EINZELKAPITEL

1 Gerhard Müller

Ausstellungen zum im 19. Jahrhundert werden sollte.1 Eindring- klassischen Weimar lich instruierte er seine Freunde, ja indirekt über Carl Ludwig Fernow sogar seinen In- seit 1999 timfeind Carl August Böttiger in Dresden, öffentliche Äußerungen zu vermeiden, die Weimars Ansehen bei Kaiser Napoleon und I. den Franzosen herabsetzen könnten, sei doch die Literatur das Einzige, was ihnen Die Präsentation der Klassik in den Wei- noch Achtung gegenüber den Deutschen marer Ausstellungen und Museen hat ihre abnötige. Er werde es ihm anrechnen, ließ eigene, lange Tradition, die auf Goethe und er seinen Verleger Johann Friedrich Cotta Wieland selbst zurückgeht. Im ersten Jahr- drohend wissen, wenn dieser daran mitwir- zehnt des 19. Jahrhunderts beschäftigten ken sollte, „einen kleinen bisher leuchtenden sich die beiden Dichter angesichts man- Punct Deutschlands, der doch auch ihre nigfaltiger Krisen, die nicht nur Weimars Freunde u[nd] Genossen, Herdern, Schillern Rolle als Mittelpunkt des geistigen Lebens und mich beherbergt hat […], zu trüben, zu in Deutschland, sondern auch die Existenz verfinstern und zu vernichten“.2 Mochte es des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach ihm durch Interventionen dieser Art auch überhaupt in Frage stellten, mit dem Ge- für den Augenblick noch gelingen, Weimars danken, wie das Andenken an die große Zeit Reputation in der europäischen Öffentlich- und damit auch an ihr eigenes Wirken der keit aufrechtzuerhalten, so stellte sich auf Nachwelt überliefert werden könne. Schon längere Sicht doch die Aufgabe, das Weimar- Schillers Tod 1805 hatte bei Goethe erste Bild so im kollektiven Gedächtnis der Nati- Überlegungen dieser Art aufkommen lassen. on und darüber hinaus zu verankern, dass Als Napoleons Sieg bei und Auerstedt es auch künftige Umbrüche überdauerte, 1806 die überkommene politische Architek- ganz so, wie der mit Goethe befreundete tur Deutschlands in Trümmer legte, sah er sich veranlasst, sich ernsthaft mit diesem 1 Johann Wolfgang Goethe: Zum feierlichen Andenken der Durchlauchtigsten Fürstin und Frau Anna Amalia, verwitweten Problem zu befassen. Er ordnete die Manu- Herzogin zu Sachsen-Weimar und Eisenach, gebornen Herzogin skripte seiner „Farbenlehre“, um sie bald- von Braunschweig und Lüneburg, in: MA 9, S. 929–933. möglichst im Druck erscheinen zu lassen, 2 Konzept eines Briefes von Johann Wolfgang Goethe an Johann Friedrich Cotta, 24. Dezember 1806, in: AS II 2, S. 768. und schuf mit dem Nachruf auf die im April Vgl. ausführlich zu Goethes Bemühungen um den Erhalt von 1807 plötzlich verstorbene Herzogin Anna Weimars Ruf in der öffentlichen Meinung nach der Schlacht von Jena und Auerstedt Gerhard Müller: „… eine wunderbare Aussicht Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach einen zur Vereinigung deutscher und französischer Vorstellungsarten“. Memorialtext, der richtungweisend für die Goethe und Weimar im Rheinbund, in: Hellmut Th. Seemann (Hrsg.): Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents, Göttingen Selbstdarstellung des klassischen Weimar 2008 (= Klassik Stiftung Weimar Jahrbuch 2008), S. 256–278.

