger rungslogik stehen: Im Umwelt- sche Zusammenschlüsse wie et- bei nicht wertgeschätzt und re- Kämpfen orientiertes Panora- an. Gegenstand der Studie sind bereich etwa beschreibt Kerke- wa die „Indianischen Organisa- spektiert würden.“ (399) mabild über die Situation in die sozialen Bewegungen im ling die Durchsetzung von Mo- tionen für Menschenrechte in Es ließe sich nun sicherlich da- Südmexiko zu liefern, hat er Süden Mexikos, die sich gegen nokulturen, den Tagebau, Groß- Oaxaca“ (OIDHO), der schon rüber streiten, ob all dieser Wi- hervorragend gelöst. So ein Marginalisierung, rassistische staudämme und auch den Tou- genannte CNI oder die neben derstand selbst „indigen“ ist Buch sollte es für alle Regionen Ausgrenzung und gegen Um- rismus als Konfliktanlässe. Aber der EZLN tätigen Guerilla- oder ob es sich bei der ethni- geben, in denen die sozialen und weltzerstörung zur Wehr setzen auch Umsiedlungsprojekte wie Gruppen in Chiapas werden schen Bestimmung nicht nur um politischen Widersprüche zu und für ein würdiges Leben ein- die Gründung sogenannter ausführlich in ihren Organisa- die Klassifizierung der Leute Mobilisierungen von unten füh- treten. Selbstverständlich sind „Landstädte“, die die verstreut tionsstrukturen wie auch hin- handelt, die ihn ausüben. Auch ren. dabei dem Zapatismus, der 1994 in Dörfern und Siedlungen le- sichtlich ihrer Bündnispolitiken die sich widersprechenden Ge- Jens Kastner

Fritz Brupbacher, Marx Das lebendige Buch – Der Libertad Verlag geht neue Wege und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiter- Der Potsdamer Libertad Verlag Fritz Brupbacher „Marx und kennenlernte, der anhand von ge zu spüren ist, und hier erst- Das Experiment des Libertad- assoziation. Mit einer veröffentlicht nach 20 Jahren Bakunin“ (Erstausgabe 1913) Dokumenten die Geschichte der mals – ausgerechnet von Brup- Verlages im Internet eine On- Einleitung von Philippe mal wieder ein Buch in Papier- wird jetzt eine neue Zeit begin- Ersten Internationale veröffent- bacher, einem Sozialdemokra- lineversion des Brupbacher-Bu- Kellermann. Reihe: Archiv form, aber damit ist es nicht ge- nen, die jenseits von einer Da- lichte („L’Internationale: Docu- ten mit „anarchistischer Ader“ ches zu veröffentlichen, wo in- für Sozial- und Kulturge- tan: gleichzeitig erscheint eine tumsgrenze liegt. Es ist das ers- ments et Souvenirs“, 1905) – zugunsten des antiautoritären teressierte Menschen nun die schichte Bd. 8, Libertad „Lightversion“ kostenlos im In- te „lebendige Buch“, welches plante Brupbacher eine deutsche Sozialismus von Bakunin einem neuen Erkenntnisse auch weiter- Verlag Potsdam 2013, ternet, und mit dem Erwerb des neben der Papierform zeitgleich Übersetzung in Auszügen, und größeren Publikum vorgestellt verarbeiten können ist m.W. bis- geb., 300 Seiten, 22,80 Buches bekommen die Käufe- im Internet erscheint und hier merkte schnell, dass hier auch worden ist. her eine einmalige Angelegen- Euro. rInnen gleichzeitig einen Pre- von interessierten Menschen die Konflikte zwischen Marx Der Libertad-Ausgabe wurde ei- heit, und interessante Variante, Direktadresse des Buches: miumzugang zur Onlineversion, weiter bearbeitet und/oder er- und Bakunin verborgen waren, ne knapp 50seitige Einleitung Wissen auf eine neue Ebene zu www.dibi-001.dadaweb.de wo Korrekturen, Anmerkungen, gänzt werden kann, und somit und in den Dokumenten mehr zu von Philippe Kellermann voran- transportieren. Für Menschen, Ergänzungen usw. eingetragen zu einer „definitiven“ Online- lesen war, als die marxistische gestellt, der hier ausführlich die die sich für das Thema interes- werden können. Ein Experi- version heranwachsen kann. Propaganda den Menschen weiß Person Brupbacher vorstellt. sieren, wäre es angebracht, sich ment, jeweils das Beste aus der Der Schweizer Arzt und Sozia- machen wollte. Seit 1913 hat sich in der Baku- an dieser neuen Form von Kom- Online- und analogen Bücher- list Brupbacher unternahm als Der Kampf von Karl Marx ge- nin-Forschung einiges getan. munikation und Wissensmeh- welt zu vereinigen. erster den Versuch aus dem Ge- gen seinen politischen Rivalen Neben Arthur Lehning (1899- rung zu beteiligen. Nichts ist so alt, wie das Buch strüpp von Lügen, Verleumdung Bakunin in der Ersten Interna- 2000) hat im deutschsprachigen Das Buch erscheint in einer klei- vom letzten Jahr. In der Hinsicht und Desinformationen erstmalig tionale (1864 ff.) hat entschei- Raum besonders Wolfgang Eck- nen Auflage. Es ist dem Verlag, ist die Neuerscheinung des Li- den Konflikt zwischen den da- dend die Weichen der Arbeite- hardt mit seinen „Ausgewählten dem Buch und dem Internetex- bertad Verlages – erschienen maligen Führern anhand von rInnenbewegung zugunsten ei- Werken“ von Bakunin periment zu wünschen, dass al- Ende Dezember 2013, ausgelie- Dokumenten darzustellen. ner autoritären sozialistischen (www.bakunin.de) viel Neues les gut geht, mehr noch, dass fert Januar 2014 – unglücklich Nachdem Brupbacher ca. 1905 Bewegung beeinflusst, dessen aus den Archiven ans Tageslicht alles besser wird. datiert, aber für das Buch von James Guillaume (1844-1916) Auswirkungen bis in unsere Ta- gebracht. knobi libertäre märz 2014/387 graswurzelrevolution buchseiten Erfahrungen des New Yorker Direct-Action- Networks 1999-2003

