Georg Büchners Woyzeck-Fragment Und Werner Herzogs Verfilmung
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Die Rechte am Manuskript liegen beim Autor Marc Klesse (Würzburg) Das Los der Geringen. Georg Büchners Woyzeck-Fragment und Werner Herzogs Verfilmung 1. Tod ohne Verklärung. Georg Büchner und der historische Woyzeck Entgegen der landläufigen Meinung, ein früher Tod begünstige eine nachhaltige Verklärung des Verstorbenen, finden sich unmittelbar nach dem 19. Februar 1837, als der 23 Jahre alte Georg Büchner in Zürich seinen Kampf gegen Typhus verliert, weder posthume Glorifizierungen noch gewichtige Nekrologe in einschlägigen Zeitungen. Stattdessen verschwinden die Spuren Büchners aus der Literaturgeschichte, in der er bis zu seinem Ableben ohnehin nur einen Seitenschauplatz einnehmen durfte.1 Die schriftstellerische Hinterlassenschaft liegt daraufhin 13 Jahre brach; keine Publikation, keine gedruckten Zeugnisse und nicht zuletzt kein wohlwollendes Urteil, das dem Arztsohn Büchner den Ruf eines scharfsinnigen, zeitkritischen Autors attestiert. Dass er dies dennoch war, steht außer Frage, was z.B. eine oberflächliche Lektüre des überlieferten Briefverkehrs deutlich macht; so schreibt Büchner im Februar 1834 in einem Brief an seine Familie: Es ist deren eine große Zahl, die im Besitze einer lächerlichen Äußerlichkeit, die man Bildung, oder eines toten Krams, den man Gelehrsamkeit heißt, die große Masse ihrer Brüder ihrem verachtenden Egoismus opfern. Der Aristocratismus ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen; gegen ihn kehre ich seine eigenen Waffen; Hochmut gegen Hochmut, Spott gegen Spott.2 Zu dieser Zeit durchlebt Büchner, der sein in Straßburg begonnenes Medizinstudium in Gießen fortsetzt, eine tiefe Sinnkrise. Die unter den Menschen herrschende Gewalt, der Fatalismus der Geschichte und nicht zuletzt der frustrierende Alltag im repressiv geführten Herzogtum Hessen lassen Büchner zum politischen Aktivisten werden. Der im Sommer 1834 als Flugblatt verbreitete Hessische Landbote, als dessen Verfasser Büchner verantwortlich zeichnet, macht keinen Hehl daraus, dass es Zeit für einen politischen Umbruch, für eine Revolution ist: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ (DKV II, 53) wird zur 1 Die einzige literarische Publikation Büchners zu Lebzeiten ist eine 1835 erschienene, radikal zensierte Version des Dramas Danton’s Tod. Vgl. Rüdiger Campe, „Danton’s Tod“, in: Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Roland Borgards u. Harald Neumeyer, Stuttgart/Weimar : Metzler 2009, S. 18- 38, hier S. 22f. 2 Georg Büchner, Brief an die Familie (Februar 1834), in: ders., Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Bd. 2. Schriften. Briefe. Dokumente. Frankfurt/Main : Deutscher Klassiker Verlag 2002, S. 378-380, S. 379. Nachfolgende Zitate aus dieser Ausgabe sind im laufenden Text durch die Sigle DKV gekennzeichnet. Die Angabe des entsprechenden Bandes erfolgt durch römische Ziffern, Seitenzahlen durch arabische Zahlen. 1 Die Rechte am Manuskript liegen beim Autor Losung all jener, die sich nicht länger mit dem status quo abfinden wollen, Büchner wiederum zum Agitator, der dem zeitgenössischen Leser das herrschende Unrecht vor Augen führt. Als er schließlich ins Visier der Justiz gerät, die in ihm den mutmaßlichen Verfasser des Landboten sieht, entzieht sich Büchner den Ermittlungen und flüchtet im Frühjahr 1835 nach Straßburg. Neben seiner literarischen Arbeit erfolgt hier die Niederschrift einer zoologischen Dissertation über das Nervensystem der Flussbarben, die er 1836 an der Universität Zürich einreicht. Im gleichen Jahr nimmt Büchner in Straßburg die Arbeit an einem namenlosen Drama auf (vgl. DKV I, 696), die er ab Oktober 1836 in Zürich fortsetzt: Hier wurde Büchner von der Philosophischen Fakultät zum Dr. phil. promoviert und beginnt im November mit seinen Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Die Fertigstellung seines letzten Werkes – des späteren Woyzeck – bleibt ihm jedoch verwehrt: Er stirbt am 19. Februar 1837 im Alter von 23 Jahren an einer Typhusinfektion. Ähnlich turbulent, wenngleich ohne akademische Weihen, stellt sich das Leben eines Mannes dar, ohne den es Büchners Fragment vermutlich niemals gegeben hätte: Nach einem unsteten Leben voller Entbehrungen ersticht der ehemalige Soldat Johann Christian Woyzeck – ein arbeitsloser Perückenmacher und Tagelöhner – seine Geliebte Johanna Christiane Woost am 2. Juni 1821 in Leipzig; das Motiv ist Eifersucht. Mit der Festnahme des geständigen Mörders stellt sich eine Frage, die zwischen Leben und Tod entscheidet: War sich Woyzeck seiner Handlungen im Augenblick der Tat voll bewusst, oder ist der Mord die Konsequenz einer Geisteszerrüttung, die ihn in blinde Raserei verfallen ließ? Es