Bibliothek, Forschung und Praxis 2014; 38(3): 344–364

Elmar Mittler Nachhaltige Infrastruktur für die Literatur- und Informationsversorgung: im digitalen Zeitalter ein überholtes Paradigma – oder so wichtig wie noch nie?

Zusammenfassung: Durch die Informationsmacht der literature. The German Research Society (Deutsche For- Suchmaschinen ist im Zeitalter des Internet das Wissen in schungsgemeinschaft) has begun the redesign of the exis- Gefahr, kommerzialisiert zu werden. Informationelle Sou- ting system to adapt it to the digital revolution. Subject veränität zu besitzen, ist aber schon seit dem Altertum information services will now provide the information for auch von politischer Bedeutung. Die Infrastruktur für die special research communities. However, guidelines like wissenschaftliche Information in Deutschland ist durch the reduction of the collections to the material of imme- das System der überregionalen Sammelschwerpunkte ge- diate interest and the closing of during prägt, die gewährleisten, dass auch spezielle Forschungs- the process of evaluation endanger the information infra- literatur zur Verfügung steht. Die Deutsche Forschungs- structure; thousands of journals have to be cancelled and gemeinschaft hat damit begonnen, dieses System der thousands of specialized titles will no longer be purcha- digitalen Publikationswelt anzupassen und Sondersam- sed. Planning on a broader horizon and a financial coope- melgebiete in Fachinformationsdienste umzuwandeln, die ration of the federal government and state governments leistungsfähige Informationsservices für spezielle Fach- are both essential in developing an information infra- communities bieten sollen. Allerdings erweisen sich Vor- structure for the future that can match the success of the gaben wie die Reduktion der Erwerbung auf den aktuellen traditional system. Bedarf und der Wegfall ganzer Sammelgebiete im Rahmen Keywords: Nationwide information infrastructure in Ger- einer reinen Projektförderung als Gefährdung der Informa- many; special collection ; research information tionsinfrastruktur: Tausende von Zeitschriften und Bü- services chern müssen abbestellt werden oder können nicht mehr gekauft werden. Breiter angelegte Planungen und neue Finanzierungsmodelle in Zusammenarbeit von Bund und DOI 10.1515/bfp-2014-0059 Ländern sind erforderlich, um zu zukunftsweisenden Strukturen zu kommen, mit denen an die bisherigen Erfol- ge angeknüpft werden kann. Inhalt Schlüsselwörter: Nationale Informationsinfrastruktur in Deutschland; Sondersammelgebiete; Fachinformations- Kurzfassung ...... 345 dienste 1 Einleitung ...... 346 2 Die Bibliothek(en) als Infrastruktur der umfassen- A Sustainable Information Infrastructure in the Digital den Information – ein Blick in die Geschichte . . . 347 Age, an Obsolete Paradigm or More Important Than Ever 3 Der deutsche Weg der koordinierten Erwerbung Before? The Transformation Process from Sondersammel- mit überregionaler Bereitstellung ...... 348 gebiete to Fachinformationsdienste in Germany 4 Das Prinzip Vollständigkeit – Bestands- Abstract: The information power of search engine pro- entwicklung oder Bestandsmanagement? .....350 viders is commercializing knowledge more and more. But 5 Die strikte Ausrichtung auf die aktuellen Bedürfnis- informational sovereignty has also political impact since se der Fachcommunities gegen Interdisziplinarität, the antiquity. The German system of national special col- Latenz und Serendipity ...... 353 lection libraries guarantees access to specialised research 6 Die Überführung der Sondersammelgebiete in Fachinformationsdienste – eine erschreckende Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Elmar Mittler: [email protected] Zwischenbilanz ...... 355

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7 Die Förderung des konsequenten Wandels zur digi- dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für den talen Bibliothek – e-only, komfortable Nachweis- Grundbedarf nicht gesammelte Titel der Forschung dauer- und Recherchesysteme und die Entwicklung neuer haft zur Verfügung standen. Möglicherweise auch als indirek- Informationsdienstleistungen ...... 358 te Folge des Antragsbooms bei der Normalförderung, der 8 Die Zukunftssicherung Informationsinfrastruktur durch den erhöhten Druck bedingt ist, Drittmittel für die für die Forschung als Gemeinschaftsaufgabe . . . 363 Forschung einzuwerben, ist das neue Programm der Fach- informationsdienste, wie im Normalverfahren der DFG auf Projektanträge mit überschaubarer Laufzeit umgestellt wor- Kurzfassung den, die nach fachlicher Prüfung bewilligt oder abgelehnt werden. Außerdem soll auch die Auswahl der Literatur auf Durch die Informationsmacht der Suchmaschinen ist im Zeit- den kurzfristigen Bedarf eng definierter Fachcommunities alter des Internet das Wissen in Gefahr, kommerzialisiert zu ausgerichtet werden. Damit aber können z. B. Lizenzen elek- werden. Eine informationelle Souveränität zu besitzen ist tronischer Zeitschriften nur noch für einen begrenzten Kreis auch von politscher Bedeutung. Ein historischer Rückblick von Fachwissenschaftlern abgeschlossen werden. Somit wer- zeigt, dass seit dem Altertum die umfassende Sammlung von den interdisziplinär arbeitende Forscher – von anderen Inte- Literatur als Grundlage wissenschaftlicher Forschung und ressierten wie Wissenschaftsjournalisten ganz abgesehen – politischer Kraft immer wieder genutzt worden ist. Anderseits ausgeklammert. Als zusätzliches ernsthaftes Problem hat sind auch Alternativen selektiver Erwerbung in „schlanken“ sich erwiesen, dass die schwerpunktmäßige Ausrichtung auf Bibliotheken insbesondere für Hochschulen immer wieder die Fachinformationsdienste zur Einstellung auch von geis- diskutiert worden; dabei kam man aber immer auch zu dem tes- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Sondersam- Ergebnis, dass ein optimiertes Arbeiten der Einzelbibliothek melgebieten geführt hat, die in besonderer Weise auf eine nur funktionieren kann, wenn ein umfassendes Reservoir für umfassende Sammlung auch von Literatur angewiesen ist, die Forschung im Hintergrund zur Verfügung steht. Am ame- die kurzfristig von einem engen Kreis der Spezialisten (noch) rikanischen System wurde z. B. bemängelt, dass es zu wenig nicht benötigt wird. Gerade in Europa hat sich in der Renais- Input in die fachlich qualitative Auswahl bei den Einzelbiblio- sance gezeigt, wie epochemachend die Wiederentdeckung theken steckt und die großen Bibliotheken in ihrem von Kon- und neue Nutzung „latenter Sammlungen“ in den Bibliothe- kurrenzdenken geprägten Bildungsumfeld nicht effizient zu- ken für die Kultur- und Geistesgeschichte werden kann. Nicht sammenarbeiten können. Demgegenüber erwies sich die ohne Grund sieht das „Comité des Sages“ durch die Digitali- deutsche Praxis der letzten Jahrzehnte mit gut organisierter, sierung die Chance einer neuen Renaissance. Nur wenn es umfassender Sammlung im Rahmen der überregionalen gelingt, die wissenschaftliche Literatur vollständig in den Sammelschwerpunkte, qualifizierter Auswahl an den Einzel- immer schneller voranschreitenden Forschungsprozess effi- bibliotheken und dem gezielten Angebot von Mehrfachexem- zient zu integrieren und die flüchtigen digitalen Medien plaren in den Lehrbuchsammlungen als eine perfekte Kom- dauerhaft zugänglich zu machen, kann die Wissenschaft in bination erfolgversprechender Strategien. Der DFG ist es Deutschland weiter erfolgreich sein. Es ist verständlich, dass gelungen, das System der überregionalen Literaturversor- die DFG als wissenschaftsfördernde Institution sich mit die- gung erfolgreich zu moderieren, obwohl ihr finanzieller Bei- ser sich ausweitenden Infrastrukturaufgabe überfordert trag an den Gesamtkosten verhältnismäßig gering war. Dem fühlt; ihre mit dem FID-Programm vorgezeichnete Förder- Zuschuss von 75% der Mittel für den Kauf ausländischer ausrichtung auf die Entwicklung und Unterstützung von spe- Literatur standen bei den Sondersammelgebieten, je nach ziellen Dienstleistungen für die informationelle Versorgung Fachgebiet, Kosten allein für die vollständige Erwerbung der der Fachwissenschaften erscheint von daher durchaus deutschen Literatur gegenüber, die diesen fast gleichkom- konsequent – es müssen dann aber alternative Wege für die men konnten. Darüber hinaus wurden die Personalkosten Finanzierung der Sammlungsaufgabe gefunden werden. voll von den Bibliotheken finanziert, die wegen der speziali- Für die flüchtigen digitalen Medien kann der alte Samm- sierten Bestände deutlich erhöhten Personalaufwand für Be- lungsbegriff, der physischen Besitz voraussetzte, nicht mehr schaffung und Katalogisierung (mit minimalen Möglichkei- gelten. Das heißt aber nicht, dass die Rolle der Bibliotheken ten zur Fremdleistungsnutzung) haben. Da die DFG nur die als internationale Infrastruktur für die umfassende Zugriffs- Spitze des Bedarfs mitfinanzierte, ist es nicht verwunderlich, sicherung auf forschungsrelevante Dokumente obsolet ge- dass die systematische Förderung der Erwerbung der speziel- worden wäre. Im Gegenteil: War die Realisierung schon im len Forschungsliteratur im Rahmen des Sondersammel- ausufernden Druckzeitalter der letzten Jahrzehnte nur noch gebietsprogramms jahrzehntelang auch bei ihren Gremien in organisierter Arbeitsteilung möglich, so muss das Manage- volle Anerkennung fand – war doch damit gewährleistet, ment der Informationsinfrastruktur im Zeitalter des digitalen

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Leitmediums noch stärker professionalisiert werden. Ziel onsbeziehungen von Bund und Ländern auch die Integrati- muss es sein, neben genuinen lokalen Sammlungen die au- on der Hochschulbibliotheken in das zukünftige System ßerhalb liegenden Angebote forschungsrelevanter Daten im ohne Probleme ermöglicht, die – wie in der Vergangenheit – Internet ebenso dauerhaft zugänglich zu machen wie die Ver- eine bedeutende Rolle bei der überregionalen Informations- lagsangebote. Dabei erweitert sich das zu erfassende Materi- versorgung spielen müssen. In Anbetracht einer derartigen al nicht nur medial (digitalisierte und digitale Publikationen Entwicklung wäre zu wünschen, dass die DFG sich ent- in verschiedenen Ausgabeformen wie Print, PDF oder unter- schließen kann, bis zur Gestaltung dieser neuen Infrastruk- schiedlichen E-Book-Formaten, aber auch Audio-Video- tur die Förderung des Kaufes von Literatur (natürlich mit medien); durch Einbeziehen von Forschungsdaten und die verstärkter Berücksichtigung digitaler Medien) für einen Integration von sozialen Medien (Blogs usw.) sind völlig neue Zeitraum von ca. 3 bis max. 5 Jahren fortzusetzen, auch Inhalte und Kommunikationsformen zu berücksichtigen, die wenn einzelne Konzepte für die Fachinformationsdienste es nicht nur aufzufinden, sondern auch zu filtern, zu erschlie- noch nicht die Zustimmung der Gutachter finden. Durch ein ßen und dauerhaft zugänglich zu machen gilt. Das kann nur derart behutsames Vorgehen können schwer wiedergut- in engem Kontakt mit der wissenschaftlichen Forschung- zumachende Einbrüche in die Literaturversorgung vermie- scommunity bewältigt werden. Dazu genügt es nicht mehr, den und der zielgerichtete Übergang in eine zukunftsorien- fertige Produkte zu speichern und damit traditionelle Samm- tierte Informationsinfrastruktur gesichert werden, mit dem lungen anzulegen. Die Versionskontrollen im fluiden Wis- Deutschland an die Erfolge der Vergangenheit anknüpfen sensraum sind ebenso Herausforderungen, wie die dauer- kann. Dies ist auch ein entscheidender Schritt, um der hafte Sicherung von Zugriffsmöglichkeiten über permanente öffentlichen Forschung und unserem Land die informatio-

Links. Die Mehrwertdienste der Bibliotheken sollten über nelle Souveränität zu erhalten, die u. a. durch die kommer- Kuration und Präservation hinaus auch die Erschließung mit ziellen Interessen der Suchmaschinenbetreiber gefährdet Linked Open Data und die Weiterverarbeitung der Publika- ist. Die weltweit vernetzten Bibliotheken sind dafür verläss- tionen für das Semantic Web umfassen. In virtuellen For- liche Partner, auf deren Neutralität man vertrauen kann. schungsumgebungen sollte der gesamte Workflow des For- Ihre Dienstleitungen sind wichtiger denn je. schers von der Ermittlung der Daten über ihre Auswertung und die Publikationsvorbereitung bis zur Archivierung der fertigen Arbeit auch bibliothekarisch unterstützt werden. Bei 1 Einleitung der Entwicklung derartiger Services können die Förderinstru- mente der DFG voll zum Tragen kommen. Für die komplexe Information ist von eminent politischer und wirtschaftli- Aufgabe des umfassenden Aufbaus und der dauerhaften cher Bedeutung – dies ist zuletzt durch die NSA-Affäre auch Sicherung des Zugriffs auf die elektronischen Daten bedarf es in das Blickfeld der breiten Öffentlichkeit getreten. Dass eines Rahmenplans, der Forschung, Institutionen der Infor- dabei nicht nur geheimdienstlich relevante Informationen, mationsinfrastruktur aber z. B. auch Provider von Cloud- sondern auch wirtschaftliche und wissenschaftliche Daten Diensten und Verleger einbezieht. Auch wenn sich der Anteil ausgeforscht wurden, gilt als sicher. Doch schon durch die kommerzieller Verlage an der Bereitstellung relevanter For- intensive Nutzung der Suchmaschinen, die Verwendung schungsdokumente reduzieren wird, ist die Dekommodifizie- von google-books und google-scholar für die wissenschaft- rung der Verlagsprodukte für die freie Zugänglichkeit zu liche Recherche und von google-docs und google-drive für Publikationen für die Forschung aber auch die interessierte das Erstellen von Forschungspublikationen, werden Inhal- Öffentlichkeit wegen des verschärften Urheberrechts eine te und Verhaltensweisen gespeichert und in Kanäle gelei- hochkomplexe Aufgabe. Nicht ohne Grund gehört die Lizen- tet, von denen man annehmen muss, dass sie nicht nur zierung zu den acht Handlungsfeldern des Gesamtkonzeptes massiv für gewinnorientierte wirtschaftliche Interessen ge- der Kommission für Informationsinfrastruktur (KII). nutzt, sondern darüber hinausgehend an weitere Interes- Der Rahmenplan für das Management des kontinuierli- senten weitergegeben werden können und weitergegeben chen „Sammlungs“aufbaus, d. h., der dauerhaften Zugriffs- werden. Google sucht darüber hinaus durch Digitalisierung sicherung auf gedruckte wie digitale Dokumente durch sta- auch der gedruckten Literatur den landläufig schon jetzt bile Institutionen, ihre Finanzierung und deren Einbettung verbreiteten Eindruck zu unterstützen, dass im Internet alle in europäische und internationale Kooperationsbeziehun- relevanten Informationen ohne Kosten im Überfluss zur gen ist die natürliche Aufgabe des neuen Rates für Informa- Verfügung stehen. Mit dem typischen Verhalten eines Wirt- tionsinfrastruktur. Er müsste die Vorgaben für eine arbeits- schaftsunternehmens, das ein Monopol anstrebt, sucht teilige Struktur und eine adäquate Finanzausstattung Google so Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Das ge- erarbeiten, die im Rahmen der Neuordnung der Kooperati- fährdet auch die Position der Bibliotheken, die als Garanten

