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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 20. Dezember 2004 Betr.: Bundespräsident, Willensfreiheit, Kino ft ist es ein Spiel der Gesten, mit denen Staatsoberhäupter in der internationa- Olen Politik Zeichen setzen, und manchmal reicht dafür schon die Auswahl des Reiseziels. Bei Johannes Rau war es so, dessen erster Staatsbesuch als Bundespräsident 2000 nach Israel führte, und auch Horst Köhler fand Beachtung, als er jetzt nach Sierra Leone, Benin und Äthiopien aufbrach – kein Bundespräsident vor ihm war zu dieser Premiere nach Afri- ka gereist. SPIEGEL-Redakteur Ralf Neukirch, 39, begleitete ihn in die Länder, die zu den ärmsten der Erde zählen, und er beobachtete, wie Köhler

auf ein touristisches Rahmenprogramm KUMM / DPA WOLFGANG verzichtete, um mehr Zeit für Visiten Köhler, Neukirch in Hospitälern und Armenhäusern zu haben. „Man ahnt, dass Köhler sich auch in der Außenpolitik nicht mit einer Rolle als oberster Repräsentant der Republik begnügen wird“, sagt Neukirch (Seite 38).

ine neue Debatte kreist um die alte Frage, wie frei der Mensch in seinen Ent- Escheidungen sei, und sie wird recht leidenschaftlich geführt. Elf renommierte Hirnforscher hatten jüngst in einem Manifest mit der These provoziert, das Denken werde ebenso wie das Fühlen und das Tun von einem Dickicht neuronaler Netze be- stimmt – und sie präsentierten Forschungsergebnisse in Fülle. Entsprechend rigoros trat der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth, 62, einer der Unterzeichner des Mani- fests, jetzt im SPIEGEL-Streitgespräch mit dem Freiburger Moraltheologen Eberhard Schockenhoff, 51, auf, das die Redakteure Katja Thimm, 35, und Gerald Traufetter, 32, moderierten: Die Annahme eines freien Willens sei bloße Illusion. Dem von Na- turwissenschaftlern propagierten Paradigmenwechsel mochte Schockenhoff indes nicht folgen. Menschen könnten Entscheidungen abwägen und alternativ handeln, hielt er Roth entgegen – dies lasse sich nicht allein physikalisch erklären. „Schockenhoff hatte Mühe, gegen das wissenschaftlich Messbare zu argumentieren“, sagt Traufetter, „aber letztlich geht es noch immer um eine Glaubensfrage“ (Seite 116).

as Ansinnen des Mannes, der ihn im Sommer 1999 anrief, mochte SPIEGEL-Re- Dporter Dirk Kurbjuweit, 42, zunächst nicht ernst nehmen. Der Fremde stellte sich als Thomas Schühly vor, von Beruf Filmproduzent, und er bat den Journalisten, ein Drehbuch zu schreiben. Es sollte die Rolle niederländischer Blauhelm-Soldaten 1995 beim Massaker im bosnischen Srebrenica darstellen; Kurbjuweit hatte eine Reportage darüber veröffentlicht. „Damit werden wir Hollywood herausfordern“, kündigte Schühly an – er schien schon damals in überraschend großen Dimensionen zu den- ken. Es kam nicht zu dem Drehbuch, aber die beiden Männer blieben im Gespräch, und so weihte Schühly den SPIEGEL-Mann schon früh in seine Pläne für einen Monumentalfilm über den makedonischen König Alexander den Großen ein. Der Film, bei dem Oliver Stone Regie führte, will die Frage beant- worten, was denn die Größe der Großen aus- mache. In Wahrheit, beobachtete Kurbjuweit, verrät der Streifen viel über seine Macher. „Man sieht zwar Alexander den Großen“, sagt er, „aber eigentlich geht es um Thomas Schühly und

PETER SCHINZLER Oliver Stone.“ Am Donnerstag kommt der Film Schühly, Kurbjuweit in die deutschen Kinos (Seite 56).

Im Internet: www.spiegel.de 52/2004 3 In diesem Heft

Titel Dan Browns Erfolgsthriller „Sakrileg“ inspiriert religiöse Spekulationen Deutschland, unregierbar Seite 22 und entfacht ein neues Gralsfieber ...... 134 Es war eine große Chance für die Politik, Deutschland Handlungsfähigkeit zu zeigen – als aber der bayerische Ministerpräsident Edmund Panorama: Kippt Bundespräsident Köhler das Luftsicherheitsgesetz? / CSU lobt Trittins Stoiber und SPD-Chef Franz Müntefering Klimapolitik / Hartz-IV-Antragsformulare am Freitag das Ende der Föderalismus- werden vereinfacht ...... 17 kommission verkündeten, war der Ver- Verfassung: Wie die Reform der such, die Kompetenzen zwischen Bund Bund-Länder-Beziehungen scheiterte ...... 22 und Ländern mit einer Jahrhundertreform Affären: Die dubiosen Nebenjobs von neu zu regeln, blamabel gescheitert. SPD Laurenz Meyer & Co...... 28 und Union hatten sich, wie so oft, in Steuern: Gerichtsstreit um Blockade geübt, die Republik wird zu-

Abgeordnetenprivilegien ...... 31 PRESS / ACTION MIGUEL VILLAGRAN nehmend unregierbar. Außenpolitik: Der Kanzler sucht die Mitte Stoiber, Müntefering zwischen Washington und Moskau ...... 32 Union: CDU-Außenpolitiker Volker Rühe über seine Kritik an Merkels Türkei-Strategie ... 36 Entwicklungshilfe: Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul über Köhlers Mission Seite 38 fragwürdige Leistungen für Ruanda ...... 37 Bundespräsident: Horst Köhler – Bundespräsident Horst Köh- fremd in der Heimat ...... 38 ler will die Deutschen wach- Schulen: Bildungsnotstand in Bayern ...... 42 rütteln. Er reist durchs Land, Kunstraub: Deutsch-russischer Zank um den Leuten zu sagen, um ein Rubens-Bild ...... 43 was sie alles könnten, wenn Geheimdienste: Aufmarsch der sie nur wollten. Das Pro- Wissenschaftler ...... 44 blem: Vielen Deutschen ist Justiz: Beim Internationalen Seegerichtshof der Präsident bisher fremd in Hamburg herrscht Flaute ...... 48 geblieben. Vielleicht weil der Vielgereiste sich in Afrika Gesellschaft wohler fühlt? Der erste deut- Szene: Alfred Steffens Bildband „One World“ / sche Präsident, der nie Poli- Zickenkrieg zwischen Männern / tiker war, wirkt daheim oft

Studie über die Seele der Mafiosi ...... 51 wie ein Ausländer. KUMM / DPA WOLFGANG Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 54 Karrieren: Der produktive Größenwahn des Köhler in Sierra Leone „Alexander“-Produzenten Thomas Schühly .... 56 Ortstermin: In wurde die letzte Stele für das neue Holocaust-Mahnmal eingepasst ... 63

Wirtschaft General unter Strom Seite 28 Trends: Bahn streicht Investitionen / Konzerne schüchtern Gaskunden ein / Laurenz Meyer gerät wegen seiner vom Energiekonzern RWE erhaltenen Bezüge Riskanter KlöCo-Kauf ...... 65 zunehmend unter Druck. Der CDU-Generalsekretär, stets ein scharfer Kritiker frag- Geld: Bullen am Bosporus / würdiger Politikerprivilegien, droht über finanzielle Verwicklungen zu stürzen. Schärfere Fondsüberwachung ...... 67 Investoren: Ausverkauf der Deutschland AG ... 68 Übernahmen: Die Deutsche Börse umgarnt die Londoner Konkurrenz ...... 72 Autoindustrie: SPIEGEL-Gespräch Der öffentlich-rechtliche Schmidt Seite 92 mit Opel-Gesamtbetriebsratschef Klaus Franz über das Missmanagement Nach einjähriger Pause soll der Konzernmutter General Motors ...... 74 Harald Schmidt am Donners- Forstwirtschaft: Vielen Waldbesitzern tag auf den Bildschirm zurück- droht die Pleite ...... 78 kehren. Die ARD kauft sich Videospiele: Markt mit den Entertainer für viel Geld unbegrenztem Wachstum ...... 82 als Imageträger. Doch für was steht Schmidt – außer für Medien Zynismus, Geschäftssinn und Trends: Massive Vorwürfe gegen NRW- schwer überschaubare Neben- Medienpolitik / Dauerkrise beim Buchclub ...... 86 / LAIF BAATZ ULRICH geschäfte? Fernsehen: Vorschau/Rückblick...... 91 TV-Shows: Harald Schmidt – Schmidt die Rückkehr des verlorenen ARD-Sohnes ...... 92

6 der spiegel 52/2004 Ausland Panorama: Tony Blairs neue Kronprinzessin / Verhärtete Fronten im Brüsseler Haushaltskampf / Moskaus Kandidat Wiktor Janukowitsch droht mit Sturm auf Kiew ...... 97 Russland: Putin zementiert die Allmacht des Kreml ...... 100 Ägypten: SPIEGEL-Gespräch mit Präsident Husni Mubarak über die Friedenschancen für den Nahen Osten, den Irak-Konflikt und Islamisten in der arabischen Welt ...... 103 Falkland-Inseln: Der Traum vom großen Öl ...... 106 Niederlande: Prinz Bernhards posthume Enthüllungen ...... 109

WOLFGANG KUMM / DPA WOLFGANG USA: Interview mit Arnold Schwarzenegger Putin, Schröder über seinen Regierungskurs in Kalifornien und die Chancen, Präsident in Washington zu werden ...... 110 Geschäftige Freundschaft Seiten 32, 100 Japan: Selbstzerfleischung im Kaiserhaus ...... 112 Während Gerhard Schröder mit US-Präsident Bush nicht warm werden will, zelebriert Wissenschaft · Technik er seine Freundschaft mit Wladimir Putin – der Kanzler setzt auf gute Geschäfte mit Prisma: Ski-Roboter für Abfahrtssport / Russland, das der Kreml-Herrscher zu einem autoritären Staat umbaut. Viele Pflegefälle wären vermeidbar ...... 114 Hirnforschung: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen dem Neurobiologen Gerhard Roth und dem Moraltheologen Eberhard Schockenhoff über neue Zweifel am freien Willen ...... 116 Nahost: „Mutiger Schritt“ Seite 103 Funknetze: Ingenieure arbeiten am ferngesteuerten Wohnhaus ...... 122 Ägyptens Präsident Husni Mubarak setzt bei einer Umwelt: Der Handel mit Ökopunkten neuen Nahost-Friedensinitiative voll auf den israelischen erleichtert Bauvorhaben – aber hilft er auch Regierungschef Ariel Scharon. Nur der könne in Israel der Natur? ...... 124 „den mutigen Schritt in Richtung Frieden tun“, sagt Maschinen: Die erste Mubarak im SPIEGEL-Gespräch. waldschonende Kettensäge ...... 128

Mubarak PRESS VARIO Kultur Szene: Filmregisseur Francis Ford Coppola verkauft Sekt in Dosen / Kunstprofessorin Liz Bachhuber über die Weimarer Aktion Ist der freie Wille nur eine Illusion? Seite 116 „Adoptieren Sie einen Studenten“ ...... 131 Pop: Die Kleiderkarriere der Sängerin Hat der Mensch einen freien Willen? Im SPIEGEL- Kylie Minogue ...... 150 Gespräch streiten Neurobiologe Gerhard Roth und Kino: „Anatomie einer Entführung“ Moraltheologe Eberhard Schockenhoff, wie Experi- mit Robert Redford ...... 152 mente der Hirnforscher zu deuten sind. „Das Gehirn Trends: Auch immer mehr Nichtprominente konstruiert Ich-Zustände“, sagt Roth. „Sie schauen wollen ihr Leben erzählen ...... 154

HONK PRESS / ACTION PR. HONK PRESS / ACTION ja nur von außen zu“, entgegnet Schockenhoff. Bestseller ...... 157 Autoren: Marcel Reich-Ranicki über den Hirnstrommessung Schweizer Schriftsteller Markus Werner ...... 158

Sport Fußball: Die Marketing-Inszenierung Jürgen Klinsmann ...... 162 Züchtige Pop-Queen Seite 150 Formel 1: Bankvorstand Gerhard Gribkowsky über Bernie Ecclestones Niederlage Die australische Sängerin Kylie Minogue hält die vor Gericht und die Pläne der Bayerischen Musikwelt seit Jahren nicht nur mit Hits wie Landesbank mit dem Rennzirkus ...... 165 ihrer aktuellen Single „I Believe in You“ in Atem, sondern auch mit knappen Outfits. Unlängst kün- Briefe ...... 8 digte die Pop-Queen einen Imagewandel an und Impressum ...... 168 will sich künftig bedeckter zeigen. Doch ihre jüngs- Leserservice ...... 168 ten Auftritte in langen Gewändern zeigen: Golde- Chronik...... 169 ne Hot Pants stehen ihr immer noch am besten. Register...... 170 Personalien ...... 172 Minogue Hohlspiegel / Rückspiegel...... 174

SCANPIX / DANA PRESS / DANA SCANPIX TITELBILD: AKG, Photo Scala 2004 7 Briefe

zum Problem für mangelndes deutsches „Geiz ist wirklich geil. Meinem Mann wurde vor Konsumwachstum erklärt. Wie paradox! zwei Wochen gekündigt. Er könnte seinen Vielleicht kann sich diesmal Deutschland an unserem Lebensgefühl ein Beispiel neh- Arbeitsplatz sofort wiederhaben; für drei Euro weniger men, welches auf Grund niedrigerer Real- Stundenlohn bei einer Wochenarbeitszeit von löhne eben nicht nur aus Konsum besteht. 50 statt heute 40 Stunden. Klar, dass der Urlaub auch Trauriger leben wir jedenfalls deshalb an der Moldau keineswegs. gekürzt würde, Urlaubs- oder Weihnachtsgeld Brüssel Dr. Pavel —ernoch ist auch nicht mehr drin. Schade, dass wir unter diesen Direktor des Tschechischen Zentrums Umständen wohl nur Verzicht leisten können, statt ordentlich zu konsumieren.“ Ein Aspekt kommt in Ihrem Artikel meines Erachtens zu kurz: Gerade bei den Pro- Renate Schulte aus Münster zum Titel dukten der schwer von Konsumzurückhal- SPIEGEL-Titel 51/2004 „Stille Nacht, billige Nacht – Deutschland im Rabattwahn“ tung betroffenen Bekleidungs- und Möbel- industrie hängt die Kaufentscheidung nicht nur vom Preis ab, vielmehr muss die Ware ganz froh, nicht mehr zu den … äh … dem Kunden vor allem gefallen! Ich je- Tödliche Abwärtsspirale Jüngsten zu gehören.) Zur Saturn-„Selbst- denfalls bin in den letzten Jahren nicht sel- Nr. 51/2004, Titel: Stille Nacht, billige Nacht – kritik“ „moralisch an der Grenze …“ hier ten in Konsumlaune losgezogen und mit Deutschland im Rabattwahn meine Ergänzung: Kulturell-intellektuell – unverändertem Kontostand heimgekehrt. soweit man diese Begriffe hier überhaupt Köln Ina Raschke Was Unternehmensberater seit Jahren pre- verwenden möchte – unter jeder Wildsau! digen und die Unternehmen in immer neu- Ditzingen (Bad.-Württ.) Hans Wörner Der Einzelhandel hat sich selbst in eine töd- en Reorganisationswellen exekutieren, ist liche Abwärtsspirale manövriert. Ausgelöst also bei den Konsumenten angelangt: Kos- Das „arme“ Deutschland ist also nun auch durch rückläufige Umsätze hat der Handel ten minimieren, Nutzen evaluieren, nicht im rauen Kapitalismus angekommen, den sein Verkaufspersonal verringert, sein Sor- kaufen, was anderswo billiger zu haben ist man uns in Tschechien und im restlichen timent ausgedünnt und die Warenvorräte oder vielleicht gar nicht benötigt wird. Die Mitteleuropa als Königsweg zur wirt- minimiert. Bevor der Käufer heute über- Rekordgewinne der Unternehmen zeigen, dass die Sparsamkeit der Konsumenten ihnen nicht schadet. Aber den Arbeitslosen und von Arbeitsplatzverlust bedrohten Menschen wird suggeriert: Mit eurem Geiz seid ihr selbst an eurem Elend schuld. Steyr (Österreich) Reinhard Kaufmann

Die Deutschen zeigen wieder einmal, dass der Kapitalismus viel weniger berechen- bar ist, als so mancher glauben will. „Geiz ist geil“ ist nur eines von vielen offen- sichtlichen Symptomen dafür: Wir bewe- gen uns abwärts auf derselben Lohn-Preis- Spirale, deren ehernes Aufwärts Karl Marx als unabdingbare Ursache für das Schei- tern des Kapitalismus sah. Nicht steigende Löhne diktieren den Preis – heute diktie- ren sinkende Preise die Löhne und Ar- beitsbedingungen. Man sollte dabei nicht übersehen, dass gerade die Elektronik- Discounter-Werbung: Sinkende Preise diktieren die Löhne branche von Ausbeutung ganz anderer Dimension profitiert: Wohl die meisten gei- schaftlichen Gesundung empfohlen hatte. haupt dazu kommt, sein knapper geworde- len billigen DVD-Player werden in Fernost Während wir mit Bescheidenheit und nes Geld an der Ladenkasse gegen Waren gefertigt, wo 60-Stunden-Woche und auch wachsender Effizienz versuchen, es wirt- einzutauschen, muss er sich durch ver- Kinderarbeit keine Seltenheit sind. Daher schaftlich Deutschland gleichzutun, wer- stopfte Straßen kämpfen, einen teuren Park- gebe ich mein unbedingtes Ja zur Über- den wir im Gegenzug als „Billigländer“ platz erjagen und das wenige verbliebene schrift „Geiz macht arm!“. Chemnitz Sebastian Flad Vor 50 Jahren der spiegel vom 22. Dezember 1954 Das Haus Saturn beschäftigt einen Werbe- Aufgeregte Bundestagsdebatte über die West-Verträge Kanzler Ade- mann – den würde ich gern mal auf Sig- nauer kann nicht folgen. Lebensmittelskandal in Köln Ranziges Schmalz. munds Couch legen: In einem einzigen Memoiren eines ehemaligen Gauleiters Ein deutscher Lebenslauf. DIN-A2-Prospekt vermittelt er uns außer Chefredakteur des Bundespresseamts entlassen Falsche Antisemitis- dem Leitmotiv „Geiz ist geil!“ unter an- mus-Vorwürfe? Elektrogerätehersteller Braun gründet Betriebskranken- kasse 1221 Mitglieder weniger für die AOK. Zwei tote US-Boxer inner- derem die Empfehlungen „Sparen Sie mit halb von 24 Stunden Verhängnisvolle Gleichgültigkeit bei Funktionären. dem Geilsten!“, „Navigieren Sie mit den Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de Geilsten!“, „Telefonieren Sie mit den Geils- oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. ten!“, „Rechnen Sie mit den Geilsten!“ (So Titel: Schriftsteller Thomas Mann was lesend, bin ich dann immer wieder mal

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Verkaufspersonal suchen, um dann immer öfter zu hören, dass der gewünschte Artikel gerade nicht vorrätig ist und bestellt werden müsste. Wie entspannt ist dagegen der Start des PC und das Aufgeben einer Online-Be- stellung! Die Ware wird ins Haus gebracht, wenn sie zusagt, wird gezahlt, wenn nicht, wird sie risikolos zurückgesandt. Hamburg Jochen Knobloch

Nur selten hat mich ein SPIEGEL-Artikel so auf die Palme gebracht wie die letzte Titelstory. Laut dieser ist der Verbraucher, der rabattsüchtige, sparsame Endkonsu- ment, schuldig am Niedergang der deut- schen Wirtschaft. Alles wäre ja billiger ge- worden. Ich glaube, ich habe da etwas ver- passt, oder aber wir sprechen von zwei ver- schiedenen Ländern. Ich lese zum Beispiel sehr viel und kaufte mir früher mindestens fünf Taschenbücher pro Monat. Ein Ta- schenbuch mit gut 1000 Seiten kostete mich zu DM-Zeiten 16,90 Mark. Heute zahle ich 13 Euro. In einem Restaurant zahlte ich früher für meine Lieblingspizza 8,50 Mark heute hingegen 7 Euro … Mit meinen gut 2000 Mark netto kam ich früher wunderbar über die Runden. Jetzt verdiene ich circa 1000 Euro und habe eine Woche vor Mo- natsende keinen Cent mehr übrig. Fürth Tobias Bachmann

Wer immer nur schön billig kaufen will, zwingt die Hersteller, immer nur schön bil- lig zu produzieren und darf sich dann nicht wundern, wenn er auf einmal auf der Straße steht und ein Chinese seinen Job im Reich der Mitte erledigt. Köln Carsten Schmitt

Regeln für alle Nr. 50/2004, Islamisten: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) und dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle über Liberalismus in Zeiten der Terrorgefahr

Einen Eid auf die Verfassung sollten neu- eingebürgerte Staatsbürger ablegen. Gute Idee, Herr Beckstein! Was aber, wenn dem Mann aus Anatolien sein Ehrenwort wich- tiger bleibt als der Verfassungsschwur – ge- radeso wie dem Mann aus Oggersheim. Bad Homburg Dr. Ernst Stracke

Westerwelle mag den Begriff einer deut- schen Leitkultur nicht, da er „ein Über- legenheitsgefühl gegenüber anderen Le- bensweisen“ ausdrückt. Nach seiner Mei- nung solle „jeder nach seiner Façon selig werden – allerdings auf dem Boden unse- res Grundgesetzes und unserer Werte“. Hier liegt bereits einer seiner Denkfehler. In einem souveränen, freiheitlichen und demokratischen Staat ist es Wunschden- ken, jeden „nach seiner Façon“ selig wer- den zu lassen. Das Grundgesetz legt Regeln fest, die für alle Bürger Gültigkeit haben und seine Freiheit garantieren helfen. Zur

12 der spiegel 52/2004 wicklungen der Globalisierung, indem sie diese als einen segenbringenden, ra- tionalen Prozess definieren. In einer glo- balisierten Weltwirtschaft, in der viele Konzerne Teile ihrer Gewinne nicht mehr in die Produktion reinvestieren, sondern statt dessen lieber auf den de- regulierten internationalen Finanzmärk- ten hin- und herschieben, schafft eine auf Mehrarbeit basierende Mehrpro- duktion noch lange keine gleich große zusätzliche nationale Nachfrage nach In- vestitionsgütern. Die Ceteris-paribus- Wirtschaftsmodelle, denen Professor Sinn und viele andere maßgebliche Öko-

WERNER SCHUERING nomen unserer Zeit anhängen, verhal- Gesprächspartner Westerwelle, Beckstein ten sich zur Realität in etwa so wie das „Jeder nach seiner Façon“? 1. Buch Mose zur Evolution. Fulda Martin Triestram Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit für den Staat und den einzelnen Was man als Nichtökonom schon immer Bürger müssen Regeln vorhanden sein, de- befürchtet hat, fand in dem Streitge- ren Mechanismus die „selige Façon“ von spräch der Herren Sinn und Bofinger auf Westerwelle auch einschränken können eindrucksvolle Weise seine Bestätigung. und/oder müssen. Die Volkswirtschaftslehre hat überwie- Berlin Dr. Helmut Feist gend mit Glauben und offenbar fortge- setzter realitätsferner Autosuggestion ih- rer Protagonisten zu tun. Mit Wissen- Wie das 1. Buch Mose schaft hingegen so gut wie gar nichts. In Nr. 50/2004, Ökonomen: SPIEGEL-Streitgespräch welcher anderen universitären Disziplin zwischen den beiden Volkswirtschaftsexperten gelangen denn namhafte Vertreter der- Peter Bofinger und Hans-Werner Sinn über Wege selben zu derart entgegengesetzten Ein- aus dem deutschen Dilemma schätzungen? Einigermaßen fein heraus sind dabei die Politiker. Die können sich An diesem SPIEGEL-Streitgespräch ist im Kramladen der Ökonomen mit all den wieder einmal zu sehen, dass Ratschläge Versatzstücken versorgen, die ihnen in von Ökonomieexperten keine Wissensant- der politischen Auseinandersetzung worten, sondern Glaubensfragen sind. Und nützlich erscheinen. Leider sieht es nach so sollten die Ratschläge von Ökonomie- Lage der Dinge so aus, dass dem Land experten auch behandelt werden. Nur lei- auf Jahre hinaus kein Bundeskanzler der wird der Glaube allzu oft als einzig (und keine Kanzlerin!) zur Verfügung richtige Wahrheit verkauft. Und allzu gern stehen wird, der, wie seinerzeit Helmut wird diese Wahrheit kritiklos übernom- Schmidt, über hinreichend eigenes Ur- men. Insbesondere der Standpunkt der teilsvermögen in der Sache verfügt. Monetaristen beziehungsweise die neo- Wolfsburg Klaus-Dieter Marquardt liberale Position des Herrn Sinn dominiert die öffentliche Diskussion und Meinungs- Die Tragik von Professor Bofinger ist, bildung. Dies verhindert eben den Blick, dass er Recht hat, aber keiner der aktiv den wir brauchten, um die Probleme der Handelnden bereit ist, seine Ratschläge globalen Weltwirtschaft und damit auch umzusetzen. Dass die von Professor Sinn unsere Probleme anzugehen. Und leider vertretenen Thesen in ihrer Umsetzung werden interessante Per- spektiven, wie sie zum Beispiel die Freigeldtheo- rie eröffnen könnte, von der öffentlichen Diskus- sion ausgeschlossen. Und das Fehlen weiterer Per- spektiven kann uns die Zukunft kosten! Steinhausen (Bad.-Württ.) Peter Brass

In welcher Welt lebt Herr Professor Sinn eigentlich? Seit Jahren rechtfertigen Sinn und seine geistesver-

wandten Elfenbeinturm- / LAIF MOLERES kollegen die üblen Ent- Näherinnen in Bangladesch: Gewinn bei sinkenden Kosten

der spiegel 52/2004 13 Briefe in die jetzige Misere unserer Volkswirt- aber ablehnen? Konnte, durfte ich nicht! schaft mit Massenarbeitslosigkeit und qua- Meine Eltern waren nämlich nirgends da- si Staatsbankrott geführt haben, steht wohl bei (nur Deutsche Arbeitsfront – aber da außer Zweifel. Ob Regierung oder Oppo- gingen ja die Betriebe geschlossen dazu) – sition, in diesem Punkt sind sich beide lei- und es war zu befürchten, dass es dann der einig und folgen den falschen Prophe- Sippenhaft gab – wegen mangelnder „groß- ten. Kapitaleigner und Großunternehmer deutscher Erziehung“ oder so ähnlich, ein frohlocken. Nie war es in Deutschland Grund hätte sich schon gefunden. Und des- möglich, so viel Gewinn bei sinkenden wegen, weil man mir meine Kindheit und Lohnkosten einzufahren. Soll das System Jugend gestohlen hat, könnte ich diese gesunden und ein Mindestmaß an sozialer nachgeborenen Künstler, die von nichts Gerechtigkeit wiederhergestellt werden, ist eine Ahnung haben, aber mit dieser ideo- es höchste Zeit, die Bofinger-Thesen an- logischen „Kunst“ noch dickes Geld ver- zuwenden. dienen, stundenlang ohrfeigen! Lohmar (Nrdrh.-Westf.) Dr. Gerd Snoek Furth im Wald (Bayern) Charlotte Wimmer

Ich habe das Gefühl, Sie schreiben in vor- In vorauseilender Besorgtheit? auseilender Besorgtheit über eine Ent- Nr. 49/2004, Zeitgeist: In Pop, Kunst, wicklung, die ich in keiner Weise negativ Film und Literatur regt sich ein neuer deutscher besetzt sehe. Als der ehemalige Bundes- Patriotismus – und weckt auch Argwohn präsident Rau sagte: „Heimatverbunden- heit macht uns alle reicher“, konnte ich In Ihrem, an sich begrüßenswerten, Artikel weder in der „FAZ“ noch im SPIEGEL von gehen Sie in einigen Fällen mit der Aus- ähnlichen Bauchschmerzen lesen. Wenn wahl Ihrer Beispiele leichtfertig um. War- Mieze, 24 Jahre, also singt, dass sie sich um denn dürfen „farbsatte Bilder“ und nicht mehr fremd im eigenen Land fühle, ist „blühende Bäume“ nicht sein in einer, wie das ausgezeichnet und stimmt mich zu- ich finde, herausragenden Geschichte über versichtlich, was die Bewältigung der vielen das Leben einer jüdischen Bankierstochter Probleme in unserem Land angeht. in der Nazi-Zeit? Wenn Sie mit der argu- Dolberg (Nrdrh.-Westf.) Oliver Schmidt BILAN / POP-EYE Sängerin Mieze der Band Mia beim Konzert (in Berlin): Deutschland ist in mentativen Keule der Schönfärberei das Die Bauchschmerzen, die Ihre fünf Auto- Klischee der Schwarzfärberei einfordern, ren bei dem Begriff Patriotismus bekom- verderben Sie mit dieser engstirnigen Auf- men, habe ich beim Lesen des Artikels ge- fassung jedwede Chance, dem komplexen kriegt. Als ich aufwuchs, kam alles Tolle Thema des Antisemitismus und seiner aus den USA, jetzt ist Deutschland mal in, grauenvollen Auswirkungen auch nur ei- und die jungen Deutschen stehen dazu. nen Schritt näher zu kommen. Nicht mehr und nicht weniger. Mein Herz München Prof. Tom Toelle schlägt für Mia, und zwar links. Düsseldorf Philipp Hympendahl Eines jener Kinder, die man dringend zu Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Propagandazwecken brauchte, weil sie das schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Idealbild der Nazis verkörperten – sehr Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] groß und sehr blond – war ich. Wie hätten wir lieber zu Hause gespielt oder gelesen, In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich als bei jedem Wetter an Aufmärschen oder in einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der Firma Kundgebungen teilzunehmen! Konnte ich LEXWARE, Freiburg.

14 der spiegel 52/2004 Panorama Deutschland

TERRORISMUS Vorbehalte gegen Luftsicherheitsgesetz undespräsident Horst Köhler hat offenkundig Vor- Bbehalte gegen das mit rot-grüner Mehrheit vom Parlament beschlossene Luftsicherheitsgesetz. Es wür- de dem Verteidigungsminister erlauben, von Terroristen gekaperte Passagierflugzeuge durch die Luftwaffe not- falls abschießen zu lassen. Die CDU/CSU hält das Ge- setz für verfassungswidrig und hatte den Präsidenten Köhler nach dem Votum Ende September aufgefor- dert, seine Zustimmung zu verweigern. Die Prüfung im Präsidialamt zieht sich ungewöhnlich lange hin. Gut möglich ist, dass der von externen Sachverständigen be- ratene Köhler das Gesetz unterschreibt, aber seine Be-

denken öffentlich zu Protokoll gibt. / DPA ARNE DEDERT So verfuhr Vorgänger Johannes Rau Passagierjets auf dem Frankfurter Flughafen (SPD) beim Zuwanderungsgesetz – im Wissen, dass es auf Betreiben der unions- im Flugzeugabschuss einen „finalen Rettungstotschlag“, der regierten Länder bald das Bundesverfas- zwar auch die Terroristen träfe, in der Mehrzahl aber völlig sungsgericht beschäftigen würde. Dem unbeteiligte Menschen. Den Protesten einer Interessenvertre- Beispiel könnte nun Köhler folgen. Der tung von Jet-Piloten der Luftwaffe, die Rechtsklarheit über ehemalige nordrhein-westfälische Innen- Bundeswehreinsätze im Inneren wünschen, haben sich mitt- minister Burkhard Hirsch (FDP) hat dem lerweile auch zivile Flugzeugführer angeschlossen: In einer Staatsoberhaupt bereits im Namen von Pi- Eingabe an Köhler bezweifelt die Vereinigung Cockpit, der

WERNER SCHUERING loten und Vielfliegern eine Verfassungsbe- zahlreiche Lufthansa-Piloten angehören, dass die geplante Re- Köhler schwerde angekündigt. Der Liberale sieht gelung dem Grundgesetz entspricht.

VERKEHR HARTZ IV Trickreiches Stolpe-Ministerium Bundesagentur ändert istig versucht das Bun- Fragebogen Ldesverkehrsministerium bei Straßenbauprojekten ie Nürnberger Bundesagentur für Arbeit eine EU-Umweltrichtlinie Dwill den Antrag für Bezieher von Hartz zu unterlaufen. Ab Januar, IV deutlich vereinfachen. Die Fragebögen, so die Direktive, müssen deren zweite Auflage für den kommenden die Grenzwerte bei Fein- April angekündigt ist, sollen kürzer und ver- stäuben – darunter fallen ständlicher ausfallen – und darüber hinaus vor allem Dieselrußpartikel den Anforderungen der Datenschützer besser – verbindlich eingehalten entsprechen. Unter anderem ist geplant, dass werden. Auswirkungen hat Antragsteller die Verdienstbescheinigung ih- die Richtlinie nicht nur res Arbeitgebers künftig getrennt von ande- auf den Verkehr, sondern ren Einkommensnachweisen einreichen kön-

auch auf den Straßenbau. / DDP MILLAUER NORBERT nen. Zudem sollen die Formulierungen, mit So müssen die Genehmi- Autobahnbaustelle (A17 bei Dresden) denen nach weiteren Personen im Haushalt, gungsbehörden wirksame nach Kindern oder saisonaler Beschäftigung Maßnahmen zur Schadstoffreduzierung wie Geschwindigkeitsbeschränkungen gefragt wird, klarer gefasst werden. Vor allem oder zeitweilige Fahrverbote vorsehen, wenn eine Überschreitung der Grenzwerte Arbeitslose in Wohngemeinschaften hatten droht, sonst kann das Straßenbauprojekt nicht umgesetzt werden. Manfred Stol- sich beklagt, dass die entsprechenden Text- pes Ministerium interpretiert nun in einem internen Papier das Diktum aus Brüs- passagen missverständlich seien. So fehlt in sel zu einer weichen Bestimmung um. Es würde reichen, heißt es in dem Papier, den Fragebögen derzeit jeder Hinweis darauf, wenn die Grenzwerte in „größeren räumlichen Einheiten“ eingehalten werden, dass niedrig entlohnte Arbeitnehmer statt des Messungen müssten ja nicht gerade dort erfolgen, wo eine auszubauende Fahr- Arbeitslosengeldes II möglicherweise An- bahn verlaufe, da diese „gerade nicht zum dauernden Aufenthalt von Menschen spruch auf einen Kinderzuschlag haben, mit diene“. Die Vorhaben sollten, meint das Ministerium, erst einmal genehmigt wer- dem sie unter Umständen günstiger fahren den – „mit dem Vorbehalt der Konfliktbewältigung mittels Luftreinhalteplan“. als mit der Arbeitslosenunterstützung.

der spiegel 52/2004 17 Panorama

KLIMASCHUTZ CSU unterstützt Trittin ie CSU vollzieht in der Klimapolitik den DSchulterschluss mit Bundesumweltmi- nister Jürgen Trittin. Auf der Klimakonfe- renz in Buenos Aires unterstützten der

bayerische Umweltminister Werner Schnapp- (U.) / DPA PILICK STEPHANIE (O.); / DPA HILDENBRAND K.-J. auf und der CSU-Bundestagsabgeord- nete Josef Göppel Trittins Vorstoß, die Treibhausgas-Emissionen in Deutsch- land bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken, sofern sich die EU zu Trittin, Gipsfabrik in Unterfranken einer 30-prozentigen Reduktion ver- pflichte. Schnappauf will seinen grünen pel, die Einschätzung Trittins und der Klimakonferenz: Nur Bundeskollegen sogar toppen: „Die wenn der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen bis 2050 um 40 Prozent reichen eigentlich nicht. Wir 50 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werde, könne eine Tem- müssen noch eine Scheibe drauflegen.“ peraturerhöhung von mehr als zwei Grad im Vergleich zur vor- Die CSU teile, so Schnappauf und Göp- industriellen Zeit verhindert werden.

AFFÄREN DOPINGOPFER Persönlich, vertraulich Letzter Versuch wei Briefe des CDU-Mannes und Aubis-Immobi- ls letzten Versuch einer außergerichtlichen Einigung auf Scha- Zlienunternehmers Klaus-Hermann Wienhold wer- Adensersatz haben jetzt DDR-Dopingopfer Güteanträge bei der Öf- fen ein neues Schlaglicht auf die Bankenaffäre, über die fentlichen Rechtsauskunft- und Vergleichsstelle (ÖRA) in Hamburg ge- der Berliner Regierende Bürgermeister Eberhard Diep- stellt. Die zum Teil an Krebs erkrankten ehemaligen Hochleistungs- gen (CDU) vor dreieinhalb Jahren stürzte. Wienhold sportler fordern vom Nationalen Olympischen Komitee Deutschland hatte offenbar versucht, einen Strippenzieher des (NOK) und der Firma Jenapharm, die einst noch als VEB das DDR- Stadtoberhaupts, den Fraktionschef der Christdemo- Anabolikum Oral-Turinabol entwickelt und produziert hatte, einen kraten und Bankvorstand Klaus Ausgleich für die entstan- Landowsky, unter Druck zu setzen. denen Schädigungen. Dessen Geldhaus hatte der Aubis- NOK und Jenapharm Gruppe umfangreiche Kredite ge- blieben bisher unnachgie- währt. Am 6. Mai 1996 warb Wien- big. Die ÖRA versucht, hold „persönlich, vertraulich“ dafür, Streitfälle außergericht- dass sich Landowsky in seiner Bank lich zu lösen. Die insge- für einen Kredit einsetzen möge, da samt 158 Antragsteller nicht erkennbar sei, ob „so mancher sind vom Bundesverwal- in Deinem Hause die Zusammen- tungsamt in Köln als Do- hänge wirklich richtig sieht oder pingopfer anerkannt.

JOCHEN ECKEL / DDP nicht sehen will. Ich bitte, Dein be- „Das ist unser letzter Landowsky sonderes Augenmerk auf diesen Versuch, die Gegner an Vorgang zu legen“. Am 26. Februar einen Tisch zu bekom- 1998 schrieb Wienhold in Anspielung auf Diepgen: / DDP KOCH JENS-ULRICH men“, sagt der Heidel- „Über den Meister will ich nicht besonders reden; wer berger Anwalt Michael jedoch über so viele Jahre hinweg alte Freunde ver- Lehner. Parallel dazu be- prellt oder zumindest nicht pflegt und neue Freunde reitet er für den Doping- nicht schafft und zulässt, muss sich nicht wundern, zu opferhilfeverein zwei vereinsamen.“ Ihn bedrücke die Gefahr, dass Landow- „Musterklagen“ gegen sky persönlich beschädigt werde – „und damit Deine das NOK und die seit Lebensleistung für die Stadt und die Partei“. Diese Be- 1996 zum Berliner Sche- schädigung erfolgte im Februar 2001, als die Übergabe ring-Konzern gehörende einer Parteispende von Wienhold an den Banker und Jenapharm vor. Unionsmann aufflog. Landowsky erklärt zu den Brie- fen, sie hätten keinen Einfluss auf die Kreditvergabe Tablettenproduktion,

seines Hauses gehabt. / PUNCTUM B. KOBER Jenapharm

18 der spiegel 52/2004 Deutschland

LEBENSMITTEL Anwendung weder akut noch langfristig gesundheitsgefährdend“ (Stiftung Wa- Umstrittene Pestizide rentest), ist in mehreren EU-Staaten mit bestimmten Höchstwerten zugelassen. ach Untersuchungen der Stiftung Hersteller BASF, so die Früchtehändler, NWarentest über Pestizidfunde in Ro- habe nur versäumt, für das Pestizid auch sinen wehrt sich der deutsche Früchte- in Deutschland die Zulassung zu bean- handel. Zwar fanden sich in knapp der tragen. Eine Verfügung im „Bundesan- Hälfte der getesteten Produkte Rück- zeiger“ vom November hatte zudem nur stände diverser Pestizide aus dem Wein- für die Einfuhr von „Trauben“, nicht für anbau, darunter vor allem das Insektizid getrocknete Früchte die höheren Grenz- Flufenoxuron, das auch gegen Spinn- werte festgeschrieben. Jährlich verspei- milben gespritzt wird. Aber das Pflan- sen die Deutschen rund 60000 Tonnen zenschutzmittel, bei „vorschriftsmäßiger Sultaninen und andere Rosinen.

LUFTWAFFE raden. Die Luftwaffenführung hatte ver- langt, dass das Jagdbombergeschwader Schäbige Führung 32 am vergangenen Donnerstag im bayerischen Lagerlechfeld seine Feier- n ungewohnter Schärfe kritisieren Jet- lichkeiten für zwei tote Soldaten ändert, IPiloten die Führung der Bundeswehr. die eine Woche zuvor mit einem „Tor- „Es ist schäbig und armselig, wie sich nado“ abgestürzt waren. Die Flieger die Luftwaffe gegenüber Soldaten ver- wollten die Toten mit der traditionellen hält, die ihr Leben im Dienst gelassen „Missing Wingman Formation“ ehren, haben“, sagt ein Sprecher des Verban- bei der ein Flieger nach oben aus einer des der Besatzungen strahlgetriebener Gruppe ausbricht. Diese letzte Ehrenbe- Kampfflugzeuge (VBSK). Anlass sind zeugung hat weltweit Tradition und die Trauerfeiern für abgestürzte Kame- geht vermutlich schon auf den Trauer- fall des Fliegerhelden Manfred von Richthofen zurück. Bereits im Mai hatte das Verteidigungsministerium die Ehrenformation verboten, nachdem zwei „Tornado“-Piloten des Aufklärungsgeschwaders 51 ab- gestürzt waren. Die Ministerialen hatten ausgeführt, dass laut Vor- schriftenlage „Über- und Vorbei- flüge“ bei Feierlichkeiten nicht mehr erlaubt seien. Dem wider- spricht der VBSK. So sei der US- General John Jumper im Juli durch einen Formationsflug geehrt

REINHOLD RADLOFF / DPA RADLOFF REINHOLD worden, als er den Fliegerhorst in Trauerfeier für Piloten (in Lagerlechfeld) Laage besucht habe.

ZEUGENSCHUTZ Kronzeuge entwischt aida-Kronzeuge Shadi Abdallah, Vater an, der ihm geraten haben soll, Qder umfangreich wie kein anderer nach Deutschland zurückzukehren. Die Islamist in Deutschland ausgepackt hat, Polizisten, die ihn eigentlich vor Rache- ist zeitweilig aus dem Zeugenschutz akten radikaler Glaubensbrüder schüt- entwischt. Kurz nach seiner Freilassung zen müssten, waren in höchster Aufre- aus der Haft setzte sich der Jor- gung über sein Verschwinden. danier Mitte November ab. Ab- Doch nach einigen Tagen been- dallah, der ein Leibwächter Osa- dete Abdallah seinen Ausflug. ma Bin Ladens gewesen sein will, Als er zurückkam, nahmen ihn fuhr zu einem Onkel nach Bel- die Beamten vorübergehend in gien. Dort meldete er sich im jor- Haft, weil er gegen Bewährungs- danischen Konsulat: Er wolle in auflagen verstoßen hatte. Nun

sein Heimatland reisen. Abdallah GUENTER ROEDER / AP soll er einen Arbeitsplatz erhal- rief aus Belgien offenbar seinen Abdallah ten und besser betreut werden.

der spiegel 52/2004 19 Panorama Deutschland

UMWELT ligung des Staatsober- haupts hofft er, die Teures Feuchtgebiet Kritik vieler Unter- nehmen und der Op- eil Niedersachsen sich weigert, die position an seiner WWeser- und Ems-Mündung nach Kampagnen-Planung der europäischen Fauna-Flora-Habitat- entkräften zu kön- Richtlinie (FFH) fristgerecht anzumel- nen. Union und FDP den, drohen der Bundesrepublik hohe hatten eine überpar- Zwangsgelder aus Brüssel. Die Landes- teiliche Organisation regierung von Ministerpräsident Chris- angemahnt, um si- tian Wulff will den geplanten Bau eines cherzustellen, dass sie Tiefwasserhafens in Wilhelmshaven von Schröder nicht als indirekte Wahl- werbung für sei- ne Regierung miss-

GÜNTER SCHNEIDER / IMAGO braucht wird. Nach Fußballglobus vor Brandenburger Tor internen Planungen des Kanzleramts soll FUSSBALL-WM die Kampagne nunmehr im Juni 2005 starten. Unklar ist derweil noch, wie Köhler wird Schirmherr das Projekt konkret aussehen wird: Offizielles Ziel von Regierung und ie Planungen für die Standort- Wirtschaft ist es, das Image des Stand- Dkampagne von Regierung und In- orts Deutschland im In- und Ausland dustrie zur Fußball-Weltmeisterschaft zu fördern. Gegenwärtig arbeiten vier 2006 (Arbeitstitel: „FC Deutschland Werbeagenturen an möglichen Kon-

06“) kommen voran. Bundespräsident zepten – Mitte Januar soll eines da- HECKER / DDP DAVID Horst Köhler hat sich bereit erklärt, von ausgewählt werden. Insgesamt Küstenabschnitt bei Wilhelmshaven die Schirmherrschaft für das Projekt werden für das Projekt voraussicht- zu übernehmen. „Warum sollte ich lich mindestens 20 Millionen Euro nicht durch Naturschutzauflagen beein- das nicht tun, wenn ich helfen kann, zur Verfügung stehen. Sie sollen je trächtigen. In einem ähnlichen Verfah- Deutschland nach vorne zu bringen?“, zur Hälfte vom Bund und von gro- ren an der französischen Gironde bei sagte er dem SPIEGEL. Kanzler Ger- ßen Industrieunternehmen wie der Bordeaux hat die EU-Kommission ver- hard Schröder kommt Köhlers Ent- TUI oder DaimlerChrysler getragen gangene Woche hohe Geldstrafen ver- scheidung sehr gelegen. Mit der Betei- werden. hängt. „Wir wollen nicht die Zeche für Niedersachsen zahlen“, sagt Bundesum- weltminister Jürgen Trittin. Es könnte ein Zwangsgeld von täglich bis zu 790000 Euro fällig werden, wenn Nie- JUSTIZ dersachsen die FFH-Gebiete nicht bis Ex-Innenminister angeklagt Ende Januar 2005 anmeldet. n Potsdam hat die Staatsanwaltschaft Beständen besorgt und könne auch ihm Iin der vorvergangenen Woche gegen ein „äußerst günstiges“ Heim beschaf- Nachgefragt Peter-Michael Diestel Anklage wegen fen. Der Ex-Politiker bestritt Biermanns Anstiftung zur falschen uneidlichen Darstellung und verklagte ihn. Der Lie- Aussage erhoben. Der letzte dermacher benannte seine Frau Pamela Stabiler Baum Innenminister der als Zeugin – sie sei DDR, der heute als bei dem Treffen da- Was werden Sie Weihnach- Anwalt tätig ist, soll bei gewesen. Dies- ten zu Hause aufstellen? in mehreren Rechts- tel bot drei ehema- streitigkeiten mit lige Bedienstete dem Liedermacher des Innenministe- einen Naturbaum 61 % Wolf Biermann drei riums auf, die ehemalige Unterge- behaupteten, Bier- bene dazu verleitet mann habe den 12 % einen künstlichen BERND SETTNIK / DPA haben, die Unwahr- MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL Minister allein auf- heit zu sagen. Hin- Biermann Diestel gesucht. Den Pots- tergrund: Biermann damer Staatsanwäl- keinen Baum hatte 1998 in einer Talkshow behauptet, ten ist es im Rahmen ihrer zweijährigen 26 % Diestel habe ihm im Sommer 1990 Ermittlungen offenbar gelungen, TNS Infratest für den SPIEGEL vom 14. bis 16. während eines Gesprächs in seinem Zeugen zu finden, die das Gegenteil Dezember; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Amtszimmer erklärt, er habe sich gera- bestätigten. Diestel kritisiert die Ankla- Prozent: „weiß nicht“ de ein „günstiges“ Haus aus DDR- ge als „völlig abwegig“.

20 der spiegel 52/2004 Kommissionsvorsitzende Stoiber, Müntefering: Verzweifelter Versuch, die blockierte Republik flottzukriegen

VERFASSUNG Die Blamage Reformwerk für den Papierkorb: Das Scheitern der Föderalismuskommission offenbart den Egoismus der politischen Klasse in Deutschland. Ausgerechnet jener Blockade-Mechanismus, den die Parteichefs Stoiber und Müntefering abschaffen wollten, brachte die „Mutter aller Reformen“ zu Fall.

m Ende herrschte zwischen allen Bund hat die Verhandlungen zum Schei- zogen“) eine kleine Bosheit mit auf den Beteiligten große Einmütigkeit. Sie tern gebracht“) oder vielleicht doch Harald Weg zu geben. Awaren nicht schuld. Natürlich nicht. Ringstorff aus Schwerin, der den CDU- Und selbst Koch, den viele für einen Nur die anderen. Wie immer. So schnell geführten Ländern beherzt vorwarf, sie der Hauptschuldigen des Debakels hal- konnten die Fernsehreporter ihre Mikro- hätten „unverantwortlich“ gehandelt? ten, zeigte sich zerknirscht. Das Schei- fone kaum aufbauen, wie es die geschei- Fest stand nur, dass der Welle der Erre- tern der Föderalismusgespräche sei eine terten Groß-Reformer drängte, ihre Schuld- gung fast zeitgleich eine Woge der Betrof- Niederlage für alle Teilnehmer: „Wir hät- zuweisungen zu Protokoll zu geben. fenheit hinterherschwappte. Das Scheitern ten die Verfassung heute besser machen Hinterher war kaum noch klar, wer am der Verhandlungen sei „fatal“, meldete können.“ vergangenen Freitag den Anfang gemacht sich da Nordrhein-Westfalens Ministerprä- Am Ende konnten selbst die lautesten hatte. Niedersachsens Minis- sident Peer Steinbrück zu Schuldzuweisungen und Selbstbezichti- terpräsident Christian Wulff Wort: „Mit wechselseitigen gungen nicht darüber hinwegtäuschen, etwa, der den Sozialdemo- Schuldzuweisungen machen dass die Beteiligten soeben eine Blamage kraten vorwarf, sie hätten das wir es für alle Beteiligten von historischem Ausmaß abgeliefert hat- „Scheitern der Verhandlun- noch schlimmer.“ ten. Die Kapitulation vom Freitag ist mehr gen als Ziel schon vorher Der Potsdamer Regie- als nur ein schwerer Imageschaden für die festgelegt“? Oder seine Kol- rungschef Matthias Platzeck Protagonisten. Deutschland, das bekam legin Heide Simonis aus Kiel, bemühte erst das Weltall das Volk am Freitag amtlich, ist kaum noch die sich „maßlos enttäuscht“ („Wir haben vielleicht nicht regierbar. über die CDU-Länder gab, nach den Sternen gegrif- Die Jahrhundertreform mit dem sperri- die „aus Prinzipienreiterei fen“), dann die Nation („kein gen Namen war der verzweifelte Versuch die Föderalismusreform aufs guter Tag für Deutschland“), der politischen Wortführer, die blockierte Spiel gesetzt“ hätten? um schließlich noch flink Republik wieder flottzukriegen. Weder War es Saar-Minister- seinen Kollegen Wulff und Rot-Grüne noch Schwarz-Gelbe wissen, präsident Peter Müller („Der SPIEGEL 20/2003 Roland Koch („weit über- wie es nun weitergehen soll.

22 der spiegel 52/2004 Deutschland MARCO-URBAN.DE (L.); MARC DARCHINGER (R.) (L.); DARCHINGER MARC MARCO-URBAN.DE Sitz des Bundesrats in Berlin: Das krisengeschüttelte Deutschland wird von seiner Verfassung stranguliert

Steuergesetze oder Gesundheitsreform, sungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Pa- bei hoher Drehzahl macht sich als Ersatz- Ausländerrecht oder Bildungsfragen – wer pier. Die Republik des Grundgesetzes, handlung breit. auch immer in diesem Land noch Politik warnt schon lange Jürgen Kluge, der deut- Die Reform der Bildungspolitik ist die gestalten will, ahnt jetzt schon, dass er sche McKinsey-Chef, sei „ein Sanierungs- Großmutter der Reformen: Schon um der wie gehabt zwischen Bundestag und fall“: „Niemand kann mehr vorhersagen, Schulen und Universitäten willen, so for- Bundesrat, Koordinationsausschüssen und welche Wirkung eine politische Entschei- derten Wirtschaftsexperten wie der ehe- Verfassungsgericht, Parteigremien und dung wann wo haben wird.“ Untätigkeit malige BDI-Präsident Hans Olaf Henkel, Lobbyisten zerrieben wird. Was sollen die müssten die Kompetenzen im Parteien ihren Wählern noch versprechen? Grundgesetz endlich so geord- Die Bürger wissen nun, dass in dieser Umverteilung der Macht net werden, dass Wettbewerb Demokratie niemand das Sagen, aber jeder In wichtigen Punkten war sich die Föderalismus- und Qualitätskontrolle die or- das Neinsagen hat. kommission einig: ganisierte Verantwortungslosig- Nicht einmal der kleine, bescheidene An- keit beenden. Kanzler Gerhard lauf, die verfilzten Zuständigkeiten zwi- Zustimmungsrecht Schröder sieht Bildung als schen Bund und Ländern auseinander zu Der Anteil der Bundesgesetze, denen der Bundesrat „Schlüssel“ für die Zukunfts- sortieren, ist gelungen – von einer umfas- zustimmen muss, sollte von 60 auf 40 Prozent reduziert fähigkeit des Landes. Und aus- senden Reform des blockierten bundes- werden. gerechnet an diesem wichtigs- deutschen Föderalismus ganz zu schweigen. ten Punkt scheiterten die Un- Der Versuch der beiden Kommissionsvor- Gesetzgebungskompetenz terhändler gegen Mitternacht. sitzenden Franz Müntefering und Edmund Das Ladenschluss- und das Gaststättenrecht sollten Dass es so kommen würde, Stoiber galt nicht zu Unrecht als „die Mut- wie der Strafvollzug, Spielhallen und das Versamm- hatten viele, die das Geschäft ter aller Reformen“ (Stoiber): eine Reform lungsrecht in die Verantwortung der Länder fallen. kennen, geahnt. Die Praktiker zur Wiederherstellung der Reformfähigkeit Die Atomenergie und das Waffen- und Sprengstoffrecht der blockierten Republik, Vor- im Land. Das Scheitern im Gestrüpp der sollten allein in die Bundeskompetenz fallen. kämpfer in Kungelrunden, Veto- Bundes- und Länder-Eitelkeiten hat nun Experten aus 16 bundesdeut- den überzeugendsten Beweis dafür er- Finanzen schen Kleinstaaten, wissen über bracht, dass der Umbau dringend nötig ist. Mischfinanzierungen von Bund und Ländern sollten die Beharrungskräfte in den ein- Dabei stand den Beteiligten die Gefahr, etwa beim Hochschulbau abgebaut werden. Dafür gespielten Entscheidungsinstan- sollten die Länder Kompensationszahlungen erhalten. dass das krisengeschüttelte vereinigte zen genau Bescheid. Deutschland von seiner eigenen Verfas- Steuern In manchen Staatskanzleien sung stranguliert wird, deutlich vor Augen. Die Kfz-Steuer sollte komplett an den Bund fließen, ist den Föderalismusbeauftrag- Da musste nicht erst die Agenda 2010 in die Versicherungsteuer an die Länder. ten völlig klar, dass ihre Chefs der Veto-Mühle zwischen Bund und Län- gar keine Erfolge wünschten: dern bis zur Unwirksamkeit verstümmelt Stabilitätspakt „Wie ein Fisch im Wasser“, sagt werden. Die Funktionsdefizite im Verhält- Ein nationaler Euro-Stabilitätspakt sollte im Grund- ein Unterhändler, bewege sich nis zwischen Bund und Ländern waren gesetz verankert werden. Mögliche Strafzahlungen sein Ministerpräsident durch die längst notorisch. an die EU wegen Defizitverstößen wollten Bund und trübe Konsens-Republik. „Ist unser Staat noch steuerungs- und Länder im Verhältnis 65 zu 35 aufteilen. Veto-Macht macht wichtig: reformfähig?“, fragte der Bundesverfas- „Die Provinzfürsten missbrau-

der spiegel 52/2004 23 Deutschland chen nur zu gern den Bundesrat als natio- nale Bühne“, sagt der Frankfurter Staats- rechtsprofessor Hans Meyer, einer der be- ratenden Experten der Föderalismuskom- mission. Das grandiose Scheitern ihres Vorhabens war den beiden Kommissionsvorsitzenden schon klar, als sie am Freitagnachmittag die abschließende Sitzung eröffneten. „Von den Kindergärten bis zur Hochschule wol- len wir eine Kompetenz der Länder“, for- derte noch einmal Stoiber. „Ich neige nicht zur Depression“, antwortete Müntefering, doch das Junktim der Unionsländer sei „in hohem Maße unvernünftig“. Am vergangenen Montag hatten die bei- den Kommissionschefs noch ein 15-seiti- ges Papier mit zahlreichen gemeinsamen Vorschlägen vorgelegt. Lediglich fünf Punk-

te, darunter Bildung, Europa oder das Um- / AP BAUER JAN weltrecht, seien noch ungelöst. Blockierer Wulff, Koch: Druck der Hardliner auf Stoiber Müntefering zeigte sich optimistisch: „Wir haben ein gutes Stück erreicht, und da Im Lauf der Woche war der bayerische „Stoibers Einigungs-Enthusiasmus war tak- bin ich auch ein bisschen stolz drauf.“ Ministerpräsident immer stärker unter den tisch unklug.“ Frohgemut verkündete Stoiber: „Wenn sich Druck seiner CDU-Kollegen geraten. Am Viele verübelten dem Bayern seine mit nichts mehr bewegt, bleibt das Papier, wie Wochenende zuvor hatte er zum Ärger provozierendem Optimismus gepaarte es ist.“ Der Vorschlag sei eine „durchaus der Unionsministerpräsidenten in der staatsmännische Attitüde. Nachdem er am länderfreundliche Regelung“. Sonntagspresse eine positive Bilanz der Dienstag in der Unionsfraktion ausgiebig Drei Tage und zahllose Gespräche spä- Kommissionsarbeit gezogen. Er sei „opti- zum Stand der Dinge referiert hatte, eröff- ter wollte der Bayer davon nichts mehr mistisch, dass wir die Föderalismuskom- nete Fraktionsvize Wolfgang Bosbach die wissen. Nach zweistündigen Verhandlun- mission zu einem erfolgreichen Abschluss Debatte: „So, ich lass das Lametta jetzt gen ließ er den SPD-Chef am Donnerstag- bringen können“. mal weg.“ abend wissen: „Herr Müntefering, wir be- Demonstrativ wiesen die Länder-Pre- Kontinuierlich erhöhten die Hardliner kommen alles hin, aber ohne Bildung geht miers Stoiber im Parteipräsidium am Wulff und Koch den Druck auf Stoiber. das nicht.“ Im Klartext: Wenn es bei der Montag in die Schranken. Zum Wortführer Am Mittwoch griff Wulff den Bayern fron- Bildung keine Einigkeit gebe, werde man der Blockierer schwang sich der hessische tal an: „Das bringt alles nichts mehr.“ Stoi- zu keinem Abschluss kommen. Münte- Ministerpräsident Koch auf: „Das kann ber reagierte beleidigt: „Es gibt doch eine fering fühlte sich vorgeführt, doch Stoiber alles noch scheitern.“ Ein Kollege kam staatspolitische Verantwortung.“ Wulff sei ließ sich nicht mehr umstimmen. anschließend zur gleichen Einschätzung: auf Konfrontation aus gewesen, sagt ein CDU-Amtskollege. Der Versuch der SPD, die Bildungspla- nung dem Bund zuzuordnen, hatte Wulffs Mitstreiter Koch schon frühzeitig als „Rie- senhindernis“ bezeichnet. Und: „Wer so etwas fordert, der muss wissen, dass eine Einigung unmöglich ist.“ Aus seiner Sicht hatten die Länder schon viel zu viele Themen dem Bund überlassen. Koch gab den Druck weiter, den er im eigenen Landesverband ver- spürte. „Politische Karrieren beginnen in den Ländern immer mit Themen, mit de- nen man sich auch profilieren kann“, sagt ein führender Unionsmann aus Hessen. Der Vorschlag von Stoiber und Müntefe- ring hätte aus Kochs Sicht solche Karrieren stark beeinträchtigt. Vor allem aber fürch- tete er, ein Reformerfolg werde nicht nur Müntefering und Stoiber, sondern letzt- lich vor allem der Bundesregierung zugute kommen. Je dichter sich die Kommission dem Ziel- datum näherte, desto mehr ähnelten die Verhandlungen einem Gebrauchtwagen- markt. Ob in Einzelgesprächen Stoibers und Münteferings, in der Ministerpräsi- dentenkonferenz oder in Kleingruppen –

FRANK OSSENBRINK FRANK die Sachfragen waren in den Hintergrund Blockierer Zypries, Bulmahn: Tabus, Eitelkeiten und taktische Finessen gedrängt. „Es geht nicht um einen Basar“,

24 der spiegel 52/2004 Deutschland verteidigte sich Müntefering wider besseres Bulmahn vorigen Donnerstag: „Bildung ist Union bei zentralen Reformen mit in die Wissen, denn genau darum ging es. nicht Aufgabe des Bundes.“ Verantwortung zu nehmen. Und wenn Bis zur letzten Stunde wurde gezerrt Müntefering, der Kritik sonst kühl aus- zwischen Bund und Ländern alles bleibt, und gezogen, gefeilscht und gepokert. Völ- zusitzen pflegt, reagierte dünnhäutig. Im wie es ist – der Kanzler hat gelernt, damit lig überraschend forderten die Ostländer, SPD-Präsidium nahm er Justizministerin zu leben. unterstützt von Koch („Damit habe ich Zypries („Was kriegen wir denn dafür?“) In dieser von Tabus, Eitelkeiten und tak- überhaupt kein Problem“), die Festschrei- frontal an: „Geb ich dir, gibst du mir“, tischen Finessen belasteten Situation konn- bung des Solidarpakts II im Grundgesetz. fauchte er, „dieses eins gegen eins ist mit te der Versuch der föderalen Institutionen, „Unsinnig“, fand selbst der ostdeutsche mir nicht mehr zu machen.“ Als er in sich aus eigener Kraft zu reformieren, am Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. der SPD-Fraktion heftig kritisiert wurde, Ende mangels Verhandlungsmasse nicht Den Strafvollzug oder das Messewesen raunzte er den ostdeutschen SPD-Abge- gelingen. Die einfach klingende Idee, mög- hatte der Bund den Ländern zu diesem ordneten Stephan Hilsberg unsanft an: lichst viele der verflochtenen Kompetenzen Zeitpunkt schon ohne Gegenleistung über- „Das verbitte ich mir.“ auseinander zu sortieren, erwies sich als lassen, doch die Länder gaben keine Auch an Stoiber zerrten die Nerven. In praktisch undurchführbar. Ruhe. Wenn die Zentralgewalt das Bun- der Ministerpräsidentenkonferenz regte Ob bei Steuerrecht, Umweltschutz oder deskriminalamt stärken wolle, müsse sie sich der CSU-Chef so heftig über die Sozialstaat, im Wirtschaftsrecht oder in der beim Katastrophenschutz Zuständigkeiten Beiträge des Niedersachsen Wulff auf, dass Forschungsförderung: In nahezu allen ge- abgeben – auch wenn nach Unglücken und Gastgeber Klaus Wowereit ihm nicht mehr setzlichen Materien, die zur Diskussion Naturkatastrophen regelmäßig der Ruf das Wort erteilen wollte und ihn mit sanf- standen, erwies sich schnell, dass der Bund die Probleme zumeist besser lösen kann als die Gliedstaaten – und dass die ganz froh sind, wenn ihre Verantwortung sich auf Veto-Positionen im Bundesrat begrenzt. Freizeitlärm und Strafvollzug waren schließlich Materien, die man den Kleinen anvertrauen wollte. Schon beim Strafvoll- zug gab es Geschrei. Sind die armen Län- der nicht zu schwach, ihren Delinquenten einen verfassungsmäßigen und sozial sinn- vollen Vollzug zu garantieren? „Wenn man den Ländern nicht mal mehr das zutraut“, heißt es im Berliner Justizministerium, dann könne man sie „vergessen“. Wozu noch Länder? Die Frage stand in der Kommission mehr als einmal im Raum. „Die wollen ja gar nicht“, war wiederholt die Entdeckung der Bundesjustizministe- rin, wenn es um die Reaktion auf Zustän- digkeitsangebote bei den Verhandlungen ging. Was Wunder, dass die 16 sich in die-

MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN ser Situation knüppelhart zeigten, wenn es Kanzler Schröder*: Geringschätzung für die Bemühungen seines Parteichefs – vernünftig oder nicht – um die Verteidi- gung der einzigen Kompetenz ging, die sie nach einer zentralen Koordinationsstelle ter Stimme bat, „sich erst mal zu beruhi- nun mal schon immer hatten und die der laut wird. gen“ und „wieder runterzukommen“. Kleinstaaterei noch so etwas wie Gewicht Beim heiklen Europa-Thema das gleiche Über die kompromissbereiten SPD-Län- gibt: der Bildungspolitik. Bild: Bis zuletzt bestanden die Länder dar- derfürsten Platzeck und Ringstorff spotte- Dem schwerwiegenden Konstruktions- auf, in Brüssel vorstellig werden zu dürfen, te Wulff: „Dann werden Brandenburg und fehler des Grundgesetzes war so jedenfalls selbst wenn das deutsche Gewicht dadurch Mecklenburg-Vorpommern eben Verwal- nicht beizukommen: dem generellen Zu- regelmäßig leidet. Doch am Ende waren tungsprovinzen des Bundes.“ stimmungsvorbehalt für Länder, die von es die Bildungskompetenzen, die das Nur einer hatte sich mit untrüglichem ihrer Struktur und ihrer Größe her gar „Jahrhundertprojekt“ scheitern ließen. Instinkt aus allem herausgehalten: Gerhard nicht politikfähig sind. So ein Föderalis- Ähnlich wie Stoiber stand auch Münte- Schröder. Frühzeitig stellte er eine maxi- mus ist in Wahrheit Zentralismus ohne fering unter wachsendem Druck. Vor allem male Distanz zu der Großreform her, Zentrale. die Regierungsbank legte sich quer. In- mahnte Müntefering lediglich, nicht zu viel Was als Beweis für die Reformfähigkeit nenminister Otto Schily („Ich bin ein Zen- Bundesterrain preiszugeben, und bemüh- des deutschen Föderalismus gedacht war, tralist“) pochte ebenso auf die Kompeten- te sich ansonsten, mit dem Thema nicht in schlug ins Gegenteil um. Verfassungs- zen des Bundes wie die Kolleginnen für Verbindung gebracht zu werden. rechtler verweisen schon verheißungsvoll Justiz und Bildung, Brigitte Zypries und Hartnäckig wehrte er zuletzt alle Fra- auf den Grundgesetz-Artikel 146, der dem Edelgard Bulmahn. gen zur Kommission ab. Im Kabinett am deutschen Volk noch immer die Chance Auf der anderen Seite verlangten die vergangenen Mittwoch gab er deutlich gibt, nach seiner Wiedervereinigung eine SPD-Ministerpräsidenten seit Wochen zu- zu erkennen, was er von den möglichen Nationalversammlung zu wählen, die dem sätzliche Befugnisse für die Länder – auch Erfolgsaussichten hielt: „Einer muss es Land eine neue Verfassung verpasst. „An- bei der Bildung. NRW-Ministerpräsident am Ende ja auch unterschreiben.“ Ge- ders“, sagt etwa der Kommissionsexperte Steinbrück etwa attackierte seine Genossin ringschätziger hätte er die Bemühungen Meyer, „kommen wir aus dem Schlamassel seines Parteichefs kaum kennzeichnen nicht mehr raus.“ Thomas Darnstädt, können. Konstantin von Hammerstein, * Am vorigen Donnerstag im Kanzleramt bei der Sitzung Horand Knaup, Sven Röbel, der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten der Die Zurückhaltung Schröders hatte gute Christoph Schult Länder zur Föderalismusreform. Gründe. Für ihn ist es ein Vorteil, die

26 der spiegel 52/2004 JENS WOLF / DPA JENS WOLF Generalsekretär Meyer, Parteichefin Merkel: Lückenlose Offenlegung erwartet

AFFÄREN Laurenz Nimmersatt Der engste Mitarbeiter von Parteichefin Angela Merkel hat als Politiker und Strom-Manager doppelt – und wahrscheinlich sogar dreifach – kassiert. Erste Erkenntnisse, die in einen Bericht für den RWE-Aufsichtsrat einfließen werden, könnten die Karriere des CDU-Politikers vorzeitig beenden.

aurenz Meyer, 56, ist ein Freund sau- Regierung auf, nur ja nicht erst auf den frei- che verschlagen. Ein Termin, bei dem ihm berer Sitten – unbeugsam in der Sa- willigen Rücktritt Gersters zu warten: „Herr zur Last gelegte fragwürdige Nebenver- Lche, seine Worte sind scharf bis scho- Clement muss ihn entlassen.“ dienste geklärt werden sollten, wurde kur- nungslos. Nur in eigener Sache hat es dem Mann zerhand abgesagt. Vor allem wenn es um die Verfehlungen am vergangenen Freitag zunächst die Spra- Laurenz Meyer läuft Gefahr, das Opfer von Sozialdemokraten geht, läuft der Ge- einer Karriereplanung zu werden, die sich neralsekretär der CDU zu moralischer UMFRAGE: POLITIKER-NEBENJOBS von Anfang an nicht eindeutig zwischen Höchstform auf. „Das ist nicht in Ord- Politik und Privatwirtschaft entscheiden nung“, rief er dem damaligen Bundesbank- „Die Nebentätigkeiten von konnte. Der Christdemokrat aus dem west- präsidenten Ernst Welteke zu. Der hatte fälischen Hamm verwies stets mit einem sich eine Silvesterparty nebst Übernach- Berufspolitikern sind verstärkt Stolz, der von vielen Unionsleuten als auf- tung im Berliner Nobelhotel Adlon von der kritisiert worden. Wie sollte Ihrer reizend empfunden wurde, auf jene „Rück- Dresdner Bank bezahlen lassen. Ansicht nach verfahren werden?“ fahrkarte“, die ihm sein vormaliger Ar- Auch Rudolf Scharping durfte im Som- beitgeber ausgestellt hatte. Nebeneinkünfte sollten mer 2002 nicht auf Gnade hoffen. In der Doch sein Vertrag mit dem Stromriesen anzeigepflichtig sein Öffentlichkeit war eine Kleiderrechnung RWE galt eben nicht nur als eine Art Ver- des PR-Unternehmers Moritz Hunzinger 25% sicherungsschein für die Zeit nach der Poli- für den Verteidigungsminister aufgetaucht. tik. Er war auch ein Wertpapier, das selbst Wurde hier etwa ein Politiker „gegen Ho- Nebeneinkünfte sollten anzeigepflichtig dann noch beträchtliche Rendite abwarf, norar tätig?“, fragte der strenge Christ- sein, und es sollte eine Obergrenze geben als Laurenz Meyer der Firma offenkundig demokrat, um sich die Antwort gleich kaum mehr zu Diensten stand. selbst zu geben: „Das ist ein unmöglicher 30% Bis April 2001 speisten sich seine Ein- Vorgang.“ nahmen aus einer Fülle von Quellen. Die Stets pochte Meyer auf das schnelle Ende Nebeneinkünfte sollten verboten sein regulären Diätenzahlungen wurden aufge- politischer Äffaren. Als im November 2003 polstert durch Bezüge und Gratifikationen Florian Gerster, damals Chef der Bundes- 41% der RWE – bis heute stottert der General anstalt für Arbeit, wegen umstrittener Be- TNS Infratest für den SPIEGEL vom 14. bis 16. Dezember; des Konrad-Adenauer-Hauses einen Kredit raterverträge ins Straucheln geriet, forder- rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ des Konzerns ab und erhält außerdem te der Chef-Adlatus von Angela Merkel die keine Angabe günstig Strom und Gas.