David Graeber, bekennender ge- lager und Gewalt unterstellen, waltloser Anarchist, beschreibt die den AktivistInnen niemals in in diesem Erfahrungsbericht das den Sinn kämen (noch Puppen New Yorker Direct-Action-Net- etwa würden zerstört, weil in David Graeber: Direkte work (DAN), das sich zum ihnen angeblich Waffen trans- Aktion. Ein Handbuch, Grundprinzip der „gewaltlosen portiert würden). Edition Nautilus, Hamburg direkten Aktion“ bekannt hat (S. Die Mainstream-JournalistIn- 2013, 350 S., 28 Euro, 104), von 1999 bis 2003. nen erfinden die Bedrohung ISBN 9783894017750 Nach dem 9.11.2001 kam das selbst, sie schaffen realitäts- DAN mehr und mehr unter die fremde Mythen, weil sie einem Räder der US-Kriegspropagan- von Redaktionen, Polizeistrate- da. Insgesamt sei das DAN als gen und Fernsehkonsumenten Versuch zu werten, eine anar- vorgefertigten Bild entsprechen chistische Bewegung mit dezen- müssen, sonst wird ihr Bericht traler, auf dem Konsensprinzip nicht gedruckt. So wundert sich basierender Entscheidungsfin- Graeber nicht, dass in Artikeln dung aufzubauen. über Aktionen faktisch niemals In den ersten Kapiteln be- über Ankettaktionen, Tree-Spi- schreibt Graeber die Traditionen king (Bäume vernageln, damit der Quäker, von US-Native- Kettensägen beim Abholzen ka- Americans, des Student Nonvio- putt gehen), die yellow Overalls lent Coordinating Comittee und schon gar nicht über den (SNCC) in den Sechzigerjahren, Einsatz von staatlichen Agents der Frauenbewegung (für die Provocateurs berichtet wird. der Text von Jo Freeman über Man muss Graeber nicht in al- „Die Tyrannei der Strukturlosig- lem zustimmen: Aus einem Be- keit“ von 1972 als Aufforderung richt über eine Black-Bloc-Be- verstanden wurde, „Gruppen- wegungsaktion, in der er vor al- prozesse so zu formalisieren, lem die Solidarität untereinan- dass mehr Gleichheit sicherge- der lobt, kann man auch ganz stellt wird“, S. 54) sowie der An- andere Schlüsse ziehen, näm- ti-Atom-Bewegung der späten lich, dass am Ende die bewegli- Siebzigerjahre mit den Beset- che Masse durch einzelnes, un- zungen von Seabrook 1976 und solidarisches Abtröpfeln aus- Shoreham 1977 als Ursprünge dünnte, was der Polizei dann heutiger Bewegungen der direk- doch die Gelegenheit zur Re- ten Aktion und unmittelbar da- pression bot (S. 198ff.). Aber seite 9 mit verbundener basisdemokra- seine oft aus direkten Notizen tischer Entscheidungsstruktu- stammenden Einschätzungen ren. Unter dem Einfluss von und Selbstkritiken sind auf- Seabrook wurden diese übrigens schlussreich: z.B. über ein von gewaltfreien Aktionsgrup- DAN-Treffen für ein Aktions- pen der deutschsprachigen bündnis, in dem ein überforma- Graswurzelbewegung übernom- lisiertes Konsensverfahren mit men. Graeber nennt hier den drei (!) Moderatorinnen auf an- Schwulenaktivisten, Quäker, wesende Gewerkschafter und Anarchisten und gewaltlosen African-American-Zusammen- Revolutionär George Lakey und hänge stieß, die diese Entschei- das Movement for a New So- dungsstrukturen gar nicht kann- ciety (MNS) in Philadelphia als ten, was auf ihre white-bohe- „Inspirationsquelle“ (S. 55). mian-Tradition verweist (S. Diese Traditionen verbanden explizit auf gewaltlose direkte nicht jedoch als „Gewalt gegen rechtsgruppen als Folter be- 142–151). Graeber gibt nicht sich später mit Impulsen wie de- Aktion hin orientiert. Im Grun- Sachen“. Graeber beschreibt zeichneten und vor Gericht immer Antworten, aber er stellt nen aus den Bewegungen des de macht er eine Dreiteilung der einzelne „Friedenscops“ aus der brachten, dann aber vom ent- die richtigen Fragen. Südens (Einstellung des bewaff- beteiligten Gruppen: erstens ei- ersten Fraktion, die in Seattle scheidenden US-Gericht als Snowman neten Kampfes bei den Zapa- ne formalistisch agierende, pa- gegenüber Black-Bloc-Aktivis- rechtsgültig anerkannt wurde. tistas, Einflüsse der brasiliani- zifistische Fraktion mit einem tInnen „handgreiflich“ wurden, Weitere Erfahrung: Ein Baum- schen Landlosenbewegung Sem reformistischen und der Polizei- „während diese (die ihre Selbst- besetzer, David Chain, wurde Anzeige Terra und der indisch-gandhia- gewalt gegenüber naiven Be- verpflichtung zur Gewaltlosig- von einem aggressiven Wald- nischen Bauernbewegung wusstsein; zweitens eine ge- keit meistens sehr ernst nehmen) arbeiter umgebracht, als der ei- KRRS auf die Gründung des waltlos-offensive anarchistische nicht zurückschlugen“ (S. 276). nen Baum so fällte, dass er di- Peoples’ Global Action (PGA) Fraktion, der Graeber angehör- Und weiter: „Interessanterweise rekt auf den Baumbesetzer fiel Netzwerks): „Die radikalsten te, die vielleicht am ehesten mit ist in den USA die einzige wich- (S. 234). Diese Erfahrungen hat- Bewegungen in Südamerika den italienischen Tute Bianche tigere anarchistische Gruppe, ten eine Abwendung mancher neigen dazu, so gewaltfrei zu zu vergleichen ist (in den USA die nicht auf Gewaltlosigkeit AktivistInnen von Aktionen der agieren, wie sie nur können“ (S. yellow Overalls), deren „Taktik, setzt, die Anti-Racist-Action, Bewegungslosigkeit zur Folge, 46). sich mit Polsterung und anderen die regelmäßig Nazis die Stirn die dann besonders, wie Graeber Schließlich hatten auch gegen- Mitteln zu schützen, ihnen mehr bietet“ (S. 321), was in den USA es beschreibt, die situationisti- kulturelle Milieus wie die Punk- Initiative und Mobilität ermög- im Vergleich zu Europa auf den schen Theorien von Guy Debord szene und ihr Geist des DIY (Do lichte, als dies bei Lockdowns Straßen aber selten vorkomme. und Raoul Vaneigem (S. 40 u. It Yourself) mit Formen wie (Ankettungsaktionen) der Fall Im Buch leistet Graeber dann 299) für gewaltlose Aktionen Containern und Lebensformen war“ (S. 256); und schließlich – eine Kritik derjenigen gewaltlo- der Beweglichkeit nutzten, be- aus dem Abfall der Industrie- größte Überraschung – der sich sen Aktionen, die in Bewe- sonders Vaneigems „Handbuch gesellschaft zu dem beigetra- weitgehend zur Gewaltlosigkeit