40 deutsch-französische Diplomat Carl Fried- der Logen in den Bildungsschichten auszu- rich Reinhard 1808 pathetisch schrieb: breiten. Noch im hohen Alter ließ sich Wie- land 1810 als Mitglied in die „Amalia“ auf- Ihre Werke stehen, ein unvergängliches nehmen, und 1812 gab er in einer Logenrede Denkmal, über unsern literarischen und mit dem Titel „Über das Fortleben im Anden- politischen Trümmern, und sollten die ken der Nachwelt“5 die strategische Leitidee neuesten Schöpfungsversuche in ihr Nichts eines solchen Memorialkonzepts vor. Neben versinken, sollten die Fluten des Westens den Trost vermittelnden, aber nicht evident und des Ostens über Deutschland zusam- zu bestätigenden Verheißungen über ein menschlagen, so würde doch Ihr Name Weiterleben der Seele nach dem Tod dünke bezeugen, daß wir gewesen sind.3 ihm, Wieland, vor allem der Gedanke erfreu- lich, „dass es noch eine andere Art von Leben Schon unmittelbar nach Anna Amalias Tod nach dem Tode giebt, die in gewissem Sinne kam der Gedanke auf, die von ihr bewohnten von uns selbst abhängt, und, anstatt allen Räume im Weimarer Wittumspalais als mu- unseren Verhältnissen mit den Lebenden auf sealen Erinnerungsort zu konservieren, doch einmal ein Ende zu machen, uns vielmehr in sollte es bis zur Verwirklichung dieser Idee einer höchst angenehmen Verbindung mit noch Jahrzehnte dauern. Als geeignetes Me- ihnen erhält; ich meine, das Fortleben im An- dium, das unter den Bedingungen der schar- gedenken der Nachwelt, wozu wir uns durch fen Überwachung von Presse, Verlagen und ausgezeichnete Verdienste um unser Vater- Druckereien, ja sogar dem privaten Briefver- land, unsere Mitbürger, unser Volk und um kehr durch die französische Geheimpolizei die Menschheit überhaupt, durch öffentliche als Multiplikator eines Memorialkonzepts und Privattugenden und durch den edlen der Weimarer Klassik wirken konnte, bot sich Gebrauch, den wir von vorzüglichen Geistes- die 1808 durch Goethe und Friedrich Justin kräften und Talenten gemacht, ein Recht er- Bertuch wiederbelebte Weimarer Freimau- worben haben […] Und kann man nicht auch rerloge „Amalia zu den drei Rosen“ an.4 Die mit Wahrheit sagen: Das Leben im Andenken diskrete Halböffentlichkeit der Freimaurerei der Nachwelt, da es nur die natürlichste Fol- ermöglichte es, diese Erinnerungsarbeit ver- ge ausgezeichneter und immerfort wirkender traulich zu initiieren und über das Netzwerk Verdienste ist, sei mit dem vorhergegange- nen sichtbaren Leben in der Mitwelt gleich-

3 Carl Friedrich Reinhard an Johann Wolfgang Goethe, 3. Sep- sam aus einem Stücke, und als eine wirklich tember 1808, in: Goethe und Reinhard. Briefwechsel in den Jahren fortgesetzte Persönlichkeit in derselben zu 1807–1832. Mit einer Vorrede des Kanzlers Friedrich von Müller, Wiesbaden 1957, S. 72 ff. betrachten.“

4 Vgl. Joachim Bauer/Joachim Berger: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Das Selbstverständnis der Weimarer Loge „Amalia“ im 19. Jahrhundert, in: Joachim Berger/Klaus-Jürgen Grün 5 Christoph Martin Wieland: Ueber das Fortleben im Andenken (Hrsg.): Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. der Nachwelt. Eine Vorlesung in der [Loge] Amalia im Orient von Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller- Weimar gehalten an ihrem 48. Stiftungstage den 24. October 1812 Museum Weimar, 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München, Wien vom Br. Wieland in seinem 80sten Jahre, in: Wieland’s Todtenfeier, 2002, S. 259–270. Beilage VII [Weimar 1813].

41 Das hervorragende Beispiel dafür sei die der Loge erstmals umgesetzt.6 Die Erinne- Stifterin der Loge, Herzogin Anna Amalia, rung an die fürstlichen Stifter und Protekto- „die erste deutsche Fürstin, welche Sinn ren wurde auf ihn als herausragendes Logen- und Liebe für deutsche Literatur und Spra- mitglied übertragen, und Goethes zentrale che hatte“. Sie habe die Künstler gefördert, Trauerrede erschien außer in den Weima- die Künste selbst gesellig ausgeübt und rer „Freimaurer-Analecten“ auch in Cottas sich, indem sie „allen Fürsten Deutschlands „Morgenblatt für gebildete Stände“.7 Damit hierinne vorleuchtete, um die ganze Nation wurde die logeninterne Erinnerungsarbeit verdient gemacht“. Der kulturelle Aufbruch von Anfang an als Ausgangspunkt einer ge- Weimars unter Anna Amalias Regentschaft samtnationalen Erinnerung an das klassische sei unter Carl August fortgesetzt worden. Weimar etabliert. Nach dem Tod Wielands An die Verdienste dieser Fürsten bestän- sah Goethe sich als alleiniger Sachwalter des dig zu erinnern, sei eine vorzügliche Pflicht Erbes der Weimarer Hochkultur und identifi- der Freimaurer, und nur daraus auch könne zierte Weimars Ruf als geistiger Mittelpunkt die Loge ihre Legitimation beziehen. Da- Deutschlands mit seiner eigenen Person. mit knüpfte Wieland an Goethes Nachruf auf Anna Amalia von 1807 an. Mit der Weimar hat den Ruhm einer wissenschaftlichen Stilisierung der Dynastie Sachsen-Weimar- und kunstreichen Bildung über Deutschland, Eisenach zum Wegbereiter und Förderer ja über Europa verbreitet; dadurch ward her- der deutschen Geisteskultur wurde der kömmlich, sich in zweifelhaften literarischen traditionelle Anspruch des Fürstenhauses, und artistischen Fällen hier guten Rats zu als Beschützer der wahren protestantischen erholen. Wieland, Herder, Schiller und ande- Religion und Gewissensfreiheit zu gelten, re haben so viel Zutrauen erweckt, dass bei auf einer säkularen Ebene verallgemeinert ihnen dieser Art Anfragen öfters anlangten […] und fortgeschrieben. In diesem Kontext Mir Überbliebenen, ob ich gleich an solchen ließ sich eine Erinnerungskultur etablieren, Anforderungen und Aufträgen selbst schon in deren Mittelpunkt die großen Dichter hinreichend fortlitt, ist ein großer Teil jener und Denker Weimars standen. Er betrach- nicht einträglichen Erbschaften zu gefallen te, so beschwor Wieland in diesem Sinne […] In diesen […] so wie in den und zählba- seine Mitbrüder, ihre ihm anlässlich seines ren vorhergehenden Fällen werde ich mich 80. Geburtstages zuteil gewordene Wert- mit der Ehre zu begnügen haben, gegen das schätzung als „Unterpfand“ dafür, dass auch liebe deutsche Vaterland als Fakultät und Or- er selbst, wenn er dereinst aus ihrer Mitte dinarius um Gotteswillen mich einwirkend zu genommen werde, sich des Glücks, in ihrer verhalten. Da ich mich nun in solchen Verhält- aller liebevollen Andenken fortzuleben, nissen wohl nicht mit Unrecht als öffentliche mit Gewissheit zu erfreuen haben werde. 6 Vgl. Bauer/Berger, Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 261. Als Wieland 1813 starb, wurde sein Memori- 7 [Johann Wolfgang Goethe]: Wieland’s Andenken in der Loge Anna Amalia in Weimar gefeyert den 18. Februar 1813, alkonzept in den gedruckten Trauerreden in: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 87, 12. April 1813.