28 der spiegel 52/2004 Deutschland

Das VEW/RWE-Gehalt stieg in dieser der VEW mit dem größeren Stromkonzern Zeit auf zuletzt mehr als 200000 Mark an. RWE gewesen. Der CDU-Politiker – mut- Ein Teil der Bezüge stammte aus den maßten RWE-Manager – habe den An- leistungsabhängigen Tantiemen; das Jah- schluss nicht verlieren wollen, und er ver- resgehalt schwankte deshalb. lor ihn auch nicht. Der Vertrag wurde so- Seit seiner Wahl zum Oppositionsfüh- gar noch angepasst. rer konzentrierte sich der Manager voll auf „Das ist alles der Filz von gestern“, klag- die Parteiarbeit. Folgerichtig ließ er seinen te nun RWE-Chef Harry Roels, ein Nie- Vertrag bei VEW ruhen – zumindest vor- derländer, der erst seit Mai 2002 bei dem erst. Konzern ist, und gab im kleinen Kreis die Dem Höhenflug in der Politik folgte Parole aus: „Damit ist jetzt Schluss.“ Eine dann allerdings ein vermeintlicher Karrie- von ihm bereits eingesetzte Kommission reknick. Nach der verlorenen Landtags- soll nun nicht nur die problemträchtigen wahl im Mai 2000 überließ Meyer dem neu- Fälle aufklären – sondern darüber hinaus en CDU-Hoffnungsträger Jürgen Rüttgers einen Verhaltenskodex für die Zukunft ent- seinen Platz. wickeln. Die Partei bedankte sich artig. Meyer Aufklärungsbedarf hat möglicherweise wurde am 2. Juni 2000 zum Vizepräsiden- auch der nordrhein-westfälische Landtag. ten des NRW-Landtags gewählt – ein Job, Denn aus dem Handbuch des NRW-Parla- der ihm mit fast 13000 Mark und einer Auf- ments zumindest gingen irgendwelche Ver- wandspauschale Bezüge bescherte, die um änderungen von Meyers Tätigkeit lange 50 Prozent über denen einfacher Abge- Zeit nicht hervor. ordneter liegen. Am 23. Oktober 2000 weitete sich der Doch das hinderte ihn nicht, sich just Horizont des Christdemokraten in Rich- in diesem Moment an sein Angestellten- tung Bundespolitik. Angela Merkel hatte dasein zu erinnern. Ab Juni 2000 ließ ihn angerufen. Ihr war gerade ein Gene- VEW-Bezirksleiter Meyer (1998) VEW, auf Bitten Meyers, den vormals ru- ralsekretär abhanden gekommen – Meyer Verwaister Schreibtisch henden Kontrakt wieder aufleben. Das musste ran. bedeutete, dass die Geldzahlungen des Der 1,89-Meter-Mann wurde Chefstra- Meyer richtete sich in einem properen Konzerns an den Profi-Politiker wieder tege und oberster Propagandist der Christ- Doppelleben ein, das derzeit in all seinen flossen – und das offenbar ohne erkenn- demokraten. Die RWE aber ließ ihn nicht Verästelungen durchleuchtet wird. Der baren Gegenwert. los: Meyer erklärte öffentlich, er werde mit neue Aufsichtsratsvorsitzende der RWE, Hintergrund der Aktivierung des Ar- Antritt des neuen Amts die Beziehungen Thomas Fischer, drängt auf lückenlose beitsvertrags, so die Erkenntnis des Vor- zu seinem alten Arbeitgeber ruhen lassen. Aufklärung. Das interne Controlling er- stands, sei die damals anstehende Fusion Damit könne er aus diesem Vertragsver- stellt nun einen Bericht über alle Zahlun- gen, die der Konzern in den vergangenen Jahren Meyer und auch anderen Politikern gewährte. Noch sind die Kontrolleure unterwegs – „die müssen die Daten jetzt mühsam zu- sammenflöhen“, heißt es im Top-Manage- ment –, doch erste Ergebnisse lassen Böses ahnen. Demzufolge sind über 40 Politiker aus Kommunal- und Landesparlamenten sowie dem Bundestag betroffen. Der pro- minenteste ist Laurenz Meyer, der als jun- ger Volkswirt 1975 bei den Vereinigten Elektrizitätswerken (VEW) als Sachbear- beiter und im Rat der Stadt Hamm als CDU-Abgeordneter seine Karriere begann. Der seinerzeit 27-Jährige war lebens- froh, gelassen, „einfach ein netter Kerl“, wie Parteifreunde ihn damals empfanden. Nicht als verbissener Ellenbogenkämpfer, sondern eher als westfälische Frohnatur er- zielte er im Stammland der SPD schnell enorme Wirkung. Es ging nach oben – in Firma und Partei. Denn neben seinem Engagement bei VEW, wo er es schließlich zum Haupt- abteilungsleiter mit Dienstwagen-Berech- tigung brachte, arbeitete Meyer immer auch zielstrebig an seinem politischen Auf- stieg. 1990 zog er in den Düsseldorfer Landtag ein und wurde dort bereits sieben Jahre später zum stellvertretenden Frak-

tionschef gewählt – 1999 schließlich zum SONDERMANN RALPH Vorsitzenden. Landesvorsitzender Rüttgers: Mahnung zur Eile

der spiegel 52/2004 29 Deutschland hältnis auch keine Gehaltsansprüche ab- zum CDU-General erwähnte er jedenfalls 6000 Kilowattstunden Tag- und 10000 Ki- leiten. nicht. Auch was sich hinter dem von ihm lowattstunden Nachtstrom, die zu unter 20 Noch vorvergangenen Freitag beteuerte verwendeten Terminus einer „üblichen Re- Prozent des Marktpreises bezogen werden der Spitzenpolitiker gegenüber dem SPIE- gelung für die Betriebspension“ verbirgt, können. GEL, er habe seit seiner Wahl zum Gene- lässt der Parteichrist im Vagen. Gerade für Für den neuen Vorsitzenden des Auf- ralsekretär keinerlei Gehalt von RWE be- leitende Angestellte sind derartige Be- sichtsrats, Thomas Fischer, ehemals Deut- zogen. Allerdings habe er zu Beginn des triebspensionen häufig ziemlich lukrativ. sche-Bank-Manager und heute Chef der Jahres 2001 noch „irgendeine Ausschüt- Vieles spricht dafür, dass die bisherigen WestLB, stellen alle diese Privilegien für tung“ bekommen. Erklärungen Meyers immer noch nicht Politiker ein Reputationsrisiko dar. Des- Die Wahrheit freilich sieht wohl anders vollständig sind. Erste Ergebnisse der halb, so heißt es in dem Unternehmen, aus – wie Meyer mittlerweile einräumen RWE-internen Recherchen zeichnen sich habe Fischer bereits Anfang voriger Woche musste. Denn auch nach seiner Ernennung ab. Denen zufolge hat er neben seinem schriftlich einen ausführlichen Bericht zu zum Chefmanager der CDU erhielt er Gehalt Gelder eingestrichen, die in ih- den Vorgängen angefordert. Zahlungen – und das in stattlicher Höhe. rer Höhe einem weiteren Jahresgehalt Nach den bisherigen Erkenntnissen hat Von Juni 2000 bis April 2001 ließ ihm entsprechen, mindestens also einen Be- RWE dabei keineswegs nur Unionspolitiker VEW/RWE Monat für Monat sein vertrag- trag von 130000 Mark. Wofür er aber so gepäppelt. Vor allem bei der SPD wech- selten ehemalige Betriebsräte, die immer noch freigestellt sind – und damit weiter ihr Gehalt beziehen –, in die Parlamente. Angela Merkel will nicht auf das Ergeb- nis der Revision warten und drängte Mey- er deshalb zur Präsentation aller Details. Und das umso energischer, als der Gene- ral selbst seine Vorsitzende nur unzurei- chend informierte. Im CDU-Präsidium be- richtete er zwar ausführlich über sein Strom-Deputat, blieb ansonsten aber im Ungefähren. Gleichwohl stellte sich die Unionschefin einstweilen noch hinter ihn. Ihre Solida- ritätsadresse verband sie dabei ausdrück- lich mit einem Verweis auf die Mehrheits- meinung im Führungsgremium der Partei: „Herr Meyer hat das dargelegt, was er auch in der Öffentlichkeit dargelegt hat. Das ist gemeinhin akzeptiert worden.“ Als am Donnerstag vergangener Woche über die Ticker lief, dass Meyer von der RWE noch Monate nach seiner Berufung als Generalsekretär Geld erhalten habe,

PAULMICHEL.DE „waren wir doch sehr überrascht“, gesteht ein Merkel-Vertrauter. In einem erneuten lich fixiertes Gehalt und darüber hinaus fürstlich honoriert wurde, vermochten Gespräch machte die Vorsitzende ihrem eine Tantieme zukommen. Seine damali- bis Freitagabend vergangener Woche we- Hilfssheriff, mit dem sie bis heute per Sie gen Jahresbezüge lagen – je nach Höhe der der der Vorstand noch der Aufsichtsrat verkehrt, unmissverständlich klar, dass sie leistungsbezogenen Tantieme – zwischen zu klären. eine lückenlose Offenlegung seiner RWE- 130000 und 200000 Mark. Schwer fassbar ist für viele in Düssel- Verbindungen erwarte. Die Unterredung, Meyer selbst musste deshalb am ver- dorf, dass sich Meyer nicht nur als Merkels so ein Teilnehmer, sei durch sachliche Küh- gangenen Freitag sein Dementi zurück- Generalsekretär monatelang von RWE ali- le geprägt gewesen. nehmen. In der Tat, so der Spitzenpolitiker, mentieren ließ – zusätzlich kassierte er Die Unionsgranden versuchen sich noch der für seine Partei gerade eine bundes- noch bis Dezember 2002 seine Diäten als im Zaum zu halten – aber die Zeit scheint weite Wertedebatte angezettelt hatte, habe Landtagsabgeordneter in Düsseldorf, was gegen Meyer zu arbeiten. Vor allem Jürgen er seit seiner Wahl zum CDU-General noch damals schon Gegenstand heftiger Debat- Rüttgers, der Spitzenkandidat bei der im rund 60000 Euro bezogen – „für das Ab- ten war. „Politische Vielweiberei“, spotte- Mai anstehenden NRW-Landtagswahl, arbeiten und geordnete Übergeben von te seinerzeit Reiner Priggen, Fraktionsvize mahnt zur Eile. vorhandenen Tätigkeitsfeldern“. der Grünen. Der Düsseldorfer Oppositionsführer Im Klartext heißt das: Meyer brauchte Anders ausgedrückt: Für einige Monate musste sich schließlich erst vor wenigen fünf Monate, um seine Tätigkeit von gera- bezog Meyer wohl drei Gehälter. Die CDU Tagen auf Drängen Merkels von seinem de mal sechs Monaten korrekt zu been- bezahlte ihn als Generalsekretär, RWE Schatten-Arbeitsminister Hermann-Josef den. Was er in dieser kurzen Zeit für den honorierte den Manager, und Nordrhein- Arentz trennen. Der stand ebenfalls auf Konzern getan hat, weiß bei RWE niemand Westfalen überwies dem Landtagsabge- der Gehaltsliste von RWE – allerdings bis so ganz genau. Der Christdemokrat spricht ordneten sein Geld. in den Dezember 2004 hinein. wolkig von „aktiv geleisteten Dienstjah- Erst Ende April 2001 endeten die Ge- Rüttgers erwartet nun ein ebenso hartes ren“ und „einer Zuarbeit für den Marke- haltszahlungen der RWE – offenbar auf Durchgreifen der Bundespartei in Sachen tingvorstand“; konkreter kann oder mag er Drängen der Konzernspitze. Andere Vor- Meyer. „Wir haben unsere Handlungs- nicht werden. teile aus dem Vertragsverhältnis freilich fähigkeit bewiesen“, so einer seiner Ver- Bewusst unscharf bleibt Meyer vor allem blieben dem christdemokratischen Nim- trauten, „jetzt ist Berlin dran.“ bei der Höhe seiner Gesamtbezüge – die mersatt auch dann noch erhalten. Jeder Frank Dohmen, René Pfister, Zahlungen für die Monate vor seiner Wahl Mitarbeiter hat in der Regel Anspruch auf Wolfgang Reuter, Barbara Schmid

30 der spiegel 52/2004 Abgeordnete im Bundestag „Verschleiertes steuerfreies Einkommen“

„Ein Nicht-Abgeordneter müsste – bei einem Spitzensteuersatz von derzeit 45 Prozent – im Jahr 94 693 Euro als Wer- bungskosten oder Betriebsausgaben aus- geben und geltend machen, um eine Steuerermäßigung in Höhe der jährlichen Abgeordnetenpauschale von aktuell 42612 Euro zu bekommen.“ Doch auch „dann ist er nicht etwa reicher, sondern immer noch um rund 52000 Euro ärmer geworden“. Bei vielen Abgeordneten aber, so Balke, lägen die tatsächlichen Berufsaufwendun- gen weit unter 42000 Euro. „Die Kosten für

MARCO-URBAN.DE ihre Berliner Büros bezahlt die Bundes- tagsverwaltung, ebenso die Gehälter ihrer ordnete, sondern auch die deutsche Fi- Mitarbeiter bis zu einem Höchstsatz von STEUERN nanzverwaltung mächtig in die Bredouille knapp 10000 Euro monatlich.“ bringen könnte. Deshalb sei die Pauschale „in Wirklich- Diskriminierung Denn sollte Winterhalter den Rechts- keit zu einem großen Teil verschleiertes streit, den er „bis zum Bundesverfassungs- steuerfreies Einkommen der Abgeordne- gericht durchfechten“ will, gewinnen, steht ten“. Der CDU-Finanzexperte Friedrich des Volkes womöglich mehr auf dem Spiel als das Merz denke offenbar ähnlich. In der Be- Steuerprivileg der Volksvertreter. gründung seiner Leitsätze für eine radikale Der Bundesfinanzhof hat die Klage Eine Gleichstellung von Normalbür- Vereinfachung des deutschen Einkommen- gern und Parlamentariern könnte – wie steuersystems („Bierdeckel-Rechnung“) eines Steuerzahlers für zulässig schon die Richter des baden-württember- habe er „steuerfreie Abgeordnetenbezüge“ erklärt, der deutschen Abgeordneten gischen Finanzgerichts in ihrer Urteils- ausdrücklich zu den Steuervergünstigun- ans Geld will. Der Vorwurf: begründung argumentierten – „dazu füh- gen gezählt, die gestrichen werden sollten, verfassungswidrige Privilegien. ren, dass die Grundlage der Finanz- und um „zur Gleichmäßigkeit der Besteue- Haushaltsplanung des Bundes, der Länder rung“ zurückzukehren. chon als Student hat sich Christian und der Gemeinden erheblich beeinträch- Komisch nur: In der überarbeiteten Ver- Winterhalter über das komplizierte tigt würde“. sion des Merz-Konzepts, die später vom Sdeutsche Steuerrecht geärgert, be- Bereits jetzt droht den CDU-Parteivorstand verab- sonders aber über „Volksvertreter, die sich Finanzbehörden durch den schiedet wurde, fehlte ausge- wie Fürsten Privilegien genehmigen, die Vorstoß des Anwalts heftiges rechnet dieser Vorschlag. sie ihren Wählern vorenthalten“. Ungemach. Denn mit Verweis Nicht zuletzt deshalb freut Das Thema ließ ihn nicht mehr los. Im auf das Verfahren am Bundes- sich Balke, dass jetzt „Bewe- Jahr 2000, Winterhalter war mittlerweile finanzhof (Az.: VI B 91/03) gung in die Sache kommt“ – Rechtsanwalt und Geschäftsführer einer kann jeder Steuerzahler sei- auch wenn mit einer Ent- Steuerberatungsgesellschaft, legte er beim nen Bescheid anfechten und scheidung erst in einigen Jah- Finanzamt Freiburg-Land Einspruch gegen beantragen, dass sein Verfah- ren zu rechnen ist. seinen Einkommensteuerbescheid ein. ren bis zur Entscheidung ruht. Denn die Richter des BFH Er verlangte, was in Deutschland bislang Winterhalter hat dies „für werden sich mit der Frage aus- nur Parlamentariern vergönnt ist: eine Hunderte Mandanten“ bereits einander setzen müssen, ob steuerfreie Aufwandspauschale von über getan. Auch die Finanzgerich- die derzeitige Praxis gegen

30 Prozent des Bruttoeinkommens, ohne te in Hessen und Sachsen-An- ROTHERMEL das Grundgesetz verstößt. Im belegen zu müssen, ob die Kosten tatsäch- halt haben ähnlich lautende Kläger Winterhalter Zweifel müssen sie den Fall lich angefallen sind. Alles andere verstoße Klagen inzwischen ausgesetzt „Bis zum Verfassungs- dem Bundesverfassungsge- gegen das in Artikel 3 Absatz 1 des Grund- und warten auf höchstrichter- gericht durchfechten“ richt vorlegen. Erst danach gesetzes festgeschriebene Gleichbehand- liche Klarstellung. „Wenn die kann der BFH entscheiden. lungsgebot. Schließlich müssten normale Bürger diese Möglichkeit massenhaft in Doch auch wenn es gewöhnlichen Steuerbürger alle Werbungskosten, die Anspruch nehmen“, schätzt Michael Balke, Steuerzahlern letztendlich nicht gestat- über den sogenannten Arbeitnehmer- Richter am niedersächsischen Finanzge- tet werden sollte, gut 30 Prozent ihres Pauschbetrag von 1044 Euro (heute 920 richt in Hannover, „dann liegt die Finanz- Einkommens pauschal steuerfrei zu kas- Euro) hinausgehen, einzeln nachweisen. verwaltung bald lahm.“ sieren, könnten die Richter den Gesetz- Die Beamten stellten sich stur. Winter- Auch der in Dortmund lebende Jurist geber immerhin verpflichten, die Privi- halter zog vor das Finanzgericht Baden- hält die steuerfreie Abgeordnetenpauscha- legien der Parlamentarier zu streichen. Württemberg, doch dessen Richter wiesen le für verfassungswidrig und hat im April Schon damit, so Balke, sei „für alle viel die Klage ab und erklärten lapidar: „Die beim nordrhein-westfälischen Finanzge- gewonnen“. Revision wird nicht zugelassen.“ Jetzt die richt in Münster dagegen geklagt. „Die Pri- Seine Hoffnung: „Wenn deutsche Abge- Sensation: Der Bundesfinanzhof (BFH) vilegierung der Vertreter des Volkes“, so ordnete erst einmal, wie ihre österreichi- widersprach den Baden-Württembergern, Balke in der schriftlichen Begründung sei- schen Kollegen, Belege sammeln müssen, erklärte die Revision für zulässig und nahm nes Antrags, „ist die Diskriminierung des werden sie merken, wie kompliziert und sich des Falls an. Volkes.“ Wie die in der Praxis aussieht, bürokratisch das deutsche Steuerrecht ist, Eine weitreichende Entscheidung, die rechnet er am Beispiel der Einkünfte von und sich endlich um eine wirkliche Ver- nicht nur Landtags- und Bundestagsabge- Bundestagsabgeordneten vor. einfachung bemühen.“ Gunther Latsch

der spiegel 52/2004 31 Deutschland

AUSSENPOLITIK Schröders neue Mitte Riskante Doppelstrategie im Kanzleramt: Allen deutsch-amerikanischen Freundschaftsbekundungen zum Trotz will der Berliner Regierungschef an seiner subtilen Anti-Bush-Politik festhalten. Das gute Verhältnis zu Russlands Präsident Putin soll gleichzeitig neue Spielräume nach Osten eröffnen.

n diesem Montag ist es wieder so weit: Um 17 Uhr wird Bundeskanz- Aler Gerhard Schröder auf dem Roll- feld in Hamburg-Fuhlsbüttel stehen, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich vom Flughafen abzuholen – pro- tokollarisch eine ganz besondere Geste. Zwei Tage will Putin in Deutschland sein, es wird viele freundliche Worte geben und einige herzliche Umarmungen, und es gilt als abgemacht, dass Schröder seinen Gast nicht mit öffentlichen Fragen zur Ukraine- oder Tschetschenien-Politik in Verlegen- heit bringt. Natürlich werden wieder einige Ab- kommen und Verträge unterzeichnet, zum Jugendaustausch etwa oder zum Meeres- schutz. Aber eigentlich geht es darum, dass man sich sieht und gut versteht – und das auch aller Welt zeigt. Ende Februar kommt ein anderer Präsi- dent. Dann wird der Amerikaner George W. Bush Kanzler Schröder die Hand schüt- teln, so ist es jedenfalls derzeit geplant. Man wird leicht verkniffen lächeln, es wird von der „Bedeutung des transatlantischen Bündnisses“ die Rede sein, und im Hin- tergrund werden die jeweiligen Berater ihre Lesart dazu verbreiten, wie ein Mienen- spiel oder Händedruck zu verstehen war. Noch ist nichts wirklich beschlossen. Es gibt viele Ideen, wo Schröder und Bush zusammentreffen könnten. Die Amerika- ner haben Heidelberg oder Rothenburg ob der Tauber genannt, jedenfalls einen „pit- toresken Ort“, wie es US-Sicherheitsbera- terin Condoleezza Rice wünscht. Die Deut- schen haben Frankfurt (Oder) empfohlen. Schon jetzt verziehen die Protokollbeam-

ten das Gesicht, wenn sie an die schwieri- BIMMER / AP FABIAN gen Verhandlungen denken, die ihnen be- Politikerfreunde Schröder, Putin: Was jahrzehntelang normal war, gilt nicht mehr vorstehen. Zupackende Freundlichkeit hier, vor- Amerikaner hingegen, für alle Kanzler seit lich in den Gesprächen gut mit ihm aus“, sichtiges, etwas verkrampftes Lavieren dort Konrad Adenauer „unsere Freunde“, sagt Schröder über Bush. Oder: „Es gibt – wenn die Atmosphäre bei Staatsbesu- schrumpfen bei ihm zu „den Verbünde- die bekannten Auffassungsunterschiede, chen etwas über den Stand der Beziehun- ten“. Verbündete ist ein kühles, ziemlich aber das hält uns nicht davon ab, vertrau- gen sagt, dann gibt es ein deutliches Tem- technisches Wort – und so gesehen viel- ensvoll miteinander zusammenzuarbei- peraturgefälle zwischen Moskau, Berlin leicht auch ein sehr wirklichkeitsnahes. ten.“ Der Kanzler bedient sich so demon- und Washington. Was jahrzehntelang nor- Die Bundesregierung ist dabei, das Land strativ der diplomatischen Floskeln, dass mal war, gilt nicht mehr. Es ist noch nicht neu zu positionieren – in größerer Distanz jeder sie als solche erkennen kann. lange her, dass die Amerikaner vom Flug- zu den USA und in engerer Anlehnung Es ist eine kunstvolle Doppelstrategie. hafen abgeholt wurden, während man die an Russland. Nahezu geräuschlos verschie- Man wahrt den Ton im Umgang mit der Russen in Protokollfragen verstrickte. ben sich die Gewichte in der deutschen ehemaligen Schutzmacht Amerika – und Von „unserem Partner“ spricht Schrö- Außenpolitik. herzt den zum Partner aufgestiegenen der, wenn die Rede auf den einstigen Wi- Öffentlich bemüht sich Schröder um ein Feind von früher. Der Kontrast macht die dersacher im Kalten Krieg kommt. Die Bild der Normalität. „Ich komme persön- Botschaft.

32 der spiegel 52/2004 „Nüchtern“ ist das erste Wort, das fällt, ministerin Rice geredet, ein überraschend Nachdem Scharioth in Berlin berichtet wenn man Diplomaten in Berlin bittet, angenehmes Gespräch, wie er fand. hatte, erinnerte man sich sogleich an ein die deutsch-amerikanischen Beziehungen Umso größer war das Erstaunen, als Zitat des US-Generals a.D. Tommy Franks, zu beschreiben. Von einer „Vernunftehe“ Scharioth nun gleich mit einer ganzen Lis- ehemaliger Oberbefehlshaber im Irak- spricht der SPD-Außenpolitiker Hans-Ul- te an Vorhaltungen konfrontiert wurde, die Krieg, über Feith: „Ich muss mich fast rich Klose. „Quo vadis, deutsch-amerikani- Feith erkennbar im Auftrag seines Vor- jeden Tag mit dem größten Vollidioten sches Verhältnis?“, sinnierte Außenminister gesetzten vom Blatt ablas. herumschlagen, der auf Gottes Erdboden Joschka Fischer neulich vor Vertrauten. Ganz oben stand eine Strafanzeige, die herumläuft.“ Im Augenblick sind es die Amerikaner, die New Yorker Menschenrechtsorganisa- Erwähnt einer im Kanzleramt nur den die sich bemühen, und die Deutschen lassen tion „Center for Constitutional Rights“ ge- Namen Franks, wissen alle, gegen wen sich das auch alle Welt wissen. Immer wieder gen Rumsfeld bei der Bundesanwaltschaft das richtet. wiesen die außenpolitischen Berater des Kanzlers in der vergangenen Woche darauf hin, dass die angekündigte Februar-Visite von Bush eine Idee der US-Administration sei – niemand soll den Eindruck gewinnen, die Deutschen wollten sich anbiedern. Tatsächlich geht alles auf einen Besuch des US-Senators Richard Lugar in Berlin zurück. Er hatte von Schröder gehört, dass Bush selbstverständlich willkommen sei. Nach Washington zurückgekehrt, machte Lugar in einer Pressekonferenz daraus eine ausdrückliche Einladung. Unklar ist aus deutscher Sicht, ob die transatlantische „Charmeoffensive“ nur dazu dienen soll, das Atmosphärische zu verbessern, oder ob die Amerikaner bereit sind, in Sachfra- gen auf die Europäer zuzugehen. Aufmerksam verfolgen Schröder und Fi- scher, wer in Washington im Zuge der Ka- binettsumbildung auf frei werdende Posten

aufrückt. Bislang haben sie den Eindruck, / AFP SMIALOWSKI BRENDAN dass es nicht die Entspannungspolitiker US-Präsident Bush*: Suche nach einem „pittoresken Ort“

Der Irak ist nicht der einzige Streitpunkt. Starke Westbindung Die Amerikaner beobachten skeptisch- spöttisch, wie die Deutschen sich auf einen Deutscher Außenhandel 2003, in Milliarden Euro ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat zu drängeln versuchen. Bislang hat die US-Re- Einfuhr aus gierung sich dazu nicht offiziell geäußert, 39 USA aber viele Diplomaten vermuten, dass die Amerikaner blockieren werden. Ausfuhr nach Es gibt aus Schröders Sicht einiges, was 61,7 für seine außenpolitische Doppelstrategie im Umgang mit Moskau und Washington spricht. Das beginnt auf der persönlichen Einfuhr aus 13,4 Ebene. Mit Putin kann er Deutsch reden, Vier-Augen-Gespräche sind, wenn die bei- RUSSLAND den zusammentreffen, wirklich Vier-Augen- Ausfuhr nach 12,1 Gespräche. Beide haben sich aus kleinen Quelle: Statistisches Bundesamt Verhältnissen nach oben gearbeitet. Sein Loyalitätsgefühl für den Partner im Osten geht mitunter so weit, dass er meint, sind, die aufsteigen. In Washington tobe in Karlsruhe eingereicht hat und die dort Putin gegen jede Kritik in Schutz nehmen ein Richtungskampf zwischen gemäßigt ra- nun geprüft werden muss. Die Bundes- zu müssen – dann nennt er den Russen ei- dikalen Konservativen und richtig radika- regierung müsse dieses Verfahren sofort nen „lupenreinen Demokraten“ und attes- len, spottet ein Spitzendiplomat. beenden, verlangte Feith erregt, ansonsten tiert ihm, Russland „aus innerer Überzeu- Erst Anfang des Monats hat es wieder könne der Pentagon-Chef diesmal nicht gung“ zu einer Zivilgesellschaft entwickeln ordentlich gerumst. Da traf Fischers Staats- bei der Sicherheitskonferenz im Februar zu wollen. Es sind spontane Gesten, Au- sekretär Klaus Scharioth, ein echter Ame- in München erscheinen. Als Scharioth auf genblicksübertreibungen, aber sie zeigen, rika-Freund, im Pentagon auf Douglas die Unabhängigkeit der deutschen Justiz wie verbunden sich Schröder dem Kreml- Feith, dort ebenfalls Staatssekretär und hinwies und hinzufügte, dass die Anzeige Herrscher fühlt. einer der engen Vertrauten von US-Ver- keine Aussicht auf Erfolg habe, ging Feith Mit Bush hingegen war es von Anfang an teidigungsminister Donald Rumsfeld. Scha- einfach zum nächsten Klagepunkt über: schwierig. Schröder, der bei Statutsfragen rioth war gekommen, um sich einen Ein- Die Deutschen würden im Irak nicht ge- sehr empfindlich reagieren kann, hat sich druck über den künftigen Kurs der ameri- nug tun. in der Einschüchterungskulisse von Wa- kanischen Außenpolitik zu verschaffen. shington immer unwohl gefühlt. Bush ver- Zuvor hatte er mit der designierten Außen- * Bei einer Militär-Veranstaltung in Philadelphia. übelt ihm bis heute, dass der Kanzler sei-

der spiegel 52/2004 33 Deutschland ner Meinung nach bei einem Zusammen- treffen versprochen habe, die amerikani- sche Irak-Politik nicht zum Wahlkampf- thema zu machen. Er fühlt sich von dem Deutschen getäuscht. Schröders persönliche Neigungen ent- sprechen aufs schönste der Interessenlage des Landes, so wie er es sieht. Russland ist für ihn vor allem ein Reich großer Mög- lichkeiten. Der Riesenstaat im Osten wer- de in den nächsten 20 bis 30 Jahren einer der größten Handelspartner Deutschlands, ist seine Prognose. Schon heute deckt die Bundesrepublik ein Drittel ihres Öl- und Erdgasbedarfs mit Lieferungen aus Russland. Das Export- volumen hat sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdreifacht, ist allerdings noch weit entfernt vom deutschen Umsatz in Amerika (siehe Grafik Seite 33). Putin hat immer ein offenes Ohr für die

Bitten des Bundeskanzlers, er schaltet sich, / AFPJEWEL SAMAD wo es Not tut, auch persönlich ein, das ver- Anschlag auf US-Konvoi (in Bagdad): Das Nein zum Irak-Krieg half beim Wahlsieg tieft naturgemäß eine Freundschaft. Er war den Schröders bei der Adoption eines können eine sehr wirksame Waffe im Wahl- Vor dem nun angekündigten Bush-Be- russischen Kindes ebenso freundschaftlich kampf sein, wie er gemerkt hat. Schröder such ist bislang nur klar, dass der US-Prä- wie diskret behilflich, und er hat dabei und Fischer werden nicht vergessen, dass es sident am 22. Februar nach Brüssel kommt, ihr Nein zum Irak-Krieg war, das die Stim- um mit Nato-Generälen zu reden und auch mung im Wahljahr 2002 zu ihren Gunsten mit Vertretern der EU. Am nächsten Tag, umschlagen ließ. Ein schöner Nebeneffekt so die Überlegung, könnte er dann nach des außenpolitisches Kurses in die neue Deutschland fliegen. Mitte ist, dass er Angela Merkel Probleme Es gibt viel zu besprechen. Mehrere Tage im eigenen Lager bereitet. Die CDU-Che- war der außenpolitische Berater des Kanz- fin hat sich früh auf eine sehr amerikaf- lers, Bernd Mützelburg, gerade in Washing- reundliche Politik festgelegt, trotz Skepsis ton, um mit seiner Noch-Amtskollegin Rice in weiten Teilen der Union. Details abzustimmen. Die Amerikaner wol- Keine Frage, niemand im Kanzleramt len sicherstellen, dass der Besuch wenigstens oder im Außenministerium denkt ernsthaft mit irgendeiner Absichtserklärung endet. daran, Deutschland aus der Bindung an Alles andere sähe für Bush wie ein Miss- die USA herauszulösen und in eine Art erfolg aus – er hätte die Hand ausgestreckt Äquidistanz zu Washington und Moskau zu und der andere sie nicht ergriffen. bugsieren. Es geht mehr darum, Optionen Im Augenblick werden zwei Varianten zu eröffnen, Spielräume auszuweiten. durchgespielt. Wenn die Wahl Anfang des Schröders Annäherung an Russland ist Jahres im Irak einigermaßen geordnet ver- allerdings nicht ungefährlich. Was der läuft, könnten die Deutschen ihr Engage- Kanzler eine Partnerschaft nennt, ist bei ment für den Wiederaufbau noch einmal näherem Hinsehen eher ein Zweckbünd- erhöhen. Oder Bush erklärt seine aus-

GUSTAVO FERRARI / AP FERRARI GUSTAVO nis, bei dem wirtschaftliche Fragen und die drückliche Unterstützung für den Ver- US-Verteidigungsminister Rumsfeld Abgrenzung gegen die einzig verbliebene handlungskurs, den das EU-Trio Deutsch- Strafanzeige in Karlsruhe Supermacht im Mittelpunkt stehen. Und land, England und Frankreich gegenüber wie alle Bündnisse, die ihre Existenz al- Iran eingeschlagen hat, um das Mullah- geholfen, dass die Deutsche Bank an eine lein der Übereinstimmung von Interessen Regime zur Einschränkung seines umfang- führende Stelle im Konsortium rückte, das verdanken, kann es rasch enden. Loyalität reichen Atomprogramms zu bewegen. Die bislang die Übernahme des Ölkonzerns oder Großmütigkeit jedenfalls sind keine Europäer müssten im Gegenzug versichern, Jukos finanzieren sollte, den der Kreml Charakteristika solcher Verbindungen. dass sie bei einem Fehlschlag strengen wirt- gerade zerschlagen lässt. Die Deutschen haben in ihrer Geschichte schaftlichen Sanktionen zustimmen. Vergangenen Freitag hat die Deutsche mehrfach davon profitiert, dass die Ameri- Besondere Bedeutung wird der Route Bank die Kreditfinanzierung erst einmal kaner das Bündnis auch als eine moralische beigemessen. Bush möchte einen ameri- auf Eis gelegt, weil sie Milliardenklagen Verpflichtung betrachteten. Als SPD-Kanz- kanischen Truppenstützpunkt besuchen, von Jukos-Aktionären in Amerika fürchtet. ler Willy Brandt Ende der sechziger Jahre was Ramstein nahe legt. Die Deutschen Schröder hat trotzdem etwas davon. Die die Ostpolitik vorantrieb, ein ebenso erfolg- haben Mainz auf die Liste gesetzt. Gegen Hilfe des Kanzlers sei einfach unbezahl- reiches wie eigenständiges Kapitel deutscher Berlin spricht, dass ein Besuch dort zu sehr bar, lobte Deutsche Bank-Chef Josef Acker- Außenpolitik, ließen ihn die Amerikaner nach Normalität aussieht. Ein außenpoliti- mann kürzlich im kleinen Kreis. gewähren, trotz großer Bedenken. Brandt scher Berater fasst die Stimmung zusam- Die kühle Nähe zu den USA bietet eben- hatte zuvor Washington seine Beweggründe men: „Jeder kennt die roten Linien des falls viele Vorteile, jedenfalls aus Schröders erläutert – und sich ein grummelndes „Na, andern und versucht, sie nach Möglichkeit Sicht. Sein subtiler Anti-Amerikanismus dann macht mal“ abgeholt. In einem eng zu respektieren.“ Ralf Beste, trifft auf Zustimmung bis tief ins konserva- verstandenen amerikanischen Interesse lag Jan Fleischhauer, Georg Mascolo, Alexander Szandar tive Lager. Kleine Pfeile gegen Washington dieser Sonderweg nicht.

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Politik meiner Partei übereingestimmt. Ich fühle mich den Beschlüssen der Regierung Kohl verpflichtet. Er hat 1997 unterschrieben, „dass die Türkei für einen Beitritt zur EU in Frage kommt“. SPIEGEL: Das war früher, jetzt sind Sie isoliert. Rühe: Wenn Sie sich in Europa umse- hen, dann bin nicht ich isoliert, sondern Frau Merkel, die ihre Linie noch nicht einmal bei den anderen konservativen Parteien durchsetzen konnte. Aber ich gebe zu, dass ich mir eine solche Situa- tion nie vorstellen konnte. In den acht- ziger Jahren habe ich die vernünftigen Atlantiker in der SPD bemitleidet, als ihre Partei nach links driftete. Gott sei Dank kann dir etwas Vergleichbares in der CDU nicht passieren, dachte ich. Da habe ich mich getäuscht.

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES SEAN GALLUP SPIEGEL: Dass die EU sich an der Tür- CDU-Außenpolitiker Rühe: „Es gibt keinen Automatismus, aber eine große Chance“ kei überheben könnte, ist für Sie kein Argument? Rühe: Ich respektiere jeden, der die politi- UNION sche Vertiefung der EU in Gefahr sieht. Aber mein Eindruck ist, dass die Spitzen von CDU und CSU den Beitritt aus innen- „Frau Merkel ist isoliert“ politischem Kalkül ablehnen. SPIEGEL: Woraus schließen Sie das? Der christdemokratische Außenpolitiker Volker Rühe über die Rühe: Etwa aus dem neuesten Antrag der CDU/CSU-Fraktion, der davor warnt, die Türkei-Politik Helmut Kohls und der CDU/CSU-Führung Gefahr für die innere Sicherheit wachse, wenn ein muslimisches Land EU-Mitglied SPIEGEL: Helmut Kohl hat sich in der ver- Rühe: Damit kehrt er seiner eigenen werde. Das Gegenteil ist richtig: Wenn wir gangenen Woche gegen einen Beitritt der langjährigen Politik den Rücken. Außer- die Türken sozusagen aus Europa raus- Türkei zur Europäischen Union ausge- dem lässt er einen EU-Beschluss von 2002 schmeißen, bekommen wir größere Pro- sprochen. Haben Sie damit Ihren letzten außer Acht: Die Türkei muss zu Beginn bleme mit Fundamentalismus und Gewalt. Verbündeten verloren? der Verhandlungen nicht schon alle Auf- SPIEGEL: Also spricht alles dafür, dass die Rühe: Anders als in den Äußerungen von nahmekriterien, sondern nur die politi- Türkei Mitglied wird? Edmund Stoiber und Angela Merkel ist bei schen erfüllen. Das ist nach dem Urteil der Rühe: Es gibt keinen Automatismus, aber Kohl keine Rede davon, dass die Türkei Kommission jetzt der Fall. In dieser Be- eine große Chance. Doch wer weiß, ob An- nicht Mitglied werden darf. Er sagt, sie wertung unterscheide ich mich von Kohl. kara am Ende wirklich beitreten will? Die kann nicht Mitglied werden, weil sie die SPIEGEL: Sie haben sich bisher bei Ihrer Türkei ist ein ungebrochener Nationalstaat. Kriterien nicht erfüllen wird. Kritik an Angela Merkels Türkei-Politik Es wird ihr schwer fallen, Souveränität ab- SPIEGEL: Kohl glaubt, die EU werde mit immer auf den Altkanzler berufen können. zugeben und das komplette EU-Regelwerk Bulgarien, Rumänien und dem einen oder Das geht nun nicht mehr. von 80000 Seiten zu übernehmen. anderen Balkan-Staat „die maximale Rühe: Ich bin gut 40 Jahre Mitglied der SPIEGEL: Warum dann nicht über eine pri- Größe“ erreicht haben. CDU, 38 Jahre habe ich mit der Türkei- vilegierte Partnerschaft verhandeln? Rühe: Die EU kann nicht gleichzeitig über eine Mitgliedschaft und über eine Die Türkei privilegierte Partnerschaft verhandeln, kann sich nach dem EU-Gipfel am vergan- was immer Frau Merkel darunter ver- genen Freitag in Brüssel auf Beitrittsver- stehen mag. Ich habe immer dafür handlungen mit der Europäischen Union gekämpft, dass die Union den Be- einrichten. Die letzte Hürde räumte der tür- schluss über Beitrittsverhandlungen kische Premier Recep Tayyip Erdogan bei- akzeptiert und ihn auch als Regie- seite, als er der Ausdehnung der Zollunion rungspartei nicht rückgängig macht. auf Zypern zustimmte. Ab dem 3. Oktober Anderslautende Ankündigungen … 2005 werden die Gespräche beginnen, an SPIEGEL: … wie die von CSU-Chef Ed- deren Ende die Aufnahme des muslimi- mund Stoiber … schen Landes stehen soll. Dies wäre Rühe: … sind unseriös. In den nächsten frühestens 2014 der Fall. Wenn die Türkei 15 Jahren werden in Europa mindes- die Voraussetzungen zur Vollmitgliedschaft tens 50 neue Regierungen gewählt. nicht erfüllt, soll sie durch eine „möglichst Wenn jede das Verhandlungsziel än- starke Bindung“ in den „europäischen dern wollte, könnten wir uns von ei-

Strukturen verankert“ werden, beschlos- MIKE GIBSON / AP ner europäischen Außenpolitik verab- sen die EU-Mitgliedsländer. Erdogan (am vergangenen Donnerstag in Brüssel) schieden. Interview: Ralf Beste, Christoph Schult

36 der spiegel 52/2004 nen Sinn, das Bild eines Gewaltherrschers zu entwerfen. ENTWICKLUNGSHILFE SPIEGEL: Ruanda verfolgt im Ost-Kongo knallharte Interessen. Viele unterschied- liche Gruppen und Regierungen kämpfen „Er schadet seinem Land“ seit Jahren um die Kontrolle wertvoller Bo- denschätze. Rund vier Millionen Menschen Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) kamen bereits ums Leben. Wieczorek-Zeul: Es gibt in dieser Region über den Präsidenten Ruandas, den Krieg in Zentralafrika keine einfachen Schwarzweiß-Urteile. und die Möglichkeiten deutscher Einflussnahme Ruanda hat auch Sicherheitsinteressen. Im Ost-Kongo begehen die Intera- SPIEGEL: Im Ost-Kongo sind 350000 Men- hamwe-Rebellen, die seinerzeit schen auf der Flucht. Ruanda mischt in für das Massaker in Ruanda ver- dem Konflikt kräftig mit und kassiert dabei antwortlich waren, schwere Ver- Entwicklungshilfe aus Deutschland. War- brechen. Vor diesen Gruppen um unterstützen Sie Kriegstreiber? haben in Ruanda immer noch Wieczorek-Zeul: Das tun wir nicht. Wir hel- sehr viele Menschen Angst. fen direkt den Menschen in einem Land, SPIEGEL: Welche Lösung schla- das noch von den Auswirkungen des Völ- gen Sie für die Region vor? kermords von 1994 dramatisch belastet ist. Wieczorek-Zeul: Wir brauchen SPIEGEL: Ruandas Haushalt besteht zu rund einen stabilen Friedensprozess. 70 Prozent aus westlicher Entwicklungs- Dazu gehört, dass sich der Uno- hilfe. Es wäre doch leicht, den Geldhahn zu Sicherheitsrat ernsthaft und schließen und so Druck auszuüben. nicht halbherzig mit dem Pro- Wieczorek-Zeul: Es gibt keine deutsche Bud- blem dieser Region beschäftigt. gethilfe für Ruanda. Wir unterstützen mit SPIEGEL: Und dann? unserer Entwicklungszusammenarbeit den Wieczorek-Zeul: Es muss allen Versöhnungsprozess. Dazu gehören zum Beteiligten deutlich gemacht Beispiel die Gerichtsverfahren gegen Völ- werden, dass militärische Dro- kermörder. Außerdem helfen wir Überle- hungen oder gar Einsätze nicht

benden und Hinterbliebenen. IMO THOMAS akzeptabel sind. Wer dagegen SPIEGEL: Deutschland hat seit 1994 immer- Gesprächspartner Kagame, Wieczorek-Zeul* verstößt, muss mit Konsequen- hin mehr als 150 Millionen Euro für Pro- „Ich weigere mich, Kinder und Witwen zu bestrafen“ zen rechnen. Das gilt auch für jekte in Ruanda ausgegeben. Das hilft auch Ruanda. den dortigen Politikern. SPIEGEL: Ruandas Präsident Paul Kagame SPIEGEL: Das klingt ziemlich hilflos. Wieczorek-Zeul: Vor zehn Jahren hat die ist ein Wiederholungstäter. Seine Truppen Wieczorek-Zeul: Das ist es nicht. Die Staa- Weltgemeinschaft weggesehen, als in Ruan- sind bereits 1996 und 1998 in den Ost-Kon- tengemeinschaft hat durchaus Möglichkei- da 800000 Menschen abgeschlachtet wur- go eingefallen. Jetzt droht er erneut mit ten, Druck auszuüben. Im März steht bei den. Wir haben gegenüber diesem Land Invasion. der Weltbank die endgültige Entscheidung eine schwerwiegende Verpflichtung, der Wieczorek-Zeul: Sein Verhalten ist mir völ- über die internationale Entschuldung kommen wir mit unserer Arbeit für die Zi- lig unverständlich. Er schadet damit sich Ruandas an. Insgesamt geht es um mehre- vilgesellschaft nach. selbst und seinem Land. Zugleich ist re hundert Millionen Euro. Wenn das Land SPIEGEL: Sie sind mit Ruanda nachsichtig, aber klar: Ruanda ist auch in vielerlei nicht ernsthaft am Friedensprozess mit- weil es diese schreckliche Geschichte hat? Hinsicht vorbildlich. Kagame tut viel für wirkt, setze ich mich dafür ein, dass die Wieczorek-Zeul: Davon kann keine Rede die Ausbildung von Kindern und für die Entschuldung nicht vollzogen wird. sein. Aber ich weigere mich, die Witwen Bekämpfung von Armut. Es hat jetzt kei- SPIEGEL: Offenbar ist Ruanda bereits im und Kinder von Ermordeten für das Ver- Kongo aktiv. Beobachter berichten, re- halten ihrer Regierung zu bestrafen. * Am 1. November in Ruandas Hauptstadt Kigali. guläre Truppen hätten vereinzelt die Gren- ze überschritten. Wieczorek-Zeul: Das ist noch unklar. Das Im Ost-Kongo Grundproblem ist doch, dass die ganze DEMOKRATISCHE RUANDA kommt es seit Jahren immer wieder zu hefti- Region extrem unübersichtlich ist. Des- REPUBLIK gen Kämpfen um die wertvollen Rohstoffvor- halb ist die wichtigste Forderung, dass DEM. kommen. Truppen aus Ruanda sind bereits die Uno eine Luftüberwachung einsetzt. KONGO REP. zweimal in den Ost-Kongo einmarschiert. Dann können Truppenbewegungen und KONGO Außerdem soll das Land dort Banden unter- Waffenlieferungen festgestellt und unter- Mutmaßliche stützen. Trotzdem zählt Ruanda zu den welt- bunden werden. Vorstöße aus UGANDA weit 40 „Schwerpunktpartnerländern“ der SPIEGEL: Die Vereinten Nationen sind längst Ruanda deutschen Entwicklungshilfe. Seit 1998 hat mit Tausenden Soldaten vor Ort. Von den Victoria- Goma Kigali See Rot-Grün Ruanda insgesamt gut 70 Millionen Einheimischen werden sie als „Touristen“ Kivu-See Euro an Hilfsgeldern zugesagt. Schon von verhöhnt, weil sie nicht eingreifen. der Kohl-Regierung wurde das Land nach Wieczorek-Zeul: Die Uno-Truppe im Kongo Bukavu RUANDA dem Genozid von 1994 unterstützt – damals muss ihr Mandat ausüben. Fest steht aber: Kivu BURUNDI wurden 80 Millionen Euro überwiesen. Enga- Es gibt keine militärische Lösung für die- giert ist in der früheren deutschen Kolonie ses Gebiet. Allen Beteiligten muss klar wer- 100 km auch Rheinland-Pfalz. Das Land unterhält den: Es ist für sie besser, miteinander zu TANSANIA eine Partnerschaft mit Ruanda. kooperieren, als aufeinander zu schießen. Interview: Horand Knaup, Roland Nelles

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Afrika-Gast Köhler auf deutscher Fregatte in Dschibuti, bei den Uno-Friedenstruppen in Sierra Leone, bei einer Tanzdarbietung mit Benins

BUNDESPRÄSIDENT Der Fremdling Horst Köhler ist noch nicht angekommen. In der Welt fühlt sich das deutsche Staatsoberhaupt bislang mehr zu Hause als im eigenen Land. Die Tatkraft der afrikanischen Frauen ist sein Maßstab für die Bundesbürger. Denen will er nun Reformeifer vermitteln. Von Ralf Neukirch

orst Köhler ist auf dem Weg in ein tern und mit Frauen, die allein eine Amt vorstellen könne. „Ich werde Dinge fremdes Land. Er trägt eine Strick- Großfamilie ernähren. Er hat fast immer ansprechen“, sagt Köhler im Flugzeug. Hjacke, der Hemdkragen ist offen. den richtigen Ton getroffen. Er hat sich Er ist jetzt fast ein halbes Jahr im Amt. Auf der Lehne seines Sitzes stehen Kaffee erinnert gefühlt an die sechs Jahre, die er Er hat seinen ersten Konflikt mit dem Bun- und Käsekuchen. Köhler versucht zu ent- nicht in Deutschland gelebt hat. Er war deskanzler hinter sich. Er ist dabei, sich spannen, aber der Aufenthalt in jenem Bankenchef in London und Geschäfts- von Angela Merkel, die ihn inthronisierte, Land wird schwierig werden. Was soll er führender Direktor des Internationalen zu emanzipieren. Aber angekommen ist er sagen? Die Leute sind empfindlich. Währungsfonds in Washington. Er hat noch nicht. Deshalb war die Reise nach Köhler legt die Stirn in Falten. „Ich Afrika oft besucht. Afrika fast wie ein Heimaturlaub für ihn. möchte gern etwas von der Energie und „Ich bin ja fast ein Gastarbeiter“, sagte Die Trockenheit hat die Erde im Osten der Kraft vermitteln, die ich erlebt habe“, er, als er nach Deutschland kam, um Prä- Äthiopiens hart wie Stein gebacken. Jeder sagt er. Das Flugzeug neigt sich in einer sident zu werden „Das Wort Gastarbeiter Windhauch wirbelt eine feine Staubwolke leichten Rechtskurve. Durch das Fenster benutzen wir nicht mehr“, sagten seine über die Felder. Gebückt zieht eine Grup- funkelt das Rote Meer. Mitarbeiter. pe von Frauen ihre Harken durch Gemüse- Die Abendsonne färbt den Horizont rot Sechs Jahre sind eine lange Zeit. beete, um den Boden zu lockern. ein, Alexandria liegt zur Linken. Köhler Deutschland kam ihm nach seiner Rück- Schüchtern tritt eine Frau auf Horst redet über seine erste Weihnachtsanspra- kehr seltsam verzagt vor, „selbstgerecht Köhler zu. Sie greift in die Tasche ihres che. Persönlich soll sie sein, keine Weihe- und träge“. Die Welt draußen verändert Gewandes, holt ein fleckiges Heft hervor, rede. „Ich freue mich auf Weihnachten“, ist sich in rasender Geschwindigkeit, und die blättert es auf und hält es Köhler hin. Es ist ein Satz, den er sich überlegt hat. Er Deutschen demonstrieren gegen längere ein Sparbuch. 60000 Birr sind darauf, etwa lächelt. Ja, damit könnte er die Menschen Arbeitszeiten. Er versteht das nicht. Er will 5400 Euro, das ist hier eine Menge Geld. erreichen. Noch vier Stunden, dann landet etwas verändern. Die Frauen haben es sich über Jahre zu- er in Berlin, in Deutschland – seiner frem- Köhler will einen Aufbruch entfachen, er sammengespart, Birr für Birr. Zuerst hat den Heimat. denkt an ein zweites ’68, nur positiver und jede Frau ein Huhn gekauft, sagt die Frau, Der Bundespräsident war elf Tage lang weniger zerstörerisch. Aber er ist Präsi- dann eine Ziege. Als Nächstes sollen die in Afrika unterwegs, vier Länder, mehr dent, er kann nichts entscheiden, er soll re- Häuser renoviert werden. als 60 Termine, 18700 Flugkilometer. Er präsentieren. „Ich habe andere Stärken als Köhlers Gesichtszüge werden weich, als hat mit Staatsoberhäuptern gesprochen das Repräsentieren“, hat er Angela Merkel die Frau erzählt. Mit jeder Reise nach Afri- und mit Leprakranken, mit Bürgermeis- gesagt, als sie ihn fragte, ob er sich das ka haben ihn die Frauen mehr fasziniert.

38 der spiegel 52/2004 FOTOS: WOLFGANG KUMM / DPA WOLFGANG FOTOS: Präsidenten Mathieu Kérékou (2. v. r.): „Ich möchte etwas von der Energie und der Kraft vermitteln, die ich erlebt habe“

Sie tragen die Lasten, wenn der Mann mit genteil der afrikanischen Frauen, wie Er ist kein Mann der großen Worte, der dem Spazierstock vorangeht, sie versorgen Köhler sie sieht. geschmeidigen Rede. In Menschenmengen die Familie, sie improvisieren und organi- Trotzdem glaubt der Präsident an wirkt er steif und linkisch. Die Haare sind sieren. Köhler liebt diese Tatkraft, diesen Deutschlands Zukunft. Man müsse die zersaust, die Hose müsste dringend gekürzt Lebensmut, der nicht durch Jammerei an- Menschen nur wachrütteln. Man müsse ih- werden. Ihm fehlt die Aura des Staats- gefressen wird. Die Frauen Afrikas sind nen sagen, was sie können. Er hat sich das oberhaupts. sein Maßstab. vorgenommen, er reist durchs Land, um Am 3. Oktober muss Horst Köhler seine Köhler weiß, dass man die Verhältnisse Mut zu machen. Aber es fällt ihm nicht erste große Rede nach dem Amtsantritt nicht übertragen kann. Aber er vermisst leicht, die Leute zu erreichen. halten. Es ist der Tag, an dem die Nation die Kraft und Vitalität, die er bei diesen An der Gedenkstätte Deutsche Teilung sich ihrer selbst versichert. Es ist der Tag Frauen gespürt hat. Deshalb fremdelt er im sachsen-anhaltinischen Marienborn für die großen Themen, Gerechtigkeit, im eigenen Land. herrscht Untergangsstimmung. Durch den Freiheit, Vaterland. Am 3. Oktober hört Er liest viel über Deutschland, um sich Regen zeichnen sich die alten Grenzabfer- das Volk seinem Präsidenten zu. mit seiner eigentlichen Heimat vertraut zu tigungshäuschen ab. Die Leute unter dem Köhler hat lange an der Rede gearbeitet, machen. Er will wissen, was sich verändert Vordach schlagen sich die Kragen hoch, hat neue Gedanken eingearbeitet, Absätze hat und warum. Besonders beeindruckt hat um sich vor der Kälte zu schützen. gestrichen, Randbemerkungen gemacht. ihn der Bremer Historiker Paul Nolte, der Trotz des miesen Wetters sind weit über Immer wieder mussten Mitarbeiter das Ma- das Buch „Generation Reform“ geschrie- hundert Leute gekommen. Sie wollen nicht nuskript umschreiben, mindestens achtmal. ben hat. Dieses Buch hat er anfangs mit nur den Fall der Mauer vor 15 Jahren fei- „Heute hat Deutschland Geburtstag“, sich herumgetragen. Es sei für ihn wie eine ern. Sie wollen den Bundespräsidenten se- sagt Köhler am 3. Oktober. „Wir stehen Bibel, sagen Mitarbeiter. Nolte zeichnet hen. Als der gepanzerte Dienstwagen vor einem Berg von Aufgaben“, sagt er. ein trübes Bild der deutschen Unter- Köhlers vorfährt, wird er sofort umringt. „Wir können und werden diesen Berg schichten: fett gefressen, kulturell ver- Die Bürger versuchen, einen Blick auf den überwinden.“ Es war eine schwache Rede. wahrlost, teilnahmslos, so ziemlich das Ge- Präsidenten zu erhaschen. Wer nahe genug Angela Merkel sagte am Tag darauf im herankommt, erzählt ihm sei- CDU-Präsidium: „Zumindest lief sie unse- ne Geschichte. Es geht um ge- ren Grundsätzen nicht zuwider.“ glückte und misslungene Köhler ist noch immer mehr Experte für Fluchtversuche, deutsche Ver- Finanz- und Währungsfragen als Präsident. gangenheit. In seiner angestammten Rolle fühlt er sich Köhler lächelt verlegen. am wohlsten, zumal in Afrika. Ihm fehlt die routinierte Herz- Die Klimaanlage im Institut für Mikro- lichkeit der Berufspolitiker. finanz in Freetown, der Hauptstadt von „Diese Fotos habe ich ge- Sierra Leone, hat den Kampf gegen die macht“, sagt ein älterer Mann Hitze längst verloren. Die Wärme strahlt stolz und zeigt auf eine Bil- von überall her, vom roten Steinboden, derreihe. Köhler lächelt und von den gelbgetünchten Wänden, durch sagt nichts. die verhängten Fenster. Auf Köhlers Stirn sammeln sich feine Schweißperlen. Er be- merkt es nicht. Er ist völlig gefesselt. * Beim Besuch von Queen Elizabeth II.

MICHAEL KAPPELER / AP MICHAEL KAPPELER und Prinz Philip am 2. November in Vier Frauen in bunten Kleidern sitzen Staatsoberhäupter-Treffen*: Ihm fehlt die Aura Berlin. vor Köhler und diskutieren mit ihm über

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Als der Kanzler vor sieben Wochen den Tag der Deutschen Einheit auf einen Sonn- tag legen wollte, um Haushaltslöcher zu stopfen, hat Köhler erst am Telefon pro- testiert. Dann hat er einen Brief an den Kanzler geschrieben. Die zentrale Bot- schaft des Briefes hat das Präsidialamt dem Korrespondenten einer Tageszeitung zu- kommen lassen. Gerhard Schröder musste klein beigeben. Es war der erste große Konflikt des Prä- sidenten mit der Regierung. Köhler hat ihn gewonnen, weil Medien und Bevölkerung auf seiner Seite waren. Es war auch ein Test, wie weit er gehen kann. Wird es bei seinem Temperament nicht zwangsläufig weitere Konflikte mit dem Kanzler geben? Als er diese Frage auf dem Flug von Afrika nach Deutschland hört, blinken die Anschnallzeichen auf, die Maschine durchfliegt leichte Turbulen- zen. Köhler antwortet ausweichend: „Ich will mich auf die großen Themen konzen-

SCHROEWIG trieren.“ Aber er denkt oft über diese Ehepaar Köhler beim Bundespresseball: Aus einfachen Verhältnissen nach ganz oben Frage nach. Soll er etwa die Dinge einfach überge- Kleinkredite. Es geht um Kredithöhen, Michael Jansen ist der Chef des Bundes- hen, die ihm nicht passen? Er wird das Rückzahlungsmodalitäten, Sicherheiten. präsidialamts, ein ruhiger, freundlicher Haushaltsgesetz wohl unterschreiben, aber Es ist eine intensive Diskussion, ernst, Mann. Er war Büroleiter bei Hans-Dietrich darf er zu kurzsichtiger Finanzpolitik der sachlich. Köhler fragt präzise nach: Wie Genscher und Chef der Zwangsarbeiter- Regierung schweigen? Ihm missfällt die hoch müssen die Sicherheiten sein? Ist das stiftung. Jansen sorgt dafür, dass Horst polternde Art, in der der Kanzler einen angemessen? Es ist ein Gespräch, wie er es Köhler die Grenzen des Amts nicht über- ständigen deutschen Sitz im Sicherheitsrat liebt, ohne Vorreden, ohne Worthülsen. Es schreitet. Man sieht Jansen an, dass diese fordert. Ist das ein Thema für den Präsi- geht um konkrete Dinge, um technische Aufgabe ihm manchmal zusetzt. denten? Es gibt zurzeit mehr Fragen als Details, um Fachfragen. „Die Frauen sind Jansen bewegt sich gern an Köhlers Sei- Antworten. keine Politik-Allrounder, sie sind kompe- te, wenn Journalisten in der Nähe sind. Er sucht noch sein Profil, sucht Mög- tent in ihren Fachbereichen“, sagt er spä- Köhler redet offen und klar. Jansen legt lichkeiten zu gestalten – nicht unbedingt im ter bewundernd. die Stirn in Falten. Sinne Angela Merkels. Es ist der Schlüsselsatz für sein Welt- Als Köhler ins Amt kam, hat Jansen ihm Köhler bekam das Amt, weil die CDU- verständnis. „Das Leben ist Problemlö- vortragen lassen, welche rechtlichen Be- Vorsitzende einen Kandidaten brauchte, sen“, sagt Köhler. Probleme werden von fugnisse ein Bundespräsident hat. Der Bun- der nicht Wolfgang Schäuble hieß. Horst Fachleuten gelöst. Politiker neigen dazu, despräsident darf Gesetze verhindern, die Köhler ist ihr Präsident. Seine Büroleiterin Lösungen durch faule Kompromisse zu unrechtmäßig zustande gekommen sind kommt aus dem Adenauer-Haus, sein per- verhindern. Köhler umweht eine leise Ver- oder ganz offenkundig die Verfassung ver- sönlicher Referent aus der Fraktion. achtung für den Politikbetrieb. letzen. Es muss um die großen Dinge ge- Merkel will, dass Köhler ihre Reform- Er sagt: „Ich habe Verständnis für die hen, Grundrechte, die Würde des Men- politik rhetorisch veredelt. Als sie sich über schwierige Lage, in der sich viele Politiker schen. Ein Haushalt, der nach Ansicht der ein Interview Köhlers ärgerte, beschwerte befinden.“ Aber er hat sich zu oft über die Opposition nicht in Ordnung ist, gehört sich ihre Büroleiterin Beate Baumann im Unfähigkeit der Politik geärgert: als Fi- nicht dazu. Präsidialamt. nanzstaatssekretär, wenn wieder Reformen In der Union würden sich viele freuen, Doch Köhler ist jetzt frei gewählt und zerredet wurden; als IWF-Chef, wenn die wenn Köhler das Haushaltsgesetz nicht un- unabhängig. „Das Amt bietet Freiheiten, Industriestaaten von ihm Transparenz for- terzeichnen sollte, weil die Neuverschul- die will ich nutzen“, sagt Köhler. Er ist der derten und sich selbst nicht in die Karten dung höher ist als die Investitionen. Doch erste Präsident, der nie Politiker war. Er gucken ließen. ein Verfassungskonflikt ist das Letzte, was will sich seine Freiheit nicht durch Politiker Er bewundert die Frauen in Sierra Leo- Köhler anstrebt. Darüber muss sich Jansen einschränken lassen. ne, weil sie mit viel Mut und Phantasie keine Sorgen machen. Seine Aufgabe ist Das dürfte ihm gelingen. Doch um die versuchen, ihre Probleme zu lösen. Ihn är- auch so schwierig genug. Deutschen verändern zu können, wie es gern die Politiker, die sie dabei behindern. Köhler ist ein Macher, ein Selfmademan, ihm vorschwebt, muss er sie erreichen. Er „In Deutschland hat die Politik nicht viel der sich aus einfachen Verhältnissen bis muss ankommen, ohne sich aufsaugen zu dazu beigetragen, Aufbruchstimmung zu ganz nach oben gearbeitet hat. Er drehte in lassen. Bislang wirkt er noch wie einer, der erzeugen“, sagt er. der Welt am großen Rad. durch dicke Milchglasscheiben hinein- Jetzt ist er selbst Politiker und spürt die Er hat das nicht aufgegeben, um schaut und hineinruft. Bislang ist er gleich- Fesseln, die ihm sein Amt anlegt. In Brücken einzuweihen und Staatsgäste sam der erste Ausländer im Amt des Bun- Deutschland muss der Präsident sich durch das Schloss Bellevue zu führen. Er despräsidenten. zurückhalten. Er darf wichtige Reden hal- will nicht grauhaarig wirken, bevor er Als Horst Köhler auf Antrittsbesuch in ten, aber die Regierung bestimmt den Kurs. grauhaarig ist. „Ich werde über das reden, Estland ist, sagt er bei einem Festakt im Ins Tagesgeschäft darf der Präsident sich was mir wichtig erscheint“, sagt er. Aber Rathaus der Hauptstadt Tallinn: „Ich füh- nicht einmischen. Gelegentlich muss er sich selbst das kann manchmal zum Problem le mich hier fast wie zu Hause – wegen der auf die Zuge beißen. werden. vielen Leute, die Englisch sprechen.“ ™

40 der spiegel 52/2004 Ministerin Hohlmeier nicht um mehr Mittel bitten, ist sich der „Katastrophale Mangelwirtschaft“ BLLV-Schulbeauftragte Klaus Wenzel si- cher. Fazit: „katastrophale Mangelwirt- längst nicht mehr glauben. Im Kreis Mies- schaft“. bach bei München sind an der Haupt- Tatsächlich fehlt es an allen Ecken und schule seit September 222 Stunden ausge- Enden. In der Augsburger Volksschule fallen – wie an vielen anderen Schulen Firnhaberau hängen Netze an der Fassade, auch. Vergangenen Dienstag trugen wü- weil Betonbrocken von der Wand tende Eltern mehr als 4000 Unterschriften bröckeln. Der Regen tropft durch das

THOMAS EINBERGER/ARGUM THOMAS in die Staatskanzlei. Ihre schriftliche Be- Dach, Schimmel hängt in den Ecken, die schwerde bei Kultusministerin Monika Deckenplatten fallen ab. In der Helene- Hohlmeier, klagen sie, sei nie beantwortet von-Forster-Schule in Nürnberg laufen SCHULEN worden. Mäuse durchs Klassenzimmer; sie kriechen Die Strauß-Tochter steht im Zentrum der durch faulige Bodenleisten. Bildungsnot im Kritik. Als wäre die Finanzlage des Kul- Davon lässt sich Stoiber nicht beirren. Er tusressorts nicht schon dramatisch genug, hat längst den nächsten Rekord im Blick: leistete sich ihr Haus auch noch fatale Re- Künftig sollen bayerische Kinder möglichst Streberland chenfehler. Weil die Beamten Geburten- mit fünf Jahren eingeschult werden. raten und Zuzug falsch kalkulierten und „Früher in die Schule, früher in den Beruf“ Bayerns Ruf als deutscher damit den Etat für Pädagogen zu niedrig lautet das neue Motto, nur so könne man ansetzten, fehlt 2005 Geld für mehr als 800 im internationalen Vergleich mithalten. Klassenprimus ist in Gefahr. Stoibers benötigte Lehrer. Das Projekt könnte zu ähnlichen Ab- Sparwut und Rechenfehler Der Fauxpax führte vergangenen Diens- surditäten führen wie Stoibers Hals über im Kultusministerium bringen die tag zu einem Wutausbruch des Minister- Kopf eingeführte Kürzung der Gymnasial- Schulen in schlimme Not. präsidenten im Kabinett. Nachdem ihm ein zeit auf acht Jahre. Um die erforderlichen Abgeordneter von der Misere berichtet Nachmittagsstunden zu bewältigen, wur- er bayerische Ministerpräsident Ed- hatte, platzte Stoiber der Kragen. Vor lau- de die Mobile Reserve – spontan abrufba- mund Stoiber hat ein Zauberwort: fender Fernsehkamera herrschte er Hohl- re Ersatzlehrer – geopfert. Wenn jetzt Leh- D„Cluster“, zu Deutsch: eine starke meiers Staatssekretär Karl Freller an: „Das rer erkranken, fehlt die Vertretung. Bündelung. „Cluster“ seien das Geheim- nis, das Bayern besser sein lasse, vor allem bei „Bildung, Forschung und Innovation“. In der Realität jedoch haben sich diese Freistaat-Cluster längst verflüchtigt. Denn ausgerechnet des Bündels Kern, die Schu- len, werden vom Regierungschef kaputt- gespart. So gern sich Stoiber als Klassen- primus im mittelmäßigen deutschen Bil- dungsstaat feiert, so ehrgeizig arbeitet er an einem damit kollidierenden Projekt: Als erster Ministerpräsident hat er einen Haus- halt ohne Neuverschuldung beschlossen. So ein Coup kann einen Länderregenten schließlich auch als Kanzler empfehlen. „Bildung hat absolute Priorität“, ver- kündet Stoiber bei jeder Gelegenheit, doch der Geiz verlangt Opfer, auch im Schulres- sort, auch beim Rohstoff Geist. Und so

mussten – Pisa-Schock hin oder her – in REINHARD KURZENDOERFER diesem Jahr fast 85 Millionen Euro gespart Physiker Haas: Eltern als Ersatzlehrer werden, 2005 werden es doppelt so viel sein. Die Folgen sind so gravierend, dass El- lass ich mir nicht länger bieten! Das wird So müssen in der Not die Eltern ran: ternverbände nun auf die Straße gehen: nicht ohne ernste Konsequenzen bleiben! Hendrik Rehn, Direktor des Münchner Hunderte Lehrer fehlen, Pflichtfächer fal- Das versprech ich euch!“ Michaeli-Gymnasiums, bat Väter und Müt- len massenhaft aus, Klassen werden zu- Seitdem wird auf den Fluren des Parla- ter, je nach Qualifikation im Unterricht aus- sammengelegt, Schulgebäude verfallen. ments heftig über einen Abgang Hohlmei- zuhelfen. Das so hoch gelobte bayerische Schul- ers spekuliert, die sich seit vergangener Das Kultusministerium goutierte das Pro- system mit seinen vielen Unterrichts- Woche auch noch vor einem Untersu- jekt, die Eltern werden sogar teilweise ent- erfolgen schwächelt. Erstmals stellte eine chungsausschuss zur Wahlfälscheraffäre lohnt, pädagogische Bedenken vom Tisch im Freistaat durchgeführte Studie fest, verantworten muss (SPIEGEL 9/2003). Sie gewischt. Am Ende macht die Schule den dass die Schulen mit zehn Prozent der selbst nannte Stoibers Anpfiff lapidar „eine Vätern sogar Spaß, wie beispielsweise Hans Schulabgänger ohne Abschluss unter den Diskussion sachlicher Art“. Haas, der als Diplom-Physiker sechs Wo- Bundesdurchschnitt gesunken sind. Doch Beim Bayerischen Lehrer- und Lehre- chen lang in Grafing 28 Schüler der fünften die Regierungspartei beruft sich unbeein- rinnenverband (BLLV) glaubt man, dass Klasse unterrichtete. Und auch den Kin- druckt auf den nationalen Spitzenplatz bei die schwache Politik der Strauß-Tochter – dern ist der Lehrer-Ersatz willkommen: Der Pisa und lehnt Änderungen in der Schul- die ihre Tochter delikaterweise auf eine Neue darf wenigstens keine Noten geben. politik ab. Privatschule schickt – den Notstand mit- Bleibt nur die Neugierde, wie sich der An die Tabellenführung Bayerns bei der verschuldet. Ein derart belastetes Kabi- Laienlehrer-Einsatz in der nächsten Pisa- Wissensvermittlung wollen viele Familien nettsmitglied könne beim Finanzminister Studie auswirkt. Conny Neumann

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Geschäftsmann Logwinenko, Rubens-Gemälde Diebstahl oder gutgläubiger Erwerb?

das Potsdamer Landgericht die Ermittlun- gen für „rechtswidrig“. Der Vorwurf der „Bandenhehlerei“ war aus Sicht des Ge- richts nicht ausreichend belegt. Doch die Staatsministerin und ihre Ju- risten setzten nach. „Wir haben eine Zivil- rechtsklage in Russland prüfen lassen“, erklärt Weiss. Schließlich hatte das Pots- damer Landgericht lediglich zu entschei- den, ob Straftaten vorlagen, nicht aber, wer tatsächlich rechtmäßiger Besitzer des Gemäldes aus dem 17. Jahrhundert ist. Beauftragt wurde mit dieser Prüfung ei- ner der besten Experten des russischen Rechts. Stefanie Solotych vom internatio- nal anerkannten Institut für Ostrecht in München sollte klären, ob der Geschäfts- mann den Rubens nach russischem Recht gutgläubig erwarb. Die Expertise, die deut-

PAVEL KASSIN PAVEL sche Beamte vor wenigen Tagen dem rus- sischen Kulturministerium übergaben, und bislang einmaligen Schritt zur Rück- kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Es KUNSTRAUB holung eines deutschen Kunstwerks aus existierten schwerwiegende Anhaltspunk- Russland – eine Zivilrechtsklage vor einem te dafür, dass der russische Geschäftsmann Fette Beute deutschen oder einem russischen Gericht. „kein gutgläubiger Erwerber“ war. Die Odyssee des prachtvollen Rubens- Dabei stützt sich Expertin Solotych auf Um die Rückgabe eines kostbaren Gemäldes, das bis 1942 in der Galerie des Tatsachen, die schon den Ermittlern ver- Potsdamer Schlosses Sanssouci hing, füllt dächtig vorgekommen waren. Logwinenko Rubens-Gemäldes aus Russ- inzwischen mehrere Aktenbände der Kul- hatte das Bild 1999 von einem russischen land zu erreichen, erwägt die turbeauftragten und der Potsdamer Staats- Antiquitätenhändler schwer beschädigt ge- Bundesregierung erstmals anwaltschaft. Im Februar 2003 war das lan- kauft – gefaltet und ohne Rahmen. Zuvor Klage vor einem Zivilgericht. ge Zeit vermisste Kunstwerk von einem hatte es der Tochter eines vormals in Anwalt aus der Schweiz per E-Mail der Deutschland stationierten Offiziers gehört. ie Bilder werden sich von denen Schlösser-Stiftung angeboten worden, die Der hatte es, so deren Aussage, nach Russ- der letzten Treffen kaum unter- umgehend die Potsdamer Staatsanwalt- land gebracht und in seiner Wohnung auf- Dscheiden: Wenn Bundeskanzler schaft alarmierte (SPIEGEL 38/2003). bewahrt. Gerhard Schröder an diesem Montag Russ- Während die Staatsanwälte ein Ermitt- Für Solotych sind dies Belege dafür, dass lands Präsidenten Wladimir Putin zu den lungsverfahren wegen des Verdachts der das Bild illegal aus Deutschland abtrans- 7. Deutsch-russischen Konsultationen emp- Bandenhehlerei einleiteten, ließen sich Stif- portiert wurde und nicht etwa offiziell fängt, werden erneut Fotos mit herzlichen tungsmitarbeiter zum Schein auf Verhand- durch eine „Trophäenkommission“ der Umarmungen um die Welt gehen – fast wie lungen mit dem Anbieter des Bildes ein – siegreichen Sowjetarmee. Nach damaligem weiland, als die Oberen der DDR noch die dem russischen Geschäftsmann Wladimir sowjetischem und gültigem russischem Lenker des Sowjetreichs küssten und die Logwinenko. Per Rechtshilfeersuchen bat Recht, so die Expertin, sei solch private „unverbrüchliche Freundschaft“ beschwo- die Bundesregierung derweil die russische Beschaffung eine „strafbare Handlung, ren. Putin darf sich ins Goldene Buch der Generalstaatsanwaltschaft um Sicherstel- nämlich Diebstahl oder Plünderung“. Stadt Hamburg eintragen, dann wird der lung des Gemäldes – die im September Nichtig sei deshalb wohl auch der Kauf- „lupenreine Demokrat“ (Schröder über desselben Jahres erfolgte. Stolz feierten da- vertrag Logwinenkos, der das Bild inzwi- Putin) mit dem „engen Freund“ (Putin mals Russen wie Deutsche die „erfolgrei- schen als Leihgabe der St. Petersburger über Schröder) im edlen Hotel Atlantic die che Zusammenarbeit“. Eremitage überlassen hat. Das Gemälde Weltlage beraten. Die hat inzwischen ein trauriges Ende unterliege der „Rückgabe“. Logwinenkos Nur eine Person dürfte die Harmonie gefunden. Heftig streiten beide Seiten, deutscher Anwalt hält eine Zivilklage für stören: Christina Weiss, Staatsministerin wer denn Anspruch auf das millionen- „absurd“. Stiftung und Bundesregierung für Kultur und Medien im Kanzleramt. schwere Fundstück – Schätzwert: 80 Mil- sollten stattdessen mit seinem Mandanten Denn beim zeitgleichen Treffen mit ihrem lionen Euro – habe. Logwinenko hält sich konkrete Gespräche zur Rückführung auf- russischen Kollegen Alexander Sokolow für den rechtmäßigen Besitzer – er will es nehmen, zu der Logwinenko bereit sei – al- im Hamburger Übersee-Club wird sie ei- gutgläubig erworben haben – und wird von lerdings gegen Entschädigung. nen Streitfall ansprechen, der die deutsch- Russlands Regierung unterstützt. Die Deut- Weiss, die Zahlungen an den Russen ab- russische Freundschaft trübt: den Umgang schen wiederum beharren auf Rückgabe lehnt, fühlt sich durch das Dossier bestärkt. der Russen mit dem Gemälde „Tarquinius an die Schlösser-Stiftung in Potsdam. Das Ein gefaltetes Bild ohne Rahmen, da drän- und Lucretia“ von Peter Paul Rubens. Gemälde sei illegal aus Deutschland ent- ge sich doch der Gedanke auf, „dass es ge- „Es gehört der Stiftung Preußische fernt worden. stohlen worden ist“. Am liebsten wäre ihr, Schlösser und Gärten“, beharrt Weiss ganz Lange Zeit setzten Bundesregierung und wenn der Kanzler sich persönlich der undiplomatisch. „Das werde ich auch an- Stiftung auf die Staatsanwaltschaft. Doch Kunst annähme – so ließ sie ihm den Fall sprechen.“ Mehr noch: Bestärkt von ei- die musste im Oktober eine herbe Nieder- Rubens aufschreiben für seinen Sprech- nem „Rechtsgutachten zum russischen Zi- lage einstecken. Auf Beschwerde des Log- zettel beim Treffen mit seinem russischen vilrecht“, erwägt sie einen spektakulären winenko-Anwalts Robert Unger erklärte Freund Putin. Stefan Berg

der spiegel 52/2004 43 wissenschaftler wird, aus purer Neigung. „Das war damals noch ein Nullthema. Die meisten dachten, dass nur Spinner so was studieren“, erinnert sich der 38-Jährige. Ende der neunziger Jahre war Schon- nop also ein Spinner mit Magister – mit entsprechenden Jobfindungsstörungen. So führten ihn seine akademischen Würden zunächst hinter einen Postschalter: Brief- marken verkaufen, Pakete annehmen, Geld auszahlen. Dann kam der 11. September 2001, der Terror von New York und Washington – und machte aus Leuten wie Schonnop, die sich bislang durchs Leben jobbten, auf ei- Szene aus dem Film „Mission: Impossible“*: Rambos sind nicht gefragt nen Schlag gefragte Experten. Der frühe- re Postler erkannte seine Chance und be- warb sich initiativ beim niedersächsischen Landesamt für Verfassungsschutz. Dort ar- beitet er seit 2002, inzwischen in leitender Funktion als Dezernent für Islamismus. Solche Karrieren sind keine Seltenheit mehr. Vorbei die Zeit, als die Nachrich- tendienste ihr gehobenes Personal fast aus- schließlich unter Verwaltungsjuristen such- ten. Seit einigen Jahren rekrutieren sie Politologen, Historiker und Islamwissen- schaftler gleich dutzendweise – eine ziem- liche Umstellung für altgediente Beamte. Die feingeistigen Uni-Absolventen ge- hören zum neuen Gesicht der Geheimen: smart und intelligent, gebildet und welt- offen. Denn die Politik verlangt inzwischen mehr als Faktensammlungen über Extre- misten, sie will den Feind auch verstehen. Aus dem Bundesnachrichtendienst (BND) zum Beispiel wurde mehr und mehr ein Instrument der Politikberatung: Probleme

FALK HELLER / ARGUM HELLER FALK analysieren und Optionen benennen – Arbeitsplatz BND-Zentrale in Pullach: Instrument der Politikberatung auch das muss er leisten. Haftete den Diensten lange der Ruf an, öffentlichkeitsscheu, muffig oder langsam GEHEIMDIENSTE zu sein, wollen viele der Behörden nun ihr Image aufpolieren. Der Trend zum Spion, der aus der Uni kam, ist dafür offenbar das Der Spion, der aus passende Mittel: Stolz präsentieren manche Ämter ihr neues Personal auf Tagungen und profilieren sich als Serviceagenturen der Uni kam für Extremismus-Expertisen. Dass sich neuerdings so viele Geistes- und Sozialwissenschaftler bei den Diens- Eine neue Generation von Nachrichtendienstlern hilft, das ten bewerben, hat zum einen mit dem Image des Gewerbes aufzupolieren: Die Behörden schlechten Arbeitsmarkt zu tun. Rund 80 Interessenten meldeten sich beim nord- stellen zunehmend feingeistige Sozialwissenschaftler ein. rhein-westfälischen Verfassungsschutz, als der nach dem 11. September einen Islam- tellt man sich so einen Nachrichten- experten suchte. dienstler vor? Als großen, auffälligen Doch auch die Berührungsängste haben SMann mit eckiger Intellektuellenbril- massiv abgenommen, seit es den Geheim- le, der nachdenklich vor einer Wand vol- behörden nicht mehr primär um Linksex- ler Bücher sitzt? tremismus geht. „Bei der heutigen Bedro- Mark Schonnop hatte selbst nie damit hung durch den islamistischen Terror“, ver- gerechnet, einmal beim Verfassungsschutz mutet der frühere Chef des Bundesamtes zu landen. In die Medien wollte er gehen für Verfassungsschutz (BfV), Eckart Wer- oder in die Wissenschaft, irgendwohin, wo thebach, „wird vielen bewusst, was für eine man Verwendung hat für einen Exoten, wichtige Arbeit die machen.“

der ein Jurastudium abbricht und Islam- GREGOR SCHLAEGER Tatsächlich erhielt die Chefin des Berliner Islamwissenschaftler Schonnop Verfassungsschutzes, Claudia Schmid, nach * Mit Tom Cruise, 1996. Karriere nach dem 11. September dem 11. September Bewerbungen von scho-

44 der spiegel 52/2004 Deutschland ckierten Islamexperten, die helfen wollten, Heute gibt sich der Nachrichtendienst schen Verfassungsschutz erst mal für ge- künftige Anschläge zu verhindern. „Wir sind so gar nicht mehr familiär. Auf Berufs- werbeuntypischen Wirbel. nicht mehr der große Unbekannte, der ge- messen wirbt er mit Ständen und rückt das Vergangenes Jahr organisierte der 34- fährlich im Dunkeln agiert“, sagt sie. Schlapphut-Image zurecht. Interessenten, Jährige in Düsseldorf eine Tagung zur Als Schmid Anfang 2001 ihren Posten an- die sich für Kampfsportarten begeistern, „Neuen Rechten“, einer rechten Strömung, trat, hatte sie den Auftrag aus der Politik, die erfahren schnell: Gute Noten seien wichti- die ihre radikalen Ansichten intellektuell Behörde zu öffnen. Sie tauschte rund die ger als Rambo-Qualitäten. zu kaschieren sucht. Pfeiffer, den wissen- Hälfte der Mitarbeiter aus, überwiegend ge- Bei dem Dienst schwärmen sie inzwi- schaftlichen Disput schätzend, lud konser- gen Wissenschaftler. „Als danach der Run schen von brillanten Bewerbungen: von vative ebenso wie linke Referenten ein – auf die Islamwissenschaftler losging, hatten Uni-Absolventen, die Praktika bei inter- was für ordentliche Resonanz in den Me- wir glücklicherweise schon welche.“ nationalen Organisationen hinter sich ha- dien sorgte. So viel öffentliches Getöse war Die genaue Zahl der Neuanstellungen ben und Studienaufenthalte im Ausland. altgedienten Geheimen suspekt. Pfeiffer halten die Dienste geheim. Doch allein der „Vielleicht“, hofft Verfassungsschützerin aber sucht die „Schnittstelle zur Zivilge- BND soll seit 2001 über hundert entspre- Schmid, „wird es irgendwann sein wie in sellschaft. Ich bin sicher, dass man uns Wis- chender Jobs geschaffen haben, die 16 Lan- Großbritannien, wo es eine Ehre ist, beim senschaftler nicht anstellt, um uns dann so desbehörden und das BfV zogen mit. Nachrichtendienst arbeiten zu dürfen.“ zu machen, wie man sich Verwaltungsmit- Ein Nebeneffekt dieser Personalpolitik Tatsächlich können sich deutsche Ge- arbeiter schon immer vorgestellt hat“. ist die professionalisierte Suche nach Kan- heimdienstler immer öfter getreu dem Mot- Pfeiffers Engagement beim Verfassungs- didaten. Als ginge es um Posten für Bank- to vorstellen: Mein Name ist Bond, Dr. schutz hatte auf eigenen Wunsch mit einem direktoren, schreiben die Dienste ihre Stel- Bond. Den raubeinigen Charme eines 007 Jahresvertrag begonnen. Vorher war er len inzwischen in Zeitungen und im Inter- freilich, ein in den Diensten ebenso als selbständig als Wissenschaftler, Journa- net aus. Zur Zeit des Kalten Kriegs war Zerrbild verhasstes Image wie das des list und Dozent in der Erwachsenenbil- ein solch unverdecktes Vorgehen noch un- technophilen Superagenten Tom Cruise dung. Man arbeite als Freiberufler mit denkbar, schließlich sollte der Ostblock in „Mission: Impossible“, versprühen sie Leidenschaft. „Ich hatte Zweifel, ob das weder wissen, was die andere Seite treibt, nicht gerade. Statt durch rasante Verfol- mit einer hierarchisch strukturierten noch einen seiner Agenten zum Bewer- gungsjagden und heiße Flirts zeichnet sich Behörde harmoniert.“ Das tat es. Seine bungsgespräch schicken. die Arbeit der Denker vor allem durch Le- Skepsis schwand, jetzt lässt er sich sogar Damals verließ man sich im BND bei sen und Bewerten aus. verbeamten. der Nachwuchssuche lieber auf Familien- Die Ankunft der neuen Garde zeigt Wir- In den meisten Bundesländern ginge das bande: Onkel empfahlen ihre Neffen und kung – auch nach außen. Thomas Pfeiffer nicht. Altbackene Regelungen versperren die ihre Vettern. „Es gab enorm viele Ver- etwa, ein promovierter Sozialwissen- vielen Neulingen den Weg zur höheren wandtschaftsverhältnisse“, sagt BND-Spre- schaftler mit Schwerpunkt Rechtsextre- Beamtenlaufbahn. Denn dafür müssten sie cherin Michaela Heber. mismus, sorgte beim nordrhein-westfäli- einen zweijährigen Vorbereitungsdienst Aufgaben wahrnehmen. Anfangs hielt man Brandenburger anfing, ist inzwischen Chef die Sonderlinge aus der Uni sogar noch des Referats Rechtsextremismus. Sie selbst stärker auf Distanz, sie wurden als „wis- leitet seit über einem Jahr die Öffentlich- senschaftliche Mitarbeiter“ nahezu außer- keitsarbeit ihres Amtes – einen sensiblen halb der Hierarchie beschäftigt, „im luft- Posten, geht es doch darum, was nach leeren Raum“, erinnert sich Maren Bran- außen dringen darf und was nicht. denburger. Die 36-Jährige und ein Kollege Seit das Misstrauen abgenommen hat, kamen 1996 als erste Politologen zum nie- genießen die Wissenschaftler die Vorteile dersächsischen Verfassungsschutz. des Jobs umso mehr: die Arbeit mit Quel- Die Situation war für alle gewöhnungs- len wie Telefonüberwachungsprotokollen bedürftig. „Vielleicht dachte mancher, da oder V-Mann-Berichten etwa. Die Forscher kommt einer, der ist jünger, hat einen Dok- sind, so Brandenburger, „fasziniert von tortitel und macht jetzt bestimmt auf arro- diesem Fundus“. gant“, vermutet Pfeiffer. Attraktiv finden die neuen Leute zudem, Viele der Neuen waren nicht nur be- dass der Weg zurück in die Wissenschaft fremdet, stets um Erlaubnis bitten zu müs- möglich scheint. „Wir wollen weg von die- sen, bevor sie sich öffentlich äußern konn- sem Image: einmal Verfassungsschutz, im- ten. Auch die Kultur einer Behörde mit mer Verfassungsschutz“, sagt die Berliner ihren geregelten Arbeitszeiten, den strikten Amtsleiterin Schmid. Ein paar Jahre dort, Hierarchien und der unausgesprochenen vermutet sie, könnten bald eine unter meh- Krawattenpflicht für Top-Leute war für reren Etappen in der beruflichen Laufbahn manche ungewohnt. Ein Wissenschaftler eines Hochqualifizierten werden. wunderte sich, dass er permanent mit Wie etwa bei Armin Pfahl-Traughber. „Herr Doktor“ angeredet wurde, und hielt Der Extremismusforscher hat in seiner Zeit