gungslosigkeit erstarren (klassi- der Lebenskunst für die jungen gen, was dann in Seattle 1999 bekennende , der in sche Blockaden, aber auch An- Generationen“ (1967 in Paris, zum Ausbruch kam. den USA laut Graeber weder kettungen, sogar Baumbesetz- 1972 erstmals in Deutsch er- Bei der Darstellung der Bewe- Steine noch Mollis auf Men- ungen) und ab diesem Zeitpunkt schienen). gung von Seattle durch Graeber schen, auch nicht auf Polizis- faktisch die Kontrolle der Situ- Interessant sind auch die aus- gibt es nicht wenige Überra- tInnen werfe (S. 276f.). ation an die Polizei abgeben, führlichen Analysen Graebers schungen: Im Gegensatz zum Wir müssen hier unsere von während ständig bewegliche über Polizeistrategien und offi- gewaltbefürwortenden Bild der deutschen Autonomen geprägte Umzüge, typisch auch mit zielle Medienpolitik. Letztere US-Szene, das wir uns durch Sicht (die sich in den letzten Clowns und überlebensgroßen habe sich seit ihrer Öffnung in Theorietexte diverser Splitter- Jahren aufgrund von Post-Auto- Puppen (etwa des Revolutionary den Sechzigerjahren und wäh- gruppen gemacht haben – wie nomen und interventionisti- Anarchist Clowns Bloc) von rend des Vietnamkriegs, aus etwa den PrimitivistInnen um schen Linken ja bereits geändert Graeber so interpretiert werden, dem die Aktionen im Stile Mar- Paul Zerzan oder Ward Chur- hat) beiseitelegen: Der von dass die Polizei darauf geradezu tin-Luther-Kings Nutzen zogen, chills Buch „Pacifism as Patho- Graeber beschriebene Black- einen Hass entwickelt habe, radikal verändert. Die Journa- logy“ von 1998, der jedoch anti- Bloc in den USA bleibt beim weil sie der Polizei durch Be- listInnen würden heute bereits anarchistisch argumentiert und gezielten Fensterscheibenzer- weglichkeit die Macht nehmen, mit der Schere im Kopf arbei- einen militärischen Führungsstil stören und dem, falls möglichen, die Situation zu kontrollieren. ten und entweder nur über fried- einfordert –, beschreibt Graeber „Rausziehen“ von Gefangenen Das fußt auf Erfahrungen, wo- liche Massendemonstrationen sowohl Seattle wie auch die vor Abtransport durch die Poli- nach die Polizei in den USA An- (positiv) oder über den Black dann enorm Zulauf bekommen- zei bewusst stehen und be- geketteten regelmäßig starkes Bloc (negativ) berichten, wobei den DAN-Netzwerke in den schreibt das als Sabotage oder Pfefferspray in die Augen spritz- sowohl Polizei wie JournalistIn- US-Städten zu quasi 98 % als gewaltfreie Sachbeschädigung, te (S. 235f.), was Menschen- nen Letzterem überall Waffen- libertäre buchseiten graswurzelrevolution märz 2014/387 Der Kampf ums Isental Ermittlungen zwischen Resentiments und identitärer Verortung

Trachtenvereine, CSU, die ka- cken, was vieles erschwert. grund, Behinderungen, die tholische Kirche und ein Mord- Gleichzeitig arbeitet er selbst Lernfähigkeit älterer Menschen fall? Schon wieder ein Bayern- nicht immer mit ganz einwand- oder Homosexualität. krimi? Doch „Genagelt“ ist freien Methoden. Um an Infor- Gleichzeitig wird deutlich, wie mehr als nur ein Kriminalro- mationen zu kommen, täuscht er Deichsler seine eigenen Vorur- Leonhard F. Seidl: Gena- man: es geht u.a. um die Zerstö- z.B. vor selbst Polizist zu sein teile immer wieder kritisch re- gelt. emons-Verlag, Köln rung des Isentals für die A 94, und droht einem jungen Kran- flektiert. Dies hindert ihn aller- 2014, Broschur, 304 korrupte Baufirmen, Homose- kenpfleger, der auf seine dings nicht daran, Frauen stark Seiten, 10,90 Euro, ISBN xualität, Rassismen und andere Schweigepflicht verweist: „Ich auf ihr Äußeres zu reduzieren. 978-3-95451-303-1 Vorurteile und um das schwie- kann dich auch gleich durchsu- Während er massiv und wieder- rige Thema Kindesmissbrauch. chen. Inklusive Prostatamassa- holt mit der Frau eines Verdäch- Uns begegnen unter anderem ge. […] In Bayern dürfen wir tigen flirtet, bringt er es weder dörfliche Klüngel, ein katholi- das nämlich. Verdachtsunabhän- fertig seine aktuelle, nicht mehr scher Pfarrer, der sich dem Bau gige Kontrollen nennt sich so- funktionierende Beziehung zu der Autobahn in den Weg stellt, was.“ beenden, noch sich mit dem Ge- und eine Gruppe schwuler Unterschlupf findet Deichsler danken anzufreunden, dass sei- Schuhplattler. auf einem Hof, der der Isental- ne Ex-Freundin, die er einst mit Schwule Schuhplattler? So wie autobahn weichen soll. Die Am- seinem ersten Kind sitzen ließ, die „Schwuhplattler“1 , die in bivalenz ländlicher Strukturen einen neuen Partner haben Leonhard F. Seidls Roman „Ge- wird spürbar: neben dörflichem könnte. In diesem Geflecht aus nagelt“ auftreten, existiert auch Tratsch und Scheinheiligkeit alten und neuen Beziehungen, der Dorfener „Schwammerl“2 steht auch ein starker Zusam- der Suche nach identitärer Ver- tatsächlich: ein überdimensio- menhalt und Deichsler erfährt ortung und Wut über Ungerech- naler Fliegenpilz zum Unterstel- an vielen Stellen Unterstützung. tigkeiten spielt auch die Wieder- len bei Unwetter, der zum Sym- Allerdings ist so manches an- annäherung des Sohns eines Po- bol des seit den 1970er Jahren ders, als es zunächst scheint. lizeibeamten und einer „stadtbe- aktiven Widerstands3 gegen die Während Deichsler zwischen kannten Ratschkathl“5 (auch Autobahn durch das ökologisch Psychiatrie, Friedhof, Bauwa- „Infopoint“ genannt) an das lan- vielfältige und etwa eine Milli- gensiedlung, Waldwegen und ge gemiedene Elternhaus eine on Jahre alte Isental wurde. Privatwohnungen ermittelt, große Rolle. Eine Auseinander- Eben dort beginnt Seidls neuer kommt es zu neuen Morden. Die setzung, die sicherlich auch der Roman: Freddie Deichslers al- Situation