42 Person ansehen darf, so wird mir nicht verargt gänzte vollständige Werkausgabe letzter werden, wenn ich einige Erleichterung von Hand10 und diverse Erinnerungsberichte und Staats wegen […] mir schmeicheln darf.8 Dokumenteneditionen aus der Feder von Zeitgenossen, ehemaligen Mitarbeitern und Die Gedenkreden der Loge auf die ver- Weggefährten, unter denen Johann Peter storbenen Mitglieder wurden von Goethe Eckermanns 1836 erschienene „Gespräche mit persönlich entworfen oder redigiert, auch Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ wenn der Dichter selbst am Logenleben eine besonders nachhaltige Wirkung erzielten, sonst kaum teilnahm. In seinem Geist ar- ließen die Klassikrezeption und damit auch beiteten mit und nach ihm vor allem der die Stilisierung Weimars zum Kultort der deut- Kanzler Friedrich von Müller als Meister schen Geisteskultur weiter anschwellen, auch vom Stuhl der Loge und der Staatsminister wenn die in den 1830er-Jahren einsetzenden Carl Wilhelm Freiherr von Fritsch an der Bemühungen des Berliner Schriftstellers Carl Pflege des öffentlichen Erinnerungsbildes August Varnhagen von Ense, Weimar zum an die klassische Zeit Weimars. Nach dem Sitz einer deutschen Dichterakademie zu Tod des Großherzogs Carl August 1828 machen, ebenso ergebnislos blieben wie die wurde Goethe schließlich zur Zentralgestalt Bestrebungen des großherzoglichen Hauses der Weimarer Kulturtradition stilisiert. Wie und des Kanzlers Friedrich von Müller um die kein anderer, so hieß es in Müllers Festre- Errichtung eines Goethe-Nationalmuseums de zum 50. Maurerjubiläum des Dichters im Haus am Frauenplan. Schon die 1844 von 1830, habe er sich „für Erweckung und freimaurerischer Seite initiierte Errichtung ei- Verbreitung rein menschlicher Gesinnung, nes Denkmals für Johann Gottfried Herder in harmonische Entfaltung und Veredelung Weimar ließ sich nicht mehr als ausschließlich geistiger Kräfte, mit einem Wort Humani- „maurerisches Unternehmen“ verwirklichen. tät“ eingesetzt, und zwei Jahre später er- Ein mit freimaurerischer Symbolik versehener klärte ihn der Kanzler in seiner Trauerrede Entwurf musste verworfen werden, und das zum „Idealtypus Mensch“ überhaupt.9 Denkmal erhielt die Widmung: „Den Deut- schen aller Lande“.11 Die Erinnerung an das Die Monopolstellung der Loge als Vermitt- klassische Weimar wurde nun als zentrales lungsmedium der Erinnerung an das klas- Identitätsstiftungselement in das nationale sische Weimar trat indes in der Folgezeit Gedächtnis der Deutschen integriert. Seit der allmählich in den Hintergrund. Die Werkaus- gescheiterten Revolution von 1848/49 erhöhte gaben der Klassiker wie z. B. die noch von man die großen Dichter und Denker Weimars Goethe selbst veranstaltete und nach sei- zu Kerngestalten einer bewusst apolitisch nem Tod von Riemer und Eckermann er- 10 Vgl. Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, 40 Bde., Tübingen 1827–1830; Goethes nachgelassene Werke, hrsg. 8 Johann Wolfgang Goethe an Christian Gottlob von von Johann Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Riemer (= Voigt, 15. Dezember 1815, in: WA IV, 26, S. 178 f. Bde. 41–60 der Ausgabe letzter Hand), Tübingen 1832–1842. 9 Vgl. Bauer/Berger, Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 263. 11 Vgl. Bauer/Berger, Arbeit am nationalen Gedächtnis, S. 263 f.