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM Nachhaltige Infrastruktur für die Literatur-und Informationsversorgung 347 des umfassenden freien Zugangs zur Information für Wis- Dem steht das Modell der zielgerichteten Auswahl mit senschaft und Demokratie von eminenter Bedeutung sind. klaren (wissenschaftlichen) Zielen gegenüber, ‒ das bei Cassiodor in Vivarium zu einer Kanon bilden- den Grundausstattung an geistlicher wie weltlicher 2 Die Bibliothek(en) als Literatur führte, die zur Vorbereitung oder Durchfüh- rung des Studiums und richtigen Verständnisses der Infrastruktur der umfassenden Bibel dienen sollten; Information – ein Blick in die ‒ das im Mittelalter zunächst zu dem Versuch führte, Cassiodors Ausstattungsniveau (wieder) zu erreichen, Geschichte um darauf aufbauend schon in der Karolingerzeit und dann verstärkt seit dem 12. Jahrhundert die Wissens- Die Aufgabe der wissenschaftlichen Bibliothek ist es, for- grundlagen durch Übersetzungen aus dem Arabischen schungsrelevante Materialien dauerhaft zugänglich und und Griechischen zu verbessern und auf neue Inhalte nutzbar zu machen. Idealerweise sollen die Bibliotheken auszudehnen; alles, was publiziert worden ist, bereitstellen können – ‒ das bei Leibniz zur Bereitstellung der Grundlagenlite- wenn nicht aus eigenem Bestand dann in Kooperation mit ratur für die rationale Verwaltung und die im Staats- anderen. Dieses Ziel der vollständigen Information auf der interesse liegende Ausweitung der wissenschaftlichen Grundlage umfassenden Sammelns ist immer wieder in Forschung diente und seiner Wichtigkeit erkannt und zeitgerecht umgesetzt wor- ‒ das in Göttingen den wissenschaftlichen Fortschritt so den.1 Das Vollständigkeitsideal wurde in unterschiedlicher dokumentieren sollte, dass darauf aufbauend Über- Form verwirklicht. Auch die damit verfolgten Ziele waren blickswerke für die Lehre geschrieben und Forschung verschieden und glichen sich doch in der Überzeugung, auf hohem Niveau erfolgen konnte. dass Information und Wissen Macht bedeuten. Die voll- ständige Sammlung diente Auch die dabei eingesetzten Methoden sind verschieden; ‒ in Alexandria der umfassenden Integration der Bestän- sie spiegeln zugleich den Stand der Entwicklung der Tech- de inden griechischenKulturkosmos, umso die beherr- nik der Produktion und der Verbreitung der Medien wider: schende kulturelle und politische Position des grie- ‒ In Alexandria werden alle (auch nicht legale) Möglich- chischen Königshauses in einem Land zu sichern und keiten, Literatur in den eigenen Besitz zu bringen, aus- auszubauen, in dem die Griechen nur eine Minderheit geschöpft, um sie dann für einen Kreis privilegierter bildeten; Wissenschaftler durch – teilweise editorisches – Ab- ‒ bei Naudé der umfassenden Berücksichtigung der un- schreiben zu sichern und durch sachliche Ordnung zu terschiedlichsten Aspekte und auch der abweichen- erschließen. den Meinungen, um sie insbesondere als Grundlage ‒ In Vivarium wird durch Anweisungen für das (auch der unabhängigen politischen Beratung zu nutzen; hier tendenziell edierende) Vervielfältigen und die ‒ bei Panizzi dem Ziel, die Wissenschaftskraft der Briti- Vorgabe eines Ordnungsschemas die Grundlage für schen Nation dadurch zu stärken, dass man konzen- den gezielten Bestandsaufbau gelegt. triert in London die Literatur anderer Länder und Spra- ‒ ei Naudé erfolgt der umfassende Aufbau der Biblio- chen in ähnlich großem Umfang zur Verfügung hatte, thek auch durch das scheinbar ziellose Erwerben gan- wie in der besten Bibliothek des jeweiligen Landes; zer Sammlungen ohne Rücksicht auf die bibliophile ‒ bei Putnam in der of Congress der Zugriffs- Kostbarkeit der Bücher. Ihre geordnete Aufstellung, sicherung auf umfassende Information in den Ver- mit dem Ziel der völligen Konzentration auf den Be- einigten Staaten für Kongress und Nation aus der stand, erfolgt kostensparend unter so gut wie restloser Erfahrung, dass es unvorhersehbar ist, welche Publi- Ausnutzung der vorhandenen Wandflächen bei Ver- kationen relevant sein werden. zicht auf den äußeren Prunk der barocken Saalbiblio- theken der Zeit, wie man es auch nach dem Umzug in das Gebäude der heutigen Mazarine in Paris erkennen kann. 1 Die folgende knappe historische Darstellung ist umfangreicher dar- ‒ Bei Leibniz und in Göttingen wird auf die Ergänzung gestellt in: Mittler, Elmar: Von der Forschungsbibliothek zur virtuel- len Forschungsumgebung. In: Haug, Christine; Thiele, Rolf (Hg.): der sachlichen Aufstellung durch Kataloge besonderer

Buch – Bibliothek – Region. Wolfgang Schmitz zum 65. Geburtstag. Wert gelegt, wobei Leibniz ein umfassendes Erschlie- Wiesbaden 2014, S. 255–278 hier S. 256–272. ßungssystem anstrebt, während man sich in Göttingen

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ganz auf die praktische Nutzbarkeit konzentriert. Hier tigkeit der Produktion, insbesondere in der Spätzeit des aber findet man mit der Kombination von weltweiter Buches als Leitmedium im 20. Jahrhundert nur durch Inte- Erwerbung und wissenschaftlicher Begutachtung den gration in Netzwerke und Verbundsysteme gesichert wer- idealen Weg zur Fortführung des Prinzips der geziel- den. Diese ermöglichen eine abgestimmte Erwerbung, die ten Auswahl der wissenschaftlich relevanten Publika- Optimierung der Katalogisierung und den rationellen Zu- tionen. griff auch auf nicht am Ort vorhandene Bestände. Dieses ‒ Die Internationalität der Sammlung, die schon in Göt- kooperative Bibliotheksmodell wurde in seinen Vorformen tingen von großer Bedeutung ist, stehen bei Panizzi im schon durch die Bibliothekspolitik Althoffs im Preußen des Vordergrund, der für das Katalogisieren Standards späten 19. Jahrhunderts eingeführt. Die Königliche Biblio- und mit Konzentration auf den Alphabetischen Kata- thek in Berlin hatte darin als Schaltstelle und „heimliche log Rationalisierungen einführt, die zur Bewältigung Nationalbibliothek“ (aber nur in Kooperation mit den der Massen der umfassend erworbenen Literatur und „übrigen größeren Bibliotheken“, wie schon ihr Direktor ihrer schnellen Auffindbarkeit dienen; durch die Be- Lepsius betonte)3 eine führende Rolle; einheitliche Kata- reitstellung einer großen Zahl von Leseplätzen und logregeln (sog. Preußische Instruktionen) ermöglichten Ti- eine rationelle Zuordnung der Magazine wird das teldrucke als Service für die Bibliotheken und den Aufbau Leistungsniveau einer nationalen Forschungsbiblio- eines Preußischen Gesamtkatalogs; auch der Leihverkehr thek neu bestimmt. International sucht man es zu erhielt in Berlin mit dem 1905 gegründeten Auskunftsbüro erreichen und hat es wohl nur in Washington noch seine Zentrale. Mit der Gründung der Deutschen Bücherei übertreffen können. 1913 in Leipzig war schließlich die Grundlage für den dauer- haften Zugriff auch auf die deutsche Buchproduktion gesi- In allen hier dargestellten Beispielen ist erkennbar, dass chert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die umfassende den Bibliotheken eine aktive Rolle zukommt. Ihre Samm- Bereitstellung der gesamten erschienenen Literatur in jeder lungen werden erschlossen und für ihre Klientel gut nutz- (wissenschaftlichen) Bibliothek für jeden Benutzer durch bar gemacht. Sie stellen aber darüber hinaus ein Angebot das im Prinzip umfassende System der überregionalen Li- dar, das der Forschung nicht nur auf Nachfrage dient, teraturversorgung mit Sondersammelgebieten und Zentra- sondern sie oft erst ermöglicht und die Behandlung neuer len Fachbibliotheken und (heutigen) Deutschen National- Forschungsfelder und ‑themen anregt – als ein augenfäl- bibliothek im Verbund mit den 5 Schwerpunktbibliotheken liges Beispiel dafür seien die arabischen Handschriften der Sammlung deutscher Drucke in international bewun- erwähnt, die Ottheinrich von der Pfalz Guillaume Postel derter Weise realisiert. Dabei spielte die Deutsche For- abkaufte. Sie ermöglichten in Heidelberg nicht nur den schungsgemeinschaft als organisierendes Zentrum (ganz ersten Druck mit arabischen (Holzschnitt-)Lettern, son- im Sinne Strohschneiders als „die wesentliche Scharnier- dern führten auch zu universitärer Forschung und Lehr- stelle des föderal organisierten Wissenschaftssystems“4) angeboten im Arabischen – Aktivitäten, die für Jahrhun- eine bedeutende Rolle. Sie hat auch immer auf eine aus- derte nicht mehr möglich waren, seit die Bibliotheca gewogene, aber nicht schematisch berechnete regionale Palatina 1623 nach Rom transportiert worden war.2 Beteiligung geachtet, so dass auch weniger finanzstarke Partner, wie das Saarland, sich beteiligen konnten.5 Litera- turversorgung galt als eine der entscheidenden Vorausset- 3 Der deutsche Weg der koordinierten Erwerbung mit 3 Vgl. Leyh, Georg: Die deutschen Bibliotheken von der Aufklärung überregionaler Bereitstellung bis zur Gegenwart, in: Ders. (Hg.): Handbuch der Bibliothekswissen- schaft III. 2, Wiesbaden 1957, S. 341. 4 Die DFG in der wissenschaftspolitischen Debatte. Rede des DFG- Die Perfektionierung der drei Grundaktivitäten Sammeln, Präsidenten Professor Peter Strohschneider. Fachkollegien-Sprecher- Erschließen und Benutzen sind die entscheidenden Krite- tagung, 18. und 19. Juni 2013, Bad Honnef. http://www.dfg.de/down rien für die Leistungsfähigkeit der modernen Gebrauchs- load/pdf/foerderung/grundlagen_dfg_foerderung/drittmitteldruck/r bibliothek. Das Ziel der Vollständigkeit konnte bei der ede_strohschneider_fk_sprechertagung_2013.pdf. 5 zunehmenden Internationalisierung und der Massenhaf- Vgl. den Beitrag von Hagenau in diesem Heft S. 403 ff., der auch ausführlich darlegt, weshalb eine Weiterführung des SSG Psychologie nicht mehr möglich erscheint; zu den Belastungen, die ein SSG für die Bibliothek bedeutet und den Aspekten für und wider eine Beteiligung 2 Mittler, Elmar: Bibliotheca Palatina. (Heidelberger Bibliotheks- am FID Programm siehe auch aus der Tübinger Situation: Dörr, schriften, 24). Textband. Heidelberg 1986, S. 414–419. Marianne: Vom Sondersammelgebiet zum Fachinformationsdienst –

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM Nachhaltige Infrastruktur für die Literatur-und Informationsversorgung 349 zungen für die erfolgreiche Forschung. Die SSG-Förderung sionen blieben.10 Die DFG hat das Programm in einem mehr- war deshalb über mehrere Jahrzehnte ein wichtiges jährigen Prozess seit 2008 evaluiert11 und daraus insbeson- Teilprogramm der DFG-Förderung. Das zunächst aus der dere drei Folgerungen für einen Paradigmenwechsel von Notsituation der Nachkriegszeit Anfang der 50er-Jahre ent- Sondersammelgebieten zu Fachinformationsdiensten ge- wickelte Ziel sicherzustellen, dass wenigstens ein Exem- zogen: plar wissenschaftlich relevanter Literatur in einem verteil- 1. Das Prinzip der vorsorgenden Erwerbung, mit dem Ziel ten und gut abgestimmtem System in Deutschland zur relativer Vollständigkeit wird grundsätzlich in Frage Ausleihe bereit stand, wurde zwar nicht in Perfektion reali- gestellt. siert; der Erreichungsgrad erwies sich aber bei allen Ver- 2. Fachinformationsdienste statt Sondersammelgebiete gleichen mit der Erwerbungssituation anderer Länder als sollen einer klaren Forschungscommunity zugeordnet deutlich überlegen. Die DFG hat als ergänzende Geld- werden. geberin – sie finanzierte den Kauf wissenschaftlich relevan- 3. Die Bereitstellung von Content soll grundsätzlich elek- ter Literatur aller Fachgebiete aus dem Ausland mit einem tronisch erfolgen. Anteil von 75% – die Gestaltungschancen, die ihr damit zufielen, voll genutzt.6 Damit konnte sie den Erfolg dauer- Darüber hinaus wurde haft sichern, während der vergleichbare amerikanische 4. ein stark fachlich besetztes Begutachtungsverfahren Versuch, den auf Freiwilligkeit aufgebauten Farmington- in Gang gesetzt, bei dem mit der Entscheidung über plan nachhaltig zu verwirklichen, nach relativ kurzer Zeit die Informationsdienste auch die Förderung der Er- scheiterte, weil in den sehr stark auf Konkurrenz ausgerich- werbungsunterstützung gekoppelt wurde. teten amerikanischen Universitäten letztlich die lokalen Bedürfnisse Präferenz hatten.7 Zugleich wurde mit dem ver- Hier wird zunächst auf die internationale Diskussion zum teilten System in Deutschland auch flächendeckend die Prinzip der vollständigen Sammlung, dann auf die Zuord- Innovationskraft und Leistungsfähigkeit der Bibliotheken8 nung zu den Fachcommunities sowie die Situation nach gestärkt sowie eine gleichmäßige und an Standards orien- der ersten Antragsrunde eingegangen, um abschließend tierte Entwicklung über Ländergrenzen hinweg gefördert. auf dem digitalen Paradigma aufbauende Überlegungen Das System der Sondersammelgebiete ist immer wieder zur zukünftigen Entwicklung vorzulegen. überarbeitet und neuen Entwicklungen angepasst wor- den9, wobei schon die ersten großen Veränderungen in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht ohne Diskus- 4 Das Prinzip Vollständigkeit – Bestandsentwicklung oder Bestandsmanagement? ein Praxisbericht. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliogra- – 12 phie 61 (3) (2014) S. 130–137, hier insbesondere S. 131 und S. 137. Die jüngste Evaluation hat einerseits wie auch Depping 6 Für die Anfänge nach dem II. Weltkrieg vgl. vor allem Tiemann, und Griebel13 hervorheben – das Ergebnis gebracht, dass Hermann: Zur Problematik der Sondersammelgebiete. In: Schmidt, Wieland; Oertel, Dieter: Fünfzehn Jahre Bibliotheksarbeit der Deut- schen Forschungsgemeinschaft. 1949–1964. Ergebnisse und Proble- me. (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie Sonderheft, 10 Vgl. hierzu Tiemann (Anm. 6) sowie die Anm. der Herausgeber

4). Frankfurt am Main 1966, S. 27–45, hier S. 27 f. und im selben Band Schmidt; Oertel (Anm. 6) S. 44 die Anm. 5. siehe auch Busse, Gisela von: Memorandum über die Grundgedanken 11 Lipp, Anne: Auf dem Prüfstand. Das DFG-geförderte System der und Fortführung des Sondersammelgebietsplans. S. 46–64. Zur An- Sondersammelgebiete wird evaluiert. In: Zeitschrift für Bibliotheks- erkennung des Systems vgl. Depping, Ralf: Das Ende der Sonder- wesen und Bibliographie 57 (2010) S. 236 und S. 242–244 sowie Astor, sammelgebiete. Ende einer Infrastruktur in diesem Heft S. 398 ff., hier Michael; Klose, Georg; Heinzelmann, Susanne; Riesenberg, Daniel: mit Berufung auf die Evaluation ab S. 399. Evaluierung des DFG-geförderten. Systems der Sondersammelgebie- 7 Edelman, H.: The Death of the Farmington Plan. In: Library Journal te. 2011. Online verfügbar unter: http://www.dfg.de/download/pdf/ 98 (1973) S. 1251–1253 sowie Wagner, Ralph D.: A History of the dfg_im_profil/evaluation_statistik/programm_evaluation/studie_eva Farmington Plan. Lanham, Md 2002; Williams, Edwin E.: Farmington luation_sondersammelgebiete.pdf. Plan Handbook. Revised to 1961 and abridged. Ithaca, N.Y. 1961. 12 Depping (Anm. 6) S. 399.