wird auch für ihn und eine oder die andere außerhalb ter „Schulspezl“4 Kurbi wurde seinen kleinen Sohn immer be- Oberbayerns gut nachempfin- an den „Schwammerl“ genagelt drohlicher. Dabei jagt ein skur- den kann. Sprachlich sollte der und erwürgt, sein Penis hängt riles Ereignis das nächste. Dass Roman – ausgenommen viel- aus der Hose und über seinem der Roman dabei überaus glaub- leicht einzelner Phrasen – über- Kopf ein Bibelzitat. Kurzent- würdig und überzeugend daher- regional verständlich sein. Er elle Themen und die gekonnte zweite Band der Krimireihe den seite 10 schlossen beginnt der Privatde- kommt, ist u.a. der dichten und lädt ein zur Beschäftigung mit Mischung aus flüssigem Hoch- Ansprüchen dieser Vorlage ge- tektiv in Elternzeit auf eigene lebendigen Erzählweise ge- eigenen Ressentiments – nicht deutsch, Bairisch mit fränki- recht werden kann. Faust zu ermitteln – den Sohn schuldet. Hautnah lassen sich zuletzt auch dem vermeintlich schen Einsprengseln, derber Franziska Wittig David im Tragsystem mit dabei. die Emotionen des ambivalen- konservativen Oberbayern ge- Umgangssprache und eigenwil- Anmerkungen: Dummerweise hat er sein Han- ten Helden miterleben. genüber. ligem Humor. 1 www.schwuhplattler.de dy am Tatort verloren und gilt Wir begegnen einem Protago- Nach seinem Debüt „Mutter- 2 www.wetterpilze.de/Dorfen.shtml somit als Hauptverdächtiger. nisten, der selbst nicht unbe- Fazit korn“ hat sich Leonhard F. Seidl 3 www.a94-nie.de 4 „Schulspezl“ (bayr.) = „Schulfreund“, vgl. So muss er sich bei seiner Er- dingt weniger Vorurteile hat als nun wohl endgültig einen Na- http://bar.wikipedia.org/wiki/Spezl mittlungsarbeit vor der nahezu andere: sei es im Bezug auf „Genagelt“ überzeugt durch men als Autor gemacht. Bleibt 5 „Ratschkathl“ (bayr.) = „tratschende Frau“, omnipräsenten Polizei verste- Menschen mit Migrationshinter- spannende Unterhaltung, aktu- nur zu hoffen, dass der geplante vgl. http://bar.wikipedia.org/wiki/Ratschkathl „Incredible India!“

Elina Fleig, Madhuresh „Unglaubliches Indien!“ – Die- stärkt stattfindenden Enteignun- kein Recht, sondern unglaubli- Bewegung gegen Häuserräu- lich wohlmeinende Ideologie Kumar, Jürgen Weber ser Werbespruch sollte viele gen werden die Lebensgrund- che 27,2 Millionen Verfahren mungen. des maskulinen Beschützerver- (Hg.): Speak up! Sozialer TouristInnen nach Indien lok- lagen von mehreren hundert wurden nicht einmal abschlie- Wie unbeschreiblich die Not ist, haltens. Denn hier wird die Frau Aufbruch und Widerstand ken. Inzwischen erhielt er je- Millionen Menschen zerstört. ßend bearbeitet und verliefen wird in dem Bericht aus der Me- zum „Vermögenswert“ degra- in Indien. Assoziation A, doch aufgrund der zahlreichen deswegen im Sande (Stand Mai tropole Mumbai deutlich, in diert, der für den zukünftigen Berlin/Hamburg 2013, 320 Vergewaltigungen von Frauen 40 Prozent der InderInnen 2012). dem über den erbitterten Wider- „Besitzer“ sexuell unangetastet Seiten, 18 Euro, ISBN 978- in der internationalen Wahrneh- hungern, 50 Prozent der Kinder Angesichts dieser Zustände ist stand gegen die profitorientier- erhalten und dem Ehemann 3-86241-323-9 mung zu Recht eine ganz ande- sind unterernährt es umso erstaunlicher, wie vie- ten und mit brutaler Gewalt übergeben werden muss. re Bedeutung. Immer mehr Au- le InderInnen auf den verschie- durchgeführten Zwangsräumun- Auch die staatlichen PR-Kam- gen richten sich irritiert auf In- Brutal geführte Verteilungs- und densten Ebenen kreativ, ener- gen von Slums berichtet wird. pagnen verstärken bestehende dien. Verdrängungskämpfe um Land gisch und unter Einsatz ihres Unkonventionelle Aktionen wie patriarchalische Sichtweisen: Das Buch „Speak Up!“ greift und Nahrungsmittel sind prak- Lebens Widerstand leisten. partizipative eigene Datenerhe- Im Gegensatz zum Täter (kein das Thema Frauenunterdrük- tisch in jedem Winkel Indiens Über sie berichtet dieses Buch. bungen in Slums, die Einrich- richtiger Mann) wird der Be- kung ebenfalls auf und be- die Folge. Oft kommen Betroffene oder die tung wirkungsvoller mündlicher schützer (wahrer Mann) zum schreibt und analysiert zusätz- Da die kleinbäuerlichen Produ- SprecherInnen der Bewegungen Beschwerdeformen für An- Vorbild erhoben, indem er der lich in insgesamt 34 unter- zentInnen die horrenden Preise zu Wort, die die Lage illusions- alphabetInnen sowie Straßen- Frau hilft und damit ihren schiedlichen Beiträgen, gegen für Pestizide, Düngemittel und los analysieren und hieraus die theater gehören zum kreativen „Wert“ erhält. welche vielfältigen Formen von Hybridsaatgut nicht bezahlen nächsten Schritte und Ziele ab- Widerstandsrepertoire. Das Buch ist ansprechend mit Gewalt sich in Indien die Men- können, befinden sie sich oft in leiten. Bemerkenswert sind die Berich- 40 Schwarzweißfotos aufge- schen wehren müssen. einer ausweglosen Schuldenfal- Im südindischen Bundesstaat te über schlechte Erfahrungen macht. Der Atomkraftteil hätte Eines der größten Probleme, un- le. Eine halbe Millionen Men- Karnataka bestehen schon seit der Bewegungen mit sozialisti- ausführlicher sein können. Anzeige ter denen die Mehrheit der In- schen haben sich in den letzten Jahrzenten untereinander ver- schen, kommunistischen oder Der wichtige AKW-Standort derInnen zu leiden hat, ist der zehn Jahren das Leben genom- netzte „Dorfrepubliken“. Sie ausgewiesenen Dalit-Parteien. Jaitapur fehlt leider ganz. Eini- systematisch betriebene Land- men. Es ist die größte Suizid- praktizieren Direkte Demokra- Ob in Bengalen die Kommunis- ge erläuternde Sätze zu den raub. Internationale Konzerne welle in der Geschichte der tie durch