GREGOR SCHLAEGER das für eine Ironie, bis er merkte, dass die beim BfV weiter wissenschaftlich publiziert Verfassungsschützerin Brandenburger korrekten Beamten nur seinen akademi- – aber nicht im Namen des Amtes. „Fasziniert von diesem Fundus“ schen Grad würdigten. Seit einigen Wochen muss er sich um Brandenburger fühlte sich in der neuen diese Unterscheidung nicht mehr scheren. absolvieren wie Lehrer oder Juristen in Umgebung „manchmal wie ein Fremdling. Pfahl-Traughber arbeitet jetzt als Profes- ihrem Referendariat. Die neuen Experten Einige Kollegen begegneten uns mit Skep- sor an der Fachhochschule des Bundes im können meist nur als Angestellte Karriere sis, aber das hat sich alles schnell aufge- nordrhein-westfälischen Swisttal. Dem Ge- machen, und das, obwohl sie permanent löst“. Mittlerweise sind die Neuen ange- werbe ist er treu geblieben: Er bildet Ver- Verschlusssachen sichten und hoheitliche kommen. Der Politologe, der 1996 mit fassungsschützer aus. Dominik Cziesche Deutschland

tionalen Streitschlichtung spielen. Der Ge- nessraum in der Nachbarvilla führt, bis zu JUSTIZ neralsekretär der Vereinten Nationen, Kofi den Brandschutz-Sprinklern. Die sind in Annan, pries das Gericht bei der feier- die Decke des Gerichtssaals so eingelas- Warten auf lichen Einweihung als „Grundpfeiler des sen, dass die Schiebewände glatt darüber Seerechtsübereinkommens, das seinerseits glitten, wenn der Saal dreigeteilt werden eine der größten Errungenschaften der müsste, um mehrere Fälle gleichzeitig zu Piraten Vereinten Nationen darstellt“. verhandeln, bei großem Andrang. Das Übereinkommen, dem sich bislang Ein Gebäude also für eine große Zu- Der Hamburger Seegerichtshof 146 Staaten verpflichtet haben, gilt als kunft, das die Gegenwart umso trister er- eine Verfassung der Meere. Es regelt na- scheinen lässt. Die bisherigen Urteile hät- ist die wichtigste Weltinstitution in hezu alle Bereiche des Seevölkerrechts te, meint mancher Völkerrechtler, auch ein Deutschland. Den Richtern wie Umweltschutz, Fischerei und For- einfaches Amtsgericht sprechen können – fehlt es an nichts – außer an Fällen. schung. Dementsprechend stolz zeigten nur hätten die Amtsrichter ihre Urteile sich Politiker, als sie das Gericht nach wohl nicht gleich in einen blauen Umschlag as soll er schon machen, der vor- Deutschland holten. Denn die Bundes- mit Goldprägung gebunden, um sie zwei- nehme Gerichtspräsident aus republik, die derzeit eine neue Rolle in der sprachig kundzutun. WGrenada, er kann ja schlecht Welt sucht und gar einen ständigen Sitz im Im nächsten Band wird von der „Juno selbst ein Schiff kapern, um endlich für Uno-Sicherheitsrat anstrebt, konnte bis- Trader“ zu lesen sein. Die westafrikani- Streit zu sorgen. lang relativ wenige internationale Organi- sche Republik Guinea-Bissau hält das Hamburg-Nienstedten, Am Internatio- sationen anziehen. Schiff fest: Die Besatzung soll unerlaub- nalen Seegerichtshof 1: Dolliver Nelson, „Deutschland freut sich außerordentlich, terweise vor der Küste gefischt haben. Das oberster Wächter über die Weltmeere, sitzt dieses wichtige Gericht zu beherbergen“, stimme gar nicht, meinen der karibische Staat St. Vincent und die Grenadinen, un- ter dessen Flagge das Schiff fährt. Die „Juno Trader“ sei doch nur auf der Durch- reise von Mauretanien nach Ghana gewe- sen. Das Schiff sei deshalb freizugeben – samt der 19-köpfigen Besatzung und der 1183 Tonnen Tiefkühlfisch. Der Zwist klingt hübsch exotisch, aber nicht gerade weltbewegend – ein Schicksal, das den bisherigen Fällen des Seegerichts- hofs gemein ist. Statt um spektakuläre Schiffskatastrophen oder wilde Piraten- attacken müssen sich die Richter meist nur

AUFWIND/ACTION PRESS (L.); ITLOS (R.) PRESS (L.); ITLOS AUFWIND/ACTION um Schiffe kümmern, die festgehalten wer-

Internationaler Seegerichtshof in Hamburg: Wächter der Weltmeere auf dem Trockenen. Da hat ihm die Bun- betonte Bundesjustizminis- desrepublik im Jahr 2000 für 123 Millio- terin Brigitte Zypries, als nen Mark ein prunkvolles, neues Gebäude in der vergangenen Woche an die Elbchaussee gesetzt, damit er über endlich das Sitzstaats- Streitobjekt „Juno Trader“: 1183 Tonnen Tiefkühlfisch Streitigkeiten auf hoher See urteile. Und abkommen unterzeichnet dann wollen einfach keine Streithähne vor wurde, das die Beziehungen zwischen den, mal wegen angeblicher Zollvergehen, die edle Richterbank aus Schweizer Birn- Gericht und Gastland regelt. Auch Bundes- mal wegen illegalen Fischens. „Alle großen baum ziehen. In der wichtigsten Weltinsti- präsident Horst Köhler stattete dem Ge- internationalen Gerichte haben eine ge- tution auf deutschem Boden herrscht meis- richt bereits einen Besuch ab. wisse Anlaufphase benötigt“, tröstet Phi- tens Flaute. Die möglichen Kläger aber, in erster Li- lippe Sands, Direktor des Zentrums für In- Die vergangenen Wochen bildeten einen nie Staaten und internationale Organisa- ternationale Gerichtsbarkeit in London. der wenigen Höhepunkte: Die Richter hat- tionen, umschiffen Hamburg lieber. Sie zie- Die Hoffnungen des Gerichtspräsidenten ten einen Fall zu verhandeln. Ihren 13. Fall hen oft gar nicht vor Gericht, sondern lö- Nelson ruhen auf dem Meeresboden. „Die – in acht Jahren. Wann der 14. Kläger vor- sen ihre Konflikte in Schiedsverfahren. Bedeutung des Gerichtshofs wird noch zu- beikommt? „Das Gericht steht bereit“, kann Oder wenden sich an den Internationalen nehmen, wenn der Tiefseebergbau be- Präsident Nelson nur sagen. So lange bleibt Gerichtshof in Den Haag, der in vielen Fäl- ginnt“, sagt er. Denn der Seegerichtshof der bestausgestattete Gerichtssaal Deutsch- len gleichfalls angerufen werden kann. Die ist zuständig für Streitigkeiten um die Nut- lands, mit silbernen Flachbildschirmen für Seerichter sind deshalb gar nicht ständig in zung des Tiefseebodens. die 21 Richter und zwei Großfernsehern fürs Hamburg, sie kommen eigens zu den Ver- Dort liegen, kilometertief, Manganknol- Publikum, wieder verwaist. handlungen in ihr prächtiges Gericht. len voller Nickel, Kupfer und Kobalt. Die Dabei soll das Seegericht, ausgestattet Alles in dem Gebäude-Ensemble ist sollen der Welt eines Tages neuen Rohstoff mit einem Jahresbudget von 7,8 Millionen durchdacht bis in die Details, vom unter- liefern – und dem Gericht schön viel Streit- Dollar, eine Schlüsselrolle in der interna- irdischen Verbindungsgang, der zum Fit- stoff. Markus Verbeet

48 der spiegel 52/2004 Szene Gesellschaft

Klüger werden mit: Girolamo Lo Verso

Der 56-jährige Professor für Psy- chotherapie an der Universität von Palermo über die Seele der Mafiosi

SPIEGEL: In Ihrem Buch „Die Psyche der Mafia“ analysieren Sie familiäre Strukturen der Cosa Nostra auf Sizi- lien. Wie wird man zum Killer? Lo Verso: Die Seele des Mafioso funk- tioniert wie die eines Fundamentalis- ten. Er ist kein Individuum, sondern Teil einer Armee. Ab der Pubertät

FOTOS: ALFRED STEFFEN ALFRED FOTOS: wird der zukünftige Killer getestet: Steffen-Fotos „Breakfast“, „Annette“ Er soll Schüler schlagen, bei Morden zuschauen. Für Mädchen gilt: zu BILDBÄNDE Jahre lang, in Saigon, New York, Berlin, Hause bleiben, nicht auffallen, omer- St. Petersburg oder Ruanda und die bes- tá, das Schweigegesetz gilt für alle. ten Fotografien jetzt im Bildband „One SPIEGEL: Wer waren Ihre Informanten? Alfreds Welt World“ verewigt. Die klassische schwarz- Lo Verso: Sogenannte Pentiti, Reui- weiße Porträtfotografie und die wie aus ge, aus Zeugenschutzprogrammen. ie Welt des Fotografen Alfred Stef- der Hüfte geschossenen Snapshots des Und Ehefrauen und Kin- Dfen ist manchmal schwarzweiß und gebürtigen Rheinländers haben eines ge- der der Mafiosi. Sie ka- manchmal rot wie ein Kussmund und meinsam: Sie sind der Blick eines Vo- men in unsere Praxen, manchmal orangefarben wie der yeurs, der wissen will, was die Men- weil Schuld und Sorgen Sonnenuntergang an einem Strand in schen morgens aufstehen lässt. „One sie krank machten. Südfrankreich. Die Bewohner dieser World“ ist Steffens bisher beste Arbeit, SPIEGEL: Und die Män- Welt räkeln sich nackt im Bett, sie liegen weil sie getrieben ist von der Neugier ner haben keine Pro- betrunken auf dem Bürgersteig, sie stel- auf die Gier der Menschen. In jedem bleme mit ihrem Beruf? len ihre Leidenschaften zur Schau, sie Foto will er die Antwort auf die Frage Lo Verso: Mafiosi haben

fahren Taxi, führen Krieg, lieben sich, finden: Was hält die Menschheit zusam- keine Schuldgefühle. Tö- CAMERA LANNINO / STUDIO FRANCO gehen auf den Strich. Der ehemalige men? Welche Tabus? Welche Moral? ten ist bürokratische Lo Verso „Tempo“-Hausfotograf Alfred Steffen, Routine. Der Feind hat 41, hat Menschen aus aller Welt auf Alfred Steffen: „One World“. Edition Braus, kein Gesicht, er wird zerquetscht wie ihren Wegen durchs Leben begleitet, 20 Heidelberg; 176 Seiten, 110 Abbildungen; 49,90 Euro. ein Insekt. Und Mafiosi haben ein unterentwickeltes Sexualleben: Ehe- frauen sind Mütter und Komplizin- nen, potent ist der Mafioso nur mit AUSBILDUNG cken von ihm ab, und er leidet darun- der Pistole. ter. Denn Matthias, Hauptfigur des an SPIEGEL: Was ist das Ziel Ihrer For- Werte im Berufsschulen gezeigten neuen Be- schungen? nimmfilms „Wertlos!?“, ist eigentlich Lo Verso: Man kann die Mafia nur Schnelldurchlauf kein schlechter Kerl, er weiß es nur bekämpfen, indem man sie von innen nicht besser. Da geht es ihm nach Mei- heraus versteht. Sie ist eine krimi- atthias, Tischlerlehrling im ersten nung seiner Erfinderin, Filmemacherin nelle Organisation, sie ist stärker als MAusbildungsjahr, hat es nicht Tanja Pfad, 38, wie vielen seiner 17- bis je zuvor, es gibt rund 5000 aktive Ma- leicht. Seine Kleidung stinkt zum Him- 19-jährigen Schulkameraden. Pfads fiosi und zehnmal so viele Helfer. Zur- mel, weil er sie nie wechselt; ständig viertelstündiger Film, gefördert von zeit herrscht Bandenkrieg der Ca- kommt er zu spät zum Unterricht und den Bundesländern Niedersachsen und morra in Neapel. Diese Fakten sind muss sein Frühstück, eine Tüte Zwiebel- Bremen und dort bereits erprobt, ver- bekannt. Wie Mafiosi aber ticken, ringe, dort nachholen. Die Mädels rü- passt seinen Zuschauern im Schnell- welche Familienbande sie stark wer- durchlauf eine Mindestausstattung an den lassen, wusste man nicht. gesellschaftlichen Werten. Kurze Sze- SPIEGEL: Man kennt Mafiosi aus Fil- nen behandeln Höflichkeit, Pünktlich- men wie „Reine Nervensache“ mit keit, Hilfsbereitschaft oder Zivilcou- Robert De Niro und Billy Crystal als rage. Bei den Schülern ist der filmische Analytiker. Alles Klischees? Mini-Knigge beliebt, das liegt laut Lo Verso: Kein Psychologe würde je Katharina Nolte, Berufsschuldirektorin seine Praxis verlassen und in der Höh- in Osnabrück, auch daran, dass er Hu- le des Löwen therapieren. Hollywood mor hat: Im Abspann dürfen sich die produziert naive Schmonzetten, sie

LARS KOWERT LARS filmischen Vorbilder auch mal daneben- haben nichts mit der Realität zu tun. Berufsschulfilm „Wertlos!?“ benehmen.

der spiegel 52/2004 51 Szene Gesellschaft

Was war da los, Mr. Schertenleib? Der US-Soldat Wyatt Scher- tenleib, 21, über seinen Was- sereinsatz im Irak

„Das sah zunächst wie ein einfacher Job aus. Zusammen mit meinem Kameraden Adam Smith musste ich quer über den Fluss Nato-Draht befesti- gen. Damit sichern wir eine darüberliegende Brücke, die strategisch für uns sehr wich- tig ist. Für die irakischen Kämpfer war diese Brücke so eine Art Testgebiet, dort haben sie ihre selbstgebastelten Bomben aus- probiert. Sehr beliebt war ein

aus Plastikflaschen zusammen- AFP gesetztes Floß, an dem Spreng- Schertenleib (r.) in Latifija stoff klebte. Dank unserer Konstruktion aus Nato-Draht können solche Minuten, um mich zu befreien – und das ohne Boden unter Anschläge jetzt verhindert werden. Der Draht ist höllisch: Mit den Füßen in dieser eiskalten Brühe schwimmend. Wir sind einem Bein hatte ich mich darin verfangen, allein hat man da froh, wenn das hier vorbei ist und wir zurück nach Hause keine Chance, wieder rauszukommen. Adam brauchte zehn können.“

PSYCHOLOGIE öffentlichte Studie. Die Psychologinnen INTERNET Laurie Rudman und Stephanie Good- Männlicher win unterzogen 204 heterosexuelle Col- Schöne neue legestudenten einem Assoziationstest, Selbstzweifel bei dem die Probanden positiv und Medienwelt negativ besetzte Begriffe mit Frau oder llen Geschichten um Zickenterror Mann in Verbindung bringen sollten. och nie hat sich ein neues Medium Azum Trotz: Der Anteil der Frauen, Sowohl Männer wie Frauen assoziierten Nso schnell verbreitet wie das Inter- die Frauen lieber mögen als Männer, ist bei Wörtern wie „gut“, „glücklich“ net. Vor zehn Jahren, als das Netz etwa fünfmal so hoch wie der Anteil der oder „Sonnenschein“ meist Frauen. populär wurde, gab es weltweit etwa Männer, die Freundschaften zu Män- Die Psychologinnen stießen auf ein sich 16 Millionen Nutzer – heute sind es 830 nern bevorzugen. Zu diesem Ergebnis wiederholendes Muster: Frauen mit gut- Millionen. Jeder achte Mensch auf der kommt eine in den USA kürzlich ver- entwickeltem Selbstwertgefühl tendier- Erde hat heute Zugang zum Internet, ten zum logischen Schluss: im Jahr 2010 könnte es jeder fünfte Wenn ich gut bin und eine sein. Die Zugangsmöglichkeiten sind je- Frau, heißt das, dass Frau- doch ungleich verteilt: Mehr als 80 Pro- en gut sind. Männer da- zent aller Nutzer leben in nur 20 Staa- gegen folgten der Logik: ten. Diese Zahlen wurden jetzt auf Wenn ich gut bin und ein researchworldwide.com veröffentlicht; Mann, heißt das noch lan- ihnen zufolge wird das größte Wachs- ge nicht, dass Männer gut tum in Zukunft in Schwellenländern sind. Als entscheidend für wie China, Brasilien und Indien erwar- eine proweibliche Aus- tet. In Deutschland waren im Juli dieses richtung bei den Männern Jahres rund 47 Millionen Menschen ergaben die Tests eine star- online, nach absoluten Zahlen liegt die ke Bindung an die Mutter Bundesrepublik damit weltweit auf dem sowie ausgeprägte sexuelle vierten Platz. Wenn man jedoch nach- Wünsche. Aber auch die rechnet, wie viel Prozent der Bevöl- Angst, durch ein Bekennt- kerung einen Internet-Zugang haben, nis zu Männern für homo- reicht es für Deutschland mit 57,1 Pro-

CAPITALPICTURES / FACE TO FACE FACE TO / FACE CAPITALPICTURES sexuell gehalten zu wer- zent nur für Platz 14. Vorn liegen Schwe- Film-Freundinnen in der TV-Serie „Sex and the City“ den, spiele eine Rolle. den, Hongkong, die USA und Island.

52 der spiegel 52/2004 Szene Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Mittring starrt. Drei Sekunden. Vier Sekunden. Fünf Sekunden. Als er vier war, nahm Mittrings Mut- ter, eine Kirchenmusikerin, ihn zum Der Zahlenflüsterer Einkaufen mit. Er saß im Kindersitz und addierte die Preise all dessen, was Ma- Wie ein Weltmeister rechnet ma in den Wagen legte. Anschließend staunte er, dass die Frau an der Kasse lötzlich ist er verschwunden, ob- eine Tafel Schokolade. Dann zog er sich alles nochmals eintippte – er hatte doch wohl er noch am Tisch sitzt, aber an und verließ seine kleine Wohnung die Lösung längst genannt. Per hat sich aufgelöst in einer Welt am Bonner Adenauer-Platz, wo er am Mit zwölf ersann er Formeln, mit dekadischer Logarithmen und 40-stelli- Abend zuvor noch lange Bach gelesen denen man endlich mal Wochentage ger Primzahlen. Sein Mund ist verzerrt. hatte – um Musik zu hören, leiht er schnell 4000 Jahre rückwärts berechnen Die Augenlider flattern, er streckt den sich Partituren aus und liest sie. Er stieg kann. In der Oberstufe wählte er Mathe Zeigefinger, malt Zahlen in die Luft, un- in seinen roten Citroën und fuhr gen als Leistungsfach, was sonst, schließlich sichtbare, nur er kann sie sehen, und Gießen. waren ihm Lösungen immer auf den dann schnipst er sie nach links und di- Wo man ihn erwartete. Wo er einen Schoß gesprungen. Trotzdem schrieb er vidiert und flüstert mit ihnen, die Zah- Weltrekord aufstellen sollte. ständig Sechsen – weil er nicht begriff, len scheinen zu gehorchen – ihm und was an der gestellten Aufgabe eigentlich seinem Zeigefinger, der beinahe so weiß das Problem war. ist wie die gefaltete Serviette auf dem Sieben Sekunden. Beutelspacher Tisch des Steakrestaurants. starrt auf Mittring. Acht Sekunden. Der Das Wesen der Wirklichkeit ist die starrt auf die Zahl. Sitzt vorgebeugt, Zahl, sagten die Pythagoräer. malt Nebenrechnungen in die Luft. Es ist früh am Nachmittag. Im „Ma- Neun Sekunden. Mittring hat zunächst redo“ in der Bonner Innenstadt ist der Aus der „Süddeutschen Zeitung“ das Zahlenungetüm gleichsam abge- mittägliche Ansturm vor- schritten. Vor allem die ersten sechs Zif- über. Die Luft ist dick von Albrecht Beutelspacher, fern sind wichtig, er befühlt sie so, wie ein Rauch und Essensgeruch. Gießener Geometriepro- Orthopäde ein krankes Knie betastet, er Zwei Tische weiter sitzt ein fessor, ist ein umtriebiger ermittelt die Mantisse, die an die loga- Pärchen beim Kaffee, die Mensch. Er schreibt Kolum- rithmische Kennziffer 99 angehängt wird, Frau stupst ihren Begleiter, nen, er hat in Gießen ein Ma- er dividiert, delogarithmiert, sein auf nun schauen sie beide her- thematik-Museum gegrün- Vereinfachung komplexer Operationen über, auch die Kellnerin ist det, und er veranstaltet dort trainiertes Hirn arbeitet auf Hochtouren. stehen geblieben, wischt sich populäre Rechenshows. Es hilft ihm, dass er zum Beispiel die Hände ab und starrt her. Um 18 Uhr betritt Mittring 7,68 x 13 nicht „rechnet“, sondern weiß Was kritzelt er da in also die kleine Bühne im – Mittring, Meister der Trillionen, aber die Luft, dieser unrasierte Hörsaal 1. Rotes Sofa, Fla- auch ein Freund kleiner Zahlen. Die Mann? Und was murmelt er? sche Wasser, Kameras, ein Fünf zum Beispiel mag er, sie ist so ba- „Ähem, schauen Sie bitte Laptop ist eingestöpselt. lancierend. Auch die Sieben hat er gern – die Vier und die Eins als 170 Zuschauer. Man nimmt um sich, ein eigensinniges Ding. Anfangsziffern einer sehr Platz. Mittring und Beutels- Elf Sekunden. Die Gießener Studen- großen Zahl liefern uns vor- pacher machen Small Talk, ten tippen noch. Stopp! Mittring hat ge- zügliche Anhaltspunkte, dass magische Quadrate, punkt- brüllt. Er ist fleckig im Gesicht. Verliest

die Lösungszahl zwischen / DPA WEGST ROLF symmetrische Strukturen – seine Lösung. 47941071. Im Hörsaal ist 45 975 000 und 46 060 000 Mittring worüber Mathematiker halt es einen Moment lang sehr, sehr still. liegt – das ist schon mal aus- plaudern. Die Lösung stimmt, errechnet in gezeichnet, jetzt allerdings bitte ich um Um 18.30 Uhr setzt Mittring sich um, knapp zwölf Sekunden. Mit zwei Se- Aufmerksamkeit, nun wird es ein biss- Rücken zum Publikum, Gesicht zur Lein- kunden unterm bisherigen also neuer chen unübersichtlich…“ wand. Der Laptop wird gestartet, sein Weltrekord. Applaus, Mittring muss Und rechnet weiter. Zufallsprogramm wird gleich eine hun- Hände schütteln, Autogramme geben, Und stimmt, es wird unübersichtlich. dertstellige Zahl ermitteln und auf die Bücher signieren. Es ist spät und dun- Der Mann im Steakrestaurant heißt Leinwand projizieren. Mittrings Job: die kel, als er wieder Richtung Bonn fährt. Gert Mittring. Er ist 38 Jahre alt, stu- 13. Wurzel ziehen*. Jene Zahl also, die, Macht Rechnen glücklich, Herr Mitt- dierter Informatiker, zwei Doktortitel, zwölfmal mit sich selbst multipliziert, die ring? gemessener IQ von 145, geschätzter IQ: projizierte Zahl ergibt. Und bitte im Kopf. Mittring sitzt im Maredo-Steakhaus 170, wahrscheinlich ein Genie. Mitglied Bereit? Mittring nickt. Es erscheint: und spielt mit dem Wasserglas. Er zö- der Bach-Gesellschaft sowie im „Klub 706643738167428610223400883024015 gert, dann lächelt er. Sein Gießener Auf- Langer Menschen“. Er ist 1,90 Meter 73757042331707026327312697215160003 tritt liegt einige Wochen zurück. „Rech- groß, hat einen eingetrockneten Saucen- 95709065419973141914549389684111. nen heißt durchdringen, es ist ein ästhe- fleck auf der Krawatte und eine Mission. Im Publikum atmen Leute scharf aus. tischer Genuss – und, ja: Es macht mich Er will uns zum Denken bringen. Hundert Stellen halt. glücklich, sehr.“ Er schweigt. Dann be- Und so stand Mittring am Vormittag Die Zeit läuft. ginnt er zu essen, leert seinen Teller des 23. November 2004 um elf Uhr auf, methodisch von rechts nach links. putzte sich die Zähne und frühstückte: * Der komplette Lösungsweg unter: www.spiegel.de Ralf Hoppe

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KARRIEREN Ritt ins Ungewisse Der Mann hinter dem Monumentalfilm „Alexander“ ist der Deutsche Thomas Schühly. Ihn treibt die Sehnsucht nach Größe, deshalb hat er 15 Jahre lang um diesen Film gekämpft, der nun die Produktionskosten von 150 Millionen Dollar einspielen muss. Von Dirk Kurbjuweit

Produzent Schühly: Mit Elefanten in die Geschichte der Filmschlachten eingehen

er Mann, dessen Film derzeit bru- macher“ mit Götz George gemacht, aber letzlich wirkte wie ein ängstlicher Hund, tal verrissen wird, tanzt. Er ist in „Alexander“ ist das Prachtstück seines Le- der den Gegnern seinen Bauch herzeigt DMarrakesch, in der Discothek des bens, zugleich sein härtester Kampf – und und hofft, dass sie nicht zubeißen. Hotels „La Mamounia“, es ist drei Uhr noch ist nicht entschieden, ob er als Sieger Jetzt haben sie gebissen, und es tut weh, morgens, der Wodka fließt, die Frauen sind in die Filmgeschichte eingehen wird. Doch aber Stone hat sich entschieden zurück- schön und tragen knappe Kleider, der DJ in der Discothek in Marrakesch genießt er zubeißen. Als er das kleine Sonnenbad heizt kräftig, „We Will Rock You“. Augenblicke des Glücks, wie sie nur je- nimmt, sieht er aus wie jemand, der auf- Thomas Schühly, mittelgroß und stäm- mand kennt, der weiß, dass es immer rich- tankt für die nächsten Runden. mig, trägt einen dunklen Anzug und eine tig ist, seine Träume umzusetzen, egal was Kurz darauf sitzt er für ein Interview Brille, sein Haar ist vorn schütter, er ist 53. die anderen sagen. mit dem Schweizer Fernsehen neben Er stampft auf der Stelle, sein rechter Arm Am Tag darauf steht Oliver Stone, 58, im Schühly auf einer Sonnenliege, der ameri- fliegt hoch, er streckt den Zeigefinger, der Garten vom „La Mamounia“ und vertei- kanische Regisseur und sein deutscher Pro- Arm schnellt auf und ab. Schühly lächelt, digt den Film „Alexander“, dessen Regis- duzent. Sie sitzen zwischen Bäumchen, an es geht ihm gut, auch wenn in den Zei- seur er ist, und plötzlich hält er inne, denen pralle Orangen hängen, zwischen tungen hässliche Sätze über seinen Film schließt die Augen und wendet sein Gesicht Palmen und im Gezwitscher der Vögel, und „Alexander“ stehen. der Sonne zu. So steht er eine Weile da und manchmal gehen in Badetücher gewickel- Schühly ist der Produzent. 15 Jahre hat genießt überrascht die Wärme, wie jemand, te Frauen vorbei. Der Himmel ist blau, der er für diesen Film gearbeitet, der am Don- der vergessen hat, dass es eine Sonne gibt. Lebensfilm von Stone und Schühly ist in ei- nerstag in Deutschland anläuft. Er hat Er sieht besser aus als zwei Monate zu- ner Szene angekommen, die sie sich nicht Fassbinder produziert, er hat den „Tot- vor in Paris, als er den Film schnitt und ver- schöner hätten schreiben können.

56 der spiegel 52/2004 Schühly, im weißen Sakko, zitiert wie Mit Anfang zwanzig war der makedoni- Cafés. Er trägt eine Sonnenbrille von Ar- üblich Goethe; Stone, im schwarzen Sak- sche König samt seinem Heer gen Osten mani und führt sich auf wie der ganz große ko, sagt artig, Schühly sei wie ein Lehrer gezogen und hatte in rund zehn Jahren Asi- Produzent aus Hollywood. Bald hört die für ihn gewesen, und man sieht zwei Män- en bis zum Hyphasis unterworfen. Er starb ganze Terrasse zu, weil er dröhnend und ner, die in 15 Jahren miteinander und 323 vor Christus in Babylon, gerade 32 Jah- unter gigantischen Lachanfällen aus der manchmal auch gegeneinander um einen re alt, an einer unbekannten Krankheit. Kinowelt erzählt. Kinofilm über Alexander den Großen ge- Schühly war von Alexander fasziniert, seit Er hat sieben Jahre des Wartens hinter rungen haben. Man sieht zwei Freunde, ihm seine Mutter in Kindheitstagen die Ge- sich. Er redet davon, einen Spielfilm über die sich bis in den tiefsten Abgrund kennen schichten des Altertums vorgelesen hatte. Leni Riefenstahl zu machen, über Julius gelernt haben, ohne einen letzten Rest von Im Sommer 1989 schreibt Schühly ein Cäsar, über Adolf Hitler, über einen Land- Fremdheit überwinden zu können. Man Papier, in dem er ein Konzept für einen pfarrer. Er redet über tausend Projekte, er sieht einen liebenden Schühly und einen „großen, epischen Kinofilm“ über Alex- wirkt ein wenig verzweifelt. In Wahrheit dankbaren Stone. ander entwirft. Er will ihn nicht bloß als will er nur einen Film machen: den über PETER SCHINZLER (L.);PETER SCHINZLER BROS. (R.) WARNER Dreharbeiten zu „Alexander“ in Marokko: „Blut, Töten und Tod“

Es ist der Tag nach Nikolaus, sie sind Eroberer zeigen, sondern als Gestalter ei- Alexander. Leider komme er da nicht wei- in Marrakesch, weil „Alexander“ dort auf ner „Weltkultur“. Das Papier schickt er an ter, sagt Schühly. dem Filmfestival gezeigt wird. Ihre Laune Oliver Stone, der mit „Platoon“ und „Ge- Eigentlich hat er längst nicht mehr Pro- bessert sich von Tag zu Tag, weil Meldun- boren am 4. Juli“ Oscars gewonnen hat. duzent sein wollen. Als am 10. Juni 1982 gen hereinkommen, dass ihr Werk in Eu- Stone schreibt am 11. Juli 1989 einen der Regisseur Rainer Werner Fassbinder ropa gut angelaufen sei. Ihnen kommt die Brief an Schühly, der in acht Punkte ge- starb, war Schühly innerlich so zerbombt, Idee, dass sie vielleicht einen Film gemacht gliedert ist: „1. Brillante Analyse… 6. O ja, dass er mit der Filmwelt nichts mehr zu haben, der wirkt wie der Krieg im Irak. Er Thomas, du hast in meinen Augen, endlich, tun haben wollte. spaltet Bush-Amerika und Europa. den wahren Helden geschaffen! Ich ver- Er liebte Fassbinder. Schühly ist ein Aber in Wahrheit ging es ihnen um et- stehe. Sei gesegnet …,denn du bist wahr- Mann mit einer seltenen, einer schönen was anderes. Sie haben den Stoff Alexan- haftig ein großer Produzent.“ Eigenschaft: Er kann Männer hemmungs- der genommen, weil sie wissen wollten, Stone und Schühly beginnen mit den los lieben. Er ist nicht schwul, er liebt wie was „Größe“ ist. Sie wollten auch wissen, Vorbereitungen, aber drei Jahre später ist ein Kind, voller Vertrauen und seelischer warum er mit seinen Makedoniern und das Projekt tot, weil Schühly keine Geld- Hingabe. So liebt er Fassbinder, bei dem er Griechen unermüdlich bis nach Indien ge- geber findet. Niemand kann sich vorstellen, als Regieassistent angefangen hat. Später zogen ist. Was treibt einen Menschen? dass ein Sandalenfilm ein Kassenschlager produzierte er für ihn Filme wie „Lola“ Warum zieht er immer weiter? Sie haben wird. Die Zeiten von „Ben-Hur“ scheinen oder „Die Sehnsucht der Veronika Voss“. Alexander den Großen genommen, um längst vorbei. Schühly ist Ende zwanzig, als er in die Antworten auf ein paar Fragen an das ei- An einem Sommertag 1999 sitzt Thomas Fassbindersche Welt des Gebrauchs von gene Leben zu finden. Schühly auf der Terrasse eines Münchner Drogen und Menschen eintaucht. Er wird

der spiegel 52/2004 57 Gesellschaft CONSTANTIN FILM CONSTANTIN Regisseur Stone, Darsteller bei „Alexander“-Filmarbeiten: „Ich werde immer ein wenig wie meine Filme“ mitgerissen von diesem Strudel aus Ge- Da er in Gedanken halb bei den alten und der Regisseur Baz Luhrmann damit, nialität, Charme und Unmenschlichkeit. Griechen lebt, sieht er in Fassbinder einen einen Film über Alexander vorzubereiten. Wie im Fieber entstehen immerzu Filme, neuen Dionysos, einen Gott der Ausschwei- Ein Wettlauf setzt ein. Nur der Erste kann die geliebt und gehasst werden. fung, der Leidenschaften. Schühly lebt das sich gute Marktchancen ausrechnen. Schühly folgt Fassbinder bedingungslos. nur begrenzt mit. Denn in seiner Seele wohnt Schühly gelingt es nun, den deutschen Er lässt sich nötigen, über Monate bei des- auch Apollon, der eher für Vernunft und Produzenten Moritz Bormann für sein Pro- sen Mutter zu wohnen, in seinem Jugend- Maß steht. „Dionysos gegen Apollon“, sagt jekt zu gewinnen. Der hat eine Firma, die bett zu schlafen, weil Fassbinder will, dass Schühly, „ist der Kampf meines Lebens.“ Filmfonds anregt. Wer sein Geld dort in- Schühly weiß, wie sehr er gelitten hat un- Als Fassbinder, gerade 37-jährig, nach vestiert, kann mit hohen Steuerersparnis- ter dieser Mutter. „Ich habe eine vernich- langem Selbstverzehr stirbt, fällt Schühly sen rechnen. Über zehn Milliarden Dollar tende Kälte erlebt“, sagt Schühly. in die schwarze Leere. Er will aufgeben, sind insgesamt seit 1997 aus Deutschland Für Fassbinder hat er nur gute Worte. Er macht dann doch weiter, produziert vor al- nach Hollywood geflossen. sieht „Großzügigkeit, Leidenschaft, Mut, lem in Italien, und insgeheim macht er sich Schühly fliegt zu Stone nach Los Ange- Lebensfreude“, er sieht einen Mann, der auf die Suche. Er sucht nach einem neuen les. Sie reden tagelang über ihren Film, sie „die Drehtage so plant, dass die lassen ein Tonband mitlaufen. Schühly ist Leute um sechs bei ihren Fami- Schühly ist für Stone wie eine Tanksäule, für Stone wie eine Tanksäule, aus der er In- lien sind“. formationen über die alten Griechen zapft. Andere sehen eher einen Sa- aus der er Informationen über „Was ist Größe?“, fragt er Schühly in disten, der Freude daran hat, die Philosophie der alten Griechen zapft. Los Angeles. Der fliegt heim, geht in Grün- Schühly für Nebenrollen in eine wald in seine Bibliothek, liest, schreibt. Er SS-Uniform zu stecken, der einen anderen Fassbinder für sein Leben. Nach den ersten schickt Stone ein vierseitiges Manuskript. Produzenten demütigt, indem er mit des- Begegnungen mit Oliver Stone hat er die Größe, schreibt er, ist „der Wille zu siegen sen Geliebter schläft und ihn dann post Ahnung, endlich einen finden zu können. und zu versöhnen“. coitum anruft, um zu prahlen. Umso schlimmer ist es, dass er mit ihm Stone hat tausend Fragen. Er ruft nachts Schühly durchläuft diese Schule der nicht arbeiten kann, weil das „Alexander“- an, schickt E-Mails, Faxe. Schühly liest und Schlechtigkeit mit Faszination. Seine Mut- Projekt auf Eis liegt. schreibt. Stone drückt aufs Tempo. Er wün- ter hat ihn nicht nur die Klassiker gelehrt, Im Jahr 2000 passiert etwas Unerwarte- sche sich die Antworten schneller „als eine sondern auch das Christentum. Schühly ist tes. Dem Regisseur Ridley Scott war es ge- Generation später“, schreibt er ungnädig in tiefgläubig, was er bei Fassbinder sieht, lungen, sich einen Sandalenfilm finanzieren einer E-Mail. Er hat Angst, das Rennen ge- greift sein Wertekorsett an. Aber zum Ka- zu lassen. „Gladiator“ füllt weltweit die gen Luhrmann zu verlieren. tholizismus gehört auch, dass der, der den Kinos und räumt fünf Oscars ab. Sofort Schließlich geht er nach Bangkok, um Versuchungen erliegt, auf Gnade hoffen nimmt Schühly die Arbeit am „Alexander“- am Drehbuch zu arbeiten. Schühly hält das darf. „Gnade“ wird zum zentralen Begriff Projekt wieder auf. Gleichzeitig beginnen für keine gute Idee, weil er weiß, dass der von Schühlys Denken. auch der Produzent Dino De Laurentiis Ort das Schreiben beeinflusst. Und Stone ist

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sich vorzustellen, was er gedacht und getan hätte. Schühly redet in dieser Phase über den König wie über einen vertrauten Freund oder wie über sich selbst. Allmählich verwandelt er sich gedank- lich in Alexander. In der Suche nach des- sen Größe spiegelt sich die Suche nach der eigenen. Schühly will der erste deutsche Produzent sein, der einen Oscar für den besten Film bekommt, er will „Spuren in der Geschichte hinterlassen“. Als Stone im Herbst 2002 die dritte Fas- sung des Drehbuchs abliefert, ist Schühly entsetzt. Er sieht Sigmund Freud in Bang- kok, sieht „ein finales großes Fest von Dionysos’ zerstörerischen Kräften“, wie er schreibt. Diesen Film will er nicht, fast kommt es zum Zerwürfnis. Stone macht eine vierte Fassung, die Schühly so kom- mentiert: „Ich bin tief beeindruckt.“ Er reist nun in alle Welt, um nach Dreh-

LEO WEISSE LEO orten zu suchen. Er sucht auch 20 Elefan- Schauspieler Schühly (l.), Regisseur Fassbinder (r.)*: Mit Freude in SS-Uniformen gesteckt ten, mit denen man die Schlacht am Hy- daspes in Indien nachspielen kann. sehr empfänglich für die Reize einer Stadt ly ist skeptisch, er will nicht „das Wien von Eines Tages ruft er an und sagt, nach wie Bangkok. In den Interviews, die er über 1900“, will nicht Theorien von Sigmund ihrem „Alexander“ müsse die „Geschich- die Jahre gegeben hat, hinterlässt er stets Freud im Film haben. Als er im Drehbuch te der Kinoschlachten neu geschrieben Spuren, mit denen er seinen Lebenswandel liest, dass Alexanders Braut Roxane Ähn- werden“. Aus ihm spricht das Vergnügen wie hinter einem Schleier zu erkennen gibt. lichkeit mit Olympias hat, es also gleichsam eines Jungen, der im Kinderzimmer Plas- Er dementiert nicht den Gebrauch von zum ödipalen Akt kommen soll, schreibt er tikarmeen verschiebt. Damit ist er nicht al- Drogen, er fordert Hurenhäuser für Kali- an Stone, „eine solche Ähnlichkeit hätte lein. Am 7. August 2003 zitiert die Münch- fornien, wo sie verboten sind. Alexander impotent gemacht“. ner „Abendzeitung“ Luhrmann mit dem Stone ist ein dionysischer Mensch, aber Er will eine „ästhetische Wahrhaftig- Satz, er bereite gerade „die größte Schlach- Schühly will keinen Alexander, der sich keit“, will die Griechen Griechen sein las- tenszene vor, die jemals im Kino gezeigt durch Asien vögelt. „Die dionysische Seite sen und nicht mit „amerikanisch-protes- wurde“. Der Wettlauf ist in vollem Gange. seines Charakters war nicht Sex, es war tantischer Moral“ aufladen. Als er das Wort Aber Stone und Schühly liegen vorn. Im Blut, Töten und Tod“, schreibt er. „schuldig“ in einer Drehbuchfassung fin- September 2003 beginnen in Marokko die Schühly ist glücklich in dieser Phase. Bei det, sagt er Stone, dies habe im Denken der Dreharbeiten. Im Juli 2004 reist Schühly einer Begegnung in München im Sommer Griechen keine große Rolle gespielt. Es sei nach Paris zu Oliver Stone, um sich zum 2001 sprüht und sprudelt er mehr denn je. ihnen um Ehre und Ruhm gegangen. ersten Mal einen Rohschnitt von „Alexan- Seine Rede ist wie ein Fluss, der über die Schühly hat Jura studiert, und als er ein der“ anzuschauen. Wer jemals maßgeblich Ufer tritt, alles mit- und fortreißt, und stän- Praktikum bei einem Staatsanwalt machte, an einem Film mitgearbeitet hat, ohne der dig tauchen aus den Fluten neue Köpfe sollte er einen Prozess gegen einen notori- Regisseur zu sein, weiß, wie brutal das ist. auf: Goethe, Sokrates, Fellini, Sophokles, schen Fahrraddieb vorbereiten. Er sagt, dass Man hatte die ganze Zeit eigene Bilder im Shakespeare. Sie werden rasch überspült, er es nicht konnte, dass er nicht entscheiden Kopf, und dann sieht man plötzlich einen neue erscheinen, Homer, Nietzsche. wollte, ob jemand schuldig Schühly selbst wirkt wie ein Schwimmer im ist oder nicht. Er habe des- Schühly konnte den Fahrraddieb nicht anklagen. Strom seiner eigenen Rede, nicht immer halb das Studium abgebro- mit dem Kopf über Wasser. chen. Ihn interessiert mehr Er wollte nicht entscheiden, Wenn er von Stone redet, dann ist das die Frage: „Was ist Gut und ob jemand schuldig ist. Er hörte auf mit Jura. wie ein liebevoller Gesang, und ständig Böse, und wo dreht es sich zieht er Vergleiche zu Fassbinder. „Er ist um?“ Er will keine moralischen Urteile fäl- ganz anderen Film, den Film des Regis- ein Wahrheitssucher, ähnlich wie Fassbin- len, sondern die Menschen in ihrem Ver- seurs. Es gibt dann nur zwei Möglichkeiten: der“, sagt er. „Was ich bei Stone von Fass- halten beobachten. Am Ende gebe es dann Man kann diesen Film hassen oder sich mit binder sehe, ist der Mut, Menschen so zu immer die Möglichkeit der Gnade. ihm befreunden. erzählen, wie sie sind, nicht wie sie sein Über die dionysische Seite in seinem Le- Schühly befreundet sich sofort mit Stones sollen“, sagt er. ben redet er nicht. Er sagt nur, dass er nicht „Alexander“. Er dankt überwältigt. Auch Stone hat ein Problem mit der selten eine Zigarette rauchen muss, bevor Wenig später sitzt er in Grünwald in der Mutter, einer Französin, die ihn halb er in jene Kirche in Rom gehen kann, in der „Bar Italia“ und redet sichtlich gerührt dominiert, halb im Stich gelassen hat. In sein Beichtvater wartet. Man kann den Ein- über Stone. „Alexander“, sagt er, „hat nie seinem autobiografischen Roman „Night druck haben, ein Teil seines Lebens wären Berührungsängste gehabt, jeder konnte zu Dream“ schreibt er: „Denn es gibt Mo- Versuche in Schuld, um entdecken zu kön- ihm, bei Stone ist es genauso.“ Er ist schnell mente …, in denen ich erkenne, dass ich nen, wie weit die Gnade Gottes reicht. wieder bei Fassbinder und den Parallelen, diese Frau mit meinen Händen packen und Stone und Schühly sind sich einig, dass und in seinem Redefluss bildet sich rasch ihr den letzten gottverfluchten Atemhauch Alexander böse und gut zugleich sein eine Gruppe von vier Männern, die sich aus dem Leib stoßen will.“ muss. Sie verbringen jetzt ihr Leben damit, ähnlich sind und aus denen jetzt ein Film Weil Stone ein Problem mit seiner Mut- geworden ist: Oliver Stone, Rainer Werner ter hat, soll auch Alexander ein Problem * Bei Dreharbeiten zu „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ Fassbinder, Thomas Schühly und Alexan- mit seiner Mutter Olympias haben. Schüh- mit Rosel Zech, 1981. der der Große, Herrscher über neun Zehn-

60 der spiegel 52/2004 Gesellschaft tel der damals bekannten Welt. Dann fließt ander kämpft nicht nur gegen Perser, Bak- zurück. Shakespeare habe Cäsar gemacht, der Fluss von Schühlys Worten endlos wei- trer, Skythen, Inder, sondern vor allem ge- da sei nur noch Alexander geblieben. Wie ter. Er redet von seinen beiden Kindern, gen seine Mutter. Das ist die Schwäche des Schühly zieht er oft Vergleiche von sich zu denen er das Fernsehen stark limitiert hat, Films, aber sie war wohl unvermeidlich. Ein Alexander, aber er tut es in der ersten Per- und als sie sich nicht an die Regeln hielten, Kunstwerk enthüllt oft, wessen Gefangener son Plural. „Wir alle haben ein dunkles hat er seine Pistole geholt und den Fern- der Künstler ist. Stone zeigt sich in „Alex- Geheimnis“, sagt er. „Er hat etwas Großes seher erschossen. Er redet von seinen ander“ als Gefangener seiner Mutter. hingekriegt, aber am Ende ist er gescheitert Nachbarn in Grünwald, die alle Angst hät- Aber der Film ist stark, wo er Alexander – wie wir alle.“ Hat sich Stone in den ver- ten, Angst davor, dass das Öl nicht mehr auf dem Vormarsch zeigt, in den Schlach- gangenen Jahren in seiner Vorstellung in fließt und ihre mit Luxusgütern gefüllte ten und auf dem langen Ritt zum Ende der Alexander verwandelt? „Ich werde immer Leere explodiert. Welt und in die eigene See- Er ist viel in Bewegung, wenn er redet, le. Der König lässt Zehntau- „Er hat etwas Großes hingekriegt, aber er taucht und wippt, und wenn er lacht, sende sterben, angeblich für fliegt er nach hinten und knallt gegen die eine geeinte Welt, aber in am Ende ist er gescheitert – wie wir alle“, sagt Lehne. Es ist ein Lachen, in dem er ver- Wahrheit, weil er Angst hat, Regisseur Stone über Alexander den Großen. schwindet und aus dem er zurückkehrt. es könne einen Tag geben, Der Dramatiker Botho Strauß, der auch an dem nichts passiert. Es ist ein Ritt gegen ein wenig wie meine Filme“, sagt er. Er mit Schühly über ein Filmprojekt geredet die Leere, wie ihn viele kennen. Stone fin- geht hinaus, kommt nach drei Minuten hat, nennt es ein „konvulsivisches La- det kraftvolle Bilder dafür. wieder, schwankt zum Schreibtisch, stützt chen“. In seinem Theaterstück „Der Narr „Schühly ist der intellektuelle Pate des sich mit einer Hand auf, die andere ver- und seine Frau heute Abend in Pancome- Films“, sagt er nach der Vorführung. Er schattet die Augen. So steht er minutenlang dia“ gibt es einen Verleger Albert Brigg, sitzt auf einem roten Sofa, und er schaut da, hineingeschossen in eine andere Welt, der unschwer als Thomas Schühly zu er- auf ein Poster, das Colin Farrell als Alex- unerreichbar für jede Ansprache. Irgend- kennen ist. „Es tropfen die Namen, es klim- ander zeigt. Daneben hängt ein Kalender wann taucht er wieder auf, erinnert sich pern die Verbindungen, und alles kommt mit asiatischen Pin-up-Girls. langsam, setzt sich. Seine Stimme rutscht, mit lauter Stimme, die zuweilen in ein kon- Warum hat er einen Film über Alexan- man kann nicht mehr viel sagen. Ein Leben vulsivisches Lachen ausbricht, das noch der gedreht? „Über wen sonst?“, fragt er wie dieses hat einen Preis, aber er zahlt ihn lauter, noch selbstsicherer und lieber, als ein anderes, viel- fürchterlicher klingt als seine leicht öderes Leben zu führen. Worte“, sagt einer, der mit Als er zwei Monate später Brigg redet. in Marrakesch sitzt, ist der So kann man Schühly sehen. Film in vielen Ländern ange- Er kann nerven. Er ist jederzeit laufen. In den USA wurde er zu den größten Verstiegenhei- fast einhellig verrissen und ten und dem größten Größen- kommt in den Charts über ei- wahn in der Lage. Er sagt von nen sechsten Platz nicht hin- sich selbst, dass er „keine ein- aus. Aber in Europa läuft er fach zu ertragende Person“ sei. gut, liegt zum Beispiel in Russ- Aber er hat keine Angst, er land, Dänemark oder Ungarn selbst zu sein. Er würde sei- an der Spitze. Ist es noch mög- ne Schwächen nie schminken. lich, dass der Film die 150 Mil- Man kann ihn auch sehen als lionen Dollar, die er gekostet einen Mann, der ohne Scheu- hat, wieder hereinspielt? klappen nach dem forscht, was Schühly hofft. Aber es liegt Menschsein bedeutet, was die schon eine gewisse Melancho- „Conditio humana“ ist, wie er lie über seinem krachenden es nennen würde. Man kann Auftritt. Es geht ihm nicht um ihn mögen dafür. das Geld, er hat bei einem Der 11. Oktober ist ein son- Dutzend Begegnungen in fünf niger Herbsttag in Paris. Oliver Jahren nicht einmal über Geld Stone sitzt im Büro einer geredet. Er kann nichts ver- Firma, die Postproduktionen lieren, Reichtum zu erlangen macht. Er schneidet noch an bedeutet ihm nicht viel. Es ist seinem Film, Sound und Com- mehr die Frage des Ruhms, puteranimationen sind nicht der Größe, der „Spuren in der fertig. Er trägt, wie fast immer, Geschichte“. Er hat Zweifel, ein rotes Polohemd. Er ist blass, ob er dahin kommt, wo er hin er sieht aus, als hätte er seit wollte mit diesem Film. Jahren nicht mehr geschlafen. Und da ist noch etwas. Er Er will nicht lange reden, er schickt eine E-Mail, es geht will seinen Film zeigen. Dann noch einmal darum, wie tief folgen drei Stunden in einem ihn die Arbeit mit Stone dunklen Zimmer mit einem berührt hat. „Schon heute großen Bildschirm. Man sieht habe ich eine panikartige ein wenig Bangkok und viel Angst vor der Leere“, schreibt „Wien von 1900“. Roxane sieht er, „auch der Leere, dass ich Olympias ähnlich, und Alex- möglicherweise nie wieder mit

TOPHAM PICTUREPOINT / KEYSTONE PICTUREPOINT TOPHAM einem Typus wie Stone zu- * Angelina Jolie, Val Kilmer, Colin Farrell. Filmhelden Olympias, Philipp, Alexander*: Kampf gegen die Mutter sammenarbeiten könnte.“ ™

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Das deutsche Feld Ortstermin: In Berlin wurde die letzte Stele für das neue Holocaust-Mahnmal aufgestellt.

er Führer, den man an diesem Ort als hätte Eisenman das New Yorker Licht „Dann ist es der Wille des Volkes.“ nicht so nennen möchte, geht über mitgebracht. Als der Kran die Stele hebt, Wanders steht daneben und lächelt. Dden Todesstreifen, der Deutschland wackelt sie kaum, und als sie den Bo- Das Mahnmal, wie die Geschichte, hat zerschnitt. Er passiert das Mahnmal für die den berührt und die Lücke schließt, ist keinen Eingang und keinen Ausgang. Jeder ermordeten Juden und schreitet über die es still. muss seinen eigenen Weg darin finden. Erde, unter der sich Goebbels im Bunker Die Journalisten drängeln sich um Ei- Die Größe der 2711 Stelen jedoch ist versteckte. Kies knirscht unter seinen senman und fragen ihn, was das Denkmal exakt definiert. Sie sind 2,38 Meter breit, Schuhen. Am Ende der Straße dreht er sich den Deutschen sagen soll. „Nichts“, sagt 95 Zentimeter tief und zwischen 20 Zenti- um und stoppt unweit der Stelle, an der Eisenman. „Es soll still sein wie die Men- meter und 4,70 Meter hoch. Die schwerste Hitler verbrannte. Geografisch betrachtet schen in Auschwitz.“ wiegt 16 Tonnen. Sie stehen auf unebenem steht er jetzt genau zwischen dem Mörder Die Journalisten sehen ihn ratlos an. Sie Grund und neigen sich sanft. Je tiefer man und den Ermordeten. werfen ihm immer neue Fragen zu, sie wol- in das Stelenfeld vordringt, desto stiller Dominic Wanders ist diesen Weg oft len Erklärungen, eine Bedeutung. Eisen- und dunkler wird es. Man kann die Stadt gegangen. Normalerweise führt er tapfere man kräuselt herausfordernd die Oberlip- noch sehen, aber nicht mehr hören. Deutsche zum Mahnmal für Bisher hat Wanders ein- die ermordeten Juden, bevor mal im Monat einige wenige er sie zu den Hauptquartie- Deutsche auf ihrem Weg ren der Mörder begleitet. durch die Geschichte beglei- Die Wege sind kurz in Berlin tet. Wenn das Mahnmal im zwischen den Orten der Op- Mai eröffnet wird, werden fer und denen der Täter. ihm große Gruppen von Wanders, 37, ist Architekt Neugierigen folgen, und das und macht diese Führungen Stelenfeld wird kein Ort der für den Museumspädagogi- Stille mehr sein. schen Dienst. Normaler- In Eisenmans Entwürfen weise trägt er bei seinen waren die Stelen stets braun, Führungen eine schwarze und wenn der Architekt über Mappe unter dem Arm, in sie sprach, benutzte er das der er die Pläne deutschen schöne Bild von einem wo- Größenwahns in Klarsicht- genden Weizenfeld. Jetzt ste- hüllen sortiert hat. Doch hen die Stelen und sind grau heute ist er ohne Mappe ge- wie Asche. Und sie wogen

kommen. Heute will er nur (L.) / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL (O.); MICHALKE NORBERT nicht. Sie sehen aus wie ein sehen, wie sich die Lücke Architekt Eisenman im Holocaust-Mahnmal: „Graffiti wären gut“ Modell von Manhattan nach schließt. einem leichten Erdbeben. Es ist der Tag, an dem die letzte Stele des pe und sagt Sätze, die jeden deutschen Ar- Wanders steigt in die Grube und streicht Holocaust-Mahnmals in die Erde gelassen chitekten erledigen würden. mit der Hand über die letzte Stele. Die Ste- wird. Sie ist 2 Meter hoch, 2,38 Meter breit Was beabsichtigen Sie mit dem Mahn- len, sagt Wanders, sind aus Beton der Ka- und 95 Zentimeter tief. Sie wiegt fünf Ton- mal? tegorie B75 geformt, hoch verdichtet, sehr nen, und mit ihr wird mehr als ein Stück „Die Absicht war, keine Absicht zu feinkörnig, in seinen Eigenschaften der Beton verschoben. Die Stele soll eine letz- haben.“ deutschen Geschichte nicht unähnlich. te Lücke schließen. Im Mahnmal. In der Sie haben dieses Mahnmal geschaffen. Man kann sehr scharfe Kanten damit ma- Stadt. In der Erinnerung. „Nein, wir alle haben es geschaffen.“ chen. Eisenman hätte jetzt vielleicht ge- Der Mann, der dem Mahnmal ein Ge- Aber es war doch Ihre Idee. sagt, B75, so was können nur die Deut- sicht gab, steht zwischen der Lücke und „Ich weiß nicht, ob es meine Idee war. schen. Doch Wanders scheint zu merken, der Stele. Peter Eisenman trägt eine Vielleicht war es Ihre Idee.“ dass dies nicht der Ort ist, um die Präzi- schwarze Hose, einen schwarzen Pullover, Manche sagen, das Denkmal sehe aus sion deutscher Ingenieure zu preisen. einen schwarzen Mantel und einen wie ein Friedhof. Er deutet auf das Tor, das auf der Ostseite schwarzen Schal, sein Haar leuchtet weiß. „Das kann ich nicht ändern.“ aus dem Stelenfeld ragt. Es ist der Eingang Er sieht aus, als wäre er auf dem Weg zu ei- Haben Sie Angst vor Graffiti? zum „Ort der Information“, der sich unter ner Trauerfeier. Aber Eisenman lächelt. „Graffiti wären gut.“ dem Mahnmal befindet. Es wird dort un- „Ich hätte nie geglaubt, dass wir dies bau- Sollte Neonazis der Zutritt zum Mahn- ten einen „Ort der Namen“ geben, wo die en“, sagt er, „und hier ist es.“ mal verboten sein? Namen der ermordeten Juden jeweils eine Er scheint sich immer noch über die „Ich glaube nicht, dass Deutschland Minute lang an eine Wand projiziert Deutschen zu wundern. dafür steht, Dinge abzuschließen.“ werden. Wanders hat nachgerechnet, wie Der Himmel über Berlin ist blau wie Haben Sie keine Angst, dass Neonazis lange es dauert, alle sechs Millionen Na- das Herz einer Gasflamme, er sieht aus, das Mahnmal beschädigen könnten? men zu zeigen. Elf Jahre. Mario Kaiser

der spiegel 52/2004 63 Trends Wirtschaft

DEUTSCHE BAHN Mehdorn stoppt Investitionen ie Deutsche Bahn (DB) streicht ihren Investitionsplan 2005 Dbis 2009 drastisch zusammen. Zahlreiche zentrale Ver- kehrsvorhaben werden verschoben oder faktisch eingestellt.

Das geht aus Unterlagen für den Aufsichtsrat („streng ver- (O.); / DPA B. ROESSLER PRESS (U.) / ACTION A. SCHMIDT traulich“) hervor, der die abgespeckte „Pla- nung der Investitions- und Instandhaltungs- projekte“ an diesem Dienstag beschließen soll. So wird der Neu- und Ausbau der Strecke Hanau–Fulda/Würzburg, bisher für 1,4 Milliarden Euro geplant, faktisch ge- stoppt. Auch mit dem Bau der sogenannten Ypsilon-Trasse zwischen Hamburg/Bre- Mehdorn, ICE men–Hannover, zuletzt für 1,2 Milliarden Euro geplant, wird zumindest vor 2009 nicht werde zudem das Projekt Dresden–Berlin; begonnen. Auf der Verbindung Augs- auch die Flughafenanbindung Berlin-Schö- burg–München, einer der verkehrsstärksten nefeld, ein über 400 Millionen Euro schwe- im deutschen Schienennetz, wird die Projektlaufzeit verlän- res Vorhaben, wird demnach „nicht weiter verfolgt“. Mit sei- gert. Stark gekürzt werden schließlich die Mittel für Strecken nem Sparkurs setzt DB-Chef Hartmut Mehdorn Vorgaben der wie Karlsruhe–Dresden, Lübeck–Stralsund oder Pader- Bundesregierung um: Sie hat die Bundesmittel für die Schiene born–Erfurt–Chemnitz. „Nicht weitergeführt“, so das Papier, um über ein Drittel gekürzt.

HAUSHALT INVESTITIONEN Kompromiss im Streit um Fremde Sitten Marshallplan-Gelder chwedens Möbelkonzern Ikea fühlte sich vor der Neueröff- Snung eines Großeinkaufszentrums am Nordwestrand irtschaftsminister Wolf- Moskaus von russischen Beamten massiv unter Druck gesetzt. Wgang Clement und Fi- Das Unternehmen musste die für Anfang Dezember geplante nanzminister Hans Eichel ha- Eröffnung des riesigen Einkaufskomplexes „Mega 2“ im ben nach monatelangem Streit Moskauer Vorort Chimki verschieben. Örtliche Behörden eine Lösung für die Übertra- gaben vor, sie bangten um die Sicherheit der Besucher wegen gung des ERP-Sondervermö- einer Gas-Pipeline, die an einer Straße zum Firmengelände gens an die KfW-Bankengrup- vorbeiführt, und legten das 250 Millionen Euro schwere Inves- pe gefunden. Anders als ur- titionsobjekt kurzerhand lahm. Der Verdacht kam auf, das sprünglich geplant, wird das Unternehmen solle schlicht erpresst werden. Die Eröffnung ERP-Vermögen nicht aufgelöst, konnte schließlich stattfinden, nachdem Ikea-Russland-Chef sondern bleibt als sogenannte Lennart Dahlgren der Rechtshülle im Zuständigkeits- Kommune unter ande-

SVEN DARMER / ACTION PRESS / ACTION DARMER SVEN bereich des Wirtschaftsministe- rem versprach, er werde Clement, Eichel riums erhalten. Darauf haben eine Million Dollar für sich beide Minister schriftlich eine Kindersportschule geeinigt, heißt es in den beteiligten Ressorts. Durch diesen ju- spenden. Dem örtlichen ristischen Trick sei die Kontrolle der ERP-Milliarden durch das Verwaltungschef Wla- Parlament weiter gesichert. Bisher hatten sich sowohl Wirt- dimir Streltschenko schaftsminister Clement als auch die Mitglieder des ERP-Un- scheint das jedoch noch terausschusses im Bundestag gegen den Milliarden-Transfer ge- nicht zu reichen. „Ein wehrt. Sie wollten verhindern, dass die KfW künftig auch über solches Unternehmen“, die Verwendung der früheren Marshallplan-Gelder entschei- befand der Beamte den kann. Nach der getroffenen Vereinbarung soll sich die bei einem Treffen mit KfW ausschließlich um das Geldanlagegeschäft kümmern. Dahlgren am vergan- Daraus erhofft sich Finanzminister Eichel Effizienzgewinne genen Mittwoch, könne von zwei Milliarden Euro, die er bereits fest im Haushalt ein- doch sicher „jedes

geplant hat. Der notwendigen Änderung des ERP-Gesetzes Jahr so einen Betrag ERIC FEFERBERG / AFP / DPA müssen sowohl Bundestag wie auch Bundesrat zustimmen. spenden“. Ikea-Filiale bei Moskau

der spiegel 52/2004 65 Trends

AUTOINDUSTRIE Fiat auf Schleuderkurs ffenbar geht es dem Autobauer Fiat Owesentlich schlechter als angenom- men. Dies ist zumindest der Eindruck, den General-Motors-Chef Rick Wago- ner nach Gesprächen mit Fiat-Mana- gern gewonnen hat. General Motors (GM) hält eine Zehn-Prozent-Beteili- gung an Fiat und eine sogenannte Put- Option. Danach muss GM auch die übrigen Aktien der Autofirma überneh- men, wenn die Fiat-Eigner dies wün-

schen. Wagoner will aus dieser Option (U.) GEIGER / TANDEM THOMAS / DDP (O.); NEUMANN KIRSTEN aussteigen, die Voraussetzungen hätten KlöCo-Fertigungshalle (in Frechen bei Köln), Vogel sich geändert, sagt er. Der eigentliche Grund aber dürfte sein, dass bei Fiat in den nächsten Jahren hohe Verluste zu ÜBERNAHMEN erwarten sind. Fiat-Konzernchef Sergio Marchionne will zwar schon bald Ge- winne vorzeigen, doch die GM-Partner Riskanter Deal sind skeptisch. Sie halten die Einschät- zung von Herbert Demel, dem Chef der er vergangene Woche vollzogene Kauf des Duisburger Stahlhändlers Klöckner Fiat-Autosparte, für realistischer: Er D& Co (KlöCo) durch den Finanzinvestor Lindsay, Goldberg, Bessemer & Vo- rechnet mit zunächst weiterhin hohen gel (LGB) könnte für dessen Chef Dieter Vogel weitaus teurer werden als ur- sprünglich geplant. Vogel hatte KlöCo von dessen Besitzer, der Westdeutschen Lan- desbank (WestLB), für rund 320 Millionen Euro gekauft. Zusätzlich übernahm die LGB sämtliche Risiken von KlöCo, darunter auch eine mögliche Rückforderung der ehemaligen Besitzer, der britisch-iranischen Stahlhandelsgesellschaft Balli. Genau diese Forderung macht den Deal zu einem gewagten Unterfangen. Während die WestLB und die LGB in internen Berechnungen von möglichen Rückzahlungen von maximal 60 bis 300 Millionen Euro an die Balli-Gruppe ausgehen, rechnen die An- wälte des britischen Stahlhändlers offenbar mit deutlich höheren Summen. In ei- nem Entwurf einer Klageschrift, die in den nächsten Wochen eingereicht werden soll, erheben die Balli-Anwälte äußerst schwere Vorwürfe gegen die WestLB. Die

NORBERT NORDMANN NORBERT Bank, heißt es in dem 105-seitigen Papier unter Verweis auf unzählige Beweis- Demel dokumente, habe die ordnungsgemäße Rückführung eines von Balli bei der West- LB aufgenommenen Kredits bewusst vereitelt, um so im Sommer 2003 von ihrem Verlusten, allein im nächsten Jahr in Pfandrecht an KlöCo Gebrauch machen zu können. Konsequent fordert Balli in der Höhe von 300 bis 400 Millionen Euro. Klageschrift die Herausgabe der aus ihrer Sicht zu Unrecht eingezogenen Aktien Fiat, so Demels Argumentation, müsse an dem Unternehmen. Doch nicht nur der möglicherweise jahrelange Rechtsstreit erst viel Geld in neue Modelle investie- würde die Übernahme von KlöCo durch LGB belasten. Auch das von LGB ein- ren, um sich langfristig eine Chance zu kalkulierte Risiko wird deutlich übertroffen. Allein den vorläufigen Streitwert be- erarbeiten. Demel lehnt deshalb Ein- ziffern die Balli-Anwälte mit rund 500 Millionen Euro. Ein zusätzliches Risiko, heißt schnitte bei den Investitionen, die kurz- es hingegen bei LGB, sehe man nicht. fristig bessere Ergebnisse brächten, ab.

ENERGIE mationen und rechtswidrige Maßnahmen“ enthalten, beanstan- det der Bund der Energieverbraucher. Der Stromversorger Versorger schüchtern Kunden ein EnBW beispielsweise beruft sich auf sein Recht zur einseitigen Preiserhöhung und teilt seinen Kunden mit: „Die Beschrän- ngesichts des Protests Zehntausender Kunden der Strom- kung der Einzugsermächtigung betrachten wir als gegenstands- Aund Gaswirtschaft gegen Preiserhöhungen von zum Teil los.“ Die Stadtwerke Bremen ignorieren Widersprüche ihrer mehr als zehn Prozent reagieren die Unternehmen zunehmend Kunden so lange, bis der Widerspruch in einem zweiten Schrei- nervös. Verbraucherschützer schätzen, ben bekräftigt wird. E.on-Hanse mahnte dass etwa 100000 Kunden auf vorgefertig- Gasspeicher (in Berlin) in Schreiben zur Zahlung, andernfalls sei ten Musterbriefen ihren Lieferanten man berechtigt, die Versorgung einzustel- ankündigten, erhöhte Rechnungen nicht zu len. Da diese Methode jedoch rechtswidrig bezahlen, oder gar Einzugsermächtigungen ist, bezeichnete das Unternehmen den annullierten, um den bisherigen monat- Vorgang inzwischen als „Versehen“. Der lichen Betrag eigenständig zu überweisen. Bund der Energieverbraucher schätzt, Die Energieversorger ihrerseits versenden dass aufgrund der Proteste „die Preis-

Briefe an ihre Kunden, die „falsche Infor- JOCHEN ZICK / KEYSTONE erhöhungen geringer ausfallen“ werden. 66 Geld

Türkischer Aktienindex ISE 100 Veränderung gegenüber +120 1. Januar 2003 in Prozent +100 +80 +60 +40 +20 0 Quelle: Thomson Financial Datastream –20 2003 2004 OSMAN ORSAL / AP ORSAL OSMAN Börse in Istanbul

AKTIEN Börsenentwicklung am Bosporus. „Misstöne um die Beitritts- verhandlungen“ könnten die Istanbuler Börse aber kurzfristig negativ beeinflussen, meint Mike Bayer, Manager des Fonds Bullen am Bosporus Türkei 75 Plus. Langfristig werde entscheidend sein, ob die Türkei grundsätzlich auf dem Reformweg weitergeht, egal ob n der Istanbuler Börse herrscht schon seit zwei Jahren sie am Ende EU-Mitglied wird oder nicht. Von Finanztiteln rät Agute Laune. Nach einer dramatischen Wirtschaftskrise zum er ab. Die Kurse von Banken wie Akbank oder IsBank, die auch Jahrtausendwechsel konnten risikofreudige Anleger in diesem in Deutschland einige Filialen unterhält, wurden von Speku- Jahr hohe Gewinne einstreichen. Der Index ISE 100 liegt heu- lanten bereits mächtig in die Höhe getrieben. Experten setzten te 29 Prozent höher als noch im Januar. Nachdem sich die deshalb auf Werte aus den Branchen Bau, Medien und Unter- Türkei und die EU am Freitag vergangener Woche auf einen haltungselektronik. Darunter befinden sich auch die Papiere des Beginn der Beitrittsverhandlungen geeinigt haben, rechnen Beko-Konzerns, Miteigentümer des deutschen Industriedenk- Aktienexperten grundsätzlich mit einer weiterhin positiven mals Grundig.