8 Vgl auch dazu Hagenau (Anm. 5) S. 403 ff. und Dörr (Anm. 5) S. 137. 13 Griebel, Rolf: Ein „folgenreicher“ Paradigmenwechsel. Die Ablö- 9 Vgl. Kümmel, Christoph; Strohschneider, Peter: Ende der Samm- sung der Sondersammelgebiete durch die Fachinformationsdienste lung? Die Umstrukturierung der Sondersammelgebiete der Deutschen für die Wissenschaft. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Biblio-

Forschungsgemeinschaft. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und graphie 61 (2014) S. 138–157, hier S. 142 mit Berufung auf Lipp Bibliographie 61 (2014) S. 120–129, hier S. 121–124. (Anm. 11) S. 244.

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM 350 Elmar Mittler die Mehrzahl der Befragten Vollständigkeit, Reservoir- Buchnutzung, die von Fussler und Simon in Chicago durch- Funktion, überregionale Verfügbarkeit und Nachhaltigkeit geführt wurden, um insbesondere eine Strategie für die als Grundprinzipien und Leitziele überwiegend positiv Aussonderung in Kompakt- oder Ausweichmagazine zu eingeschätzt hat.14 Auch Kümmel erkennt an, dass Voll- entwickeln.19 Ergebnisse waren unter anderem, dass in den ständigkeit einhellig als entscheidendes Qualitätskriteri- Naturwissenschaften sich relativ klare Aussagen über die um gewertet wird, was mit den bisher geltenden Förder- Reduktion der Nutzung im Zeitverlauf machen lassen; in richtlinien korrespondiert. Einschränkend fügt er aber den Humanities ist die Aussonderungsmöglichkeit auf je- hinzu, dass der Aufbau eines forschungsrelevanten »Reser- den Fall geringer – sie streut auch sehr viel stärker im voirs« für deutlich mehr als die Hälfte der Befragten aber Bestand und die erwartete Reduktion der Nutzung in einem auch ohne das Bemühen um eine vollständige Abdeckung längeren Zeitraum verlangsamt sich.20 Das sind Ergebnisse, in der Erwerbung sinnvoll erscheine. Außerdem stellt er die nicht verwundern, wenn ich z. B. an die eigene Erfah- fest, dass in der Praxis das theoretische Ziel der »Vollstän- rung denke, dass in Heidelberg auch zehn Jahre nach dem digkeit« ohnehin nur unter Anwendung verschiedenster Einführen der Etikettierung der Magazinbestände im Be- Auswahltechniken und Erwerbungsstrategien zur Erfas- stellfall sich immer noch eine kaum verringernde Zahl neu sung der für relevant erachteten Publikationen auf eine so zu erfassender Titel ergab – es war so, als ob sich an einer genannte »relative Vollständigkeit« heruntergebrochen Forschungsuniversität, insbesondere natürlich die geistes- werde.15 Schließlich kommt er abschließend zu dem Ergeb- wissenschaftliche Fachcommunity, allmählich durch den nis: „Da die raison d’être des gesamten Systems jedoch Bücherberg der Bibliothek „hindurchfresse“. Mit den ame- nicht mehr der Aufbau einer möglichst vollständigen Lite- rikanischen Modellen für die Ermittlung der Kosten für die ratursammlung ist, sind weniger »vollständige«, aber prä- Lagerung von Büchern, wie sie bei Fussler zu finden waren, ziser umrissene und vertiefte Bestände nicht als Verlust, wurde versucht, die allgemeine Vorstellung zu unterminie- sondern als Gewinn für die Forschung zu sehen.“16 ren, dass die Größe einer Bibliothek wesentliches Kenn- Diskussionen um den Wert ausgewählter Bestände hat zeichen ihrer Qualität sei.21 Stattdessen suchte man, den es immer wieder gegeben. Mit dem plakativen Titel „Fare- Albtraum der immer weiter wachsenden Bibliotheken well to Alexandria“ hat Daniel Gore in einem Sammelband durch die gut gemanagte „phoenix- library“ zu verdrängen, 1976 auf dem Hintergrund des Baubedarfs für die im Bil- die durch regelmäßiges Aussondern von Literatur nicht dungsboom der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts stark wächst und trotzdem eine höhere Zufriedenheitsrate bei gewachsenen und weiter wachsenden Bibliotheken die ihren Benutzern erreicht, weil sie vielgebrauchte Literatur Konzeption der „No-growth, high-performance library“ gezielt mehrfach erwirbt.22 Tendenziell führte die Diskussi- propagiert.17 Im Sammelband der Konferenz in Chicago on scheinbar in eine ähnliche Richtung, wie wir sie gegen- 1975 findet sich auch ein Beitrag von Richard W. Trueswell, wärtig bei den Sondersammelgebieten erleben: Die Finanz- der statistische Grundlagen für die nichtwachsende Biblio- mittel sollten stärker für Services ausgegeben werden als thek liefert, die er in einer Reihe von Aufsätzen ausführ- für die Erweiterung der Sammlungen.23 Auch unter dem licher dargestellt und thematisch ausgeweitet hat.18 An- Eindruck von Etatrestriktionen verstärkte sich die Tendenz geknüpft wird hier auch an die Untersuchungen zur zum Management von Beständen, wobei aber besonderer Wert auf die Einführung von gemeinsamen Katalogisie- rungssystemen und überregionalen Servicezentren für die 14 Evaluierung (Anm. 11) S. 146. 15 Kümmel, Christoph: Nach den Sondersammelgebieten – Fach- Literaturbereitstellung von Zeitschriftenaufsätzen gelegt informationen als forschungsnaher Service. In: Zeitschrift für Biblio- thekswesen und Bibliographie 60 (2013) S. 5–15, hier S. 7 f. 16 Ebda S. 14. 19 Fussler, Herman; Howe, Simon; Lincoln, Julian: Patterns in the 17 Gore, Daniel: Farewell to Alexandria. The theory of the no-growth, Use of Books in Large Research Libraries. Revised edition of the 1961 high-performance library. In: Daniel Gore (Hg.): Farewell to Alexan- publication. Chicago 1969. dria. Solutions to space, growth, and performance problems of libra- 20 Vgl. zusammenfassend Fussler (Anm. 19) S. 144 f. ries. Westport, Conn 1976, S. 164–180. 21 Eine Übersicht der Diskussion gibt Jones, David E.: Collection 18 Trueswell, Richard W.: Growing Libraries: Who Needs them? A Growth in Postwar America. A critique of policy and practice. In: statistical basis for the no-growth collection. In: Daniel Gore (Hg.): Library trends 61 (3) (2013) S. 587–612. Farewell to Alexandria. Solutions to space, growth, and performance 22 Gore, Daniel: The View from the Tower of Babel. In: Daniel Gore problems of libraries. Westport, Conn 1976, S. 72–104 sowie u. a. (Hg.): To Know a Library. (New directions in librarianship, 1) West- ders.: Determining the Optimal Number of Volumes for a Library’s port, Conn 1978, S. 53–64.

Core Collection. In: Libri 16 (49–60) (1966); ders.: User Circulation 23 Jones (Anm. 21) S. 599 mit Bezug auf Dix, William S.: Reflections

Satisfaction vs. Size of Holdings at Three Academic Libraries. In: in Adversity, or, how do you Cut a Library Budget? (Library Lectures / College & Research Libraries 30 (1969) S. 239–245. Louisiana State University Library; 18) Baton Rouge 1972.

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM Nachhaltige Infrastruktur für die Literatur-und Informationsversorgung 351 wurde; schließlich sollte auch das nationale Literaturreser- lichst vollständig alles von Wert zu erwerben: „It is not voir der Großbibliotheken des Landes besser koordiniert believed that any man is wise enough, or gifted with suffi- werden.24 Wenn Gore auf die Kosten der Speicherung für cient foresight to say that any document (excepting only nicht gebrauchte Literatur abhebt25 und nur die Erfüllungs- the wholly derivative) will not be of genuine importance to rate, nicht die Zahl ihrer Bände, als Maßstab der Größe some scholar to some time.“31 Es verwundert nicht, dass er einer Bibliothek ansieht, so setzt er aber andererseits einen deshalb auch dafür plädiert, neben den „needs for the funktionierenden Leihverkehr mit einem System nationaler present“„the needs for the future“ zu berücksichtigen.32 Zentren zur Speicherung der selten gebrauchten Literatur In Großbritannien wurde das Management der Biblio- voraus. Als die Diskussion über die Nichtnutzung der Lite- theken auf der Grundlage des Atkinson-Report mit dem ratur durch die Pittsburgh-Studie26 unter Leitung von Allen Konzept der „self-renewing library“ ebenfalls unter dem Kent erneut aufflammte, äußerte Trueswell eine klar abge- Gesichtspunkt der Reduzierung der Kosten für die Unter- wogene Meinung: Er machte zunächst deutlich, dass die bringung der Bücher diskutiert,33 ohne dass dies in der Ergebnisse von Pittsburgh die früheren Untersuchungen Praxis große Wirkung gehabt hätte. Schon vorher hatte von Kent und ihm selbst bestätigen. Eine Bibliothek müsse man mit systemanalytischen Methoden Optimierungsstra- sich entscheiden, in welchem Umfang sie Forschung und tegien für den Einsatz der Mittel und der Ausgestaltung der Studium unterstützen wolle; dann aber stellt er eindeutig Services entwickelt,34 die bis zur Erarbeitung von Manage- klar: „My opinion is that even the unfrequently used books mentspielen führten, in denen Kauf zusätzlicher Exempla- must be made available to all users“, wobei er als Weg aus re, Ausleihfristen und die Lesezeiten als Variablen in ihrem damaliger Sicht die Mikroverfilmung, regionale Speicher- Wechselspiel verfolgt werden konnten.35 Auch hier aber bibliotheken und „resource sharing“ nennt.27 Auch für Ross stand im Hintergrund die British Library – nicht zuletzt mit Atkinson ist die kooperative Erwerbung im Rahmen einer Ihrer Lending Division in Boston Spa –, die gerade erfolg- systematischen Erwerbungspolitik bei wachsenden Publi- reich ihr Lieferprogramm für Zeitschriftenaufsätze auf- kationsmengen und knappen Etats der einzige Weg, den gebaut hatte.36 Die British Library wurde in ihrem Grün- Nutzerbedürfnissen entsprechen zu können.28 Das Ausnut- dungsakt in bewusster Anknüpfung an das von Panizzi zen von Kooperationsmöglichkeiten fordert schon Danton, erfolgreich umgesetzte Niveau im British Library Act 1972, einer der prominentesten Vertreter der „comprehensive als „consisting of a comprehensive collection of books, collection“.29 Er kritisiert das amerikanische System, weil manuscripts, periodicals, films and other recorded matter, es zu wenig in die fachlich abgesicherte Auswahl investie- whether printed or otherwise“ charakterisiert. In ihrer Visi- re, und setzt sich für ein System von „book collectors“ ein, on 202037 und dem Strategic Plan 2011–201538 werden das die an der Zahl das Vorbild des deutschen Fachreferenten- Aufgabenfeld auf die digitalen Medien ausgedehnt und die systems übertreffen sollten, um möglichst Fehlkäufe nicht benötigter Literatur zu vermeiden. Diese sollten die Litera- tur „well in advance of the clientele’s need for them“30 31 Ebda S. 139. – bereitstellen, um in den Haupterwerbungsfeldern durch- 32 Ebda S. 140. aus in Zusammenarbeit mit anderen Bibliotheken – mög- 33 Atkinson, Richard; Copland, John: Capital Provision for Univer- sity Libraries. Report of a working party. London 1976. 34 Buckland, Michael Keeble: Systems Analysis of a University Libra- 24 Dix, W. S.: The Financing of the . In: College & ry. Final report on a research project. (University of Lancaster Library Research Libraries 35 (1974) S. 252–258. Occasional Papers, 4) Lancaster 1970.

25 Gore (Anm. 22), hier S. 61 f. 35 Brophy, P.: A Game. A report on a research 26 Use of Library Materials. The University of Pittsburgh Study. Unter project. (University of Lancaster Library Occasional Papers, 7) Lan-

Mitarbeit von Kent, Allen u. a. (Books in Library and Information caster 1972; Daly, Jeannette: The Use of Gaming in Education for

Science, 26). New York u. a. 1979. Library Management. Final report on a research project. (University of 27 Trueswell, Richard W.: Balancing Library Objectives with Book Lancaster Library Occasional Papers, 8) Lancaster 1976; Eastcott,

Circulation. In: Journal of academic librarianship (1997) S. 68 f., hier C. N.: Evaluation of the Lancaster University Library Management

S. 69. Game. A report of a research project commissioned by the British 28 Atkinson, Ross: Old Forms, New Forms. The challenge of collecti- Library. Research and Development Department (formerly O.S.T.I.). on development. In: College & Research Libraries 50 (1999) S. 507– (British Library report, no. 5279) Leeds 1974.