Dorfversammlungen tInnen oder in Uttar Pradesh die zahlreichen AutorInnen wären plündern mit Hilfe des Staates Menschheit! und agieren wirtschaftlich und Dalit-Partei BSP – sie alle gin- ebenfalls hilfreich gewesen. rücksichtslos die Bodenschätze Die AutorInnen des Buches be- politisch weitgehend autonom. gen mit Regierungsmacht aus- und nehmen für ihre Schmutz- tonen, dass mehrere hundert Das soziale Leben entwickelt gestattet mit äußerster Härte ge- Ansonsten hinterlässt dieses industrien immer mehr Flächen Millionen Adivasis („Urein- sich völlig anders, als in Indien gen genau diejenigen Bewegun- Buch einen tiefen Eindruck, mit in Anspruch. Das Buch macht in wohnerInnen“) und Dalits („Un- üblich. Es wird kastenübergrei- gen vor, aus denen sie einst ent- welchem Mut und welcher Ver- mehreren Beiträgen deutlich, berührbare“) die Hauptleittra- fend geheiratet, ohne teure standen sind. zweiflung eine Milliarde In- unter welch miserablen Bedin- genden der aktuellen industriell- Priester und ohne religiöse Ze- Da „Speak Up!“ nach dem spek- derInnen um ihr Überleben gungen die 21 Millionen Bin- kapitalistischen Modernisie- remonien, die den Familien ei- takulären Vergewaltigungsfall kämpfen müssen, während sich nenflüchtlinge leben müssen. rungsoffensive sind. Aufgrund nen riesigen Schuldenberg be- am 16. Dezember 2012 fertig- rund hundert Millionen Mittel- Etwa 70 Prozent der indischen des rigiden Kastensystems und scheren würden. Sie nennen es gestellt wurde, beschäftigt sich und OberschichtlerInnen haupt- Bevölkerung lebt auch heute des überheblichen Hindunatio- „einfaches, von Selbstachtung ein Beitrag ausführlich mit dem sächlich für Machterhalt, Reich- noch in ländlichen Gebieten mit nalismus stehen sie zusätzlich geprägtes Heiraten“. Thema Hintergründe der sexu- tum, Konsum und Bollywood gemeinschaftlicher Land- und noch auf der untersten Stufe der Nicht zu kurz kommen in ellen Gewalt gegen Frauen. Die interessieren. Unglaubliches In- Waldbewirtschaftung und hat hierachisch zerklüfteten Gesell- „Speak Up!“ die Probleme in indische Frauenbewegung dien! meist keine Besitzurkunden. schaft. Sie bekommen vor Ge- den industriellen Ballungsräu- wehrt sich ebenfalls gegen die Mit den seit zwanzig Jahren ver- richten in der Regel nicht nur men, die Fabrikkämpfe und die in Indien tief verwurzelte angeb- Horst Blume libertäre märz 2014/387 graswurzelrevolution buchseiten Der Kampf gegen das Macht-Mantra Religiöser Hass und patriarchalische Herrschaft in zwei indischen Romanen

Anstatt fruchtlos unter dem Neembaum mit ihren Freundin- nen zu lamentieren, lernt sie Englisch, liest beim freundli- chen Sahib Zeitungen, weitet ih- Geetanjali Shree: „Unsere ren Horizont. In ihrem Tage- Stadt in jenem Jahr“, buch erschreibt sie sich ihre Draupadi Verlag, Heidelberg Freiheit. Hier dokumentiert sie 2013, 219 Seiten, 18 Euro ihre eigenständige Sichtweise und hat damit einen Erfahrungs- Krishna Baldev Vaid: schatz zusammengetragen, auf „Tagebuch eines Dienstmäd- den sie sich zurückbesinnen chens“, Draupadi Verlag, kann. Heidelberg 2012, 285 Seiten, Ihre gesellschaftliche Situation 19,80 Euro schätzt sie trotz einiger Licht- blicke richtig ein: „Dabei kann ich lernen so viel ich will, am Ende bin und bleibe ich ein Dienstmädchen“. Denn die Rah- menbedingungen sind nicht ein- fach. Die auch bei den Unter- drückten verinnerlichten Kas- tenschranken, der Glaube an das vorherbestimmte Schicksal, das Karma und das „heuchlerische Geschwätz von Pandits und Priestern“ helfen, das ungerech- te Sozialgefüge zu zementieren. In Indien gibt es zu viel Heilig- keit und zu wenig Gerechtigkeit. Auch als Shano bei Mrs. Varna und dem Zeitungssahib als Voll- zeitkraft einzieht und so dem Hüttenelend zeitweise entflie- hen kann, ereilt sie die Realität mit voller Wucht. Als ein reicher Herr im Viertel ermordet wird, verdächtigt die Polizei zuerst wie selbstverständlich sein seite 11 Dienstmädchen. Mrs. Varna fin- det das völlig in Ordnung. Shano ist entsetzt und zutiefst Geetanjali Shree Foto: Wikipedia verletzt über dieses herrschaft- liche Vorurteil – und kündigt! Ihre ungeschminkten Tagebü- Seit der Zerstörung der Babri- Die lärmenden Lautsprecher des Vegetarisch zu essen und blut- und bespricht mit ihnen den cher übergibt sie zum Schluss Moschee durch Hindunationa- Klosters übertönen immer öfter rünstig zu sein, ist kein Wider- neuesten Tratsch über die ein- ihrer „Förderin“ und hält ihr da- listen im Jahr 1992 und den Po- die Vorlesungen an der benach- spruch mehr. PolitikerInnen und gebildeten feinen Herrschaften, mit selbstbewusst den Spiegel gromen gegen Moslems im in- barten Uni und ein religiöser Baulöwen machen den Swamis ihre Bosheiten und Allüren. vor. dischen Bundesland Gujarat im Jahrmarkt okkupiert immer ihre Aufwartung, denn für platt- Zu ihrer prekären sozialen Lage Mit dem brillant und lebendig Jahr 2000 nehmen die Spannun- mehr Freiflächen in der Nach- gemachte moslemische Viertel kommen noch der ständige geschriebenen Tagebuch gibt gen zwischen Moslems und barschaft. finden sich schnell kommerzi- Kleinkrieg mit den Memsahibs der bekannte Schriftsteller Hindus in Indien wieder zu und Die ressentimentbeladenen reli- ell orientierte Interessenten.In und die zahllosen sexuellen Be- Krishna Baldev Vaid den zahl- werden wahrscheinlich bei den giösen Vorgaben des Klosters dieser lebensgefährlichen Situ- lästigungen der Sahibs und ih- losen gedemütigten und ausge- Wahlen im Mai 2014 zu einer greifen immer mehr Menschen ation erstirbt das unbekümmer- rer Söhne hinzu. beuteten „Dienstmädchen“ Indi- Erstarkung hindunationalisti- auf und bringen