NEUER MARKT unter dem Namen Biodata Systems FONDSGESELLSCHAFTEN GmbH weiterführte, doch auch dieser Überflieger landet hart Firma ging im vergangenen September Verschärfte das Geld aus. egen den ehemaligen Biodata-Chef Überwachung GTan Siekmann und zwei seiner früheren Geschäftsführer hat die Staats- ondsgesellschaften werden von 2005 anwaltschaft Kassel Anklage erhoben. Fan schärfer kontrolliert. Nach einer Den dreien wird vorgeworfen, den Kon- Übergangsfrist müssen Anbieter tages- zernlagebericht der Datenverschlüsse- aktuell alle Transaktionen in ihren Ak- lungsfirma vom Februar 2001 geschönt tien- und Rentenfonds an die Bundes- zu haben. Damals wurde ein Millionen- anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht geschäft mit einem australischen Soft- melden. Die Fondswächter interessieren ware-Kunden angekündigt, das so of- sich vor allem für Käufe und Verkäufe fenbar nie bestanden hatte und später von Aktien, weil immer wieder Gerüch- auch nicht getätigt wurde. Siekmann te über Insider-Transaktionen aufkom- werden zudem Insider-Geschäfte vorge- men. Banken sollen angeblich über ihre worfen: Kurz vor seinem Rücktritt und Kapitalanlagegesellschaften bevorzugte dem Platzen der künstlich aufgeblähten Titel hochgekauft oder schlechtlaufende Umsatzzahlen des Unternehmens soll er Emissionen zum Schaden der Anleger sein Wissen noch schnell zu Geld ge- in den Fonds entsorgt haben. Auch macht und in großem Stil Aktien ver- Verletzungen von Anlagerichtlinien kauft haben. Biodata, ein Kind des Bör- müssen die Gesellschaften bald zeitnah senhypes, galt bereits kurz nach dem mitteilen. Bislang geschieht das nur Börsengang im Februar 2000 als Über- quartalsweise und in Papierform. Wenn flieger am Neuen Markt für Wachstums- überhaupt, bemerkt die Aufsicht Fehl- werte. Zwischenzeitlich war die Firma entwicklungen in einem Fonds erst 2,1 Milliarden Euro wert. Im November Monate später. Rund 15000 Meldungen 2001 folgte die Insolvenz. Zwar kaufte stapeln sich jedes Jahr bei der Behörde

Siekmann aus der Insolvenzmasse die STERNFILM – in der Regel ohne Folgen für die Ver- Verschlüsselungstechnik heraus, die er Siekmann antwortlichen.

der spiegel 52/2004 67 Wirtschaft

Schienenlogistiker VTG

Tankstellenkette Tank& Rast Handy-Verkäufer Debitel Begehrte Unternehmen: Die Geldgeber verlangen hohe zweistellige Renditen

INVESTOREN Das Land der Schnäppchen Die deutsche Wirtschaft wird radikal umgebaut – von ausländischen Investmentgesellschaften. Sie kaufen, was sie kriegen können: Industriebetriebe, Immobilienbestände, sogar faule Kredite, und sie hoffen auf riesige Profite. Jetzt will auch die deutsche Finanzindustrie mitverdienen.

on seinem Büro aus schaut Hanns den Gründer von Blackstone zusammen Monaten Unternehmen und Immobilien. Ostmeier direkt auf die Elbe. Stän- mit weiteren Partnern per Videokonferenz Die Amerikaner schluckten unter ande- Vdig gleiten Frachter, Schlepper und ein paar Stunden zu Ostmeier nach Ham- rem den Chemiekonzern Celanese mit Tanker an der Fensterfront vorbei zum burg und unterstützt den Kaufrausch ihres über 10000 Mitarbeitern. Nun wurde der Hamburger Hafen – von deutscher Kon- deutschen Statthalters. Konzernsitz in die USA verlagert, und junkturflaute und Rekordarbeitslosigkeit Für annähernd fünf Milliarden Euro das Unternehmen soll an die New Yorker ist nichts zu sehen. kaufte Blackstone hier in den vergangenen Börse. Solange die deutschen Chemie- „Hier ist ordentlich was los“, freut sich der Geschäftsführer der US-Beteiligungs- gesellschaft Blackstone. Deutsche Unter- nehmen seien top, die Produkte phantas- tisch, die Arbeitnehmer gut ausgebildet. „Die Mitbestimmung ist kein Schreckge- spenst“, sagt der Vertreter von Blackstone ungefragt. Die sei schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern in Deutschland ermöglicht worden. So viel geschäftstüchtiger Optimismus kommt bei den Herren Stephen Schwarz-

man („Black“) und Pete Peterson („Stone“) (R.) / BILDFOLIO (L.); B. BOSTELMANN B. FABRICIUS gut an. Jede Woche schaltet einer der bei- Manager Ostmeier, Knobloch: „Die Amerikaner sind positiv gestimmt“

68 der spiegel 52/2004 Last hoher Abschreibungen. Sie wollen Deutschland auf dem Grabbeltisch ihre Risiken möglichst schnell loswerden. Nichts zieht Beteiligungsgesellschaften Die größten Übernahmen durch Private-Equity-Firmen mehr an als eine richtige Krise. Als in den OBJEKT INVESTOR KAUFPREIS in Mio. ¤ achtziger Jahren viele US-Banken wackel- ten, gab es die ersten Fonds, die mit ho- Gagfah Wohnungen Fortress 503 hem Discount Unternehmen kauften und Celanese Chemie Blackstone 2846 dann zerschlugen. Berühmt wurde damals Dynamit Nobel Chemie KKR, CSFB 2250 KKR, die für knapp 31 Milliarden Dollar ThyssenKrupp Wohnungen Morgan Stanley, Corpus 2100 den Tabak- und Lebensmittelkonzern RJR Nabisco übernehmen und dann aufteilen GSW Wohnungen Cerberus, Goldman 1970 wollte. Grohe Armaturen Texas Pacific, CSFB 1500 In den folgenden Jahren tummelten sich Auto-Teile-Unger KKR 1450 die Fonds in Japan. Dort standen die einst- Brenntag Chemie Bain Capital 1400 mals größten Banken der Welt am Ab- grund, die Geschäftsaussichten für risi- WCM Wohnungen Blackstone 1400 kobereite Investoren waren glänzend. Tank&Rast Autobahnraststätten Terra Firma 1035 Jetzt ist Deutschland dran. Die Ameri- CBR Mode Cinven 1000 kaner sind „positiv gestimmt“, meint Duales System Deutschland KKR 807 Bernd Knobloch, Chef des mächtigen Im- mobilienfinanzierers Eurohypo, sie sähen Honsel Autozulieferer Ripplewood 700 das Land in einer Turnaround-Situation. Dystar Textilfarben Platinum 688 Die Ausländer reißen sich selbst um BASF Drucksysteme CVC Capital 650 scheinbar so langweilige Unternehmen wie Wohnungsbaugesellschaften und zahlen Debitel Telekommunikation Permira 640 Preise, die deutschen Fonds phantastisch Gerresheimer Glas Blackstone 600 erscheinen. Doch die Aufkäufer halten Sulo Umwelttechnik Blackstone, Apax 500 deutsche Immobilien für unterbewertet. Stabilus Federungen und Dämpfer Montagu 500 Sie sind fest davon überzeugt, dass sie die Wohnungen schnell an die Mieter weiter- Bayer Blutplasmaprodukte Cerberus, Ampersand 450

STEFAN BONESS / IPON STEFAN veräußern und dabei Jahresrenditen von Quelle: Handelsblatt mehr als 20 Prozent erzielen. Das mit Abstand größte Geschäft in die- werke gutes Geld verdienten, seien die Allein auf dem Markt für Unterneh- sem Jahr war denn auch die Übernahme Standorte sicher, meint Ostmeier. Er hat mensbeteiligungen zählte die englische Be- der Immobiliengruppe Gagfah, einer Toch- noch viel vor. Die Einkaufsliste von Black- ratungsfirma LEK in diesem Jahr 67 Fir- ter der Bundesversicherungsanstalt für An- stone und seinen Konkurrenten ist noch mentransaktionen – 27 Prozent mehr als gestellte. Die amerikanische Gesellschaft lange nicht abgearbeitet. Die deutsche 2003. 19 Milliarden Euro flossen so in die Fortress zahlte für die rund 80000 Woh- Wirtschaft steht vor dem Totalumbau – Taschen der Verkäufer. Im kommenden nungen über 3,5 Milliarden Euro. und die Chefs der Architekten sitzen meist Jahr sollen es noch mehr werden. Und der Ausverkauf geht weiter: TUI in Übersee. Den neuen Herren eilt ein schlechter sucht einen Käufer für seinen Schienenlo- Finanziert von milliardenschweren US- Ruf voraus. Raubritter werden sie gele- gistiker VTG, E.on will seine Immobilien- Pensionsfonds, kaufen vornehmlich angel- gentlich genannt, andere sprechen von tochter Viterra bald loswerden, Ruhrgas sächsische Private-Equity-Fonds, was sie Geierfonds, weil sie ihre Opfer ausweiden. Industries und zwei Degussa-Töchter gelten kriegen können. Zu Hause ist ihnen der Die bisherige Praxis bestätigt diese Vor- als heiße Verkaufskandidaten. Markt längst zu eng geworden. behalte kaum. Doch es sind vor allem die deutschen Deutschland lockt mit günstigen Gele- Allerdings zahlen die Eroberer den Banken, die derzeit für eine Stimmung wie genheiten. Nachfolge- und Finanzprobleme Kaufpreis nur zu einem kleinen Teil aus im Sommerschlussverkauf sorgen. Schät- im Mittelstand sowie die Auflösung der dem Geld ihrer Fondsanleger. Der Rest ist zungsweise 300 Milliarden Euro faule Kre- einst uneinnehmbaren Festung namens mit Hilfe von Banken kreditfinanziert, die dite gibt es hierzulande im Angebot. Nur Deutschland AG bieten Aufkäufern Chan- enorme Zinslast bürden sie meist dem die Japaner haben noch mehr. cen in Hülle und Fülle. Amerikaner und übernommenen Unternehmen auf. Die milliardenschweren Folgen vergan- Briten liefern sich teure Bieterschlachten Dennoch können die in den meisten Fäl- gener Fehlentscheidungen müssen raus aus um deutsche Abfallentsorger, Autoteile- len, nach kurzer und heftiger Restruktu- den Bilanzen. Die Altlasten überfordern händler, Raststätten, Wohnungsgesellschaf- rierung, schon wenige Jahre später ge- das Personal, binden zu viel Eigenkapital ten oder neuerdings auch Banken. winnbringend weiterverkauft oder an die und drücken auf die Aktienkurse. Die jüngsten Geschäfte sind erst wenige Börse gebracht werden. Der Rausschmeißer bei der Dresdner Tage alt. Kohlberg Kravis Roberts & Co. Das spricht nicht gegen die Investoren – Bank heißt Jan Kvarnström. In einer eige- (KKR) schnappte sich vergangenen Montag es zeigt, wie wenig effektiv in vielen deut- nen Einheit sollen der Schwede und seine das Duale System, 24 Stunden später über- schen Betrieben in der Vergangenheit ge- 250 Mitarbeiter im Auftrag des Eigentü- nahm Cerberus das Plasma-Geschäft des arbeitet wurde. Die Geldgeber verlangen mers Allianz nichtstrategische Beteiligun- Chemieriesen Bayer, am Mittwoch kaufte hohe zweistellige Renditen. Und die be- gen und Risiken mit einem Gesamtwert die US-Investmentbank Morgan Stanley kommen sie in der Regel auch. von 35,5 Milliarden Euro aus der Bankbi- die Wohnimmobilien von ThyssenKrupp. Deutschland ist ein verunsichertes Land, lanz tilgen. 25 Milliarden hat der Vorstand Daneben entsorgen die Finanzjongleure dessen Unternehmen und Immobilien re- der Dresdner Bank schon geschafft. „Jeden die faulen Kredite deutscher Bankkonzer- lativ billig zu haben sind. Die Banken kön- Monat eine Milliarde“, meint er stolz. ne. Gegen hohe Rabatte verwerten die nen nicht helfen, sondern sind Teil des Pro- Die Amerikaner nehmen ihm die Pro- Müllmänner von der Wall Street die Altlas- blems. Sie haben jahrzehntelang zu billig blemfälle gern ab – mit Abschlägen von ten der Kreditinstitute. Kredite ausgegeben und tragen nun an der bis zu 50 Prozent auf den Nominalwert, in

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Einzelfällen gar noch mehr. Die Beteili- land gekauft. Inklusive Fremdkapital ste- Kreditpakete mit großen Rabatten zu ver- gungsgesellschaft Lone Star sicherte sich hen bis zu 20 weitere Milliarden Euro für kaufen. Die Bank dementiert diese Theo- im Oktober 2004 ein Portfolio von Kredi- Investitionen bereit, die zu 30 Prozent in rie. Allerdings gilt der neue Firmenkun- ten für den Mittelstand zusammen mit Im- Deutschland investiert werden sollen. „Un- den- und Immobilienvorstand Johann Ber- mobilienkrediten im Nominalwert von ins- ser Appetit ist unbegrenzt“, meint Karsten ger als Spezialist für Kreditverkäufe. gesamt 1,2 Milliarden Euro. von Köller, der Frankfurter Statthalter von Doch warum greifen beim großen Aus- Die Mittelständler reagieren nicht im- Lone Star. verkauf keine einheimischen Investoren mer erfreut, wenn sie von ihrer Bank er- Lastwagenweise wurden in den vergan- zu? Scheuen sie das Risiko? Oder sind die fahren, dass sie nicht mehr erwünscht sind. genen Monaten die Kreditunterlagen von Ausländer einfach cleverer? Doch die Erwerber sind dank des Dis- den Banken zu Lone Star verfrachtet. Tau- Erstens sind die Geschäfte mit Private counts oft viel flexibler als die Bank. So sende Schuldner, von der Handwerksfir- Equity und notleidenden Krediten eine verkaufte Kvarnström einen 45-Millionen- ma bis zum Maschinenbauer, müssen dem- amerikanische Erfindung. Die Großen der Euro-Kredit der Kinokette Cinemaxx an nächst mit Besuch rechnen. Branche haben eine langjährige Erfahrung. den Filmhändler Herbert Kloiber. „Wir beschäftigen keine Männer mit Zweitens gibt es hierzulande im Gegen- Kloiber setzte anschließend eine Kapi- schwarzen Hüten“, versichert Köller. Doch satz zu den USA keine milliardenschweren talerhöhung durch und tauschte sich selbst die Amerikaner wollen schnelle Lösungen. Pensionsfonds, die nach renditeträchtigen mit Unterstützung der Deutschen Bank als Das kann positiv sein: Lone Star wird eher Anlagen suchen. Und drittens machten einige prominen- te Adressen wie Deutsche Bank und Al- lianz in der Vergangenheit bei heiklen Ge- schäften schlechte Erfahrungen. Allerdings mussten in den vergangenen Jahren auch ausländische Finanzinvestoren Lehrgeld zahlen, so entwickelten sich die Übernah- men der Bundesdruckerei und der Res- taurantkette Nordsee zu veritablen Flops. Nach den jüngsten Erfolgen schielt die heimische Hochfinanz immer neidischer auf das Treiben der Amerikaner. Schon in- vestieren auch deutsche Adressen eine Menge Geld bei den ausländischen Fonds. So hat die Münchner Allianz derzeit 2,9 Milliarden Euro im Bereich Private Equity angelegt. 1,9 Milliarden liegen in den Fonds der Invasoren, etwa bei der Firma Terra, die Tausende Eisenbahnerwohnungen und neuerdings auch den Raststätten- und Tank- stellenbetreiber Tank&Rast besitzt. Die HypoVereinsbank verdient gleich doppelt mit: Bei der lukrativen Kredit- finanzierung solcher Übernahmen gilt sie als Marktführerin; gleichzeitig investieren

NORBERT ENKER NORBERT die Bayern eigenes Geld in die Fonds von Wohnungen der Gagfah (in Essen): „Unser Appetit ist unbegrenzt“ KKR und anderen Private-Equity-Häusern. Die Immobilienexperten der Deutschen Großaktionär ein. Nun ist Cinemaxx na- als die Bank Rabatte anbieten, wenn der Bank können zwar nicht die Preise nach- hezu schuldenfrei und hat damit gute Kunde zahlt oder bei einer Verwertung von vollziehen, die amerikanische Investoren Chancen zu überleben. Sicherheiten mitarbeitet. Wer nur 50 Euro beispielsweise für Wohnungen zahlen. Über einen Mangel an Interessenten für 100 Euro Schulden gezahlt hat, hat Doch ein Fonds, der die Gier der US-In- kann der Schwede nicht klagen. Ähnlich selbst bei einem Schuldenerlass von 40 Pro- vestoren in die eigene Kasse lenken soll, ist wie beim Schlussverkauf ist alles eine Fra- zent ein gutes Geschäft gemacht. mittlerweile in Arbeit. ge des Discounts. Bis Ende 2006 sollen alle Doch die Engelsgeduld, die ein Kredit- Auch die Eurohypo will jetzt von der Risiken abgearbeitet sein. sachbearbeiter der lokalen Hausbank Ausverkaufswelle profitieren. Einen ersten Auch die Reste der 2001 kurz vor der schon mal mit seinem langjährigen Kunden Erfolg feierte Knobloch am 17. November Pleite stehenden Schmidt-Bank stehen zum aufbringt, wird es bei den 120 frischeinge- im Schlosshotel Kronberg. Dort wurde ein Verkauf. Der Bundesverband deutscher stellten Abwicklungsexperten aus Frank- Milliardendeal mit der Citigroup mit Banken hatte die faulen Kredite im Wert furt nicht geben. In drei, vier Jahren sollen Champagner begossen. von knapp zwei Milliarden Euro über- die Kreditpakete abgearbeitet sein. Die Amerikaner übernehmen 14 000 nommen. Nun wird die Abwicklungsbank Bei der HypoVereinsbank (HVB), die Darlehen inklusive 140 Kreditexperten. Delmora mit ihren 170 Mitarbeitern ver- auf der Rekordmenge von 27 Milliarden Knoblochs Bilanz ist jetzt weitgehend steigert, mehrere angelsächsische Inves- Euro mehr oder weniger problematischer sauber – und trotzdem lässt er sich „das toren bieten noch mit. Kredite sitzt, kamen die Angelsachsen al- Geschäft mit der Abwicklung nicht ent- Unter den Bietern ist auch der Bran- lerdings nicht zum Zug. Alles, was in der gehen“. In einem Gemeinschaftsunter- chenführer Lone Star. In den vergangenen Branche Rang und Namen hat, machte der nehmen wollen Eurohypo und Citigroup zwölf Monaten haben die Texaner aus Dal- Truppe um Konzernchef Dieter Rampl be- künftig faule Forderungen aufkaufen. las mit dem Geld von Institutionen wie der reits die Aufwartung – bislang vergebens. Am liebsten hätte Knobloch kleinteilige Weltbank oder der Bostoner Renommier- Die HVB habe ihr Kreditportfolio zu we- Privatkundenpakete, „wie sie zum Beispiel uni MIT Kreditpakete mit einem Nominal- nig wertberichtigt, heißt es in der Bran- die Sparkassen besitzen“. Beat Balzli, wert von 6,2 Milliarden Euro in Deutsch- che, sie könne es sich gar nicht leisten, ihre Christoph Pauly

70 der spiegel 52/2004 ÜBERNAHMEN Allerlei gute Gaben Die Deutsche Börse umgarnt die Konkurrenz in London. Am Ende soll eine globale Institution stehen, ihr Name und Sitz sind Verhandlungsmasse. er Zeremonienmeister schlug in der Guildhall, seit 800 Jahren das Ver- Dwaltungszentrum der Londoner City, dreimal mit seinem Stab auf den Bo- / ARCAID NICK CANE den. Dann durfte Werner Seifert den roten Londoner Börse: Mit den Briten den paneuropäischen Aktienhandel dominieren Teppich betreten, der am 15. November für das traditionelle Dinner des Lord diesmal im Gegensatz zum Jahr 2000 kei- ner Derivate-Börse Liffe angekündigt, die Mayors zu dessen Amtseinführung ausge- ne antideutschen Schlagzeilen. Beide Bör- Euronext vor drei Jahren gekauft hat. Er legt war. sen sind mittlerweile keine nationalen In- gilt als ausgebuffter Taktiker, der den Der Chef der Deutschen Börse, sonst teressenvereine mehr, sondern mehrheit- manchmal undiplomatischen Seifert schon meist im Rollkragenpullover unterwegs, lich in der Hand internationaler Investoren. des Öfteren ausgebootet hat. Doch die hatte sich für seinen ersten Auftritt in der Das zähmt das Temperament. Offiziell Franzosen haben deutlich weniger Bar- höchsten Londoner Gesellschaft mit Pre- versucht die LSE nur, den Übernahmepreis reserven in der Kasse liegen als die Deut- mierminister Tony Blair und Frau Cherie in die Höhe zu treiben. Internationale schen. Seifert hofft deshalb darauf, „dass an der Spitze extra einen Frack geliehen. Investmentbanken, die Haupt- die Spielregeln einer liberalen Es war Teil der Charmeoffensive, die Sei- kunden der LSE und gleichzeitig Wirtschaftsordnung eingehalten fert seit einigen Monaten zu Dutzenden gewichtige Investoren, wollen werden“. von Treffen mit den Meinungsführern jen- Zusicherungen aus Frankfurt, Die Londoner umgarnt der seits des Kanals führte. dass die Abwicklung der Lon- Schweizer derweil mit allerlei Am vergangenen Montag war es dann so doner Börsengeschäfte weiter guten Gaben. Seifert hat LSE- weit: Die Deutsche Börse AG machte der von LCH.Clearnet betrieben Chefin Furse einen Sitz im London Stock Exchange (LSE) ein Über- wird. Vorstand angeboten. Als neue nahmeangebot. Es ist nach einer bereits In Paris dagegen ist die Auf- Konzernsprache hat die Deut- ausverhandelten und dann doch geschei- regung groß, denn es geht um sche Börse vergangenen Don- terten „Fusion unter Gleichen“ im Jahr viel. Wer die Londoner Börse nerstag offiziell Englisch ein- 2000 und intensiven Avancen im vergan- besitzt, kann den paneuropäi- geführt. Und wo der Vorstand

genen November Seiferts dritter Versuch, schen Aktienhandel dominie- DARCHINGER MARC der Finanzgruppe in Zukunft bei den Briten zu landen. ren. Jean-François Théodore, Börsenchef Seifert seinen Sitz hat, ist, so Seifert, „Wir haben auf diesen Tag hin gespart“, der Chef der Vier-Länder-Börse Zu Opfern bereit „Gegenstand der Verhand- sagt Seifert. Seine Börse habe keine Schul- Euronext, soll deshalb mit Un- lungen“. den, das beste Rating aller deutschen terstützung der Pariser Zentralbank und Zwar sollen deutsche Aktiengesellschaften Privatunternehmen und reichlich Rückla- des französischen Finanzministeriums an weiter deutschen und britische Londoner gen gebildet. Am Kapitalmarkt wird die einer Gegenofferte arbeiten. Gesetzen und Aufsichtsbehörden unterstellt Deutsche Börse mit 4,9 Milliarden Euro Théodore war am vergangenen Mitt- sein. Doch mancher Frankfurter Wert- bewertet, weil sie neben dem normalen woch bei der Weihnachtsfeier der Londo- papierhändler hat bereits Angst vor einem Aktienhandel auch die Abwicklung der Reverse Takeover, einer Übernahme, bei der Wertpapiergeschäfte anbietet und mit 50 der Übernehmer letztlich das Opfer ist. Prozent an der weltgrößten Derivate- Die größten Börsen Das Computerhandelssystem Xetra, das Handelsplattform Eurex beteiligt ist. als technisch überlegen gilt, soll mittelfristig Gehandelte Aktien 2004* in Mrd. Dollar Die Londoner Börse kann da nicht mit- einem neuen Handelssystem weichen, in halten. Das freundliche Angebot, das Sei- * Jan. bis Nov. NYSE das dann auch die Londoner integriert Quelle: World New York 10553 fert vergangenen Mittwoch seiner Kolle- Federation of sind. Seifert will nicht einmal garantieren, gin Clara Furse erläuterte, bewertet die Exchanges Nasdaq dass der Name Deutsche Börse die Ver- mehr als 300 Jahre alte LSE mit 1,9 Mil- New York 7877 handlungen überleben wird. „Wir sind eine liarden Euro. Das ist eine Prämie von 52 LSE internationale Institution“, sagt der ehe- Prozent gegenüber dem Kurs vom 22. Ok- London 4742 malige McKinsey-Mann. tober, bevor erste Gerüchte von einem Schon während der Übernahmeschlacht TSE Übernahmeangebot in London aufgetaucht Tokio 2956 im Jahr 2000 hatte Seifert seinen Hund für waren. Obwohl das Volumen der Aktien- Euronext die Insel impfen lassen. Zu gern würde geschäfte knapp viermal so hoch wie in Amsterdam, Brüssel, 2276 der begeisterte Hammondorgel-Spieler mal Frankfurt ist, hat die Traditionsfirma es Lissabon, Paris in London spielen. Bisher kam er mit versäumt, beizeiten in andere Geschäfts- Deutsche Börse seiner Jazzcombo und dem Programm felder zu investieren. Trotzdem ist der Deal Frankfurt am Main 1420 „Santa Claus is jammin’ into town“ nur bis noch lange nicht gesichert. Zwar gab es Luxemburg. Christoph Pauly

72 der spiegel 52/2004 Wirtschaft

Klaus Franz sind ihm wichtiger als Lohnerhöhungen. Bei kommt in diesen Tagen kaum noch weg vom Dogmatikern innerhalb der Gewerkschaft Verhandlungstisch: Erst vereinbarte der Gesamt- IG Metall eckt er deshalb an. Aber das stört betriebsratschef der Adam Opel AG ein Abkom- den 52-Jährigen nicht, der sich selbst als men, wie das Unternehmen rund 9000 Stellen Co-Manager sieht. Nach einer Lehre als Drogist in Deutschland abbauen kann, ohne dass es und einer Ausbildung an der Kieler Fotofach- zu betriebsbedingten Kündigungen kommt. Nun schule fing Franz 1975 in der Lackiererei geht es darum, dem Mutterkonzern General des Autoherstellers in Rüsselsheim an. 1981 Motors (GM) Bestandsgarantien für Produktions- wurde er in den Opel-Betriebsrat gewählt, standorte abzuringen. Dass er kompromissfähig seit vier Jahren steht der gebürtige Stuttgarter ist, hat Franz schon oft bewiesen. Sichere Jobs an der Spitze der Arbeitnehmervertretung. TIM WEGNER

SPIEGEL-GESPRÄCH „Das wird eine harte Nuss“ Opel-Gesamtbetriebsratschef Klaus Franz steht vor seiner größten Herausforderung: Demnächst verhandelt er um die Zukunft des Standorts Rüsselsheim. Der Arbeitnehmervertreter über die neue Rolle der Betriebsräte und das Missmanagement der Konzernmutter General Motors.

SPIEGEL: Herr Franz, auf dem Weg zu Ihrem SPIEGEL: Wenn Sie oder auch Ihre Kollegen Büro kommt man an riesigen Hallen vor- Erich Klemm von DaimlerChrysler oder bei, die leer stehen. Das Rüsselsheimer Ralf Heckmann von Siemens über die Zu- Opel-Werk, in dem einst fast 44000 Men- kunft von Standorten verhandeln, dann schen arbeiteten, beschäftigt noch 21000 schaut die Republik gespannt zu. Verlagert Mitarbeiter, bald werden es etwa 17 000 sich die Tarifpolitik, einst die Domäne der sein. Hat der Automobilbau hier auf Dau- Tarifparteien, immer mehr in die Betriebe? er noch eine Chance? Franz: Ja, dieser Trend ist klar zu erkennen, Franz: Ganz sicher. Es stimmt, die Hallen gerade in der Automobilindustrie. am alten Eingang stehen leer, aber weiter SPIEGEL: Verliert damit der Flächentarif- westlich sind neue Betriebsstätten ent- vertrag seine Bedeutung? standen. Dort haben wir das modernste Franz: Das lässt sich kaum vermeiden. Ich Werk, das unsere Konzernmutter General denke, der Flächentarifvertrag muss neu Motors weltweit besitzt. Das zeigt doch, definiert werden, er muss breitere Begren- dass sich GM zum Standort bekennt, und zungen setzen und den Betrieben mehr zwar langfristig. Spielraum lassen. SPIEGEL: Im Moment aber ist die Zukunft SPIEGEL: Sie klingen wie ein Arbeitgeber. offen. Rüsselsheim konkurriert mit dem Franz: Mag sein, aber wir brauchen mehr Saab-Werk im schwedischen Trollhättan, Öffnungsklauseln, mehr Differenzierungen dort liegen die Arbeitskosten rund 25 Pro- in den Betrieben. Wir müssen uns fragen, zent niedriger. Wie kann Rüsselsheim da was uns wichtiger ist: sichere Arbeitsplät- mithalten? ze oder dynamische Löhne? Ich denke, die Franz: Wir sind hier im Zentrum von Euro- Tarifpolitik der Gewerkschaften sollte sich pa, die Vertriebswege sind kurz, wir haben in den nächsten Jahren auf die Frage der die höchste Produktivität, das weltweite Arbeitsplatzsicherung konzentrieren. Entwicklungszentrum für die Mittelklasse SPIEGEL: Sieht das die IG Metall ebenso? befindet sich hier. Es spricht also einiges für Franz: Ich habe mit dem zweiten Vorsit- Rüsselsheim. zenden Berthold Huber schon oft über SPIEGEL: Aber die Arbeit am Standort bleibt im Vergleich zu teuer. Franz: Das wissen wir, und wir sind zu Zu- Stellenabbau bei Opel geständnissen bereit. Die übertariflichen in Deutschland Leistungen machen 18 Prozent des Ein- RÜSSELSHEIM BOCHUM kommens aus, darüber werden wir reden. Außerdem schlagen wir vor, die Ar- 3900 4100 von derzeit von derzeit beitszeiten weiter zu flexibilisieren. Uns 21 000 Stellen 10 000 Stellen schwebt ein Korridor zwischen 30 und 40 Stunden die Woche vor. Wenn wir ein neu- es Modell einführen, wird bis zu 40 Stun- EISENACH KAISERSLAUTERN den gearbeitet; wenn später die Nachfrage kein Abbau 700 sinkt, entsprechend weniger. Die Laufzeit von derzeit 1900 Stellen von derzeit 3000 Stellen des Korridors entspricht dem Lebenszy- klus eines Modells, also etwa sechs Jahre. Opel-Produktion (in Rüsselsheim): „Deutschland

74 der spiegel 52/2004 solche Dinge geredet, wir sind da gleicher Franz: Ich nicht, im Gegenteil: So bezeich- Franz: Es gleicht in der Tat der Quadratur Ansicht. Der ist in solchen Fragen über- ne ich mich selbst. Wir sehen doch, wo des Kreises. Als GM im Herbst entschieden haupt nicht vernagelt. man die Kosten noch ganz einfach senken hatte, beide Standorte miteinander kon- SPIEGEL: Als Siemens in seinen deutschen kann. Warum muss zum Beispiel ein Fens- kurrieren zu lassen, bin ich sofort zu mei- Handy-Werken die 40-Stunden-Woche ver- terheber, der sich bewährt hat, für jedes nen Kollegen bei Saab gefahren. Wir haben einbarte, warnte der erste Vorsitzende der Fahrzeug neu entwickelt werden? Als wir uns versprochen, uns nicht gegeneinander IG Metall, Jürgen Peters, dies sei keine vor zehn Jahren Probleme mit der Qualität ausspielen zu lassen. Wer den Zuschlag Blaupause. bekamen, waren wir es, die angeregt ha- nicht bekommt, wird den anderen massiv Franz: Diesen Vertrag bei Siemens hätte ich ben, einen Qualitätsvorstand einzusetzen. unterstützen, damit dort andere Modelle auch nicht unterschrieben. Die Tinte ist Wir haben sogar zwei Modelle durchge- noch nicht trocken, da wird schon wieder setzt: das Astra-Cabrio und ein weiteres „Es wird extrem schwer, Bochum an der Vereinbarung gerüttelt. Einfach nur Modell, das demnächst kommen wird. als Produktionsstandort über fünf Stunden länger zu arbeiten ohne SPIEGEL: Modellpolitik ist also auch eine Lohnausgleich ist sowieso kein intelligen- Betriebsratsaufgabe? das Jahr 2010 hinaus zu sichern.“ ter Ansatz. Mit flexiblen Arbeitszeiten er- Franz: Absolut. Wir sind ja auch Kunden. reicht man einen viel höheren Produkti- Unsere Mitarbeiter können sehr gut beur- gebaut werden, beispielsweise ein Cadillac vitätsgewinn. teilen, wie ein Fahrzeug ankommt. bei Saab. Aber ich mache keinen Hehl dar- SPIEGEL: Jetzt klingen Sie wie ein Unter- SPIEGEL: Aber die Mitarbeiter an den eu- aus, dass die Mittelklasseproduktion eher nehmensberater. ropäischen Standorten verstehen sich zu- hierher gehört. Mein Herz schlägt für Franz: Wir müssen uns als Betriebsräte eben nehmend auch als Konkurrenten um Jobs. Rüsselsheim, aber es würde nicht rund auch um die harte Betriebswirtschaft küm- Sie, Herr Franz, arbeiten und wohnen in schlagen, wenn Trollhättan auf der Strecke mern. Rüsselsheim. Können Sie überhaupt ob- bliebe. SPIEGEL: Andere Betriebsräte empfinden es jektiv sein, wenn es darum geht, ob die SPIEGEL: Die Karawane der Globalisierung als Beleidigung, wenn man sie Co-Manager neue Mittelklasse hier oder in Schweden zieht längst weiter. GM fertigt in hochmo- nennt. gebaut wird? dernen Werken im polnischen Gliwice und im russischen Kaliningrad. Wie kann man gegen diese Standorte bestehen? Franz: Die Unterschiede bei den Lohn- kosten werden mit der Zeit geringer. Die Entwicklung ist schon im Gange. Bei uns sinken die Lohnkosten, im Osten stei- gen sie bereits. SPIEGEL: Aber die Anpassung wird noch viele Jahre dauern. Bis dahin werden weitere Stellen in den Osten verlagert. Franz: Lohnkosten sind nicht alles. In ei- nem Hochlohnland wie Deutschland hat Industriearbeit eine Perspektive, wenn die Fabriken zu 100 Prozent ausgelastet sind und ihre Produktivität ausspielen können. In Rüsselsheim wäre dann bei- spielsweise jedes Auto rund 500 Euro billiger. Bei einer Jahresproduktion von 260000 Fahrzeugen ist das irrsinnig viel Geld. SPIEGEL: Also hat die Autoindustrie am Standort Deutschland noch eine Zu- kunft? Franz: Sie muss eine Chance haben. Denn Deutschland hat keine Perspek- tive, wenn wir nur Blaupausen liefern oder uns ganz auf Dienstleistungen kon- zentrieren. So oft kann man gar nicht zum Friseur gehen. Aber da ist auch die deutsche Politik gefordert. Es kann doch nicht sein, dass wir in der europäischen Autoindustrie Überkapazitäten haben, und in Rumänien oder Polen werden noch weitere Überkapazitäten aufgebaut – mit Subventionen aus der Europäi- schen Union. SPIEGEL: Dennoch wird die Autoindu- strie kaum noch als Jobmaschine für Deutschland funktionieren wie in den vergangenen Jahren. Allein bei Opel werden rund 9000 Stellen gestrichen. 6500 Mitarbeiter sollen in Beschäfti-

JOCHEN FABER / AP JOCHEN FABER gungsgesellschaften wechseln. Sie ver- hat keine Perspektive, wenn wir nur die Blaupausen liefern“ zögern damit doch nur, dass die Men-

der spiegel 52/2004 75 Wirtschaft schen in die Arbeitslosigkeit geschickt schon so extrem schwer, Bochum als Pro- werden. duktionsstandort über das Jahr 2010 hinaus Franz: Nein, erfahrungsgemäß werden bis zu sichern. zu 60 Prozent in einen Job vermittelt. Al- SPIEGEL: Die nächsten Generationen von lerdings sind die Chancen dafür im Rhein- Astra und Zafira, die bislang in Bochum Main-Gebiet größer als in Bochum. In je- gebaut werden, könnten komplett in den dem Fall werden die Mitarbeiter weiter- Werken in Großbritannien, den Nieder- qualifiziert. Und sie erhalten die höchste landen und Polen produziert werden. Abfindung, die für Industriearbeiter je ge- Franz: Wir wollen deshalb einen Zukunfts- zahlt wurde. Wer beispielsweise als 52- sicherungsvertrag bis 2010 aushandeln, in Jähriger 3600 Euro verdient und 30 Jahre dem auch die Produktionsorte des nächs- bei Opel gearbeitet hat, erhält 216000 Euro. ten Astra festgelegt werden, um Bochum SPIEGEL: Wenn sich bis zum Stichtag, dem abzusichern. Das wird eine harte Nuss. 1. Februar 2005, nicht genügend Freiwilli- Dabei wäre es töricht, die Fertigung in ge melden, drohen doch noch Kündigun- Nordrhein-Westfalen zu beenden, wo die gen, oder? Marke Opel traditionsgemäß am stärksten Franz: Dann würde zuerst eine Einigungsstelle einge- richtet. Aber ich bin opti- mistisch, dass wir die ver- einbarte Zahl erreichen. Bis- lang haben sich schon sehr viele Mitarbeiter gemeldet. SPIEGEL: In der Belegschaft und im Betriebsrat gibt es auch Kritik an Ihrem Ku- schelkurs mit dem Manage- ment. Sie hätten Arbeits- platzabbau ohne Streiks

hingenommen. Die „taz“ TIM WEGNER lästert, Sie seien ein „Vor- Franz beim SPIEGEL-Gespräch*: „Lohnkosten sind nicht alles“ standsversteher“. Franz: Man ist als Betriebsrat eben in einer verhaftet ist. Die Kunden würden das be- Art Sandwich-Position zwischen Vorstand strafen. und Belegschaft. Da gibt es immer ein paar SPIEGEL: Viele Kunden bestrafen Opel besonders schlaue Menschen, die hinterher schon seit Jahren, indem sie andere Autos sagen, sie hätten alles besser gemacht. kaufen: auf der einen Seite Luxusmodelle SPIEGEL: Im Bochumer Werk standen die von Mercedes-Benz und BMW, auf der an- Bänder mehrere Tage still. Haben Sie Ver- deren Seite preiswerte Autos der koreani- ständnis für diese Aktionen, oder bestand schen Hersteller. Wie soll Opel als Marke die Gefahr, dass sich dieser Protest ver- der Mitte sich in diesem gespaltenen Markt selbständigt? behaupten? Franz: Ich habe volles Verständnis für die Franz: Wir brauchen ein hervorragendes Proteste. Es war eine unglaubliche Provo- Preis-Leistungs-Verhältnis, ein Stück Ex- kation des Managements, einfach zu ver- travaganz im Design, und die Qualität muss künden, wir streichen in Europa 12000 Ar- stimmen. Es fehlt ein Spitzenmodell. Da beitsplätze. Wäre man auf die Betriebsräte kann man nicht viel Geld verdienen, aber zugekommen und hätte gesagt, nach fünf die 142 Jahre alte Marke Opel muss de- Jahren mit hohen Verlusten müssen wir monstrieren, wozu sie technologisch in der die Kosten senken, hätten wir darüber in Lage ist. Dafür gibt es zwar ein Konzept, Ruhe verhandeln können. Angeheizt wur- aber das wird, wie so oft bei General de die Lage in Bochum zudem, weil selbst- Motors, ewig hin und her geschoben. Opel ernannte Marxisten aus dem ganzen Bun- hatte mit dem Frontera schon 1991 das desgebiet angereist kamen, die glaubten, Geländewagensegment in Deutschland dort fände die Weltrevolution statt. Und mitbegründet. Aber der nächste Gelände- diejenigen, die das alles zu verantworten wagen kommt erst 2006. Wir haben das al- hatten, saßen auf der Parkbank am Zürich- les angemahnt im Aufsichtsrat, die fehlen- see und haben sich gesonnt. den Dieselmotoren und Modelle. Deshalb SPIEGEL: Sie meinen die Manager der GM- kann ich nicht verstehen, dass einige be- Europazentrale in Zürich. haupten, wir hätten zu viel Mitbestimmung Franz: Ja, die blicken besonders kritisch auf in Deutschland. dieses Werk, weil es in Bochum schon häu- SPIEGEL: Wenn Sie bei der Modellpolitik figer Arbeitskämpfe gab. Deshalb müssen noch mehr mitreden wollen, müssen Sie wir mit Protestaktionen sehr sensibel in den Vorstand wechseln. umgehen, um keinen Vorwand für die Franz: Ich fühle mich wohler, wenn ich alle Schließung des Werks zu liefern. Es wird vier Jahre von den Beschäftigten gewählt werden muss. * Mit den Redakteuren Dietmar Hawranek und Alexander SPIEGEL: Herr Franz, wir danken Ihnen für Jung im Opel-Betriebsratsbüro in Rüsselsheim. dieses Gespräch.

76 der spiegel 52/2004 CLEMENS EMMLER / LAIF EMMLER CLEMENS Hof im Schwarzwald: „Das sind einfach keine professionellen Strukturen, mit denen man auf dem Weltmarkt konkurrieren kann“

FORSTWIRTSCHAFT Ein Mythos macht Verluste Nicht nur Waldsterben und Borkenkäfer bedrohen die deutsche Forstwirtschaft, sondern auch fallende Holzpreise und Billigimporte aus dem Osten: Zwar wächst der Waldbestand von Jahr zu Jahr, doch vielen seiner Besitzer droht die Pleite.

er Hof von Helmut Merz liegt sehr Der deutsche Wald: von den romanti- schön, auf einer Anhöhe über Reich an Rohstoff schen Dichtern zum Mythos hochgeschrie- DSchwäbisch Hall zwischen sanften ben, von Waldsterben und saurem Re- Hügeln und weiten Weizenfeldern, und Holzvorräte absolut gen zum Sorgenkind verwandelt, aber stets die Sonne gibt der Landschaft einen un- in ausgewählten europäischen Staaten von der ganzen Nation mit besonderer in Millionen Kubikmeter wirklichen Ton, fast wie bei einem Gemäl- Aufmerksamkeit bedacht. de von Cézanne. Deutschland 3380 Jedes Jahr zum Wald- Es ist still hier, kilometerweit entfernt Schweden 2928 zustandsbericht die glei- von der nächsten größeren Straße, und Frankreich 2892 che bange Frage: Wie geht umso eindringlicher klingt es, wenn Merz es unseren Eichen und in diese Stille spricht: „Viele hier haben Finnland 1940 Fichten? einfach die Schnauze voll.“ Polen 1908 Umso überraschender scheint da, dass Viele hier, das sind Leute wie Merz, die Italien 1429 nun, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, ihr Geld noch mit der in der Region tradi- eine andere Gefahr für die Zukunft der tionellen Mischung verdienen: Schweine, Baumarten im deutschen Wald (nach Fläche) Wälder heraufgezogen ist: eine wirtschaft- Acker, Wald. Im Fall von Merz heißt das 46 andere Laubbäume mit liche Existenzkrise, von der längst die Hektar Landwirtschaft, 29 Hektar Wald hoher geringer Fichte ganze Forstwirtschaft erfasst ist. „und unter dem Strich keinen Cent übrig“. Lebens- Es sieht nicht gut aus für die deutschen Merz, 42, ist Vorsitzender des Waldbau- dauer 6% 10% 28% Waldbauern: Die Holzpreise fallen, der Bor- vereins, Chef der Forstbetriebsgemein- kenkäfer ist nicht aufzuhalten, die lahme schaft und Gemeinderat. Er sagt: „Ich hal- 15% 2% Baukonjunktur drückt die Nachfrage, die te nichts von Subventionen.“ Auf seinem Kiefer 2% Billigimporte aus dem Osten nehmen zu. alten Ford-Kombi klebt ein Aufkleber: 10% „Vor fünf Jahren gab es 220 Mark für „Pro Wald, pro Mensch“. 3% 24% den Festmeter Fichte, heute sind es nur Jeden Tag geht Merz in den Wald, oft noch 50 Euro“, sagt Merz. Zu wenig, um mit der Axt, nur manchmal mit der Mo- davon zu leben. „Viele lassen ihren Wald torsäge. „30 Jahre Pflege braucht eine Fich- Besitzstruktur Quelle: Zweite doch längst einfach liegen.“ Bundeswald- te, bevor ich sie aus dem Wald hole“, seufzt Gemeinden, inventur Den 1,3 Millionen Waldbesitzern in Merz. „Wenn ich diesen Einsatz mitrech- Kirchen % Deutschland gehört mit fünf Millionen nen würde, blieben nur noch Verluste.“ 20 privat Hektar fast die Hälfte des deutschen Wald- Wie viele Bäume Merz hat, weiß er nicht, Staat 45% bestands und damit 15 Prozent der gesam- nur, dass es sich eigentlich nicht mehr ten Fläche der Bundesrepublik. Das sind lohnt, sie zu verkaufen. 35% große Zahlen, aber im europäischen Ver-

78 der spiegel 52/2004 gleich sind sie trotzdem klein. In Schweden befinden sich 70 Prozent des Walds in Pri- vatbesitz, in Österreich sogar 82 Prozent. Hierzulande dagegen gehört noch immer viel Wald dem Staat (33 Prozent) und den Gemeinden und Körperschaften (20 Pro- zent). Ob staatlich oder privat: Gut geht es kaum einem der 60 000 forstwirtschaft- lichen Betriebe. Über die Hälfte der Un- ternehmen erwirtschaftet Verluste. „Die Lage der deutschen Forstwirtschaft ist so dramatisch wie noch nie“, stöhnt Stefan Nüßlein, Geschäftsführer des Deutschen Forstwirtschaftsrats (DFWR), „bloß be- kommt es niemand mit.“ Und wenn, dann interessiert es keinen: Die Deutschen lieben den Wald – aber nicht MATHIAS WOLTMANN die Waldbesitzer. Deren Image ist, wenn Holzproduktion bei Klenk: Einziges konkurrenzfähiges Unternehmen sie überhaupt eines haben, nicht das beste. Und das liegt vor allem am Waldsterben. deutschen Forsten nach, nur 40 Millionen Nicht anders sieht es bei den chronisch „Da sind wir wohl in eine Falle gelau- werden dagegen jährlich eingeschlagen. defizitären Staatswäldern aus. Viele Bun- fen“, sagt Michael Prinz zu Salm-Salm, der „Waldbewirtschaftung ist schon seit 200 desländer sind deswegen dabei, ihre Forst- Präsident der Waldbesitzerverbände. „Da- Jahren nachhaltig“, betont Salm, der eine verwaltungen umzukrempeln. In Bayern mals haben wir das Waldsterben selbst Menge solcher Fakten im Kopf hat. etwa will Ministerpräsident Edmund Stoi- zum Thema gemacht, um Aufmerksamkeit Salm besitzt nicht besonders viel Wald. ber die 128 Forstämter und 4 Forstdirektio- auf unsere Probleme zu lenken, und jetzt Es sind gerade einmal 100 Hektar, „nicht nen durch eine öffentliche, wettbewerbs- denkt jeder, dem Wald geht es so schlecht, genug, um allein davon zu leben“. Trotz- fähige Forstanstalt ersetzen – um damit dass man keinen einzigen Baum mehr dem haben die Salms seit langem ein möglichst schnell auch schwarze Zahlen zu fällen darf.“ Was natürlich Quatsch sei, wie Faible für die Waldwirtschaft, 850 Jahre schreiben. Doch der Widerstand ist groß, Salm schnell hinterherschiebt. schon, und das ist wohl auch der Grund, vor allem Naturschützer befürchten einen Seit Jahren schon debattieren Forstwis- warum der Prinz Cheflobbyist der Forst- „Kahlschlag“: Nur knapp scheiterte Anfang senschaftler und Ökologen deswegen nun, besitzer ist. Dezember ein Volksbegehren gegen die ob es nicht ein großer Fehler war, das „Dass man den Wald auch nutzt, be- bayerischen Reformpläne. Panikwort vom Waldsterben selbst in die kommt man vor allem in die Köpfe der Die kleinen, privaten Waldbauern dage- Welt zu setzen. Dabei hat sich inzwischen Städter nicht mehr rein“, sagt Salm, und gen versuchen, ihre Kräfte zu bündeln, unter Fachleuten die Meinung verfestigt: dann redet er über die „tolle Ökobilanz um dem Preisdruck zu widerstehen. Da ist Nicht der saure Regen, sondern vor allem von Holz“ und die „Arbeitsgemeinschaft zum Beispiel Peter Wälde, Vorsitzender extreme Witterung und ausgelaugte Böden naturgemäße Waldwirtschaft“, gegründet der Forstbetriebsgemeinschaft Gutach im machen die Bäume krank – die Umwelt- von seinem Vater, „der heute noch mit 87 Schwarzwald: Seit 1517 bewirtschaftet sei- schäden kommen obendrauf. Selbst Bun- jeden Tag mit der Axt in den Wald geht“. ne Familie den Peterhof und die dazu- deslandwirtschaftsministerin Renate Künast Die Salm-Salms befinden sich in bester gehörigen 130 Hektar Wald. erklärte bereits vergangenes Jahr das Wald- Gesellschaft: Die drei größten Waldbesitzer „Lohnenswerte Erträge kommen heu- sterben für beendet. Und die „Zeit“ spricht im Land sind Gloria von Thurn und Taxis te nur noch über die Masse“, sagt Wälde. sogar vom Waldsterben als einem „deut- mit rund 28000 Hektar, gefolgt von den Für- Etliche Höfe und Familienbetriebe im schen Mythos, der allmählich zerbröckelt“. stenhäusern Fürstenberg und Hohenzollern- Schwarzwald leben auch heute oft mehr Wie tief sich aber die Debatte um die Sigmaringen. Dennoch ist die Forstwirt- als zur Hälfte vom Wald, manchmal, wie in Gesundheit des deutschen Baumes in das schaft keine Nischenbranche, die den Re- Wäldes Fall, sogar bis zu zwei Dritteln. öffentliche Bewusstsein gegraben hat, zei- sten des deutschen Adels das Auskommen Wälde stoppt seinen Geländewagen an gen die Reaktionen auf den Anfang De- sichert: Nur etwa sechs Prozent der deut- einem dichtbewachsenen Hang, kurz vor zember veröffentlichten Waldzustandsbe- schen Waldfläche zählt zum „Großprivat- drei Waldarbeitern, die mit kreischenden richt, der 31 Prozent der Bäume als schwer wald“ mit mehr als 1000 Hektar. Motorsägen 30 Meter hohe Fichten aus geschädigt einstuft: Der Wald sei so krank Die allermeisten Forstwirte sind Klein- dem Wald schlagen. „Eigentlich sind Fich- wie niemals zuvor, wurde sogleich allent- unternehmer: Landwirte mit ein paar Hek- ten erst ab 1000 Meter Höhenlage hei- halben bejammert. Bloß sind daran zu- tar Baumbestand, Waldbauern, die seit Ge- misch“, sagt Wälde. „Aber kaum ein Wald- nächst nicht neue Umweltsünden schuld, nerationen vom und für den Forst leben. bauer pflanzt Laubbäume, für die gibt es sondern schlicht der ungewöhnlich trocke- Der durchschnittliche Waldbesitz liegt bei einfach keinen Markt.“ ne und heiße Sommer. gerade 3,6 Hektar – viel zu wenig, um sich Das vielseitig als Bauholz verwendbare Vor allem aber ist der deutsche Forstbe- gegen die Holzindustrie zu behaupten. Nadelholz dagegen findet Abnehmer – stand so groß wie wohl seit Jahrhunderten In dieser Kleinteiligkeit liegt eine der aber zu dramatisch gesunkenen Preisen. nicht mehr: In den vergangenen 40 Jahren Hauptursachen für die Existenzkrise der „Wer da nur die durchschnittlichen paar kamen knapp eine Million Hektar Wald deutschen Forstwirtschaft: Mehr als eine Hektar hat, kann sich die Arbeit gleich spa- hinzu – fast die vierfache Fläche des Saar- Million Waldbesitzer stehen einer immer ren“, brüllt Wälde über das Knirschen und lands. „Wir sind in puncto Holz ein wirk- kleiner werdenden Zahl von Holzunter- Knacken fallender Bäume hinweg. Zu- lich rohstoffreiches Land“, betonte der grü- nehmen gegenüber, die zu internationalen sammenschließen sei deshalb die einzige ne Staatssekretär Matthias Berninger bei Preisen handeln. „Das sind einfach keine Lösung, so wie bei der Forstwirtschaft- der Präsentation der neuen Bundeswald- professionellen Strukturen, mit denen man lichen Vereinigung Mittlerer Schwarzwald Inventur im Herbst. Insgesamt wachsen auf dem Weltmarkt konkurrieren kann“, (FMS), deren Vorsitzender er ist. Mehr als jährlich 60 Millionen Kubikmeter Holz in sagt DFWR-Geschäftsführer Nüßlein. 75000 Hektar „Klein-Privatwald“ sind in

80 der spiegel 52/2004 Wirtschaft der Vereinigung organisiert: Die 3700 Mit- Nichts bleibt ungenutzt: Aus der Baumrinde glieder können ihre sonst zu kleinen Holz- wird Kompostdünger, aus Sägemehl Span- mengen so gemeinsam überregional ver- platten, aus Spänen Pressholz. markten – so dass es sich wieder lohnt, den 360 Millionen Euro Umsatz macht Klenk Wald nicht einfach brachliegen zu lassen. mit 1500 Mitarbeitern und 5 Sägewerken, „Das ist ja auch so ein Irrglauben“, sagt das reicht für zehn Prozent Marktanteil – Wälde, während er Baumrinde nach den und Margen selten über zwei Prozent. „Es überall zu findenden Borkenkäfer-Nestern ist schwierig, mit Holz Geld zu verdienen“, durchstöbert. „Es entsteht kein prähistori- sagt Eugen Klenk. Seit Jahren schon drän- scher Urwald, wenn man einfach keine gen Billigimporte aus ehemaligen Sowjet- Bäume mehr fällt. Wald muss gepflegt wer- republiken auf den Markt, vielfach aus Re- den.“ Da stimmt sogar der grüne Staats- gionen, wo nachhaltige Forstwirtschaft sekretär Berninger zu: „Nichts tun vergrö- nichts zählt und Kahlschläge an der Tages- ßert die Probleme des Waldes nur.“ ordnung sind. Gleichzeitig fehlt es durch Bundesweit arbeiten inzwischen 1700 die marode deutsche Bauwirtschaft an Betriebsgemeinschaften mit einem ähn- Nachfrage. Die Folge: fallende Preise, ge- lichen System wie die FMS. Aber noch ringe Absatzmöglichkeiten. zeigen die Konzentrationsbemühungen Klenk exportiert inzwischen fast 40 Pro- nicht ausreichend Wirkung. Der süd- zent seiner Holzproduktion in Länder wie deutsche Holzkonzern Klenk etwa wird Italien oder die USA. Dort wird weitaus monatlich von 1500 Waldbauern einzeln mehr Holz verbaut, und dort ist deutsches beliefert. „Die bringen ihr Holz zum Teil Qualitätsholz gefragt. direkt mit dem Trecker bei uns vor das „Unsere große Sorge ist aber zuneh- Firmentor“, sagt Eugen Klenk, 76, der den mend, ob wir den Waldbauern noch genug Familienkonzern seit fast 60 Jahren führt. zahlen können, damit sie weitermachen“, Klenk, der größte Schnittholzproduzent sagt Klenk. Vor drei Jahren übernahm des Landes, kann als nahezu einziges deut- Klenk deswegen einen großen Forstdienst- sches Unternehmen mit den skandinavi- leister, dessen vollautomatische Holzernte- schen Holzkonzernen konkurrieren. Der maschinen auf über 100000 Hektar für den schwäbischen Konzern eingesetzt werden. Wald kaufen wolle man zwar nicht, betont Klenk, aber zumindest die Ernte und die Holzzufuhr sicherstellen. Umso dringlicher wird nach neuen An- reizen gesucht, die die Waldbauern zum Weitermachen bewegen. Dazu soll unter anderem die „Charta für das Holz“ die- nen, die von der Bundesregierung im Sep- tember vorgestellt wurde. Ihr Ziel: den deutschen Holzverbrauch um 20 Prozent zu steigern. Denn ausgerechnet im um- weltbewussten Deutschland ist Holz trotz seiner ökologischen Vorteile als Baustoff wenig beliebt: In den USA etwa werden Privathäuser zu 95 Prozent aus Holz ge- baut, hierzulande sind es nur 14 Prozent. Doch auf steigende Nachfrage wollen die Forstwirte nicht warten. „Wir brauchen neue Einnahmemöglichkeiten“, betont Prinz Salm. Vor allem die „ökologische Leistung“ könnte entlohnt werden: Indem

DOROTHEE VAN BÖMMEL VAN DOROTHEE der Wald in den Emissionshandel einbe- Forstlobbyist Prinz Salm zogen wird oder Naturschutzleistungen der Probleme mit dem Image Waldbauern vergütet werden. Entlohnt werden könnte auch die Filterfunktion des Stammsitz des Unternehmens liegt im tiefs- Waldbodens für das Grundwasser. Aber ten Schwäbisch-Fränkischen Wald – so tief, stattdessen zahlen vielerorts die empörten dass es noch nicht mal einen Gleisanschluss Forstwirte sogar noch Abgaben an Was- für die täglich im Oberroter Sägewerk an- ser- und Bodenverbände für die Reinigung gelieferten 25000 Baumstämme gibt. des Abwassers. Holzstaub liegt wie ein feiner Ascheregen Ob sich eine dieser Forderungen in die in der Luft über dem Firmengelände. Im Praxis umsetzen lässt, ist eher zweifelhaft. Sekundentakt rollen Baumstämme in die „Natürlich müsste es honoriert werden, automatischen Verarbeitungsanlagen, wer- welche Leistungen wir für das Gemein- den elektronisch vermessen, entrindet, wohl erbringen“, betont der schwäbische zerschnitten von Tausenden kreischenden Waldbauer Helmut Merz. „Aber soll ich Sägeblättern. In den Lagerhallen stapeln etwa am Wegrand eine Kasse aufstellen sich in endlosen Reihen Kiefernlatten, Mas- und die Leute für den Waldspaziergang ab- sivholzplatten und Schnittholz „sägerau“. kassieren?“ Thomas Schulz

der spiegel 52/2004 81 Wirtschaft

„Die Siedler“ „Far Cry“ Szenen aus Computerspielen: Ähnlicher Aufwand wie bei großen Hollywood-Produktionen

als die Hälfte zum Gewinn des Gesamtkon- VIDEOSPIELE zerns beitrug, starke Schwächesymptome: Im letzten Geschäftsjahr sank der Spiele- umsatz um 18 Prozent, der Gewinn redu- Aufstieg der Schmuddelkinder zierte sich gar um 40 Prozent. Der Absturz ist die Folge des verschärf- Mit einem Frontalgriff auf den Erzkonkurrenten Nintendo ten Konkurrenzkampfs, denn seit drei Jah- ren mischt ein weiterer Gigant im globalen eröffnet Sony eine neue Phase im Kampf um die Vorherrschaft auf Game-Business mit: der amerikanische dem weltweit boomenden Markt für Videospiele. Software-Riese Microsoft. Zwar blieb Fir- mengründer Bill Gates mit seiner Xbox der s war kalt und noch dunkel, doch die Für beide Konzerne steht womöglich sogar große Erfolg bislang versagt – nur etwa 20 ersten Kunden waren schon Stunden die Zukunft des Unternehmens auf dem Millionen Konsolen wurden seit November Evor Geschäftsbeginn zur Stelle. Und Spiel. 2001 verkauft. als dann um sechs Uhr morgens ausge- Lange Zeit hatte Pionier Nintendo, der Aber anders als Nintendo und Sony ver- wählte Elektronikläden in Japan ihre Pfor- 1989 mit dem Taschenspieler Game Boy fügt Gates über nahezu unbegrenzte Fi- ten öffneten, standen bis zu tausend Kun- die neue Ära der Videospiele einläutete, nanzreserven und kann so die Konkurren- den in der Schlange. den Markt fast allein beherrscht und da- ten aus Japan mächtig unter Druck setzen. Das Objekt ihrer Begierde war ein hand- malige Konkurrenten wie Sega oder Atari Und das tut er auch, obwohl Microsoft bis großer, schwarzer Kasten, gut ein halbes stets auf Distanz halten können. Doch als heute noch keinen Cent mit der Xbox ver- Pfund schwer. Auf der einen Seite des Sony 1994 mit der Playstation den Markt dient hat. Flachmanns befindet sich ein knapp elf mal aufrollte und auch ältere Spieler als Ziel- Aktuell verkauft Microsoft seine Xbox, elf Zentimeter großer Bildschirm, und auf gruppe erschloss, war es vorbei mit der die anfangs in Deutschland fast 500 Euro der Rückseite leuchten in silbernen Let- Spitzenposition und den hohen Gewinnen. kostete, für nur noch knapp 150 Euro. Der tern die drei Buchstaben PSP – Playstation Mehr und mehr musste Nintendo dem Portable, das neueste Videospielzeug aus Aufsteiger Sony das Feld überlassen – zu- dem Hause des Elektronikriesen Sony. mindest im Geschäft mit Spielkonsolen, Kleine Sparte – Große Wirkung An diesem dritten Adventssonntag hat- die an den Fernseher angeschlossen wer- Anteil der Sony-Konzernbereiche am ten die Sony-Manager allen Grund zum den. Nur dank des mobilen Klassikers Umsatz 2004, in Prozent Strahlen. Innerhalb weniger Stunden hat- Game Boy und seiner Nachfolger überleb- te der japanische Multi rund 200000 PSP- te der Pionier. An die 200 Millionen Gerä- Geräte zum Stückpreis von umgerechnet te hat Nintendo weltweit vor allem an die 10,1 etwa 150 Euro verkauft. Kids verkauft. Doch inzwischen gilt das Bis Ende des Jahres soll eine halbe Mil- technische Konzept des Urvaters von „Su- 10,1 lion PSPs in Japan abgesetzt werden. Da- per Mario“ als überholt. 9,8 63,5 nach soll die Produktion so hoch laufen, Auch Sony-Chef Nobuyuki Idei steht un- 6,5 dass der schwarze Kasten auch in den USA ter starkem Erfolgsdruck – trotz des Sie- und Europa in die Läden kommen kann. geszugs der Playstation, von der der Kon- Spiele Filme Finanz- Musik Elektronik Allein bis zum Ende des Geschäftsjahres zern mittlerweile mehr als 100 Millionen dienste/ am 31. März 2005 will Sony rund drei Mil- Geräte abgesetzt hat. Denn Sony hat in Gewinn/ Verlust Sonstiges lionen Daddelkisten in den Markt drücken. seinem Kerngeschäft gefährlich an Schwung in Millionen Dollar Der Verkaufsstart der tragbaren Play- verloren, der Umsatz stagniert, die Ge- 650 station markiert eine neue Phase im Kon- winne sind dramatisch gefallen. 434 kurrenzkampf der Spielegiganten Sony Doch ausgerechnet in der Krise zeigt die 339 und Nintendo – und dabei geht es um weit lukrative Spielesparte, die zwar nur zehn 182 mehr als ein simples Elektronikspielzeug. Prozent zum Umsatz, aber zeitweise mehr

82 der spiegel 52/2004 ––339339 höhe zur Verfügung und engagierte unter ande- rem die Media-Spezia- listen der Firma Ant Farm, die zuvor die Trai- ler für den Hollywood- Blockbuster „Der Herr der Ringe“ oder die Harry-Potter-Filme ent- wickelt hatte. Der Aufwand für den Nachfolger der Urversion von „Halo“, bei dem ein durch Gentechnik ge- stählter Supersoldat die Erde vor angreifenden Alien-Horden aus dem Weltall retten muss, hat sich gelohnt. Als das Spiel am ersten Novem- „Halo 2“ ber-Wochenende gleich- zeitig weltweit in die Lä- US-Konzern zwang Sony damit ebenfalls den kam, verkaufte Microsoft rund 1,5 Mil- zu schmerzhaften Preissenkungen. lionen Kopien des Action-Spektakels, das Um dem Druck auszuweichen, setzt in Deutschland erst für Jugendliche ab 16 Sony-Chef Idei jetzt alle Hoffnungen auf freigegeben ist. Mit Einnahmen von mehr das Geschäft mit den tragbaren Konsolen. als 120 Millionen Dollar spielte „Halo 2“ Hier herrscht Nintendo noch immer über dabei deutlich mehr ein als jede Hol- 90 Prozent des Weltmarkts. Doch anders lywood-Produktion an einem Startwo- als vor zehn Jahren sind die Nintendo-Bos- chenende. se diesmal besser gerüstet. Die Deutschen dagegen bevorzugten Die erste Runde haben sie sogar schon lange Zeit vor allem Simulationen wie „Die für sich entschieden. Denn während Sony Sims“ oder „Die Siedler“. Zwar wächst seine neue Waffe nur ganz knapp vor auch hier der Anteil der Spielkonsolen, bei Weihnachten in die Geschäfte bringen denen Action- und Sportspiele die Renner konnte und in den USA, dem größten sind. Im Vergleich mit Ländern wie Eng- Spielemarkt der Welt, überhaupt noch nicht land oder Frankreich gibt es in den Augen vertreten ist, kam Nintendo schon einige der Marketingexperten aber immer noch Wochen zuvor mit einem Nachfolger für große Wachstumschancen. den angejahrten Gameboy auf den Markt. Dass die aber nicht so schnell realisiert DS (Dual Screen) heißt der 110 Euro teu- werden können, liegt nach Ansicht von re Taschenspieler, mit dem Nintendo an Microsoft-Manager Stephan Brechtmann den Erfolg seines Klassikers anknüpfen an der „mangelnden gesellschaftlichen Ak- will. Zumindest der Start in den USA und zeptanz“ der Videospiele: „Wir gelten als in Japan verlief hervorragend, und auch die Schmuddelkinder der Unterhaltungs- die Vorbestellungen aus Europa, wo das branche.“ Spielzeug Anfang 2005 herauskommen soll, Der Grund dafür seien paramilitärische sind vielversprechend. Bis zum Ende des Spiele, sogenannte Ego-Shooter wie Geschäftsjahres am 31. März soll der Ab- „Doom“ oder „Far Cry“, die in der öf- satz auf fünf Millionen steigen – und damit fentlichen Diskussion eine große Rolle weit über dem von Sonys PSP liegen. spielen – in Wahrheit aber nur einen Dabei ist der Kampf um die Vorherr- Bruchteil zum Gesamtumsatz der Branche schaft auf dem Hardware-Markt nur die beitrügen. „Das ist so“, klagt Brechtmann, Grundlage für ein viel lukrativeres Ge- „als würde man behaupten, in Hollywood schäft: Das große Geld wird mit der Spie- würden nur Horrorfilme gedreht.“ le-Software verdient. Weltweit etwa 20 Mil- Zumindest unter Investoren scheint sich liarden Euro, so schätzen Marktforscher, ein Meinungswandel abzuzeichnen. So be- geben die Fans im laufenden Jahr dafür hauptet die Hamburger Investmentgesell- aus. Damit übertraf die Branche bereits die schaft Atlantic, die bislang auf Schiffsbe- Umsätze mit Kinokarten und DVDs. teiligungen spezialisiert war: „Die Video- Nicht selten werden wichtige Neuerschei- spielbranche ist erwachsen geworden.“ nungen auch mit ähnlichem Medienwirbel Anleger, die mindestens 100 000 Euro angekündigt wie große Hollywood-Pro- lockerhaben, sollten sich deshalb über ei- duktionen und auf glamourösen Galaver- nen speziellen Fonds „eine unternehme- anstaltungen mit prominenten Gästen – rische Beteiligung am boomenden Markt „Abendgarderobe erwünscht“ – präsen- der PC- und Videospiele“ sichern. Denn, tiert. So stellte Microsoft für die Ein- so behaupten die Fondsmanager: „Das führung des Xbox-Spiels „Halo 2“ einen Wachstum ist unbegrenzt.“ Marketingetat in zweistelliger Millionen- Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Lindemann

der spiegel 52/2004 83 –339 Trends Medien

geworfen. Dies geht aus Schreiben des Intendanten des niederländischen öffent- lichen Rundfunks, Joop Daalmeijer, und seines BBC-Kollegen, Stephen Whittle, hervor, die dem Institut als Aufsichtsräte angehörten und sich Anfang Dezember in einer „delikaten Angelegenheit“ an den Medienausschuss des NRW-Landtags wandten. Mit harschen Worten wird Groebel für die im Oktober aus Geld- mangel beschlossene Schließung des In- stituts und nun anstehende Entlassung al- ler Mitarbeiter verantwortlich gemacht: Groebel habe nicht nur „das Institut im

MARKUS HANKE / VISUM MARKUS Stich gelassen“, sondern auch durch „sei- Düsseldorfer Medienhafen ne exzessiven Reisen und persönlichen Ausgaben die Kosten erhöht“. Empört zei- MEDIENFORSCHUNG gen sich die beiden aus Protest gegen die Vorgänge zurückge- tretenen Kontrolleure, dass Groebel das Institut nun im Ein- Mann-Betrieb weiterführen soll, während die Mitarbeiter mit Skrupellose Sanierung 500 Euro abgefunden würden: „Aus einer Prüfung der Kom- petenz des Generaldirektors ging sein Versagen deutlich her- assiven Vorwürfen sieht sich die Leitung des Europäischen vor, aber es wurde nichts unternommen“, so Daalmeijer. Nun MMedieninstituts ausgesetzt, die auch die NRW-Medien- sollten die Parlamentarier prüfen, „wie die Finanzpolitik zu ei- politik in ein schlechtes Licht rücken. Dem Leiter des mit nem regelrechten Fiasko geführt hat und wie die Aufsicht des umfangreichen Landesmitteln finanzierten Instituts am Düs- Subventionsgebers ausgeführt wurde“. Groebel dagegen weist seldorfer Medienhafen, Jo Groebel, wird von Aufsichtsrats- die Kritik „entschieden“ als „unsachlich“ zurück. Das Vorge- mitgliedern „Versagen“ und eine „skrupellose Sanierung“ vor- hen der beiden Aufsichtsräte sei „befremdlich“.

WERBUNG wenn durch einen Slogan Kraftaus- drücke in den Sprachgebrauch der „Harte Bandagen“ jungen Leute gedrückt wird. Wir machen so einen Begriff ja sozusagen Der Hamburger Agenturgründer stubenrein. André Kemper, 41, über seine SPIEGEL: Auf Festivals wurden zuletzt Media-Markt-Spots und die Verro- Spots eines Fitness-Clubs prämiert, in hung der Sprache denen eine Frau eine Nuss mit dem Hintern knackt. Wird Stefan-Raab-Hu-

SPIEGEL: Ihr Media-Markt-Slogan mor in der Werbung zum Mainstream? ROEDER JAN „Lass Dich nicht verarschen“ wird Kemper: Für einige Branchen trifft das Buchclub-Geschäft inzwischen sogar schon auf den zu. Die Bandagen sind sehr hart ge- Schulhöfen gesungen. Sind Sie zu- worden. Man muss sich mehr trauen, frieden? um mehr Lautstärke zu bekommen. Kemper: Dass es so eingeschlagen ist, Die Ver-Raabung der Kommunika- Kriselnde Keimzelle hat uns tierisch gefreut – vor allem, tion hat einen neuen Standard in der weil die Latte durch die Vorgänger- Lautstärke gesetzt. Die andern müs- rotz der anhaltenden Krise des deutschen Kampagne über „die Mutter aller sen nachziehen. TBuchclubs geht die Sanierung der ge- Schnäppchen“ ziemlich hoch gele- SPIEGEL: Das Dauerfeuer der Geiz- samten Buchclub-Sparte von Bertelsmann gen hat. ist-geil-ich-bin-doch-nicht-blöd- schneller voran als geplant: Die Direct Group SPIEGEL: Lässt sich Auf- Kampagnen geht also wird in diesem Jahr einen Gewinn von wohl merksamkeit nur noch weiter? über 20 Millionen Euro ausweisen können, mit verrohter Sprache Kemper: Billig, Schnäpp- nach vier Millionen im Vorjahr. Die Führung erzielen? chen, megagünstig – all des deutschen Clubs war vergangene Woche Kemper: Man fängt die diese Worte sind ja längst überraschend ausgetauscht worden, da sich Leute mit Witz und zur Tapete geworden. die Verluste der Keimzelle des Gütersloher Charme und nicht, indem Die Kunst ist nun, den Medienkonzerns auch in diesem Jahr auf sie- man sie anschreit. Unsere passenden Ton zu finden, ben bis acht Millionen Euro belaufen wer- fröhliche Musik zum der sich durchsetzen den, hinzu kommt der Verlust von 300000 Beispiel baut einen schö- kann. Das heißt aber Mitgliedern und ein deutlich geschrumpfter nen Kontrast zum Wort nicht: Je lauter man Umsatz. Der Umbau des Clubgeschäfts „verarschen“ auf. Aber es „Arsch“ schreit, desto müsse „noch radikaler, mit noch mehr Tem-

stimmt, dass sich der eine PRESS / ACTION DIRK EISERMANN leichter gewinnt man po“ erfolgen, so Direct-Group-Chef Ewald oder andere daran stört, Kemper die Herzen der Leute. Walgenbach.

86 der spiegel 52/2004 Medien Fernsehen TV-Vorschau böck). Der Professor hat zum Abflug ein Am Ende der Welt America in the Fifties: anderes Problem: Mit im Ballonfahrkorb ist des Amateurdetektivs ewige Polizei- Sonntag, 22.00 Uhr, ARD Traum und Albtraum konkurrentin (Sissy Höfferer). Und die- Schon mit seinem Reisebericht Montag, 22.15 Uhr, Phoenix ser Fall von Liebe dürfte für ihn schwe- „Östlich der Sonne – vom Baikalsee „Amerika sitzt breitbeinig über der rer werden als alle Verbrechen. Davon nach Alaska“ verfolgte Klaus Bed- Welt wie ein Koloss“, schrieb der bri- allerdings, schade, kein anderes Mal. narz die Spuren indianischer Völker- tische Historiker Robert Payne schon wanderer. Nun begab sich der Ende der vierziger Jahre. Ein sieben- Spiele ohne Grenzen? WDR-Mann ans südliche Ende der teiliger Rückblick auf die fünfziger Welt, um die Nachfahren der In- Jahre in den USA zeigt, dass diese Samstag, 22.30 Uhr; dianervölker aufzuspüren, die vor Epoche eine Zeit des Aufbruchs war, Sonntag, 23.10 Uhr, ARD die später auch Wirtschaft und Weihnachten ist das Fest der Besinn- Kultur in Europa beeinflusste. In An- lichkeit, manchmal auch der Besinnung. lehnung an das Buch „The Fifties“ So ruft diese zweiteilige Dokumentation des amerikanischen Pulitzer-Preis- über „Die große Show im deutschen trägers und Vietnam-Berichterstatters Fernsehen“ (Untertitel) in Erinnerung, David Halberstam dokumentieren was für Verbrechen manche TV-Macher Tracy Dahlby und Alex Gibney nicht im Namen der Unterhaltung begangen nur das Lebensgefühl einer stolzen haben, und zwar schon Jahrzehnte vor Nation, sondern auch deren Wider- dem Kakerlakenbad auf RTL: Der Mo- sprüche zwischen Prüderie, „Play- derator Dietmar Schönherr versenkte in boy“ und Antibabypille. Folge „Wünsch Dir was“ ein Auto samt Insas- eins beschäftigt sich mit der damals sen in einem Wasserbecken, Alfred Bio- verbreiteten und auch geschürten lek schickte eine Kandidatin in einen

Angst vor Kommunisten – etwa durch Tigerkäfig, und Jürgen von der Lippe / WDR MÜHLENBROCK GABRIELE Filme wie „Die Invasion der Körper- trug stets furchtbar bunte Hemden. Szene aus „Am Ende der Welt“ fresser“. Über das von WDR-Redakteur Klaus Michael Heinz kunstvoll zusammenge- rund 12000 Jahren von Nord- Die Verbrechen des Professor schnittene Archivmaterial macht sich im amerika bis nach Kap Hoorn zogen. Studio eine Talkrunde her: Unter der Mit Bildern von fast magischer Capellari Leitung der „Tagesthemen“-Moderato- Anziehungskraft verfolgt der erste Samstag, 21.40 Uhr, ZDF rin Anne Will diskutieren elf Showmas- von zwei Teilen die 3000 Kilo- ter über ihr Gewerbe – mal selbstkri- meter lange Route durch Patagonien: tisch (Günther Jauch), mal selbstgefällig von Temuco, dem Herzen des (Karl Moik), mal der Welt entrückt Mapuche-Indianergebiets, durch die (Wolfgang Lippert). Das letzte Wort hat Pampa, Fjorde und die Felslandschaft dabei meistens Rudi Carrell: „Alle zehn Torres del Paine bis zur Magellan- Jahre kann man alles wiederholen.“ straße. TV-Rückblick

ERIKA HAURI le zu dem großen Bildungsbürger „Capellari“-Star Thun (M.) Schmidt. Als der Elder Statesman nach Beckmann kaum drei Minuten auf den Unterschied Drehbuchautoren lassen Krimihelden, zwischen Kantianern und Marxisten zu die nach langer TV-Arbeit den Dienst 13. Dezember, ARD sprechen kam, wendete der Moderator quittieren, gern mal davonfliegen. Als Man muss den Moderator Reinhold durch geschickten Themenwechsel ei- Schimanski vom „Tatort“ schied, se- Beckmann nicht mögen, man kann ihn nen gelehrten Vortrag ab, ohne sich als gelte er mit dem Drachen aus Duis- für allzu glatt halten. Aber für seinen Gesprächslenker in Szene zu setzen. burg davon. Professor Capellari (Fried- Gast, den Altkanzler Helmut Schmidt, Beckmann behielt die Pose des andäch- rich von Thun), der schrullig-vorneh- 85, war der TV-Journalist genau der tig Lauschenden bei, Schmidt durfte me Hagestolz, erhebt sich in dieser richtige Partner. Beckmann spielte den sich entfalten. Und so plauderte der 17. und letzten Folge (Buch: Jochen Unbedarften und akzeptierte das Gefäl- Politiker freimütig über seine Hör- Greve, Regie: Thomas Jauch) standes- schwäche, das schwierige Verhältnis gemäß mit dem Ballon in die Lüfte. zum Vater oder die „Mitverantwor- Vor ihm lagen verbrecherische Umtrie- tung“ (Schmidt) an der Ermordung be auf einem Schloss und eine geplatz- Hanns Martin Schleyers durch die RAF. te Aufführung des Shakespearschen Am Ende lehnten sich der Alte und der „Sommernachtstraums“. Das Publi- Junge für den Genuss einer Zigarette kum mag traurig sein über das Ende zurück – beide sichtlich zufrieden: einer gepflegten, auf Komödianten- Schmidt über die Demonstration seiner kunst setzenden Reihe (man erinnere Altersgelassenheit, Beckmann über das

sich an den verstorbenen Karl Schön- FACE TO / NDR FACE TJABERG Gelingen einer großen Deutschstunde Gast Schmidt, Talkmeister Beckmann im Fernsehen.

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TV-SHOWS Schmidt happens Diese Woche kehrt Harald Schmidt in die ARD zurück. Der Fernseh-Großverdiener kann in seiner alten und neuen öffentlich-rechtlichen Heimat nun machen, was er will – und bekommt dafür sehr viel Geld und Rechte eingeräumt. Warum eigentlich? Von Thomas Tuma

er Erlöser kommt in diesem Jahr etwas früher, am 23. Dezember. DSeine Gage wird allerorten auf min- destens acht Millionen Euro geschätzt. Doch trotz des Frühstarts gestalten sich konkrete Details seiner Heilsversprechen Anno Domini 2004 offenkundig schwierig. Oder schlichter: Der Vertrag ist bislang nicht unterzeichnet. Vielleicht ist die Zahl der garantierten Wunder noch nicht geklärt. Oder die Fra- ge der Hörfunk-Zweitverwertungsrechte. Man weiß es nicht so genau, denn der Er- löser selbst weilte bis Ende vergangener Woche auf Weltreise und gewährt keine Interviews vor seiner Niederkunft, die ohnehin eher eine Wiedergeburt werden soll. Im Prinzip geht es nämlich nur um eines: Harald Schmidt kehrt ins Fernsehen zurück – und zwar zur ARD. Vor und nach so einem Satz muss man den Leuten und vor allem den Feuilletons in diesem Land noch immer eine Zeile Atem- pause gönnen, als würden sie gerade erfah- ren: John F. Kennedy lebt – und zieht nächs- te Woche in eine Kölner Senioren-WG. Entsprechend japsend fiel die Begeiste- rung aus. „Welcome back, Herr Schmidt. Es ist gut, dass Sie zurückkommen“, be-

schwor die „taz“ die „TV-Sensation des / DDP MICHAEL LATZ Jahres“ („Bild“), „als kehre ein Sinnstifter Entertainer Schmidt*: Aaah! Oooh! Iiih! zurück“ („Welt am Sonntag“). Im allgemeinen Apotheose-Rummel rücht wehren, er würde in Reue fest zu sei- jetzt zu flach? Dieses Niveau war häufiger wäre jetzt nur noch frei: „Heiland Harald nem alten Chef stehen und nicht etwa aus zu beobachten. – reloaded“ oder „Jesus Schmidt Super- Geld- oder Langeweile-Gründen abdanken. Auf die Frage, ob er sich irgendwann star“. Denn auch göttliche Vergleiche wa- Es ging dann zwar doch irgendwie wei- wieder bei der ARD vorstellen könnte, sag- ren schnell vergriffen, als der Star vor ge- ter mit Menschheit und Republik. Aber te Schmidt im Sommer 2003: „Wenn Sie nau einem Jahr Sat.1 und seine dortige jede Gastauftritt-Rarität des Heiligen Ha- mal Claudia Schiffer gebumst haben, zie- Late-Night-Show verließ. rald wurde fiebrig begleitet. Wenn Schmidt hen Sie auch nicht mehr zu Ihrer Mutter.“ Mein lieber Scholli, war das ein Weh- ein paar Kabarett-Abende gab: Aaah! Nun also kehrt er heim in den Schoß klagen, als Schmidt damals der Welt ver- Wenn er zu einer Kunstaktion ins Kölner von Mama ARD, der er weiland viele Kin- künden ließ, er werde nun eine einjährige Museum Ludwig kam: Oooh! Und wenn er der untergejubelt hat. Sie hießen „MAZ Kreativpause einlegen: O Gottogottogott, im Berliner Ensemble brühwarm jenen ers- ab!“ oder „Pssst…“ oder „Schmidteinan- was sollte aus der Republik werden? Dankt ten brieflichen Annäherungsversuch rezi- der“ und begründeten Schmidts Ruf und die Bundesregierung ab? Schmelzen die tierte, den ihm ARD-Chef Jobst Plog ge- Marktwert als irrlichternder Bildungsbür- Polkappen? Wankt die Menschheit dem schickt hatte: Iiih! ger der deutschen Unterhaltungsbranche. Ende entgegen? Alles schien möglich. So etwas macht eigentlich selbst eine Dann ruinierte er noch „Verstehen Sie Gott hatte einfach keine Lust mehr. Er „Mediennutte“ (Schmidt über Schmidt) Spaß?“ und verabschiedete sich schließ- war ausgebrannt. Bis zur letzten Darm- nicht, wenn sie Anstand hat. Man tritt nicht lich für acht lange Jahre zu Sat.1. spiegelungsanekdote hatte er sich und sei- dem Freier ins Gemächt, während der noch Am Anfang stimmten weder Quoten ne Fernsehfamilie ausgesaugt. Da traf es nicht mal um den Preis feilscht. Das klingt noch Kritiken. Schmidt gab den Dirty sich gut, dass der damalige Sat.1-Chef ge- Harry. Aber allmählich wandelten sich Pro- rade rausgeworfen wurde. So konnte sich * Bei der Premiere seiner Kabarett-Tournee am 14. Juli let und Perzeption. Der Entertainer spielte Schmidt erfolgreich nicht gegen das Ge- in Heilbronn. mit Playmobil-Figuren „Hamlet“ nach. Er

92 der spiegel 52/2004 JÖRG CARSTENSEN / DPA Ausschnitt aus „Die Harald Schmidt Show“ (2003)*: Allmählich wandelten sich Prolet und Perzeption verteilte Reclam-Heftchen ans Publikum Erster Anruf bei der Pressestelle des fe- bleiben. Er wird zu den absoluten Spitzen- und ließ deutsche Klassiker vergewaltigen. derführenden WDR. Öhm, ja, da könne man verdienern der ARD zählen. Der Minimalismus war den Fans recht jetzt nicht viel sagen, weil für Schmidt die Manuel Andrack gibt sich keinen Illu- und für Schmidt billig. Gelegentlich saß er ARD-Programmkoordination in München sionen hin. Beim gemeinen „Bild“-Leser nur rum und schaute der teuren Sendezeit verantwortlich sei. Dort sitzt Herr Röver käme angesichts der aktuellen Debatte nur dabei zu, wie sie sinnfrei zertropfte. Solche und sagt, dass ihm das ein bisschen unange- an: „Dat Arschloch steckt sich die Taschen Momente verklären sich in der Erinnerung nehm sei, „zu 90 Prozent sagen zu müssen: voll.“ Andrack ist dem Schmidt-Publikum zu Höhepunkten deutscher Fernsehunter- Ham wa nicht, kriegen wa nicht, geht nicht“. als stichwortgebendes Schmunzelmonster haltung und kaschieren, dass Gott gele- Wer etwas zu Schmidt wissen wolle, bekannt, versprühte diesen Ich-bin-der-Ma- gentlich einfach unambitioniert wirkte. müsse dessen Managerin anrufen. Wer sich nuel-Sozialpädogik-Charme und verkoste- Aber wie das mit Religionen so ist: für Vertragsdetails interessiert, sollte sich te jede Nacht in der Show ein anderes Bier. Glaube versetzt Zwerge. Und irgendwann an die ARD-Filmhandelstochter Degeto in Er war auch Schmidts Redaktionsleiter. glaubten alle: Fangemeinde, Feuilletons Frankfurt wenden, die den Deal mit dem Nach dem Abschied hat er mit ihm eine und Finanziers. Auch Mediaplaner, die die Schmidt-Bekannten Fred Kogel eingefädelt Kabarett-Tournee absolviert, als Haus- Millionen-Etats der Wirtschaft kanalisie- hat, als sei der Entertainer der ARD ein- mann die Zeit totgeschlagen und ein Buch ren, sind nur Menschen. Sie freuten sich, fach so passiert. Schmidt happens. geschrieben, das noch nicht erschienen ist. wenn Schmidt für sie bei gelegentlichen Der Vertrag sorgt inzwischen für ziemli- Es heißt „Du musst wandern. Ohne Stock Sat.1-Empfängen oder Telemessen den chen Wirbel. Erstens wegen des Vorwurfs, und Hut im deutschen Mittelgebirge“. Nun Zampano machte. Ich Zuhälter, du Me- er sei an den sonst eingeschalteten Gremien sitzt er wieder im Studio 449 in Köln-Mül- diennutte. Hohoho! Schmidts Zynismus vorbei verhandelt worden. Zweitens, weil es heim und bereitet auch die eigene Rück- war salonfähig geworden und lieferte um den Gral der Gebührengelder geht, die kehr vor. Image. Das ist letztlich unbezahlbar. – drittens – ja irgendwo anders abgezwackt Es ist Mittwoch. Schmidt soll noch in Sin- So landet er nun wieder in der ARD, werden müssen. Es ist völlig wurst, ob es um gapur sein. Am Montag dieser Woche wird die Image nötig hat und gern bereit ist, die sechs oder zehn Millionen Euro geht, und er erstmals im Büro erwartet. Andrack hat alte, sehr gegenseitige Hassliebe zu den wie viel davon wirklich bei Schmidt hängen ihn das letzte Mal im September gesehen. Akten zu legen. Nur: Wie will der verlore- Neben seiner Bürowabe werkeln die ne Sohn die welke Mutti reanimieren? * Oben: mit Natalia Wörner; unten: mit den Jacob-Sisters. Techniker an der neuen Dekoration eines JOCHEN LUEBKE / DDP JOCHEN LUEBKE PAUL SCHIRNHOFER / AGENTUR FOCUS SCHIRNHOFER / AGENTUR PAUL KLAUS SCHULTES / ACTION PRESS / ACTION KLAUS SCHULTES Szene aus „Verstehen Sie Spaß?“ (1993)*, Show-Partner Andrack, Schmidt (2001), ARD-Chef Plog: Heimkehr in den Schoß der Mutter

der spiegel 52/2004 93 Medien deutlich kleineren Studios. Es ist alles ziem- sorgen. Andrack rechnet durchaus mit dem seit 14 Jahren beim WDR. Er trägt eine lich geheim. Es soll ja wenigstens das öf- Schlimmsten. runde Hornbrille und das lockige Haar of- fentlich-rechtliche Abendland retten. Und Dann zieht er eine dicke Schwarte aus fen. Er ist stolz auf den Satz. natürlich wird Schmidt mit einem bunten dem Regal und liest vor: „Bericht der ARD Herr Heinz weiß, dass er mit Schmidt ei- Strauß genialer Ideen aus der Kreativpau- über die Erfüllung ihres Auftrages, über nen Aufreger betreut. Aufgeregt wäre er al- se zurückkommen, die etwa so aussehen: die Qualität und Quantität ihrer Angebo- lerdings nur, wenn sich niemand aufregt. Früher produzierte er eine fünfmal pro te und Programme sowie über die geplan- In seinem Kölner Büro hängt der ge- Woche laufende einstündige Sendung na- ten Schwerpunkte“. Darin heißt es: „Die rahmte Kopf seines WDR-Intendanten mens „Die Harald Schmidt Show“ mit di- Talkshow-Moderatoren der ARD werden Fritz Pleitgen vor blassblauem Hinter- versen Gästen. In der Mitte saß Schmidt, ihren Gäste auch in Zukunft mit Respekt grund, wie man ihn von alten Honecker- rechts Andrack. Ab 19. Januar wird er begegnen und ihre Würde achten.“ Des- Fotos kennt. Herr Heinz findet das lustig. zweimal pro Woche eine halbstündige Sen- halb gehe das mit den Gästen gar nicht Er lächelt wahrscheinlich schon viel länger dung namens „Harald Schmidt“ produzie- mehr. Er lächelt wieder. so süffisant wie Herr Andrack. ren, ohne diverse Gäste. In der Mitte wird Wenn Andrack Sat.1 erwähnt, redet er Aber diese artifizielle Selbstironie, die- Schmidt sitzen, rechts Andrack. nur noch vom „kommerziellen Anbieter“, ses altersmilde Huahua-wir-nehmen-uns- Die alte Backstein-Optik des Studios für den er einst tätig war. Er hat die doch-hier-selbst-nicht-ernst kann einem weicht cremigen Gelbtönen. In den Bücher- Grundprinzipien seines neuen Arbeitge- noch mehr auf die Nerven gehen als jede regalen werden ARD-Jahrbücher stehen. bers schon inhaliert, möchte aber die not- Gebührendebatte. Das ist keine Frage der Das Orchester heißt nicht Vorgeschichte oder der Ver- mehr Band, sondern womög- tragshöhe oder gar der Moral. lich Klangkörper. Und Schmidt Die wirkt nicht nur uncool, sie nennt sich künftig „Inten- wäre sogar fehl am Platz, denn dant“, während Andrack den der Fernsehmarkt lebt wie je- „Chefdramaturgen“ gibt, der der andere von Angebot und nun die Premiere am 23. De- Nachfrage. Wenn jemand be- zember vorbereitet. Sie wird reit ist, für 64 Halbstunden- eine Viertelstunde länger und Shows pro Jahr plus/minus soll eine Art Jahresrückblick acht Millionen Euro zu be- werden, die kein Jahresrück- zahlen, dann ist das vielleicht blick ist. So in der Art: Chef, für den einen oder anderen weißt du eigentlich, was in dem Hartz-IV-Kandidaten schwer Jahr deiner Abwesenheit in nachvollziehbar, aber Markt- Deutschland so abging? wirtschaft. Auch wenn der Andrack lächelt. Er weiß, Pointenpreis damit locker die wie seine Erklärungen wirken Höhe eines Verkäuferinnen- müssen. Die Welt erwartet ei- Monatslohns übersteigt. ne Revolution, und heraus Der Fall Schmidt liegt des- kommt Totensonntag? „Natür- halb anders, weil sich da zwei lich erfinden wir Schmidt nicht Größen des Unterhaltungsge- neu. Aber er wird konzen- werbes zusammentun, für die trierter sein – Schmidt Mega- nicht einmal der Mechanismus

pearls sozusagen. Das ist ein JENS KALAENE / DPA des Marktes gilt: Schmidt wird Langfrist-Projekt bis zur Fuß- Geschäftspartner Schmidt, Kogel*: Im Gral der Gebührengelder für kaum nachprüfbare Image- ball-Weltmeisterschaft 2006.“ Effekte reich belohnt. Er ist Andrack arbeitet seit Jahren für wendige ironische Distanz beibehalten, die ein Phantasiewert wie Internet-Klitschen Schmidt. Er kennt ihn. Er verehrt ihn. Er dann umso angestrengter wirkt. früher an der Börse. Und die ARD ist die beschreibt ihn nicht als Menschen, sondern Er und sein „Intendant“ sind jetzt ARD- einzige Anstalt, die das noch ausgeben will als Marke. Nur wofür steht diese Marke – Gesichter. Wie Karl Moik. Wie Jürgen Flie- und kann, weil sie ihre Gebührenmilliarden außer für andere Marken wie Nescafé, ge. Wie Reinhold Beckmann. Sie sind trotz allen Gejammers sicher hat. Hexal, Deutsche Bahn oder Karstadt, die jetzt „Grundversorgung“ wie „Musikan- Schmidt bekommt für viel Geld eine sehr Schmidt bewarb? tenstadl“, „Marienhof“ oder „Brisant“. große Bühne, auf der er dann noch mehr Wer ist dieser Mann? Ein Zyniker? Ein Und ihr Job wird nicht dadurch erleich- Geld machen kann: Seine neue Bildschirm- Ausländerwitze-reißender Zündler? Ein tert, dass Quote zunächst keine Rolle spielt. Präsenz bringt Werbeverträge, DVD-Deals, Menschenfeind? Schmidts Geheimnis ist Oder dass wichtige ARD-Menschen wie Gast-Gagen, Merchandising-Einnahmen womöglich, dass es keines gibt. Dass die Programmchef Günter Struve geradezu etc. Im Gegenzug bekommen die ARD- Masken, Fratzen und Karikaturen, die er masochistisch darauf warten, von der ei- Oberen schon glücksfeuchte Augen, wenn sich überstülpt, keine sind. Dass sie nur genen Neuerwerbung als Knallchargen ab- ihr neuer Alt-Star künftig nach den „Tages- Facetten der giftigen Wahrheit zeigen. Wer qualifiziert zu werden, wenn es zum ersten themen“ das Telefonbuch von Wanne- glaubt schon einem Bösewicht, der dau- Mal heißen wird: „Hier ist das Erste Deut- Eickel aufsagt oder ihren großen Apparat ernd sagt, er sei böse, seine Bösartigkeit? sche Fernsehen mit Harald Schmidt.“ inklusive Korrespondentennetz abzapft. Die Medienkritiker haben sich anläss- Dieser Vorspannsatz ist eine Idee des „Der Parasit hat den Wirt gewechselt“, lich der Schmidt-Beerdigung vor einem zuständigen WDR-Unterhaltungsredak- maulte der damalige RTL-Chef Helmut Jahr völlig verausgabt in der Heilig- teurs Klaus Michael Heinz. Herr Heinz ist Thoma, als Thomas Gottschalk 1995 sein sprechung der vermeintlichen Schmidt- 43 Jahre jung und hat Neuere deutsche Li- Intermezzo bei dem Kölner Sender been- schen Ironie. Was werden sie nun tun? Es teratur und Kunstgeschichte studiert, Phi- dete, um zu Sat.1 weiterzuziehen. Wobei ist, als säßen sie noch angeschickert beim losophie und Theaterwissenschaften. Er ist man Gottschalk da jetzt unrecht tut, weil der Leichenschmaus. Plötzlich geht die Tür auf, wenigstens für richtig pralle Quoten sorgt. und der Tote steht braungebrannt am * Am 12. September bei der Berliner Premiere des Kino- Gottschalk ist ohnehin der Gute. Nun Tisch. Das kann für peinliche Irritationen films „Der Untergang“ mit Kogel-Freundin Melanie Tara. kehrt das Böse zurück. Es wird lächeln. ™

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UKRAINE Letztes Aufgebot it neuen Tönen versucht der wegen Wahl- Mfälschungen im zweiten Urnengang ge- scheiterte ehemalige Premier Wiktor Januko- witsch, doch noch den Sprung ins Präsidenten- amt zu schaffen. Zur Stichwahl am 26. Dezem- ber präsentiert sich der umstrittene Kandidat des scheidenden Regimes mit aggressiven Paro- len und als verkannter Volksheld. Nachdem der zuvor von Moskau unterstützte Janukowitsch mehrere enge Mitstreiter verloren hatte, stellte er die Verluste nun als Marscherleichterung dar. „Beamte, die auseinander liefen wie kleine Feig- linge“, hätten ihm „mehr geschadet als genutzt“. Auch von seinem Weggefährten, dem Noch-Prä- sidenten Leonid Kutschma, zeigte er sich „tief enttäuscht“. Der habe „nur seinen Vorteil und den seiner Familie im Sinn“. Vorwürfe, er habe

sich während der Proteste in Kiew bei Präsident / REUTERS GARANICH GLEB Kutschma für eine gewalttätige Beendigung der Wahlkämpfer Janukowitsch in Sewastopol Kundgebungen eingesetzt, dementierte Januko- witsch wenig überzeugend. Er habe lediglich willige“ gen Kiew zu mobilisieren, um „das Land „die Ordnung wiederherstellen“ wollen, war sei- vom orangenen Unrat zu säubern“. ne bislang einzige Entgegnung. Es könnte das letzte Aufgebot des Ex-Premiers sein. Wie Janukowitsch über die demokratische Op- Dessen Aussichten, ohne Manipulationen die Wahl position denkt, ließen vergangene Woche Wahl- zu gewinnen, sind eher gering. Nach Umfragen un- kampfauftritte im Süden der Ukraine, vor allem terstützen nur 27 Prozent Janukowitsch „voll“, 38 auf der Halbinsel Krim, erahnen. In dem vor- Prozent hingegen den prowestlichen Kandidaten wiegend von Russen bewohnten Sewastopol, Wiktor Juschtschenko. Dessen Mitarbeiter fürchten Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, daher, Janukowitsch könne die Wahl scheitern las- wetterte der Moskau-Freund gegen einen sen und das Land ins Chaos stürzen – etwa durch „schleichenden Staatsstreich der von den USA provokative Fälschungen oder einen fingierten An-

finanzierten orangenen Revolution“. Januko- / LAIF HILL JAMES schlag auf sich selbst. Seine fanatischen Anhänger witsch drohte, am Wahltag Zehntausende „Frei- Kandidat Juschtschenko wären dann kaum zu bändigen.