43 gehaltenen Kultur- und Bildungsreligion, die strikt personalisiert und einem ästhetisieren- ihre Erfüllung jenseits von Staat und Macht den Geniekult verpflichtet. Unendlich verviel- suchte. Dies bot der großherzoglichen Dy- fältigt durch die mnemotechnischen Exerzitien nastie Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl des Deutschunterrichts, wurden Weimars Alexander die Möglichkeit, die politische Be- Dichter und ihre Werke als geistige Grundaus- deutungslosigkeit des weimarischen Staates, stattung deutschen Kulturbewusstseins ka- der im neuen Kaiserreich schließlich nur noch nonisiert und die Stadt selbst zum Wallfahrts- ein marginales und wie das aller deutschen ort. Vor allem in Goethes Persönlichkeit und Kleinstaaten von der öffentlichen Meinung seiner beispielhaften Biografie schienen sich zunehmend in Frage gestelltes Dasein mit be- die sinnstiftenden Kulturwerte für alle Zeiten schränkter innerer Autonomie führen konnte, exemplarisch zu verkörpern, und mancher ver- kulturpolitisch zu kompensieren. Die schon klärte ihn gar zu einer Menschheitsfigur gleich seit Jahrzehnten geplante, aber erst nach Jesus, Konfuzius oder Buddha.12 Schon 1843 dem Tod des letzten Goethe-Enkels möglich nahm der Minister Ernst August Freiherr von gewordene Eröffnung des Goethe-National- Gersdorff den seit Goethes Tod aufgekom- museums und anderer Dichtergedenkorte wie menen Dichterkult am Weimarer Frauenplan etwa des Museums in Schillers letztem Wohn- satirisch aufs Korn, indem er einen dort an- haus und des Museums im Wittumspalais, die gekommenen Weimar-Touristen sagen ließ: Übernahme des Goethe-Nachlasses durch Großherzogin Sophie und die Errichtung des Der Lohn ist weit der Mühe überlegen. monumentalen Goethe- und Schiller-Archivs Ach! fühl’ ich hier der Lüfte Hauch sich regen − in Weimar konstituierten neue Sinnbilder So frag’ ich, küßten nicht sie Goethes Wangen kultureller Größe, in denen sich die Dynastie Und dürfen nun mein Angesicht umfangen? 13 spiegeln und ihrer Ebenbürtigkeit mit dem säbelrasselnden Führungsanspruch der preu- Seit dem 8. August 1885 widmete sich mit ßischen Hohenzollern in Berlin vergewissern dem Goethe-Nationalmuseum eine eigens konnte. Noch in seinem Todesjahr übernahm geschaffene Institution dem Anliegen, dem Carl Alexander in selbstbewusster Oppo- Publikum das Mysterium von Goethes Genie sition gegen das wilhelminische Berlin die nahezubringen. Der das 19. Jahrhundert be- Schirmherrschaft des „Goethe-Bundes“, eines herrschende Historismus war von der Über- Vereins zum Kampf gegen die sogenannte zeugung geprägt, durch das möglichst Lex Heinze, ein Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches, das die Darstellung 12 Vgl. noch im Goethe-Jahr 1999 Ekkehart Krippendorff: menschlicher Nacktheit in der Kunst und auf Goethe. Politik gegen den Zeitgeist, am Main 1999. dem Theater kriminalisierte. Die nostalgische 13 Ernst August Freiherr von Gersdorff, Tagebuch „Sapere aude“, Pflege der weimarischen Erinnerungskultur Privatbesitz, vollständig abgedruckt in: Gerhard Müller: Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Dynastische Tradition blieb bei alldem, wie einst von Wieland und und Kulturpolitik, in: Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk (Hrsg.): Goethe als Strategie zur Sicherung des Fort- Das Zeitalter der Enkel. Kulturpolitik und Klassikrezeption unter Carl Alexander, Göttingen 2010 (= Klassik Stiftung Weimar lebens im Andenken der Nachwelt konzipiert, Jahrbuch 2010), S. 78 f.