sie gegen Mus- te Lachen im Haus der vier Hu- Doch bei Shano gibt es auch ens eine gewichtige Stimme. scher Parteien führen. lime in Stellung. Der aufgeklär- manistInnen. Dafür häufen sich zwei Ausnahmen. Der etwas Dem kleinen Draupadi Verlag Geetanjali Shree beschreibt in te Wissenschaftsbetrieb, allen persönliche Missverständnisse, zerstreute „Zeitungssahib“ und ist zu danken, dass er mit die- ihrem Roman „Unsere Stadt in voran Hanif und Sharad, wehrt unterschwellige Vorwürfe und die weltoffene Mrs. Varma von sen beiden Büchern dem jenem Jahr“, wie vier Menschen sich gegen den religiösen Abso- übertriebene Empfindlichkeiten der schreibenden Zunft behan- deutschsprachigen Publikum aus dem humanistisch gepräg- lutismus mit den klassischen zwischen Hanif und Sharad. deln sie recht anständig, sodass viele erhellende Einblicke in die ten Bildungsbürgertum mit dem Methoden der Aufklärung und Der um sich greifenden Polari- sie dies zunächst nicht anneh- innere Verfasstheit der indi- sich rasant zuspitzenden Konf- Argumentation durch Zeitungs- sierung können selbst sie sich men kann, weil sie in ihrem an- schen Gesellschaft gewährt. likt zwischen den beiden Reli- artikel, Plakate und Flugblätter. nicht mehr entziehen. Es kommt trainierten unterwürfigen Rol- gionsgemeinschaften umgehen. Sogar ein „Friedensmarsch“ fin- zum Bruch. Nur Shruti verbleibt lenverhalten gefangen war. Horst Blume Der junge Universitätsprofessor det statt. Sie wollen die unab- – wie ihr musikalischer Name Mrs. Varna ermuntert Shano, die Hanif wohnt mit seiner Frau hängige dritte Kraft zwischen schon andeutet – in dieser zu- nach der achten Klasse die Shruti, ihrem Vater und ihrem den festgefahrenen Fronten sein gespitzten Situation ein Gespür Schule abbrechen musste, ein Anzeige Bruder Sharad in einem Haus. und vermitteln. für differenzierte Zwischentöne. Tagebuch zu führen. Von Be- Sie verstehen sich prächtig, re- Doch immer mehr kippt die In einer chronologisch angeord- ginn an lässt der Schriftsteller ligiöse Zugehörigkeiten spielen Stimmung in der Stadt, die To- neten Collage montiert Geetan- Vaid sie verblüffend offen und bei ihnen keine Rolle, obwohl leranz befindet sich auf dem jali Shree gekonnt Begebenhei- in nur scheinbar einfachen Wor- Hanif (nicht praktizierender) Rückzug. Die Botschaft aus ten und Gesprächsfetzen zu ei- ten über ihre Familie, die Freun- Moslem ist. dem wissenschaftlichen Elfen- nem beeindruckenden Gesamt- dinnen, die Arbeit schreiben. Sharad und Hanif arbeiten als beinturm kommt beim einfa- werk, das minutiös nachvoll- Nach einiger Zeit berichtet sie Professoren in der Universität. chen Volk nicht an. Verunsiche- ziehbar macht, wie es zu kom- nicht nur chronologisch, son- Direkt daneben liegt das Hindu- rung, Misstrauen und Angst munalistischen Ausbrüchen von dern reflektiert mit viel Wort- kloster, in dem Yogakurse für greifen im Gegenteil sogar auf Gewalt in einer indischen Stadt witz und Phantasie die Ereignis- EuropäerInnen angeboten und die Uni über. Dem bisher so be- kommen kann. se und spielt unterschiedliche religiöse Feste gefeiert werden. liebten diskussionsfreudigen Handlungsoptionen durch. Von ihm gehen zunehmend auf- Hanif wird jetzt sogar Despotis- Tagebuch eines Dienstmädchens Als Frau dazu angehalten, den dringliche Prozessionen und re- mus unterstellt, wie er von „sei- Blick nach unten zu richten und ligiöse Signale aus. Als Shruti nen“ Mogul-Vorfahren prakti- Während Shree die Handlungen sich widerspruchslos zu fügen, und Hanif das Kloster bei einer ziert wurde. FreundInnen wen- ihrer Romane bevorzugt im Mi- fragt Shano jetzt offensiv: „Wa- Feier besuchen, werden sie Zeu- den sich ab und meiden den lieu der oberen Mittelschicht an- rum starren Frauen Männer ge, wie ein Swami bei seiner Kontakt. Geschäftsleute tau- siedelt, schreibt Krishna Baldev nicht gierig an?“ Shano will Ansprache mit sanfter Stimme schen ihre muslimisch klingen- Vaid in seinem Buch aus der nicht, wie ihre Mutter und ihre Anstand, Höflichkeit und Re- den Firmennamen in hindukon- Perspektive des jungen Dienst- Freundinnen, in die ausweglo- spekt gegenüber anderen Men- forme aus. Es kommt zu ersten mädchens Shano, das mit Mut- se „Heiratsfalle“ tappen. Des- schen beschwört, um im nächs- Ausschreitungen, Morden und ter und Schwester in einer elen- wegen betont sie im Tagebuch ten Moment im harschen Ton Vergewaltigungen. den Hütte lebt und für geringes zur Selbstvergewisserung dut- auszurufen: „Mächtige Devi, Unbeirrt heizt das Kloster die Entgelt in mehreren reichen zendfach ihr eigenes „Gegen- hilf uns, tiefes Mitgefühl zu ent- Stimmung weiter an. Ständige Haushalten arbeiten muss. Mantra“ zu den herrschenden wickeln, damit wir nicht taten- Wiederholungen dreister Lügen Sie trifft sich fast täglich mit den Verhältnissen: „Ich heirate nicht los zusehen, wie unser Vaterland verwandeln sich in der Stadt zu anderen Dienstmädchen ihres und bekomme auch keine Kin- mit Füßen getreten wird“. unumstößlichen Gewissheiten. Viertels unter dem Neembaum der“. libertäre buchseiten graswurzelrevolution märz 2014/387 Volins „Unbekannte Revolution“ Anarchistische Geschichtsschreibung der russischen Revolutionen