520, hier S. 514 f. 36 Naylor, Bernard: Steady-state and Library Cooperation. In: Colin

29 Jones (Anm. 21) S. 549 Danton, Joseph Periam: Book Selection Steele (Hg.): Steady-state, Zero Growth and the . and Collections. A comparison of German and American university London 1978, S. 109–128, hier S. 118–120. libraries. (Columbia University Studies in Library Service, Nr. 12) New 37 http://www.bl.uk/aboutus/stratpolprog/2020vision/2020A3.pdf. York 1963. 38 http://www.bl.uk/aboutus/stratpolprog/strategy1115/strategy111 30 Danton (Anm. 29) S. 134. 5.pdf.

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Abb. 1: Literaturbedarf im zweischichtigen Bibliothekssystem einer Universität

neuen Möglichkeiten (aber auch Notwendigkeiten) intensi- te Doppelung der Studienliteratur in lokaler Abstim- ver Kooperation bei der Erfüllung der Sammelaufgaben mung mit den Fachbereichen sowie schließlich besonders hervorgehoben. ‒ die gut organisierte umfassende Sammlung von Spezi- Vergleicht man resümierend die deutsche Entwick- alliteratur durch die Sondersammelgebietsbibliothe- lung seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit ken mit der Verpflichtung, sie im Leihverkehr zur Ver- dieser angelsächsischen Diskussion, so lässt sich feststel- fügung zu stellen. len, dass in Deutschland als Ergebnis der Wissenschafts- ratsempfehlungen, die von der DFG aufgenommen39 und In einem Schaubild aus dem Bibliotheksplan Baden Würt- mit Hilfe der Landesplanungen umgesetzt wurden, eine temberg ist dies graphisch in anschaulicher Weise visuali- 40 dem Ansatz nach perfekte Kombination erfolgverspre- siert (Abb. 1). Es zeigt, dass auch die vor Ort benötigte chender Strategien realisiert werden konnte. Die wesentli- sehr spezielle Literatur im lokalen System erworben wer- chen Elemente waren den sollte, wenn sie sich auf ein intensiv gepflegtes For- ‒ Mehrfachkäufe vielgebrauchter Literatur in den Lehr- schungsfeld bezog. Es ist aber auch erkennbar, dass auf buchsammlungen, diese Weise die systematische Sammlung zur gesicherten ‒ gleichmäßige Auswahl der grundlegenden For- Abdeckung der relevanten Spezialliteratur nicht erreich- schungsliteratur durch die Fachreferenten und geziel- bar ist.41

40 Mittler, Elmar: Gesamtplan für das wissenschaftliche Bibliotheks- 39 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Empfehlungen für die Zu- wesen. 2 Bde. Pullach bei München 1975. Hier Bd. 1, S. 176. sammenarbeit zwischen Hochschulbibliothek und Institutsbibliothe- 41 Dies wurde auch von Franken anerkannt, der als Leiter der Uni- ken. Bonn-Bad Godesberg 1970. versitätsbibliothek Konstanz, einer der „reichen“ Bibliotheken neuer

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Inzwischen – das sei ergänzend erwähnt – hat vor Dienstleistungsangebot zu entwickeln. Diese Zielsetzung dem Hintergrund der massiven Digitalisierungen von Goo- setzt voraus, dass jeder Fachinformationsdienst einen gle und Hathitrust42 in den Vereinigten Staaten das Thema möglichst eindeutigen – wenn auch nicht exklusiven – der Aussonderung von gedruckten Materialien neue Ak- Bezug zu bestimmten Fächern oder Fachcommunities auf- tualität gewonnen. Das Ziel der voll digitalen Bibliothek weist. Ein solcher Bezug war beim ‚Sammelplan‘ des aus- wird mit der Reduktion der Printmaterialen verknüpft, laufenden Systems der Sondersammelgebiete nicht in je- wobei nach den Zeitschriften auch die Monographien ins dem Fall gegeben und auch nicht zwingend. Die Blickfeld geraten. „Collective Collections“ von Bibliotheks- Umstrukturierung des Systems bedingt daher eine entspre- netzen sind in der Entwicklung, wobei auch an den Aufbau chende Anpassung der Fachsystematik.“45 Es ist sicher ein fachlich gegliederter Sammlungen gedacht wird.43 Für wünschenswertes Ziel, Fachinformation und Fachcommu- Deutschland sind durch das Sondersammelgebietspro- nities in Übereinstimmung zu bringen. Aber es kommt gramm, das die Verpflichtung zur dauerhaften Speiche- ebenso sicher der Quadratur des Kreises gleich, Fachinfor- rung der Spezialbestände einschließt, bereits in der Ver- mationsdienste an den sich immer wieder wandelnden gangenheit gute Voraussetzungen geschaffen, hier zu Zuschnitt der universitären Forschungsrichtungen und Fä- noch effizienteren Lösungen zu kommen. cherspezifikationen anzupassen. Zu verzahnt sind die Fachgebiete, zu sehr überlappen sich die Interessen und Forschungsobjekte. Darüber hinaus sind viele Fachgebiete 5 Die strikte Ausrichtung auf die „Hilfswissenschaften“ für andere, die im Bestand noch aktuellen Bedürfnisse der mehr aber in der Erschließung berücksichtigt werden müssen – und oft Interessen haben, die mit den zentralen Fachcommunities gegen Forschungsthemen nicht übereinstimmen. Mindestens in Interdisziplinarität, Latenz und den Geisteswissenschaften kann mit Sicherheit gesagt werden, dass ein Prinzip der Beschränkung auf die Erwer- Serendipity bung aktuell in eng definierten Forschercommunities be- nötigter Literatur kontraproduktiv sein muss. Die Gefahr,

Im Rahmen der Evaluierung des Sondersammelgebiets- dass man Moden unterliegt, z. B. dem schnellen Wechseln programms wurde auch festgestellt, dass zwei Drittel der kulturwissenschaftlicher Turns46 nachläuft, wären unver- befragten Wissenschaftler keine Kenntnis von den Sonder- meidlich. Gerade in den Geisteswissenschaften – aber sammelgebieten hatten. Göttker vermutet, dass diese Er- nicht nur in diesen – muss man davon ausgehen, dass die kenntnis mit ein Grund dafür gewesen sein könnte, dass Fragestellungen der Gegenwart mit an Sicherheit grenzen- zukünftig die Beachtung aktueller Bedürfnisse und Nut- der Wahrscheinlichkeit nicht die Fragen der Zukunft sind. zerinteressen im jeweiligen Fach oberstes Prinzip sein Deshalb brauchen Geisteswissenschaften – um mit Stroh- soll.44 „Künftig ist allein wesentlich, dass bei der Betreu- schneider zu sprechen – Bibliotheken, die zwar einerseits ung eine intensive Auseinandersetzung mit den Bedürf- der Vorratshaltung durch Speicherung für den jetzt schon nissen der Fachcommunities erfolgt, um ein passendes wohl definierten Zweck zukünftiger Lektüre dienen. Die künftige Gebrauchsform der Bücher ist damit zwar schon antizipiert, aber die Bibliothek speichert, „was mit der

Universitäten, einen Bestand mit hohem Spezialisierungsgrad vor Ort Akkumulation von Dingen im Unterschied zum Vorrat erst hatte. Franken, Klaus: Überlegungen zu künftigen Formen der Erwer- mit dem Modus der Sammlung institutionalisiert wird: bungskooperation in wissenschaftlichen Bibliotheken. In: Wefers, Latenz.“47 „Sammlungen rechnen gewissermaßen damit, Sabine (Hg.): Von Gutenberg zum Internet. (Zeitschrift für Biblio- thekswesen und Bibliographie Sonderheft, 68) Frankfurt am Main 1997, S. 236–244. 45 Überführung der Sondersammelgebiete in das Förderprogramm 42 http://www.hathitrust.org/community. „Fachinformationsdienste für die Wissenschaft“ unter: http://www. 43 Dempsey, Lorcan: The Emergence of the Collective Collection: dfg.de/foerderung/programme/infrastruktur/lis/lis_foerderangebote Analyzing Aggregate Print Library Holdings. In: Dempsey, Lorcan; /fachinformationsdienste_wissenschaft/ueberfuehrung_sondersam Lavoie, Brian; Malpas, Constance; Silipigni Connaway, Lynn; Schon- melgebiete/index.html. feld, Roger C.; Shipengrover, J.D.; Waibel, Günter: Understanding the 46 Vgl. dazu: Mittler, Elmar: Historische Bibliotheksforschung. In: Collective Collection: Towards a System-wide Perspective on Library Umlauf, Konrad; Fühles-Ubach, Simone; Seadle, Michael (Hg.): Print Collections. Dublin, Ohio 2013 unter: http://www.oclc.org/con Handbuch Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft. tent/dam/research/publications/library/2013/2013-09.pdf. Berlin 2013, S. 483–524, hier S. 497–505. 44 Göttker, Susanne: Die Erwerbung im Jahre 2020. In: Bit-online 16 47 Ich paraphrasiere bzw. zitiere Ausführungen von Strohschneider, (2013) S. 279–287, hier S. 282. Peter: Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM 354 Elmar Mittler dass es Sachverhalte geben wird, mit denen nicht gerech- das noch sich finden lassen wird, was in ihr immer schon net werden kann: also etwa eine neue Einsicht oder Er- gesucht worden ist. Dann lenkt die Sammlung die Auf- kenntnis, Beobachtungen oder Erfahrungen, die sich letzt- merksamkeit gerade ab von dem, was einstweilen erst lich dem Prinzip der serendipity verdanken“.48 So bieten wenig Aufmerksamkeit fand. Wie die Internet-Such- die Bibliotheken (wie andere wissenschaftliche Sammlun- maschinen bietet sie als belangvoll dann dar, was viele gen) die „Möglichkeit einer späteren Befassung mit ande- zuvor bereits für belangvoll hielten. So wird sie zu einem ren Erkenntnisinteressen, anderem Aufmerksamkeits- Mechanismus, der zukünftiges Neues gerade unwahr- fokus, anderen Methoden, in anderen Theorierahmen“.49 scheinlich macht, und das mag in der Unterhaltungsindus- Ein Aspekt der Latenz ist auch die Funktion der Biblio- trie für einträglich gehalten werden. In der Forschung ist theken als Speichergedächtnis im Sinne von Aleida Ass- es entschieden systemwidrig.“53 mann und Jan Assmann. Indem Bibliotheken „kulturelles Der Geisteswissenschaftler nutzt Latenz, indem er im- Wissen aufbewahren, konservieren, erschließen und zir- mer neue Fragestellungen an die Gegenstände und Medien kulieren lassen“,50 ermöglichen sie den Übergang aus dem heranträgt. Sie lassen sich – wie Bernhard Fabian kulturellen Gedächtnis in das kommunikative Funktions- ausführt – nicht wie die Hypothese des Naturwissenschaft- gedächtnis. Damit sind ständige Grenzverschiebungen lers in Versuchen im Labor verifizieren. Sie führen den zwischen geschichtlichem Wandel und historischen Erfah- Forscher vielmehr in einen nicht stringent vorhersehbaren rungen möglich.51 Da Bibliotheken die Möglichkeit der Suchprozess, die er in seinem „Laboratorium“, der For- Weitergabe der in Medien akkumulierten Erfahrungen und schungsbibliothek, am empirischen Material überprüfen Erkenntnisse determinieren und organisieren, ist die Kon- will. „Sie muss ihn darüber hinaus in die Lage versetzen, tinuität ihrer Wissens- und Erinnerungsorganisation und eine Fragestellung durch die Primär- und Sekundärlitera- ihres Sammelns notwendig. tur verfolgen zu können, gleichviel wohin der Weg ihn Strohschneider spricht vom Eigensinn der Bibliothek, führt.“54 der Sammlung und ihrer Gegenstände. „Wollte man sie […] Zu gleichen Ergebnissen kommen auch Toms und nur von den aktuell manifesten Gebrauchsfunktionen und O’Brien in ihrem Literaturbericht zu den Bedürfnissen der Nutzungsinteressen bestimmen, so würde man alsbald Geisteswissenschaftler bei der Nutzung von Informations- beim Gegenteil recht verstandener Nutzerfreundlichkeit und Kommunikationstechnik.55 So stellen Palmer und anlangen: bei einer reduktionistischen Logik gänzlich von Neumann fest: „Scholars do not just examine one docu- aktueller Nachfrage her induzierter Angebote, welche die ment, but entire collections.“56 „Unlike other disciplines, Sammlung mit der Vorratshaltung verwechselt“.52 „Sam- humanists do not perform literature searches to identify meln allein nach dem Maß der Nutzungsfrequenz führt seminal works. Goal-directed searches […] are conducted über kurz oder lang dazu, dass in der Sammlung lediglich primarily to assess the breadth of existing research rather than target key works.“ und „To an outsider, this research process may seem chaotic and disorderly, but humanists Universität. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der are methodical; by casting a large net, they are able to Wissenschaften 8 (2012) S. 9–26. Hier S. 17 und Anm. 24.

48 Ebda S. 18 mit Hinweis auf Merton, Robert K.; Barber, Elinor: The Travels and Adventures of Serendipity. A study in sociological seman- tics and the sociology of science. Princeton, NJ 2004. Vgl. auch: Stroh- schneider, Peter: Unordnung und Eigensinn der Bibliothek. Eröff- 53 Strohschneider (Anm. 47) S. 19. Vielen historisch Forschenden nungsvortrag auf dem 98. Deutschen Bibliothekartag. In: Hohoff, dürfte das dankbare Finderglück bekannt sein, wenn er ein älteres Ulrich; Schmiedeknecht, Christiane (Hg.): Ein neuer Blick auf Biblio- historisches Werk im Zuge des Verfolgens eines Spezialthemas in der theken. 98. Deutscher Bibliothekartag in Erfurt 2009. Hildesheim Hand hält, das noch unaufgeschnitten ist und so zeigt, dass man der

2010, S. 17–25, hier S. 22 f. erste ist, der sich mit ihm befasst – das sozusagen für ihn erworben 49 Strohschneider (Anm. 47) S. 18. wurde. 50 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume Formen und Wandlungen 54 Fabian, Bernhard: Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche des kulturellen Gedächtnisses. München 2006, S. 140; vgl. dazu auch: Forschung. Zu Problemen der Literaturversorgung und der Literatur- Mittler, Elmar: Die Bibliothek als Gedächtnisinstitution. In: Umlauf, produktion in der Bundesrepublik Deutschland. (Schriftenreihe der Konrad; Gradmann, Stefan (Hg.): Handbuch Bibliothek. Geschichte, Stiftung Volkswagenwerk, 24) Göttingen 1983. Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2012, S. 33–40. 55 Toms, Elaine G.; O’Brien, Heather L.: Understanding the Informa- 51 Assmann, Jan: Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses. In: Drei- tion and Communication Technology Needs of the e-Humanist. In: er, Thomas (Hrsg.): Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Karls- Journal of Documentation 64 (1) (2008) S. 102–130. ruhe 2005, S. 21–29. 56 Palmer, C.L.; Neumann, L.J.: The Information Work of Interdis-

52 Strohschneider (Anm. 47) S. 19. S. auch den in Anm. 48 zitierten ciplinary Humanities Scholars: Exploration and Translation. In: Li-

Beitrag Strohschneiders. brary Quarterly 72 (1) (2002) S. 85–117, nach Toms (Anm. 55) S. 104.