44 authentische Nachgestalten des Habitus In drei großen Schausälen war hier wie in vergangener Epochen auch deren Geist wie- einem Ehrentempel des deutschen Geistes derbeleben zu können. Da Goethes häusliche der größtmögliche Grad an Authentizität in Lebenswelt, die mit allen Liegenschaften und Gestalt der bedeutendsten schriftlichen Hin- Sammlungen in den Besitz des weimarischen terlassenschaften der Dichter, Schriftsteller Staates übergegangen war, noch in allen und Künstler eingeschreint, und unsichtbar Details so präsent war, wie er sie bei seinem im Hintergrund arbeiteten emsige Philologen Tod 1832 hinterlassen hatte, bot sie hierfür an dem mühevollen Werk, aus den Bergen eine ideale Vorlage, die keiner zusätzlichen papierner Dokumente, die in den Magazi- Beschwörungs- und Vermittlungsrituale be- nen des Archivs lagerten, wissenschaftlich durfte, mochten doch sensible Menschen im gesicherte Texteditionen herzustellen. andächtigen Schauder beim Betreten von Goethes Arbeitszimmer wähnen, den Meister Die verschiedenen Parteien, Ideologien, selbst jeden Augenblick aus den Tiefen seiner Staats- und Gesellschaftssysteme im Deutsch- Bibliothek heraustreten zu sehen. So bildete land des 20. Jahrhunderts mochten sich die strikte Bewahrung der ursprünglichen noch heftig bekämpfen − den Wertehimmel Authentizität des Goethehauses und seines In- Weimars versuchten sie alle in ihre kulturpo- haltes in allen Details, als Geschäftsgrundlage litischen Legitimationskonzepte einzubauen. des Weimar-Tourismus gleichsam, das oberste Die im 20. Jahrhundert einsetzende wissen- Gesetz aller beim Goethe-Nationalmuseum schaftliche Weimar-Historiografie, die in und den anderen Weimarer Dichtererinne- Großprojekten wie dem 1912 gegründeten rungsorten tätigen Direktoren und Kustoden. Carl-August-Werk und den Arbeiten von Willy Erst 1935, mehr als hundert Jahre nach dem Andreas und Fritz Hartung ihre bedeutend- Tod des Dichterfürsten, hielt man es für er- sten Belege fand, änderte daran nichts, im forderlich, das Goethe-Nationalmuseum Gegenteil: Sie war sichtlich bemüht, die politi- durch den Bau eines besonderen musea- sche Vereinnahmung sogar noch argumentativ len Funktionsgebäudes zu erweitern, um zu unterfüttern. Carl Augusts großes und un- Goethes Sammlungsbestände angemessen sterbliches Verdienst sei es, so paraphrasierte unterbringen und dem deutschen Volk das z. B. Fritz Hartung die freimaurerische Argu- in allen Lebenslagen bis hin zu den Gaumen- mentation, die Pflege des geistigen Lebens freuden vorbildhafte Leben und Werk des seinem Staat zur Aufgabe gestellt und Goethe Meisters in einer didaktisch aufbereiteten an seine Seite berufen zu haben. So sei Goe- Exposition schildern zu können. Das eigent- the die „Voraussetzung für die besondere liche Sanktuarium der klassischen deutschen und große Bedeutung des Staates Weimar“ Literatur befand sich indes nicht im Goethe- geworden. Nur Weimar habe den Mittelpunkt Nationalmuseum und an den anderen Orten des geistigen Deutschland jener Zeit gebildet, des profanen Weimarer Dichterkults, sondern und deshalb seien alle Minister und Beam- in dem von seiner Stifterin als Literaturmuse- ten von dem Gedanken erfüllt gewesen, die um konzipierten Goethe- und Schiller-Archiv. Harmonie zwischen geistiger und politischer