Das 1947 posthum publizierte vergriffen. Lediglich ein Teil Volins lebhaft geschriebene, vergriffene Buchtitel. Hier hät- nähere Einordnung des Textes Werk „Die unbekannte Revolu- des Werkes – „Der Aufstand von umfangreiche Analyse ist eng ten sich die Herausgeber die vor dem Hintergrund seines lan- tion“ von (= Vsevolod Mi- Kronstadt“ wurde mit einem verbunden mit seiner eigenen Mühe machen sollen, die aktu- deskundlichen Wissens über die chailowitch Eichenbaum, 1882- Anhang 2009 vom Unrast Ver- Lebensgeschichte. Er selber war ell zugänglichen Referenzen an- Ukraine gewünscht. 1945), gilt schlechthin als das lag wieder publiziert. während der Revolution von zugeben. Philippe Kellermann, der ein wichtigste und umfassende Der in Russland geborene Volin 1905 Mitglied einer sozialrevo- Dies tut dem Text an sich jedoch guter Kenner der anarchisti- Werk der anarchistischen Ge- wurde berühmt. Er zeichnet die lutionären Partei, übernahm keinen Abbruch. Er bietet eine schen Geschichte und Philoso- schichtsschreibung der Russi- Sozial- und Zeitgeschichte der während der Revolution 1917 in gute Einführung in die Ge- phie ist, hat ebenfalls einen Es- schen Revolution. Volin selber russischen Revolutionen begin- einer anarcho-syndikalistischen schichte der Russischen Revo- say beigesteuert. Er ist aller- nahm aktiv an der Revolution nend ab dem Dekabristenauf- Gruppe Aufgaben und schloss lution aus anarchistischer Sicht dings auch kein ausgewiesener teil. stand (1825) bis zum Aufstand sich 1918 der Machno-Bewe- und verdeutlicht die Differenzen Kenner des russischen Anar- „Die unbekannte Revolution“ in Kronstadt (1921) sowie der gung in der Ukraine an. zwischen dem klassischen An- chismus oder der Situation in ist neben Alexander Berkmans Machno-Bewegung in der Uk- Volin thematisiert in seiner Dar- archismus und dem Bolschewis- Frankreich, in der Volin diesen „Der bolschewistische Mythos“ raine (1921) nach. stellung auch Schattenseiten der mus, die gerade in den neo-lin- Text verfasst hat. (Verlag Edition AV, Lich 2004) Die Darstellung der Machno- Machno-Bewegung – wie den ken Strömungen von 1968 an Hier erschließt sich mir nicht und Emma Goldmans „Der Nie- Bewegung orientiert sich dabei Alkoholismus, den Umgang mit immer wieder ignoriert oder he- unbedingt ein Mehrwert durch dergang der Russischen Revo- stark an den Erinnerungen von Frauen und den Antisemitismus- runtergespielt werden. Der Text diese Vorworte. Sie hätten ge- lution“ (Karin Kramer Verlag, Peter A. Aschinoff (Die Ge- vorwurf gegen Machno. Volins ist nicht zu Unrecht ein trost weggelassen werden kön- Volin: Die unbekannte Berlin 1987) eines der klassi- schichte der Machno-Bewe- Machno sah sich gerade in sei- Klassiker der anarchistischen nen. Zum Verständnis des Tex- Revolution, mit Einleitun- schen Werke der anarchisti- gung, Unrast Verlag, 2009), wie nen Exiljahren mit dem Vorwurf Geschichtsschreibung. Er ist bis tes und seiner Bedeutung tragen gen von Roman Danyluk schen Kritik am Bolschewis- er selber zu gibt. Volin, der mit des Antisemitismus konfron- heute die wichtigste Referenz, sie nicht bei. und Philippe Kellermann, mus. Zynischer Weise titulierte Machno während seiner Pariser tiert, der von den Bolschewis- die wir aus unserer Perspektive Es ist dem Verlag Die Buchma- Die Buchmacherei Berlin aber gerade François Lourbet in Exiljahre verkehrte, kannte ten aufgebracht wurde und auch auf die Geschichte haben. Volin cherei zu danken, einen wichti- 2013, 680 Seiten, 23,50 seinem Vorwort zur französi- Aschinoffs Werk sehr gut, weil seinen Widerhall in anarchisti- ist neben Max Nettlau für die gen Klassiker der anarchisti- Euro, ISBN 978-3-00- schen Neuauflage 1969 Volin er es ins Französische übersetzt schen Kreisen in Frankreich Geschichtsschreibung des Anar- schen Literatur wieder zugäng- 043057-2 als „Lenin der russischen, anar- hatte. Seine Auseinandersetzung fand. Volin als Sprössling einer chismus von größter Bedeutung. lich gemacht zu haben – fast chistischen Bewegung“ – ohne mit Machno ist tief im zeitge- jüdischen Familie und vor dem Neben dem Reprint des Textes schon zynischer Weise mit ei- diese Formulierung näher zu er- nössischen Diskurs in der fran- zeitgeschichtlichen Hintergrund der vergriffenen Ausgabe (inkl. nem Zuschuss der Rosa Luxem- läutern. zösischen anarchistischen Be- der Judenverfolgung in Nazi- des damaligen Vorworts des burg Stiftung. Volins Werk wurde 1974 erst- wegung verankert. deutschland hatte ein persönli- Verlages Association von 1974) Gleichzeitig ist es zu bedauern, malig komplett in deutscher In den drei Bänden – „Geburt, ches Interesse daran, dieses Ka- sind zwei Einleitungen zum dass die Chance vertan wurde, Sprache in drei Bänden beim Entwicklung und Triumph der pitel der Macho-Bewegung zu Text abgedruckt – eine von Ro- eine etwas sorgfältiger editierte Hamburger Verlag Association Revolution“, „Der Bolschewis- beleuchten. man Danyluk und eine von Phi- Fassung des Textes zu publizie- publiziert – ursprünglich als Ge- mus und die Anarchie“ und „Die In seiner Darstellung finden sich lippe Kellermann. ren.Der Verlag hätte z.B. die da- meinschaftsprojekt mit dem Ka- Kämpfe für die wirkliche sozi- allerdings auch vereinzelt klei- Danyluk, der bereits ein Buch mals nicht vom Verlag Associ- rin Kramer Verlag. ale Revolution“ – verfolgt er die ne Fehler und historisch wider- aus libertärer Sicht zur Ge- ation publizierten Dokumente Der geplante vierte Band der Geschichte chronologisch und legte Darstellungen. Hier hätte schichte der Ukraine („Freiheit anfügen können bzw. ein adä- seite 12 „Unbekannte(n) Revolution“ zeigt die deutlichen Differenzen der Verlag gut daran getan, die- und Gerechtigkeit“, Verlag Edi- quates Vorwort, welches den mit Dokumenten ist leider nie zwischen den unterschiedlichen se im Rahmen von Fußnoten tion AV 2010) verfasst hat, ver- Text in seiner Bedeutung und erschienen. Diese drei erschie- politischen Lagern auf sowie richtig zu stellen. Die wenigen tut leider die Chance, mit sei- seinem Entstehungskontext be- nen Bände wurden ohne Verän- auch des häufig als monolithi- Fußnoten stammen noch aus der nem Hintergrundwissen die Be- leuchtet, ergänzen können. derung in der Neuauflage repro- schen Block wahrgenommenen deutschen Erstveröffentlichung deutung des Textes zu qualifi- duziert. Sie waren seit Jahren bolschewistischen Lagers. und verweisen meist auf längst zieren. Hier hätte ich mir eine Maurice Schuhmann