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM Nachhaltige Infrastruktur für die Literatur-und Informationsversorgung 355 reassure themselves that their coverage of the field justifies und SLUB Dresden;60 Medien- u. Kommunikationswissen- 57 their selection of resources“, stellen Talja and Maula fest. schaften / UB Leipzig; Internationale und interdisziplinä- Will man forschungsadäquate Fachinformations- re Rechtsforschung / SB Berlin; Musik / BSB München. dienste aufbauen, so scheint notwendig, den Blick über Die Zahl der negativen Voten überwiegt: Bildungsfor- die engen Grenzen der Fachcommunities hinaus aus- schung / UB Erlangen; Hochschulwesen / UB HU Berlin; zuweiten. Es bietet sich an, die Forschungsformen zu be- Philosophie / UB Erlangen; Politikwissenschaft / SUB 58 rücksichtigen, die der Wissenschaftsrat beschrieben hat. Hamburg; Sozialwissenschaften / USB Köln; Sport / Eine derartige Sicht, bei der die Geisteswissenschaften vor Sport-Hochschule Köln; Theaterwissenschaft / UB Frank- allem den „hermeneutisch-interpretierenden Forschungs- furt/Main; Theologie / Tübingen. Damit ist das System formen“ zuzuordnen sind, würde helfen, virtuelle Cluster der Fachinformationsdienste als flächendeckende Infra- der engeren Kooperation zu schaffen, aber auch einen struktur ernsthaft in Frage gestellt.61 Auch wenn man einheitlichen Kriterienkatalog für die Evaluation zu ent- annimmt, dass ein Teil der Bibliotheken in einer mögli- wickeln, der eine größere Konsistenz bei der gutachterli- chen zweiten Runde erfolgreicher abschneiden wird, chen Begleitung der fachinformationellen Infrastruktur muss man davon ausgehen, dass nur noch ein Flicken- gewährleisten könnte. Methodisch abgesicherte Unter- teppich von Fachgebieten in der Förderung bleibt, der suchungen in einem derartigen Rahmen wären sicher aus- sicher indirekt die Versorgung auch in der Begutachtung sagekräftiger, als es die Voten kurzfristiger Begutachtung erfolgreicher Fächer beeinträchtigen wird, weil sich viele sein können – sie sollten mindestens ergänzend durch- Forschungsbereiche überschneiden. Allem Anschein geführt werden. nach wurden Anträge positiv beschieden, die ein relativ enges Fachgebiet, wie die Kriminologie, umfassen oder im Antrag eine Auswahl der Literatur bzw. nur einen Aus- 6 Die Überführung der schnitt der früher zu berücksichtigten Fachthematik als Sondersammelgebiete in Erwerbungsziel angegeben haben. Das letztere ist z. B. bei dem Sondersammelgebiet Recht der Fall, das jetzt ein FID Fachinformationsdienste – eine „Internationale und interdisziplinäre Rechtsforschung“ erschreckende Zwischenbilanz geworden ist – also Publikationen zum materiellen Recht anderer Länder ausklammert. Die UB Leipzig will im FID Medien- und Kommunikationswissenschaft das Modell Bevor die Rolle der digitalen Medien und Informations- der nutzergesteuerten Erwerbung (PDA) verwenden, um dienste angesprochen wird, soll auf den bisherigen eine punktgenaue, bedarfsorientierte Bereitstellung von Verlauf der Einführung der Fachinformationsdienste ein- Publikationen zu gewährleisten, weil der Spitzenfor- gegangen werden. Die Überführung der Sondersammel- schungsbedarf von Bibliotheken nur eingeschränkt zu gebiete erfolgt in drei zeitversetzten Gruppen. Dabei hat antizipieren sei. Fachlich profiliert sollen deshalb für den man versucht, durch die Auswahl nach fachlicher und FID die von autorisierten Mitgliedern der Fachcommunity struktureller Ähnlichkeit, eine vergleichende Begutach- benötigten Publikationen in der Regel erst auf konkrete tung und notwendige Anpassungen der inhaltlichen Auf- Anforderungen hin lizenziert oder erworben werden.62 teilung in kontrollierten Schritten zu ermöglichen.59 Als Hier geht man davon aus, dass die Materialien in digitaler Ergebnis der Gruppe 1 „Sozialwissenschaften und fach- Form dauerhaft angeboten werden und im Bedarfsfall lich definierte Sondersammelgebiete der Geisteswissen- unmittelbar erworben werden können, weil sie just in schaften“ sind 2013 positiv beschieden worden: Krimino- time vom Verlag bereitgestellt und dem Nutzer unmittel- logie / UB Tübingen; Kunst(-geschichte) / UB Heidelberg bar zur Verfügung gestellt werden können. Die Mühen

60 Vgl Effinger, Maria; Leiskau, Katja; Walzel, Annika-Valeska: All- 57 Talja, S.; Maula, H.: Reasons for the Use and Non-use of Electronic In-One – arthistoricum.net auf dem Weg zum Fachinformationsdienst Journals and Databases: a domain analytic study in four scholarly Kunst. In: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 38 (1) (2014) S. 83–92. disciplines. Journal of Documentation 59 (6) (2003) S. 673–91, nach 61 Vgl. dazu den Beitrag von Depping in diesem Heft sowie Griebel

Toms (Anm. 55) S. 104. (Anm. 13) S. 150 f. 58 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wis- 62 Lazarus, Jens; Seige, Leander: FID für Medien-und Kommunikati- senschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020 onswissenschaft. Universitätsbibliothek Leipzig entwickelt neuen (Drs. 2359–12). S. 35 und S. 38, insb. S. 36. Online verfügbar unter: Fachinformationsdienst. In: BIS. Das Magazin der Bibliotheken in http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2359-12.pdf. Sachsen 7 (1) (2014) S. 5 f. Online verfügbar unter: http://nbn-resol 59 Überführung (Anm. 45) ving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-137051.

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(und Fußangeln) der Ebene sind hier ausgeklammert. zungsmittel für die Erwerbung in vielen Fachgebieten Dass sie bestehen, haben die SLUB Dresden und die UB geführt hat, von einer Stärkung des Bibliothekswesens Leipzig inzwischen bei ihren PDA-Verträgen selbst fest- gesprochen wird.66 Darin wird das Ziel, „maßgeschneider- gestellt: Eine Reihe von bestehenden Verträgen wurde im te Angebote für einzelne Disziplinen (zu) entwickeln, Juni dieses Jahres nicht fortgesetzt, weil die Verlage kurz- indem sie (die Bibliotheken, Anm. des Verf.) die for- fristig massive Preiserhöhungen gefordert hatten.63 Ob schungsrelevanten Materialien und Ressourcen bereitstel- der geplante Aufbau einer angereicherten Rechercheplatt- len, die über die bibliothekarische Grundversorgung hi- form für das Fachgebiet die Forscher zufriedenstellen nausgehen“, noch zusätzlich präzisiert: „Die auf dem kann, wenn keine sofortige Zugriffsgarantie gegeben ist, jeweiligen Gebiet forschenden Wissenschaftlerinnen muss die Evaluation in einigen Jahren zeigen. Auf Anhieb und Wissenschaftler (Hervorhebung vom Verf.) in erscheint es keineswegs sicher, dass sich das PDA-Prin- Deutschland sollen auf diese Weise unabhängig vom Ort zip, bei dem man die Kosten einer Einzelbibliothek da- ihrer Tätigkeit einen möglichst schnellen und direkten durch zu minimieren sucht, dass man zwar ein möglichst Zugriff auf Spezialliteratur und forschungsrelevante In- breites Angebot an Titeln64 erschließt, aber nur erwirbt, formationen erlangen.“ Ein derartiges Vorgehen kann in was unmittelbar genutzt wird, auf die überregionale Lite- Sonderfällen erfolgreich sein. Für die Versorgung der raturversorgung mit Spezialliteratur übertragen lässt. Ostasienwissenschaften – eine durch die Sprachbarrieren Hierfür müsste ein FID-Lizenzmodell für E-Books vorlie- relativ klar abgegrenzte Gruppe – ist es gelungen, bei gen, von dem wir aber sicher noch weit entfernt sind. finanzieller Beteiligung der einschlägigen wissenschaftli- Man muss auch bei den elektronischen Zeitschriften mit chen Einrichtungen allen Interessierten nach individuel- erheblichen Einschränkungen der Literaturversorgung ler Anmeldung einen freien Zugang zu den Angeboten zu rechnen. Ein interdisziplinär forschender Wissenschaftler ermöglichen – auch für Nutzer, die nicht zu den finanziell wird von der derzeit verhandelten FID-Lizenz für elektro- beteiligten Institutionen gehören. „Die Grenzen zwischen nische Zeitschriften wenig Nutzen haben. Denn die jewei- Grund- und Spitzenversorgung sind dabei fließend, da lige FID-Bibliothek soll im Vorhinein definieren, welcher hier de facto die zentrale Literaturversorgung mit auf dem

Personenkreis (z. B. als Mitglieder bestimmter For- deutschen Markt nicht vertretenen Ressourcen für einen schungseinrichtungen) das Recht auf einen Zugriff relativ klar definierbaren und lokal eher unterversorgten erhält – hier werden mit nicht geringem Aufwand Hürden Nutzerkreis erfolgt.“67 für die wissenschaftliche Forschung aufgestellt, die einen Bei den Monographien wird es durch die Ausfälle von gelegentlichen Zugriff im Rahmen interdisziplinärer For- Sondersammelgebieten und die Einschränkungen der Er- schung oder beim aktuellen Informationsinteresse, z. B. werbung zu erheblichen Einbrüchen kommen. Dabei hat eines Wissenschaftsjournalisten, nicht vorsehen; schon man den Eindruck, dass sich der Grundsatz des selektiven Griebel hat darauf aufmerksam gemacht, dass deshalb Bestandsaufbaus in einer gewissen Eigendynamik zu ei- „im digitalen Bereich nur noch Spitzenforschung im Sin- ner sich immer stärker verengenden Sicht entwickelt hat. ne sehr eng definierter Zirkel von Wissenschaftlern be- War bei der Evaluation noch die vollständige Sammlung dient werden kann.“65 Diese Einschätzung wird indirekt allgemein positiv bewertet worden, wird bei den Empfeh- auch in einer Presseerklärung der DFG bestätigt, in der lungen der Experten ein flexibles Vorgehen empfohlen,68 zunächst, trotz des überwiegend negativen Ergebnisses der Überführung der Sondersammelgebiete in Fachinfor- mationsdienste, das zu einem Wegfall der Unterstüt- 66 Pressemitteilung Nr. 54 | 20. Dezember 2013 Fachinformations- dienste: DFG stärkt Dienstleistungen der Bibliotheken für die Wissen- schaft. http://www.dfg.de/service/presse/pressemitteilungen/2013/ 63 SLUB Dresden und Universitätsbibliothek Leipzig stoppen PDA pressemitteilung_nr_54/. bei Taylor & Francis, De Gruyter, Cambridge University Press und 67 Schäffler, Hildegard: Elektronische Medien in der überregionalen Oxford University Press nach einer Meldung in: Inetbib von Antonie Literaturversorgung. Nationallizenzen, Allianzlizenzen, FID-Lizen-

Muschalek am 16 Juni 2014, 15:45 Uhr. http://permalink.gmane.org/ zen. In: Göttker, Susanne; Wein, Franziska (Hg.): Neue Formen der gmane.culture.libraries.inetbib/27743. Erwerbung. Berlin 2014, S. 204–222, hier S. 216. 64 Wobei auch hier die Erfahrungen sehr unterschiedlich sind; aus- 68 DFG: Evaluierung des von der Deutschen Forschungsgemein- ländische Erfahrungen zeigen, dass es oft preiswerter ist, ein Paket zu schaft geförderten Systems der Sondersammelgebiete. Empfehlungen kaufen, als Einzeltitel zu erwerben. Vgl. Bucknell, Terry: Electronic der Expertenkommission SSG-Evaluation. 2011. Online verfügbar un- Good in Academic Libraries. A case study in Liverpool, UK. In: Maggie ter: http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/evaluation_sta Fieldhouse und Audrey Marshall (Hg.): in the tistik/programm_evaluation/studie_evaluierung_sondersammelgebi

Digital Age. London 2012, S. 71–82, hier S. 79. ete_empfehlungen.pdf. Es heißt dort auf S. 4 einerseits: „Bei der 65 Griebel (Anm. 13) S. 153. Gestaltung des Bestandsaufbaus und der Dienstleistungen sind zu

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM Nachhaltige Infrastruktur für die Literatur-und Informationsversorgung 357 wenn die Beantragung einer vorsorglichen zukunftsorien- kommt die Verminderung der Ausgaben für die Literatur- tierten Erwerbung auf dem ausdrücklichen Votum der versorgung vielleicht nicht ganz ungelegen. Dass auch Fachcommunity beruht; auch die Richtlinien sahen noch mancher Gutachter die potentielle Konkurrenz der Biblio- differenzierte bedarfsorientierte Realisierungen aufgrund theksaufwendungen für die Forschungsförderung gesehen der Voten der Fachcommunities vor,69 während sich dann haben mag, ist nicht völlig auszuschließen. In Abwand- in der Umsetzung eine Art Dogma der selektiven Erwer- lung einer auf die Universität bezogenen Aussage Stroh- bung durchgesetzt zu haben scheint. Dies ist jedenfalls schneiders72 könnte man sagen: Wie kann die DFG nicht Rolf Griebels Erfahrung: Für die Musikwissenschaft wurde abwehrend reagieren, wenn sie im Zeitalter der Drittmittel- ein selektiver Bestandsaufbau trotz positiver Begutach- finanzierung eine Daueraufgabe wie die (allerdings nur tung gefordert und durch eine erhebliche Reduktion der ergänzende) Finanzierung der Literaturversorgung hat. Bewilligungssumme praktisch erzwungen, obwohl der Kümmel und Strohschneider ist deshalb zuzustimmen, Antrag auf vorsorgliche Erwerbung aufgrund des aus- dass „die DFG-Förderung weder dazu dienen (kann), den drücklichen Votums der Fachcommunity gestellt worden dauerhaften Betrieb von Infrastrukturen zu finanzieren, war.70 Von Wiederholungsanträgen erfährt man unter der noch dazu, etwa die Unterfinanzierung wissenschaftlicher Hand, dass in ihnen gegen besseres Wissen nur noch eine Einrichtungen zu finanzieren“.73 Von daher gesehen sollte Erwerbung in Auswahl beantragt wird. Hier werden die man die Vorstellung korrigieren, dass man mit dem Um- Möglichkeiten gegenwärtiger und die Chancen zukünfti- stellungsprozess auf die Fachinformationsdienste eine ger Forschung reduziert. nachhaltige Infrastruktur aufbauen könne, die sowohl den Für die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die unter Bedarf an Literatur wie die darauf aufsetzenden Informati- der Antragsflut leidet, weil Drittmittel zu einer Art „sekun- onssysteme befriedigt. Mit Recht halten Kümmel und dären Währung“ (Strohschneider) geworden sind,71 Strohschneider es für notwendig zu überprüfen, ob mit dem Instrument der „qualitätsorientierten Zusatzfinanzie- rung“ über Projektmittel das Ziel der „gezielten Verbes- allererst die Erwartungen und aktuellen Bedürfnisse der einzelnen serung der fachspezifisch ausgerichteten Informationsver- Wissenschaftsdisziplinen zu berücksichtigen.“ Andererseits aber auf sorgung erreicht“ werden kann.74 Dies soll aber erst in „ S. 7: Es kann weiterhin ganz allgemein die Bildung eines Reservoirs einigen Jahren geschehen. spezialisierter Fachliteratur als wesentliche Aufgabe beschrieben werden – allerdings mit dem Unterschied, dass der Bestandsaufbau Die Initiatoren der Umstellung haben sicher nicht mit bei digitalen Medien nicht zwangsläufig lokal stattfinden muss“ und: dem hohen Prozentsatz der Ablehnungen der Anträge ge- „Es liegt in der Verantwortung des fachlichen Schwerpunktes festzu- rechnet; die meist bibliothekarisch nicht erfahrenen Gut- legen, ob und wie ein vorsorgender Bestandsaufbau geleistet werden achter haben andererseits die Folgen und Nebeneffekte soll.“ negativer Voten wohl kaum übersehen können.75 Es ließe 69 DFG: Richtlinien. Fachinformationsdienste für die Wissenschaft. sich natürlich über die negativen Ergebnisse mit der Ein- 2014. Online verfügbar unter: http://www.dfg.de/formulare/12_102/1 stellung hinweggehen, die Bibliotheken hätten bessere 2_102_de.pdf. S. 5: „Je nach Ausrichtung der spezifischen Interessen der Forschung, kann die Erfüllung der Aufgaben sehr verschiedene Anträge stellen sollen. Dabei bleibt aber nicht nur zu Arten der Umsetzung notwendig machen – von der Fokussierung auf bedenken, dass bei Ablehnung eines Forschungsantrags den vertieften Bestandsaufbau konventioneller Veröffentlichungen bis zur Konzentration auf Dienstleistungen für den schnellen und einheitlichen Zugriff auf digitale Ressourcen aller Art.“ derung/drittmitteldruck/rede_strohschneider_fk_sprechertagung_20