45 Blüte herzustellen und den literarischen Goethes überblendetes Bild der Klassik kon- Ruhm durch „staatliche Musterleistungen“ serviert, das weitgehend auf die Literatur zu ergänzen.14 Nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen blieb. Eine differenzierte Sicht auf bemühte sich die Kulturpolitik der DDR, die die Vielfalt des Weimarer Geisteslebens, Weimarer Dichter und Denker in ihr marxis- seine historischen Bezüge und Hintergründe tisch geprägtes Welt- und Geschichtsbild ein- sowie auf seine Rezeption und Entwicklung zuordnen. Goethe und seine Dichterkollegen bis ins 20. Jahrhundert war nicht intendiert, verkörperten für sie die vorwärtsdrängende obwohl nicht zuletzt Goethe selbst am Ende Weltanschauung und Ethik der aufsteigenden seines Lebens darauf hingewiesen hatte, dass und den Feudalabsolutismus überwinden- sein Leben und Werk nur aus dieser geistigen den bürgerlichen Klasse15 und waren daher Universalität heraus zu begreifen seien: den progressiven Traditionen der deutschen Geschichte zuzurechnen, als deren Erbe und Meine Werke sind von unzähligen verschie- Vollender sich die DDR begriff. Ihr Zugriff auf denen Individuen genährt worden: von Igno- das klassische Erbe Weimars war allerdings ranten und Weisen, Leuten von Geist und äußerst selektiv. „Reaktionär“ erscheinende Dummköpfen. Die Kindheit, das reife Alter, das Aspekte der Geschichte Weimars wurden Greisenalter, alle haben mir ihre Gedanken ent- einfach ausgeblendet. Der DDR-Kulturpolitik gegengebracht, ihre Fähigkeiten, Hoffnungen musste daher an einer auf Goethe fokussier- und Lebensansichten. Ich habe oft geerntet, was ten musealen Präsentation der Weimarer andere gesät haben. Mein Werk ist das eines 16 Klassik durchaus gelegen sein; sie besaß kein Kollektivwesens, das den Namen Goethe trägt. Interesse daran, den Weimar-Besuchern, vor allem den Schulklassen, zu deren Pflichtpro- Die einzige Institution, die − neben den gramm der Besuch des Goethehauses ne- musealen Räumen des Wittumspalais − dem ben dem der KZ-Gedenkstätte Buchenwald Weimarer Geistesleben in seiner ganzen Viel- gehörte, etwa die Geschichte des weimari- falt gewidmet war, das Goethe- und Schiller- schen Fürstenhauses und der Verdienste des Archiv, war zudem unter der Ägide der „Na- „feudalen“ Staates und seiner Politik um die tionalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassik näherzubringen. Zugleich bildete die klassischen deutschen Literatur“ durch rigide Weimarer Klassik, die auch der andere deut- Eingriffe in die innere Architektur ihres ur- sche Staat ausgiebig pflegte, das einzige nicht sprünglichen Charakters als Literaturmuseum zu kappende Verbindungsglied gesamtdeut- entkleidet worden und wurde fortan als ab- schen Kulturbewusstseins. So wurde in den geschottete, nur einer kleinen Wissenschaft- Weimarer Museen über Jahrzehnte hinweg ein lerelite zugängliche Philologenzitadelle über von der schier übermenschlichen Lichtgestalt der Stadt von den Weimar-Besuchern tun- lichst gemieden. 14 Fritz Hartung: Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775–1828, Weimar 1923, S. 480. 16 Vgl. die Überlieferung von Frédéric Soret, in: C. A. H. Burkhardt 15 Vgl. Hans-Heinrich Reuter: Johann Wolfgang Goethe, (Hrsg.): Goethes Unterhaltungen mit Friedrich Soret, Weimar 1905, Leipzig 1982, S. 45. S. 146.

46 Nach dem Fall der Mauer im Herbst 1989 Charakterfehler auf, sondern sei auch in poli- konnten sich die Deutschen nach den Kata- tischer Hinsicht, wie selbst gemäßigte Kritiker strophen und Verwerfungen zweier Jahrhun- zugeben mussten, ausgesprochen konser- derte endlich gemeinsam und frei von ideolo- vativ19 und Weimars Liberalität nur Fassade gischer Bevormundung und Vereinnahmung gewesen. Überwachung und Einschüchterung mit ihren klassischen Dichtern und Denkern von Intellektuellen, Spitzelei, Willkür und identifizieren − so schien es zumindest. So Rechtsbeugung, Menschenhandel − das wa- blieb zunächst unbemerkt oder verdrängt, ren nur einige der Vorwürfe, die Herzog Carl dass sich kritische Stimmen zu Wort meldeten, August und seinen Geheimräten angelastet die aufgrund von quellengestützten wissen- wurden.20 Weimars Kulturstadtjahr 1999 war schaftlichen Untersuchungen behaupteten, überschattet von Kontroversen über den poli- die Lebenswirklichkeit des klassischen Wei- tischen Goethe, die an Heftigkeit und Polemik mar und seiner geistigen Größen entspreche an die Glaubenskämpfe vergangener Jahrhun- keineswegs jenem idealisierenden Bild, das derte erinnerten.21 Darüber hinaus verdeut- im kulturellen Gedächtnis der Deutschen lichte eine wachsende Zahl von Forschungser- vorherrsche.17 Man wies nach, dass die noch gebnissen, die nach und nach auf den unter- tonangebenden historiografischen Darstel- schiedlichsten Fachgebieten vorgelegt wur- lungen zur Geschichte des klassischen Wei- den, was für viele Goethe-Kenner schon lange mar von Historikern verfasst worden waren, klar war: Die personalistisch-ästhetisierende die eine bedenkliche Nähe zur Ideologie des Perspektive, die das weitgehend auf Goethe Nationalsozialismus besessen, dessen Politik und die „großen vier“ reduzierte literaturbio- in den Jahren zwischen 1933 und 1945 aktiv grafische Weimar-Bild vermittelte, wurde der mitgetragen und diesen Geist auch in ihren historischen Realität nicht gerecht. 1998 nahm Darstellungen unterschwellig weiter kolpor- an der benachbarten Friedrich-Schiller-Univer- tiert hatten.18 Namentlich Goethe, die zentrale sität Jena ein Sonderforschungsbereich der Ikone des klassischen Weimar, wies bei genau- Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem er Betrachtung seiner Biografie nicht nur man- Titel „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ nigfache menschliche Schwächen und mit über 20 Teilprojekten seine Tätigkeit auf.