Karsten Krampitz / Klaus Lederer (Hg.): Schritt für Ein „Handbuch zur Freiheit“ Schritt ins Paradies, Karin Kramer Verlag, Berlin 2013, 250 Seiten, Schritt für Schritt ins Paradies 18 Euro, ISBN 978-3- 87956-374-6 Auf den ersten Blick eine super persönliche Freiheit erlebt wer- Interessant ist auch, dass sich ein Feuer unter den Hintern ge- Idee: ein Buch zum Thema den soll, selbst dann noch, wenn hier AnarchistInnen und marxis- stellt wird, sollte er sich zu lan- „Freiheit“, mit der Absicht ver- die persönliche Situation prekär, tische Linke bemühen, den ge auf dem Sitz der Macht auf- bunden, den Freiheitsbegriff flexibilisiert oder perspektivlos „Freiheitsbegriff“ gemeinsam halten wollen. wieder als fortschrittlichen, uto- geworden ist. gegen eine „Anything goes- Es gibt auch ernsthaftere Beiträ- pischen Begriff zurückzuholen Die Auswahl von Karsten Marlboro-Freiheit“ zu retten. ge, auch theoretisch langatmige aus den Kreisen der Neolibe- Krampitz und Moritz Lederer Diese Autorenvielfalt verheißt oder philosophische, wobei man ralen, denen es im Mainstream- verheißt viel: , ein unterschiedliches Herange- den Einschätzungen der Auto- Bewußtsein weitgehend gelun- Jaroslav Hasek, Max Stirner, B. hen an das Thema und es sind – rInnen nicht immer zustimmen gen ist, ihre Wirtschaftsfreiheit Traven stehen für die „anarchis- soviel vorweg – tatsächlich ganz muss, wie z.B. der Beschäfti- als die wahre Freiheit zu verkau- tischen Klassiker“, Bernd Kra- unterschiedliche Beiträge ins gung Bernd Kramers mit Max fen. Gemeint ist aber ein sehr mer, Philippe Kellermann oder Buch aufgenommen worden: Stirner. Hier wird Stirner zuge- reduzierter Freiheitsbegriff: die Jochen Knoblauch für zeitge- Manche Beiträge machen ledig- stimmt, der den Schiller’schen Freiheit zum Konsum, die als nössische Anarchisten; dazu lich klar, dass auch in der lin- Satz „Die Gedanken sind frei“ viele andere, einige aus dem ken oder Anarchoszene nicht zugunsten der „Gedankenlosig- Anzeige Umfeld der Partei „Die Linke“, überall „freiheitliches Verhal- keit“ verwirft. Die „Gedanken- andere aus kulturellen Zusam- ten“ gelebt wird, obwohl doch freiheit“ wird als Forderung ei- menhängen wie den Erich-Müh- „frei“ draufsteht – so die nach- ner „liberalistischen Öffentlich- sam-Feten in Berlin oder der denklich stimmende Geschich- keit“ interpretiert und deshalb Kultgruppe aus den 70ern „Ton, te von Manja Präkels zur „Bi- als von der Mainstream-Mei- ursprüngliche Absicht, sich die Steine, Scherben“, von deren bliothek der Freien“ bei der es nung „okkupiert“ angesehen. Freiheit wieder anzueignen, ei- Song auch der Buchtitel entlehnt pikanterweise dann auch noch Eine Interpretation, der mensch ner gewissen Beliebigkeit wurde. um „Besitz“ geht. In anderen nicht folgen muss, weil die weicht. Da werden die Drogen, Am Beginn des Buches steht mit Beiträgen findet sich die Frei- Schillersche Gedankenfreiheit Rock’n Roll, das Bordell und „Freiheit heute“ ein vielverspre- heit bisweilen als Negation zu sehr wohl systemkritische, auf- der arabische Frühling genauso chender kurzer Aufsatz von Jo- dem beschriebenen, wie z.B. in ständische Gedanken umfassen „analysiert“ wie der Freitod ei- chen Knoblauch. Er kommt Bernd Kramers „Ameisenstaat“, kann und eben nicht automa- nes unfreiwilligen (?) Stasiinfor- nach einer Google-Suche auf der die bürgerliche Wortwahl für tisch „okkupiert“ ist. manten und nicht ganz zufällig 43.600.000 Einträge zum The- das Tierreich anprangert. Philippe Kellermanns Beitrag endet das Buch mit einer nur ma „Freiheit“. Unter diesem La- Das ist aber mehr eine vergnüg- „Zur Auseinandersetzung zwi- halbwitzigen und eher abgedro- bel wird also alles verkauft, der liche Bettlektüre, ähnlich wie schen Anarchismus und Marxis- schenen „Himmelstür“-Parodie laufende Krieg und die neue Au- der Beitrag des tschechischen mus“ schließlich bringt den alt- auf den Papst Wojtyla. tomarke und natürlich fanden Anarchisten und Satirikers Ja- bekannten anarchistischen Frei- Kurz und mager: das Buch lässt sich auch die Anarchisten, die roslav Hasek, in dem sich die heitsbegriff in die Sammlung einen etwas ratlos zurück. Der das Wort Freiheit ganz bewusst Freiheit als Negation zu den ein, nachdem „Freiheit ohne So- Ansatz bleibt spannend und Tei- als zentralen Begriff nutzen: Hausmeistern findet, die die zialismus Privilegienwirtschaft le sind lesenswert, das Gesamt- „Freiheit pur“ (Horst Stowas- Eingangstüren zum Wohnblock und Ungerechtigkeit bedeutet“, konstrukt gerät jedoch wieder in ser), „Revolution für die Frei- für spätheimkehrende Mieter während „Sozialismus ohne die Nähe der „Anything goes“- heit“ (Paul und Clara Thal- nur gegen Gebühr öffnen. Freiheit Sklaverei und Brutali- Freiheit und wäre letztlich mit mann), „Ein Leben für die Frei- Auch B. Travens kurze Story tät“ verkörpert. weniger Anspruch leichter zu heit“ (Augustin Souchy) oder aus dem Nachlass des Leipziger Dies soll auszugsweise genü- vermitteln: als Karin-Kramer- „Die Ökologie der Freiheit“ Literaturforschers Rolf Reckna- gen, es finden sich noch zahl- Verlagsalmanach. (), um nur eine gel erzeugt dieses Schmunzeln, reiche andere Beiträge in die- Miniauswahl anzusprechen. wenn einem Herrscher einfach sem Band, so dass am Ende die Wolfgang Haug