wird schließlich drei Jahre dauern, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, in deren Mittelpunkt zwei Gutachten des Johann Christian August Clarus stehen, der über die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks urteilen soll. Es ist letzten Endes die im Zuge der strafrechtlichen Untersuchung entbrannte Debatte, die den Fall Woyzeck als spektakuläres Stück Kriminalgeschichte erscheinen lässt, zumal er in den einschlägigen Publikationsorganen von Jurisprudenz und Medizin, die auch Büchner bekannt gewesen sein dürften, bis in die 1830er Jahre verhandelt wird. Clarus attestiert Woyzeck „moralische Verwilderung, Abstumpfung gegen natürliche Gefühle, und rohe Gleichgültigkeit“, 3 Hinweise auf akustische Halluzinationen und mögliche Wahnvorstellungen Woyzecks wertet er als hinterlistige Strategie des Delinquenten ab, der so seiner Bestrafung zu entgehen sucht. Nach mehreren abgelehnten Gnadengesuchen und dem zweiten Gutachten von Clarus, das durch die medizinische Fakultät der Universität Leipzig Bestätigung findet, erfolgt das endgültige Todesurteil, dessen Vollstreckung am 27. August 1824 3 Johann Christian August Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen, in: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), hg. v. Burghard Dedner, Bd. 7.2., Darmstadt 2005, S. 259-297, S. 262 (nachfolgend zitiert als MBA 7.2, Seitenangaben durch arabische Zahlen). 2 Die Rechte am Manuskript liegen beim Autor zu einem wahren Spektakel gerät. Selbst den Schülern wird der Besuch der Hinrichtung ermöglicht, wobei sich die wenigsten der juristischen und medizinischen Brisanz der vorangegangenen Untersuchungen bewusst gewesen sein dürften. Nichtsdestotrotz scheint ihre Zeugenschaft dem moraldidaktischen Optativ aus dem zweiten Clarus-Gutachten Rechnung zu tragen: Möge die heranwachsende Jugend bei dem Anblicke des blutenden Verbrechers, oder bei dem Gedanken an ihn, sich tief die Wahrheit einprägen, daß Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit, ungesetzmäßige Befriedigung der Geschlechtslust, und schlechte Gesellschaft, ungeahnet und allmählich zu Verbrechen und zum Blutgerüste führen können. – Mögen endlich alle, mit dem festen Entschlusse, von dieser schauerlichen Handlung, zurückkehren: Besser zu seyn, damit es besser werde. (MBA 7.2, 262). Mit dem Abtransport von Woyzecks Körper zur Sektion ist das letzte Wort in Sachen Zurechnungsfähigkeit allerdings noch nicht gesprochen. Zwar spricht der Leipziger Prediger Gustav Krüger noch zwei Tage nach der Hinrichtung von Woyzeck als „seltenes Beispiel der menschlichen Verdorbenheit“ (DKV I, 714), doch die Frage, inwiefern Woyzecks Hinrichtung aufgrund der strittigen Gutachten als Justizmord gelten kann, dominiert die wissenschaftlichen Diskurse der Folgejahre nachhaltig. 2. Doppelte Genese. Vom Fragment zur Lese- und Bühnenfassung Als 1851 die von Georgs Bruder Ludwig Büchner herausgegebenen Nachgelassenen Schriften erscheinen, fehlen darin die Bruchstücke des Woyzeck-Fragments. Zwar unternimmt Ludwig mit seinem Bruder Alexander den Versuch, das Manuskript zu transkribieren und in eine lesbare Fassung zu übertragen, doch schließlich stellen sie die zeitintensive Arbeit ein: Die unpaginierten Bögen unterschiedlichen Formats enthalten insgesamt 49 Szenen bzw. szenische Entwürfe, einige allesamt ohne Nummerierung, was ein Arrangieren der einzelnen Teile im Sinne des Verfassers unmöglich macht. Die blasse Tinte auf dem verwitterten Papier ist kaum lesbar, und Büchners eigentümliche Handschrift, seine verwendeten Abkürzungen, Verschleifungen und der Einsatz dialektaler Eigenarten erschweren das Entziffern des Texts zusätzlich.4 Erst Karl Emil Franzos gelingt es fast 25 Jahre später, die Tinte durch eine Behandlung mit Schwefelammoniak lesbar zu machen. Ein Experte in Sachen Edition war Franzos allerdings nicht, und so ist seine 1878 erstmals vollständig erschienene Bearbeitung zwar die erste Lesefassung des Woyzeck, aus dem aufgrund eines Lesefehlers Wozzeck geworden war, zugleich ein Beweis für Franzos’ allzu unbedarfte Herangehensweise an das Fragment. Die hier 4 Vgl. hierzu die Editionsberichte Henri Poschmanns in DKV I, 675-704 und Burghard Dedners in MBA 7.2, S. 86-136. 3 Die Rechte am Manuskript liegen beim Autor verhandelte Auseinandersetzung der Genese einer Lesefassung und den damit verbundenen Problemen versteht sich folglich nicht allein als editionsgeschichtlicher Abriss in nuce. Es geht mir zugleich darum, den Blick des Lesers für die Bedeutung des Fragmentcharakters zu schärfen, der dem Woyzeck eignet. Dieser spielt eine nicht zu verachtende Rolle, wenn es darum geht, den Text in das Medium Film zu überführen. Grundlage dieses Aufsatzes ist die „Kombinierte Werkfassung“ Henri Poschmanns, die in der Büchner-Forschung