19 Vgl. Wolfgang Rothe: Der politische Goethe. Dichter und 17 Vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus, Göttingen 1998. unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars. Stuttgart 1991; ders.: Goethe in der Opposition? Die 20 Vgl. insbesondere Wilson, Goethe-Tabu, passim; Klaus „Versuchung der Macht“ in Weimar, in: Jahresgabe der Goethe- Schwind: „Man lache nicht!“. Goethes theatrale Spielverbote. Gesellschaft, Ortsvereinigung Bonn, Bonn 1995, S. 38–59; Über die schauspielerischen Unkosten des autonomen Kunst- ders.: Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, begriffs, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Göttingen 1999; ders.: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschen- deutschen Literatur 21 (1996) 2, S. 66–112; Rüdiger Scholz: rechte im klassischen Weimar, München 1999, S. 34 ff.; Goethes Schuld an der Hinrichtung von Johanna Höhn, in: ders. (Hrsg.): Goethes Weimar und die Französische Revolution. Goethe-Jahrbuch 120 (2003), S. 324–331. Dokumente der Krisenjahre, Köln, Weimar, Wien 2004. 21 Vgl. zusammenfassend Hans Rudolf Vaget: Der politische 18 Vgl. W. Daniel Wilson: Tabuzonen um Goethe und seinen Goethe und kein Ende. Zum Stand der Diskussion nach dem Herzog. Heutige Folgen nationalsozialistischer Absolutismus- Jubiläumsjahr 1999, in: Goethe. Aspekte eines universalen Werkes, konzeptionen, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur- Dössel (Saalkreis) 2005 (= Ortsvereinigung Hamburg der Goethe- wissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 394–442. Gesellschaft in Weimar e.V., Jahresgabe 2005), S. 124–145.

47 Für die Jenaer Forscher stellte sich die Kul- Goethes 1999 eine neue ständige Ausstellung turblüte Weimars um 1800 als das Ergebnis des Goethe-Nationalmuseums mit dem Titel eines in seiner Art einzigartigen Kommuni- „Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik kationsverdichtungsprozesses dar, in das in 1759–1832“24 präsentierte. Der Herausforde- jeweils unterschiedlichem Grad und Ausmaß rung, dem Publikum einen Begriff von der geis- ungeheuer viele, bislang überhaupt nicht oder tigen Universalität des klassischen Weimar zu nur als „Randfiguren“ wahrgenommene Zeit- vermitteln, konnte die Ausstellung Schusters un- genossen der Weimarer Dichter und Denker geachtet ihres hohen intellektuellen Anspruchs einbezogen gewesen waren.22 Die Weimarer nur in begrenztem Maße gerecht werden. Als Memorialkultur und ihre Präsentation durch Präsentation des Goethe-Nationalmuseums auf die Klassik Stiftung Weimar bedurften augen- Persönlichkeit und Biografie des Dichterfürsten scheinlich einer Revision. Den Weimar-Besu- fokussiert, hat sie weder den zeitlichen noch chern die Klassik als ein Geflecht aus Wech- den inhaltlichen Rahmen von Goethes Lebens- selwirkungen zwischen Ideen und Personen und Wirkungskreis wesentlich überschritten, zu erschließen, mithin auch Goethes Leben geschweige denn Genese und Rezeption der und Werk im Kontext eines ungewöhnlich Klassik reflektiert. Dies versuchte 2007 eine neue kreativen Umfeldes darzustellen und so auch Ausstellung zur Weimarer Klassik, diesmal im eine der Ursachen seiner ungewöhnlichen, bis Residenzschloss, mit dem Titel „Ereignis Weimar. in die Gegenwart anhaltenden Strahlkraft zu Anna Amalia, Carl August und das Entstehen ergründen, dies benannte 1999 der damalige der Klassik 1757–1807“.25 Veranstalter war Thüringer Ministerpräsident Bernhard Vogel neben der Klassik Stiftung Weimar der bereits als Aufgabe des Goethe-Nationalmuseums.23 erwähnte Sonderforschungsbereich „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ an der Friedrich- Schiller-Universität Jena. Aufgrund der nach II. fast zehnjähriger Forschungstätigkeit erzielten Ergebnisse konzipierte das aus Mitarbeitern Das Team des Goethe-Nationalmuseums unter der Stiftung und des Sonderforschungsbereichs seinem Direktor Gerhard Schuster stellte sich zusammengesetzte Ausstellungsteam eine dieser Aufgabe, indem es zum 250. Geburtstag Präsentation, die den Anspruch erhob, das klassische Weimar vor seiner Kanonisierung, 22 Vgl. z. B. Klaus Manger (Hrsg): Goethe und die Weltkultur, also gleichsam in statu nascendi, zu zeigen. Heidelberg 2003 (= Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, 1); Georg Schmidt: Kulturbedeutung, Musenhof und „Land der Die Anlage der Ausstellung war mithin Residenzen“. Wie erzählt man die frühneuzeitliche Geschichte Thüringens?, in: Matthias Werner (Hrsg.): Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung 24 Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik 1759–1832. in Thüringen, Köln u. a. 2005, S. 343–376; ders.: Das Ereignis Ständige Ausstellung des Goethe-Nationalmuseums, 2 Bde., Weimar und das Alte Reich, in: Lothar Ehrlich/Georg Schmidt München-Wien 1999. (Hrsg.): Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 25 Ereignis Weimar. Anna Amalia, Carl August und das Entstehen im internationalen Kontext, Köln-Weimar-Wien 2008, S. 11–32. der Klassik 1757–1807. Katalog zur Ausstellung im Schlossmuseum 23 Vgl. Geleitwort in: Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Weimar, hrsg. von der Klassik Stiftung Weimar und dem Sonder- Klassik 1759–1832. Ständige Ausstellung des Goethe-National- forschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ museums, Bd. 1, München-Wien 1999‚ S. 13. der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2007, Leipzig 2007.