EUROPÄISCHE UNION viel übrig bleibt. Europaparlamentarier aus Italien kündigten schon eine „Front Netto-Zahler 2003, in Mio. ¤ Front des Südens des Südens“ gegen die „perverse Ehe Deutschland 7652 zwischen der Riege der Sparer und den Großbritannien 2763 aum hatten sich die EU-Staaten neuen Mitgliedstaaten“ an. Niederlande 1956 Kmühsam darauf verständigt, ab Auslöser des Streits ist die neue Knause- Frankreich 1911 Herbst kommenden Jahres mit der Tür- rigkeit der großzügigen Zahlmeister Eu- Schweden 950 kei über deren Mitgliedschaft zu ver- ropas, allen voran der deutsche Finanz- Italien 794 handeln, brach vergangene Woche in minister Hans Eichel. Gemeinsam mit Belgien 775 der Gemeinschaft ein neuer Streit aus: fünf weiteren Ländern, die ebenfalls Österreich 336 diesmal ums knappe Haushaltsgeld. mehr in die Brüsseler Kassen zahlen, als Dänemark 214 „Wir können nicht mehr Europa sie etwa für ihre Bauern her- Quelle: Luxemburg 56 mit weniger Geld bekommen“, ausbekommen, lehnt Berlin den EU-Kom- schimpfte der neue Präsident Haushaltsvorschlag der EU- mission Finnland 21 der EU-Kommission José Ma- Kommission kategorisch ab. Netto-Empfänger nuel Durão Barroso während Mehr als ein Prozent ihres 8733 Spanien des Brüsseler Gipfeltreffens. Bruttoinlandsprodukts, Summe 3482 Portugal Vor allem Europas Süden hat aller Dienstleistungen und Gü- 3368 Griechenland Angst, dass bei knappen Mitteln ter eines Landes, wollen die Mi- 1565 Irland nur noch die neuen EU-Mitglie- nister Brüssel nicht überlassen. der im Osten bedacht werden Das wären rund 815 Milliarden könnten, für die Mittelmeer- für den nächsten Sieben-Jahres- nötig hält, und deutlich weniger, als jene

regionen, etwa Italiens Mezzo- PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Plan – fast 114 Milliarden weni- fordern, die bislang vorrangig aus Brüs- giorno, hingegen nicht mehr Eichel ger, als die Kommission für seler Kassen bedient werden.

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PAKISTAN Sündiger Klerus ückschlag für die Islamisten. Ausge- Rrechnet ein Sexskandal erschüttert den sittenstrengen pakistanischen Klerus und verunsichert dessen Anhänger. In den Ko- ranschulen der muslimischen Nation seien allein im vergangenen halben Jahr rund 500 Minderjährige missbraucht worden, enthüllte der Staatsminister im Religions- ministerium, Aamir Liaquat Hussain. Mehr als ein Dutzend tatverdächtige Geistliche wurden vorübergehend festgenommen. Viele Opfer sind Jungen und Mädchen un- ter 14 Jahren. Der Vorstoß des Ministers, dessen Mutta- hida-Qaumi-Bewegung den westfreundli- chen Präsidenten Pervez Musharraf unter- Koranschüler in Peschawar stützt, rührt bei den knapp 145 Millionen Muslimen des Landes an ein Tabu – ob- kommen die nun auch aus den Religions- wiesen werden, ist gewaltig. Wenn sie ihr wohl Kindesmissbrauch in Pakistan nicht schulen berichteten Sündenfälle gelegen, Ansehen nicht verlieren wollen, kritisier- selten ist. Erst Anfang Dezember hatte sich da sie die moralische Autorität des oft re- te Staatsminister Hussain die für ihren eine Hilfsorganisation mit der Klage an die gierungskritischen Klerus untergraben. Glaubenseifer bekannten Religionslehrer, Öffentlichkeit gewandt, dass mehr als 90 Dessen Einfluss auf die 10000 Koranschu- sollten sie künftig mehr Verantwortung zei- Prozent der Straßenkinder Karatschis ho- len des Landes, in denen etwa 1,5 Millio- gen und „über ihre fünf täglichen Gebete mosexuelle Kontakte haben. Musharraf nen Schüler im rechten Glauben unter- hinausdenken“.

2003/2004 rund 81000 gravie- CHILE rende Taten und Vergehen ge- meldet, in fast einem Drittel Korrupter Clan der Fälle unter Einsatz von körperlicher Gewalt. Immer n der Auseinandersetzung mit dem Ex- häufiger richten sich die Ag- IDiktator Augusto Pinochet könnte die gressionen, ob verbal oder Justiz 15 Jahre nach Ende der Militärherr- physisch, gegen das Lehr- schaft nun doch noch zum Zuge kommen. personal. Wüste Beschimpfun- Der jüngste Vorstoß des Richters Juan Guz- gen gehören zum Alltag; nicht mán, Pinochet, 89, wegen der Entführung selten stechen renitente Ju- und Ermordung von Regimegegnern vor gendliche mit Messern auf ihre Gericht zu stellen, hat nach Ansicht von Ex-

MARTIN BUREAU / AFP MARTIN Erzieher ein. Bevor die Täter in Schülerprotest gegen Gewalt in der Nähe von Paris geschlossene Heime oder Jus- tizanstalten eingewiesen wer- FRANKREICH den, kommen sie nun in spezielle Klas- sen, die ihnen eine letzte Chance bieten. Offensive Bis zum Jahr 2010 soll die Zahl der Plät- ze für gefährliche und auffällige Schüler gegen Rabauken von heute 5000 auf 15000 verdreifacht werden. Die freiwilligen Pädagogen ar- ttacken, Drohungen, Beleidigungen beiten mit kleinen Gruppen von fünf A– gegen notorische Störer an oder sechs Schülern, die manchmal schwierigen Schulen geht das französi- schon nach wenigen Wochen, spätestens sche Bildungsministerium verstärkt mit aber nach einem Jahr wieder in den der Einrichtung von Sonderklassen vor, normalen Lernbetrieb integriert werden. die wie pädagogische Bewährungskom- Den hohen Kosten – eine Gruppenstelle panien arbeiten. Vor allem in Wohnbe- ist mehr als doppelt so teuer wie ein ge- zirken mit hohem Ausländeranteil wöhnlicher Schulplatz – steht eine gute nimmt die Zahl von Gewaltakten in den Erfolgsquote gegenüber: Etwa 80 Pro- Gesamt- und Oberschulen („collèges“ zent der jungen Rabauken, die meist

und „lycées“) seit Jahren bedenklich nicht älter als 14 oder 15 sind, werden / AP THOMAS MARTIN zu. So wurden im Unterrichtsjahr als geläutert entlassen. Ex-Diktator Pinochet

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GROSSBRITANNIEN tion des Thronfolgers im Kabinett hatte bislang der machtbewusste Finanzminis- Labours neue ter Gordon Brown für sich reklamiert, den Blair allerdings mehr bekämpft als Kronprinzessin fördert. Auf welchen harten Macht- kampf sie sich einlässt, weiß Kelly nur it einem geschickten Schachzug zu gut. Vor ihrer Berufung in Blairs Msetzt Premierminister Tony Blair engsten Beraterzirkel hatte sie direkt seinen ärgsten innerparteilichen Her- unter Brown im Finanzministerium ge- ausforderer und potentiellen Erben als arbeitet. Die Blair-Vertraute hat auch Labour-Führer unter Druck. Selbst für schon bewiesen, dass sie die Herzen der Londoner Insider überraschend berief Briten gewinnen kann. So erntete Kelly der britische Regierungschef seine Bera- viel Sympathie durch ein Interview, in terin Ruth Kelly, 36, ins Kabinett. Die dem sie sich zu ihrer Rolle als Ehefrau studierte Ökonomin gilt als eines der und vierfache Mutter bekannte: Mit größten politischen Talente der Sozial- Rücksicht auf ihre Familie werde sie demokraten und wird nun als Blairs selbst bei einem Aufstieg keine Akten- Kronprinzessin gehandelt. Nachdem die koffer mit nach Hause schleppen. frühere Wirtschaftsjournalistin bislang im Kabinettsbüro des Premiers für Stra-

FOTOS: MIAN KHURSHEED / REUTERS MIAN KHURSHEED FOTOS: tegiefragen wie die Wahlkampagne im nächsten Jahr zuständig war, nimmt sie als neue Bildungsministerin eine ge- wichtige Position direkt in der Regie- rung ein. Ihr Vorgänger im Amt, Charles Clarke, rutscht auf den Posten von Innenminister David Blunkett; der war nach Berichten über seine Liebes- beziehung zu einer verheirateten Frau Staatschef Musharraf und Visa-Mauscheleien für ein philippi- nisches Kindermädchen zurückgetreten. Die Ernennung Kellys eröffnet neue Spekulationen über die Blair-Nachfolge nicht nur an der Spitze von Labour,

perten erstmals Aussicht auf Erfolg. Bislang sondern auch im obersten Regierungs- SILLITOE DAVID hatten übergeordnete Gerichte Anklagever- amt bei einem Wahlsieg 2005. Die Posi- Aufsteigerin Kelly suche wegen der angeblichen Altersdemenz des Greises niedergeschlagen. Doch nun werden immer neue Details über die Ver- strickung des Pinochet-Clans in Korruption ÖSTERREICH gierte in der Misshandlungsaffäre zwar und Geldwäsche bekannt. Nach und nach schnell: Nachdem durchgesickert war, konnte die Justiz entscheidende Details Folter-Vorwürfe belasten dass in der 6. Jägerbrigade Grundwehr- über die millionenschweren Konten des Ex- pflichtige bei einer gespielten Geisel- Diktators in den USA zusammentragen. Ge- Verteidigungsminister nahme entwürdigend behandelt wur- gen den Alten und dessen ältesten Sohn den, suspendierte Platter die verant- Augusto wird wegen Steuerhinterziehung chwere Misshandlung von Soldaten wortlichen Offiziere sofort. Dass der ermittelt. Damit ist auch der letzte Mythos Sin mehreren Kasernen des Bundes- Minister aber, wie er beteuert, nichts der Pinochet-Herrschaft gefallen: Der Ex- heeres bringen die Regierung von Kanz- von einer Dienstanweisung seiner Präsident hatte bislang erfolgreich die Mär ler Wolfgang Schüssel Behörde gewusst habe, vom „ehrlichen Diktator“ gepflegt, der sich (ÖVP) in Bedrängnis. die das Training von Gei- nicht selbst bereichert habe. Außerdem Denn obwohl Übergriffe selnahmen in der Truppe wenden sich sogar alte Anhänger des Pa- an Soldaten in Tirol, Vor- ausdrücklich billigte, gilt triarchen wie der ehemalige Geheimdienst- arlberg und Oberösterreich als unwahrscheinlich. Wie chef Manuel Contreras und frühere Offizie- bekannt wurden – in einer sich jetzt herausstellte, re von ihrem Idol ab: Zu dreist hatte Pino- Einheit soll es sogar zu stand ausgerechnet Plat- chet versucht, alle Verantwortung für die Scheinexekutionen gekom- ters Büroleiter noch bis Morde und Entführungen auf einstige Un- men sein –, stärkt Schüssel vor zwei Jahren der 6. Jä- tergebene abzuwälzen. seinem Verteidigungsmi- gerbrigade vor. Und aus- Nun wollen Präsident Ricardo Lagos und nister und Parteifreund gerechnet am Standort seine Mitte-links-Koalition die Gunst der Günther Platter weiterhin Landeck in Tirol, wo es zu Stunde nutzen, um die letzten Spuren des den Rücken. besonders umstrittenen Gewaltregimes in den Institutionen zu de- Der ohnehin umstrittene Übungen kam, ist auch montieren: Sie haben einen Pakt mit der Minister, der auch für den noch Platters Schwager ei- rechten Opposition geschlossen, um jene heftig diskutierten Kauf ner der Kommandanten. Klauseln aus der Verfassung zu tilgen, die von 18 Eurofightern im Kanzler Schüssel will den-

Pinochet und den Militärs bis heute Macht vergangenen Jahr verant- VMH noch an Platter festhalten, und Einfluss sichern. wortlich zeichnete, rea- Geiselnahme-Übung in Tirol vorerst zumindest.

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RUSSLAND Feind vor der Tür Präsident Wladimir Putin hält unverändert Kurs in Richtung straffer Staat: Die neuen Gesetze zur Stärkung der Zentrale zementieren die Allmacht des Kreml auf Jahre hinaus. Gleichzeitig geht unter den Oligarchen weiter die Angst um – die Steuerfahnder schlagen verstärkt zu.

ie Kreml-Choreografie war perfekt. Staatsduma erhält, dem Unterhaus. Der über die nötige Gründung einer sozialde- Der 12. Dezember ist der Tag der Wechsel zum reinen Verhältniswahlrecht mokratischen Partei nachzudenken. DVerfassung in Russland. Einer der verstellt Direktkandidaten den Weg ins Die jüngsten Gesetze verlängern die Lis- höchsten Staatsfeiertage im Land, einge- Parlament. Sie belegten bisher die Hälfte te früherer Eingriffe der Putin-Zeit mit dem führt vor zehn Jahren von Boris Jelzin. der 450 Duma-Sitze. Die Zeit für unab- Ziel, eine „Vertikale der Macht“ zu errich- Ende November drang durch, dass der hängige und parteilose Kandidaten ist da- ten: Schon während seiner ersten Amts- Feiertag abgeschafft wird. Dann, am 12. mit abgelaufen. Schon jetzt ist die Duma zu zeit betrieb Russlands Präsident erfolgreich Dezember, feierten ihn 143 Millionen Bür- zwei Dritteln in der Hand der Kreml-Par- die Entmachtung des Föderationsrats, des ger Russlands ein letztes Mal. Und gleich- tei Einiges Russland. russischen Oberhauses, das heute nur noch zeitig unterzeichnete an genau diesem Tag, Neue Parteien müssen nach Inkraft- als Versammlungsort von Bürokraten im dem Tag der Verfassung, Präsident Wladi- treten des Gesetzes eine um das Fünffache Ruhestand gilt. Er brachte die Gleich- mir Putin jenes Gesetz, in dem seine Kri- erhöhte Zahl an Mitgliedern nachweisen schaltung der Duma voran, die Gängelung tiker einen massiven Angriff auf den Geist können. Zusätzlich wurde die Hürde für unabhängiger Justiz und die Kujonierung der Verfassung sehen. den Einzug ins Parlament von fünf auf unabhängiger überregionaler Medien. „Die Es ist das Gesetz, das Putin erlaubt, die sieben Prozent angehoben. Dass der Ge- Verblödung der Menschen muss auf- Präsidenten und Gouverneure der künftig setzgeber sich möglicher Folgen seiner hören“, erzürnte sich sogar Verteidigungs- 88 russischen Provinzen und Republiken Schritte durchaus bewusst ist, zeigt die fast minister Sergej Iwanow im Kabinett am nunmehr selbst zu ernennen. Die Ab- verschämt wirkende Zusatzbestimmung: Donnerstag. schaffung der Volkswahl für die politischen Spitzen in den Weiten des Reichs, von Pu- tin exakt zwei Jahre zuvor noch öffentlich ausgeschlossen, ist nun besiegelt als Teil eines Pakets von Gesetzen, von dem sich Putin einen stärkeren Staat im Angesicht der Terrorgefahr verspricht. Verkündet wurden die Pläne im An- schluss an das Geiseldrama von Beslan An- fang September, dem mindestens 330 Men- schen zum Opfer fielen. Vorangegangen waren Sprengstoffanschläge auf zwei Pas- sagierflugzeuge, auf U-Bahn-Züge und Ei- senbahnen. Vorbereitet worden war das Paket in Wahrheit aber lange vor Beslan, kurz nach Putins Wiederwahl im März 2004. Anders hätte es der Kreml nie in nur knapp vier Monaten durchpauken können. Würde Bundeskanzler Gerhard Schröder die Absetzung Edmund Stoibers als bayeri- scher Ministerpräsident verfügen können und die Auflösung des Landtags – nach des- sen dreimaligem Veto –, so hätte er die künf-

tige Machtfülle Putins. Die Wahl der Gou- / AP TASS ITAR verneure durchs Volk stand bisher für die Staatsoberhaupt Putin: „Moskaus Mussolini“ Idee vom dezentralen Staat und die Abkehr vom Dirigismus sowjetischer Prägung. Dass Mindestens zwei Parteien müssen im Par- Das böse Wort von Putin als „Moskaus viele regionale Potentaten Jelzins Ermun- lament vertreten sein. Mussolini“, das Jimmy Carters einstiger terung, „nehmt euch so viel Souveränität, Langfristig strebten Putins Polit-Techno- Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski wie ihr schlucken könnt“, als Einladung ver- logen, so heißt es unter westlichen Diplo- wählte, findet in Russland dennoch wenig standen, sich fernab Moskaus Kleinst- maten, ein Zwei-Parteien-System nach Widerhall. Zwar wächst die Zahl der Königreiche zu errichten, steht auf einem amerikanischem Vorbild an – mit dem Un- Unzufriedenen im Land. Nach Untersu- anderen Blatt als dem der Verfassung. terschied, dass beide vom Kreml erfunden chungen des Lewada-Zentrums für De- Auch das neue, restriktive Parteienge- wären und gesteuert würden. Walerij Bo- moskopie ist sie innerhalb von weniger setz betont das Primat Moskaus. In Zu- gomolow, Vizechef von Einiges Russland, als einem Jahr um 150 Prozent gestiegen. kunft entscheiden die Parteizentralen, wer bediente sich jetzt des durchreisenden Sogar eine knappe Mehrheit der Bürger einen Listenplatz für die Wahlen zur SPD-Veteranen Rudolf Scharping, um laut ist inzwischen der Meinung, dass Russ-

100 der spiegel 52/2004 SERGEI CHIRIKOV / AFP Gouverneurssitzung im Kreml: Gleichschaltung der Duma, Gängelung der Justiz, Kujonierung der Medien land den falschen Weg eingeschlagen in Parlament und Medien kaum mehr zu Punkten zur Überwachung der öffentli- habe. Wort kommt, bitter sein zuzusehen, wie chen Ordnung Informationen über Mit- Doch dem Volk geht es dabei eher ums Putin ersatzweise die Einführung einer bürger mit der Polizei auszutauschen. Al- fehlende tägliche Brot und die wegbre- Bürgerkammer anregt. lein in Moskau wird von 680 solcher Stel- chende soziale Absicherung durch den Sie wird 126 Mitglieder haben, von de- len berichtet. Das System, das an die alten Staat; politisch sind keine Alternativen in nen ein Drittel vorsichtshalber direkt vom „Stukatschi“ erinnert, die Zuträger des Re- Sicht. In vier Regionen wird es am Sonn- Präsidenten ernannt wird. Dieses erste gimes in der Stalinzeit, hat landesweit Zu- tag Stichwahlen um das letztmals zur Wahl Drittel wiederum wählt selbst ein zweites lauf. Einzelne Trupps wie etwa die „Pu- stehende Gouverneursamt geben, weil der Drittel der Mitglieder aus. Der Rest soll tinzy“ in der westsibirischen Stadt Tjumen Kreml-Kandidat nicht auf Anhieb durch- auf Konferenzen im ganzen Land bestimmt berufen sich bei ihrem Kampf mit Video- kam. Im Gebiet Wolgograd aber, ehemals werden. Das Gremium wird beratende, kamera und Notizblock sogar namentlich Stalingrad, entschieden sich im ersten doch keine kontrollierende Funktion ha- auf ihr Idol, das Staatsoberhaupt. Wahlgang mehr Wähler für das Kästchen ben – und also auch den mächtigen, aber „Wir müssen alle zugeben, dass der „Gegen alle“ als für den Kandidaten der jeder öffentlichen Kontrolle entzogenen Feind vor der Tür steht. Die Frontlinie Kreml-Partei. In Kaliningrad, dem früheren Geheimdiensten nicht im Wege sein. zieht sich durch jede Stadt, jede Straße, je- Königsberg, hatte die Gebietsduma zuvor Wie es in Wahrheit mit der Bürgerge- des Haus“, verkündete der stellvertreten- sogar Putins Gesetzesvorschlag zum neu- sellschaft aussieht, davon zeugt die Re- de Leiter der Kreml-Administration, Wla- en Wahlsystem abgelehnt. naissance der sogenannten gesellschaftli- dislaw Surkow, im September. Der alerte Beim jüngsten Kongress „Russland für chen Mitarbeiter. Sie sind gehalten, an Surkow, ehemals Presse-Attaché des Öl- Demokratie und gegen Diktatur“, immer- hin, hatten sich vorvergangenes Wochen- Oktober 2003 Festnahme des Jukos-Chefs ende mehr als tausend Oppositionelle ver- Putins „gelenkte Demokratie“ Michail Chodorkowski leitet die Wiederver- sammelt, angeführt von Ex-Schachwelt- März 2000 Nach seiner Wahl hievt Putin staatlichung strategischer Rohstoffe ein. meister Garri Kasparow über die Liberalen mehr und mehr Geheimdienstler und Militärs Dezember 2003 Verfassungsändernde Zweidrit- Grigorij Jawlinski und Boris Nemzow bis auf Schlüsselpositionen. telmehrheit für die Präsidentenpartei Einiges hin zu Kommunisten. Doch trotz aller Ap- Mai 2000 Putin ernennt sieben ihm direkt unter- Russland nach der Parlamentswahl. Die libera- pelle zum Schulterschluss war auch dort stellte Generalgouverneure für ganz Russland. le Opposition kommt nicht mehr in die Duma. wenig Einsicht zu erkennen, dass der August 2000 Entmachtung des Föderations- November 2004 Das Budget von Militär und Ge- Unwillen des oppositionellen Lagers zur rates, der zweiten Kammer des Parlaments. heimdiensten steigt wieder überproportional. Zusammenarbeit beim Entstehen von Pu- April 2001 Der Kreml-kritische TV-Sender NTW Dezember 2004 Die Regionsgouverneure tins nun quasi unumschränkter Herrschaft werden in Zukunft nicht mehr von der Bevöl- ursächlich hilfreich war. wird vom staatlich kontrollierten Konzern Gas- prom übernommen. Im Juni 2003 muss der kerung gewählt, sondern von Putin ernannt. Und deshalb muss es vor allem für die letzte staatsfreie TV-Sender aufgeben. Das Parteiengesetz wird verschärft. Liberalen nun, da die Bürgergesellschaft

der spiegel 52/2004 101 Ausland

Magnaten Chodorkowski und da noch im Die vermögende Klasse des Landes rea- liberalen Lager, gilt inzwischen als Scharf- giert, einmal mehr, mit Kapitalflucht – etwa macher und maßgeblicher Strippenzieher zwölf Milliarden Dollar in diesem Jahr. Die im Putin-Apparat. Er sagt, in Russland gel- Moskauer Börse verzeichnet, von ohnehin te es derzeit, sich mit einer „fünften Ko- bescheidenem Niveau aus, den drama- lonne linker und rechter Radikaler“ aus- tischsten Absturz des ganzen Jahres am einander zu setzen, mit „falschen Libera- 9. Dezember, als die Steuernachforderungen len und wirklichen Nazis“. gegen VimpelCom bekannt werden. Und Dem in der Kreml-Diktion alles über- Branchenberichten zufolge verlassen aus- wölbenden Kampf gegen den Terror trägt ländische Anleger entschlossen den Markt. der Haushalt für 2005 Rechnung. Darin Aber: Das Öl im weltweit zweitwichtigs- stehen deutlich erhöhten Etats für Vertei- ten Förderland sprudelt weiter zu erzeuger- digung, Polizei, Geheimdienst und Staats- freundlichen Preisen. Auf mittlerweile 120 anwaltschaft gekürzte Zuwendungen für Milliarden Dollar angeschwollen sind die Schulen und Sozialprogramme gegenüber. Devisenreserven des Landes, und ganze Russlands HIV-Infizierte etwa, deren Zahl sechs Jahre nach der unter Jelzin verkün- der Leiter des föderalen Aids-Zentrums deten Zahlungsunfähigkeit befürworten die auf eine Million beziffert, werden noch Rating-Agenturen Russlands Wechsel vom einmal Abstriche machen müssen – für Schuldner- zum Gläubigerland. sie stehen derzeit 677000 Euro jährlich be- 6,7 Prozent Wachstum in diesem Jahr reit, ein Vierzigstel dessen, was Experten bezeugen anhaltende makroökonomische für nötig halten. Stabilität. Doch der Staat hängt am Öl- und Die Kreml-Politik, Kontrolle über Russ- Gastropf, und selbst der Vize-Wirtschafts- lands politische Landschaft und die ge- minister Andrej Scharonow warnt inzwi- sellschaftliche Ordnung schen, die Wachstumsrate zurückzugewinnen, wird könne sich schon im komplettiert durch stra- nächsten Jahr halbieren, tegische Bemühungen, sollte sich die durch Steu- die weltweit beispiello- erbehörden exekutierte sen Rohstoffvorräte und Einmischung des Staates die Schlüsselindustrien in wirtschaftliche Belange des Landes wieder unter fortsetzen. Ohne ausländi- Aufsicht des Staates zu sche Investitionen ist Pu- rücken. tins Brachialvorgabe, das Michail Chodorkowski, Bruttoinlandsprodukt bin- Jukos-Chef und mit ehe- nen zehn Jahren zu ver- mals acht Milliarden Dol- doppeln, unerfüllbar. lar Vermögen der reichste Der Präsident hat wie- Mann im größten Land derholt klar gemacht, der Erde, war dabei mög- dass ihm der Westen licherweise nur das erste als Handelspartner, nicht Opfer. Seit 14 Monaten in aber als Oberlehrer im

Haft unter dem Vorwurf X / STUDIO / FSP GAMMA EDDIE MULHOLLAND Fach Demokratie will- von Steuerhinterziehung Schachmeister Kasparow kommen ist. Und er han- und Betrug, wird er bei Für Demokratie, gegen Diktatur delt entsprechend. Wenn Gerichtsterminen den Me- auch Nebentöne aus dem dien unverändert in Handschellen wie ein politischen Bauch des Landes etwas zu be- Sittlichkeitsverbrecher vorgeführt. deuten haben, dann sieht es so aus, als Inzwischen zeichnet sich ab, dass Putin würden derzeit die Zäune im täglichen dem Vorwurf einseitiger Härte gegenüber Kontakt zwischen Russland und der Jukos zu begegnen gedenkt. VimpelCom, Außenwelt wieder höher. zweitgrößter Mobilfunkbetreiber des Lan- Mitglieder des russischen Unter- wie des mit einer Milliarde Euro Umsatz im Oberhauses haben Gesetzesentwürfe vor- Jahr, hat erste Steuernachforderungen in bereitet, wie die Verbreitung von Internet- Höhe von 119 Millionen Euro allein für Inhalten in Russland beschränkt werden 2001 erhalten – beinahe das Vierfache des könnte. Und in der Staatsduma liegt nun damaligen Nettogewinns. ein Entwurf der Kreml-nahen Fraktion Die VimpelCom-Aktien stürzten vor- Einiges Russland über die Neuregelung übergehend um ein Drittel. Der Öl-Multi der Ein- und Ausreise für Ausländer. TNK-BP steht vor Nachzahlungen von 68 Darin heißt es unter Paragraf 19, wer Millionen Euro für dasselbe Jahr. Hinter sich ungünstig über „spirituelle, kulturelle“ TNK-BP wie auch hinter VimpelCom steht oder auch anerkannte gesellschaftliche der Oligarch Michail Fridman, und hinter Werte in Putins Reich äußere oder wer jeder Attacke aus den föderalen Steuer- dem „internationalen Ansehen Russlands behörden steht eine vorhergehende Kolli- Abbruch tut“, dem sei die Einreise zu ver- sion der Betroffenen mit dem herrschenden weigern. System. Fridman soll den Geschäftsinter- Das lässt, so wie es da steht, viel Raum essen des Telekommunikationsministers in zur Auslegung. Und wenig zur Kritik. die Quere gekommen sein. Walter Mayr

102 der spiegel 52/2004 SPIEGEL-GESPRÄCH „Eine Kette der Vergeltungsschläge“ Ägyptens Präsident Husni Mubarak, 76, über die Chancen einer neuen Nahost-Friedensinitiative, das Anwachsen des Terrorismus im Irak-Konflikt und die islamistische Unterwanderung der arabischen Welt

SPIEGEL: Herr Präsident, Sie sind maßgeb- der Europäischen Union und Russland lich beteiligt an dem Bemühen, den Frie- unterstützt. densprozess in Nahost wiederzubeleben. SPIEGEL: Noch 2002 hatten die arabi- Gibt es denn neue Fakten, außer dass schen Staats- und Regierungschefs Allah jüngst Palästinenserpräsident Jassir auf ihrem Beirut-Gipfel einen Frie- Arafat zu sich genommen hat? densplan verabschiedet, der die Be- Mubarak: Durchaus. Die Palästinenser ha- endigung des Kriegszustands zwi- ben reibungslos eine eigene neue Füh- schen allen arabischen Ländern und rungsmannschaft aufgestellt und bereiten Israel sowie die Normalisierung der sich auf allgemeine Wahlen vor, die schon Beziehungen mit Jerusalem vor- im Januar abgehalten werden sollen … sah … SPIEGEL: … was der Entwicklung einen neu- Mubarak: … als Gegenleistung für ei- en Schub geben könnte. War Arafat letzt- nen israelischen Rückzug auf die endlich also doch der Hemmschuh für den Grenzen von 1967, inklusive des ara- Friedensprozess, wie zumindest Israel und bischen Ost-Jerusalem. die USA behaupteten? SPIEGEL: Das klingt heute wie Utopie. Mubarak: Nein, Arafat war kein Friedens- Wahrscheinlich wird Scharon den Pa- hindernis. Er war vor allem der einzige lästinensern außer dem Gazastreifen Palästinenser, der die Massen von der Not- nur 45 Prozent des Westjordanlands wendigkeit zu überzeugen vermochte, ein- zugestehen. schneidende Veränderungen mitzutragen. Mubarak: Der Beirut-Plan hat seine Die Oslo-Abkommen zum Beispiel konn- Gültigkeit nicht verloren. Wir haben te nur Arafat durchziehen, nur er hatte die durch unsere eigene Erfahrung ge- dafür notwendige Popularität. lernt, wie schwer es ist, mit Israel zu

SPIEGEL: Stimmt es, dass Ägypten eine neue AMR NABIL / AP verhandeln. Da geht es Stück um Friedensinitiative entwickelt hat? Präsident Mubarak: „Wir erteilen Ratschläge“ Stück, Meter um Meter. Es liegt in Mubarak: Die sogenannte Friedensinitiative der Natur der Israelis, nichts ohne besteht darin, dass ich den Palästinensern SPIEGEL: Und was passiert, wenn sich Israel weiteres herauszurücken, sie brauchen ganz offen sage: „Steht jetzt wie ein Mann zwar aus Gaza und einigen Landstrichen ihre Zeit. Als wir 1978 mit dem damaligen zusammen, schwächt eure Position nicht des Westjordanlands zurückzieht, es dann israelischen Regierungschef Menachem durch Uneinigkeit, weil ihr sonst nichts er- aber dabei bewenden lässt und sich nicht Begin übereingekommen waren, Frieden reichen werdet.“ weiterbewegt? zu schließen, sträubte sich Ariel Scharon, SPIEGEL: Israels Ministerpräsident Ariel Mubarak: Gaza ist ein erster Schritt zur Um- damals Kabinettsmitglied, vehement ge- Scharon, dem Sie früher nicht über den setzung des Friedensfahrplans, auf den sich gen die Rückgabe des Sinai. Doch er kam Weg trauten, will die Armee aus dem nicht nur Israel und die Palästinenser ge- nicht durch, und wir erhielten den Sinai Gaza-Streifen und Teilen des Westjor- einigt haben. Dieser Plan wird auch von zurück. danlands zurückziehen. Wird aus dem Haudegen Scharon nun ein Friedensakti- vist mit dem Olivenzweig? Mubarak: So, wie die Dinge stehen, kann in Israel nur Scharon den mutigen Schritt in Richtung Frieden tun. SPIEGEL: Obwohl viele Mitglieder seiner ei- genen Likud-Partei einen unabhängigen Palästinenserstaat ablehnen? Oder glau- ben Sie, eine neue israelische Koalitions- regierung aus rechtem Likud und der Ar- beitspartei werde wirklich mutige Schritte in Richtung Frieden unternehmen? Mubarak: Jawohl, das glaube ich in der Tat. Die Kontakte, die wir in den letzten Wo- chen mit Scharon hatten, ließen erkennen, dass er sich bewegen will. Das gab er uns deutlich zu verstehen. Alles spricht dafür,

dass die Koalitionsregierung den Rückzug GETTY IMAGES aus Gaza durchführen wird. Israelischer Premier Scharon: „Mutiger Schritt in Richtung Frieden“

der spiegel 52/2004 103 Ausland REUTERS US-Militärs in Falludscha: „Mit militärischen Großangriffen lässt sich das Sicherheitsproblem nicht in den Griff bekommen“

SPIEGEL: Heute geht es aber um Tausende Präsidenten Baschar al-Assad geben SPIEGEL: Was muss geschehen, um im Irak von jüdischen Siedlern in den Palästinen- können? wieder stabile Verhältnisse zu schaffen? sergebieten. Mubarak: Wir haben uns über ein paar Si- Mubarak: Nur der schnelle und massive Mubarak: Tausende von Siedlern hat es auch cherheitsaspekte unterhalten. Ich glaube, Aufbau einer neuen irakischen Armee so- auf der Sinai-Halbinsel gegeben. Doch die Syrien versucht, seine Politik zu verändern, wie der Polizei kann das Land stabilisieren. Siedlungen wurden samt und sonders auf- braucht dafür aber noch ein wenig Zeit. Wichtig ist dabei, dass es sich um wirklich gelöst und zum Teil vor der Rückgabe an SPIEGEL: Was erwarten Sie eigentlich von große Kontingente handelt, nicht nur um Ägypten dem Erdboden gleichgemacht. Präsident Bush? einige wenige Rekruten. Wir sind den Ira- Glauben Sie mir, die Palästinenser werden Mubarak: Er ist ein Freund, und ich über- kern dabei behilflich, auch die Jordanier. zu ihren Rechten kommen. lasse es ihm am liebsten selbst, uns zu sa- Ihr Deutsche gebt den Irakern in den Ver- SPIEGEL: Sie haben auf Ihren letzten Euro- gen, was er vorhat. Wir wollen unbedingt, einigten Arabischen Emiraten eine gründ- pareisen um tatkräftige Unterstützung für dass es mit dem Nahost-Problem voran- liche Ausbildung. Das muss alles ganz die Palästinenser geworben. geht. Wir wünschen uns daher, dass sich schnell über die Bühne gehen. Mubarak: Mit vollem Erfolg. Europa kann die Amerikaner auf die Lösung dieses Pro- SPIEGEL: Und die frisch ausgebildeten Ein- aber noch stärker seinen Einfluss gel- blems konzentrieren. Denn sollte keine Lö- heiten sollen dann mit den US-Marines tend machen. Meine Gespräche in Ber- sung gefunden werden, wird die Welle von gegen Aufständische in Falludscha oder lin mit Bundeskanzler Schröder und Terror und Rache überschwappen. Mossul vorgehen? Außenminister Fischer haben meine dies- SPIEGEL: Drei Wochen vor dem US-Angriff Mubarak: Nein, sie sollen die Kontroll- bezüglichen Hoffnungen bestärkt. Auch auf den Irak warnten Sie im SPIEGEL, die- funktion allein übernehmen. Die Ameri- mein Paris-Besuch war da ein voller ser Krieg werde zu einem Desaster führen. kaner und ihre Verbündeten müssen die Erfolg. Und es werde Hunderte neuer Bin Ladens Städte unbedingt verlassen. Die Bevölke- SPIEGEL: Glauben Sie nach all den Enttäu- geben. Leider hatten Sie Recht. rungszentren können nur von irakischen schungen der letzten Jahre immer noch, Mubarak: Leider, leider. Mir wäre es lieber Soldaten und Polizisten gesichert werden, dass jemals ein unabhängiger Staat Paläs- gewesen, wenn ich in diesem Punkt falsch die Amerikaner sind dazu einfach nicht in tina ins Leben gerufen wird? gelegen hätte. der Lage. Mubarak: Ja, ich bin über- SPIEGEL: Offensiven wie in Falludscha brach- zeugt davon. Als wahr- ten keinen durchschlagenden Erfolg … scheinlichen Zeitrahmen Mubarak: Mit militärischen Großangriffen sehe ich das Jahr 2008, wenn lässt sich das Sicherheitsproblem über- die zweite Amtszeit des haupt nicht in den Griff bekommen. Der- US-Präsidenten George W. artige Attacken nähren Rache- und Hass- Bush zu Ende geht. gefühle, und die Kette der Vergeltungs- SPIEGEL: Es heißt, Sie übten schläge reißt nicht mehr ab. Machen wir auf einige arabische Staaten uns doch nichts vor: Nur die Iraker selbst Druck aus, Verhandlungen verstehen, mit Irakern umzugehen. Frem- mit Israel aufzunehmen. de Truppen sind dafür ungeeignet. Mubarak: Politischen Druck SPIEGEL: Die Amerikaner sehen das anders akzeptiert kein Staat. Wir und verstärken ihre Truppen noch. Wäre es erteilen vielmehr Ratschläge – je nach der politischen * Im Juni 2003 in Scharm al-Scheich mit dem jordani- Entwicklung. schen König Abdullah II., dem saudischen Kronprinzen Abdullah, US-Präsident George W. Bush, Husni Mubarak,

SPIEGEL: Welchen Ratschlag / AP M. MONSIVAIS PABLO Bahrains König Hamad und dem palästinensischen Pre- haben Sie dem syrischen Nahost-Gipfeltreffen*: „Leuchtturm der Demokratie“ mier Mahmud Abbas.

104 der spiegel 52/2004 nicht sinnvoll, einen groben Zeitplan für die irrsinnige Situation im Irak, die wach- den Truppenabzug bekannt zu geben? sende soziale Ungleichheit. Mubarak: Zögen die Amerikaner ihre Trup- SPIEGEL: Mangelnde Demokratie und Miss- pen jetzt aus dem Irak ab, hätte das kata- achtung von Menschenrechten sind wohl strophale Folgen, dann bräche ein schreck- auch ein Nährboden für Terrorismus. liches Chaos aus. Die Terroranschläge Mubarak: Darum poche ich energisch dar- würden zunehmen, feindliche Elemente ins auf, unsere Gesellschaften Schritt für Schritt Land strömen, und die Lage in der gesam- zu demokratisieren, je nach Entwicklungs- ten Region würde noch explosiver. Alle stand der jeweiligen Gesellschaftsstruktur. würden darunter leiden, auch wir. Die In Ägypten kommen wir ganz gut voran. Amerikaner können erst gehen, wenn sie Die Einhaltung der Menschenrechte ist ei- die Iraker in die Lage versetzt haben, ihre nes meiner obersten Anliegen. Sicherheitsprobleme selbst zu meistern. SPIEGEL: Bushs neokonservative Ideologen SPIEGEL: Ist es angesichts der brisanten Si- träumen davon, im Irak einen Leuchtturm cherheitslage sinnvoll, Ende Januar Parla- der Demokratie nach westlichem Muster mentswahlen durchzuführen? zu errichten, der auf die gesamte Region Mubarak: Ich hoffe, dass die Iraker dies ausstrahlen soll. schaffen werden. Aber es müssen auch alle Mubarak: Da wird wohl nicht mehr heraus- Iraker daran teilnehmen können, sonst gibt kommen als das Licht des Mondes. Jede Ge- es neue Probleme. sellschaft hat ihre eigene Geschichte und be- SPIEGEL: Washington würde gern die Nato stimmte religiöse und soziale Besonderheiten. stärker im Irak einbinden. Womöglich auch Ich bezweifle die weltweite Allgemeingültig- Truppen arabischer Länder? keit des „westlichen Demokratiemodells“. Mubarak: Dazu sind die arabischen Länder Allerdings müssen die demokratischen nicht bereit. Bush kennt unsere Position Grundwerte überall zur Geltung kommen. und weiß, dass wir daran festhalten. SPIEGEL: In mehreren arabischen und isla- SPIEGEL: Viele Muslime befürchten, die mischen Ländern versuchen islamistische Bush-Administration werde über kurz oder Extremisten an die Schalthebel der Macht lang Iran angreifen, um die Produktion von zu kommen. Atombombenmaterial zu stoppen. Mubarak: An welche Länder denken Sie? Mubarak: Sollten die USA Iran wirklich an- SPIEGEL: In Ägypten agitiert zum Beispiel greifen, wäre das ein Fehler von katastro- die Muslimbruderschaft, die Ihr Land in phalem Ausmaß. Dann würden Terror und ein islamistisches Staatswesen umformen möchte. Sie verlangt, als politische Partei zugelassen zu werden und bezeichnet sich als demokratische Alternative. Mubarak: Die Muslimbruderschaft hat eine terroristische Vergangenheit. Sie brachte einen Ministerpräsidenten und politisch Andersdenkende um, 1954 versuchte sie sogar, Präsident Gamal Abd al-Nasser in die Luft zu sprengen. Nein, Leute wie die Muslimbrüder – das ist das Letzte, was un- sere Länder brauchen. Religiöser oder kon- Mubarak beim SPIEGEL-Gespräch* fessioneller Hass zerreißt ganze Gesell- „Der Islam lehnt jeden Terror ab“ schaften. Was wir derzeit im Irak erleben, ist ein Beispiel für die ungute Verquickung Gewalt überall im Nahen Osten und wenig von Politik und Religion. Religiöse Par- später auch in der ganzen Welt alles Bis- teien gefährden den inneren Frieden. herige in den Schatten stellen. Ich hoffe SPIEGEL: In Ihrem großen südlichen Nach- nicht, dass es dazu kommt. barland Sudan kommt ein Jahrzehnte dau- SPIEGEL: Der Zulauf für die Islamisten ist in ernder, auch religiös-ethnisch motivierter einigen arabischen Ländern erschreckend. Bürgerkrieg offenbar zu einem Ende. Doch Wer es mit dem Westen hält, riskiert sein die Lage der Flüchtlinge in der Region Dar- Leben. Auch Sie sind Zielscheibe. fur ist nach wie vor katastrophal – was tun? Mubarak: Ja, sie haben schon mehrmals Mubarak: Wenn die Rebellen nicht das Aus- versucht, mich umzubringen. land involviert hätten, wäre schon längst SPIEGEL: Wie ließe sich islamistischer eine Lösung gefunden. Die Aufständischen Terrorismus am wirkungsvollsten bekämp- kommen jetzt mit unrealistischen Forde- fen? rungen, der Frieden rückt in immer weite- Mubarak: Der Islam lehnt jede Form des re Ferne, wenn nichts geschieht. Terrors ab, wie jede andere Religion. Es be- SPIEGEL: Sudans Präsident Umar al-Baschir steht ein direkter Zusammenhang zwi- war soeben bei Ihnen zu Gast. Wozu haben schen internationalem Terrorismus und un- Sie ihm geraten? gelösten sozialen und politischen Proble- Mubarak: Ich habe ihm klipp und klar ge- men. Dazu gehören das Nahost-Problem, sagt: Jetzt muss eine Lösung her. Tu et- was, es reicht. * Mit den Redakteuren Olaf Ihlau und Volkhard Windfuhr SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen in Mubaraks Amtssitz, dem Kairoer Ittihadija-Palais. für dieses Gespräch.

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FALKLAND-INSELN Der Krieg, der Fisch und das Öl Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Schlacht um die Inseln im Südatlantik hoffen viele Bewohner des Archipels darauf, richtig reich zu werden: Im Meeresgrund werden große Ölreserven vermutet. Doch Argentinien hat seinen Anspruch auf die „Malvinas“ nicht aufgegeben. Von Susanne Koelbl

s ist einer dieser frischen Sommer- tage an der Bucht von Fitzroy. Die ESonne steht hoch, das Meer im Fjord von Port Pleasant blitzt und schimmert dunkelblau. Eine Formation Graukopfgän- se steigt über den weiten Hügeln auf. Doch all das sieht Billy Baynham, 46, nicht. In ihm läuft ein ganz anderer Film: Ein Skyhawk, ein argentinischer Kampfjet, stürzt bis auf 30 Meter auf die Bay nieder und entlädt seine tödliche Fracht. Unten ankert das britische Landungsschiff „Sir Galahad“. Tonnen von Munition und Waf- fen explodieren und verwandeln das Schiff in Sekunden in einen wütenden, tosenden Feuerball. Im Bauch der „Sir Galahad“ be- findet sich auch Michael Dunphy, Gardist der „First Welsh Guards“, 22 Jahre jung, ein schmaler, ruhiger Junge aus Wales. Er verbrennt qualvoll mit 47 Kameraden. „Warum er, warum nicht ich?“, ruft Baynham. Der massige Zwei-Meter-Mann zittert. Dann lässt er sich weinend auf den harten Grasbüscheln am Ufer von Fitzroy nieder. Baynham ist heute das erste Mal zurückgekehrt an diesen Ort, an dem er und Dunphy gegen die Argentinier kämpf- ten, damals, vor über 22 Jahren. Seitdem

verfolgen ihn die Bilder von dieser blutigen / VISUM HANS-PETER MARSCHALL Schlacht am Ende der Welt. Inselhauptstadt Stanley: Neue Provokationen durch den alten Feind Am 2. April 1982 hatte Leopoldo Gal- tieri, der argentinische Diktator, den 600 Pinguinen und 600 000 Schafen zum Vergleich: Kilometer entfernten Archipel besetzen ARGENTINIEN vermutete gesicherte Reserven heute gerade mal 2934 Menschen lassen. Die britische Premierministerin Ölreserven Großbritanniens leben, womöglich das „neue Ku- Margaret Thatcher setzte daraufhin den 60 Mrd.Barrel 4,7 Mrd. Barrel weit“ werden, wie die „Times“ größten britischen Flottenverband seit schrieb. Und genau das ist Rendells Ende des Zweiten Weltkriegs in Marsch, Falkland- Plan. Inseln um den seit 149 Jahren zum britischen Atlantik Denn als der Ölpreis dieses Jahr Königreich gehörenden Steinhaufen im CHILE die 40-Dollar-Marke pro Barrel Südatlantik mit seinen 1800 Bewohnern zu durchbrach, rückte auch ein fast befreien. Auf beiden Seiten starben rund vergessener Ort wie die Falklands Ölfelder tausend Soldaten, das waren mehr als die Pazifik 250 km wieder ins Scheinwerferlicht. Pro- Hälfte der Inselbewohner. Kap Hoorn spektoren und Spekulanten inter- Phyl Rendell, 55, war damals weit weg. essieren sich plötzlich für eines der Sie arbeitete als Lehrerin in Dschidda in ihrem Konferenztisch, in der Mitte bewegt womöglich letzten unberührten Reservoirs Saudi-Arabien und liebte dieses unkon- sich eine Blase mit dunkler, zäher Flüssig- des schwarzen Goldes. ventionelle Leben. Heute ist Rendell eine keit: „Falkland-Öl“, sagt Rendell. Die stu- Unter den tiefen Gewässern der Inseln aufgeräumte Person, blonder Kurzhaar- dierte Historikerin weiß, welches Potential vermuten Experten des renommierten schnitt, Tweedanzug, Goldkettchen. Die in dem kleinen Gefäß steckt: Wohlstand Wissenschaftsinstituts British Geological Ministerin für Rohstoffe der Falkland-In- und Unabhängigkeit für ganze Genera- Survey in Edinburgh schon lange riesige seln hat zu tun wie lange nicht. Gerade tionen von Falkländern, die seit ihrer An- Ölvorkommen, bis zu 60 Milliarden Barrel. kehrte sie aus London zurück, wo sie mit siedlung auf dem kargen Eiland immer Das wären fast so viel wie die nachgewie- Wissenschaftlern und Ölexperten, Politi- wieder bedroht waren von Armut und senen Reserven in Libyen und Nigeria zu- kern und Börsenhaien verhandelt hat. Krieg und bedrängt von den britischen sammen und immerhin halb so viel wie im Ihr wichtigstes Gut befindet sich in ei- Kolonialherren. Nun könnte aus der klei- Irak. Die beeindruckende Zahl ist das Stu- nem durchsichtigen Plexiglaskubus auf nen Inselgruppe, auf der außer 750000 dienergebnis des Geologen Phil Richards,

106 der spiegel 52/2004 der sich seit 15 Jahren mit dem möglichen hinunter. Am Ende der Morgenschicht hat Wie die meisten hier hat Wallace die Ölpotential der Falklands beschäftigt: „Ich Phillips 45 Schafe geschoren und den Wett- Schule nach nur acht Klassen mit 14 Jah- glaube fest daran.“ bewerb zwischen den sechs Männern hier ren verlassen. Er arbeitete bei der örtli- In den Listen für nachgewiesene Ölre- für sich entschieden. Pro Tier gibt es 49 chen Telefongesellschaft und verdiente mit serven von Shell, BP und Exxon taucht Pence. „Eine gute, harte Arbeit“, sagt Phil- Mitte dreißig gerade mal 400 Pfund im Mo- Falkland jedoch noch gar nicht auf. Die so- lips, als er nach einem Frühstück mit Eiern nat. Dann kam der Krieg. Seither machen genannten Majors haben derzeit genug und Koteletts auf dem Bretterboden des die Falkländer von ihrem Hoheitsrecht in zu tun in Regionen wie Westafrika, dem Stalls liegt und eine Zigarette raucht. der 200-Meilen-Zone Gebrauch, was ihnen Küstenbereich vor Brasilien und dem Das Leben auf den Falklands hat sich die Briten wegen der Spannungen mit Ar- Kaspischen Meer. In der rauen und bis zu rasch verändert in den vergangenen 22 Jah- gentinien bis dahin untersagt hatten. 3000 Meter tiefen See des Südatlantiks ren. Vor dem Krieg gab es hier kaum Straßen Die Zeit, die damals anbrach, nennen nach Kohlenwasserstoff zu suchen schien oder Fernsehen, die Farmer telefonierten die Männer hier „Emanzipation“, und sie bisher zu aufwendig, außerdem ist es über eine einzige Leitung, weshalb jeder im- meinen damit Befreiung von den argenti- hochspekulativ. Das Risiko überlassen mer alles mithören konnte. Und im Sommer nischen Besatzern und auch von den briti- die Großkonzerne lieber kleinen Explo- fuhren die jungen Männer am Wochenende schen Kolonialherren, denen auf den Falk- rationsfirmen. War das Ganze dann am 90 Kilometer mit ihren Mopeds querfeldein lands lange fast alles gehörte: das Land, Ende ein Flop, hat es das Geld der ande- über Sumpfwiesen und grobes Geröll, um die Farmen, der damals noch einzige Krä- ren gekostet. Werden die Prospektoren sich in einer Siedlung wie Goose Green mit merladen. Inzwischen haben ein paar hun- fündig, übernehmen die Multis rasch das ihren Mädchen zum Tanz zu treffen. dert Falkländer selbst Unternehmen ge- Geschäft. Heute gibt es auf der Insel über 800 gründet, und die Einnahmen der Insel- Falls die britischen Geologen Recht ha- Land Rover, 300 Mitsubishi-Vans und eine regierung stiegen seit Mitte der achtziger ben, könnte jetzt die Zeit gekommen sein, kleine, regierungseigene Luftflotte. In den Jahre von jährlich 3 auf zuweilen über 45 das Öl der Falklands auch zu Tage zu för- beiden Supermärkten werden frische Blu- Millionen Pfund. dern: Der Nahe Osten ist als dauerhafter men und Himbeeren angeboten, in den Re- Veteran Billy Baynham sitzt nach sei- Energielieferant nicht mehr sicher, terroris- galen steht italienischer Spitzenwein. Es nem Ausflug ans Meer am Tresen der „Vic- MATTHIAS ZIEGLER MATTHIAS DPA Königspinguine, Überlebende nach dem Angriff auf das britische Landungsschiff „Sir Galahad“ (1982): „Warum er, warum nicht ich?“ tische Angriffe gefährden die Pipelines und gibt die Top Twenty aus den USA und To- tory Bar“ in Stanley, so wie er hier schon Förderanlagen. shiba-Großbildfernseher. Die Krankenver- vor 22 Jahren saß, als der Krieg vorüber Diese Probleme gibt es hier auf den sorgung ist kostenlos, und Patienten wer- war. Von den Bewohnern der Insel starben Falklands nicht. Schon hat Ölministerin den auf Regierungskosten in eine deutsch- damals drei Frauen, nicht durch argentini- Rendell die Bohrrechte für große Gebiete chilenische Privatklinik nach Santiago de sche Kugeln, sondern durch eine fehlgelei- um das Eiland vergeben. Britische Ölfir- Chile ausgeflogen. Den angehenden Aka- tete britische Granate. Baynham erzählt men wollen kommendes Jahr anfangen zu demikern bezahlt die Regierung ein Stu- von den Gräueln dieser Tage, wie er sie als bohren. Nach ihren Berechnungen soll sich dium auf Englands Universitäten, dazu ein englischer Soldat erlebte, von Fitzroy, von die Ausbeutung bei einem Weltmarktpreis Taschengeld von jährlich 8000 Pfund. den vielen toten Kameraden, von Dunphy, von 25 Dollar pro Barrel lohnen. In Stanley, in der Philomel Street, ist dem Freund, der auf der „Sir Galahad“ Es ist sechs Uhr morgens in North Arm, Stuart Wallace, 50, schon früh in seinem starb. Und von seinem eigenen Leben, das einer Siedlung gut hundert Kilometer süd- Büro. Er trägt ein billiges Brillengestell und nach all dem nicht wieder wurde. westlich der Falkland-Hauptstadt Stanley. eine blaue, ungemusterte Krawatte. Nur 24 Jahre lebte Baynham mit seiner Frau Ein scharfer Geruch von Wolle und Fett das „Dior“-Zeichen auf seiner Brusttasche und den beiden Kindern in einem kleinen liegt in der Luft der Stallungen. deutet an, dass Wallace zu den Besser- Haus in der Grafschaft Surrey südwestlich Mit dem Gong wird der Ghettoblaster betuchten auf den Falklands gehört. von London. Nie sprach er von Fitzroy. hochgedreht, die Pet Shop Boys singen: Sein Unternehmen handelt mit Fische- Eines Morgens, vor zwei Jahren, stand er „New life, new love. Where’s the heart I reilizenzen, die Wallace quasi als Makler auf, packte einen Koffer und kehrte nie was dreaming of?“ Paul Phillips, 32, zerrt für die Regierung an Taiwaner, Koreaner wieder nach Hause zurück. Er litt unter das erste Schaf aus dem Gatter, klemmt es und Japaner verkauft, die hier am liebsten schweren Depressionen. „Hätte mich je- rücklings zwischen seine Knie und biegt Tintenfische der Gattung Illex fischen, und mand gefragt, ,Soll ich dich erschießen?‘, den rechten Vorderlauf des Tiers nach auch Wallace selbst besitzt inzwischen fünf ich hätte ihm gern die Kugel dafür gege- hinten. Dann schert er ihm in weniger als große Fischkutter. ben“, sagt er. 255 britische Soldaten sind im zwei Minuten die Wolle vom Leib und Der Krieg und der Fisch haben die Falk- Krieg um die Falklands gestorben. Danach schubst das nackte Schaf eine Kellerrampe länder wohlhabend gemacht. haben sich mehr Männer selbst getötet, als

der spiegel 52/2004 107 Ausland während der Schlacht gefallen sind, min- aufgeregt aus. „Ich bete jeden Tag dafür“, So muss es wohl auch kommen, denn destens 264 Veteranen. bekennt auch Stephanie Middleton, 41, der Wohlstand auf den Falklands ist längst Inzwischen lebt Baynham allein. Er hat Mutter dreier Kinder, die inzwischen Wert- nicht sicher: Illex, der Tintenfisch, ver- Kontakt gefunden zu früheren Falkland- papiere von allen beteiligten Ölgesell- schwand in der vergangenen Saison plötz- Kriegern, die wie er von Alpträumen ge- schaften besitzt. Seit ein paar Wochen lich aus den Inselgewässern. Noch streiten plagt werden und deren Ehen und Karrie- druckt sogar die „Penguin “, das zen- die Experten, ob überfischt wurde oder die ren ruiniert sind. Das gibt ihm etwas Halt. trale Wochenblatt der Inseln, die aktuellen Erwärmung der Meere schuld daran ist. Die „Brasserie“ im Zentrum von Stanley Börsenkurse. Jedenfalls reißen die Verluste aus den Fi- ist eines von zwei Restaurants in der Haupt- Schon einmal waren die Falkländer im schereilizenzen bereits ein Loch in den bis stadt und das beste Lokal am Platz. Lewis Ölrausch, das war vor sechs Jahren. Über- dahin prallen Regierungshaushalt. Clifton, 46, zerteilt gerade eine Lachs-Ter- see-Firmen, darunter auch Shell, hatten Bedroht fühlen sich die Insulaner außer- rine, während er die Grundregeln des Öl- eine Bohrinsel im Meer errichtet. Sie fan- dem wieder von den alten Feinden, den geschäfts erläutert: „Hohes Risiko, hohe den Öl, jedoch zunächst nur in kleinen Argentiniern. Buenos Aires hat seine For- Kosten, riesige Gewinne.“ Clifton ist Re- Mengen. Da brach der Ölpreis ein: Das derung gegenüber den Falklands nie auf- präsentant der britischen Ölfirma Desire Barrel erzielte am Weltmarkt nur noch 9,5 gegeben und seit Ende vergangenen Jahres Petroleum. Das in London ansässige Un- Dollar, damit war die aufwendige Förde- eine neue Phase der Provokation eingelei- ternehmen sicherte sich schon vor Jahren rung nicht rentabel. Sofort beschlossen die tet: Die Südamerikaner sperrten ihren Bohrrechte im Nordbassin der Falklands Ölgesellschaften, das Projekt, das bereits Luftraum für Charterflug-Gesellschaften, und hat gerade bekannt gegeben, dass die 200 Millionen Dollar verschlungen hatte, die Falkland anfliegen wollen. Argentini- jüngsten seismischen Untersuchungen „be- abzubrechen. Die Plattform auf dem Meer sche Patrouillenschiffe kontrollierten zur achtliche Anzeichen für das Vorhandensein verschwand über Nacht. Fangsaison ein „argentinisches“ Seegebiet, von Erdgas und Öl“ ergaben. „Öl wird der Die Falkländer blieben enttäuscht zu- in dem sich die beanspruchten Fischerei- große Faktor hier“, ist Clifton sich sicher. rück. Sie hatten bereits ihre Hotels ver- zonen überschneiden. Und im Septem- Am anderen Ende des Lokals sitzt Roger größert und Bürogebäude für die Ölmana- ber zwang Argentinien den chilenischen Spink, 44. Der Zweieinhalb-Zentner-Mann ger gebaut. Wieder einmal hatten mächti- Cricketverband, die Falkländer von der MATTHIAS ZIEGLER MATTHIAS MATTHIAS ZIEGLER MATTHIAS Falkland-Veteran Baynham (1982), Schafschur in North Arm, Geschäftsmann Clifton: „Öl wird der große Faktor hier“ aus England ist Direktor der mächtigen ge Männer aus Übersee ihnen falsche Hoff- Südamerika-Meisterschaft auszuschließen, Falkland Islands Holdings. Die alte briti- nungen gemacht. falls das Team aus Stanley nicht als argen- sche Kolonialgesellschaft soll früher zu- Hier auf den Falklands sperrt niemand tinische Mannschaft antreten würde. gunsten englischer Großgrundbesitzer seine Haustür ab, die Kinder spielen auf Der Krieg wird fortgesetzt, wenn auch ganze Generationen von Farmern ausge- der Straße, und das Gefängnis von Poli- mit anderen Mitteln. Die Briten lassen je- presst haben. Noch heute verfügt das Un- zeichef David Morris, 55, steht bis auf die doch inzwischen keinen Zweifel mehr an ternehmen über jede Menge Immobilien Ausnüchterungszelle so gut wie immer ihrem Anspruch: Seit 22 Jahren stehen auf wie den größten Supermarkt, einen Bau- leer. Die aus acht gewählten Vertretern be- den Falklands ständig rund 1500 britische markt und das wichtigste Reisebüro. Auch stehende Regierung kümmert sich um die Soldaten zur Verteidigung bereit. Spinks Firma ist im Ölgeschäft. Das im Mai Fangquoten und die Ausbesserung der Vor seiner Abreise nach London ist Ve- gegründete Tochterunternehmen Falkland Straßen, und der britische Gouverneur, ein teran Baynham noch einmal zurückgegan- Oil and Gas Limited will das Südbassin distinguierter Herr im Nadelstreifenanzug, gen an die Bucht von Fitzroy. Die Bilder ausbeuten. lädt die Honoratioren der Insel regelmäßig laufen nun langsamer, die Angst lässt sich Die Falkländer wissen, dass Öl nicht auf- zum Geburtstag der Queen und zu Plum- besser beherrschen. Er steht dort, wo er zuhalten ist, wenn es einmal fließt. Es wird pudding in seine Residenz. Das Eiland ist auch damals stand, am 8. Juni 1982 um die Insel mit Geld und fremden Menschen eine heile Welt in einer Nussschale. 13 Uhr, auf dem Festland, und drüben auf überschwemmen und einsickern in die „Alles wird so bleiben“, glaubt die Mi- dem Schiff starb Michael Dunphy, sein Köpfe und Herzen. nisterin für Rohstoffe, Rendell, und spielt bester Freund. So wie bei Sue Backett. Sie ist Manage- dabei mit dem Plexiglaswürfel und dem Nach dessen Tod habe er stets Distanz rin in einem Transportunternehmen in Öltropfen darin. Doch die meisten hier gehalten zu den Menschen, sagt Baynham. Stanley, und jeden Penny, den sie entbeh- denken wie der Unternehmer Stuart Wal- Wenn auch er einmal stirbt, soll seine ren kann, hat die 47-jährige Blondine in- lace: „Alles wird sich ändern, die Stadt, Asche hier im Meer verstreut werden, dort, zwischen in Ölaktien gesteckt: „Das Öl die Bars – und vor allem wir selbst werden wo Dunphys Grab ist. Das stimmt ihn kommt“, sagt sie, und dabei sieht sie sehr uns ändern.“ irgendwie friedlich. ™

108 der spiegel 52/2004 hard-Flügel. Es hieß, der Prinz- gefallen. Später musste er sich gegen gemahl wolle seine Frau ent- den Vorwurf wehren, er habe sich Adolf thronen und selbst als Regent Hitler als Statthalter der Niederlande an- den Thron besteigen. Die gedient. Doch spätestens seit er sich an Staatskrise war vorprogram- die Spitze des Widerstands gegen die deut- miert. Der mutmaßliche Kol- schen Besatzer gestellt hatte, galt der laps der Oranier-Monarchie „deutsche Prinz“ als guter holländischer unterblieb nur, weil Minister- Patriot. präsident Willem Drees sein Bernhards Beichte ist erfrischend offen, Veto gegen den Sturz der Kö- aber streckenweise dubios. Er erklärt feier- nigin einlegte. Ausgerechnet ein lich, er sei niemals ein Nazi gewesen. Ob er Sozialdemokrat. auch nie NSDAP-Mitglied war, wurde nicht Als dann der SPIEGEL die thematisiert. Er gab zu, dass er 1976 von delikaten Beziehungen zwi- dem US-Rüstungskonzern Lockheed 1,1 schen der „Königin und Raspu- Millionen Dollar Schmiergeld kassiert hat- tin“ enthüllte, brach hinterm te. Das Geld sei jedoch an den World Wild- Deich ein Sturm der Entrüstung life Fund (WWF) weitergeflossen. Nur: In los. Für das notorisch königs- den WWF-Kassenberichten findet sich kein treue Volk der Niederländer Vermerk über eine namhafte Zuwendung war die Aufdeckung der könig- in der fraglichen Zeit. lichen Kabalen blanke Blasphe- Der Mann mit der Nelke im Knopfloch mie. Und woher wussten die hat auch seine unehelichen Kinder Alicia Hamburger „Rotmoffen“ über- und Alexia nicht verschwiegen. Er war ein

DPA haupt so gut Bescheid über die hochkarätiger Hallodri, das räumte er ein. Königin Juliana, Prinz Bernhard*: Hochkarätiger Hallodri intimen Angelegenheiten ihrer Anders als sein Schwiegersohn, Prinz Königin? War Verrat im Spiel? Claus, der letzten Endes an den Zwän- Der SPIEGEL ließ keinen Zweifel, dass gen zu Grunde ging, ließ er sich nicht in NIEDERLANDE er seine Informationen aus erster Hand er- den für ihn bestimmten goldenen Käfig halten hatte. Seit Dienstag vergangener Wo- sperren. Der Mann mit che ist es auch amtlich: Die Quelle der Prinz Bernhard machte kein Hehl dar- Indiskretionen lag im königlichen Palast. aus, dass die Hochzeit mit Juliana für ihn Der Amsterdamer „Volks- keine Liebesheirat gewesen der Nelke krant“ druckte die Zusam- war. Die eheliche Liebe menfassung von neun Inter- habe sich erst im Laufe der Prinz Bernhard der Niederlande views mit Prinz Bernhard Jahre eingestellt, sagte er der Niederlande, der am seinen Interviewern. Seine war 1956 Informant für die explosi- 1. Dezember im Alter von 93 Frau sei tolerant gewesen. ve SPIEGEL-Titelgeschichte über Jahren gestorben war. Darin Sie habe sogar eingewilligt, Kabalen am Oranier-Hof – posthum bekannte Bernhard, dass er eine seiner Geliebten mit in hat er es nun selbst enthüllt. die Informationen über die den gemeinsamen Urlaub zu Hofmans-Affäre dem briti- nehmen, weil er seinen Spaß er 13. Juni 1956 war der Tag, an dem schen Journalisten Sefton haben sollte. sich für viele deutsche Würdenträger Delmer zugespielt hatte. Del- Zur Beisetzung in der kö- Dein Traum erfüllte: Der SPIEGEL mer reichte die Story dann niglichen Gruft in Delft durfte nicht erscheinen. „Datt Schmutz- an den SPIEGEL weiter. durften nur eheliche Kinder blatt“, wie Kanzler Konrad Adenauer es Bernhard stand unter Mit- erscheinen. Die illegale gern nannte, wurde de facto verboten. teilungsdruck. Er merkte, SPIEGEL-Oranier-Titel Tochter Alexia hatte auf Allerdings nur für eine Woche und auch dass das Ende nahe war. Blanke Blasphemie Schloss Soestdijk in Klausur nur in den Niederlanden. Und als die Zei- Nachdem er sich sein Leben Abschied von ihrem Vater tungsgrossisten die Boykottorder erreichte, lang missverstanden gefühlt nehmen müssen. war der größte Teil der Holland-Auflage hatte, wollte er auspacken. Um wenigstens posthum auch schon vergriffen. Wer den SPIEGEL Er habe es dem Volk ein bisschen verbindlich zu mit Dandy-Prinz Bernhard auf dem Cover gegönnt, dass es ihn für ei- sein, hatte Bernhard noch nicht mehr ergattern konnte, musste nach nen Taugenichts hielt, sagte die Klausel aus seinem Tes- Oberhausen oder Papenburg fahren, um er. Aber es sollte nicht glau- tament gestrichen, die die sich einen zu kaufen. ben, dass er zu nichts ge- Royals verpflichtete, auf Anlass für die Indizierung war eine taugt habe. Weil die Regie- weißen Elefanten hinter sei- SPIEGEL-Titelgeschichte über die Affäre rung dem lebenden Prinzen nem Sarg herzureiten. Er um die Wunderheilerin Greet Hofmans. keine Interviews gestattete, bestand auch nicht mehr auf Sie sollte die halbblinde Königstochter sollten die Protokolle erst dem Abschiedslied, das er Marijke vor dem völligen Erblinden ret- nach seinem Tod veröffent- sich für die Trauerfeier ge- ten. Doch statt die Prinzessin zu kurieren, licht werden. wünscht hatte. Statt „Good- umgarnte sie Königin Juliana mit krausen Bernhard hatte durch sei- bye to all the beautiful La- Ideen, die die internationalen Beziehungen ne zahllosen Affären selbst dys I knew“ erklang deshalb der Niederlande zu zerrütten drohten. tüchtig zu Missverständnis- an der Gruft „La Golondri- Der Hofstaat von Soestdijk war gespal- sen beigetragen. Dem briti- na“ – zu Deutsch: die Schwal-

ten – in einen Juliana- und einen Bern- schen Geheimdienst war er ANP / DPA be. Kein Liebeslied, aber schon in den dreißiger Jah- Bernhard-Tochter Alexia immerhin ein Lied für Lie- * 1978 auf Schloss Soestdijk. ren als „leichter Vogel“ auf- All the beautiful Ladys bende. Erich Wiedemann

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wieder die Details durch, aber von einem gewissen Punkt an klinke ich mich aus, weil ich bestimmte Dinge nicht weiß. Wir haben beispielsweise von Anfang an ge- sagt, okay, wir werden keine Steuern er- höhen. Daraus folgt dann auch, dass wir mit unseren Einkünften auskommen müs- sen. Wir haben jedoch sehr schnell ge- merkt, dass wir acht Milliarden Dollar mehr ausgeben als einnehmen. Also tun wir einiges dafür, die Lücke zu schließen. Wir setzen uns also etwa hin und sagen, im vorigen Jahr haben wir die Bildungsaus- gaben gekappt, deshalb müssen wir dies- mal ans Gesundheitssystem ran. Bei sol- chen Aufgaben wühle ich mich auch in die Details … SPIEGEL: … um die Kontrolle zu behalten? Schwarzenegger: Die totale Kontrolle, natürlich. Ich bin ja zum Gouverneur ge- wählt worden, um die Einkünfte des Staa- tes zu steigern und die Finanzen in Ord- nung zu bringen. Dafür sorge ich, indem ich dem Business in Kalifornien das Leben erleichtere, die Energie verbillige und staat- liche Vorschriften abschaffe. Wenn es da draußen mehr Wettbewerb gibt, bekommt der Staat mehr Geld herein und kann sich dann auch das Sozialsystem leisten, an dem den Demokraten so viel liegt. SPIEGEL: Um Kaliforniens Wirtschaft ins rechte Licht zu rücken, gehen Sie mehr und mehr auf Reisen. Sie waren in Israel und Ja- pan, im Frühjahr wollen Sie auf einer Eu- ropareise auch Deutschland besuchen.