70 Griebel (Anm. 13) S. 148 f. Vgl. dazu auch: Diet, Jürgen; Nägele, 13.pdf.

Reiner: Der Fachinformationsdienst Musikwissenschaft und die neue 72 Strohschneider (Anm. 47 oder 48) S. 24. Rolle der ViFa-Musik. In: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 38 (1) 73 Kümmel; Strohschneider (Anm. 9) S. 124. (2014) S. 56–61. 74 Ebda. 71 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft: Von Drittmittel-Druck, 75 In den fünf Jahren meiner Fachreferententätigkeit in Freiburg i. Antragsflut und sekundärer Währung. Aktuelle Entwicklungen und Br. habe ich intensive Kooperationsbeziehungen mit den Instituten Zukunftsdiskussion im Wissenschaftssystem – und ihre Auswirkun- der Historiker und Germanisten aufgebaut. Dabei habe ich in beiden gen auf die DFG. 2013. Online verfügbar unter: http://www.dfg.de/fo Fachgebieten schon in dieser relativ kurzen Zeit die Erfahrung ge- erderung/grundlagen_rahmenbedingungen/drittmitteldruck/ sowie macht, dass Themenbereiche, die bei der Erwerbung für die Instituts- die dort verlinkten Materialien und Reden u. a. die des DFG-Präsiden- bibliothek ausgeklammert worden waren, unerwartet in den Mittel- ten Professor Peter Strohschneider vor den Fachkollegien der Spre- punkt des Interesses rückten. Die Tatsache, dass sie in der chertagung, 18. und 19. Juni 2013, Bad Honnef mit der Aussage: „Die Zentralbibliothek vorhanden waren, stärkte deren Position und das Bedeutungszunahme der Drittmittel und die derzeitigen Strukturen Vertrauen in die professionelle bibliothekarische Auswahl. Umge- der Hochschulfinanzierung führen dazu, dass Drittmittel zu einer Art kehrt wird das Fehlen von Fachliteratur bei einer Sondersammel- von sekundärer Währung im Wissenschaftssystem werden.“ http:// gebietsbibliothek, das sich oft erst nach Jahren zeigen wird, das Ver- www.dfg.de/download/pdf/foerderung/grundlagen_dfg_foer trauen in die Bibliotheken insgesamt verschlechtern.

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM 358 Elmar Mittler nur der jeweilige Antragsteller davon betroffen ist, bei der Finanzierungswege für die große Aufgabe der Informati- Nichtbewilligung der Förderung der Literaturerwerbung onsversorgung im digitalen Zeitalter zu finden, wie dies eines bisherigen Sondersammelgebietes aber in kurzer von Kümmel und Strohschneider schon angedeutet wird.78 Frist wegen der Mittelknappheit bei allen (ehemaligen) SSG-Bibliotheken der Literaturzugang auf das Normalmaß einer wissenschaftlichen Bibliothek zurückgefahren wer- 7 Die Förderung des konsequenten den muss. Das bedeutet eine Reduktion um mindestens ein Drittel der Erwerbungen. Bei den Monographien ist Wandels zur digitalen dies z. B. bei der UB Erlangen geschehen, die darüber Bibliothek – e-only, komfortable hinaus rund 2 000 Zeitschriftenabonnements aufgeben musste.76 Da diese 2013 im Voraus für 2014 bezahlt worden Nachweis- und Recherchesysteme sind, wird sich das allerdings erst ab 2015 wirklich bemerk- und die Entwicklung neuer bar machen. Wenn Bibliotheken mit größeren oder mehre- ren Sondersammelgebieten mehrere Hundert Zeitschriften Informationsdienstleistungen schon bei einem einzelnen Großverlag abbestellen, muss mit Dominoeffekten gerechnet werden, die das gut ge- Die konsequente Hinwendung zur digitalen Informations- knüpfte aber dünne Netz der regionalen und nationalen versorgung ist zweifellos der wichtigste und zukunfts- Literaturversorgung zerreißen können, mit dem bisher trächtigste Teil der Neugestaltung des Systems der Infor- trotz knapper Mittel eine so gute Literaturversorgung flä- mationsinfrastruktur, die im Rahmen des Übergangs zu chendeckend gesichert werden konnte. Insbesondere Kon- Fachinformationsdiensten vorangetrieben wird. Durch die sortialverträge aber auch Allianzlizenzen, die im letzten Betonung des e-only-Prinzips ist sie Anlass zu Missver- Jahrzehnt eine wesentliche Grundlage der Verbesserung ständnissen, nicht zuletzt beim Börsenverein des Deut- des Zugriffs auf digitale Zeitschriften auf breiter Basis ge- schen Buchhandels, geworden, die der Präsident der DFG, bracht haben, sind in hohem Maße gefährdet. Man darf Peter Strohschneider, aber glätten konnte.79 Es sollte ja sich nicht mit der Aussage zu beruhigen versuchen, dass inzwischen Allgemeingut sein, dass auch gedruckte Me- es in einer Zeit der Umstellung immer Schwierigkeiten dien (nur) eine Ausgabeform digitaler Dokumente sind. gebe. Die sich abzeichnenden Kollateralschäden können Dabei haben Bücher Eigenschaften, die sie in bestimmten so gravierend werden, dass man unbedingt kurzfristig Gel- Rezeptionssituationen – etwa beim intensiven Lesen län- der bereitstellen sollte, um sie zu vermeiden. gerer Texte – als bevorzugtes Medium erscheinen lassen, Es ist vorgesehen, Mittel, die durch die Ablehnung von obwohl die rasante Entwicklung der E-Book-Reader und Anträgen frei geworden sind, weiter für den FID-Bereich der Tablets immer mehr Menschen dazu bringt, (auch) zu verwenden. Daneben sind Fördermittel in Höhe von bis elektronische Medien mit Genuss zu lesen. Das ändert

15 Mio. € pro Jahr für die Weiterentwicklung zu den Fach- nichts daran, dass das gedruckte Buch als Medium sicher informationsdiensten und weiteren Begleitmaßnahmen noch lange erhalten bleibt. Für die wissenschaftliche For- eingeplant.77 Vielleicht lässt sich mit dieser Finanzausstat- schung aber – und das ist sicher das wichtigste Argument tung ein Kompromiss realisieren. Ein möglicher Schritt für eine Bevorzugung elektronischer Medien – ist deren dazu wäre, im weiteren Verfahren die Vergabe von Erwer- flexible Verwendbarkeit entscheidend, die ihre Integration bungsmitteln von den Zuweisungen für die Informations- in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess wesentlich be- dienste im engeren Sinn für einen Zeitraum von 3–5 Jahren günstigt.80 Solange nur gedruckte Materialien vorliegen, zu trennen. Dann könnten die erfolgreichen FID-Projekte ist aber vorgesehen, dass diese auch erworben werden mit ihrer reduzierten Erwerbungsstrategie evaluiert sein; können – wenn dies in der praktischen Umsetzung auch außerdem ließen sich methodisch abgesicherte Unter- beachtet wird, was sich insbesondere bei den regionalen suchungen des Informationsbedarfs einzelner For- Sondersammelgebieten, die in der nächsten Runde evalu- schungsbereiche durchführen. Eine so wichtige Frage wie iert werden, wird erweisen müssen. die dauerhafte Entwicklung der Informationsversorgung verdient sicher ein derartig abgesichertes Vorgehen. Mög- licherweise könnte es bis dahin gelungen sein, andere 78 Ebda. 79 „Im Vordergrund stehen die Forschungsinteressen.“ Interview mit dem DFG-Präsident Peter Strohschneider. boersenblatt.net 14.6. 2013, http://www.boersenblatt.net/625414/. 76 Mündliche Auskunft von Jürgen Theuerkauf, UB Erlangen. 80 Vgl. zu den Vorteilen der digitalen Medien gegenüber dem Buch

77 Kümmel; Strohschneider (Anm. 9) S. 124. den Beitrag von Degkwitz in diesem Heft S. 411 ff.

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Es ist ein sehr wichtiger Teil der digitalen Transforma- notated, remixed, reassembled and woven deeper into the tion, dass die Bücher aus dem Druckzeitalter (zusätzlich) culture than ever before.“84 Dabei sollte man sich aber in digitale Dokumente umgewandelt werden. Der „Comité auch bewusst machen, dass die gedruckten Publikationen des Sages“ sieht in der Digitalisierung die Chance einer in ihrer Gesamtheit längst quantitativ von den digitalen neuen Renaissance.81 Trotz der vielfachen Aktivitäten sind Dokumenten marginalisiert werden – und das nicht nur in wir von Vollständigkeit bei der Retrodigitalisierung aber den Naturwissenschaften.85 noch weit entfernt. Schätzungen, dass bis 2020 100 Millio- Der Aufbau von Sammlungen gedruckter oder digi- nen Bücher digitalisiert sein können, erscheinen aber taler Dokumente wird oft durch den Gegensatz einer Be- durchaus realistisch.82 Allerdings bedarf es zusätzlicher reitstellung just in case oder just in time charakterisiert. Anstrengungen, sie durch OCR-Erfassung und weitere Zweifellos musste der Aufbau von Sammlungen gedruck- Hilfsmittel so nutzbar zu machen, dass sie wie digitale ter Literatur vom Publikationsprinzip ausgehen und – Publikationen leicht durchsucht, kontextualisiert, präzise schon wegen der Gefahr, dass Veröffentlichungen schnell verlinkt und damit adäquat in den kontinuierlichen Trans- nicht mehr lieferbar sein konnten – relativ kurzfristig nach formationsprozess auch geisteswissenschaftlicher For- dem Erscheinen erfolgen, um ein Werk dauerhaft für den schung integriert werden können, für die dann die Mög- Fall der Nutzung zur Verfügung stellen zu können. Digitale lichkeit besteht, neue Methoden und Werkzeuge wie das Dokumente scheinen wegen ihrer Ubiquität, eine reine Data Mining auszuschöpfen und weiterzuentwickeln.83 just-in-time-Bereitstellung zu ermöglichen. Doch ist der Auf diese Weise kann erreicht werden, was Kevin Kelly Grad ihrer Zugänglichkeit sehr unterschiedlich. Aus der schon 2006 beschrieb: „In the universal library, no book Sicht des Einzelnen gibt es neben den Dokumenten (im will be an island“. Das Scannen ist dazu nur ein erster weiteren Sinn bis hin z. B. zu digitalen Fotos), die er selbst Schritt; die Textdigitalisierung führt – um noch einmal hergestellt oder erworben und gespeichert hat, Dokumen- Kelly zu zitieren – wesentlich weiter: „The real magic will te, die er über die Zugehörigkeit zu einer Universität oder come in the second act, as each word in each book is cross- als Leser einer öffentlichen Bibliothek nutzen kann. linked, clustered, cited, extracted, indexed, analyzed, an- Schließlich greift er auf den weiten Raum des Internet zu, das über Hilfsmittel wie Suchmaschinen erschlossen wird. Auch aus Sicht einer Bibliothek gibt es einen Kern-, einen 81 Comité des Sages: The New Renaissance. Report of the Comité des Sages. Reflection group on bringing Europe’s cultural heritage online. Nah- und einen Fernbereich. Die Komplexität der Daten Online verfügbar unter: http://www.atlaskulturnebastine.rs/down und die Modalitäten ihrer Bereitstellung sind aber für sie load/The_New_Renaissance_Report_of_the_Comite_des_sages.pdf. erheblich größer und differenzierter. Im Nahbereich – den 82 Lewis, David W.: From Stacks to Web. The transformation of vor Ort erstellten Daten – sind neben elektronischen Publi- academic library collecting. In: College & Research Libraries (2013) kationen Forschungsdaten unterschiedlichster Art von S. 159–176, hier S. 167; Google schätzt den Gesamtbestand auf Messdaten über Texte zu Digitalisaten von Kunstobjekten 130 Millionen Titel ebd. S. 162. 83 Vgl hierzu Rapp, Andrea: Aus Sicht der Geisteswissenschaften. usw. zu berücksichtigen. Sie zu speichern, standard- Die wissenschaftliche Bibliothek als Schnittstelle zwischen digitaler gerecht zu erschließen und mindestens das Management Infrastruktur und geisteswissenschaftlicher Forschung. In: Neuroth, ihrer langfristigen Zugänglichkeit zu übernehmen, sind Heike; Lossau, Norbert; Rapp, Andrea (Hg.): Evolution der Informati- Aufgaben, die auf Dauer alle Bibliotheken vor Ort erfüllen onsinfrastruktur. Kooperation zwischen Bibliothek und Wissenschaft. müssen, auch wenn sie dafür evtl. nationale Hosting- oder Glückstadt 2013, S. 345–353, hier S. 348–350; Lauer, Gerhard: Litera- 86 „ tur rechnen. Lektüre im Computerzeitalter. In: Frankfurter Allgemeine die Langzeitarchivierungsdienste nutzen. Diese kleinen Zeitung vom 26.08.2009. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/literatur-rechnen-lektuere-i m-computerzeitalter-1840973.html; Crane, Gregory: What Do You Do 84 Kelly, Kevin: Scan this Book. New York Times vom 16. Mai 2006. with a Million Books? In: D-Lib Magazine 12 (3) (2006). Online verfüg- http://www.nytimes.com/2006/05/14/magazine/14publishing.html. bar unter: http://www.dlib.org/dlib/march06/crane/03crane.html 85 Vgl. die Zahlen im Beitrag von Kempf in diesem Heft insb. S. 391 f. sowie zusammenfassend Mittler, Elmar: Wissenschaftliche Forschung 86 Vgl. Gesamtkonzept für die Informationsinfrastruktur in Deutsch- und Publikation im Netz. Neue Herausforderungen für Forscher, land. Empfehlungen der Kommission Zukunft der Informationsinfra- Bibliotheken und Verlage. In: Stephan Füssel (Hg.): Medien- struktur im Auftrag der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz des konvergenz – Transdisziplinär. Media Convergence – across the Dis- Bundes und der Länder. April 2011. www.gwk-bonn.de/fileadmin/Pa ciplines. (Media Convergence Medienkonvergenz, 1) Berlin 2012, pers/KII_Gesamtkonzept.pdf S. 35f. Dass Hosting bzw. Langzeitarchi-

S. 31–80, hier S. 72 f. Zur Anwendung des Text Mining in den Geistes- vierung der digitalen Materialien von existentieller Bedeutung für die wissenschaften siehe auch: Clement, Tanya; Steger, Sara; Unsworth, Forschung sind, sei hier nur am Rande erwähnt. Während für das John; Uszkalo, Kirsten: How Not to Read a Million Books. 2008. Online Hosting eine Studie bewilligt wurde, http://gepris.dfg.de/gepris/pro verfügbar unter: http://people.brandeis.edu/~unsworth/hownot2 jekt/244527578, fehlt noch ein konkreter Ansatz für die effiziente read.html. Förderung der Langzeitarchivierung.