DPA Schwarzenegger: Ja, ich geh raus, um für Ehepaar Schwarzenegger, Rollstuhlfahrerin*: „Täglich neue Probleme“ Kalifornien zu werben. Alles kommt darauf an, wie sehr du den Rummel anheizen kannst. Die Welt soll ja wissen, dass du USA vom besten Flecken auf Erden kommst, den größten Film gedreht oder das tollste Auto gebaut hast. Worum es auch immer „Ich bin gewählt, um geht, der Hype ist alles, das Werben, das Marketing, die Promotion. Es kommt im- mer darauf an, dass die Leute wissen, was aufzuräumen“ du zu bieten hast. Wahrscheinlich denke ich immer sofort über eine weltweite Ver- marktung nach, weil ich aus Europa kom- Gouverneur Arnold Schwarzenegger über seine Aufgabe in Kali- me. So war es, als ich noch das Bodybuil- fornien, die künftige Richtung der Republikanischen Partei ding betrieb, so war es, als ich im Show- business war. und seine Aussichten, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden SPIEGEL: Das hört sich an, als würden Sie keinerlei Unterschied zwischen der Politik SPIEGEL: Nach Ronald Reagan ist zum zwei- Schwarzenegger: Natürlich. Im vergange- und dem Showbusiness machen. ten Mal ein Schauspieler Gouverneur des nen Jahr haben wir hier 157000 neue Jobs Schwarzenegger: Die Vermarktung ist bevölkerungsreichsten amerikanischen geschaffen. So was machen wir hier, so dre- gleich, aber die Materie ist unterschied- Bundesstaates geworden. Was soll denn hen wir die Dinge um. Doch um Erfolg zu lich, weil die Politik Einfluss auf das Leben einmal über Governor Schwarzenegger ge- haben, muss der Staat Opfer bringen. der Menschen hat. Wenn Sie darüber nach- sagt werden: Er hat den „Golden State“ Nichts ist einfach: Mal gibt es eine Krise im denken, ob Sie Steuern anheben sollen, wieder geschäftsfähig gemacht? Krankenhaussystem, mal im Verkehrs- wissen Sie, dass Ihre Entscheidung Folgen Schwarzenegger: Ich würde es lieber se- system. Um den Schlamassel zu beheben, haben wird. Und deshalb müssen Sie wirk- hen, wenn es am Ende von mir heißt: Er müssen wir viel auf den Weg bringen. lich davon überzeugt sein, wenn Sie raus- hat den Saustall ausgemistet. Niemand SPIEGEL: Und dabei setzen Sie die Ziele gehen und für Ihre Entscheidung werben. kann schließlich alle Probleme lösen, weil fest, oder versuchen Sie auch, die Krisen In der Politik geht es nicht, dass jemand täglich neue entstehen. bis ins Detail zu lösen? einfach loslegt und für etwas x-Beliebiges SPIEGEL: Das ist ja wie im Leben. Schwarzenegger: Ich bestimme die grund- Werbung macht. Man muss daran glauben, legende Richtung meiner Regierung und Weitere Informationen unter * Am 2. Dezember auf einer Weihnachtsfeier in Sacra- nenne die Ziele. Wenn es zum Beispiel ums www.spiegel.de/dossiers mento, Kalifornien. Budget geht, gehen wir zwar wieder und

110 der spiegel 52/2004 DAVID MC NEW / GETTY IMAGES DAVID Obdachlosencamp in Los Angeles: „Erst wenn der Staat mehr Geld bekommt, kann er sich das Sozialsystem leisten“ man muss fühlen, dass es gut für den Staat SPIEGEL: Ist denn Amerika eigentlich bereit dieses Land, also sollten sie sich auch für ist, man muss sich bestens informiert ha- für mehr kalifornische Liberalität? höchste Ämter bewerben dürfen. ben. Politik ist schon mehr als eine Idee für Schwarzenegger: Ich bin mir sicher, dass SPIEGEL: Folglich unterstützen Sie diese Be- ein neues Auto. Politik ist ernster und da- den Leuten mein Regierungsstil gefällt. wegung für eine Gesetzesreform. Im In- her die größere Herausforderung. Gerade Schauen Sie, ich beziehe alle ein, ich höre ternet wird auf Websites für eine Verfas- deshalb macht sie mir Spaß. allen zu, ich will alle Meinungen kennen sungsänderung geworben. SPIEGEL: Zum Beispiel haben Sie, anders als lernen. Es interessiert mich nicht, ob einer Schwarzenegger: Nein, nein, die kommen Präsident Bush, gerade eine Initiative zur ein ganz Rechter oder ein ganz Linker ist. mir in die Quere. Förderung der Stammzellenforschung un- Als es um die Stammzellenforschung ging, SPIEGEL: Warum? terstützt, mit der die Wissenschaftler saß mir auch eine kompromisslose Ab- Schwarzenegger: Weil es nach Berechnung Geißeln wie die Alzheimer-Krankheit zu treibungsgegnerin gegenüber, die mir sag- aussieht, und daran würden sich die Leute kurieren hoffen. Was hat Sie mehr dazu be- te, das sei gegen Gottes Willen. Und hin- stoßen. Sie würden denken, da ist schon wie- wegt – die Krankheit Ihres Schwiegervaters terher kam jemand, der mir sagte, solche der so einer, der bereits zum nächsten Sprung Sargent Shriver oder die Aussicht auf einen Fundamentalisten halten uns seit 2000 Jah- ansetzt. Deshalb sollten sie mich da raus- Markt? ren davon ab, richtig wissenschaftlich zu lassen, obwohl mein Name die Aufmerk- Schwarzenegger: Das war ganz einfach für forschen. Du musst beide Seiten hören, samkeit der Medien auf sich zieht. Sonst wür- mich. Diese Forschung hat das Potential, wenn du der Führer aller Leute sein de keiner von der Kampagne reden. schwere Krankheiten zu heilen, was ein willst. SPIEGEL: Natürlich nicht. großes Plus ist, und deshalb bin ich dafür. SPIEGEL: Sie sind in Kalifornien populär, 65 Schwarzenegger: Dennoch ist das kein Ronald Reagan litt wie mein Schwiegerva- Prozent finden Sie gut. Inzwischen gibt es Schachzug, den ich unternehmen sollte. ter unter Alzheimer. Vielleicht lassen sich sogar eine Kampagne zur Änderung der Ich bin gegen diesen Kram. Mir wäre es auf diese Weise auch Mittel gegen Parkin- Verfassung, damit im Ausland geborene lieber, die Bewegung würde abebben. So son oder Diabetes finden. Darüber hinaus Amerikaner wie Sie Präsident werden dür- etwas passiert ohne mein Zutun. bin ich dafür, weil Kalifornien, ohnehin die fen. Eine gute Idee aus Ihrer Sicht? SPIEGEL: Würden Sie denn so weit wie Ihre Nummer eins in der Biotech-Industrie, von Schwarzenegger: Das ist eine spannende Frau Maria Shriver gehen, die gesagt hat: der Forschung profitieren wird. Und hier Diskussion, die auch mich fasziniert. Dar- „Schlagt euch das aus dem Kopf. Das tritt an der Westküste sind die Menschen libe- über hätte man allerdings schon lange nicht ein, die Prozedur dauert viele Jahre. ral und offen für solche Initiativen. Sie las- nachdenken und debattieren sollen. Auch Höher als jetzt geht es nicht.“ sen sich nicht abhalten von religiösem Ein- im Ausland geborene Amerikaner ziehen Schwarzenegger: Ja, ich glaube, sie hat fluss oder so was. für Amerika in den Krieg und sterben für Recht. Solche Verfassungsänderungen dau- SPIEGEL: Nicht zufällig reden etliche ern Jahre. Außerdem bin ich nicht Republikaner davon, dass Ihre Partei drauf und dran, mich komplett in ei- in Zukunft von einem – vergleichs- nen Politiker zu verwandeln. Ich bin weise – liberalen Dreigestirn beste- gewählt worden, um in Kalifornien hend aus dem ehemaligen Bush- aufzuräumen, aber nicht, um Präsi- Rivalen Senator John McCain, dem dent der Vereinigten Staaten zu wer- einstigen New Yorker Bürgermeister den. Deshalb habe ich dafür keinen Rudolph Giuliani und Arnold Schwar- Plan. zenegger geprägt werden wird. SPIEGEL: Trotzdem könnte es gut so Schwarzenegger: Ich glaube, dass die weit kommen. Republikanische Partei dabei ist, sich Schwarzenegger: Es hätte ja auch von rechts ins Zentrum zu bewegen, keiner gedacht, dass ein kaliforni- genauso wie sich die Demokraten scher Gouverneur per Referendum von links zur Mitte hin orientieren. abgewählt wird und ich Gouverneur Mir gefällt es, wenn die Republikaner werde. Du weißt nie ganz genau, was sich dazu entschließen. Wir sollten als Nächstes passieren wird. Es ist auf dem Weg ins Zentrum gleichwohl wichtig, dass wir hier in Kalifornien immer noch rechts bleiben, denn so einen guten Job machen, und wenn

nehmen wir den Demokraten fünf REED / REUTERS JASON uns das gelingt, dann ist alles mög- Prozentpunkte ab. Das ist der Trick. Republikaner Schwarzenegger, Bush: „Das ist der Trick“ lich. Interview: Gerhard Spörl

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bilis war: Seit zwölf Monaten nimmt Kron- prinzessin Masako eine Auszeit von ihren höfischen Pflichten. Der jahrelange Druck, einen männlichen Thronfolger zu gebä- ren, hat die einstige Diplomatin seelisch gezeichnet. Und mit für Japaner er- schreckender Deutlichkeit machte der verzweifelte Kronprinz dafür den rigiden Alltag bei Hofe verantwortlich. Dass der jüngere Prinzenbruder mit har- ter Gegenkritik am Kronprinzen reagier- te – und dies offenbar nach Rücksprache mit dem Tenno –, führt den Japanern vor, welch tiefe Risse ihre bisher als harmonisch intakt gerühmte Kaiserfamilie spalten. Denn Akishino stichelte verdeckt auch ge- gen die leidende Masako, weil die sich tra- ditionswidrig nach Selbstverwirklichung sehne. Zwar gebe es vieles, was auch er selbst gern tun würde, wies der Prinz die bürgerliche Schwägerin indirekt zurecht, aber höfische Aufgaben seien nun einmal „passiver“ Natur. Besorgt fragen die Gazetten, ob „wie in einem normalen Haushalt“ der allgemein beklagte Verfall japanischer Familien nun auch den Tenno-Clan heimgesucht habe.

KATSUMI KASAHARA / AP KASAHARA KATSUMI Das Wochenmagazin „Shincho“ sieht den Herbstfest der Herrscherfamilie*: „Seine Majestät war erstaunt“ japanischen Kaiserhof gar auf die „größte Krise der Nachkriegszeit“ zutreiben. noch bei seiner Mutter – hätte der Nation Der Knatsch am Hofe beunruhigt auch JAPAN eigentlich mal wieder Erbauliches aus dem die Regierung in Tokio. Um Masako und Kaiserhaus bescheren können und viel den Kronprinzen von der Bürde zu entlas- Leichte Wäsche bunten Stoff für Japans Hof-Chronisten. ten, der Nation einen männlichen Thron- Denn laut Gesetz verliert die Prinzessin erben zu bescheren, hatte Premier Juni- Mit der Verlobung der per Heirat ihre adligen Privilegien. Und chiro Koizumi eigens Zustimmung für die allein die Vorstellung, wie eine behütete Wiedereinführung der weiblichen Thron- Tenno-Tochter steht wieder ein Kaiserstochter, die noch nie in einem Su- folge signalisiert. Als Anlass dafür wählte Fest bei Hofe an. Den permarkt eingekauft hat, künftig als Bür- er den kürzlichen Geburtstag von Masakos Riss in der Kaiserfamilie kann gerliche reüssiert, dürfte viele Klatschspal- Tochter Aiko, 3. Doch allein mittels Ge- es nicht verdecken. ten füllen. setzesänderung dürfte Japans unglückliche Die Vorfreude auf die prunkvolle Hoch- Prinzessin kaum genesen. oraussichtlich zum letzten Mal in zeit wird indes durch einen hässlichen Im Gegenteil: Mit der Attacke auf den seinem Leben geht Yoshiki Kuroda, Zwist bei Hofe gestört. Angezettelt wurde Bruder trieb Akishino das Kronprinzen- V39, zu Fuß zur Arbeit. In der Bau- der für Japan beispiellose, weil öffentlich paar bei Hof noch tiefer in die Isolation. behörde von Tokio, im 22. Stock des Rat- geführte Streit ausgerechnet von Noris Zwar suchte Kronprinz Naruhito mithilfe hauses, setzt er sich noch einmal an seinen älterem Bruder, Prinz Akishino, 39. Er hat- eines selbstgedrehten Familienvideos – Ge- Schreibtisch, greift für die Kameras der Re- te die Schwester mit Studienfreund Kuro- mahlin Masako tanzt mit Töchterchen Aiko porter zum Telefon und führt vor, wie er da zusammengebracht und sich damit den fröhlich im Wohnzimmer – über hohe Hof- jahrelang den Dienst erledigte – beflissen, Dank der Nation verdient. Doch dann mauern hinweg Kontakt zur Öffentlichkeit. bescheiden, einfach vorbildlich. verdarb er die frohe Stimmung durch einen Aber dem künftigen Kaiserpaar fehlen Mit der Routine ist es nun vorbei. Aus schnöden Angriff auf seinen älteren Bru- enge Freunde, die es seelisch stützen. dem Großraumbüro zog Kuroda in ein der, Kronprinz Naruhito. Umso mehr bauen kaisertreue Japaner Einzelzimmer um, zur Arbeit wird er in Der Anlass: Naruhito hatte im Mai un- jetzt darauf, dass Schwester Nori und ihr einer Limousine chauffiert, beschützt von verblümt bemängelt, dass seiner Gemahlin bürgerlicher Verlobter Kuroda dem Hof Sicherheitsbeamten. Dass er plötzlich zur – der unter „Anpassungsstörung“ leiden- Ehre machen. Zumindest Emanzipations- öffentlichen Person wurde, verdankt der den Prinzessin Masako – bei Hofe Aufga- gelüste sind – anders als bei Masako – Beamte einer bedeutsamen Änderung in ben verwehrt würden, die ihrem Charakter kaum zu befürchten. Denn Prinzessin Nori, seinem Privatleben: Das japanische Kai- und ihrer Karriere gerecht würden. Dafür die zweimal in der Woche an einem Insti- serhaus hat Kurodas Verlobung mit Prin- rügte Akishino seinerseits den großen Bru- tut für Ornithologie Vögel beobachtet, wird zessin Nori, 35, der einzigen Tochter von der: Über Naruhitos Äußerung sei er „nicht bereits allseits für ihre vorbildliche Haus- Tenno Akihito, akzeptiert. wenig erstaunt gewesen“, gab er auf einer fraulichkeit gerühmt. Die unverhoffte, späte Romanze zwi- Pressekonferenz von sich, „ich vernehme, Nori könne gar leichte Wäsche waschen, schen der hochwohlgeborenen Aristokratin dass auch seine Majestät darüber außerge- rühmt das Magazin „Bunshun“, und das und dem korrekten Beamten – er wohnt wöhnlich erstaunt war“. Frauenblatt „Josei Jishin“ preist gerührt Schlagartig rief Akishino der geschock- ihre Kochkünste: „In der Familie Kuroda ten Nation auf diese Weise in Erinnerung, wird sicher täglich selbstgemachte Haus- * Kaiser Akihito, Kaiserin Michiko, Hofbeamter, Kron- prinz Naruhito, Prinzessin Masako, Prinz Akishino (ver- dass das ablaufende Jahr für die älteste mannskost den Esstisch schmücken.“ deckt), Ehefrau Prinzessin Kiko, Prinzessin Nori. Kaiser-Dynastie der Welt ein annus horri- Wieland Wagner

112 der spiegel 52/2004 Prisma Wissenschaft + Technik

OZEANE Mehr Korallen durch den Klimawandel? ie Erwärmung der Weltmeere, glauben australische DWissenschaftler, lässt Korallen schneller wachsen. Ben McNeil von der University of New South Wales in Sidney und seine Kollegen haben erstmals sowohl die vor- aussichtliche Wassertemperatur als auch den wahrschein- lichen Kohlendioxidgehalt der Meere bis ins Jahr 2100 be- rechnet. Beide Faktoren zusammen könnten nach ihren Ergebnissen das Wachstum der Korallen um mehr als ein Drittel steigen lassen, schreiben die Forscher in der Fach- zeitschrift „Geophysical Research Letters“. Andere Wis- senschaftler bezweifeln die Vorhersagen der Australier. Charles Sheppard von der britischen University of War- wick widerspricht, die Kollegen hätten andere Effekte außer Acht gelassen. So würden aufgrund steigender Wassertemperaturen die auf den Korallen lebenden Algen

REINHARD DIRSCHERL / BILDERBERG REINHARD DIRSCHERL sterben; dies führe auch zum Ende der Korallen, weil Korallenriff vor Papua-Neuguinea ihnen dadurch die Nahrung ausginge.

PFLEGE schämte sie sich so sehr, dass sie ihr Zimmer nicht mehr verließ. Zunächst „Nach 24 Stunden baut saß sie dort im unbequemen Sessel, nach ein paar Tagen schließlich blieb der Körper ab“ sie im Bett – und kam schon bald nicht mehr hoch. Angelika Zegelin, 52, Pflegewissen- SPIEGEL: Wieso wurde sie so schnell so schaftlerin von der Universität Witten/ unbeweglich? Herdecke, über ihre Doktorarbeit Zegelin: Schon nach 24 Stunden Liegen „Festgenagelt sein“, in der sie das Phä- fängt bei älteren Menschen der körper- nomen der Bettlägerigkeit bei älteren liche Abbau an. Das Blutvolumen ver-

Menschen an 32 Fällen untersuchte. ringert sich, das Atmen fällt schwerer, YONEYAMA TAKESHI der Muskelabbau setzt ein, und die Ge- Japanischer Ski-Roboter SPIEGEL: Ist Bettlägerigkeit ein unab- lenke werden steif. Auch die kognitive wendbares Schicksal? Leistung nimmt ab. Oft geht schon nach SPORTWISSENSCHAFT Zegelin: Nein, absolut nicht. Bettlägerig- wenigen Wochen das Gefühl für die keit ist keine medizinische Zwangsläu- Zeit verloren. Der Drang aufzustehen Roboter auf Skiern figkeit. Sie hängt weder mit dem Alter wird dann immer geringer. eines Menschen zusammen noch mit SPIEGEL: Wie lässt sich das Liegenblei- in 45 Zentimeter großer Roboter soll der Schwere der Krankheit, an der je- ben vermeiden? EForschern helfen, den Energiever- mand leidet. Stattdessen ist sie meist Zegelin: Wir glauben alle irgendwie dar- brauch von Ski-Athleten vorherzusagen. eine Verkettung unglücklicher Umstän- an, dass Liegen und Schonen gut ist. Der Maschine wurden Bewegungsmuster de, die man sehr häufig vermeiden Doch diese Vorstellung ist völlig veral- eines Abfahrtsläufers eingespeist. Damit könnte. tet. Den Angehörigen, Pflegenden und lassen Takeshi Yoneyama und seine Kol- SPIEGEL: Wie entsteht Bettläge- vor allem auch den Betroffe- legen an der japanischen Kanazawa-Uni- rigkeit? nen selbst muss klar sein, versität ihr Modell eine zehn Meter lan- Zegelin: Bei einem Drittel der dass Bewegung für die Alten ge Teppichschräge abfahren. Ziel ist eine Befragten passiert es nach enorm wichtig ist. Jemanden Anleitung für Profis, wie sie Kurven mit einem Krankenhausaufenthalt. einmal am Tag in den Roll- weniger Geschwindigkeitsverlust fahren Eine Lehrerin etwa reiste stuhl zu setzen reicht nicht. können. Der drei Kilogramm schwere noch mit über 90 Jahren durch Die Leute brauchen Muskel- Ski-Roboter sause fast wie ein Mensch China – doch ein paar Wo- und Kreislauftraining und am die Piste hinab, berichtete Yoneyama auf chen später war sie bettlägerig. besten auch gute Gründe, einer Konferenz im kalifornischen Davis. Warum? Da sie ein wenig das Bett regelmäßig zu ver- Zwar wirkten an den Gelenken des Ro- inkontinent war, hatte sie im lassen. So kann man Bett- boters andere Kräfte als beim Menschen;

Altenheim einen Blasen- ROGNER / NETZHAUT FRANK lägerigkeit sogar wieder rück- dennoch ließen sich wertvolle Erkennt- katheter bekommen. Dafür Zegelin gängig machen. nisse gewinnen.

114 der spiegel 52/2004 Prisma

MEDIZINTECHNIK Fernduell im Armdrücken ozu soll es gut sein, dass zwei WMenschen, die nicht im gleichen Raum sitzen, im Armdrücken gegenein- ander antreten? Fünf amerikanische Museen wollen ihren Besuchern auf diese Weise die Fortschritte der Haptik demonstrieren: Bei der „Internet Arm Wrestling Challenge“ sitzen die Kandi- M. D. MADHUSUDAN daten vor einem Aluminiumarm, der CHINA mit einem Gegenstück in einem ande- H ren, viele hundert Kilometer entfernten i m a l a j a Museum verbunden ist. Eine Software BHUTAN übermittelt über Datenleitung die jewei- NEPAL ligen Bewegungen und Kräfte der Kon- Neu-Delhi trahenten. Drückt etwa einer der bei- den den Metallarm nach unten, wird BANGLA- der echte Arm des anderen Spielers mit Erwachsene Arunachal-Makaken mit Jungtier DESCH Roboterkraft zurückgedrängt. Hinter INDIEN dem Technikspiel steckt ernsthafte Wis- ZOOLOGIE senschaft. Forscher der amerikanischen Entdeckungsgebiet Johns Hopkins University in Baltimore des Arunachal- arbeiten an Geräten, die Ärzten bei Neue Affenart Makaken Fernoperationen ein realistisches Ge- fühl für Stiche und Schnitte ins Gewebe SRI LANKA geben sollen; bislang übertragen Ka- entdeckt meras nur Bilder von den Aktionen, die sie mit ferngelenkten Roboterarmen rstmals seit mehr als hundert Jahren haben Primatenforscher eine neue Maka- ausführen. Ekenart entdeckt. Die Wissenschaftler der „Nature Conservation Foundation“ tra- fen auf 14 Gruppen von Arunachal-Makaken im indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh. Die Tiere unterscheiden sich von anderen Makaken durch ihr dunkles Kopfhaar, ihre dunkle Gesichtsfarbe und vor allem ihren relativ kurzen Schwanz. Anindya Sinha und Kollegen beschreiben in einem Artikel für das „International Journal of Primatology“, dass die neuentdeckten Affen zwar manchmal in der Nähe von Ortschaften leben, aber die Menschen meiden. Obwohl die Makakenart für die Zoologen völlig neu ist, kennen die Menschen der Region die Tiere durchaus gut. Die Einheimischen nennen sie „mun zala“ – was so viel heißt wie „Affe aus dem tiefen Wald“. In Anlehnung an den traditionellen Namen lautet die wissenschaftli- che Bezeichnung der neuen Art „Macaca munzala“. Die letzte größere Säuge- tierspezies, die auf dem indischen Subkontinent entdeckt wurde, war vor fast fünf Jahrzehnten der Goldene Langur. Seither stoßen Artenforscher hauptsächlich auf

unbekannte kleinere Tiere. OF SCIENCE HALL NEW YORK Haptikroboter in New Yorker Museum

KLEINCOMPUTER Bildschirms werden abgedunkelt – etwa alles bis auf das Fenster, in dem gerade Display dimmt gearbeitet wird. Die Techniker von HP fanden heraus, dass Personal Digital sich selbst Assistents (PDAs) dadurch bis zu acht- mal länger mit einem Akku laufen, be- enen Teil eines Displays auszuschal- richtet das US-Fachmagazin „Technolo- Jten, der gerade nicht vom Benutzer gy Review“. Allerdings wird erst die betrachtet wird, könnte die Batterielauf- nächste Generation von PDAs, in deren zeit mobiler Geräte drastisch verlän- Displays organische Leuchtdioden ein- gern. Der Ingenieur Parthasarathy gebaut werden sollen, über die strom- Ranganathan vom Computerhersteller sparende Technik verfügen. Im Gegen- Hewlett-Packard (HP) arbeitet zu die- satz zur herkömmlichen LCD-Technik

SVEN SIMON SVEN sem Zweck an einer speziellen Ab- kann bei ihnen jedes einzelne Pixel an- Herkömmlicher PDA mit LCD-Bildschirm dimm-Software: Unwichtige Teile des oder ausgeschaltet werden.

der spiegel 52/2004 115 Wissenschaft VISION PHOTOS / ULLSTEIN BILDERDIENST / ULLSTEIN VISION PHOTOS Hirnforschungsexperiment mit Elektroden: Der Mensch als Zufallsgenerator, der nur verschiedene Bewegungen ausführt?

SPIEGEL-STREITGESPRÄCH „Das Hirn trickst das Ich aus“ Neurobiologe Gerhard Roth und Moraltheologe Eberhard Schockenhoff über neue Zweifel an der Entscheidungsfreiheit des Menschen, umstrittene Erkenntnisse der Hirnforschung und die Folgen für das Strafrecht

SPIEGEL: Herr Roth, verfügen Brautleute Roth: Nein, auch das nicht. Die Natur gibt SPIEGEL: Dann wären Hirnwissenschaftler über einen freien Willen, wenn sie vor dem einem nicht die Freiheit mit, sich für Frau ja optimale Heiratsvermittler, wenn sie so Traualtar bekunden: „Ja, ich will“? Meier und gegen Frau Müller zu entschei- genau nachweisen können, wer sich aus Roth: Auch in einem solchen Augenblick den. Experimente zeigen, dass jeder Ent- welchen Gründen für wen entscheidet. ist der Mensch nicht wirklich frei. Womög- scheidung, und halten wir sie noch so sehr Roth: Nun, dafür ist das Gehirn zu kom- lich wird er von psychischen Extrembe- für unseren eigenen Willen, zuvor wichti- plex. Ich habe kürzlich erstmals ausrech- dingungen beherrscht: Er ist wahnsinnig ge Vorentscheidungen vorausgegangen nen können, wie viele Neuronen im Ge- verliebt und handelt praktisch im Affekt. sind – und zwar unbewusst. Wir bekom- hirn tatsächlich arbeiten, und bin auf 14 Es kann aber auch sein, dass er sich Fra- men davon überhaupt nichts mit. Warum Milliarden gekommen; diese sind über fast gen gestellt hat: Heirate ich Frau Müller sich Herr Müller für Frau Müller entschei- eine Trillion Synapsen miteinander ver- oder doch lieber Frau Meier? Soll ich det, ist für Forscher im Prinzip Schritt für bunden. Es wäre deshalb völlig vermessen überhaupt heiraten? Dann kann es schon Schritt nachvollziehbar: Da wären zunächst zu behaupten, wir könnten vorhersagen, mal zum langwierigen, quälerischen Hin- einmal die Gene, die das Temperament wie es in einem solchen Netzwerk zu einer und-her-Abwägen Hunderter Argumente eines Menschen weitgehend festlegen; Entscheidung wie einer Heirat kommt. kommen. dann prägen frühkindliche Einflüsse spä- Doch im Nachhinein können wir dies mit SPIEGEL: Immerhin wäre der Mensch dem- tere Entscheidungsmuster und schließlich entsprechendem Aufwand rekonstruieren. nach nicht nur seinen Trieben ausgeliefert. die Erfahrungen aller Lebensjahre. In einer Schockenhoff: Da machen Sie es sich zu ein- Können sich die Brautleute denn mit küh- Hochzeitszeremonie spiegelt sich kein Wil- fach! Sie reduzieren einen so komplexen Be- lem Kopf frei füreinander entscheiden? le, der bedingungslos frei wäre. wusstwerdungsvorgang wie das Heiratsver-

116 der spiegel 52/2004 AP Massenhochzeit in Shanghai: „Warum sich Herr Müller für Frau Müller entscheidet, ist für Forscher im Prinzip nachvollziehbar“ sprechen auf einen physikalischen Vorgang, Roth: Es lässt sich in Experimenten aber die in Hunderten Laboren bestätigt wer- bei denen Nervenzellen elektrische Ladun- immer besser zeigen, in welchem Verhält- den. Daran kommen Sie nicht vorbei. gen abfeuern – und behaupten dann, die nis diese physiologischen Prozesse mit be- Schockenhoff: Sie fragen aber nicht nach Freiheit, dies oder das zu tun, sei eine bloße wusstem Erleben zusammenhängen. Dem den Gründen, die den Menschen bewegen. Illusion. Sie verkennen die Fähigkeit des bewussten Formulieren eines Wunsches, Und da machen Sie einen Kategorienfeh- Menschen, sein Handeln an Gründen zu eines Willens, geht immer ein unbewusster ler. Erinnern wir uns an ein berühmtes Bei- orientieren und Alternativen abzuwägen. Im Prozess voraus. Im Gehirn lassen sich Er- spiel aus der Philosophie, von dem Plato Falle der Ehe geht eine lebensgeschichtliche regungszustände nachweisen, die eine berichtet: Sein Lehrer Sokrates sitzt im Ge- Vorbereitungsphase voraus. Doch Sie sehen Handlung ankündigen – bevor der Mensch fängnis und hätte die Chance zu fliehen. den Menschen nur als einen Zufallsgenera- sich dessen bewusst ist, dass er überhaupt Dennoch entscheidet er sich dafür, hinter tor, der verschiedene Bewegungen ausführt. handeln will. Das sind empirische Befunde, Gittern zu bleiben. Man könnte nach den Ursachen fragen und antworten: Er bleibt, weil sich seine Knochen und Sehnen nicht bewegen. In sei- nem Gehirn war auch keinerlei Er-

menwechsels ist der Neurobiologe und Philosoph Gerhard Roth. Der 62-Jährige leitet das Institut für Hirnforschung der Universität Bre- men und untersucht dort Verhalten und Wahrnehmung des Menschen.

BELLO + KNAPP / THEMA BELLO In seinem Buch „Fühlen, Denken, Roth Schockenhoff Handeln“ hat er in neuer Absolut- heit die Existenz des freien Willens Den freien Willen in Frage gestellt. Auf Einladung des SPIEGEL diskutiert Roth mit dem halten Hirnforscher zunehmend für eine Illusion. Je genauer sie die Philosophen Eberhard Schockenhoff, der an der Universität Freiburg Denkprozesse im Gehirn beobachten, desto mehr kommen sie zu Moraltheologie lehrt und zugleich Mitglied des Deutschen Ethikrates dem Schluss: Der Mensch wird beherrscht von seinem Unterbewusst- ist. In seinen Essays und Buchaufsätzen verteidigt der 51-jährige ka- sein, seinen Trieben und seinen Genen – eine Vorstellung, die unser tholische Priester die Willensfreiheit als eigenständige geistige Leis- Rechtssystem erschüttern könnte. Einer der Vorreiter dieses Paradig- tung, die mehr sei als die Aktivität von Gehirnzellen.

der spiegel 52/2004 117 Wissenschaft regungszustand zu beobachten. So ließe sie dies in der Sehrinde tun, hat der Patient Sie mir Experimente bieten, bei denen es sich sein Handeln als physikalisches Ge- visuelle Halluzinationen. Bei Stromimpul- auch um moralische Entscheidungen geht, schehen beschreiben. Ein anderer Ansatz sen in anderen Regionen hat er plötzlich in denen der Mensch abwägen muss, sich wäre, dass Sokrates sich als Philosoph der den Wunsch, nach einem Glas zu greifen. gar umentscheiden könnte, nachdem er Wahrheit verpflichtet fühlt. Er möchte sei- Und hinterher schreibt der Patient diesen das Für und Wider bestimmter Argumen- nem Gewissen folgen und die Gesetze des unfreiwilligen Handlungen eine Bedeutung te bedacht hat. Ihre Experimente suggerie- Staates achten. Das ist eine Antwort, die zu und unterstellt, mit Absicht gehandelt ren, alles menschliche Handeln verlaufe nach Gründen für sein Handeln fragt. zu haben. Das tut er zwangsläufig, weil die allein von neurobiologisch einfachen Zu- Roth: Das Sokrates-Beispiel gefällt mir gut. neuronalen Netze im Gehirn unser gesam- ständen zu komplexen Bewusstseinszu- Sie sagen, seine Weigerung zu fliehen, ent- tes Denken, Fühlen und Wollen beinhalten. ständen, und wir müssten diese Zustände springe allein seiner freien Entscheidung. SPIEGEL: Der Mensch redet sich also im nur genau genug kennen, dann könnten Ich aber sage, er wäre geflohen, wenn er Nachhinein Gründe ein, warum er gerade wir sie voraussehen. andere Gene gehabt und seine Mutter ihn die Hand bewegt hat? Roth: Da widerspreche ich. Denn die un- anders erzogen hätte. Mit den Gründen Roth: In diesem Fall ja. Es hängt allerdings bewussten Vorgänge legen ja nicht bis ins verhält es sich leider nicht so, wie Plato uns davon ab, wo der Experimentator die Ner- kleinste Detail fest, wie in den bewussten lehren wollte. In entsprechenden Versu- venzellen reizt. Er kann den Willen des Hirnschichten entschieden wird. Im Ge- chen können wir sehen, dass Bewusstsein Patienten in bestimmten Regionen voll- genteil: Bestimmte Probleme, die unbe- und Psyche – also Geist – unter bestimm- ständig unterlaufen, und dennoch wird der wusste Hirnregionen nicht sofort lösen ten physikalischen Bedingungen im Gehirn Mensch angeben, er habe gerade nach dem können, hebt das Gehirn gewissermaßen gebildet werden. Das Gehirn konstruiert, Glas greifen wollen. Doch es gibt auch Orte vorsätzlich in die Sphäre des Bewusstseins, so drücken wir Neurobiologen es aus, Ich- im Gehirn, da kann der Patient nicht mehr des Geistes. Schwierige Entscheidungen Zustände. Der Mensch empfindet dies in erklären, warum er etwa den Arm bewegt werden der Großhirnrinde als einem Ab- diesem Moment als Bewusstseinszustand. hat. Wenn der Experimentator hingegen wägegremium vorgelegt, einer Art Jury. SPIEGEL: Können Sie das an einem Experi- im Rückenmark stimuliert, dann würde der SPIEGEL: Sie sagen aber auch, um im Bild zu ment erklären? Patient interessanterweise leugnen, den bleiben, dass es in diesem Debattierclub Roth: Denken wir an ein medizinisches Arm überhaupt angehoben zu haben. einen Chef gibt, der auf den Tisch haut Standardverfahren bei Patienten mit einem Schockenhoff: Ich bezweifle, dass diese Ex- und bestimmt, wo es langgeht: das limbi- Hirntumor. Da wird das Gehirn freigelegt, perimente aussagekräftig sind, weil sie sich sche System, das die menschliche Ge- und die Mediziner testen vor der Operation nur auf eine einfache Körperbewegung be- fühlswelt steuert. mit Hilfe von Elektroden, welche Funktio- ziehen. Um mich zu überzeugen, müssten Roth: Richtig. Das limbische System hat bei nen das umliegende Hirngewebe wahr- der Handlungssteuerung das erste und letz- nimmt. Die Neurochirurgen reizen das Ge- Weitere Informationen unter te Wort. Zwischendurch kommt der große hirn mit kleinsten Stromschlägen. Wenn www.spiegel.de/dossiers Auftritt von Verstand und Vernunft. Doch die sind nur Berater. Ausschlaggebend für nimmt. Es existiert nicht für sich allein. Entscheidungen sind die Erfahrungen, die Und wenn ein Kind Kompetenzen wie Ver- Gefühle, Hoffnungen, Ängste, die einen nunft oder Abwägen nicht lernt, dann man- Menschen im Laufe seines Lebens geprägt gelt es ihm auch als Erwachsener daran. haben und sein Verhalten bestimmen. Schockenhoff: Sie schauen dem Hirn ja nur Schockenhoff: Sehen Sie, bei Ihnen trickst von außen bei seiner Aktivität zu und ver- das Gehirn das Ich aus! Sie sehen den Men- suchen so, die Entstehung dieser inneren schen immer nur von ganz unten, vom Welt zu beobachten. Das ist ein Wider- kleinsten physikalischen Prozess aus. Aber spruch in sich. Ihre Zunft rast gerade auf ei- Sie müssen auch von oben beginnen, von ner Einbahnstraße dahin! seiner Bestimmung und seinem spezifi- Roth: Sie behaupten Dinge, die ich nie ge- schen Wesen her denken. Es ist die Aufga- sagt habe. Auch ich erkenne an, dass die be des Menschen, rationale Gründe zu er- psychische Dimension nicht allein von den kennen, abzuwägen und danach sein Han- Neurowissenschaften erklärt werden kann. deln auszurichten. Aus religiöser Sicht ist Aber: Mal angenommen, ich manipulierte der freie Wille ohnehin Voraussetzung an Ihrem Gehirn herum, und Sie würden menschlicher Existenz: Gott hat den Men- erleben, dass Sie den Arm heben. Und Sie schen nicht als Marionette, sondern als würden mir gleichzeitig erklären, Sie han-

Partner erschaffen. Er will seine freie Ge- AKG delten freiwillig. Dann würden Sie einen genliebe, keinen willenlosen Gehorsam. Philosoph Kant Moment von Freiheit erleben – ein unfrei- Zu Weihnachten, am Fest der Menschwer- Rütteln am Bild des aufgeklärten Menschen williges Gefühl von Freiheit. dung Gottes, gedenken die Christen der Schockenhoff: Der Fehler beginnt doch da- Erlösung aus Unfreiheit und Angst. Die em Willen? Im Zentrum von Zwischen- mit, dass Sie ständig nur vom Gefühl der zentralen Glaubensaussagen setzen die menschlichkeit stehen doch nicht irgend- Freiheit sprechen. Sie müssten einmal fra- menschliche Freiheit also voraus. welche limbischen Systeme. gen, wie die Wirklichkeit der Freiheit ent- Roth: Natürlich kann man das so sehen – Roth: Sie sind nun einmal die Grundlage steht. Nämlich durch Selbsterziehung und doch religiöse Aussagen sind nicht zu be- unserer Empfindungen. Jeder psychischen die Erziehung von Eltern oder der Schule. weisen und stehen jenseits der Wissenschaft. Entwicklung des Menschen geht neurona- Freiheit ist ein sittlicher Auftrag und keine Schockenhoff: Aber wie wollen Sie ohne les Geschehen voraus. Das Ich-Bewusst- empirische Eigenschaft. Sie steht jenseits freien Willen das Phänomen der Liebe er- sein, das Wahrnehmen des eigenen Ichs, naturwissenschaftlicher Methoden. klären? Oder Vergebung? Wenn einer Un- vollzieht sich beim Kleinkind in dem Maße, Roth: Aber woher hat der Mensch diese ei- recht, das ihm widerfahren ist, vergibt – in dem sich das Gehirn entwickelt und die genständige Freiheit? Es ist unbefriedigend, wie sollte er das tun, wenn nicht aus frei- vielfältigen Einflüsse seiner Umwelt auf- bloß zu behaupten, der Geist agiere außer- Wissenschaft halb der Naturgesetze – zumal in Diktatur und Unterdrückung sich im Rahmen des Naturge- zu enden, muss eine Gesell- schehens alle Entscheidungen schaft ihre Kinder im Sinn die- von Menschen erklären lassen. ser praktischen Freiheit erzie- Schockenhoff: Ich bleibe dabei, hen. Nur so lernen Menschen, dass es eine Wirklichkeit gibt, was wir gemeinhin freien Willen die sich mit Ihren Methoden nennen: die Fähigkeit, ohne nicht angemessen erfassen lässt. Zwang abzuwägen und zu ent- Wenn ich ein Gemälde wissen- scheiden. Wichtig ist aber auch, schaftlich analysiere, die Farb- dass andere ihm das Gefühl von zusammensetzung, seinen Auf- Freiheit vermitteln. bau, dann erklärt mir das noch Schockenhoff: Das verstehe ich lange nicht den Genuss, den die nicht. Die anderen können mir Ästhetik des Bildes bereitet. ja niemals nachweisen, dass ich Roth: Erfahrungen wie Ästhe- mich frei fühle. Die erliegen ja tik, Liebe und Zuneigung ha- selbst nur der Illusion des frei- ben eben auch ihre Entspre- en Willens. Dann teilen wir ge- chungen im Gehirn. Das Geisti- meinsam eine große Illusion. ge ist ein natürlicher Zustand Was bringt uns das? unserer Welt – auch wenn es Roth: Die äußere Perspektive

mehr ist als das bloße „mate- ARCHIVE / GETTY IMAGES HULTON der Freiheit ist psychologisch rielle“ Feuern von Neuronen. Mao-Kult in China (um 1968): „Praktische Freiheit ist gefühlte Freiheit“ wichtig. Sie unterstellt dem Es ist vergleichbar mit dem Gegenüber Handlungsalternati- Licht: Auch Licht ist nicht reduzierbar schen bestimmen, dann ließe sich ja argu- ven. Der Mensch fühlt sich erst frei, wenn auf die Gesetze der Festkörperphysik. Und mentieren, jemand wie Hitler könne nicht andere ihm die Freiheit zuschreiben. doch gehört es als masseloses Phänomen zur Verantwortung gezogen werden. Das Schockenhoff: Das ist Wortklauberei. Sie zur physikalischen Welt. können Sie nicht im Ernst meinen! retten den freien Willen nicht, wenn Sie aus Schockenhoff: Anders als das Licht handelt Roth: Hitler hat nach den Maximen seiner ihm nur ein soziales Konstrukt machen. der Mensch aber. Sie wollen absichtsvolles kranken Psyche gehandelt. Sie hat ihm sein Roth: Aber er ist ein Konstrukt. Weil es Handeln rein physikalisch erklären. Das Tun diktiert. Das ändert natürlich nichts sich im Prinzip lückenlos nachvollziehen lässt sich nicht gleichsetzen. daran, dass Täter verurteilt werden müssen. lässt, wenn sich ein Mensch von 5000 Mög- Roth: Auch absichtsvolles Verhalten ist mit Es gibt eine Definition von Freiheit, die zum lichkeiten für Alternative 276 entscheidet. den Gesetzen der natürlichen Welt erklär- Strafrecht und zu den Gesetzmäßigkeiten Wäre das nicht so, gäbe es so etwas Schnö- bar. Es gibt Zentren im Gehirn, die aktiv der Neurowissenschaften passt: Es ist eine des wie Marktforschung nicht. Scharen von sein müssen, damit man etwas will und sich Art praktische Freiheit – und die bleibt un- Psychologen ordnen bestimmte Produkte frei fühlt. Dort laufen Planungs- und Ab- berührt von der Frage, ob der freie Wille in bestimmter Weise so an, dass die Leute wägungsprozesse zusammen. Reizt man eine Illusion ist. Auf dieser Freiheit fußt un- wie besinnungslos einkaufen. Und dann solche Zentren im Experiment, fühlt sich ser Gesellschaftssystem. Sie erlaubt dem meint Herr Müller, er habe freiwillig die der Mensch frei. Das Gehirn hat gelernt: Menschen, im Sinne der Aufklärung ver- Schuhe erworben, die in einem bestimm- Wenn dieses Zentrum aktiv ist, sind dem nünftig und verantwortungsvoll zu handeln. ten Regal auf Augenhöhe standen. Dabei viele Abwägungsprozesse vorhergegangen. Dazu braucht er offenbar die Vorstellung, er brauchte er bloß eine Zahnbürste. Der SPIEGEL: Sie rütteln ganz schön am Kant- habe einen freien Willen. Er muss sich frei ganze kapitalistische Markt baut darauf schen Bild vom aufgeklärten Menschen. fühlen und das Gefühl haben, er verwirkli- auf, dass der Mensch unbewusst zu be- Dabei ist die Idee des freien Willens die che sich selbst, könne Vernunft walten las- stimmten Handlungen zu verführen ist und Grundbedingung für unser Rechtssystem. sen und Alternativen und Argumente ab- sich dabei noch frei fühlt. „Der innere Grund des Schuldvorwurfs“, wägen. Dazu darf er weder psychisch noch Schockenhoff: Und dann kommen Sie, Herr so definiert es der Bundesgerichtshof, physisch unter Zwang stehen. Roth, und erklären dem Herrn Müller, dass „liegt darin, dass der Mensch auf freie, ver- Schockenhoff: Das klingt nach einer zyni- Sie seine Unfreiheit durchschaut haben. antwortliche, sittliche Selbstbestimmung schen Gebrauchsanleitung. Aber genau durch diese Erkenntnis helfen angelegt und deshalb befähigt ist, sich für Roth: Keinesfalls. Praktische Freiheit ist ge- Sie ihm, sich von solchen unbewussten Ent- das Recht und gegen das Unrecht zu ent- fühlte Freiheit. Sie entwickelt sich über ge- scheidungen unabhängig zu machen. Der scheiden.“ sellschaftliche Konzepte – und damit über Mensch ist also doch prinzipiell fähig zu ei- Roth: Es ist in der Tat eine der wichtigsten Bildung und Erziehung. Deshalb haben an- nem emanzipierten freien Willen. Fragen des Rechts, wann ein Mensch aus dere Gesellschaften auch ein anderes Ver- Roth: Nein, nein, umgekehrt. Ihr Einwand freien Stücken handelt und wann nicht. ständnis von Freiheit und Recht. Um nicht ist ein wundervoller Beleg für meine The- Unsere Rechtsprechung baut auf der Prä- se. Wenn ich Herrn Müller erkläre, warum misse auf, dass ein Täter unter identischen er plötzlich Schuhe gekauft hat, wirke ich Bedingungen anders hätte handeln kön- ja auf sein Gehirn ein und löse Gedanken nen – wenn er nur gewollt hätte. Wenn aus, die ihn vielleicht tatsächlich immuner aber Zweifel angebracht sind, dass der machen gegen Kaufrausch. Ich erhöhe da- Mensch in diesem ontologischen Sinn ei- mit die Alternativen seines Verhaltens und nen freien Willen hat, würde das eigentlich damit seine praktische Freiheit. Das heißt bedeuten: Im Zweifel für den Angeklag- aber nicht, dass sein Wille per se frei ist. ten. Also könnte niemand verurteilt wer- Das nächste Mal wird er wieder in die Fal- den. So ließe es sich theoretisch betrachten. le tappen und sich manipulieren lassen. Schockenhoff: Wenn ohnehin nur Gene und Und letztlich ist mein Eingreifen ja auch

Lebensumstände über die Taten eines Men- + KNAPP / THEMA BELLO eine Art von Manipulation. Schockenhoff, Roth, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Roth, Herr Schockenhoff, * Katja Thimm und Gerald Traufetter. „Der Mensch redet sich Gründe ein“ wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

120 der spiegel 52/2004 Technik

„Zigbee“ nennt sich der Trödelfunk, an vensystem ersetzt Kabel durch Funk. FUNKNETZE dessen Durchsetzung Poor maßgeblich Natürlich brauchen Lampen weiterhin ein beteiligt ist. 2001 gründete er, nachdem er Stromkabel, um mit Energie versorgt zu Vom Haus zur am MIT einen Doktor geschrieben und werden; aber zum An- und Ausknipsen seinen Datenfunk zum Patent angemel- reicht dann beispielsweise das Handy – det hatte, die Firma Ember in einem oder ein Funkschalter, ähnlich wie eine Wohnmaschine ehemaligen Lagerhausbezirk von Boston Fernseh-Fernbedienung, mit der man sich (www.ember.com). Bis heute lockte das durchs eigene Haus zappen kann: Jalousi- Ingenieure arbeiten am Unternehmen über 60 Mitarbeiter und Ri- en runter, Dachfenster zu, Sauna an. sikokapital in Höhe von 53 Millionen Der Name Zigbee spielt dabei auf den langsamsten Datennetz der Welt – Dollar an. Zickzackflug der Bienen an: Die Daten mit dem Trödelfunk sollen Vor allem aber gelang es in kürzester Zeit, suchen sich ihren eigenen Weg von Ge- Lampen, Heizungen und Garagen- über 100 namhafte Firmen auf den Zigbee- rät zu Gerät, bis ein jedes in Bruchteilen tore ferngesteuert werden. Standard einzuschwören – unter anderem von Sekunden sozusagen mit dem rich- Motorola, Philips, Mitsubishi, Honeywell tigen Befehl bestäubt ist. Sofort danach obert Poor, 50, hat es in seinem Leben und ZMD, einen Chiphersteller aus Sachsen. versinken die Chips wieder in Winter- noch nie besonders eilig gehabt. Mit Vorigen Dienstag wurde der Standard schlaf. Das alles verschafft ihnen einen R42 Jahren immatrikulierte sich der „Zigbee 1.0“ offiziell verabschiedet. Schon Stromsparvorteil gegenüber Funkchips der Ex-Bassist der Rockband „The Loud Fami- in wenigen Monaten sollen die ersten Zig- Variante W-Lan oder Bluetooth (siehe ly“ als einer der ältesten Studenten am Mas- bee-fähigen Produkte auch auf den hiesi- Grafik). sachusetts Institute of Technology (MIT) bei gen Markt kommen: Lichtschalter, Hei- Für das Bienenprinzip stand „Metcalfes Boston. Nun hat er wieder so eine selt- zungen, Türschlösser – geadelt durch das Gesetz“ Pate, eine Faustregel, die besagt: same Höchst- Logo der Langsamfunker, ein weißes Z auf je mehr Teilnehmer, desto stabiler das leis- rotem Grund: Zigbee Inside. Netz. Formuliert wurde es von Robert Met- Vielseitiger Zigbee soll dumme Häuser in intelli- calfe, dem legendären Vater des Ethernet: gente Wohnmaschinen verwandeln. Vor 31 Jahren schrieb er das Protokoll, auf Bienenfunk Weltweiter Vorreiter ist Süd- dem heute Millionen von Firmennetzen Anwendungen korea, wo bereits 50 Gebäude basieren. Metcalfe sitzt im Aufsichtsrat von des neuen mit Poors Technik funkver- Ember und ist ein enthusiastischer Predi- Zigbee- netzt wurden – fernsteu- ger in Sachen Zigbee. Netzes erbar Metcalfes Gesetz gilt allerdings nur, wenn die Netzteilnehmer aufeinander Rücksicht nehmen, was derzeit nicht der Fall ist. Immer mehr kon- kurrierende Geräte drängeln sich TV Garagentor im selben Funkspektrum, meist fun- Licht ken sie im Bereich um die 2,4 Gi- gahertz – von W-Lan-Funknetzen über Autoschlüssel bis zu Mikro- wellenherden. Heizung Das könnte Zigbee-Häuser ver- letzlich machen, warnen Exper- •… ten wie der Informatiker Frank Bittner von der Uni Bremen. Er • Wohlfühl- Der Datenfunkstandard Zigbee wurde speziell temperatur hält es für theoretisch denkbar, zur Steuerung von technischen Geräten in • „Tagesthemen“ dass Lichtschalter streiken, wenn einschalten Häusern entwickelt. Zigbee-Chips empfangen die Nachbarn per Funknetz zum •… lediglich winzige Befehlstelegramme und leiten Beispiel Videos aus dem Internet sie an die Nachbarchips weiter. Sie kommen saugen. daher ohne Kabel, mit geringer Übertragungs- Auch Hackerangriffe könnten geschwindigkeit und wenig Energie aus. Wohnmaschinen zum Absturz brin- gen. Zwar lässt sich Zigbee digital verschlüsseln; aber das überfor- dert erfahrungsgemäß die Nutzer. tung aufgestellt: „Dies hier ist das vielleicht zum Beispiel durch das „P1“, das erste Zig- Es wäre also denkbar, dass Hacker sich langsamste Funkgerät der Welt“, sagt er und bee-Handy der Welt, gebaut von der korea- bald einen Spaß daraus machen, mit einem hält stolz einen fingernagelkleinen Chip zwi- nischen Firma Pantech & Curitel. Für den Notebook im Rucksack Verdunkelungs- schen Daumen und Zeigefinger, „und ge- Durchbruch auf dem Weltmarkt allerdings spaziergänge zu machen, indem sie im nau deshalb wird es die Welt rocken.“ könnten die Zigbee-Chips mit rund drei Vorbeigehen während der „Tagesschau“ Der von ihm entworfene Chip funkt mit Euro noch etwas teuer sein. die Lichter und Fernseher von Zigbee- der extrem niedrigen Datenrate von oft nur Das Prinzip ist einfach: Schon vom Auto Häusern ausknipsen. 20 Kilobit pro Sekunde – und ist damit 100- aus wird per Tastendruck ein Signal an das Solche Zwischenfälle hält selbst Met- mal langsamer als etwa UMTS. Das Herun- Haus gesendet, das automatisch anspringt calfe, der Übervater des Bienenfunks, terladen eines Films würde damit locker ein wie eine gut geölte Maschine. Das Gara- für möglich: „Es gibt sowohl eingebilde- paar Wochen dauern. In der Langsamkeit gentor öffnet sich, das Licht geht an, die te als auch reale Sicherheitsbedenken“, liegt seine Stärke. Denn Poor will nicht Mo- Heizung wird hochgeregelt, die Glotze auf gibt er zu. „Die Entwickler bauen Sicher- bilgeräte vernetzen, sondern Immobilien. den Lieblingskanal eingestellt. heitsfunktionen ein – vielleicht werden Dabei zählt Langlebigkeit und Zuverlässig- Dieser Budenzauber lässt sich auch in die funktionieren.“ Vielleicht aber auch keit mehr als ein fiebrig rasender Datenpuls. Altbauten nachrüsten; denn das neue Ner- nicht. Hilmar Schmundt

122 der spiegel 52/2004 Wissenschaft

gleich möglich ist. Inzwischen macht das Verfahren auch in anderen Bundesländern UMWELT Furore. Hessen hat seit zwei Jahren eine landesweite Ökokonto-Regelung. Auch in Sachsen-Anhalt soll ab 2005 mit Öko- „Ablasshandel mit Natur“ punkten gehandelt werden. Das Geschäft ist der neueste Versuch, Das Geschäft mit Ökopunkten vereinfacht den Bau von Straßen die Eingriffs- und Ausgleichsregelung des Bundesnaturschutzgesetzes in die kom- und Gewerbegebieten. Doch hilft es auch der Natur? plizierte Wirklichkeit im dichtbesiedelten Oder wird die Zerstörung von Wald und Wiese eher befördert? Deutschland zu übertragen. Wer irgend- wo ein Feuchtgebiet zuschüt- berhard Veith ist Bau- tet, muss eigentlich wieder herr in Sachen Natur. ein Feuchtgebiet schaffen; ein EWenn Veith einen Bag- zerstörter Wald ist nur durch ger schickt, wird abgerissen, einen neuen Wald, möglichst weggeschaufelt und zerstört – in direkter Nachbarschaft, zu damit alles wieder grün wird. ersetzen – so verlangt es im Die Betonröhren, die den Idealfall das Gesetz. Die Praxis Metzerbach seit Jahrzehnten sieht anders aus: Längst ist es zähmten: weggerissen; die bundesweit gang und gäbe, befestigten Standplätze von etwa neuangelegte Schnell- ehemals 80 Campingwagen: straßen mit Pflanzungen ärm- zertrümmert; das Restaurant lichen Begleitgrüns zu kom- Hetscher Mühle: verschwun- pensieren. Wer in Ballungs- den. Einen ganzen Camping- räumen baut, kann sich über platz in der Nähe des saarlän- die sogenannte Ausgleichs- dischen Örtchens Eimersdorf abgabe häufig gar ganz frei- hat ein Trupp Bauarbeiter kaufen. im Auftrag Veiths dem Erd- Das Ökokonto soll diesen

boden gleichgemacht. Und UWE BELLHAEUSER Missstand beseitigen (siehe der Mann ist auch noch stolz ÖFM-Geschäftsführer Veith*: Stolz auf die Zerstörung Grafik). Der Ansatz scheint darauf. zunächst einleuchtend: Fir- Denn der Geschäftsführer der saarlän- derum sind bares Geld wert: „Wir verkau- men wie die ÖFM („Wir punkten für Sie“) dischen „Naturland Ökoflächen-Manage- fen die Ökopunkte an Investoren, die an schaffen gleichsam Natur auf Vorrat. Bau- ment gGmbH“ (ÖFM) ist eine Art profes- anderer Stelle Bauvorhaben verwirklichen herren profitieren, weil sie nicht mehr sioneller Naturvermehrer. Neben abgeris- wollen“, erläutert Veith. Denn jeder Ein- selbst und in unmittelbarer Nähe ökologi- senen Campingplätzen hat die ÖFM frisch griff in die Natur, etwa beim Straßenbau, schen Ausgleich schaffen müssen. Statt- entgradigte Bächlein, neuangelegte Hecken muss in Deutschland kompensiert werden. dessen kaufen sie Ökopunkte. Eine „Win- und renaturierte Auen im Angebot. Für Veith liefert diesen Ausgleich im Schnell- Win-Situation“ für Investoren und Natur jedes neugeschaffene Biotop bekommt die verfahren. sieht der saarländische Umweltminister Firma von der Landesregierung sogenann- Das Instrument heißt „Ökokonto“, mit Stefan Mörsdorf in der Regelung und hofft te Ökopunkte gutgeschrieben. Die wie- dem im Saarland seit 1998 der Naturaus- auf bundesweite Nachahmer. Und doch stößt der schwunghafte Han- del mit Wald und Wiese zunehmend auf Kritik. Der zentrale Vorwurf: Ökoprojek- Punkten für die Natur te werden nur deshalb in die Tat umge- Beispiel eines Ökopunktehandels setzt, weil mit ihnen Geld zu verdienen ist. Sinnvoller Ausgleich für Bauprojekte findet dadurch gar nicht erst statt. Einen „Ablasshandel mit Natur“ beklagt Soll-Seite Haben-Seite etwa Annette Leipelt vom Naturschutz- bund Deutschland (Nabu) in Sachsen-An- Ein Investor rodet fünf Hektar alten Ein Ökopunktehändler forstet halt: „Die Eingriffsmöglichkeiten für die Laubwald für den Bau einer Kläran- sieben Hektar Acker mit Laub- Industrie werden ausgeweitet.“ Und auch lage. Da er nicht selbst einen ökolo- wald auf. Neu gepflanzter Wald Klaus Borger, umweltpolitischer Sprecher gischen Ausgleich schaffen kann, ist aus Naturschutzsicht weniger muss er Ökopunkte kaufen. wert als alter Wald. der Grünen Saar, ist skeptisch. „Natur wird immer mehr zum reinen Wirtschaftsgut“, Ökoschuld: Ökoguthaben: sagt Borger: „Wer genug Geld hat, kann 1 Mio. Ökopunkte 1 Mio. Ökopunkte ohne Rücksicht auf Verluste irgendwo pla- nen und dann Ökopunkte kaufen.“ Verkauf Im Saarland wird besonders heftig über von Ökopunkten das grüne Geschäft gestritten. Eine unge- Der Wert eines Öko- wöhnliche Allianz aus Naturschützern und punktes variiert je nach Bauern hat sich dort formiert. Besonders Aufwand zwischen 50 pikant: Umweltminister Mörsdorf, der das Cent und einem Euro. * Vor dem von der ÖFM abgerissenen Campingplatz Hetscher Mühle.

124 der spiegel 52/2004 WOLFGANG STECHE / VISUM STECHE WOLFGANG Streuobstwiese: „Schnellschüsse, die nicht von Nachhaltigkeit getragen werden“

Ökokonto als „marktkonformes Instru- manchen Ökopunkteprojekts. „Die ideel- die Natur noch befördern könnten. Seine ment“ rühmt, ist selbst in den Punktehan- len Werte treten gegenüber den finanziel- Argumentation: Je mehr Ökopunkte auf del verstrickt: Sein Staatssekretär sitzt im len oftmals in den Hintergrund“, sagt dem Markt verfügbar seien, desto einfa- Aufsichtsrat der ÖFM, des Marktführers Götz. cher werde es Investoren gemacht, Bau- im Ökopunktegeschäft. Ein „ministeriell „Naturschutz um jeden Preis“ nennt es vorhaben anzuschieben. „Auf jeden Fall unterstütztes Monopol“ wirft der Grüne auch der Grüne Borger, wenn wertvolle entsteht nicht gerade der Zwang, Flächen Borger dem Unternehmen vor. Mörsdorf, Schwarzdorn- und Weißdornhecken zer- zu sparen“, sagt Jansen. der kraft seines Amtes für die Zuteilung stört werden, nur um neuen Orchideen- „Der Naturschutz verlässt sich mehr und der Ökopunkte zuständig ist, kontrolliere rasen anzulegen. Umstritten sind auch die mehr auf Eingriffe in die Natur“, bekräftigt sich „fachlich quasi selbst“. Streuobstwiesen: Mehrfach finden sich im Ulrich Kriese, siedlungspolitischer Spre- Gleichzeitig hat es der parteilose Mörs- Portefeuille der ÖFM jene durch locke- cher des Nabu: „Wenn es keine Eingriffe dorf wie wahrscheinlich kein zweiter Um- ren Obstbaumbestand charakterisierten gäbe, wäre der Naturschutz arbeitslos.“ weltminister einer CDU-geführten Lan- Flächen, die auf Grund ihrer Artenfülle Und tatsächlich haben Firmen wie die desregierung geschafft, die Landwirte der bei manchem Naturfreund einen spekta- ÖFM im Saarland bereits mehr Ökopunk- Region gegen sich aufzubringen. Auch sie kulär guten Ruf genießen. Allein, aus Na- te gehortet als für Bauvorhaben benötigt kritisieren die Kommerzialisierung der Na- turschutzsicht sind sie häufig das Geld werden. tur durch das Ökokonto – vor allem des- nicht wert, mit dem sie angelegt werden. Veith ficht die Kritik nicht an. „Es ist im halb, weil ihnen die neuen Ökogroß- Als „Schnellschüsse, die nicht von Nach- Saarland noch nie so gut ausgeglichen wor- grundbesitzer den Acker streitig machen. haltigkeit getragen werden“ bezeichnet den wie heute“, sagt der Ökopunktehänd- Denn ausgerechnet die begehrten Acker- etwa Arnd Winkelbrandt vom Bundesamt ler. Früher seien 60 bis 70 Prozent der Aus- flächen sind für die Punktehändler wahre für Naturschutz die Pflanzungen. Der gleichsmaßnahmen bei Bauvorhaben nie- Schnäppchen. Weil Acker relativ preis- Grund: Streuobstwiesen sind reine Kul- mals umgesetzt worden, schätzt er. Heute günstig zu kaufen und zudem leicht öko- turlandschaft. Allein stetige Pflege hält sie dagegen könnten Investoren über den Kauf logisch aufzuwerten ist, können Unter- am Leben. Bundesweit jedoch wuchern be- von Ökopunkten erstmals größere und da- nehmen wie die ÖFM darauf am meisten reits mehrere 10000 Hektar des Biotops mit auch sinnvollere Naturschutzprojekte Geld verdienen. ungepflegt vor sich hin; für weitere Streu- unterstützen. „Die pflanzen ein paar Hecken, und obstwiesen besteht aus Naturschutzsicht „Die Kritiker vergessen leicht, dass die schon bekommen sie viele Ökopunkte kein Bedarf. Alternativen zum Ökokonto erst recht dafür“, schimpft Hans Lauer, Geschäfts- Vor allem aber stößt sich Winkelbrandt niemanden überzeugt haben“, sagt Veith. führer des Bauernverbandes Saar. „Ag- an einem Grundproblem der neuen Beim ÖFM-Vorzeigeprojekt des Camping- gressiv“ kämpfe die ÖFM um die Flächen. Ausgleichsregelung: „Ökokonten schaffen platzes Hetscher Mühle zumindest könnte „50 Prozent über den regionalen Preisen“ oftmals keinen adäquaten Ausgleich für die Natur am Ende tatsächlich profitieren. lägen manche Angebote der Ökofirma. den tatsächlichen Eingriff.“ Der direkte Sieben Hektar Land haben Veiths Bau- Leidtragende sind die Landwirte: Im Saar- Zusammenhang zwischen einem Bau- arbeiter dort in knapp vier Wochen in ei- land haben sie ihre Anbauflächen häufig vorhaben und der zugehörigen Kompen- nen urwüchsigen Zustand verwandelt. Für nur gepachtet. Unter dem neuen Öko- sation sei nicht mehr gegeben. Den aber 30 Jahre verpflichtet sich die ÖFM, die eigentümer sei an eine intensive Nutzung verlangt eigentlich das Bundesnatur- Fläche für den Naturschutz zu sichern. dann nicht mehr zu denken, so Lauer: schutzgesetz. „Wir werden mehr oder weniger gar „Das ist Sprengstoff hier im Land.“ „Theoretisch können Sie beim Ökokon- nichts machen, damit sich die Natur so ent- Die Kritik von Umweltschützern dage- to ein zerstörtes Hochmoor mit der Pflan- wickeln kann, wie sie will“, sagt Veith – gen setzt direkt bei den Projekten der neu- zung von ein paar Hecken verrechnen“, leicht verdientes Geld für die Firma: Rund en Naturverbesserer an. Joachim Götz befürchtet auch Dirk Jansen vom BUND in 600000 Ökopunkte bekommt die ÖFM für vom saarländischen Bund für Umwelt und Nordrhein-Westfalen: „Das sind doch ma- das Projekt von der Landesregierung gut- Naturschutz (BUND) etwa, selbst im Auf- thematische Taschenspielertricks.“ Jansen geschrieben. Das entspricht etwa einer hal- sichtsrat der ÖFM, bestreitet den Sinn so glaubt sogar, dass Ökokonten Eingriffe in ben Million Euro. Philip Bethge

126 der spiegel 52/2004 Technik

MASCHINEN Sägen ohne Sünde Weihnachtsbäume können bald waldschonend geerntet werden: Im neuen Jahr kommt die erste Kettensäge mit Ökomotor.

as Gerät klingt stumpf und brum- mig, nicht schneidend schrill. Doch Dzügig raspelt sich die Sägekette durch den Baumstamm. „Sie arbeiten mit der saubersten Benzin- motorsäge der Welt“, doziert Ernst Go- renflo, Chefentwickler der Dolmar GmbH in Hamburg-Wandsbek. Er schuf mit dem jüngsten Modell ein Werkzeug von wider- sprüchlichen Qualitäten: Vorn ritzt es am Baum – aber hinten schont es den Wald.

Denn als erste Kettensäge mit Viertakt- BEN BEHNKE motor stößt die Dolmar PS-500 V bis zu 80 Waldarbeiter mit Dolmar-Viertaktsäge: „Sie wird ein Liebhaberstück werden“ Prozent weniger Schadstoffe aus als die handelsüblichen Zweitakter – und markiert Seither ist Leichtbau das oberste Ent- wurden zu Wurst“) gleichermaßen uner- damit das wohl einschneidendste Ereignis wicklungsziel der Sägenhersteller. Schwe- freuliche Erfahrungen mit einem Westpro- im Industriezweig handgeführter Motor- re Profigeräte wiegen heute nur noch acht dukt der Marke Stihl machen. geräte, seit Aktionskünstler Marko König bis zehn Kilogramm. In den Farmer- und Die Hersteller können solchem Säge- Anfang Februar bei dem Versuch, motor- Hobbyklassen sind sogar nur fünf Kilo- werk wenig abgewinnen. „Wir befassen uns sägend einen BH zu öffnen, einer Dame gramm und weniger die Regel. mit diesen Filmen in dem Sinne, dass sie von fragwürdiger Provenienz unschöne Die Konstrukteure sahen deshalb bis- uns stören“, sagt Dolmar-Marketingleiter Verletzungen zufügte. lang keine Alternative zu den mechanisch Jörg Niermann und verweist darauf, dass Die Zähne einer Sägekette sind traditio- simplen Zweitaktmotoren: Sie sind leich- die Kettensäge in der Kriminalität „eher nell dem Kauorgan der Holzkäferlarve „Er- ter, drehzahlfreudiger und leistungsstärker ungebräuchlich“ sei. als die behäbigen Viertakter. In gewaltfreier Mission fährt die Dol- Als prinzipbedingter Nachteil mar-Belegschaft stets vor Weihnachten in bleibt nur das weitaus giftigere den Sachsenwald bei Hamburg. Jeder Mit- Abgas. arbeiter darf dort friedlich auf Kosten des So spricht allein der morali- Hauses einen Weihnachtsbaum erlegen. sche Anspruch, beim Sägen Glühwein und Punsch werden gereicht. kein Umweltsünder sein zu Wer denkt da an Massaker? wollen, für den Kauf der neuen Zur bisher kühnsten Zweitnutzung ihrer Viertakt-Ökoversion. „Sie wird Arbeitsgeräte sahen sich die Hamburger ein Liebhaberstück werden“, Sägenfabrikanten durch den norddeut- hofft Chefentwickler Gorenflo. schen Brachialkomiker Rötger Feldmann

JOCHEN LUEBKE / DDP JOCHEN LUEBKE Forsttechnikprofessor Jörn Erler inspiriert. Der als „Brösel“ firmierende Sägen-Motorrad „Dolmette“: Kühne Zweitnutzung indes bezweifelt eine solch Comiczeichner sieht in der Erschaffung emotionale Bindung an das wunderlicher Riesenkrafträder einen zen- gates spiculatus“ nachempfunden und wer- Arbeitsgerät: „Die Motorsäge ist ein so tralen Baustein seines künstlerischen Wir- den seit Jahrzehnten als hocheffiziente gefährliches Instrument, dass es schwer- kens. Dolmar-Ingenieur Walter Stindt Schneidewerkzeuge geschätzt. 1927 stellte fällt, sie lieb zu gewinnen.“ wohnt in seiner Nachbarschaft. Dolmar die erste Kettensäge mit Benzin- Kein Wunder also, dass das prosaische Nach einem Grillfest entstand die Vision motor vor. Der zentnerschwere Apparat Schneidewerkzeug bisher eher als Requisit der „Dolmette“: eines knapp vier Meter lan- wurde auf Rädern durchs Gehölz gekarrt. bizarrer Gewaltästhetik für Aufsehen sorg- gen, rund 170 PS starken Motorrads, für des- Zu seiner Bedienung waren noch zwei star- te. Tobe Hoopers Kinofilm „The Texas sen Vortrieb 24 Kettensägenmotoren sorgen, ke Männer nötig. Chain Saw Massacre“ aus dem Jahr 1974, die aus einer der stärksten Zweitaktsägen- Erst in den späten vierziger Jahren er- in dem eine ethisch irritierte Schlachter- Serie der Dolmar-Palette stammen. schienen die ersten Ein-Mann-Sägen familie ahnungslose Ausflügler mit der Ein Jahr später war das Gefährt startklar („EMS“). Sie wogen knapp 20 Kilogramm Motorsäge entleibt, brachte es immerhin und trat im vergangenen September zur und bescherten den Waldarbeitern einen in die Sammlung des Museum of Modern Wettfahrt gegen einen 400 PS starken sprunghaften Anstieg der Gehälter. Denn Art in New York. Renn-Audi an. bezahlt wurde generell im Gruppenakkord, Regie-Rabauke Christoph Schlingensief Leider funktionierten nur 20 der 24 Mo- und die Produktivität erhöhte sich durch teutonisierte den Stoff 1990 als „Das deut- toren. Die Dolmette unterlag knapp. Ab- den Einsatz der handlicheren Werkzeuge sche Kettensägenmassaker“, in dem Ost- gaswerte wurden nicht ermittelt. immens. übersiedler („Sie kamen als Freunde und Christian Wüst

128 der spiegel 52/2004 Szene Kultur

ERINNERUNGEN Kuppelei und Karriere er sich erinnert, das weiß Hellmuth WKarasek, 70, der „macht sein Leben zur Erzählung“ – ob er will oder nicht. Der Schweizer Max Frisch hat es so formuliert: „Alle Geschichten sind er- funden, Spiele der Einbildung, Entwürfe der Erfahrung.“ Wer sich dessen bewusst ist, kann dennoch oder gerade deswegen vertrauenswürdige Memoiren schreiben. Karasek, 18 Jahre Ressortleiter beim SPIEGEL und heute als häufiger TV- Talkgast und Buchautor viel auf Achse, springt zu Beginn seiner Lebenserinne- rungen „Auf der Flucht“ mitten hinein in eine Weihnachtsszene: 1944, er ist zehn Jahre alt, erhält er die erste elektri- sche Eisenbahn – und

muss sie schon zwei CINETEXT Tage später in Bielitz Kidman in „Birth“ zurücklassen. Aus Furcht vor der sich Kino in Kürze „In 80 Tagen um die Welt“ ist eine über- nähernden Roten raschend lahme Neuverfilmung des Ro- Armee verlässt die „Birth“. Im Schattenreich zwischen Leben manklassikers von Jules Verne. Unter Familie Wohnung und und Tod, von „Orpheus in der Unter- der Regie von Frank Coraci darf Jackie Stadt, und für den welt“ bis „The Sixth Sense“, verliert Chan zwar nach Lust und Laune Kampf- Knaben endet damit der Zuschauer leicht den Überblick. In kunstkapriolen schlagen, zu keiner Zeit nicht nur die als er- „Birth“, einem wahren Hochglanzpro- jedoch kann der Film Reiselust und das schreckend erlebte dukt des untoten Genres, ereilt dieses Gefühl von Fortbewegung vermitteln. Ausbildung auf einer Napola, einer Nazi- Schicksal auch die reiche New Yorker Wie ein flüchtiger Tourist hakt er seine Eliteschule, sondern es beginnt eine Witwe Anna (Nicole Kidman). Zehn Jah- Stationen ab. Selbst Arnold Schwarzen- Wanderschaft in Etappen: erst nach Nie- re nach dem Tod ihres Mannes ringt sie egger wird bei dieser Sightseeing-Tour- derschlesien, dann 1946 (die Vertrei- sich zu einer neuen Ehe durch, als plötz- de-Force nur als bröckelndes Denkmal bung) weiter in die spätere DDR – das lich ein zehnjähriger Junge (Cameron seiner selbst ins Bild gesetzt. spannende Kapitel heißt „Eine Jugend Bright) auftaucht und behauptet, er sei ihr unter Stalin“ – und 1952, mit dem Ost- verstorbener Gatte. Mit intimen Details Abitur in der Tasche, die Flucht in die aus ihrem Leben verstört der ernst drein- Bundesrepublik. Vom anschließenden blickende Bengel die trauernde Frau und Studium in Tübingen erzählt Karasek mischt ihre saturierte Familie auf. Mit kaum Glaubliches aus einer fernen Zeit, großartigen Darstellern – neben Kidman in der ein Kuppelei-Paragraf schon das vor allem Lauren Bacall – und durch den Ermöglichen von „Unzucht“ unter virtuosen Einsatz von Kamera und Musik Strafe stellte und die Herren Studenten verwandelt Regisseur Jonathan Glazer

wünschten, jungfräuliche Mädchen zu („Sexy Beast“) die krude Reinkarna- / BUENA VISTA UNIVERSUM heiraten – gleichzeitig aber mit Studen- tionsposse in eine suggestive Stilübung. Szene aus „In 80 Tagen um die Welt“ tinnen aus dem Ausland das vorwegnah- men, was dann die 68er auf ihre liber- tären Fahnen schrieben. Vom Geist dieser Revolte zugleich irritiert und beflügelt, startet Karaseks berufliche HOLLYWOOD Laufbahn, die er keineswegs verklärt: „Journalisten sind Idealisten und Karrie- Coppolas Dosen-Schampus risten zugleich.“ Er zeigt auch in den Porträts dieses Buches, wie gut er sein eit Jahren macht Filmregisseur Francis Ford Coppola, 65, weniger Handwerk versteht: ob über Woody Sdurch Leinwand-Epen wie „Der Pate“ (1972) von sich reden als Allen, Rudolf Augstein, Marcel Reich- durch die Tropfen, die er auf seinem Weingut im kalifornischen Napa Ranicki oder Martin Walser. Und auch Valley keltern lässt. Der Sekt Marke „Sofia Blanc de Blancs“, be- ein anderes Porträt ist gelungen: das des nannt nach Coppolas Tochter (der Regisseurin des Liebesfilms „Lost Chronisten selbst – der hier aus seinem in Translation“), erwies sich als so populär, dass sich der Tycoon ent- Leben wahrlich Erzählung macht, höchst schloss, ihn auch in Dosen abzufüllen – mit rasendem Erfolg: Mehrere informativ und unterhaltsam. Millionen der rosafarbenen Blechbehälter sind seit dem Frühjahr in den USA zum Preis von fünf Dollar das Stück bereits verkauft wor- Hellmuth Karasek: „Auf der Flucht“. Ullstein Verlag, den. Vor allem bei Frauen, so heißt es, komme die Schampusdose gut Berlin; 528 Seiten; 24 Euro. Sektdose an: Sie würden das sanfte „Plop“ den knallenden Korken vorziehen.

der spiegel 52/2004 131 Szene DON EMMERT / AFP (L.); METROPOLITAN MUSEUM (R.) / AFPDON EMMERT (L.); METROPOLITAN Objekte, Gardner-Poster in der New Yorker „Wild“-Ausstellung

AUSSTELLUNGEN Schlange auf der Haut chon die alten Ägypterinnen haben Leopardenfelle auf Lei- Snen genäht und sich den Stoff dann um den Körper ge- schlungen – eine solche Kreation galt als tierisch schicker Fum- mel und hielt auch noch warm. Wie Häute, Felle und Federn seit Jahrtausenden – bis heute – die Kleidung und schließlich die Kunst beeinflussen, das zeigt eine Ausstellung im New Yor- ker Metropolitan Museum of Art unter dem Namen „Wild: Fashion Untamed“ (bis zum 13. März 2005). Auf einem Gemäl- de aus dem 19. Jahrhundert etwa posiert eine Dame, die nichts außer einer Schlange anhat. Und in den Vitrinen hängt die der Marderarti- „ungezähmte Mode“ von Designern wie Christian Dior oder gen“ berücksichtigt Jean-Paul Gaultier; vom Italiener Roberto Cavalli stammt ein werde – weil so viele Hermeline Kleid aus pinkfarbenen Straußenfedern. Als legendär gilt auch und Nerze vertreten seien. Und das eine oder andere Filmkostüm, etwa Ava Gardners Bade- auch wenn die Anti-Pelz-Aktio- anzug im Leopardenmuster, ein Lammfellbikini von Raquel nen der Tierschutzorganisation Welch und der Katzenanzug, den Michelle Pfeiffer in „Batmans Peta im Katalog dokumentiert würden – die Schau sei „nahe Rückkehr“ trug. Die „New York Times“ lästerte darüber, dass dran, als die politisch inkorrekteste Ausstellung des Museums“ in dieser modebewussten Schau auch „der Beitrag der Familie zu gelten.

BERT STERN / VOGUE / CONDE NASTPUBLICATIONS / METROPOLITAN MUSEUM

KULTURGESCHICHTE gewesen sein: Die Germanen schlürften aus ihren Kesseln bevorzugt Skaldenmet, einen urigen Honigwein. Prompt Magie der Gefäße fühlten sie sich weise. Auch biblische Propheten mussten den ei- nen oder anderen Schluck aus Kelchen nehmen, bis sich Visio- enn die Kelten jemanden verehrten, dann musste es ein nen einstellten. Im Hinduismus – und diversen anderen Religio- Wrechter Haudegen sein. Gern erzählten sie sich die nen – fabulierte man über einen Becher der Unsterblichkeit. Legende vom riesenhaften Kämpfer Conall Cernach, der Geg- Wenn es um Gefäßsagen geht, erscheint die Welt globalisiert. In nern die Köpfe im Akkord abschlug. Noch nach seinem Tod Afrika glaubte man vor Urzeiten daran, alles Übel (etwa wilde bewirkte das Heldenmonster Erstaunli- Tiere, Krankheit, Tod) sei einer Kürbis- ches. Sein Schädel diente als Milchkrug: flasche entwichen, die vom Honigvogel Erschöpfte Krieger tranken daraus und geöffnet worden sei. Die alten Griechen erstarkten fix wieder. Das christliche Eu- bildeten sich ein, das Verderben sei in ropa, dem die Skelettumnutzung vertraut paradiesischen Zeiten in einer Büchse war, verarbeitete Hirnschalen von Heili- verschlossen gewesen – bis Pandora, die gen zu Kelchen. Behältern aller Art erste irdische Frau, sie blöderweise wurde stets Mythisches angedichtet – aufgemacht habe. Bei den Efe-Pygmäen wie die Schau „Welt der Gefäße“ in der war der Unglücksrabe ein Frosch, der Ludwig Galerie im Schloss Oberhausen einen vom Tod bewohnten Topf zer- belegt (bis 30. Januar). Gezeigt werden brach. Hollywood favorisierte später etwa 7000 Jahre alte chinesische Ampho- blonde Flaschengeister, und Künstler ren oder präkolumbianische Fruchtbar- Pablo Picasso nahm den Mythos um keitsgefäße. Kaum ein kultisches Ritual, die Hohlkörper sowieso heiter: Eine sei- ANTIKENMUS. BASEL UND SAMMLUNG LUDWIG UND SAMMLUNG ANTIKENMUS. BASEL kaum eine Kultur kam ohne Zauberpokal BILDARCHIV/VG LUDWIG/RHEIN. SAMMLG. BONN 2004 BILD-KUNST ner Vasen besitzt drei Beine und ein net- aus. Auch der Inhalt könnte inspirierend Picasso-Werk (1952), antikes Tongefäß tes Gesicht.

132 der spiegel 52/2004 Kultur

KUNST brauchen sie unsere Hilfe, daher SPIEGEL: Das Studium beschäftigt hat die Künstlerin Katharina sich mit Kunst in der Öffentlich- Müllsäcke Hohmann die Aktion entworfen. keit. Ist diese Aktion Kunst? SPIEGEL: Was kostet ein Student? Bachhuber: Durchaus. Weimar ist zu Weihnachten Bachhuber: Zwischen 60 und 300 sehr auf Klassik fixiert, zeit- Euro monatlich. Wir bieten die genössische Kunst hat es schwer. Liz Bachhuber, 51, Kunstprofessorin Patenschaftsmodelle „Business“, Wir wollen das ändern. der Bauhaus-Uni Weimar, über die Ak- „Economy“ und „Proviant“. SPIEGEL: Sie selbst kamen vor tion „Adoptieren Sie einen Studenten“ Das klingt witzig, ist aber ernst. 25 Jahren aus den USA nach Es gab Studenten, die sich kein Bachhuber Düsseldorf. Hatten Sie Schwierig- SPIEGEL: Sie bieten Patenschaften für Essen leisten konnten. keiten? Ihre Kunststudenten an. Wie kamen Sie SPIEGEL: Kann aus Patenschaft auch Bachhuber: Nein, Düsseldorf war phantas- auf die ungewöhnliche Idee? Freundschaft werden? tisch. Aber dort rüttelt aktuelle Kunst heu- Bachhuber: Unser Studiengang „Kunst Bachhuber: Wir wollen Sponsoren, keine te nicht mehr auf. Was wir in Weimar tun, im öffentlichen Raum“ wurde vor drei persönlichen Kontakte. Das Geld geht ist für die Bürger ganz neu. Wenn unsere Jahren mit Geld des Deutschen Akade- über die Universität an die Bedürftigen. Studenten eine Kunstaktion veranstalten mischen Austauschdienstes gegründet. Kein Pate soll seinem Studenten eine und auf dem Weihnachtsmarkt heliumge- Nun läuft die Förderung aus. Es sind neue Hose kaufen, aber für ein Jahr die füllte Müllsäcke verkaufen, sind die Leute Gaststudenten aus dem Ausland, die Miete zahlen. Am Ende des Jahres be- durchaus positiv gestimmt. Nur die Müll- früher oft Stipendien bekamen. Diesmal kommt er ein Kunstwerk. säcke, also die Kunst, kauft fast keiner.

COMICS felten Suche nach Anpassung. „Gescheitert“ kehrt sie vier Jahre später nach Iran zurück. Heiße Feste, brutale Folter Dort muss sie sich wieder in die repressive Atmosphäre einfinden und erlebt so manche n der Comicliteratur stoßen autobiografi- absurde Situation: Einmal wird sie per Laut- Ische Berichte aus Kriegs- und Krisengebie- sprecher von Polizisten angehalten, als sie ten auf zunehmendes Interesse und bilden dem Bus hinterherläuft, weil ihr Hintern an- ein neues Genre. Eine solche Innenansicht geblich beim Rennen so unkeusch wackle. bietet auch der mehrfach preisgekrönte Co- „Dann glotzt mir doch nicht auf den Arsch!“, mic „Persepolis“ der Iranerin Marjane Satra- brüllt sie so laut zurück, dass die Männer pi, 35. Der zweite Band ist jetzt auf Deutsch ganz vergessen, sie festzunehmen. Ein ander- beim Zürcher Verlag Edition Moderne er- mal wird in ihrem Büro ein Karikaturist ver-

schienen. „Jugendjahre“ beginnt 1984 in ei- MODERNE 2004 EDITION haftet, weil er statt der weiblichen Rapunzel ner Wiener Nonnenpension. Die 14-jährige „Jugendjahre“-Comicszene einen bärtigen Mullah auf dem Turm ge- Marji wurde von ihren Eltern allein ins Exil zeichnet hat. Die humorvolle Darstellung geschickt, um sie vor dem Irak-Iran-Krieg und dem restriktiven ernster Inhalte wie Zensur oder brutale Folter, aber auch des Regime der Mullahs in Sicherheit zu bringen. Doch das Mädchen schizophrenen Alltags der iranischen Gesellschaft zwischen fühlt sich dort bald einsam und unverstanden. Satrapi erzählt angstvoller Unterwerfung und heißen Festen, macht die Stärke selbstironisch und humorvoll von Fremdenhass und der verzwei- der an sich nüchtern wirkenden Schwarzweißzeichnungen aus. „Die letzte Lebensglut“ Nach dem Harry-Potter-Zauber stürzt sich das mythengierige Publikum auf die nächste Rätseldroge: die Suche nach dem Heiligen Gral. Bücher wie Dan Browns Bestseller „Sakrileg“ und Filme wie „Das Vermächtnis der Tempelritter“ erzählen die uralte Abenteuergeschichte mit neuer Lust am Fabulieren.

AKG (5); BRIDGEMAN; PETER GREENHALF/CORBIS; COLLAGE: DER SPIEGEL ona Lisa, warum lächelst du nur? Porträt einer florentinischen Kaufmanns- selbst: die Renaissance ihr Ideal, die Ro- Seit Jahrhunderten steht die gattin wächst in den Augen jenes Be- mantik die eigene Todessehnsucht, die MMenschheit ehrfürchtig vor die- trachters zur unheimlichen Gestalt: „Durch Moderne das Gegenteil ihrer selbst. sem Bild aller Bilder und rätselt. ihre Schönheit ging die Seele mit all ihren Seit jüngster Zeit nun blickt eine bisher Der Schöpfer Leonardo da Vinci, so ein Krankheiten“, heißt es da und: „Sie weiß unbekannte Gruppe in diesen Seelenspie- Bewunderer von 1869, habe all das ausge- um die Geheimnisse des Grabes.“ gel, der hinter schusssicherem Glas im drückt, „was der Mensch sich seit einem Die „Gioconda“ – eine unergründliche Pariser Louvre hängt. Die Bewunderer mit Jahrtausend gewünscht haben mag“. Und Projektionsfläche der Zeitalter, jede Epo- dem Fahnderblick haben ganz anderes im das zwischen 1503 und 1506 entstandene che entdeckt in dem Porträt Teile von sich Kopf als die Geheimnisse der Kunst. Ihnen

134 der spiegel 52/2004 Titel geht eine ungeheuer spannende Szene aus und zwar ganz schön realistisch: Die ka- zugehörig, variiert das Pokalmotiv beson- einem ungeheuer spannenden Thriller tholische Organisation Opus Dei ist bei ders ergreifend und eigenwillig: Die ster- nicht aus dem Kopf. Brown ein Hort des Bösen; ein Mitglied bende Geliebte gab dem König „einen Die Story – düster, unheimlich, atem- der Organisation verdingt sich als Mörder. goldnen Becher“ – „die Augen gingen raubend: Der Louvre-Direktor ist gerade Das Opus Dei, von dem spanischen ihm über, so oft er trank daraus“. Eines ermordet worden, er ist Träger eines dunk- Priester Josemaría Escrivá de Balaguer y Tages, er war nun selbst dem Tode nah, saß len Geheimnisses. Seine Enkelin ahnt Albás 1928 ins Leben gerufen – der Papst er „… beim Königsmahle, / Die Ritter etwas. Sie weiß, dass die Mona Lisa das sprach den konservativen Geistlichen vor um ihn her,/Auf hohem Vätersaale/Dort Eingangstor zu einer rätselhaften Welt ist. zwei Jahren heilig –, genießt einen zwei- auf dem Schloss am Meer./Dort stand der Mit einem UV-Strahler leuchtet die Frau felhaften Ruf. Denn innerhalb der knapp alte Zecher, / Trank letzte Lebensglut / auf die Glasscheibe vor dem Leonardo- 86000 Mitglieder starken Organisation – Und warf den heil’gen Becher/Hinunter Gemälde. Und in violetter Schrift ist ein drei Viertel sind spanischsprachig – ver- in die Flut.“ Menetekel zu lesen: „So Dark The Con Of muten Kritiker noch immer mafiöse Struk- Der „heil’ge Becher“ aus Gold, gefüllt Man“. Zu deutsch: „Oh, ein dunkles Ka- turen: Opus-Dei-Frauen und -Männer wür- mit mystischer „Lebensglut“ – das wäre auch pitel ist der Betrug an der Menschheit.“ den sich oft nicht einmal kennen, es gebe eine plausible Gralsversion. Jedenfalls ist Spätestens hier hat es die neue Gruppe zahlreiche Tarnorganisationen, mit denen der Gral ein magischer Pott, und seine Ge- der Museumsbesucher gepackt. Sie haben das öffentliche Leben unterwandert werde. schichte eine Thrillerstory, die fast alle Fan- den Thriller des amerikanischen Schrift- Opus Dei ist wachsam und verbreitet ge- tasy-Märchen von den Rittersagen des Mit- stellers Dan Brown, 40, gelesen: „Sakri- gen Browns Buch einen Abwehrzauber. telalters über Friedrich de la Motte Fouqués leg“**. Dessen Sog entkommt niemand Der Bestseller, hieß es in einer Opus-Dei- „Der Parcival“ und Richard Wagners letz- so leicht. Stellungnahme, bezichtige die Organisa- tes Bühnenwerk „Parsifal“ bis hin zu Um- Auf der Welt sind es fast 22 Millionen, im tion zu Unrecht der Frauenfeindlichkeit. berto Ecos „Baudolino“ inspiriert hat. deutschsprachigen Raum fast eine Million Aus Angst vor Repressalien sollen bei der Ungleich holzschnitthafter als der Best- Menschen, die in „The Da Vinci Code“ (so geplanten Verfilmung des „Sakrilegs“ die sellerautor Brown haben in jüngerer Ver- der englische Titel) eingetaucht sind: Jetzt antikatholischen Aussagen entschärft und gangenheit etwa Filmemacher wie Steven hat das Buch aus den Lesern Mittelalter- der Name Opus Dei weggelassen werden. Spielberg die Story der Gralssuche als wil- Verehrer, Buchstabenenträtsler, Bibelfor- Viele der Figuren des Buchs sind geplagt de Abenteuergeschichte erzählt. Spielbergs scher und Verschwörungstheoretiker ge- von einer unheilbaren Gefäßkrankheit: der „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“ macht. Wenn die Mona Lisa bisher keinen Suche nach dem Gral. aus dem Jahr 1989, mit Sean Connery und handfesten Grund zu lächeln gehabt hätte, Es ist ein Stoff, der seit über 800 Jahren Harrison Ford, begeisterte das Publikum – spätestens jetzt hat sie einen. in der Literatur Furore macht: die Jagd und ist erkennbar das Vorbild des aktuel- Denn als Dan-Brown-Leser lugt man an- nach jenem geheimnisvollen Gefäß, in dem len amerikanischen Kinohits „Das Ver- gestrengt auf die wilden Landschaften hin- nach einer Bibel-fernen Überlieferung bei mächtnis der Tempelritter“, den der Holly- ter der Lächelnden. Die linke Landschaft, so der Kreuzigung das Blut Christi aufgefan- wood-Erfolgsproduzent Jerry Bruckheimer wissen die „Sakrileg“-Kenner, ist niedriger gen worden sein soll. Wundertätig, le- ausgeheckt hat. als die rechte. Auch würden die neuen Kunstdetektive gern mal die Rückseite des berühmten Gemäldes inspizieren und das Glas vor dem Bild: Finden sich da vielleicht irgendwo aufgekritzel- te mysteriöse Zahlenreihen? Browns Bestseller treibt „Sa- krileg“-Touristen in den Louvre oder in die auf der anderen Seine-Seite gelegene Kirche Saint-Sulpice; nach London in die Westminster Abbey oder in das Mailänder Refektorium von Santa Maria delle Grazie, wo Leonardos „Abendmahl“ zu be- sichtigen ist – eine durchaus ver- ständliche Faszination: Das Buch des milchgesichtigen Sohnes ei- nes Mathematikprofessors, der seine Weihnachtsgeschenke nur durch Lösen von Rechenauf- TIM HAWKINS/EYE UBIQUITOUS/CORBIS TIM HAWKINS/EYE gaben finden durfte, ist zwar kei- AKG ne große Literatur, dafür bester Angebliches Artuskloster Glastonbury, Gralsdichter Wolfram von Eschenbach*: Magischer Pott James Bond. Der Leser des Actionthrillers jagt mit benspendend und strahlend hell soll es Im neuen „Tempelritter“-Spektakel geht den Helden, einem Harvard-Professor und sein, seinem Besitzer winkt langes, wenn es weniger um spirituelle Kräfte als um der Enkelin des Ermordeten, die „Krypto- nicht gar ewiges Leben; wie das Ding je- einen sagenhaften Goldschatz, der auf login“ gelernt hat, durch die Zeiten – zu doch aussieht, ob es ein Pokal ist oder eine krummen Wegen von Schottland über Jesus, zu römischen Kaisern, zu mittelalter- Schüssel, aus Gold oder Ton oder Edel- lichen Tempelrittern, zu einer obskuren stein – nichts steht fest und alles den Fa- * Illustration aus der Manessischen Handschrift (frühes Gesellschaft namens „Prieuré de Sion“, mit bulierkünstlern offen. 14. Jahrhundert). ** Dan Brown: „Sakrileg“. Aus dem Amerikanischen von prominenten Großmeistern an der Spitze. Goethes Gedicht „Der König in Thule“ Piet van Proll. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach; 608 Sei- Auch die Rolle der Bösewichte ist besetzt, (1782), an sich einem anderen Sagenkreis ten; 19,90 Euro.

der spiegel 52/2004 135 Titel den Atlantik verschifft worden ist und in Struktur erscheint den Verschwörungs- den USA versteckt wurde. Spielberg dage- theoretikern handfester als spirituelle gen jagt die Helden seines Films durchaus Gefolgschaft. mit Hoffnung auf umfassende Rettung um Der deutsche Titel des alten Sachbuch- den halben Globus und lässt einen Mu- reißers zeigt die Richtung an, in die der seumsmann sagen: „Die Suche nach dem Zug von Verschwörung und Verdinglichung Gral ist die Suche nach dem Göttlichen in der Religion fährt: „Der Heilige Gral und uns allen.“ seine Erben“ heißt das Buch. Dieses Dan Brown schickt für diese Suche sei- sagenhafte Gefäß, von dem die Bibel nichts ne Jünger nicht in ferne Welten, sondern berichtet, ist das einigende Symbol für in die Geschichte des Abendlandes. Er die guten Gegenverschwörer, die treu und lockt nicht mit Exotika, sondern mit Wis- unbeirrt das Gedächtnis an den Frauen- senssplittern der Computerwelt. Seine versteher, Ehemann und Dynasten Jesus Rätsel sind solche für Google-Hüpfer, die Christus verwahren. computerlexikalisches Wissen neu mon- Welch ein Gegenstand – so richtig mit- tieren und sich so eine neue Historie er- tendrin im symbolischen Aufmerksam- finden. keitsmarkt. Der Glückspilz greift in den Die Geschichtsbastler pfeifen auf aner- Jackpot, der Fußballwahnsinnige nach den kannte Regeln und wissenschaftliche Pokalen und Meisterschalen. Noch immer Schiedsrichter – sie halten sich für unwi- steht das Trinkgefäß als höchster Ausdruck für kommunikatives Glück. Prost, wir alten DEM BESITZER DES Blutsäufer und Menschenfresser; zum HEILIGEN GRALS, Wohl, du lieber Partner; wie gut, dass wir „Parsifal“-Inszenierung (in Bayreuth, 2000): Eine mal wieder zusammen einen geschlürft SO HEISST ES, haben. Zusammen zu trinken ist ein biss- Aber über die Bedeutung des Abend- WINKT EWIGES LEBEN. chen wie zusammen zu schlafen, nur nicht mahls herrschte Uneinigkeit. Ist der Kelch ganz so folgenreich. nur ein Symbol oder ist sein Inhalt tatsäch- derlegbar und wollen nur eins: ungestört Ist der Gral schon geheimnisvoll, so ist lich Jesu Blut und, zusammen mit dem unter sich bleiben und vor sich hin spinnen. es sein Inhalt erst recht. Was fließt in ihm: Brot, der ganze Jesus, seine ungeteilte Prä- Browns „Sakrileg“ trifft eine Zeitstim- Wein? Blut? Nur das, was man glaubt? senz, so dass alle weitere Suche nach den mung. Es handelt sich um die fixe Idee, Oder gar gar nichts? Die Eiferer der Re- irdischen Spuren Jesu überflüssig wäre? dass hinter den offiziellen Interpretationen formationszeit haben sich über das Abend- Browns Roman gibt auf dieses Rätsel der Wissenschaften und Medien eine bisher mahl und seinen Kelch, den Jesus seinen keine Antwort. verdeckte Wahrheit existiert. Der ameri- Jüngern im Angesicht des nahen Endes Ähnlich wie Erich von Dänikens lange kanische Autor bedient die Lust auf Ge- reicht, zerstritten. Bei den Katholiken dür- Zeit höchst erfolgreichen Phantasmen heimnisse in einer informationsübersättig- fen aus ihm meist nur die Priester trinken, über die irdischen Machenschaften der ten und scheinbar auserklärten Welt. Und bei den Lutheranern alle. Außerirdischen und Harry Potters Mär- er will sein Publikum aus der Passivität Dieser Akt ist mehr als nur kultische chenstunden ist die Brownsche Schnitzel- locken. Seine Leser sollen das Bekannte Handlung. Er wird zum Sakrament, also jagd nach sinistren Verschwörungen durch noch einmal lesen – allerdings mit den Ent- zu einer Veranstaltung, die, wenn man zwei Jahrtausende Abendland ein be- schlüsselungsvorgaben des Autors. an ihr teilnimmt, nicht dem Gutdün- herzter Angriff der modernen Laien- Für den Krimiautor Brown und seine ken des Menschen unterworfen, sondern phantasie auf die erklärte Welt. Die Muster geistigen Wegbereiter, die Journalisten von höherer Art ist. Der Gottessohn der Attacke sind aus den Werkstätten der Michael Baigent, Richard Leigh und Hen- gibt sich hin, der am Abend- ry Lincoln, die 1982 die Sachbuchvorlage mahl Teilnehmende kann nicht für den „Sakrileg“-Thriller lieferten, ist – mehr ablehnen. Selbst die dem Zeitalter der Genforschung höchst Unfrommen, so sah es Lu- angemessen – Blut allemal dicker als ther, werden durch den Akt die Wasser des Geistes. Die dynastische genährt.

Vom Mythos zum Thriller Die Geschichte des heiligen Grals

Spätantike Wurzeln: um 1185 Chrétien de Troyes – „Perceval“ • Nikodemus-Evangelium verbindet die Artussage mit der erzählt die Legende von Geschichte vom Gefäß namens „Gral“ Josef von Arimathäa und dem Gefäß mit Christi Blut vor 1190 Robert de Boron – „Gralsgeschichte“ Josef von Arimathäa vererbt den Gral Lancelot vor der Kapelle mit dem heiligen Gral • Longinus-Legende um die (Gemälde von Sir Edward Burne-Jones, um 1890) blutende Lanze des Soldaten nach Westeuropa LIBRARY ART THE BRIDGEMAN bei der Kreuzigung Christi um 1210 13. bis 14. Jahrhundert Wolfram von Eschenbach – „Parzival“ Prosaromane verschmelzen Artus- und Grals- Keltische Sagen erzählen von schildert nach Chrétiens Vorbild die Gralsburg sage mit anderen Mythen. Neue Gralshelden König Artus und seinen Rittern mit „Templeisen“ sind Lancelot, Gawein und Galahad Historische 1209 bis 1229 1307 Ereignisse Feldzüge gegen die Katharer in Südfrankreich Vernichtungsschlag gegen den Tempelritter-Orden

136 der spiegel 52/2004 WILHELM RAUH / BAYREUTHER FESTSPIELE / BAYREUTHER RAUH WILHELM Mischung aus Erotik und Askese, christlichem und heidnischem Symbolzauber

Ideologie bekannt: Am Anfang stehen Ge- Jesus – ein Familientier: Ziemlich be- Also bemühten sich die leitenden Herren heimnis und Verschwörung. denkenlos projiziert die laienhafte Fabu- des neuen Glaubens, alles zu unter- Brown setzt an der heiklen und in der lierfreude heutiges Verständnis in fernes drücken, was Jesus mit Weiblichem in Ver- Tat sehr schwierig erklärbaren Entstehung und anderen Gesetzmäßigkeiten gehor- bindung brachte: seine Geburt – keine Fol- und Ausbreitung des Christentums an. Da chendes historisches Material. ge gewöhnlichen Geschlechtsverkehrs, son- schwankt der erforschte Grund schon im- Und wenn etwas nicht so ist, wie man dern die Niederkunft einer Jungfrau. Auch mer, da ist leicht sagen: Alles war ganz es sich in den kleinfamiliären Vorstadtwel- Jesu revolutionäres, positives Verhalten zu anders. Jesus, von dem nach wissenschaft- ten der USA als korrekt vorstellt, dann Frauen korrigierten die Kirchenväter. Für lichem Kenntnisstand kein schriftliches müssen da eben Verschwörer am Werk nachfolgende Bibelleser war Maria Mag- Zeugnis überliefert ist, hat, darauf baut gewesen sein. Die Vermutung einer regel- dalena eine bekehrte Hure. Browns Thriller auf, Nachkommen ge- rechten Konspiration geht sehr weit. Aber Jesus wurde, als das Christentum römi- zeugt. Seine, ja wirklich, schwangere nicht zu leugnen ist, dass Brown Recht sche Staatsreligion geworden war, in Browns Gattin, Maria Magdalena, entkam den rö- hat, wenn er schreibt, die Kirchenväter Sicht, zum göttlichen Hagestolz hochstili- mischen Häschern und landete in Süd- und der erste zum Christentum übergetre- siert, ohne Verwandtschaft, ohne trautes frankreich. Dort brachte sie, so heißt es in tene römische Kaiser Konstantin I. hätten Heim, ohne Kuscheln am Busen einer Frau. „Sakrileg“, eine Tochter zur Welt, deren eine wichtige Rolle der Frauen in der Kir- Die Verschwörer verfälschten, so Brown, Nachfahren sich mit den Merowingern che abgelehnt. Ob das von Brown unter- entsprechend die Überlieferung. verbanden. stellte Motiv für die leitenden Herren der Tatsächlich aber berichtet das Neue Tes- Geschichten, die nicht nach Bibel, eher frühen Kirche – sie hätten ein Aufleben tament von Jesu Familie: Seine Verwand- nach „Gala“ klingen: Der Gottessohn aus matriarchalischer Kulte befürchtet – ten, ganz unkuschelig, waren nicht einver- dem Geschlecht König Davids verbindet stimmt, kann man bezweifeln; antike Göt- standen mit seiner Wundertäterei in der sich mit Maria Magdalena, auch ein Hoch- terwelt und jüdische Religion hatten hier Fremde. Jesus aber will nicht unter die adelsspross, nämlich aus dem Hause Ben- schon männerfreundlich gewirkt. Das jamin. Und sie begründen eine westeuro- Weib sollte eben keinen kultischen Ein- päische Dynastie. fluss haben. LUCASFILM

18. Jahrhundert 1818 Freimaurerlogen Joseph von Hammer-Purgstall erklärt Templer und Harrison Ford als „Indiana und politische Gralsritter zu Erben uralter gnostischer Geheimkulte Jones“ auf der Geheimbünde im Suche nach Absolutismus AKG 1882 dem heiligen Richard Wagners Gral Verschwörungstheorien „Parsifal“ bündelt um Glauben, Reichtümer die mittelalterlichen ab 1944 und Geheimnisse der Sagen zum Opern- Gralssuche als Schatzjägerei – Schnitzeljagd durch Templer, Neugründung mysterium Frankreich wird inszeniert von Templer-Logen 1900 bis 1940 um 1955 um 1820 Gralsmythen in Pierre Plantard erfindet die Geheimgesellschaft Romantiker entdecken Esoteriker- und „Prieuré de Sion“ als angebliche Nachkommen Christi das Rittertum als Ideal Jugendstilkreisen geläufig 1975 bis heute 1789 Bühnenentwurf für die Sensationsbücher, Gralssucher im Internet, Film-Sagas Französische Revolution Gralshalle in „Parsifal“ und Parodien („Indiana Jones“, „Die Ritter der Kokosnuss“)

der spiegel 52/2004 137 Titel

die halbe Welt reisen, Monster erlegen und um edle Damen werben – und immer wie- der kamen die abenteuerlichen Bildungs- reisenden auch zum Kulturmittelpunkt, dem Artushof. Chrétiens Romane, in fürst- lichem Auftrag entstanden, wurden litera- rische Hits. Das Adelspublikum in Flan- dern, der Champagne oder England kam über sie ins Grübeln: Was ist eigentlich ein richtiger Edelmann? In seinem letzten Werk, entstanden ir- gendwann zwischen 1180 und 1190, spreng- te Chrétien das Erfolgsschema: Perceval, der Titelheld, ist so unbedarft wie noch keiner seiner Vorgänger, weil die Mutter ihn partout nicht Ritter werden lassen woll- te. Draufgängerisch bringt er einen Heraus- forderer mit dem Wurfspieß um – die ed- len Herren der Tafelrunde, die es zu hören bekommen, sind entsetzt. Was tun mit dem Mörder? Zwar bricht Perceval wie seine Vorgänger zu weiteren Heldentaten auf – aber irgendetwas scheint mit ihm nicht zu stimmen. Auf der Suche nach seiner Mutter zieht Perceval umher und kommt dabei an ein Flussufer. In einem verankerten Kahn sieht er zwei Männer; einer angelt. Von ihm hört Perceval, wo er nachts unterkommen könn- te. Bald findet er das Steinhaus, und es erweist sich als Schloss mit Zugbrücke und allem Komfort: Sein Pferd wird ver- sorgt, und dann bringt das Personal ihn in einen riesigen Saal, wo ein Mann – offen- bar der Angler von vorhin – ihn im Lie- gen empfängt: Aufstehen könne er nicht, sagt er. Perceval bekommt ein magisches schlag-

THE BRIDGEMAN ART LIBRARY ART THE BRIDGEMAN kräftiges Schwert geschenkt, aber nach Maria Magdalena (Altarbild von 1526): Bekehrte Hure oder Gattin Jesu? dem Gebrechen seines Gastgebers erkun- digt er sich nicht. Dann trägt ein Knappe Fuchtel der Blutsverwandtschaft, seine fen und schwer zu deuten – passt nicht in eine weiße Lanze durch den Saal, von de- Jünger sieht er als wahre Familie. Browns Konzept. ren Eisenspitze Blut tropft. Andere Knap- Als der Wanderprediger, der keine Jahr- Aber was hat es mit der jahrhunderte- pen kommen mit Leuchtern, und dann ge- tausende überdauernde Kirche gründen alten Geschichte des Grals überhaupt auf schieht noch Seltsameres: wollte und wie seine Jünger das Ende der sich? Einen Gral mit beiden Händen hielt ein Welt unmittelbar erwartete, den Kreuzes- Schon die frühesten Spuren der Story Edelfräulein … er strahlte so hell, dass tod stirbt, ist die Zukunft ungeregelt. sind so rätselhaft, dass die Experten bis das Kerzenlicht dagegen verblasste … Jesu Bruder Jakobus wird antikem Brauch heute um fast jede Einzelheit streiten. Der Gral war aus purem Gold, besetzt folgend Vorsitzender der christlichen Ge- Da gab es keltische Sagen, in denen der mit den kostbarsten Edelsteinen. meinde in Jerusalem – ein orthodoxer König Artus eine Tafelrunde edler Ritter Üppiges Essen wird serviert – aber noch Judenchrist, der das Beschnittensein als immer stellt Perceval aus Angst, sich falsch Voraussetzung für die Teilnahme an den SCHON FRÜHE SPUREN zu benehmen, keine Fragen. Offenbar christlichen Ritualen für selbstverständ- DER STORY SIND SO kommt die Speise auf wundersame Art von lich hält. diesem Gralsding, was immer es genau ist. Doch die Dynamik der neuen Bewegung RÄTSELHAFT, DASS EXPERTEN Selbst beim exquisiten Nachtisch mit Dat- entsteht in den Gebieten, wo das hellenis- BIS HEUTE STREITEN. teln, Feigen und Granatäpfeln bleibt Per- tische Denken bestimmend ist. Eine Ge- ceval stumm. meinschaft findet sich nicht nur über Bluts- um sich versammelt. Irgendwo im Süden Erst am nächsten Morgen wird ihm klar, verwandtschaft oder Reinheitsgebote (ko- Englands – Namen wie Tintagel oder Ca- dass das wohl unklug war: Im Schloss fin- scheres Essen), sondern vor allem über melot sind bis heute im Schwange – könn- det er keine Menschenseele mehr, und geistige Bande: Glaube, Liebe, Hoffnung. te die vorbildliche Hofgesellschaft ihren kaum reitet er verstört über die Zugbrücke Das Verwandtsein wird in seiner theologi- Sitz gehabt haben; jeder der wehrhaften ins Freie, rasselt sie wie von Geisterhand schen Bedeutung abgewertet und Jesus- Sirs hatte vor seiner Aufnahme in die illu- nach oben. Bruder Jakobus zu einem Fossil, das in der stre Schar diverse Abenteuer bestanden. Erst nach und nach erfährt Perceval auf weiteren christlichen Überlieferung keine Der Hofdichter Chrétien de Troyes nutz- weiteren Irrfahrten, welch üblen Fehler er Rolle mehr spielt. te von etwa 1165 an das Material als un- machte, als er schwieg. Bei einem reichen Dieser Gang der wirklichen Geschichte terhaltsamen Serienstoff: In gereimten Ro- Fischerkönig sei er gewesen, der „zwischen – in der Tat wunderlich, schwer zu begrei- manen ließ er kühne junge Recken durch den Hüften“ verwundet sei und dahinsie-

138 der spiegel 52/2004 Titel ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Ruine von Peel Castle auf der Isle of Man: Poetische Gespinste von Heiligtümern, Schatzsuchern und dunklen Mysterien che. Mit einer einzigen Frage nach Lanze Arimathäa bei der Kreuzigung das Blut Doch auch Robert de Boron hat seinen und Gral hätte er den König retten können. Christi aufgefangen habe. Von den Juden „Roman de l’estoire del Graal“ nie vollen- An einem Karfreitag schließlich klärt ein wegen angeblichen Leichenraubs einge- det. Natürlich sprangen andere für ihn ein. frommer Einsiedler ihn auch noch über kerkert, habe Josef dank des wundertäti- In einer der nächsten Versionen der Er- den Gral auf: gen Gefäßes überlebt, sei freigekommen – zählung wurde Perceval zum Sohn Aleins, Der, den man damit speist, ist mein Bru- und habe prompt zum Schutz des Heilig- des Erben und Gralshüters. der; deine Mutter war unsere Schwester tums eine Tafelrunde gegründet. In Wolfram von Eschenbachs mittel- … Der Gral ist etwas so Heiliges, … dass Josefs Schwager Bron (oder Hebron), hochdeutschem „Parzival“ (um 1210), ei- er mit seiner Hostie allein den heiligen ein Fischer, und dessen Sohn Alein sollten nem gewaltigen Erzählmassiv nach dem Mann nährt – seit fünfzehn Jahren schon. laut Himmelsbotschaften den wundertäti- Vorbild Chrétiens, ist zu erfahren, dass all- Schön und gut – aber was ist der Gral gen Gral samt dem mündlichen Segen jährlich am Karfreitag eine weiße Taube denn überhaupt? Wo kommt er her? Wes- Christi an ihre Nachkommen weitergeben. vom Himmel die heilende und speisende halb wirkt er wie Dauerflutlicht, Allheil- Göttliche Offenbarungen hätten die Sippe Kraft des Grals erneuert. Nur Auserwähl- mittel und Tischleindeckdich zugleich, ent- dafür in den Westen gelockt, in ein un- te können ihn wahrnehmen. Die Gralsburg, hält aber wenig später einfach die Hostie wirtliches Tal namens „Avaron“. So sei die in deren Tempel das Heiligtum ruht, heißt des christlichen Abendmahls? Reliquie nach Europa geraten – vielleicht nun Munsalvaesche (vielleicht eine fran- Chrétien de Troyes blieb die Antwort gar auf jene Insel Avalon, die in den Rit- zösierte Version von „Wildenberg“). schuldig: Er hinterließ den „Conte du tergeschichten von Artus vorkommt und Wolfram, einer der herausragenden Graal“ unvollendet. Gerade das aber lock- schon mal mit der realen Isle of Man vor Dichter des Mittelalters, löste die erzähle- te etliche Fortsetzer an: Sollten die bizar- Englands Westküste gleichgesetzt wurde. rischen Rätsel auf eigene Art: Bei ihm hü- ren Ereignisse Sinn haben, musste tet ein Elitekorps priesterlich ehe- schließlich mehr auf dem Spiel ste- loser „Templeisen“ und vorneh- hen als die übliche Artusritter-Be- mer Damen das Kleinod, das hier währung; verweisen doch schon nicht als Schale, sondern als Edel- Abendmahl und Heiligkeit auf stein auftaucht. Ewigkeitswerte – und erst die selt- Nur der Gralskönig selbst darf samen Utensilien: Erinnert zum heiraten – eine Frau, deren Name Beispiel die blutende Lanze nicht bei gegebener Zeit auf dem Wun- an den römischen Soldaten Longi- derklotz erscheint. nus, der nach alten Legenden Jesus Bei Wolfram haben Gralssippe am Kreuz mit der Lanze stach? und Artuskreis gemeinsame Vor- Robert de Boron, ein Dichter- fahren, das Heilsmärchen wird zur kollege Chrétiens, erklärte die riesigen Familiensaga. Überhaupt Sache mit dem strahlenden, le- spiegelt die verwickelte Story den benspendenden Wunderding ver- wildbewegten Beginn des 13. Jahr- blüffend genau. Der Gral sei, so hunderts: Junge Männer suchen erzählte er in Anlehnung an das als Kreuzritter ihr Seelenheil, Da- spätantike „Nikodemus-Evangeli- heimgebliebene stehen staunend um“ und weitere Quellen, nichts

Geringeres als der Kelch des letz- AKG * Illustration in einer Handschrift des „Roman ten Abendmahls, in dem Josef von Artusrunde mit Gral*: Nur für sündenreine Übermenschen de l’estoire del Graal“, 15. Jahrhundert.

140 der spiegel 52/2004 zum noblen Artusritter und dann bis zum Heilshelden emporarbeitet – und schließ- lich in der Gralsburg die entscheidende Mitleidsfrage stellt, die den siechen Herr- scher erlöst. Der weise, seherische Zauberer Merlin und der liebeskranke Tristan sind nur ei- nige der vielen Helden, deren Erlebnisse sich rund um den unentwegt wundertäti- gen Gral ranken, den nur sündenreine Übermenschen erreichen. Die Kraft der inzwischen schier uferlosen Saga mit ihren seltsamen christlichen Einsprengseln nutz- ten sogar die Kleriker: 1191 behaupte- ten Mönche im Kloster Glastonbury, sie hätten die sterblichen Überreste von Artus und Guinevere auf ihrem Friedhof ent- deckt – ein mittelalterlicher Marketing- Gag, der bis heute Touristen nach Südwest- england lockt. Erst zur Lutherzeit kam der krause Stoff allmählich aus der Mode. Rittertum war nur mehr Kulisse; über seine seltsamen Tu- gendvorstellungen konnte das neue bür- gerliche Zeitalter allenfalls nostalgisch lächeln oder amüsiert kichern – ein letzter Abgesang war Cervantes’ geniale Aben- teurersatire „Don Quijote“ (1605/15). Allerdings: Total vergessen wurden die Gralsritter nie. Und im 18. Jahrhundert beugten sich Literatur- und Sprachkund- ler plötzlich wieder über die alten Perga- mente – zur gleichen Zeit, als quer durch Europa Freimaurerbünde entstanden, Um- stürzler mit Ritterdecknamen konspirierten und Heilsquacksalber jahraus, jahrein neue Hysterien und Mysterien verbreiteten. Der Sturm der Französischen Revolu- tion war vorüber und Napoleons Reich zer- fallen, da wartete der renommierte Orien- talist Joseph von Hammer-Purgstall – Stich- wortgeber für Goethes „West-östlichen Divan“ – mit einer Theorie auf, die den alten Geschichten frische Brisanz verlieh:

AKG Die Sage vom Heiligen Gral, so der Wiener Parzival-Darstellung*: Verstörender Besuch im Zauberschloss Forscher, sei nichts anderes als ein finste- rer Ketzerkult, wie auch die Tempelritter vor den ersten gotischen Kirchenfenstern, liche Liebhaber von Guinevere, Artus’ ihn gepflegt hätten – weshalb wohl hüteten sowohl der Artushof (dem in der Realität Frau, ist, kann der Sünder nur bis an die bei Wolfram von Eschenbach „Templei- etwa die glanzvolle, aber auch gefährdete Schwelle des Grals gelangen; erst sein Sohn sen“ den Gral? Herrschaft der Stauferkaiser entsprach) als Galahad wird wirklich zum heiligen Talis- Damit öffnete Hammer-Purgstall ein auch die Glaubensinstanzen scheinen in man vordringen – und dann auf unerklär- Fass, in dem es schon seit einiger Zeit ru- ihren Grundfesten erschüttert. liche Art der Welt entrückt. mort hatte. Tatsächlich wüteten in jener Zeit in Süd- Bei Wolfram dagegen ist es Parzival, der Der Kreuzritterorden der Templer war frankreich Feuer und Schwert gegen Wi- sich vom tumben, sündhaften Toren erst 1119 in Jerusalem als eine Art Fremdenle- derstandsnester der sektiererischen Katha- gion zum Schutz der heiligen Stätten und rer, während in Paris Philosophen über der christlichen Pilger gegründet worden. Gottes wahres Sein disputierten. Klar, dass Anfang des 16. Jahrhunderts aber be- bei so viel Unsicherheit poetische Gespins- richtete der Zaubereispezialist Heinrich te von rettenden Heiligtümern, Schatz- Cornelius Agrippa von Nettesheim ganz sucherei und dunklen Mysterien viel An- nebenbei, die Gottestruppe sei der „üblen klang fanden. Ketzerei“ beschuldigt worden. Mal rückte der Recke Lancelot ins Zen- In der Tat hatte 200 Jahre zuvor, am Frei- trum der Erzählung, der wie alle Ritter der tag, dem 13. Oktober 1307, Frankreichs Tafelrunde auf Befehl von König Artus den Staatsführung zum Vernichtungsschlag ge- Gral sucht. Weil aber Lancelot der heim- gen den Templerorden ausgeholt. Reihen-

FOTOS: AKG FOTOS: weise waren Ritter eingekerkert, gefoltert * Gemälde „Parzival entdeckt die Gralsburg“ von Martin Orientalist Hammer-Purgstall, Goethe und zu Geständnissen gezwungen worden; Wiegand (1934). Finsterer Ketzerkult das stattliche Vermögen der Organisation,

142 der spiegel 52/2004 Titel LUCASFILM (L.); CINETEXT (R.) LUCASFILM „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“ (mit Harrison Ford, 1989) „Die Ritter der Kokosnuss“ (1975) CINETEXT (L.); BUENA VISTA (R.) CINETEXT (L.); BUENA VISTA „Excalibur“ (mit Paul Geoffrey, 1981) „Das Vermächtnis der Tempelritter“ (2004) Gralssucher im Film: Auch die Populärkultur des rationalen 20. Jahrhunderts mochte auf die Legende nicht verzichten die (als eine Art Vorläufer der ersten in- quien und Dokumente gefunden, die durch men, von den Katharern zu den Albigen- ternationalen Banken) große Summen ver- ein paar vorgewarnte Templer, den inners- sern, den Tempelrittern und von dort zu waltet hatte, blieb beschlagnahmt. Eine bei- ten Zirkel gewissermaßen, über die Razzia den jakobinischen Freimaurern; alles zeigt spiellose Razzia – offiziell begründet mit von 1307 und den Feuertod des letzten denselben Ursprung.“ dem Vorwurf verschwörerischer Ketzerei. Großmeisters 1314 hinaus weitergegeben Kurz darauf erfand ein geschäftstüchti- Bald kursierten Gerüchte, beim verblüf- worden seien, möglicherweise nach Schott- ger französischer Arzt namens Ledru eine fend raschen Aufstieg der mönchischen Mi- land. Wer sie finde, werde auch den sa- Templerordensregel, die von 1324 stam- liz sei ein Geheimnis im Spiel gewesen. genhaften Schätzen des Ordens auf die men sollte, also aus einer Zeit lange nach Die Rede war etwa von grässlich-blas- Spur kommen. der amtlichen Vernichtung und päpstlichen phemischen Aufnahmeriten: Ordensneu- Wenig später gründeten Geheimniskrä- Verurteilung der Organisation. Mittelalter- linge hätten auf Christusbilder spucken mer in Deutschland, England und den lich kostümiert zogen 1808 die Ritter eines oder die Geschlechtsteile ihrer neuen Obe- USA eigene Templerlogen mit Rittergra- neugegründeten Templerordens in der ren küssen müssen. Die Historiker der Auf- den und besonderen Zeremonien. Das Pariser Kirche St. Paul auf, zum Gedenken klärung fanden keinerlei Beweis – und geistig-politische Fieber der Französischen an den einst als „Märtyrer“ gemordeten nahmen darum Partei für die Templer. So Revolution heizte die Neugier aufs Ok- Großmeister. Auch Reliquien wie Kno- stellte Lessing 1779 in seinem Toleranzdra- kulte weiter an. chenreste und Waffen gab es zu sehen. ma „Nathan der Weise“ demonstrativ ei- Die Templer seien Teil einer viele Jahr- Selbst Fachleute fielen auf den Mum- nen „Tempelherrn“ als sympathischen Ver- hunderte alten Verschwörung gegen die menschanz herein – darunter auch Joseph treter des Christentums auf die Bühne. Obrigkeit, schrieb der Anarchist Louis Ca- von Hammer-Purgstall. In einer langen Doch längst gab es wieder einen dunklen det de Gassicourt um 1796. Aber auch sein Studie über den „Baphomet“, ein dubioses Kult um die Tempelritter. Deutsche Frei- Widersacher Augustin de Barruel, ein Je- Götzenbild, das angeblich von den Temp- maurer verbreiteten, sie hätten alte Reli- suit, war überzeugt: „Alles hängt zusam- lern verehrt worden war, baute er seinen

144 der spiegel 52/2004 Verdacht noch aus, bis Gralsritter und Spitze der Prieuré gestanden. Auf diese lebenspendende Gefäße kreisen) mit Templer zu Gliedern einer langen Kette Weise wurde so mancher, der in Leonardos christlichen Motiven (wie der Abend- „gnostischer“, aus heidnischen Hell-dun- weltberühmten Gemälden einen tieferen mahlsrunde) und vielleicht auch ein paar kel-Mysterien inspirierter Sektierer ge- Sinn suchte, mithilfe der clever ausgetüf- orientalischen Legenden (über heilige worden waren. Sogar die Verehrung des telten Erbreihe für die Templer- und Grals- Steine) verschmolzen sind. Phallus hätten sie von ihren antiken Vor- sucherei rekrutiert. Aus dem Gral und der Suche nach ihm läufern übernommen, schrieb er entsetzt. 1982 endlich rührten die Sensationsjä- hat sich jede Epoche neue, kraftvolle Dich- Die scheinbare Entdeckung, verkündet ger Lincoln, Baigent und Leigh mit vielen tungen zurechtgezimmert, wie sie auf die von einem renommierten Wissenschaftler, dieser Zutaten ihr Buch „The Holy Blood Gegenwart passten – und so immer neue wirkte so überzeugend, dass in den fol- and the Holy Grail“ zusammen. Aus will- Gralsbilder geprägt. genden Jahrzehnten immer wildere Ge- kürlichen Deutungen des Neuen Testa- Im riesigen, erst 1997 gedruckten „Par- schichtsklitterungen entstanden: Um 1860 ments und versprengten Schriften der cival“ (1831/32) des deutschen Romanti- waren viele Intellektuelle überzeugt, dass christlichen Frühzeit destillierten sie die kers Friedrich de la Motte Fouqué, einem Grals- und Tempelritter die Bannerträger wilde Vermutung, Jesus habe als „Pries- Monstrum von über 500 Manuskriptsei- einer nie erloschenen, urheidnischen Op- terkönig“ mit Maria Magdalena für Nach- position gegen kirchliche Denkzwänge und kommen gesorgt; seither werde sein Erbe KELTISCHE MYTHEN staatliche Tyrannei gewesen waren. – und mit ihm das Geheimnis des Grals – VON WUNDERTÄTIGEN Bis zum Geheimnis von der Blutlinie innerhalb der Sippe Christi (Merowinger- Jesu, das Dan Browns „Sakrileg“ antreibt, Herrscher inklusive) weitergegeben. Ironi- GEFÄSSEN, DIE NAHRUNG fehlte nun nicht mehr allzu viel. Die Zuta- sche Pointe der Blutsippenkonstruktion: UND LEBEN SPENDEN. ten lieferten ein paar Mythenköche im Hauptwidersacher und Erzfeind ist die 20. Jahrhundert: katholische Kirche. ten aus Lyrik, Drama und Erzählabschnit- • Der britische Volkskundler Alfred Nutt Zahlenspiele, Stammbaumtüftelei, ge- ten, wird deutlich: Der Autor, ein utopi- und seine Schülerin Jessie Weston ver- heimnisvolle alte Bauten und rätselhafte scher Reaktionär im Dampfmaschinen- fochten seit 1902 die These, dass die Inschriften von Schottland bis Südfrank- zeitalter, hoffte allen Ernstes auf eine neue „Gralskirche“ mit ihrer „Ritter-Priester- reich – für jede Amateurspürnase hat der heile Ritterwelt. schaft“ Hüterin eines wahren, von Rom florierende Grals-Supermarkt etwas im In Karl Leberecht Immermanns Grals- unterdrückten Glaubens gewesen sei; Angebot. Im Internet widmen sich zahl- sage „Merlin“, fast zur selben Zeit ent- • der Schriftsteller Otto Rahn fahndete reiche Websites der Sache. standen, scheitert dagegen der Plan, das nach dem Gralsschatz in Ruinen alter Wissenschaftler dagegen sind sich nach magische Gefäß „heimzuführen auf der Katharerburgen; nach Lektüre von mehr als einem Jahrhundert der Forschung Bahn des Geistes“: Die Ritterrunde der Rahns Buch „Kreuzzug gegen den und des Disputs einig, dass sich Herkunft Gralssucher zerfällt, der Heilskelch ent- Gral“ (1933) holte Heinrich Himmler und Bedeutung des Gralssymbols nicht schwindet aus dem sündigen Europa nach ihn 1936 zur Ketzerforschung in die SS, klären lassen werden: Dazu sind die ur- Osten. doch schon im März 1939 fand man sprünglichen Dichtungen viel zu wider- 1882 dann bündelte Richard Wagner in Rahn erfroren am Bergmassiv Wilder sprüchlich. seinem letzten Werk „Parsifal“ den Grals- Kaiser in Tirol – ein perfekter Tod für Die meisten Kenner der mittelalterlichen mythos radikal: Bis heute ist das Bay- Verschwörungsgläubige; Literatur neigen inzwischen zur Annah- reuther „Bühnenweihfestspiel“ für Fans • Louis Charpentier und sein Landsmann me, dass in der Gralssage alte keltische My- ein Heiligtum – mit Orakelversen („Zum Gérard de Sède machten etwa seit dem then (die um wundertätige, nahrung- und Raum wird hier die Zeit“), kultisch ver- Ende des Zweiten Weltkriegs aus den knappter Handlung und einer Ton- Geheimnissen der angeblich weiter exis- sprache, in der Licht und Schat- tierenden Templerbruderschaft eine ten, Gut und Böse wie in einem Schatzsuche kreuz und quer durch magischen Kristall zu funkeln Frankreich („Die Templer sind unter uns scheinen. oder das Rätsel von Gisors“); Wagner hatte sich von neueren • der Franzose Pierre Plantard, ein vor- Verschwörungstheorien nicht be- bestrafter Sympathisant des Nazi-freund- irren lassen und lieber in den alten lichen Vichy-Regimes, der sich mit pseu- Dichtungen nachgelesen. Auch bei dohistorischen Verschwörungstheorien ihm findet der junge ahnungslose auskannte, fabrizierte mit Helfershelfern Sünder die Gralsburg, wird als seit den fünfziger Jahren ein Dossier aus „reiner Tor“ auf die Probe gestellt, angeblichen Dokumenten, das belegen stellt dem siechen König Amfor- sollte, der Kreuzfahrer Gottfried von tas nicht die erhoffte Frage und Bouillon sei Nachfahre der merowin- muss in Schande fortziehen. gischen Könige und zudem Gründer Dass er dennoch der ersehnte einer Bruderschaft namens „Prieuré de Retter ist, beweist der Titelheld Sion“ (Priorat von Zion) gewesen. dann auf neue Art: Er überwindet Großmeister der elitären Untergrundge- den machtbesessenen Zauberer meinschaft sollten – hier wird die fröhliche Klingsor, der mit teuflisch-schönen Fiktion zur Geschichtsfälschung – Kultur- „Blumenmädchen“ viele Gralsrit- leuchten wie der Renaissance-Maler San- ter behext, ihnen dann sogar den dro Botticelli (1445 bis 1510), der Physiker heiligen Speer geraubt und Am- Isaac Newton (1643 bis 1727), der Roman- fortas damit verwundet hatte. cier Victor Hugo (1802 bis 1885) und sein Die von Klingsor als letzte Waf- Landsmann, der Komponist Claude De- fe eingesetzte Botin Kundry, eine bussy (1862 bis 1918), gewesen sein. Auch ruhelose Welt- und Zeitenwande-

der Universalgelehrte Leonardo da Vinci, AKG rin, die einst Christus am Kreuz so die Liste, habe neun Jahre lang an der Dichter Fouqué: Neue heile Ritterwelt verlacht hat, bringt den Helden mit

der spiegel 52/2004 145 Leonardo-da-Vinci-Gemälde „Abendmahl“ (1495/97): Ein Bild, das das Geheimnis der Menschheit verschlüsselt? einem Kuss der Verführung vollends zur nur knapp dem Tod auf dem Scheiterhau- Immerhin: Die Pythons suchten an einer Einsicht, worin seine wahre Aufgabe liegt: fen, dann macht der Ami als Magier Kar- vertrauten Stelle. Gedreht wurde die Grals- Die Burg wiederzufinden und das Erlö- riere. „Inmitten der Geister und Schatten, legenden-Parodie nämlich in Schottland, sungswerk zu vollbringen – was dann auch des Staubs und Moders des grauen Alter- wo auch Dan Browns Spurensucher auf geschieht. tums“ (Twain) zaubert er zum Beispiel wichtige Hinweise stoßen. Die letzte Spur Raffiniert wie seine mittelalterlichen 500 Ritter zur Rettung des Königs herbei. führt Artus (Graham Chapman) und Sir Vorbilder verwob Wagner so Erotik und Der Clou: Die Edelmänner kommen hoch Bedevere (Terry Jones) zum Castle Stal- Askese, christlichen und heidnischen Sym- zu Fahrrad. ker an der schottischen Westküste. Doch in bolzauber. „Die Wunde schließt der Speer Ohne Pferde müssen auch die verarmten der Burg wartet nicht der Heilige Gral, dort nur, der sie schlug“, verkündet Parsifal, Gralssucher in der großartigen Filmsatire lauern fluchende Franzosen, die die Ritter erlöst damit den Gralskönig und wird sein „Monty Python and the Holy Grail“ (1975) als „britische Bettnässer“ verhöhnen. Zu- Nachfolger. Kunstvoller hätte das alte auskommen. „Die Ritter der Kokosnuss“, dem nimmt die Polizei Artus und Bede- Mysterium von Reinheit, Auserwählung so der deutsche Titel, gehen zu Fuß; doch vere bald fest – sie stehen unter Verdacht, und Lebensirrfahrt nicht erneuert wer- immerhin imitieren ihre Knappen royales einen Gralsforscher ermordet zu haben. den können. Pferdegetrappel, indem sie halbierte Ko- Doch Artus und seine Getreuen haben Natürlich war Wagners fulminantes kosnüsse zusammenschlagen. auch diesen Spott überstanden. Ein paar Schlusswerk kein Schlusswort in Sachen Monty Python, die legendäre britisch- Jahre später waren sie, ungleich helden- Gral. Aber ein Wendepunkt: Niemand hat amerikanische Komikertruppe um John hafter, wieder da – im Kino, auf der Bühne, dem Pathos der Symbole seither noch so in Romanen. John Boormans Film „Ex- viel zugetraut wie der Bayreuther Klang- DER REIZ DES calibur“ (1981), Tankred Dorsts Drama magier. Heilssuche und Ritterehre sanken HEILIGEN GRALS „Merlin oder Das wüste Land“ (1981) und zum Fundus ab wie das Alte Rom oder der LIEGT IN SEINER Marion Zimmer Bradleys Fantasy-Schmö- Wilde Westen – zu einer Kostümkammer, ker „Die Nebel von Avalon“ (1982) span- aus der sich jeder nach Lust und Laune UNFASSBARKEIT. nen den Gralshüter-Mythos weiter. Die bedienen konnte. Populärkultur des vermeintlich rationalen Den Anfang machte der amerikanische Cleese, stellt König Artus, Sir Lancelot 20. Jahrhunderts, so zeigte sich, konnte aus Satiriker Mark Twain – und er legte gleich und Co. als eine Horde grenzdebiler Cha- der Gralslegende neue Erzählfunken richtig deftig los. Sein Roman „Ein Yankee oten dar, die gegen ein Killer-Kaninchen, schlagen. aus Connecticut an König Artus’ Hof“, geile Jungfrauen und tückische Franzosen So ließen bald auch die erfolgreichsten 1889 erschienen, führte die Ritter- und antreten müssen. Denn Gott höchstper- Filmemacher Hollywoods nach dem Gral Gralsglorifizierung ad absurdum: Nach ei- sönlich – er hat hier erstaunliche Ähnlich- fahnden. Steven Spielberg (Regie) und nem Schlag auf den Kopf findet sich ein keit mit Karl Marx – erscheint am Himmel George Lucas (Produktion) schickten im Amerikaner im Kreise von König Artus und beauftragt die Ritter, den heiligen Pott Jahr 1989 zwei Stars auf Schatzsuche: Sean wieder – Camelot sei „wahrscheinlich der zu suchen. So viel vorweg: Sie finden ihn Connery und Harrison Ford spielen im Name einer Irrenanstalt“. Dort entgeht er nicht. Abenteuerspektakel „Indiana Jones und

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Zimmermannes“ (Jones) nur ein schmuck- sie genug Hinweise, um 230 Jahre später ei- loses Tongefäß ist. Ein Schluck aus dem nige Schatzsucher neugierig zu machen. Pott, so verkündet der Ritter, verheiße „im- Produzent Bruckheimer legt Wert auf die merwährendes Leben“. Auf eine Schuss- Feststellung, sein Film sei schon vor der wunde gegossen, wirkt das heilige Grals- Veröffentlichung von Dan Browns Roman wasser jedenfalls wie Toilettenreiniger: Es „Sakrileg“ in Arbeit gewesen. brodelt und zischt, dann ist das Blut ver- Dass der Gral die Menschen auch wei- schwunden. terhin in seinen Bann schlagen wird, dafür Komischer Zauber – das Kinopublikum hat Brown mittlerweile selbst gesorgt. Nach jedenfalls liebte die ironische Legenden- monatelangem Poker verkaufte er die Film- fortschreibung à la Hollywood: „Indiana rechte an „The Da Vinci Code“ für sechs Jones und der letzte Kreuzzug“ ist heute Millionen Dollar an Sony Pictures. Regis- ein moderner Klassiker. seur Ron Howard („A Beautiful Mind“) Der Gral ließ auch andere Filmemacher will im nächsten Jahr mit den Dreharbei- nicht ruhen. Der ehemalige Monty-Python- ten beginnen; die Hauptrolle, den Harvard- Mann Terry Gilliam, einst Co-Regisseur Professor Robert Langdon, wird Tom bei den „Rittern der Kokosnuss“, ließ 1991 Hanks spielen. Im Jahr 2006 soll der Film in seinem komödiantischen Melodram mit in die Kinos kommen. dem bildungssatten Titel „König der Fi- Dass bis dahin ein Gral, am Ende gar scher“ einen geistesgestörten New Yorker der echte, gefunden wird, ist nicht zu nach dem Gral suchen. Der verwirrte befürchten. Das Geheimnis seines Erfolgs, Kauz, ein selbsternannter Ritter, gespielt quer durch die Kulturgeschichte der ver- von Robin Williams, ortet das Gefäß – „so gangenen 800 Jahre, ist ja gerade, dass das etwas Ähnliches wie Jesus’ Saftglas“ – im Rätselding auf ewig im Nebel von Ver- Penthouse eines Milliardärs in Manhattan. mutungen und Andeutungen, Tatsachen Dort steht das gute Stück tatsächlich. Es er- und Halbwahrheiten verborgen bleibt. weist sich zwar nur als Sportpokal, wirkt Dan Brown hat, in einer ironischen Volte, aber trotzdem Wunder, indem es den diese Erkenntnis einer seiner Romanfigu- Kranken von seinem Wahnsinn heilt. ren in den Mund gelegt: „Das Geheimnis Der neueste Kinofilm, der sich des Grals- des Grals, sein Rätsel und die Mythen, mythos bedient, ist vor allem am schnöden die sich um ihn ranken, dienen unseren

AKG Mammon interessiert: „Das Vermächtnis Zielen besser, als seine Enthüllung es je der Tempelritter“, ausgeheckt von Hol- könnte. Der Reiz des Grals liegt in seiner der letzte Kreuzzug“ Vater und Sohn – und lywoods Chefpyromanen Jerry Bruckhei- Unfassbarkeit.“ sie spielen gekonnt mit dem Mythos vom mer, füllt eine ganze Schatzkammer. Am Ende der Schnitzeljagd durch die Gral. „Archäologie ist die Suche nach Fak- Bruckheimer, ganz der gute Amerika- Geschichte darf bei Brown jeder seine Ver- ten“, lehrt Jones junior (Ford) zu Beginn ner, will den Zuschauern weismachen, der sion der Legende weiterglauben: „Für des Films seine Studenten, „nicht nach fabelhafte Goldschatz aus dem Nachlass manche ist der Gral ein Kelch, der ewiges der Wahrheit. Wenn Sie an der Wahrheit der Tempelritter sei den US-Gründervätern Leben verspricht. Für andere bedeutet er interessiert sind – die Philosophievorlesung in die Hände gefallen. Ohne sich um lästi- die Suche nach verlorenen Dokumenten ist am Ende des Ganges“. ge Eigentumsfragen zu kümmern – im Ori- und nach einem Geheimnis der Geschich- Kurze Zeit später beugt sich Jones über ginal heißt der Film „National Treasure“, te. Und für die meisten ist der Gral ledig- eine alte Steintafel, die angeblich den Weg Nationalschatz –, versteckten die Staats- lich eine faszinierende Idee, wie ich ver- zum Gral weist. „Die Artuslegende. Wir gründer das Zeug. Zum Glück hinterließen mute ... ein wundervoller, phantastischer, alle haben uns schon an diesen Gute- aber unerreichbarer Schatz, der uns sogar Nacht-Geschichten erfreut“, sagt er lässig. in der heutigen modernen, chaotischen Und dann nimmt er die Suche auf. Der Welt noch zu inspirieren vermag.“ Film spielt 1938, deshalb sind auch böse Das klingt versöhnlich, und vielleicht Nazis und andere Dunkelmänner hinter findet der Sucher der großen Thriller- dem Kelch her. erschütterungen dorthin zurück, wo die Am Ende der Verfolgungsjagd – nach wirklich erregenden Geheimnisse der Kul- einer Odyssee von Venedig über Berlin tur liegen: auf die Insel der Kunst. An- Richtung Orient und einer Reihe von gesichts von Leonardos „Abendmahl“ in- beinahe tödlichen Prüfungen – findet In- teressiert sich Brown vor allem für den diana Jones den Kelch in einer Grotte bei fraulich gemalten Jesus-Lieblingsjün- Alexandrette, dem heutigen Iskenderun ger Johannes, der mit seiner rötlichen nahe der türkisch-syrischen Grenze. Haarpracht Maria Magdalena darstellen 1938 war Alexandrette die Hauptstadt könnte – der angebliche Großmeister und der Republik Hatay; dieser Zwergstaat, Geheimnisverwalter Leonardo habe so ein Konstrukt der französischen Kolonial- sein Geheimnis der Menschheit mittei- herren, verschwand ein Jahr später von len wollen. der Landkarte, was ihn zum perfekten Aber Leonardo steht über seinem Ent- Gralsversteck prädestiniert. Spielberg al- zauberer Brown. Der französische Kunst- lerdings drehte diese Szenen nicht in der historiker Daniel Arasse erkannte in dem Türkei, sondern ein paar hundert Kilo- Gemälde vom Abendmahl nicht weniger meter entfernt, in Petra, der Gräberstadt als die Ankunft der Ewigkeit in der Zeit.

in Jordanien. / AURORA LERNER PAULA Und das ergäbe erst mal einen Thriller. Im Film wacht ein altersschwacher Rit- „Sakrileg“-Autor Brown Nikolaus von Festenberg, ter über den Gral, der als „Becher eines Schnitzeljagd durch die Geschichte Johannes Saltzwedel, Martin Wolf

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schwer. Durch ihre frühen Videos hüpft Boys, ein Mitglied der Rockband Manic POP sie mit Pudelfrisur, Schulterpolstern, Petti- Street Preachers nahm mit ihr zwei Songs coat und Paillettenhut, das nette, etwas auf, und die Autorin Julie Burchill schrieb: Die Musik des peinliche Mädchen von nebenan – noch „Kylie steht für Schönheit im scheußlichen keine Spur vom Sex-Appeal der späteren Musikgeschäft.“ Jahre. Spätestens mit dem Jahrzehnthit „Can’t schönen Körpers Als in den Neunzigern der Karriere- Get You out of My Head“ (2001) samt da- motor plötzlich stotterte, trennte sich zugehörigem weißem Kleid und dem wohl Die Karriere der Sängerin Kylie Kylie Minogue von ihren Produzenten und atemberaubendsten Ausschnitt der Video- begann nach einer neuen Identität zu clip-Geschichte wurde sie so überraschend Minogue wäre ohne deren aufregende suchen. Zwei Männer waren dabei wichtig. wie endgültig zur Pop-Ikone und zum Ge- Outfits nicht vorstellbar. Kylie Minogue verliebte sich in Michael samtkunstwerk. Jetzt nannte sie alle Welt Neuerdings gibt sie sich zugeknöpft. Hutchence, damals Sänger der Rockband nur noch beim Vornamen, und niemand INXS – er befreite sie vom Image des un- schien sich ihrem Charme und Sex-Appeal as beeindruckendste Comeback des bedarften Pop-Püppchens und riet ihr, Fri- mehr entziehen zu können. neuen Jahrtausends wurde aus- sur und Kleidungsart zu ändern. Kylie räkelte sich auf Videos im Bikini Dgelöst durch ein winziges Stück In einem Geschäft der Londoner Desi- oder in aufregend kurzen Röcken, warb in Stoff: Als im Sommer des Jahres 2000 gnerin Vivienne Westwood schließlich traf sexy Dessous für eine Modefirma, und ihr Kylie Minogues Single „Spinning Around“ sie den jungen Stylisten William Baker. Der jährlicher Kalender wurde zu einer Art erschien und sofort an die Spitze der bri- half ihr, sich besser anzuziehen. Plötzlich Pirelli-Kalender der Popwelt. Im vergange- tischen Charts schoss, machten vor allem wurde der „singende Kanarienvogel“ in nen Jahr stellte eine britische Universität die goldenen Hot Pants, die die Sängerin der Branche ernstgenommen. Minogue sogar fest, Kylie sei mit Traummaßen ge- im Video zum Song trug, Furore. Die avancierte zur Ikone der schwulen Party- segnet: Taillen- und Hüftumfang im idealen Hose war so kurz, dass ein großer Teil szene, sang auf einem Album der Pet Shop Verhältnis 0,7 zu 1. der Pobacken unbedeckt blieb, Wie sich die Zeiten ändern: und so eng, dass jede Bewe- Ein Museum in Australien will gung die Nähte zu sprengen ihre gesamte Bühnengarderobe drohte. ausstellen. Und die DVD zu Kylie Minogues wohlgeform- Kylies aktueller Best-of-Compi- tes Heck wurde zu einer Art lation „Ultimate Kylie“, die vie- Markenzeichen und katapul- le ihrer Hitvideos aus 17 Jahren tierte die Sängerin in etliche versammelt, ist geradezu ein Zeitschriften und TV-Sendun- Lehrfilm über die Macht des gen. „Wahrscheinlich die beste Outfits im Pop-Universum. Investition meiner ganzen Kar- Voriges Jahr verkündete die riere“, witzelte die Sängerin da- Schöne, sie wolle in Zukunft we- mals. „Die Hose habe ich für 50 niger Haut zeigen. Und es sei an Pence auf dem Flohmarkt ge- der Zeit, sich von ihrem Image kauft.“ Ein echter Glücksgriff, als Sexsymbol zu verabschieden denn zu diesem Zeitpunkt sah und vielleicht eine Familie zu es so aus, als ginge die Karriere gründen. Seitdem wird lebhaft der Australierin eigentlich schon über eine mögliche Schwanger- zu Ende. schaft, die Heirat mit oder die Begonnen hatte sie zwei Jahr- Trennung von ihrem Lebensge- zehnte zuvor in Australien. Dort fährten Olivier Martinez disku- stand die kleine Kylie schon tiert – und über ihren Abschied im Alter von 10 Jahren für vom Pop. Ihr neuer Kalender er- eine Fernsehserie vor der Ka- weckt den Eindruck, sie könnte mera, und als sie mit 17 die es durchaus ernst meinen – so Rolle der Charlene in der TV- viel Stoff wie jetzt war nie. Seifenoper „Neighbours“ über- Allerdings: Im Video zu ihrer nahm, wurde sie zum Star. Ende aktuellen Single „I Believe in der Achtziger ging die damals You“, komponiert von den er- knapp 20-Jährige zu den bri- folgreichen New Yorker Disco- tischen Produzenten Stock, Erneuerern Scissor Sisters, hat Aitken, Waterman und ließ sich sich Kylie Minogue, 36, wieder einige gutgelaunte Popsongs ein wenig auf Bewährtes be- schreiben. Die singende Soap- sonnen und tanzt verführerisch Darstellerin wurde zwar als „de- in einem ziemlich durchsichti- bile Barbie“, „singender Kana- gen Kleid. Überhaupt scheint rienvogel“ oder „australisches die Sängerin mit den zusätz- Showpony“ geschmäht, aber lichen Stoffbahnen noch gewis- immerhin gelangen ihr damals se Schwierigkeiten zu haben – zahlreiche Top-Ten-Hits in Eu- als sie kürzlich bei „Wetten, ropa, und mit „I Should Be So dass …?“ in einem langen, hoch- Lucky“ sogar eine der best- geschlossenen Kleid auftrat, stol- verkauften Singles der achtziger perte sie über den Saum und fiel

Jahre. Mit Kleidern, Frisur und PRESS / ACTION REX FEATURES hin. In Hot Pants wäre ihr das Make-up tat sie sich allerdings Sängerin Minogue: Stolpern im langen Kleid nicht passiert. Jörg Böckem

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Schlagzeilen. Ich fand ihn vor allem des- halb so interessant, weil hier zwei Men- KINO schen vom oberen und vom unteren Ende der sozialen Leiter in einer Extremsitua- tion aufeinander trafen, in der sich die Klassenkampf unter Bäumen Machtverhältnisse auf einmal komplett umkehrten.“ In Pieter Jan Brugges Thriller „Anatomie einer Da amerikanische Entführungsfälle meist unter Ausschluss der Öffentlich- Entführung“ spielt Robert Redford einen alternden Millionär, keit stattfinden und deshalb schlechter der von einem Arbeitslosen gekidnappt wird. dokumentiert sind, sah sich Brugge vor allem in der europäischen Kriminalge- ie jeden Morgen fährt Wayne vater entführt und erschossen. Als der schichte um. Regisseur Brugge habe ihm Hayes von seiner Villa zur Stra- Täter gefasst wurde, bezeichnete er sein „auch Material zur Entführung von Wße hinunter. Und wie jeden Mor- Opfer als einen „liebenswerten Mann“. Hanns-Martin Schleyer gegeben“, erzählt gen hält er am Ende der Auffahrt kurz „Dieser Fall hat mich sehr beschäftigt“, Hauptdarsteller Redford. „Ich fand es an, öffnet die Wagentür und greift nach erzählt Brugge. „200 Tage lang beherrsch- sehr tragisch, dass seine Familie glaubte, unten, um die Zeitung aufzuheben. Doch te er damals in den Niederlanden die er sei noch am Leben, während ihn seine heute greift er ins Leere. Denn Entführer bereits ermordet die Zeitung liegt einige Meter hatten.“ entfernt. Also steigt er aus, Brugge hat Elemente meh- geht um den Wagen herum – rerer europäischer Entfüh- und blickt, wenige Momente rungsfälle genommen und sie später, in den Lauf einer auf die USA übertragen, um Waffe, die ein Unbekannter einen Film über ein urameri- auf ihn richtet: Hayes wird kanisches Thema zu machen. entführt. „Ich will von dem Neid und Die kleine Störung des der Verzweiflung jener Men- täglichen Rituals kündigt in schen erzählen, denen auf Pieter Jan Brugges Thriller einmal bewusst wird, dass der „Anatomie einer Entführung“ American Dream für sie im- schon an, dass für den Hel- mer unerreichbar sein wird“, den und seine Familie bald sagt Brugge. „Und gleich- nichts mehr so sein wird wie zeitig will ich den Preis bezif- zuvor. Der Millionär Hayes fern, den diejenigen bezah- (Robert Redford), der mit len müssen, für die er in Er- einem Autoverleih zu Reich- füllung geht.“ tum gekommen ist, wird von Präzise beschreibt der Film, dem Arbeitslosen Arnold wie sich die beiden Männer Mack (Willem Dafoe) in ein auf ihrem Weg durch den entlegenes Waldgebiet ent- Wald, auf dem die sozia- führt. Von Hayes’ Frau Eileen len Unterschiede Schritt für (Helen Mirren) will Mack ein Schritt eingeebnet zu werden Lösegeld erpressen. scheinen, wie Wesen einer Während Hayes unaufhör- fremden Spezies taxieren. lich versucht, in Macks Ge- Neugier, Neid, Misstrauen, sichtszügen zu lesen und des- Angst, Sympathie – ständig sen Pläne zu erahnen, warten wechseln bei diesem Freiland- Eileen und ihre beiden er- versuch über die amerikani- wachsenen Kinder auf ein Le- sche Klassengesellschaft die benszeichen von ihm. So ent- Emotionen, und für kurze Au-

wickelt sich ein packendes PRESS PRESS / ACTION ZUMA genblicke schließt sich sogar Psychodrama, das ständig zwi- Darsteller Dafoe, Redford: Brutales Kammerspiel die weite Kluft zwischen Arm schen dem Entführten und sei- und Reich. ner Familie die Perspektive Robert Redford und Willem wechselt. Dafoe machen aus diesem „Anatomie einer Entfüh- Duell zwischen dem neurei- rung“ ist das Regiedebüt des chen Selfmademan und dem gebürtigen Holländers Brug- sozialen Absteiger ein fesseln- ge, der zuvor Filme wie den des Kammerspiel unter freiem Thriller „Insider“ (1999) pro- Himmel. Immer wieder er- duziert hatte. Tatsächlich geht kundet Brugge aus größter Brugges „Anatomie“ auf ei- Nähe die Gesichtslandschaf- nen Kriminalfall zurück, der ten der beiden Männer, in sich in seiner Heimat ereignet denen sich die starken Kon- hat: 1988 wurde der nieder- traste dieses Films spiegeln. ländische Supermarktketten- So schutzlos wie noch nie

chef Gerrit Jan Heijn von EVERETT COLLECTIONS / COURTESY SEARCLIGHT FOX wirkt Redford unter dem mi- einem arbeitslosen Familien- „Anatomie einer Entführung“-Star Mirren: Mimische Ehebilanz kroskopischen Blick der Ka-

152 der spiegel 52/2004 mera. Der Weichzeichner, mit dem sich der inzwischen 67-jährige Star zuletzt auf der Leinwand die Züge glätten ließ, hilft ihm diesmal nicht. Nun sieht man, dass sich tiefe Falten wie Jahresringe um Red- fords Augen legen „Wayne Hayes ist ein Mann, den sein Erfolg träge gemacht hat“, erzählt Red- ford, der für diese Rolle mehrere Kilo Gewicht anfutterte. „Er hat Speck um die Hüften angesetzt, seine Bewegungen sind nicht mehr so schwungvoll wie früher. Ich genieße es jetzt, Männer zu spielen, denen man ihr Alter und ihre Lebenser- fahrungen ansieht.“ In „Anatomie einer Entführung“ schim- mert zwar immer noch der Golden Boy Redford durch, man muss aber schon ge- nau hingucken, um ihn durch den Grün- span hindurch, den er angesetzt hat, noch zu erkennen. „Redford hat auf der Leinwand meist strahlende Helden verkörpert“, erläutert Brugge. „So ist er zu einer Ikone gewor- den, zum Inbegriff moralischer Aufrichtig- keit. Deshalb hat es mich umso mehr ge- reizt, ihn einen Mann spielen zu lassen, der von seinem eigenen Erfolg korrum- piert wurde.“ In Rückblenden rekapituliert der Film die Erfolgsgeschichte dieses Mannes – allerdings aus der Sicht seiner Frau. FBI- Agenten, die das Haus der Familie für- sorglich belagern, führen mit Eileen tage- lange Interviews, um Hinweise auf den Täter zu finden. Und auf einmal kommen Gesprächsthema Kriegsende*: Neue Geständnislust in Wohnzimmern und Salons, vermittelt auch die weniger glanzvollen Details aus Hayes’ Leben ans Licht – wie zum Bei- spiel seine Seitensprünge oder die Ver- TRENDS nachlässigung seiner Kinder. Nach und nach fügen sich diese Szenen einer Ehe zu einem schillernden Mosaik Das Leben erzählen zusammen. Der Film lässt den Zuschauer spüren, wie sich irgendwann unbemerkt Immer mehr nichtprominente Zeitgenossen breiten Achtlosigkeit zwischen Wayne und Eileen einschlich und immer mehr zur Entfrem- ihre Erinnerungen in Erzählcafés dung steigerte. Am Ende begegnen sich die aus, in Auftragsbüchern, -filmen und -CDs. zwei, die einander einst alles bedeutet haben, nur noch flüchtig. lte Zeiten, schöne Geschichten: Das triste Bild, Hintergrund auch der Während dieser ganzen Erzählung spielt Großmutter, Lehnstuhl, knisterndes jüngsten Pisa-Ergebnisse über sprachma- sich der Verfall einer Beziehung noch ein- AFeuer, alle Verwandten drum her- rode Schüler, wurde oft genug beschrie- mal im Gesicht der wunderbaren Helen um und dann erzählen, wie es früher war. ben – und ist schon ein wenig überholt. Mirren ab. Wenn sie von ihrem Mann Neue Zeiten, keine Geschichten. Der Denn mitten in der allgemeinen Kommu- spricht oder von den FBI-Leuten Einzel- Lehnstuhl leer, die Verwandten stumm nikationsflaute zeigt sich ein überraschend heiten über ihn erfährt, die sie selbst noch oder hoffentlich für lange Zeit verreist. Aus gegenläufiger Trend. Es gibt ein Comeback nicht kannte, lässt sie vor ihrem inneren dem Computer im Kinderzimmer dringt Auge die Liebe ihres Lebens noch einmal das regelmäßige Rattern eines Maschinen- Revue passieren. gewehrs und aus dem Fernseher im Wohn- In den Großaufnahmen von Mirren, die zimmer die sonore Stimme des gerade er- oft fast wie Standbilder wirken, kann der mittelnden „Tatort“-Kommissars. Zuschauer den Regungen dieser Frau nach- Die Medien, so scheint es, haben nicht spüren: ihrer Verbitterung über die Un- nur das Geschichtenerzählen übernom- treue ihres Mannes, ihrer Verzweiflung men, sondern auch das Erzählen von Ge- über sein Verschwinden und der Verzau- schichte. Wie es früher einmal war, weiß berung, die sie immer noch empfindet, Guido Knopp vom ZDF. Die Oma weiß es wenn sie sich vorstellt, wie er sie anlächelt. zwar auch, doch die ist im Wellness-Urlaub

Selten war es im Kino so spannend, einem in der Karibik. VERLAG / BERLINER MIKE FRÖHLING Menschen dabei zuzusehen, wie er wortlos Agenturchefin Rohnstock Bilanz zieht. Lars-Olav Beier * Dom-Umgebung in Frankfurt am Main 1945. Nicht kämpfen, sondern kuscheln

154 der spiegel 52/2004 tuellen Seligkeit der New-Economy-Ge- sellschaft, die auf Zukunft programmiert war – und das Erzählen lebt nun mal vom Erlebten, also von der Vergangenheit. Heute aber betreibt Rohnstock, 44, sogar in der Schweiz und in Österreich eigene Au- tobiografiebüros, und ihre Geschäftsidee wird nachgemacht: In München, in Ham- burg, im bayerischen Polling und andernorts gibt es heute Autobiografieagenturen. Kommunikationsflaute und Geständnis- lust – wie passt das zusammen? Das Er- zählen funktioniert dann sehr wohl, wenn es institutionalisiert wird, in gutorganisier- ten Gesprächskreisen oder im Dialog gegen Bezahlung. Die Autoren übernehmen die Rolle von Moderatoren. So mögen die Me- dien der Erzählkultur geschadet haben, doch nun wird sie durch typische Medien- techniken neu belebt: private Talkshows im Wohnzimmer oder in Salons. Meist sind es ehemalige Journalisten oder junge Filmemacher, die in die Woh- nungen vorrücken, um dort Geständnisse zu entlocken. Und dann fließen sie auf ein- mal: die Worte und die Tränen. Der Lebensbericht als Mini-Therapie – so jedenfalls hat das die Chemnitzerin Vera Georgi empfunden. Für ihren 60. Ge- burtstag Ende November gab sie einen Film, ein Buch und auch eine CD über ihr Leben in Auftrag und kehrte, um Erin- nerungen zu wecken, dafür auch in ihren Heimatort Bad Sulza zurück. Finanzieren

ARCHIV PROVAN konnte sie das alles nur, weil sie kurz zu- durch völlig Fremde vor eine Lebensversicherung ausgezahlt bekommen hatte. des alltäglichen Erzählenwollens, aus dem Vera Georgi hat sich von Rainer Koch be- vielleicht sogar wieder ein Erzählenkönnen fragen lassen, einem ehemaligen Rundfunk- werden wird. In Groß- und Kleinstädten journalisten, der mit Kollegen in Dresden finden sich Gesprächsrunden zusammen, und Berlin eine Agentur für Lebenshör- in sogenannten Salons und Erzählcafés. Da bücher gegründet hat. Koch, 57, besuchte wird dann die gemeinsame Geschichte re- Vera Georgi auch in ihrem Wohnzimmer in konstruiert. Beim Erzählcafé in Frankfurt Chemnitz, in dem Blumengebinde daran am Main zum Beispiel – organisiert vom erinnern, dass die Bewohnerin 40 Jahre Institut für Stadtgeschichte – wird der Bom- lang Blumenhändlerin war, erst in der Ge- benkrieg besprochen, die Zerstörung der nossenschaft, nach der Wende dann in Altstadt vor 60 Jahren. Da werden Zeit- ihrem eigenen Laden. zeugen und Historiker gebeten, und es geht Dass sie ihren Beruf nicht mehr ausübt, zu wie bei Maischberger oder Kerner in der liegt an einem Unfall, den sie beinahe nicht ARD oder im ZDF. überlebt hätte und auf den sie in ihren Be- Aus dieser Alltagskultur, aber auch zeit- richten immer wieder zurückkommt: Sie gleich zu ihr ist ein anderer Trend ent- war im Erzgebirge unterwegs gewesen, standen: Immer mehr Leute erzählen ihre wollte ein Bergwerk besichtigen und fiel Lebensgeschichte professionellen Autoren. dort in einen 15 Meter tiefen Schacht. Die machen daraus, meist für die Kinder Ins Mikrofon hinein erzählt sie, wie sie und Verwandten der Erzähler, ein Buch. auf der Intensivstation lag und wie da Auflage: ab zehn Stück aufwärts. Inzwi- die Alpträume, die Gespenster von frü- schen gibt es auch autobiografische Hör- her, zurückkehrten. Sie träumte, dass sich bücher und Filme. Hier lebt der familiä- eine Frau über sie beugt, jung und hübsch, re Dialog wieder auf – vermittelt durch in einem hellen Sommerkleid. Mit einer völlig Fremde. sanften Stimme habe die auf sie eingere- Vor ein paar Jahren galt diese Art von det: „Wir bringen Sie um, in vier Wochen Geschichtenaufzeichnen noch als abgele- haben wir es geschafft.“ Die Frau in den gene Marktidee. Kathrin Rohnstock – in- Träumen sei von der Stasi gewesen, und zwischen eine der meistbeschäftigten „Au- im richtigen Leben sei ihre Familie von tobiografinnen“ – wurde Ende der neun- der Stasi tatsächlich gequält worden, so er- ziger Jahre, als sie ihre Agentur gründete, zählt Vera Georgi weiter und bekommt noch verspottet. Das lag wohl an der vir- eine raue Stimme und glühende Wangen:

der spiegel 52/2004 155 Kultur SVEN SIMON SVEN LEBENSHÖRBUCH JENS WAGNER LEBENSHÖRBUCH Gesprächsstoff Wendezeit*, Erzählerin Georgi vor ihrem Heimatort Bad Sulza: „Das tut jetzt gut, dass das alles mal rauskommt“