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Sammlungen“87 (Lewis nennt sie „curated collections“) Benutzerkreis als Instrument überregionaler Literatur- bei den Bibliotheken können auf Dauer quantitativ den bereitstellung entwerten. Hier müssten z. B. zusätzliche 88 größten Teil der vor Ort gespeicherten Daten ausmachen. nutzungsabhängige Kriterien gefunden werden, um dieses Sie werden in der Regel als Open-Access-Dokumente zur Dilemma zu überwinden. Die weitergehende Lösung na- Verfügung gestellt. Dem gezielten Ausbau dieser Samm- tionaler Konsortien sind ein vielleicht schwieriges aber lungen wird deshalb – wie in Deutschland, wo der Akzent nicht unrealisierbares Unterfangen, wenn hier Finanzie- allerdings derzeit auf den Forschungsdaten liegt – in den rungsmodelle auf der Ebene von Bund-Länderabsprachen amerikanischen Bibliotheken zunehmend Aufmerksam- verhandelt werden können, um die Bündelung der Finanz- keit gewidmet.89 quellen zu erreichen, die schon die KII- Empfehlungen als Bei den elektronischen Publikationen kommerzieller Voraussetzung einer nachhaltigen Versorgung mit kom- Verlage besteht die Funktion der Bibliothek, wie bei den merziellen Verlagsprodukten bei den e-Zeitschriften vor- gedruckten Büchern und Zeitschriften, in der Dekommodi- schlagen.91 fizierung: Die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, Eine anderer ebenfalls in den KII-Empfehlungen ak- die als Publikationen durch den kommerziellen Verleger zentuierter Lösungsansatz für den kostenfreien Zugang zur Ware wurden, werden durch Kauf oder Lizensierung zur Forschungsliteratur ist die konsequente Umstellung von der Bibliothek wieder zu frei zugänglichem gemeinem auf Open-Access-Bereitstellung.92 Sie kann in Zusammen- Gut.90 Bei gedruckten Büchern konnte es durch Ausleihe, arbeit mit Verlagen erfolgen, soweit diese für den golde- oder bei Zeitschriftenaufsätzen durch Kopien (die mit Ur- nen Weg nicht unzumutbare Finanzbeiträge fordern. Es heberrechtsabgaben belastet waren), auch über den enge- erscheint nur auf den ersten Blick unmöglich, hierfür ren Kreis der Nutzer einer Bibliothek hinaus zugänglich Gelder aus den Literaturetats der Bibliotheken zur Ver- gemacht werden – im verschärften digitalen Urheberrecht fügung zu stellen, denn seit Langem finanzieren die Bi- hängen diese Möglichkeiten von einer Lizenz des Verlegers bliotheken durch die vorab bezahlten Abonnements oder ab. Die Bibliotheken haben durch den Zusammenschluss heute der Lizenzen die Publikation der wissenschaftlichen zu Konsortien ihre Marktmacht verbessert und durch in Zeitschriften. SCOAP 3 ist es erstmals gelungen, für eine der Regel geringe Zusatzkosten erreicht, dass alle Konsor- Fachcommunity das Open-Access-Modell zu verwirk- tialteilnehmer Zugang zu allen Daten haben, die im Kon- lichen.93 Für Monographien hat „Knowledge unlatched“ sortium von mindestens einer Einrichtung lizensiert wer- ein erstes Set von Open-Access-Titeln durch Finanzierung den. Die Problematik überregionaler Lizenzen ergibt sich der Bibliotheken veröffentlicht.94 daraus, dass das „Einzugsgebiet“ einer nationalen Lizenz Die Bereitstellung von Literatur in Open Access wird nicht mit dem komplexen Flickenteppich konsortialer Zu- sich auf die Dauer sicher durchsetzen, weil kein Wissen- sammenschlüsse in Übereinstimmung zu bringen ist. Für schaftler auf den verlinkten Zugriff zu seiner Publikation die Verleger stellt demgegenüber jede nationale Lizenz verzichten will.95 Deshalb sollte jedem Forscher an seiner ohne konsortiale Absicherung ein finanzielles Risiko dar. Heimateinrichtung wie in fachlichen Repositorien den FID- Deshalb kommt es zu den schon angesprochenen starren Bibliotheken ein kostenfreier Veröffentlichungsservice of- Definitionen von Forschern oder Forschergruppen, die das fen stehen, der neben der dauerhaften Zugänglichkeit auch Instrument der FID-Lizenz für einen größeren potentiellen für weltweite Sichtbarkeit sorgt. Diesem „curated content“, der auch Forschungsdaten umfasst, geben die Bibliotheken Dauerhaftigkeit. Er wird – wie schon angesprochen – einen

87 Vgl. Kempf (Anm. S. 85). schnell wachsenden Anteil an den digitalen Sammlungen 88 Vgl. Lewis, David W.: A Strategy for Academic Libraries in the First Quarter of the 21st Century. In: College & Research Libraries 9

(2007) S. 418–434, hier S. 425–428. 91 Gesamtkonzept (Anm. 86) S. B 14. 89 Hazen, Dan: Rethinking Research Library Collections. A policy 92 Gesamtkonzept (Anm. 86) S. 63 und S. B 91–107. framework for straitened times, and beyond. In: Library Resources & 93 Gutknecht, Christian: The Uncoordinated Potential of Libraries to

Technical Services 54 (2) (2010) S. 115–121, hier S. 118 f.; Lewis Achieve Open Access now. How the transition to open access could (Anm. 88). be accelerated by libraries working together. In: 027.7 Zeitschrift für 90 Vgl. Hanekop, Heidemarie; Wittke, Volker: Das wissenschaftliche Bibliothekskultur 2 (1) (2014) S. 12–18. Online verfügbar unter: http:// Journal und seine möglichen Alternativen. Veränderungen der Wis- www.0277.ch/ojs/index.php/cdrs_0277/article/view/48/119. senschaftskommunikation durch das Internet. In: Hagenhoff, Svenja 94 http://www.knowledgeunlatched.org/about/pilot-project/. (Hg.): Internetökonomie der Medienbranche (Göttinger Schriften zur 95 Lewis, David W.: The Inevitability of Open Access. In: College & Internetforschung, Bd. 1). Göttingen 2006, S. 201–233, hier S. 212–215. Research Libraries 73 (2012) S. 493–506 sagt voraus, dass gold-open-

Auch im Internet: http://www.oapen.org/xtf/download?type=docu access-Publikationen spätestens bis 2025 einen Anteil von 90 % errei- ment&collection=oapen&docid=353952. chen werden.

Authenticated | [email protected] Download Date | 3/21/15 12:16 PM Nachhaltige Infrastruktur für die Literatur-und Informationsversorgung 361 der Bibliotheken bilden.96 Letztlich sollten diese Dienstleis- kenntnis, dass sie die Datenmengen allein nicht bewälti- tungen zu Systemen führen, mit denen der gesamte Arbeits- gen können.103 Im Zeitalter verteilter Speicherung können ablauf des Wissenschaftlers vom Sammeln seiner Daten dabei – gerade wenn es um die Sicherung wichtiger Daten über ihre Auswertung zur Vorbereitung der Publikation, aus dem Internet in fachgerechter Auswahl geht – auch ihrer Durchführung und der Langfristarchivierung füh- spezialisierte Partner einbezogen werden, wie dies z. B. das ren97 – auf diese Weise kann die Vision der Einheit von Digital for Chinese Studies (DACHS) des Instituts Bibliothek und Forschung (Bibliothek wird Forschung, For- für Sinologie der Universität Heidelberg zeigt.104 Darüber schung wird Bibliothek) realisiert werden.98 Durch die Er- hinaus sollten die Wissenschaftler besonders auf die Aus- gänzung mit fachspezifischen Bearbeitungstools entstehen wahl der zu archivierenden Materialien Einfluss erhalten. virtuelle Forschungsumgebungen für einzelne Communi- Der Erfolg der Dienstleistungen der Fachinformations- ties,99 die auch von FIDs betreut werden können. dienste, die von der DFG erwartet werden, hängt vor allem Die Sammlungsaufgabe einer FID-Bibliothek sollte davon ab, wie sehr es den Bibliotheken gelingt, die For- aber noch nicht damit abgeschlossen werden, dass sie in scher der von ihnen betreuten Fächer durch die Entwick- Ergänzung der Aktivitäten der lokalen Einrichtungen den lung attraktiver Informationsdienstleistungen an sich zu Zugang zu Veröffentlichungen kommerzieller Verlage si- binden.105 Hier ist der enge Kontakt mit der Fachcommuni- chert und eine fachliche Plattform für die Speicherung und ty von besonderer Bedeutung. Vom Spektrum an Möglich- Publikation von Forschungsdaten und Forschungsergeb- keiten gibt Heft 1 (2014) dieser Zeitschrift mit dem Schwer- nissen bereithält. Sie sollte auch aus dem Fernraum des punkt Fachportale einen Eindruck.106 Dabei ist ein klarer Internets Materialien bereitstellen, die von besonderer Trend zu erkennen, die Fachrepositorien zu fachlich fokus- fachlicher Relevanz sind – also eine „große Sammlung“ sierten Forschungsinformationssystemen auszubauen. 100 aufbauen ; die ZBW nutzt dazu z. B. ihre im Rahmen von Hier seien einige Beispiele herausgegriffen. Die inno- Academic LinkShare erfassten Daten.101 Sie reihen sich vativen Lösungen für die überregionale Bereitstellung damit ein in den internationalen Kreis der Archivierungs- lizenzpflichtiger Materialien bei CrossAsia wurde schon aktivitäten, insbesondere der Nationalbibliotheken, die erwähnt.107 Mit dem Ziel, zur Mehrung auch der wissen- sich den Herausforderungen des Internet stellen.102 Auch schaftlichen Reputation ihrer Nutzer beizutragen, wird die große Bibliotheken wie die Library of Congress oder die Verbindung mit den Forschungsinformationssystemen der British Library setzen dabei auf Kooperation, in der Er- Hochschulen angestrebt.108 Die TIB plant Community-

96 Lewis (Anm. 88) sowie Hazen (Anm. 89). 103 Vgl das Beispiel der LC: Panzera, Don: International Cooperation

97 Vgl. dazu Mittler (Anm. 83), hier S. 66–68 mit dem Beispiel des in Collection Building. The IEX Pilot Project at the Library of Congress. FuD-Systems der Universität Trier; vgl. auch die materialreiche Ver- In: Hutzler, Evelinde; Schröder, Albert; Schweikl, Gabriele (Hg.): öffentlichung der European Science Foundation: Research Infra- Bibliotheken gestalten Zukunft. Kooperative Wege zur Digitalen Bi- structures in the Digital Humanities (Science Policy Briefing, 42). bliothek. Göttingen 2008, S. 115–125. Zur British Library sieh oben Online verfügbar unter: http://www.esf.org/index.php?eID=tx_naws S. 352. ecuredl&u=0&file=fileadmin/be_user/research_areas/HUM/Strategi 104 http://www.zo.uni-heidelberg.de/boa/digital_resources/dachs. c_activities/RIs_in_the_Humanities/SPB42_44p-5oct_FINAL.pdf&t=1 105 Richtlinien (Anm. 69) S. 5 f. Vgl. in diesem Zusammenhang 407847917. auch: Tochtermann, Klaus: Zehn Thesen zum zukünftigen Profil von 98 Als Reflexion des Wolfenbütteler Symposiums „Forschung in der wissenschaftlichen Informationsinfrastruktureinrichtungen über- Bibliothek“ wurde sie erstmals formuliert in: Mittler, Elmar: Verteilte regionaler Bedeutung. ZBW. Leibniz-Informationszentrum Wirt- digitale Forschungsbibliothek. Ein neues Paradigma für das Verhält- schaft. 2013. Online verfügbar unter: http://www.zbw-mediatalk.eu/ nis von Bibliothek und Forschung. In: Bibliothek und Wissenschaft wp-content/uploads/2013/08/zbw-ktochtermann-zehn-thesen.pdf. 30 (1997) S. 141–149, hier S. 147. Er stellt in These 1 auch die Sammlung als relevante Zukunftsaufgabe

99 Vgl. Mittler (Anm. 83) S. 68–71. der Bibliotheken heraus.

100 Vgl. Kempf, in diesem Heft S. 386 ff. 106 BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 38 (1) (2014).

101 Vgl. z. B. das Vorgehen bei der ZBW: Pianos, Tamara: Hin zum Forschungsportale – Gasteditoren: Jürgen Christof und Jens Wonke-

Fachportal? Hin zur Kundschaft? Oder beides? Servicekanäle des Stehle, S. 14–19. Fachportals EconBiz und Entwicklungsperspektiven für die Zukunft. 107 Kaun, Matthias: Zehn Jahre Neuausrichtung des Sondersammel- In: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 38 (1) (2014) S. 47–55, hier gebiets Ost-und Südostasien: Integration elektronischer Medien in S. 38. den Sammel- und Serviceauftrag In: BIBLIOTHEK – Forschung und

102 Vgl z. B. Nielsen, Erland Kolding: The at a Praxis 38 (1) (2014) S. 29–38. Crossroads: the digital content revolution and its consequences. In: 108 Mathieu, Christian: Zwischen Community Building und Open Alexandria 23 (3) (2012) S. 131–141. Rachinger, Johanna: Die Österrei- Access – Disziplinäre Forschungsinformationssysteme im Service- chische Nationalbibliothek und ihre Vision 2025. In: BIBLIOTHEK – portfolio Virtueller Fachbibliotheken. In: BIBLIOTHEK – Forschung Forschung und Praxis 37 (3) (2013), S. 288–292. und Praxis 38 (1) (2014) S. 39–46.

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Dienste im Rahmen des Open Science Lab zu entwickeln ments“ wie Hazen sie nennt)116 – aber sie müssen auch und die „spezifischen Fachbedarfe in einem künftigen „self describing documents“ werden. Linked Open Data übergreifenden Portal zu integrieren und diese dann als öffnen den Weg in den „global dataspace“.117 In standardi- maßgeschneiderte Dienste für die einzelnen als FID be- sierten Formaten mit dauerhafter Adressierung, mit stan- treuten Fächer transparent zu machen.“109 Bei EconBiz soll dardisierten Metadaten in offenen Formaten und der Ver- in Zukunft nicht mehr das Portal, sondern der Service im knüpfung mit Ontologien sorgen sie dafür, dass der Vordergrund stehen: Inhalte werden dort zur Verfügung Datenstrom – egal wo man die Forschungsreise beginnt – gestellt, „wo gerade gesucht wird: mobil, international, im zu neuen Erkenntnissen hinführt und nicht zum Strudel Social Web oder in populären Suchmaschinen“ und sind wird, in dem diese verloren gehen oder die Fahrt an Klip- damit geeignet, in die persönlichen und fach- oder objekt- pen scheitert, weil fehlende Verknüpfungen sie hemmen. spezifischen Forschungsumgebungen der Wissenschaftler International haben die Bibliotheken eine führende integriert zu werden.110 Rolle als stabile Leuchttürme im Meer des digitalen Wis- Einen wichtigen Schwerpunkt bildet das Angebot of- sens übernommen. Als Vorreiter des Semantic Web stellt fener bibliographischer Daten: Texte können für das se- z. B. die Deutsche Nationalbibliothek ihre Daten weit- mantische Navigieren aufbereitet werden, die Forschungs- gehend als Linked Data mit dem Ziel zur Verfügung, auf informationssysteme auf der Basis von RDF und Linked diese Weise einen entscheidenden Beitrag zur Stabilität Open Data aufgebaut werden.111 In Tripeln werden die und Zuverlässigkeit der „Linked-Data-Cloud“ zu leisten118 – Beziehungen von Ideen, Personen, Orten, Dingen, Ereig- und Wissenschaftler beginnen, diese Angebote anzuneh- nissen, Epochen usw. unter Zuhilfenahme von Ontologien men.119 Die Bibliothèque nationale de France erschließt die so dargestellt, dass eine maschinelle Weiterverarbeitung großen französischen Autoren und ihre Werke seman- möglich ist.112 Die Bibliotheken werden ihren Anteil daran tisch.120 Europeana hat ein Datenmodell für die semanti- haben, die in den Büchern, Dokumenten und Datensilos sche Erschließung der Digitalisate vorgelegt.121 Die Biblio- verborgenen Informationen durch entsprechende Meta- theken erfinden sich neu in der digitalen Welt des daten zu erschließen, sie mit bereits existierenden Daten Internet – und der Impetus der Deutschen Forschungs- zu verlinken und um zusätzliche Informationen ergän- gemeinschaft, sie dabei im Rahmen der Förderung der zen.113 Die Serendipität, die Möglichkeit beim Suchen Rele- Fachinformationsdienste zu unterstützen, kommt genau vantes zu finden, das man nicht gesucht hat, die Stroh- zum richtigen Zeitpunkt. schneider als wesentliche Wirkung der Sacherschließung in Bibliotheken hervorhebt, kann so auf digitale Doku- mente in der „semantic cloud“ übertragen werden.114 Die Bibliotheken nutzen damit die neuen Möglichkeiten der digitalen Publikationen, die zu „liquid books“ werden, die nicht nur miteinander verlinkt, sondern interoperabel wer- den.115 Es sind dynamische Dokumente („energized docu-

115 Vgl. den Beitrag von Degkwitz in diesem Heft S. 411 ff. und 109 Hohlfeld, Michael; Tobschall, Esther: EIN Portal der TIB (nicht Mittler (Anm. 83); die Thematik kann hier nur angerissen werden und nur) für Ingenieure, Naturwissenschaftler, Informatiker, Mathemati- soll in einem gemeinsamen Beitrag in einem der nächsten Hefte ker und Architekten. In: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 38 (1) dieser Zeitschrift vertiefend aufgegriffen werden.

(2014) S. 62–71. 116 Hazen (Anm. 89). 110 Pianos (Anm. 101). 117 Heath, Tom; Bizer, Christian: Linked Data. Evolving the web into 111 Christoph, Pascal; Pohl, Adrian: Dezentral, offen, vernetzt – a global data space. (Synthesis lectures on the semantic web theory Überlegungen zum Aufbau eines LOD-basierten FID-Fachinformati- and technology, 1). San Rafael, CA 2011. Online verfügbar unter: onssystems. In: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 38 (1) (2014) http://linkeddatabook.com/editions/1.0/. S. 114–123. Zu Linked Open Data siehe auch http://linkeddata.org. 118 http://www.dnb.de/DE/Service/DigitaleDienste/LinkedData/lin 112 Gradmann, Stefan: Semantic Web und Linked Open Data. In: keddata_node.html bzw. http://www.dnb.de/lds. Kuhlen, Rainer; Semar, Wolfgang; Strauch, Dietmar; Laisiepen, 119 Siehe als ein beliebig herausgegriffenenes Beispiel die Meldung Klaus; Lutterbeck, Ernst; Meyer-Uhlenried, Karl-Heinrich (Hg.): über die Neue Deutsche Biographie als Teil der LOD-cloud: http://lo Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation. Hand- d2.eu/BlogPost/b?p=479. buch zur Einführung in die Informationswissenschaft und -praxis. 6., 120 http://data.bnf.fr. völlig neu gefasste Ausgabe. Berlin 2013, S. 219–228. 121 Vgl. Hennike, Steffen: Linked Data und semantische Suchfunk- 113 Auf diese Zusammenhänge kann hier nicht vertieft eingegangen tionalität in EUROPEANA. In: Mitteilungen der VÖB 66 (1) (2013) werden, vergleiche aber Mittler (Anm. 83). S. 20–34. Online verfügbar unter: http://eprints.rclis.org/19552/1/v

114 Strohschneider (Anm. 47 und 48), hier S. 22 f. m_66_2013_1_Hennicke.pdf.

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8 Die Zukunftssicherung werden, dass auf längere Sicht wichtige Quellen ihrer Leis- Informationsinfrastruktur für die tungsfähigkeit und Kreativität – mindestens bei den Geisteswissenschaften – versiegen. Forschung als Wenn tausende Zeitschriften abbestellt und Bücher Gemeinschaftsaufgabe nicht mehr erworben werden, erschwert das nicht nur die fachliche, sondern vielleicht noch mehr die interdisziplinä- re Forschung; im Dominoeffekt hat es auch weitreichende Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Grund- Auswirkungen auf Konsortien für die Lizenzierung elektro- idee der Umstellung auf die Fachinformationsdienste, die nischer Zeitschriften und gemeinschaftlich organisierter bibliothekarische Infrastruktur der Informationsversor- Allianzlizenzen. Das fein gewebte, aber wegen der Mittel- gung auf digitale Daten, Dokumente und Publikationen knappheit auch dünne Netz der überregionalen Literatur- auszurichten und dabei einen besonders starken Akzent versorgung kann reißen. Hier müssen unbedingt kurzfristig auf den Aufbau und die Pflege komfortabler Nachweis- Hilfen gefunden werden. Das Verfahren der Umstellung auf instrumente und das vorausschauende Engagement in die die Fachinformationsdienste sollte überprüft, modifiziert Entwicklung allgemeiner und fachspezifischer Informati- und vielleicht auch zeitlich gedehnt werden. onsdienstleistungen zu legen, zukunftsweisend, ja für Will man die Herausforderungen des digitalen Zeit- Deutschland vielleicht ein großer Wurf ist. Von daher ist alters annehmen und erfolgreich bewältigen, ist dies eine die Zustimmung, die sie z. B. im Beitrag von Petra Hätscher Infrastrukturaufgabe, die sicher nicht allein auf den Schul- und Marie Elisabeth Müller in diesem Heft oder bei Bürger tern der Deutschen Forschungsgemeinschaft ruhen kann. und Depping findet, gut verständlich.122 Sie ist darauf ausgerichtet, im Informationsbereich inno- Die Erwartung, dass die bestehenden Strukturen an vative Pilot- und Modellvorhaben zu fördern und den Auf- ihre finanziellen und organisatorischen Grenzen gelangen, bau überregionaler Strukturen zu initiieren.124 Das ist im wenn künftig elektronische Medien in weit größerem Um- Bereich der digitalen Dienste von großer Bedeutung. Doch fang integriert werden müssen,123 hat vielleicht dazu bei- können sich daraus ergebende Daueraufgaben nicht im getragen, dass Schritt für Schritt aus einer positiven Be- Rahmen von Projekten bewältigt werden, wie die Entwick- wertung der vorsorgenden Erwerbung, mit dem Ziel der lung der digitalen Fachbibliotheken gezeigt hat. relativen Vollständigkeit in der Umsetzung, fast ein Dog- Der Rat für Informationsstrukturen wird im Herbst ma des selektiven Bestandsaufbaus geworden ist, der sich 2014 seine konstituierende Sitzung haben.125 Er wird Wis- am aktuellen Bedarf orientieren soll. Das mag für die ex- senschaft und Politik in Fragen der Weiterentwicklung der perimentellen Naturwissenschaften mit ihren relativ ein- Informationsinfrastrukturen beraten. deutigen Forschungshypothesen, die es zu evaluieren gilt, Dazu gehören die Entwicklungsfelder des KII-Gesamt- zu rechtfertigen sein, obwohl auch hier bei größeren Ver- konzeptes. Mit Lizenzen, Langzeitarchivierung, Nicht- öffentlichungen ein möglichst umfassender Literaturbe- textuellen Materialien, Retrodigitalisierung / Kulturelles richt zur Thematik erwartet wird; der geisteswissenschaft- Erbe aber auch mit Open Access und Forschungsdaten sind liche Forschungsprozess ist demgegenüber weniger wichtige sammlungsrelevante Handlungsfelder angespro- definierbar und führt zu nicht vorhersehbarem Literatur- chen, die für eine Planung der zukünftigen Informations- bedarf, der sich auf einen möglichst umfassenden Bestand versorgung der wissenschaftlichen Forschung erweitert stützen muss. Ist so der Grundansatz bei der Literaturaus- und zusammengefasst werden müssten. Dabei sollte auch wahl schon problematisch, so hat die Kombination der der Vorschlag von Kümmel und Strohschneider geprüft Begutachtung der Konzeption für die Informationsservices werden, dass „das System der Fachinformationsdienste als und der Literaturerwerbung dazu geführt, dass für teilwei- ‚Hilfseinrichtung der Forschung‘ einen anderen Stellen- se große Fachgebiete die systematische Erwerbung der wert in der Fördersystematik erhält – der Förderung ande- Spitzenliteratur in Deutschland eingestellt wird. Für die rer zentraler Infrastrukturen vergleichbar, beispielsweise Wissenschaft in Deutschland muss ernsthaft befürchtet der Forschungsschiffe“.126 Die angestrebte Grundgesetz- änderung zur Verbesserung der Kooperation von Bund und Ländern in der Wissenschaft, für die vom BMBF gerade ein

122 Vgl. dieses Heft S. 407 ff. sowie Bürger, Thomas; Depping, Ralf: „Fachinformationsdienste für die Wissenschaft“ statt „Sondersam- melgebiete“. Gewinn oder Verlust. In: Bit-online 16 (3) (2013) S. 211– 213, hier S. 212. Online verfügbar unter: http://www.b-i-t-online.de/h 124 Kümmel; Strohschneider (Anm. 9) S. 124. eft/2013-03-kontrovers.pdf. 125 http://www.gwk-bonn.de/index.php?id=205. 123 Kümmel (Anm. 15) S. 7. 126 Kümmel; Strohschneider (Anm. 9) S. 124.

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Entwurf vorgelegt wurde,127 sollte auch den gesetzlichen müssen alles dafür tun, den globalen bibliothekarischen Rahmen für ein Einbinden der Universitäten in dieses Sys- Kultur-Code der Nachhaltigkeit der Informationsversor- tem bieten, deren Bibliotheken in der Vergangenheit einen gung im digitalen Zeitalter in Deutschland aufrecht zu 129 so wesentlichen Teil der Informationsinfrastruktur getra- erhalten. Deshalb sollten auch die Bibliotheksverbände – gen haben. Das erleichtert auch die „möglichst enge einer Forderung auch von Hätscher und Müller ent- Abstimmung und Zusammenarbeit aller beteiligten Ein- sprechend130 – Vorschläge für die erfolgreiche Weiterent- richtungen, ihrer Trägerinstitutionen und anderer Förder- wicklung der Informationsinfrastruktur vorlegen und sich organisationen“, die Kümmel und Strohschneider für not- dafür einsetzen, sie im politischen Raum durchzusetzen. wendig halten, um „das übergeordnete Förderziel“ zu Auch in Zukunft muss es heißen „In libraries we trust“.131 erreichen, dass die Informationseinrichtungen „wissen- Flüchtige Medien brauchen stabile Institutionen – eine schaftlichen Nutzerinnen und Nutzern einen freien und nachhaltige Informationsinfrastruktur war noch nie so nö- umfassenden Zugang zu wissenschaftlich relevanten Infor- tig wie jetzt! mationen ermöglichen“, bei dessen Umsetzung die DFG nur „eine mit gestaltende Rolle“ einnehmen kann.128 Die Sicherung der Information für die Forschung auf Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Elmar Mittler breiter Basis ist auch ein Beitrag zur informationellen Sou- c/o SUB Göttingen, Hist. Gebäude veränität unseres Landes, das sich nicht auf Informations- Papendiek 14 D- 37070 Göttingen dienstleister verlassen kann und darf, die insbesondere [email protected] kommerzielle, möglicherweise aber auch darüber hinaus- gehende Interessen bzw. Interessenten haben. Die Biblio- theken als Garanten neutraler Information konnten durch das kooperative Sammelschwerpunktsystem bisher ge- währleisten, dass man in Deutschland mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit rechnen konnte, je- de forschungsrelevante Publikation als Wissenschaftler aber auch als Interessierter zu erhalten. Die Bibliotheken 129 Wawra, Stefan: „In Libraries We trust“. Thesen für eine Digitale Bibliothek der Zukunft. In: Hutzler, Evelinde; Schröder, Albert; Schweikl, Gabriele (Hg.): Bibliotheken gestalten Zukunft. Kooperative

Wege zur Digitalen Bibliothek. Göttingen 2008, S. 173–184, hier 127 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur S. 184, aber auch Bürger (Anm. 122) S. 213.

Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b) http://www.bmbf.de/pub 130 Sieh in diesem Heft S. 407 ff.

RD/Entwurf_Gesetzanderung_Art_91b_GG_.pdf, http://www.bmbf.d 131 Wawra (Anm. 129); vgl. auch: Mittler, Elmar: Zukunft der Biblio- e/de/17975.php sowie die Presseerklärung des BMBF http://www.bm theken. In: Umlauf, Konrad; Gradmann, Stefan (Hg.): Handbuch bf.de/de/17975.php. Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2012,

128 Kümmel; Strohschneider (Anm. 9) S. 124 f. S. 390–394, hier S. 392 f.

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