„Das tut jetzt gut, dass das alles mal raus- Auch hier ist Schicksalsammler Koch dabei Dass es Zusammenhänge gibt zwischen kommt.“ und beobachtet, wie „Wessis“ und „Ossis“ der wirtschaftlichen Krise und dem kom- Rainer Koch, der Mann mit dem Mikro- lange Diskussionen darüber führen, ob die- munikativen Kuschelkurs, dafür sind die fon, sagt dazu nicht viel. Er lässt Vera Ge- se Begriffe nicht besser abgeschafft wer- jungen Filmemacher Joachim Mühleisen orgi die Version, die sie nun mal erzählen den sollten. Schon wieder: die Suche nach und Sascha Quednau die besten Beispiele. will, und fragt nur nach, um den Redefluss Gemeinsamkeit. Und bloß kein Streit. Sie sind Anfang dreißig und haben am voranzutreiben. Die unversöhnlichen Debatten von 68 Prenzlauer Berg in Berlin, unterstützt mit Und das scheint das Geheimnis der neu- wirken so weit weg wie die Zeiten von Ka- öffentlichen Geldern, eine Agentur ge- en Mitteilsamkeit zu sein: dass es kaum minfeuer und Lehnstuhl. Nicht kämpfen, gründet: Vitascope, Lebensbeichten, dies- Debatten gibt, auch wenn Kochs Kunden sondern kuscheln, heißt offenbar die De- mal auf Film. schon mal von ihrer Nazi-Vergangenheit vise. Oder: erklären, nicht kontern. Die Idee kam ihnen in der Not. Sie hat- berichten. „Ich halte mich zurück“, so de- Das galt auch für das erste „Erzählfest“, ten Filmwissenschaft studiert und fanden – finiert Koch seine Rolle und kommt dann, das im August in der Berliner Plattenbau- mitten in der Medienkrise – keinen Job. Sie als er wegfährt von Chemnitz, selbst ins siedlung Marzahn veranstaltet wurde. Da fingen an, Filme zu drehen: der eine über Erzählen: Er wolle nicht richten, wisse berichteten Bewohner, wie sie in die Sied- seine sterbende Großmutter, der andere selbst, dass man sich täuschen kann. Als er lung gekommen waren, die in den siebzi- über seinen Großvater, der dann auch bald 26 Jahre alt war, sei er in die SED einge- ger Jahren als „Großbaustelle des Sozia- starb. Bei den Trauerfeiern wurden die Fil- treten und empfinde das heute als Fehler, lismus“ galt, wie die Häuser hier schneller me gezeigt, und die Rührung war groß über „aber ändern kann ich es doch nicht“. wuchsen als die Straßen, wie man dann als die Begegnungen zwischen Enkeln und Koch will kein Journalist mehr sein, er Neu-Marzahner durch den Schlamm waten Großeltern und darüber, dass Unwieder- war zu DDR-Zeiten Korrespondent in In- musste und trotzdem glücklich war, hier bringliches festgehalten worden war. Der dien und später für den MDR in Prag, aber gelandet zu sein, weil die Altbauten in Ber- Job war gefunden oder vielmehr: erfunden. er mag die ewige Distanz nicht mehr, will lin-Mitte verfielen. Filmemacher Joachim Mühleisen, der „reinkriechen in Schicksale“ und so viele Organisatorin des Erzählfestes war Ka- sich „Jo“ nennt und altersgemäß in Jeans davon sammeln, wie es nur irgendwie geht. thrin Rohnstock, jene selbsternannte „Au- und Kapuzensweater steckt, ist selbst über- Gleich Tausende Schicksalserzählungen tobiografin“, die als eine der Ersten in rascht, mit welcher Vorsicht er die älteren tragen er und andere für die Europa-Uni- Deutschland eine Agentur für Lebensbe- Leute, die er nun porträtiert, behandelt. versität Viadrina in Frankfurt an der Oder richte gegründet hatte. Sie sagt, dass die Mit Anfang zwanzig, als er Zivildienstleis- und die Adam-Mickiewicz-Universität im Geschichten vor allem „Verbindung und tender war, hätten ihn gerade die Kriegs- polnischen Slubice zusammen. Befragt Verständigung“ schaffen sollen. Eine Suche geschichten aufgebracht – „heute bin ich werden Leute aus dem deutsch-polnischen nach dem Guten, nicht unbedingt Wahren, pragmatischer“. Und: „Ausflippen bringt Grenzgebiet: über Erlebnisse im Krieg oder aber irgendwie Schönen. nichts, da machen die Leute zu.“ den 17. Juni 1953 in der DDR und wie Was die Alten für Krisen gemeistert ha- sich das alles auf den Alltag ausgewirkt ben, das imponiert ihm. Und manchmal hat. Das Ganze wird auf CD gebrannt und fühlt er sich ihnen näher als der mittleren, der Forschung zur Verfügung gestellt. der Elterngeneration. „Bei denen lief alles „Oral History“ – „Mündlich überlieferte glatt“, für die sei Arbeitslosigkeit ja ein Geschichte“ ist sogar in der Geschichts- Fremdwort gewesen. wissenschaft ein Trend. Der Filmemacher wundert sich über Das eigene Leben einzuordnen in das knarzige Dialekte und merkt dann, wie große Drumherum, darum geht es auch bei schwach sein eigenes Schwäbisch geworden einem Gesprächskreis in Dresden, der sich ist. Er staunt über selbstverständliche Re- trifft, um über die Wende zu sprechen. ligiosität und darüber, wie die Männer, die

DANIEL KERN DANIEL sich eigentlich schwer tun mit dem Weinen, * Kundgebung in Dresden am 19. Dezember 1989 mit dem Filmemacher Mühleisen, Auftraggeber wenn es einmal losgeht, gar nicht mehr damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Lebensbeichten gegen Bezahlung aufhören können damit. Susanne Beyer

156 der spiegel 52/2004 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Dan Brown Sakrileg 1 (1) Ben Schott Lübbe; 19,90 Euro Schotts Sammelsurium Bloomsbury Berlin; 16 Euro 2 (2) Frank Schätzing Der Schwarm Kiepenheuer & Witsch; 24,90 Euro 2 (2) Helmut Schmidt Die Mächte der Zukunft Siedler; 19,90 Euro 3 (4) François Lelord Hectors Reise 3 (8) Dietrich Grönemeyer Piper; 16,90 Euro Mein Rückenbuch 4 (20) Gabriel García Márquez Zabert Sandmann; 19,95 Euro

Erinnerung an 4 (7) Klaus Bednarz Am Ende der Welt meine traurigen Rowohlt Berlin; 19,90 Euro Huren 5 (4) Senait Mehari Feuerherz Kiepenheuer & Witsch; Droemer; 16,90 Euro 16,90 Euro 6 (3) Chris Heath/Robbie Williams Qualen der Leidenschaft: Feel: Robbie Williams die verrückte Liebe eines alten Mannes zu Rowohlt; 22,90 Euro einer 14-Jährigen 7 (5) Frank Schirrmacher Das Methusalem-Komplott 5 (5) Ildikó von Kürthy Blessing; 16 Euro Blaue Wunder Wunderlich; 17,90 Euro 8 (12) Friedrich Merz Nur wer sich 6 (7) Umberto Eco Die geheimnisvolle ändert, wird bestehen Flamme der Königin Loana Herder; 19,90 Euro Hanser; 25,90 Euro 9 (6) Susanne Fröhlich Moppel-Ich 7 (10) Elizabeth George W. Krüger; 13,90 Euro Wer die Wahrheit sucht 10 (13) Henning Mankell ; 24,90 Euro Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt 8 (12) Rafik Schami Die dunkle Seite Zsolnay; 14,90 Euro der Liebe Hanser; 24,90 Euro

9 (11) Walter Moers Die Stadt der Träumenden Bücher Piper; 24,90 Euro Schicksale in Uganda: Aidskranke Eltern schreiben 10 (3) Stephen King Der Turm für ihre Kinder die Familiengeschichten auf Heyne; 26 Euro

11 (8) Sven Regener Neue Vahr Süd 11 (9) Wibke Bruhns Meines Vaters Land Eichborn Berlin; 24,90 Euro Econ; 22 Euro

12 (9) Eric-Emmanuel Schmitt Das Kind 12 (15) Roger Willemsen Gute Tage von Noah Ammann; 16,90 Euro S. Fischer; 19,90 Euro 13 (14) Allan und Barbara Pease 13 (16) Nicholas Sparks Ein Tag wie ein Die kalte Schulter und der warme Leben Heyne; 19 Euro Händedruck Ullstein; 16,95 Euro 14 (15) Amos Oz Eine Geschichte von 14 (10) Hans-Olaf Henkel Die Kraft des Liebe und Finsternis Neubeginns Droemer; 22,90 Euro Suhrkamp; 26,80 Euro 15 (11) Sigrid Damm Das Leben des 15 (13) Maarten ’t Hart In unnütz toller Friedrich Schiller Insel; 24,90 Euro Wut Piper; 19 Euro 16 (16) Werner Tiki Küstenmacher/ 16 (19) Dieter Hildebrandt Ausgebucht Lothar J. Seiwert Blessing; 19 Euro Simplify your life Campus; 19,90 Euro

17 (14) Val McDermid Echo einer 17 (18) Peter Hahne Schluss mit lustig Johannis; 9,95 Euro Winternacht Droemer; 19,90 Euro 18 (–) Rüdiger Safranski Schiller oder 18 (–) Audrey Niffenegger Die Frau des Die Erfindung des Deutschen Zeitreisenden S. Fischer; 19,90 Euro Idealismus Hanser; 25,90 Euro

19 (17) Cecelia Ahern P.S. Ich liebe Dich 19 (17) Bill Clinton Mein Leben W. Krüger; 16,90 Euro Econ; 28 Euro

20 (6) Paulo Coelho Der Alchimist 20 (19) Michael Moore Fahrenheit 9/11 Diogenes; 17,90 Euro Piper; 14,90 Euro

der spiegel 52/2004 157 Kultur

dungsanwalt, ein überzeugter und lebens- lustiger Junggeselle, ein Frauenverführer AUTOREN und ein Genießer in jeder Hinsicht. Er ist der Ich-Erzähler des Buches. Doch auf ihn kommt es letztlich nicht an, denn er wird Die unerträgliche Welt vor allem als Stichwortgeber und Bericht- erstatter benötigt. Er hat den anderen, den Älteren, immer Der Schweizer Schriftsteller Markus Werner lässt in seinem neuen wieder auszufragen und zum Weiterreden Roman „Am Hang“ zwei Herren über ihre Erfahrung mit der zu ermuntern. Bei diesem handelt es sich Liebe reden – und erweist sich als ein glänzender, unterhaltsamer um einen Gymnasiallehrer (wie Markus und lebenskluger Erzähler. Von Marcel Reich-Ranicki Werner selbst), verschroben und skurril, enttäuscht und verbittert, einen „etwas ver- drehten Menschen“, einen „schwadronie- über nicht zu belehren. Er ist ein Schrift- renden Halbgreis“, allerdings erst Anfang steller von umfassender Bildung (übrigens: oder Mitte fünfzig. ein promovierter Germanist mit Disserta- Dem etwas altmodischen Gymnasialleh- tion über Max Frisch). Er vermag exakt zu rer, der, wie er betont, nur tote Sprachen denken und glänzend zu formulieren. Sei- unterrichtet, ist daran gelegen nachzuwei- ne Intelligenz kann sich sehen lassen, was sen, „wie schrecklich die Gegenwart sei, man unseren Romanciers nur selten nach- wie unerträglich die Welt“. Auf die (natür- rühmen darf, und er hat viel zu sagen. lich linken) Hoffnungen seiner frühen Jah- Mein Liebchen, was willst du mehr? Aber re verweist die Bemerkung, er habe es er- hat er somit schon das Rennen gewonnen? leben müssen, wie seine Weggefährten zu Werners Romane erzählen von Men- „Schmieröllieferanten jenes Rades wur- schen in der Krise, von nachdenklichen den, dem sie einst in die Speichen greifen Aussteigern und stillen Rebellen, deren wollten“. Flucht aus der Welt selbstverständlich als Der Roman besteht weitgehend aus Ge- Versuch einer Auflehnung gegen das Un- sprächen zwischen diesen beiden Herren, begreifliche zu verstehen ist. Hier, in dem die sich in einem Tessiner Hotel kennen ge- kleinen Roman „Am Hang“, sind es zwei lernt haben und zwei Tage miteinander kultivierte und scharfsinnige Herren, bei- verbringen. Sie plaudern und diskutieren de redegewandt und bisweilen redselig, über die unterschiedlichsten Themen. Man was freilich auch mit ihren Berufen zu tun könne Hermann Hesses Bücher aufschla- hat: Der Jüngere ist ein erfolgreicher Schei- gen, wo man wolle, „man stoße stets auf MAURICE WEISS / OSTKREUZ MAURICE

Reich-Ranicki, 84, lebt als Kritiker und Buchautor in Frankfurt am Main. Zuletzt erschienen von ihm als dritter Teil des „Kanons der deutschen Literatur“ seine Dramenauswahl (Insel-Verlag) und die Sammlung eigener Kritiken zur US-Lite- ratur: „Über Amerikaner“ (DVA).

uf dem Umschlag heißt es, wie üb- lich in Mitteleuropa, „Roman“*. AAber, unter Brüdern: Was ist das, ein Roman? Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht mehr. Der englische Schriftsteller E. M. Forster verkündete, kess und resigniert, der Roman sei ein erzählendes Werk im Umfang von mindestens 200 Seiten. Basta. Der schon beinahe vergessene österreichi- sche Autor Hermann Broch erklärte: Was ein Roman ist, bestimmt der, der ihn schreibt. Abermals basta. Beide Äußerun- gen gefallen mir, denn sie bestätigen, dass es nach Joyce, Virginia Woolf und Faulkner, nach Döblin und Musil eine zuverlässige Definition des Romans nicht gibt – womit der an- haltende Welterfolg dieser Gat- tung zusammenhängt. Den Schweizer Markus Werner, Jahrgang 1944, braucht man dar-

* Markus Werner: „Am Hang“. S. Fischer Ver- ZÜRICH / DPA / KEYSTONE YAVAS AYSE lag, Frankfurt am Main; 192 Seiten; 17,90 Euro. Buchcover, Autor Werner: „Am Verfehlten schärft sich der Blick“

158 der spiegel 52/2004 Kultur eine Lebensweisheit oder Lebensregel“. die eine, die etwas lädiert ist … Wer so Und die beiden unentwegt redenden Der das in Werners „Am Hang“ sagt, fin- wahrnimmt wie Sie, muss zwingend zu ei- Herren im Mittelpunkt? Hier der smarte det es „zum Verzweifeln“. Gleichwohl gilt nem verheerenden Weltbefund kommen.“ und selbstsichere Rechtsanwalt, der ein es auch für dieses Buch – doch ohne dass Der Philologe nimmt das nicht hin, von zeitgemäßer Zyniker ist, dort der schwer- wir je verzweifelten. den neun Rosen seien, sagt er, in Wirk- fällige Lehrer toter Sprachen, der sich rasch Geredet wird über die Liebe und die lichkeit acht beschädigt, und höchstens als ein ziemlich anachronistischer Moralist Frauen, die Treue und den Verrat, über eine sei heil. Worauf ihn der Anwalt be- entpuppt. Beide können uns nicht ganz erotische Kultur und sexuelle Barbarei, lehrt: Am angemessensten nehme jener die überzeugen, da allzu deutlich Werners über das Naturbedürfnis und die Perver- Welt wahr, der beides sieht – „am Verfehl- Bemühung erkennbar wird, sie auf Biegen sion, über die Schule und das Fernsehen, ten schärft sich der Blick für das Gelunge- und Brechen als Typen und Gegenfiguren über die Werbung und die Pornofilme. ne und am Gelungenen für das Verfehlte“. zu stilisieren. Werner verteilt seine Gedanken und Ein- Da denken sich der Philologe (und wir Le- Aber es sind eben nicht seine Personen, fälle, seine Argumente und sogar Bonmots ser): „nicht schlecht, nicht schlecht, nur et- die mich veranlassen, dem Autor Werner sehr gerecht auf beide Romanhelden, und was zu einfach vielleicht“. herzlichen Beifall zu spenden. Es ist das er verhindert es, dass der eine oder der Der novellistische Handlungsbogen ist Besondere seines Talents. Es bewährt sich andere mit seinen Äußerungen den Ge- großzügig entworfen und reicht von der am häufigsten und am stärksten in kleinen sprächspartner an die Wand drängt. Wer ersten bis zu der letzten Seite des Romans, und kleinsten Einheiten: in der Etüde, in Pointen liebt, der kommt immer wieder das Gerüst ist sorgfältig, vielleicht allzu der Miniatur, in der Impression, in schein- auf seine Rechnung, was man nicht unter- sorgfältig konstruiert. Also möglicherwei- bar nebensächlichen oder gar belanglosen schätzen sollte. se überkonstruiert. Gehört zu Werners Bemerkungen. Was hier fortwährend und unaufdring- lich zum Vorschein kommt, macht dieses Buch so lesenswert: Es ist, im weitesten Sinne des Wortes, der Geist unserer Zeit, den der Schweizer aufdeckt. Er tut es, ohne sein Publikum aus der Fassung zu bringen oder gar zu kränken – was man nicht als Vorwurf missverstehen sollte. Werner ist ein schonungsvoller Erzähler. Er hat un- gleich mehr Humor als Witz, nicht Spott und Hohn liebt er, sondern die Ironie und die Selbstironie. So lacht man hier selten – und lächelt unaufhörlich. An die knappe Geschichte, unter wel- chen Umständen der Altphilologe seine künftige Frau zum ersten Mal zu sehen be- kam (als sich seine Dackelhündin auf ei- nem Feldweg plötzlich mit ihrem Labra- dor paarte und die beiden Tierliebhaber beschämt und ratlos zuschauen mussten), werde ich mich wohl dann noch erinnern, wenn die Haupthandlung des Romans längst in Vergessenheit geraten ist.

ALAMODE FILM Und schließlich eine schüchterne und Romanmotiv Liebesverrat*: Labrador und Dackelhündin vielleicht überraschende Bemerkung: Wer- ner ist ein Autor mit Takt und Geschmack Das alles liest sich sehr gut, zumal das Werkzeug auch ein Reißbrett? Jedenfalls und guten Manieren. Halt! Was sind denn Temperament des Erzählers Markus Wer- zeigt es sich immer wieder, dass, ob es um das wieder für Kategorien? Mit solchen ner von seiner Schwäche für das Diskursi- konkrete Details geht oder um die Aperçus, Kategorien kann man weder Dostojewski ve keineswegs beeinträchtigt wird. Er rä- Werner ein geistreicher Bastler und ein noch Kafka, weder Faulkner noch Grass soniert und debattiert, was das Zeug hält, fleißiger Tüftler ist, ein solider Virtuose. beikommen. Und der Satz von Somerset und bleibt doch ein stiller Poet, ein wenig Mit großer Konsequenz strebt er von An- Maugham (in seinem „Rückblick auf mein provinziell – was nicht schadet, weil es sei- fang an die effektvolle Schlusspointe des Leben“) „Gute Prosa ist eine Angelegen- nen diskreten Reiz hat. Ich habe mich, die- Romans an, was freilich seine Bewegungs- heit guter Manieren“ scheint mir, mit Ver- se Dialoge lesend, überhaupt nicht gelang- freiheit etwas einengt. Manches kann man laub, großer Blödsinn. Dennoch bin ich weilt. Leise will ich hinzufügen: Ich habe erst verstehen, wenn man den sanften und nicht ganz sicher, ob, sagen wir, Flaubert auch kaum Lust gehabt, irgendwann ener- dramatischen Epilog kennt. Denn Werner oder Proust, Fontane oder Thomas Mann gisch zu widersprechen. liebt die Geheimniskrämerei. Leider. Takt und Geschmack für so unbrauchbare Und eine Handlung müssen wir in die- Beleidige ich ihn, wenn ich bescheiden und absolut verwerfliche Kategorien (ne- sem Roman ganz vermissen? Nicht unbe- frage, ob er seinem beachtlichen Talent ben vielen anderen, versteht sich) halten dingt. Sie ergibt sich aus den Frauenge- Gewalt antäte, wenn er, auf etwas Ge- würden. Dass sie sich aber kaum oder gar schichten, die sich die beiden Herren ge- heimniskrämerei verzichtend, uns die Lek- nicht definieren lassen, ist auch wahr. genseitig erzählen, stets ihre Worte (oder türe seiner Prosa ein bisschen erleichterte? Was ein Roman ist, bestimmt der, der die des Partners) reichlich kommentierend. Den Hokuspokus dieses Erzählers beob- ihn schreibt – zitierten wir eingangs. Mar- Das klingt etwa so: „Wenn Sie neun präch- achtend, möchte man ihm gelegentlich zu- kus Werner hat mit seinem Buch „Am tige Rosen bekommen, dann sehen Sie nur rufen: „Jetzt reicht es.“ Aber dann kom- Hang“ diese These abermals bestätigt und men wunderbare, geradezu entwaffnende gehört spätestens jetzt zu den besten * Ewan McGregor, Emily Mortimer in dem Spielfilm Passagen; und statt zu bremsen, denkt man deutschsprachigen Schriftstellern seiner „Young Adam“ (2003). bei sich: „Danke.“ Generation. ™

160 der spiegel 52/2004 OLIVER LANG / DDP Deutsche Nationalspieler (nach dem 3:0-Sieg in Japan): Ein Knigge für den Umgang miteinander

FUSSBALL Tante Käthes Neffe Eineinhalb Jahre vor der Weltmeisterschaft ist die deutsche Nationalelf wieder als Marke gefragt. Bundestrainer Jürgen Klinsmann scheint für die Rolle des Aushängeschilds wie geschaffen. Der Mannschaft hat er bereits erfolgreich Stärke eingeredet.

achts um halb drei bat der Bundes- Vorigen Freitag, nur Stunden nach dem sich „Schritt für Schritt weiterentwickelt“. trainer in der Chartermaschine KE Monolog in der Luft, nahm dann aber aus- Dabei hat er bislang eigentlich jedes Mal N9708 rund 10000 Meter über dem gerechnet sein Lieblingsschüler Michael eine völlig andere Elf aufgeboten. Pazifik zur improvisierten Pressekonferenz Ballack erstmals den Wind aus den Klins- Er hat jedoch immerzu „Spaß, das zu se- wie sonst in diesem Ambiente nur der Bun- mann-Elogen. Den Schwärmern, die Fort- hen“, wie vermeintlich „Tolles heran- deskanzler. Sein Job, eröffnete Jürgen schritte im DFB-Team bereits als eine von wächst“ – und wie durch Suggestion spielt Klinsmann im Selbstgefühl des unangreif- Klinsmann angezettelte „Revolution“ deu- das Team dann wirklich phasenweise ta- baren Dauersiegers nach einem 3:0 gegen ten wollten, hatte der Kapitän im Strand- dellos wie nach mediokrer erster Halbzeit Japan kokett, dieser Job „vereinnahmt hotel von Pusan mitzuteilen: Vorgänger beim 3:0 in Yokohama. Jedenfalls glaubt mich. Du kannst nicht abschalten“. Rudi Völler habe schlicht eine „intakte die Elf anscheinend selbst allmählich so fest Bisher hatte der Wahlkalifornier für sei- Mannschaft hinterlassen“. Der gelungene an jene Stärke, die Klinsmann ihr einredet, ne Distanz zum eigenen Metier immer ein Einstand Klinsmanns, den die PR-Strategen dass Einschränkungen wie die von Ballack Argument: Von seinem Wohnort Hunting- für Standortmarketing in Deutschland der- („Mal sehen, wie es gegen Topgegner ton Beach aus könne er sich fernab von zeit hochleben lassen, sei darum kein Zufall. klappt“) oder Stürmer Miroslav Klose Personal- und Taktikdiskussionen bequem Bei allen Reklamezügen zur Imagewer- („Das Spiel ohne Ball muss bei uns besser zurücklehnen. Bei Fox Sports sehe er bung vor der Heim-WM 2006 führt der werden“) geflissentlich überhört werden. wöchentlich nur ein Bundesligaspiel live. Bäckerssohn die Lokomotive. Die ganze Der als Mutmacher leicht durchschau- Doch dieser Abstand, so bekannte er Figur Klinsmann wirkt seit der Kür zum bare Bundestrainer („Wir reden nicht von nach der ersten Etappe der Asienreise, hel- Bundestrainer im letzten Sommer wie eine Schwächen“) präsentiert sich auch in Fern- fe ihm nicht bei der Entspannung. Skepsis einzige Marketing-Inszenierung. ost gnadenlos optimistisch. Dass der neu zu Beginn seiner Dienstzeit sei „völlig be- Der Ex-Stürmer, der sich nach Ein- engagierte Sportpsychologe Hans-Dieter rechtigt gewesen“, konzedierte Klinsmann schätzung der Berliner „tageszeitung“ die Hermann „sich problemlos einarbeiten“ auf dem Weg nach Pusan – wie einer, der „Pseudo-Lockerheit“ bei der „New Eco- wird, tat er schon kund, bevor der über- sich des ungeteilten Beifalls für jüngste Er- nomy abgeschaut“ zu haben scheint, ist in haupt beim Team eingetroffen war. folge der Nationalmannschaft sicher sein seinem Reformeifer pausenlos „neugierig“, Mit seinen federnden Turnschuh-Schrit- kann. wie sich die Mannschaft präsentiert, wie sie ten symbolisiert Klinsmann dauerhaft Auf-

162 der spiegel 52/2004 SANDRA BEHNE / BONGARTS SANDRA Debütant Patrick Owomoyela, japanische Fans: „Spaß, das zu sehen“ RAUCHENSTEINER OLIVER BERG / DPA OLIVER Bundestrainer Klinsmann (oben mit Torwart Kahn, r. mit Sportpsychologe Hermann ): „Wir reden nicht von Schwächen“ bruchstimmung. Doch weil er fast immer dem technischen Kaufhaus: Zum Einstand Jetzt sitzt der Teammanager entspannt wie ein Verkünder von Werbebotschaften schenkten Bierhoff, Klinsmann und Trai- im Trainingsanzug in Yokohama – nur für klingt, wirkt er selten authentisch. Ganz nerassistent Löw allen Auswahlkickern ei- einen Moment irritiert, als ihm seine Klad- toll, wie Routinier Ballack bei der Auf- nen digitalen Musikspieler im Miniformat. de mit den Unterlagen in den schmalen munterung von Länderspiel-Neulingen be- Zusätzlich begann der Bundestrainer seine Wassergraben rutscht, die das Hotelres- hilflich sei, schwärmte der Bundestrainer Profis mit einer Spezialform seines Immer- taurant von der Bühne für den Pianisten auf dem Flug nach Südkorea. Nachmittags positiv-Ticks zu begeistern: Er versteckt je- trennt. In seinem Arbeitsbereich läuft fast verriet der Kapitän dann eher das Gegen- den Tadel listig im Lob. „Es gefällt mir, das alles nach Plan, die Spieler sollen auch teil: Bei dieser Art der Integrationshilfe sei Tempo ist gut“, schwindelte er zur Halbzeit außerhalb des Platzes „aktiv sein, statt nur er in der Regel eigentlich „zurückhaltend“. der holprig begonnenen Partie gegen Ka- zu reagieren“, sagt Bierhoff. Wie kein Zweiter verkörpert Klinsmann merun. Und ergänzte laut Ohrenzeugen Der frühere Vorzeigeprofi hat sich zum das Werbezeitalter des Fußballs. Kein Bild nach einer Weile: „Wir müssen das Tempo Ziel gesetzt, „die Persönlichkeitsentwick- aus Amerika zeigt den Junggebliebenen nicht nur halten, wir müssen es erhöhen. lung“ der Nationalspieler zu fördern. Dass mit dem schwäbischen Geschäftssinn ohne Ich will mehr Tempo sehen.“ das Sinn macht, hat er in einem Buch des das Logo seines persönlichen Sponsors aus Den Manager Bierhoff ließ Klinsmann Basketballtrainers John Wooden gelesen. der Kreditkartenbranche. Seine Sprache, Zeitplan-Ringbücher an die Spieler vertei- Der wurde für seine Erfolge mit UCLA, die Bewunderer an Führungskräftesemi- len. Sie bekamen auch je einen Locher, dem College-Team aus Los Angeles, zum nare und Skeptiker an Psychosekten erin- um die einzelnen Register selbständig um „Coach des Jahrhunderts“ gekürt. nert, lebt vom gleichen Schlagworte-Pa- weitere Blätter zu ergänzen. Darin stehen Die Zeiten, da Clubmanager wie der Ber- thos wie die Produktpräsentationen der die Spieltermine bis zur WM, die Ge- liner Dieter Hoeneß vor einer „Amerikani- Sportartikelindustrie. burtstage aller Kameraden und Betreuer, sierung des DFB“ warnten, sind längst vor- Als das neue Auswärtstrikot der DFB- Kurzpräsentationen aller DFB-Sponsoren. bei. Der Bremer Klaus Allofs lobt den „neu- Truppe vorgestellt wurde, hieß es: Sein Rot Und schließlich die Verhaltensregeln des en Schwung“, der von Klinsmann ausgehe, bedeute Dynamik, Feuer, Energie, Lei- Klinsmann-Regiments. „Wenn nur einer zu sein hannoverscher Kollege Ilja Kaenzig fin- denschaft, Aggressivität. Die Slogans, die spät kommt, kommt die Mannschaft zu det: „Das Amerikanische tut dem Ganzen sich nach Klinsmanns Vorstellung bei den spät“, heißt es da etwa. gut. Was man anfangs für Hokuspokus hielt, Nationalspielern in den „Köpfen festset- Fans und Medienvertretern sollen deut- wird mit jeder Woche logischer.“ zen“ sollen, sind: „Aggressivität, Agieren, sche Nationalspieler freundlich gegen- Im Vergleich zum fatalistischen Fußball- Offensive und Risikobereitschaft“. übertreten, schreibt der Klinsmann-Knigge konservativen Völler wirkt Klinsmann wie Und als der Bundestrainer das WM- vor, Verabredungen mit Journalisten sind Tante Käthes moderner Neffe aus Ameri- Quartier für 2006 bekannt gab, war es nicht einzuhalten oder wenigstens rechtzeitig ka. Heute bittet in Asien der aus Kalifor- einfach nur Berlin. Es war „in Deutsch- abzusagen. Verletzungen sollen umgehend nien eingeflogene Fitness-Coach von der land die Stadt schlechthin, da ist Energie. Arzt und Trainer berichtet werden. Außer- Firma Athletes’ Performance im deutschen Die Dynamik wird auf uns übergreifen“. dem gehören Sätze zum Kodex wie: „Bit- Mannschaftshotel zum „Aqua Jogging“ in Wenn Gerhard Schröder seit Beginn seiner te kritisiere keinen deiner Mitspieler in der der „Pool Area“, wie Klinsmann vom Tage Amtszeit der Medienkanzler ist, dann ist Öffentlichkeit.“ Der Reservetorwart Timo berichtet. Klinsmann der Außendarstellungstrainer. Hildebrand wurde wegen herablassender Nicht jede Übung löst Beifallsstürme Inzwischen hat er leichtes Spiel. Die Zu- Bemerkungen über den Kollegen Kahn aus. Und „nicht immer“, klagt Bierhoff, neigung der Mannschaft gewann das neue schon von Bierhoff fernmündlich abge- „wenn man die Spieler für etwas begeistern Führungsteam zunächst mit Artikeln aus mahnt. will, sind sie happy“. Als der Manager neu-

der spiegel 52/2004 163 Sport lich am Spielort Leipzig um Teilnehmer für sein Kulturprogramm warb, meldete sich kein einziger Profi. So marschierten Bierhoff und der Trainerstab allein zur Ni- kolaikirche. Auch der Computerkurs zur Bedienung der teamintern bevorzugten Software war nicht uneingeschränkt erfolgreich. Angrei- fer Gerald Asamoah bekannte jüngst, ohne Hilfe seiner Partnerin könne er immer noch nicht Klinsmanns E-Mails öffnen. Und als Bierhoff dem Jungnationalspieler Per Mertesacker anbot, er könne ihm güns- tig einen Laptop besorgen, winkte der ab. Er wohne ja noch bei den Eltern und kön- ne den Computer des Vaters benutzen, er- klärte der Abwehrchef von Hannover 96. Außerdem seien ihm zu viele Geschenke und Vergünstigungen peinlich. Mertesacker, 20, ist einer von inzwischen elf Neulingen, die in der Ära Klinsmann ins DFB-Aufgebot berufen wurden. Nach 20 Bundesligaspielen folgte der Länderspiel- Einstand in Teheran. Mertesacker blieb dennoch cool. Als Abiturient musste der Hüne von einem auf den anderen Tag ler- nen, Mitschülern Autogramme zu geben. Jetzt genießt es der Zivildienstleisten- de, täglich für ein paar Stunden in einer ge- schlossenen Anstalt für geistig Behinderte abzutauchen. „Das hält mich frisch“, sagt der bodenständige Antistar. Als ihm Klinsmann wie allen anderen Auswahlspielern eine DVD mit Auftritten der Nationalelf mitgab, schaffte sich Mer- tesacker deswegen noch lange keinen DVD-Player an. Was auf ihn als künftigen WM-Teilnehmer zukommen könnte, ahnt er nur: „Dann ist man halt Aushängeschild für Deutschland im Grunde genommen.“ Nicht jeder Novize wird bis zur WM bleiben dürfen. Denn wenn Klinsmann sein Tempo bei der Rekrutierung beibehält, wird bis 2006 fast jeder Profi mit deutschem Pass den DFB-Anzug im Schrank haben. Mit dem England-Legionär Moritz Volz wurde schon der erste Feldspieler als Ka- derneuling ohne Länderspieleinsatz ver- abschiedet. Dabei hätte er die Grundvor- aussetzung erfüllt: Er ist es aus der Premier League gewohnt, jeden Ball ohne Verzug in Richtung gegnerisches Tor zu bewegen. Diese Spielart, von Coach Löw in jedem Training unüberhörbar forciert, orientiert sich an jenem Systemfußball, der in der Bundesliga inzwischen selbst von Außen- seitern wie Mainz und Bielefeld gepflegt wird. Sie verlangt viel Fleiß und Selbst- vertrauen – und macht sich wegen der schnellen Ballbesitzwechsel vor allem im Fernsehen gut. Damit kann man werben. Ob der neue Stil auf Dauer erfolgreich ist, weiß auch Klinsmann nicht genau. „Wenn es nicht klappt“, stellte er Reportern lä- chelnd anheim, „könnt ihr uns kritisieren für alles, was wir falsch gemacht haben.“ Solche Unverletzlichkeit hat er allen sei- nen Vorgängern voraus: Klinsmann zeigt keine Angst vor Kritik. Jörg Kramer

164 der spiegel 52/2004 LUCA BRUNO / AP (O.); FRANK LEONHARDT / DPA (U.) / DPA LEONHARDT FRANK BRUNO / AP (O.); LUCA Formel-1-Feld: „Der Technologiekrieg, den die Hersteller führen, nützt keinem“

FORMEL 1 schäfte erfolgreich zu führen. Es gibt kei- nerlei Anzeichen, dass er es nicht mehr wäre. „Große Egos unterwegs“ SPIEGEL: Das kommt auf die Spielregeln an. Die Formel 1, so Ecclestones Credo, funk- Bankvorstand Gerhard Gribkowsky über Bernie Ecclestones tioniere am besten „als Diktatur“. Er regiert mit Zahlungen unter der Hand, um sich Niederlage vor Gericht, neue Gespräche mit den Autoherstellern Wohlwollen zu sichern und Abhängigkeiten und die Pläne der Bayerischen Landesbank mit dem Rennzirkus zu schaffen. Und: Wie viele Millionen aus den Vermarktungserlösen bei ihm persön- Gribkowsky, 46, verant- SPIEGEL: Hat Ecclestone Ihre Klage unter- lich hängen bleiben, ist kaum zu erkennen. wortet im Vorstand der schätzt? Ecclestones System sieht vor, dass er schal- Bayerischen Landes- Gribkowsky: Uns selbst hat das Urteil in sei- ten und walten kann, wie er will. bank den Geschäftsbe- ner Klarheit überrascht. Es wurde schnell Gribkowsky: Bei allem Respekt für sein reich Risk Office. In die gesprochen, es ist mit sofortiger Wirkung großes Lebenswerk: Diktaturen sind unse- Zuständigkeit des pro- rechtskräftig, eine Berufung ist nicht zuläs- res Erachtens nicht dauerhaft überlebens- movierten Juristen fällt sig. Der Richter sah die Beweislage als so fähig, es muss auch anders gehen. Weder die Formel-1-Beteiligung eindeutig an, dass er auf ein Zeugenverhör große Finanzinstitutionen noch Automo- der Bank, die sie im verzichtet und nur aufgrund der Doku- bilkonzerne können es sich erlauben, ein Frühjahr 2003 als Kre- mente entschieden hat. Management mit Zahlungen aus der Ho- ditgeber des Kirch-Konzerns nach dessen SPIEGEL: Ein Sieg erster Klasse für Sie? sentasche zu betreiben. Das widerspricht Insolvenz übernommen hat. Gribkowsky: Ja. Die Gewichte haben sich unserem Geschäftskodex. Die Formel 1 entscheidend verschoben. Wir, die Ban- braucht Entscheidungsmechanismen, die SPIEGEL: Herr Gribkowsky, die drei Geld- ken, haben die volle Kontrolle über SLEC auf klaren Absprachen basieren. häuser Bayerische Landesbank, J.P. Mor- und nun auch über deren Tochter FOH be- SPIEGEL: Sich von alten Gewohnheiten zu gan und Lehman Brothers, denen 75 Pro- kommen – und damit eine erhebliche Ver- verabschieden, scheint ihm dennoch zent der Formel-1-Dachgesellschaft SLEC antwortung. Jetzt machen wir uns an die schwer zu fallen. Noch am Tag des Londo- gehören, haben vor zwei Wochen einen Arbeit, auch die Direktorien der darunter- ner Richterspruchs hat er den Teams für bedeutenden Prozess vor dem Londoner liegenden Gesellschaften so zu besetzen, die kommenden drei Jahre 500 Millionen High Court gewonnen. Sie dürfen ab sofort wie es uns rechtlich zusteht. Dies möglichst Dollar zusätzlich in Aussicht gestellt – ohne drei Viertel der Sitze im Direktorium der im Konsens mit allen Beteiligten. sich über die Bedingungen zu äußern, die Formula One Holdings (FOH) beanspru- SPIEGEL: Ecclestone allerdings redet Ihren er daran knüpft. Sind Sie als sein Chef da- chen – und haben sich damit im Kampf um Triumph klein: „Nichts“ werde sich än- mit einverstanden? das operative Geschäft gegen den Chef- dern, behauptet er. Ignoriert er die Folgen Gribkowsky: Erstens bin ich nicht sein Chef, vermarkter Bernie Ecclestone durchge- für seine Alleinherrschaft? sondern der Chairman von SLEC. Zwei- setzt. Geht dessen Ära jetzt zu Ende? Gribkowsky: Ich kann nachvollziehen, dass tens kann ich seine privaten Vermögens- Gribkowsky: Wir wären schlecht beraten, er bei der großen Medienresonanz und der verhältnisse nicht beurteilen. Wenn er das wenn wir Ecclestone als zentrale Figur des Prominenz dieses Sports zunächst ver- Geld allerdings aus der Holding nehmen Formel-1-Sports ausgrenzen würden. Er sucht, das Urteil zu relativieren. Das wür- wollte, bräuchte er dazu die Zustimmung hat in mehr als drei Jahrzehnten intensive de ich in seiner Situation wahrscheinlich von uns als Gesellschafter. Kontakte zur Industrie, zu Sponsoren, ebenso tun. Aber wir sind gewillt, unseren SPIEGEL: Die Sie ihm verweigern würden? Rennstreckenbetreibern und anderen Be- neuen Einfluss mit aller Konsequenz und Gribkowsky: Zunächst einmal müssten wir teiligten aufgebaut, und seine Lebensleis- verantwortungsbewusst zu nutzen – not- genau wissen, welchem Zweck das Geld tung muss man anerkennen. Aber es gibt falls auch im Streit. Wir können mit stär- dienen sollte. Es könnte nur Teil eines Ge- Grenzen. Wir lassen uns nicht länger in keren Muskeln auftreten als bisher. samtdeals sein, um die Zukunft der Formel eine Rolle drängen, in der wir das Eigen- SPIEGEL: Könnten Sie Ecclestone als Ge- 1 zu sichern. Zahlungen nach Lust und kapitalrisiko tragen, jedoch nichts zu sagen schäftsführer sogar kündigen? Laune jedenfalls lassen wir nicht zu. haben. Wir haben gezeigt, dass wir bereit Gribkowsky: Theoretisch ja. Aber er hat be- SPIEGEL: Zu Ecclestones Eigenheiten gehört sind, unsere Position zu erkämpfen. wiesen, dass er in der Lage ist, die Ge- es auch, das Geschäftsimperium extrem zu

der spiegel 52/2004 165 verschachteln. Wie lange haben Sie China und Bahrein dagegen sind zweifellos gebraucht, um das Geflecht zu richtig gewesen. Nach Russland und Indien durchdringen? zu gehen, wäre wünschenswert. Und mit Gribkowsky: Gut ein Jahr, wobei nur zwei Rennen sind wir in Nordamerika sich in unserer Bank ein Team von im Vergleich zur dortigen Kaufkraft deut- vier Mitarbeitern allein mit der lich unterrepräsentiert. Formel-1-Beteiligung beschäftigt. SPIEGEL: Was halten Sie davon, dass der Das Dickicht ist vor allem aus steu- Formel-1-Tross im kommenden Jahr erst- erlichen Motiven entstanden, aber mals in der Türkei Station macht? sicher auch, weil Bernie im Tages- Gribkowsky: Die Türkei ist aus meiner Sicht geschäft unabhängig bleiben woll- ein unglaublich faszinierendes Land, das te. Zusätzlich kompliziert macht es sich an der Grenze zwischen Europa und das Business, dass im Renngeschäft dem Orient sehr schnell entwickelt und ei- so große Egos unterwegs sind. Und nen großen Einfluss auf die arabische Welt dass so viel Geld verdient werden hat. Die Bevölkerung ist sehr jung, es wer- kann – weshalb an der Frage, wie den mehr neue Haushalte gegründet als in die Erlöse verteilt werden sollen, jedem europäischen Land. sich die Geister derzeit scheiden. SPIEGEL: Nicht zuletzt weil die Formel 1 Wir haben klare Vorstellungen: stets neue Märkte erschließt, beläuft sich Eine langfristige Lösung gibt es der Gewinn aus ihrer Vermarktung pro nur, wenn alle Interessen genü- Jahr auf etwa 300 Millionen Dollar. Eccle- gend berücksichtigt werden und stone hat es bis zum Milliardär gebracht, ei- Frieden untereinander herrscht. nige Teamchefs stiegen in den Zeiten des Uns nützt kein Vertragspartner, Booms zu Multimillionären auf. Wie viel

der so geknebelt ist, dass er wirt- / GES GILLIAR MARKUS verdienen die Banken eigentlich? schaftlich nicht überlebt. Eine Vermarkter Ecclestone, Ehefrau: „Notfalls im Streit“ Gribkowsky: Im Moment kostet uns das En- Reihe von Verträgen haben diese gagement Geld. Das liegt daran, dass 1999 Grenze erreicht, sonst würden die Her- ter fährt, ob sein Motor 800 oder 900 PS eine Anleihe aufgelegt wurde, der soge- steller ja nicht über eine alternative Renn- hat. Der Technologiekrieg, den die Her- nannte Formel-1-Bond. Fast der gesamte serie nachdenken. steller führen, nützt keinem. Wenn manche Gewinn wird noch für die Rückzahlungen SPIEGEL: Die Autokonzerne Fiat, Daim- Teams allein in die Technik jährlich 350 aufgewendet. lerChrysler, BMW und Renault haben sich Millionen Dollar oder mehr investieren, SPIEGEL: Wie lange bleibt das so? in der Grand Prix World Championship dann ist das nicht mehr gesund. Die Kosten Gribkowsky: Die Laufzeit war bis 2010 ge- (GPWC) organisiert und arbeiten mit müssen unter Kontrolle, das zu schaffen plant, aber der Bond ist schon weiter Hochdruck daran, sich 2008 abzuspalten. ist die dringlichste Aufgabe. zurückgeführt als gedacht. 2006 oder 2007 Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass die SPIEGEL: So weit Ihre Forderungen. Was könnte die Sache erledigt sein. Danach Formel 1 stirbt – und Ihre Anteile wertlos können Sie den Herstellern anbieten? bleibt wieder nennenswert freies Geld werden? Gribkowsky: Sie sollen zum Beispiel mitbe- übrig. Gribkowsky: Wir nehmen das Thema sehr stimmen dürfen, wie viele Grand Prix in SPIEGEL: Warum stoßen Sie nicht einfach ernst. Ich glaube, dass der Markt zu klein den Rennkalender aufgenommen werden. Ihre Anteile am Verlustbringer SLEC ab? wäre für zwei konkurrierende Meister- Und wo überall wir fahren. Die Formel 1 ist Gribkowsky: Solange der Bond auf dem Ge- schaften und ein Machtkampf zwischen eine Marketingplattform. Mercedes dürfte schäft lastet, können wir auf dem Markt den Serien letztlich beiden schaden würde. nicht daran interessiert sein, in – nur so als keinen akzeptablen Preis erzielen … Ich denke aber nicht, dass die Türen bereits Beispiel genannt – Sri Lanka zu fahren. SPIEGEL: … und müssen mit einer unge- zugefallen sind. Es gibt Ideen der GPWC, Das ist kein Markt für sie. Die Schritte nach liebten Altlast fauler Kredite leben? die zu übernehmen sich durchaus lohnt. Gribkowsky: So sehe ich das nicht. Sicher, es Wir können allerdings verlangen, dass alle ist ein Teil von Kirchs Nachlass, aber wir Beteiligten sich zur Formel 1 bekennen – Teure Töchter verwerten eine Sicherheit, das ist nun mal und wenn eine Alternativserie geplant Die Gesellschaften der Formel 1 so. Andererseits ist die Formel 1 mit ihrer wird, klingt das als Bekenntnis halt nicht Attraktivität für Industrie, Werbewirtschaft so fürchterlich glaubhaft. Wir werden nur Bambino Speed Investments und Publikum ein interessantes Invest- dann bereit sein können, mehrere hundert (62,2% Bayerische Landes- ment. Wir zielen darauf ab, die Stabilität Holdings bank, je 18,9% Lehman Millionen Dollar zusätzlich auszuschütten, (Familie Ecclestone) Brothers und J.P. Morgan) dieses Sports langfristig zu sichern. Später wenn garantiert wird, dass nicht einige mag dann der Zeitpunkt kommen, an dem das Geld einstecken und dann aufhören. 25% 75% wir sagen, okay, jetzt verabschieden wir Ford hat gerade erst sein Jaguar-Team samt uns wieder. Ob ganz oder nur teilweise, der Motorenschmiede Cosworth verkauft SLEC Holdings ob durch einen Börsengang oder anders, und ist ausgestiegen. Wir müssen Wege 100% das ist alles offen. finden, solch böse Überraschungen zu SPIEGEL: Wann wäre es so weit? verhindern. Formula One Holdings Gribkowsky: Aus der heutigen Perspektive: SPIEGEL: Woher nehmen Sie Ihre Zuver- in drei bis fünf Jahren, vorher nicht. sicht? 100% SPIEGEL: Allein die Bayerische Landesbank Gribkowsky: Es geht hier nicht um eine Ego- hatte Kirch für den Erwerb der SLEC-An- Übung. Alle täten gut daran, sich wieder Formula One Administration teile eine Milliarde Dollar geliehen. Wer- darauf zu besinnen, den Kunden in den 100% den Sie diese Summe je wiedersehen? Mittelpunkt zu stellen: die Zuschauer, die Gribkowsky: Das hängt von so vielen Un- zur Strecke kommen oder die Rennen am Formula One Management wägbarkeiten ab, dass die Frage heute nicht Fernsehschirm verfolgen. Denen ist es egal, zu beantworten ist. ob ein Auto 300 oder 360 Stundenkilome- Interview: Detlef Hacke, Alfred Weinzierl

166 der spiegel 52/2004 SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) FRANKFURT AM MAIN Andreas Wassermann, Christoph Pauly, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel. (069) Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben CHEFREDAKTEUR Stefan Aust (V. i. S. d. P.) Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 9712680, Fax 97126820 E-Mail: [email protected] STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 Nachdruckgenehmigungen DEUTSCHE POLITIK Leitung: Hans-Joachim Noack, Dietmar Pieper MÜNCHEN Dinah Deckstein, Heiko Martens, Bettina Musall, Conny (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Per Hinrichs, Carsten Holm, für Texte und Grafiken: Neumann, Lerchenfeldstraße 11, 80538 München, Tel. (089) 4545950, Dr. Hans Michael Kloth, Bernd Kühnl, Merlind Theile, Klaus Wie- Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit Fax 45459525 schriftlicher Genehmigung des Verlags. Das gilt auch grefe. Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Dr. Thomas Darnstädt, für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Hartmut Palmer STUTTGART Felix Kurz, Alexanderstraße 18, 70184 Stuttgart, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Gabor Steingart, Konstantin von Hammerstein (stellv.), Dirk Kurbjuweit (stellv.). Redaktion Politik: REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND Deutschland, Österreich, Schweiz: Ralf Beste, Petra Bornhöft, Markus Feldenkirchen, Horand Knaup, Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Roland Nelles, Alexander Neubacher, Ralf Neukirch, René Pfister, BAGDAD Tel. 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Klaus Umbach, Claudia Voigt, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. 6797522, Fax 6797768 Autor: Urs Jenny Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 SAN FRANCISCO Marco Evers, 1452 Bush St, Apt 6, San E-Mail: [email protected] GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- Francisco, Ca 94109, Tel. (001415) 441 3705, Fax 358 4522 tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Ralf Hoppe, Ansbert Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Kneip. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Thomas Hüetlin, Alex- SHANGHAI Dr. Wieland Wagner, An Sheng Garden 263, Huqingping ander Smoltczyk, Barbara Supp Rd. 1357, Qingpu District, Shanghai 201702, Tel. (008621) 5988 6646, Frankfurt am Main Fax 5988 6645 Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, E-Mail: [email protected] Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger WARSCHAU P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 SONDERTHEMEN Leitung: Stephan Burgdorff, Norbert F. Pötzl Abonnementspreise WASHINGTON Georg Mascolo, Dr. Gerhard Spörl, 1202 National Inland: zwölf Monate ¤ 145,60 (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Horst Beckmann, Wolfram Bickerich, Joachim Mohr, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 465,40 Dr. Rainer Traub, Kirsten Wiedner Fax 3473194 Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 101,92 inkl. PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina WIEN Jürgen Kremb, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 6-mal UniSPIEGEL Stegelmann 5331732, Fax 5331732-10 Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– Europa: zwölf Monate ¤ 200,20 HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 278,20 DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Dr. Anja Bednarz, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, werden anteilig berechnet. Holger Wolters (stellv.) Heinz Egleder, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Fal- ✂ SCHLUSSREDAKTION Regine Brandt, Reinhold Bussmann, Lutz kenberg, Cordelia Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Abonnementsbestellung Diedrichs, Dieter Gellrich, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Maika Silke Geister, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Susanne Heitker, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, 20637 Hamburg. Sirkka, Ulrike Wallenfels Michael Jürgens, Renate Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Angela Oder per Fax: (040) 3007-3070. BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lake- gestaltung), Christiane Gehner, Claudia Jeczawitz, Matthias Krug, meier, Hannes Lamp, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ich bestelle den SPIEGEL Anke Wellnitz; Josef Csallos, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard ❏ für ¤ 2,80 pro Ausgabe (Normallieferung) Peter Hendricks, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Peer Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Werner ❏ für ¤ 8,95 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am Peters, Dilia Regnier, Sabine Sauer, Claus-Dieter Schmidt, Karin Nielsen, Margret Nitsche, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Weinberg. E-Mail: [email protected] M. Peets, Anna Petersen, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Andrea Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Sauerbier, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlü- GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, ter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann- Hefte bekomme ich zurück. Renata Biendarra, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Tiina Hurme, Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wil- das monatliche Programm-Magazin. LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe; Christel Basilon, Katrin helm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Bollmann, Regine Braun, Claudia Conrad, Volker Fensky, Petra Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl- Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Martina Henning Windelbandt Treumann, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst Sonderhefte: Rainer Sennewald LESER-SERVICE Catherine Stockinger Name, Vorname des neuen Abonnenten PRODUKTION Frank Schumann, Christiane Stauder, Petra Thor- NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / mann, Michael Weiland Washington Post, New York Times, Reuters, sid TITELBILD Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, Straße oder Hausnummer oder Postfach SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Arne Vogt, Monika Zucht Verantwortlich für Anzeigen: Jörg Keimer REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 58 vom 1. Januar 2004 PLZ, Ort BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Mediaunterlagen und Tarife: Tel. (040) 3007-2540 Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Ich zahle Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 1 Verantwortlich für Vertrieb: Lars-Henning Patzke ❏ bequem und bargeldlos per Bankeinzug ( /4-jährl.) BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax 26703-20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Dresdner Druck- und Verlagshaus Bankleitzahl Konto-Nr. DRESDEN Steffen Winter, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 MARKETINGLEITUNG Christian Schlottau DÜSSELDORF Georg Bönisch, Andrea Brandt, Frank Dohmen, Bar- VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck, Matthias Schmolz Geldinstitut bara Schmid-Schalenbach, Carlsplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. 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168 der spiegel 52/2004 Chronik 11. bis 17. Dezember SPIEGEL TV

SAMSTAG, 11. 12. Nacht geben sie auf und lassen alle MONTAG, 20. 12. Geiseln frei. 22.45 – 23.15 UHR SAT.1 UKRAINE Wiener Ärzte stellen bei Opposi- tionschef Wiktor Juschtschenko eine KONGO Im Osten des zentralafrikanischen SPIEGEL TV REPORTAGE schwere Dioxinvergiftung fest. Der Politi- Landes brechen erneut Kämpfe zwischen Duell in HO – ker, dessen Gesicht seit September ent- Armee und Rebellen aus. Bis zu 350000 Wer hat die größte Modellbahn? stellt ist, vermutet einen Mordversuch. Menschen sind auf der Flucht. Seit über vier Jahren bauen zwei Ham- burger Brüder an der größten digitalen MAUT Bundesverkehrsminister Manfred SONNTAG, 12. 12. Modelleisenbahn der Welt. Doch jetzt Stolpe verkündet, das System von Toll droht Konkurrenz in Gestalt zweier Brü- ATOMENERGIE Wie die „Washington Post“ Collect werde am 1. Januar 2005 endlich der aus Berlin. Mit ihrer Anlage wollen enthüllt, hörte die US-Regierung an den Start gehen. Telefonate des Leiters der Internationa- sie die Hanseaten noch in diesem Jahr len Atomenergiebehörde, Mohammed TÜRKEI I Das EU-Parlament spricht sich in al-Baradei, ab. Die USA wollen eine drit- Straßburg für Beitrittsverhandlungen mit te Amtszeit des Ägypters verhindern. der Türkei aus.

MONTAG, 13. 12. DONNERSTAG, 16. 12. BUKAREST Der liberale Oppositionspoliti- LOTTO Der Rekord-Jackpot ist geknackt. ker Traian Basescu steht als neuer Präsi- Zwei Gewinner teilen sich 26,7 Millionen dent Rumäniens fest. Bei einer Stichwahl Euro. gegen den amtierenden Ministerpräsiden- ten Adrian Nastase erhielt er 51 Prozent TÜRKEI II Nach dem Parlament sprechen der Stimmen. sich auch die Staats- und Regierungschefs SPIEGEL TV der EU für Beitrittsverhandlungen mit Berliner Miniatureisenbahnbauer DIENSTAG, 14. 12. der Türkei aus, die im Oktober 2005 beginnen sollen. Dafür soll die Türkei übertrumpfen. Die amtierenden Welt- ZUGUNGLÜCK Im nordindischen Bundes- Zypern anerkennen. meister sehen sich ihrer Idee sowie eini- staat Punjab stoßen zwei Passagierzüge ger technischer Tricks beraubt, die Berli- frontal zusammen. Mindestens 50 Men- FREITAG, 17. 12. ner bestreiten das. schen sterben, 150 werden verletzt. UMWELTSCHUTZ Auf der UN-Klimakonfe- DONNERSTAG, 23. 12. TERROR Innenminister Otto Schily weiht renz in Buenos Aires blockieren die USA 22.25 – 23.20 UHR VOX in Berlin ein neues Anti-Terror-Zentrum und Saudi-Arabien die Verhandlungen ein. Das BKA und der Verfassungsschutz über eine Nachfolgeregelung für das 2012 SPIEGEL TV EXTRA stellen die meisten Mitarbeiter, daneben auslaufende Kyoto-Protokoll. Die Cash-Maschine – sollen Angehörige weiterer Bundes- und Weihnachtsrausch in der Shopping Mall VORWÜRFE CDU-Generalsekretär Laurenz Länderbehörden bis hin zu BND und Die Opry Mills Shopping Mall in Nash- Bundesgrenzschutz auf dem Gelände im Meyer gerät in die Kritik. Er wurde auch nach Amtsantritt noch fünf Monate lang ville, Tennessee, ist eines der profitabels- Berliner Stadtteil Treptow untergebracht ten Einkaufszentren der Welt. Direkt werden. von seinem früheren Arbeitgeber, dem Stromkonzern RWE, bezahlt und bezog neben der Grand Ole Opry, dem heiligen Ort der Country Music, gelegen, locken MITTWOCH, 15. 12. billiger Strom und Gas. ENTFÜHRUNG Zwei Albaner entführen in FÖDERALISMUS Die Kommission von Bund Athen einen vollbesetzten Linienbus. und Ländern, die über eine Reform der Sie fordern eine Million Euro Lösegeld bundesstaatlichen Ordnung berät, schei- und einen Flug nach Russland. In der tert an der Bildungspolitik.

Der Surfer Rusty Keaulana meistert die erste Welle beim alljährlichen Wettbewerb „Eddie“ vor Hawaii. Am Mittwoch erreichen die Wellen eine Höhe von 10 Metern und mehr. SPIEGEL TV Weihnachtsmann in der Shopping Mall

mehr als 200 Geschäfte auf 400000 Qua- dratmetern Touristen und Einheimische. SPIEGEL TV blickt hinter die Kulissen der Konsumkathedrale.

SONNTAG, 26. 12. RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Die Sendung entfällt wegen des Feiertags- sonderprogramms auf RTL. RONEN ZILBERMAN / AP RONEN ZILBERMAN

der spiegel 52/2004 169 Register

gestorben fand der Softrocker, der im nächsten Jahr auf Tournee 30 Jahre Karat feiern wollte, Christine Wodetzky, „waren wir die erste Ost-West-Band, lange 64. Sie spann wie einst vor der Wiedervereinigung.“ Herbert Drei- Joan Collins’ biestige lich starb in der Nacht zum 12. Dezember „Denver“-Figur Alexis in Berlin an Krebs. in zahlreichen TV-Se- rien und Mehrteilern so Carsten Peter Thiede, 52. Internatio- lustvoll wie elegant die nales Aufsehen erregte der Paderborner Fäden der Intrige. Die Papyrologe mit seinem Buch „Der Jesus- in Leipzig geborene Papyrus“. Anhand von Fragmenten der

Schauspielerin begann & THOMAS K. GERDES / THOMAS Qumran-Rollen legte er dar, dass das ihre Theaterkarriere Matthäus-Evangelium deutlich früher ent- bereits mit Anfang zwanzig in ihrer Hei- standen sei, als die übrige Fachwelt bisher matstadt, bevor sie 1962 nach dem Mauer- annahm. Mit seiner These, es könne daher bau in den Westen flüchtete. Dort erhielt sie von einem Augenzeu- Engagements an Bühnen in Stuttgart, Ham- gen, womöglich einem burg, Zürich und Düsseldorf, spielte die Jünger Jesu stammen, Polly in Brechts „Dreigroschenoper“ oder blieb er jedoch weitge-

MARK WILSON / AP WILSON MARK die durchtriebene Marquise de Merteuil in hend allein. Ebenso INSIDE GUANTANAMO „Gefährliche Liebschaften“ nach Choderlos teilten nur wenige Ex- Seit 2001 sitzen Hunderte Terrorverdächti- de Laclos. In den siebziger Jahren avan- perten seine Ansicht, ge in Guantanamo. Viele erfuhren erst jetzt, cierte sie zu einer vielgefragten Fernseh- die in Rom aufbewahr- was gegen sie vorliegt. SPIEGEL ONLINE darstellerin, die TV-Serien wie „Derrick“, te Holztafel vom Kreuz

„Der Alte“ oder „Ein Fall für zwei“ ihr KELLER CHRISTOPH Jesu Christi mit der dokumentiert Verhöre, die Einblicke in die prägnant-herbes Gesicht lieh und sogar in- Aufschrift INRI sei Schattenwelt des Anti-Terror-Krieges geben. ternationale Kinoproduktionen wie „Die echt. Dagegen galt seine Entdeckung der ̈̈ Akte Odessa“ (1974) mit Kurzauftritten Lage des Dorfs Emmaus bei Jerusalem als WIRTSCHAFT adelte. Mehrfach erhielt sie Fernsehpreise sicher. Der in Berlin geborene Thiede un- Abgebrüht: Nachdem Karstadt aus- wie die Goldene Kamera und den Bambi. terrichtete zuletzt „Umwelt und Zeitge- gestiegen ist, muss die Kaffeehaus- Christine Wodetzky starb am 7. Dezember schichte des Neuen Testaments“ an der Kette Starbucks aus eigener Kraft in Berlin. Staatsunabhängigen Theologischen Hoch- auf dem deutschen Markt bestehen. schule Basel und hatte einen Lehrauftrag Im SPIEGEL-ONLINE-Interview erklärt Herbert Dreilich, 62. Zum Konzert in der im Fachbereich Geschichte der israelischen der Deutschland-Chef, wie das Berliner Wuhlheide im September 2000, Ben-Gurion-Universität in Beerscheba. funktionieren soll. anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Carsten Peter Thiede starb am 14. Dezem- ̈̈ POLITIK ber in Paderborn nach einem Herzinfarkt. Gefährlicher Wahlkampf: sechs Wo- chen bis zu den Wahlen im Irak – und August von Kageneck, 82. In Frankreich kein Ende der Gewalt in Sicht. Bei hinterließ der langjährige Paris-Korrespon- dent der „Welt“ und ehemalige Panzersol- öffentlichen Auftritten riskieren die dat des Zweiten Weltkriegs, der perfekt Kandidaten ihr Leben. Französisch sprach, durch sein nobles Auf- ̈̈ KULTUR treten einen tiefen Eindruck. Der Nach- Messerscharf: Die amerikanische TV- komme eines alten Adelsgeschlechts mel- Serie „Nip/Tuck“, die nun auch in dete sich mit 17 Jahren freiwillig zur Wehr- Deutschland startet, zeigt alles, was macht und nahm als junger Offizier am

deutsche Schönheits-OP-Formate PRESS / ACTION NIKOLAI Krieg teil. Nachdem er lange am Bild der auch zeigen – nur härter und intelli- unbezweifelbaren Soldatenehre festgehal- genter. Band Karat, kamen 17000 Menschen. Ein ten hatte, setzte er sich im hohen Alter mit ̈̈ SPORT Riesenerfolg für den Sänger und seine den Verbrechen der Basketball-Guru: Wie Holger Ge- Truppe, vor allem weil die ehemalige DDR- Wehrmacht auseinan- schwindner mit esoterisch anmuten- Kultband in den neunziger Jahren in Ver- der. Mit seinen Publi- gessenheit zu geraten drohte. „Wir waren kationen trat er für die den Tricks den NBA-Star Dirk Nowitzki Götter in der DDR“, stellte Dreilich fest, deutsch-französische auf Erfolgskurs hält. der mit seiner rauchigen, manchmal leicht Verständigung ein, und ̈̈ Dazu täglich mehr als 100 weitere gepressten Stimme die Rockballaden ge- in der Europäischen aktuelle Nachrichten, Reportagen und fühlvoll vortrug, „aber eben nur in der Union sah er eine Ant- Hintergründe bei SPIEGEL ONLINE. DDR.“ Karat, 1975 gegründet, war die ein- wort auf die Katastro-

zige ernstzunehmende Konkurrenz der be- / AFP DANIAU MYCHELE phen der beiden Welt- Jeden Tag. liebten im sozialistischen Deutsch- kriege. Im vergangenen land. Mit Hits wie „Der blaue Planet“ und Jahr erschien sein Buch „Unsere Ge- 24 Stunden. „Schwanenkönig“ sang sich Dreilich in die schichte“, das Gespräche mit einem fran- Herzen der jungen DDRler. Der Karat- zösischen Résistance-Kämpfer über die www.spiegel.de Song „Über sieben Brücken musst du Erfahrungen der beiden Männer während gehn“ wurde durch Peter Maffay auch im des Krieges dokumentiert. August von Ka- Schneller wissen, was wichtig ist. kapitalistischen Westen berühmt. „Damit“, geneck starb am 13. Dezember in Lübeck.

170 der spiegel 52/2004 Personalien

Gisele Bündchen, 24, brasiliani- sches Starmodel, hat Ärger wegen ihres jüngst entlaufenen Hundes. Die Finder des Tierchens, Janelle Olson und Paul Douwenga aus San Bernardino, behaupten, die Schöne habe nicht nur nicht die ausgelobten 2000 Dollar Finder- lohn gezahlt, als sie ihr den York- shire-Terrier zurückbrachten, sie habe im Gegenteil die beiden auch noch von Polizisten in Handschel- len abführen lassen. Das Paar hat- te das Hündchen auf der Straße Suchanzeige, Bündchen aufgelesen und mitgenommen, was Bündchen offenbar per Überwachungskamera sah. Nach einigen Tagen hatten die beiden die Suchanzeigen entdeckt und den Hund wohlbehalten bei der angegebenen Adresse abge- geben. Der von Olson und Douwenga beauftragte Anwalt ver- mutet, wohl nicht zu Unrecht, Bündchen verdächtige die bei- den des Hundediebstahls, ein Anwurf, den die Polizei aber jetzt zurückweist, die Anschuldigungen entbehrten jeder Grundla- ge, die Untersuchung sei abgeschlossen. Bislang hat sich Bünd- chen geweigert, die ausgeschriebene Belohnung auszuhändi- gen. Durch ihre Agentin ließ sie ausrichten: „Gisele freut sich sehr darüber, dass sie ihren Hund wiederhat, kein weiterer Kommentar.“ X17AGENCY.COM (L.); LOUIS LANZANO / AP (R.) (L.); LOUIS X17AGENCY.COM

ne-Hotels beiwohnten, waren gehalten, Jean-Pierre Raffarin, 56, Regierungschef ihm bei der Auswahl des für San Remo er- in Frankreich, hat bei einem offiziellen folgversprechendsten Titels zu helfen. Die Besuch in Mexiko wieder einmal Kostpro- Ad-hoc-Jury unter Vorsitz des Senatsprä- ben seines Hangs zu banalen bis unver- sidenten Marcello Pera erklärte das Ber- ständlichen Plattitüden geliefert, die die lusconi-Werk „Samba e ciucculate“ (Sam- französische Sprache mittlerweile um das ba und Schokolade) zum Sieger. In dem Wort „Raffarinades“ bereichert haben. Lied geht es in neapolitanischem Dialekt Bei einer Debatte über kulturelle Vielfalt um die leidenschaftliche Liebe – merk- im Senat der mexikanischen Hauptstadt würdigerweise zu einer Brasilianerin. verblüffte der Franzose die Teilnehmer mit der sonderbaren Feststellung: „Ganz Christopher Savido, 23, US-Künstler, oben auf dem Gipfel seines Stammbaumes stieß mit einem Porträt von US-Präsident klingt der Mensch am richtigsten“, um kurz George W. Bush, 58, auf wenig Gegen- danach hinzuzufügen: „Viele Philosophen liebe. Tausende hatten die Kunstausstel- sagen: Die Sonne, das ist der Mensch.“

ANSA / AFPANSA lung im neueröffneten Chel- Die kulturelle Vielfalt sei, Berlusconi, Apicella sea Market in New York so Raffarin weiter, durch City bereits besucht, als die „schwere Panzer (chars Silvio Berlusconi, 68, Ministerpräsident Marktmanager an dem klei- lourds), beladen mit Ein- und reichster Mann Italiens, strebt nach nen Gemälde Savidos An- heitsdenken“, bedroht. Die überstandenem Gerichtsverfahren und stoß nahmen. Von Ferne be- Empfehlung des wortgewal- wieder steigenden Publikumswerten zu trachtet, zeigt das Bildnis tigen Franzosen an seine neuen Karrierehöhen. Der sangesfrohe hohe Ähnlichkeit mit Bush, Gastgeber: „Wir dürfen un- Cavaliere plant einen echten Wahlkampf- aber der Blick aus der Nähe sere Modelle nicht in Pan- knüller: den Gewinn des nächsten Schla- enthüllt, dass sich auf dem zerwagen (fourgons blindés) gerwettbewerbs von San Remo. Auch Bild Schimpansen in einer exportieren.“ Das Satire- wenn es am vorvergangenen Freitag nur Art Sumpflandschaft tum- Blatt „Le Canard enchaîné“, ein Freispruch zweiter Klasse war, war der meln. Das Werk wurde ab- mutmaßt, der konservative fallen gelassene Vorwurf der Richterbeste- gehängt, nach der Drohung Regierungschef habe wohl chung doch Grund für eine ausgelassene der Marktleute, sie würden Bush-Porträt von Savido stark unter der Hitze in der Party mit Parteifreunden, auf der Berlus- sonst die Kunstausstellung mexikanischen Hauptstadt coni seine neuesten Kompositionen zu schließen. Savido ist einigermaßen fas- gelitten und empfahl, Raffarin solle künf- Gehör brachte, begleitet von seinem Hof- sungslos. „Es ist ein Porträt-Schrägstrich- tig in einem Kühlwagen (wagon frigorifi- sänger, -gitarristen und -arrangeur Maria- Landschaftsbild, da schienen Affen Sinn que) auf Auslandstour gehen. no Apicella, 40. Minister seiner Partei, zu machen.“ Im Übrigen hätte er nie er- der Forza Italia, die dem Champagnerfest wartet, dass „in New York Zensur stattfin- Novak Petrovic, 49, Frankfurter Immo- auf der Terrasse eines römischen Fünf-Ster- det“, er fühle sich „machtlos“. bilienhändler, greift zu ungewöhnlichen

172 der spiegel 52/2004 Methoden, um auf die Misere seiner Bran- aber eine rein berufliche gewesen sei: „Der che aufmerksam zu machen. Seit vorigen Präsident konsultierte mich regelmäßig in Montag steht der Mann jeden Tag für eini- astrologischen Fragen, das ist alles.“ Um ih- ge Stunden vor der Zentrale der Frankfur- rer Schilderung Glaubwürdigkeit zu verlei- ter Sparkasse (Fraspa), vor dem Bauch eine hen, schob sie ein wenig galantes Argument Papptafel, auf der er schwere Vorwürfe ge- nach: „Um es deutlich zu sagen – das war gen die Bank erhebt. Die Sparkasse sei da- doch ein alter, kranker Mann mit Prostata- bei, seine „Häuser wertvernichtend zu ver- krebs.“ Dem Spötter Carlier prophezeite sie äußern und der Frankfurter Sparkasse und „Probleme mit Justiz, Finanzen und Steuer“. mir Millionenverluste zuzufügen“. Petro- vic, der mit den Feinheiten des Gewerbes Sigmar Gabriel, 45, Ex-Ministerpräsident unter anderem von dem mittlerweile ver- und SPD-Abgeordneter im Landtag von storbenen Ignatz Bubis vertraut gemacht wurde, hat den Kauf von zwölf Häusern im Wert von mehren Millionen Euro über die Frankfurter Sparkasse finanziert. Das öffentlich-rechtliche Geldinstitut beabsich- tigt nun, die Immobilien per Zwangsver- steigerung zu verhökern. Die Sparkasse will unter dem Verweis auf das Bankge- heimnis zu dem Vorgang keine Stellung nehmen; die Aktion ihres langjährigen

Kunden kommt den Bankern aber denkbar OSSENBRINK FRANK ungelegen. Gegen ehemalige Fraspa-Ma- Gabriel nager ermittelt die Staatsanwaltschaft we- gen des Verdachts der Verschleierung von Niedersachsen, war am vorvergangenen Geschäftsdaten im Zusammenhang mit Wochenende in Istanbul, um zur Eröffnung fragwürdigen Immobilienfinanzierungen. des größten Museums für moderne Kunst in der Türkei ein Grußwort des Bundes- Elizabeth Teissier, 66, französisch-schwei- kanzlers zu überbringen. Kurz vor seinem zerische Astrologin, kratzte am legendären Rückflug weilte er noch in einer Teestube. Ruf des 1996 verstorbenen französischen Dort versuchten fliegende Händler, ihm Staatspräsidenten François Mitterrand als sogenannte magische Augen aus blauem großer Frauenverführer. Die Wahrsagerin Glas gegen den bösen Blick anzudrehen. fühlte sich dazu durch Äußerungen des Sa- Schließlich kaufte er eines und heftete es tirikers Guy Carlier gezwungen. Der hatte in sich an den Jackenkragen. Erst später fiel einer TV-Talkrunde über die von 1990 bis dem zum Pop-Beauftragten der SPD er- 1995 gepflegte Beziehung der Sterndeuterin nannten Gemütsmenschen ein, er hätte zu Mitterrand in groben Worten gelästert: sich „am besten mal gleich 100 von den Der Präsident habe mit „der Alten“ doch Dingern“ kaufen sollen, damit er „was Gu- nur schlafen wollen („Le Président ne vou- tes“ habe, wenn er „durch den Landtag in lait que sauter la vieille“). In einem Zeit- Niedersachsen“ geht. schrifteninterview beteuerte die Astrologin jetzt, dass der Staatschef zwar „sehr wohl ein Britta Haßelmann, 43, und Frithjof Charmeur der Seele“, ihre Beziehung zu ihm Schmidt, 51, die Landesvorsitzenden der Grünen in Nordrhein-Westfalen, wissen offenbar nicht, wie lange ihre Partei dort schon mitregiert – oder können nicht bis zehn zählen. In der Mitgliederzeitung der Öko-Partei „schrägstrich“ lo- ben sie in der jüngsten Ausgabe die Regierungsarbeit in NRW. Das Land würde „Stück für Stück grüner“, da man auf „siebenein- halb Jahre erfolgreiche Mit-Re- gierungsarbeit“ zurückblicken könne. Tatsächlich sind es aber schon neun- einhalb Jahre, und das hätte dem Auto- renteam spätestens beim Schreiben ihres Textes auffallen müssen. Darin erinnern sie an die Landtagswahl im kommenden Jahr und animieren alle Mitglieder, mög- lichst viele Wähler zu motivieren, damit Rot-Grün in Düsseldorf weiterregieren

JEAN CLAUDE MAROUZE / CORBIS SYGMA (L.); CHESNOT / SIPA PRESS (R.) / SIPA (L.); CHESNOT / CORBIS SYGMA JEAN CLAUDE MAROUZE kann. Die Wahlperiode für den Landtag Teissier (1998), Mitterrand (1992) dauert in NRW fünf Jahre.

der spiegel 52/2004 173 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Als De- Zitate nis H. am Morgen des 7. November vorigen Jahres gegen 7 Uhr über einen Hinterein- Der „Tagesspiegel“ zum Buch „Teller- gang in die Volksbank Planegg eindrang, gericht. Die Deutschen und das Essen“ stand ihm das Wasser bis zum Hals.“ von SPIEGEL-Reporter Ullrich Fichtner:

Ullrich Fichtner hat eine furiose Publikums- beschimpfung geschrieben, eine Schmäh- rede auf das alltägliche Missverhalten seiner Landsleute: „Tellergericht. Die Deutschen und das Essen“ (DVA, 17,90 Euro). Wohin Aus der „Rhein-Main-Presse“ er auch schaut, sieht er „ein esskulturelles Proletentum, das die eigentliche Leitkultur geworden ist“. Dies ist kein Sachbuch, es Aus dem Ratgeber „Lust & Liebe“ in der hat keinen Index, keine Quellenangaben, es österreichischen „Kronen-Zeitung“: „Dass ist ein 230 Seiten langer Essay von einem Sie sie in flagranti ertappten, weist auf ei- SPIEGEL-Reporter, der in Drei-Sterne- nen bestehenden oder neuerlichen Kon- Qualität schreiben kann und vom wilden takt mit der Geliebten hin.“ Treiben der Fernsehköche über den Wahn der Weihnachtsmärkte bis zum Aussterben handwerklicher Traditionen ein Sittenbild Aus den „Grafschafter Nachrichten“: einer Gesellschaft entwirft, das gruseln „Zwischen 1945 und 1949 hatte die sowje- macht. Sein Fazit: Wer seinen Magen so tische Besatzungsmacht auf dem Gebiet behandelt, wie die Deutschen es tun, von der späteren DDR Eigentümer mit mehr als dem ist auf Dauer nichts Gutes zu erwarten. einhundert Hektar Land entschädigungslos Die ideale Lektüre für Kulturpessimisten enteignet und an Neubauern verteilt.“ und Freunde von geschmorter Rinderbacke.

Die „Pirmasenser Zeitung“ zum SPIEGEL-Bericht „Panorama – Ent- deckung der Langsamkeit“ (Nr. 49/2004):

Der Sprecher der Behörde, der Leitende Oberstaatsanwalt Raimund Weyand, be- stätigte einen Bericht des SPIEGEL, wo- nach fast 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Saarland noch 35 Mitarbei- ter an mehr als 800 Kriegsentschädigungs- anträgen arbeiten. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, stehen laut SPIEGEL noch 17 unerledigte Werbung in Saarbrücken Fälle an. Die Saumseligkeit der Saarländer habe womöglich System, meint die Staats- anwaltschaft. Die Beamten wollten so ihren Aus der „Siegener Zeitung“: „Zum Pro- Arbeitsplatz sichern. zessauftakt vor dem Landgericht Mün- chen I räumte der Sohn des früheren Präsidenten des TSV 1860 München, Karl- Heinz Wildmoser sen., gestern ausdrück- Der SPIEGEL berichtete … lich Fehler ein. Und entschuldigte sich bei seiner Familie, beim TSV 1860 München, … in Nr. 51/2004 „Kein Visum für den Fans und allen Verantwortlichen für deutsche Ex-Terroristin“ darüber, dass den Stadionbau.“ Astrid Proll, einstige Randfigur der Terrorgruppe RAF, fast ein Jahr vergeblich auf ein Visum für die USA wartete, um ihre kranke Mutter in San Francisco zu besuchen – inzwischen verstarb diese.

Noch am Erscheinungstag erhielt Proll von Aus einer Anzeige des Friseursalons „Hap- dem Leiter der Konsularabteilung in der py Hair“ US-Botschaft in Berlin eine E-Mail, nach der ihrem Antrag jetzt stattgegeben sei und sie sich sofort ein Visum abholen könne. Aus der „Kölnischen Rundschau“: „Die Zuvor hatte er sich bereits dafür entschul- Polizei kam aber zu dem Schluss, dass der digt, dass die Angelegenheit so schleppend 22-Jährige eine ‚aktive und zentrale Rolle‘ behandelt worden sei und Proll deshalb bei dem Verbrechen gespielt habe. Gegen nicht an der Trauerfeier für ihre Mutter in ihn wurde Mordbefehl erlassen.“ Kalifornien hatte teilnehmen können.

174 der spiegel 52/2004