48 historisch-genetisch; es wurde die Geschichte gehobenes, nicht alltägliches, bedeutungsvolles des „Ereignisses Weimar“ in der Aufeinander- Geschehen, das auch für den Betrachter selbst folge der relevanten Geschehnisse erzählt. Da- von Belang ist. Beim „Ereignis Weimar“ geht bei wurde bei „Weimar“ stets die Universitäts- es um eine über Jahrzehnte gewachsene, teils stadt Jena im Sinne des Goethe’schen Diktums aktiv beförderte, teils „gewordene“ und von von Weimar und Jena als den beiden Enden glücklichem Zufall begünstigte geistig-kultu- einer großen Stadt, „welche im schönsten Sin- relle Konstellation. Sie war nicht das Werk ei- ne geistig vereint, eins ohne das andere nicht nes Genies, aber ihre Entstehung bedurfte ge- bestehen könnten“26, stillschweigend mitge- nialer Köpfe; sie erforderte geniale Visionen, dacht. Was in der Wahrnehmung der Nachwelt doch gab es keinen wie auch immer gearteten unhinterfragt als Hochkultur angesehen wurde, Masterplan, der sie konzipiert und vorgedacht sollte in seiner Struktur analysiert und das fas- hätte. Wie vieles in der Geschichte vollzog sich zinierende Mysterium, wie es mitten in der Pro- auch das Werden der Klassik nicht in einem vinz, fernab von den großen Metropolen unter Zug, sondern in mehreren Anläufen und Pha- den Bedingungen einer dürftigen Infrastruktur sen, deren Entwicklungsrichtung und Resultat und der äußerst begrenzten materiellen und fi- keineswegs von Anfang an absehbar waren. nanziellen Möglichkeiten eines kleinen Fürsten- Gelegentlich führte die Entwicklung auch in staates überhaupt dazu hatte kommen können, Sackgassen, nicht zuletzt griffen historische aufgeklärt werden. Zwangsläufig musste sich Zufälle ein wie etwa der lebenslange Bestand auch diese Ausstellung hinsichtlich ihres zeitli- der Freundschaftsbeziehung Goethes und chen Rahmens einschränken; sie führte lediglich Carl Augusts, die anhaltende Kommunikations- bis zum Tod der Herzogin Anna Amalia 1807 gemeinschaft der in Weimar versammelten und dem Weimar-Besuch Napoleons anlässlich großen Geister sowie mancherlei nicht beein- des Erfurter Fürstentages vom Herbst 1808. flussbare, glückliche Umstände. So spricht Die Darstellung der nachfolgenden Jahrzehnte Goethe beispielsweise von seiner Begegnung und der gesamten Problematik der Klassik- mit Schiller 1794 als einem „glücklichen Ereig- Rezeption sollte schon aus Umfangsgründen nis“, aber man könnte auch Goethes Wieder- − es wurden mehr als 30 Räume in der Beletage sehen mit Dominique Vivant Denon als einen des Weimarer Schlosses bespielt − der Zukunft solchen glücklichen Zufall anführen, der nach vorbehalten bleiben. der Katastrophe der Schlacht bei Jena im Ok- tober 1806 den Weg zu diplomatischen Kon- Die Verwendung des durch den Jenaer Son- takten mit Napoleon ebnete und es dadurch derforschungsbereich eingeführten Begriffes ermöglichte, die bereits beschlossen scheinen- „Ereignis“ implizierte eine doppelte Bedeu- de Vernichtung des Staates Sachsen-Weimar- tung. Zum einen bezeichnet „Ereignis“ ein be- Eisenach zu verhindern, oder es wäre schlicht stimmtes historisches Geschehen schlechthin, auch nur an das glückliche Genesen wichtiger zum ander aber auch ein besonders heraus- Protagonisten von schweren Krankheiten zu denken. 26 Johann Wolfgang Goethe an den Senat der Universität Jena, 7. Dezember 1825, in: WA IV, 40, S. 154.

49 In der Ausstellung „Ereignis Weimar“ erhielt zuvor begründet hatte. Im Verlauf des Ge- das Mysterium eine Struktur, das Rätsel der sprächs kam Goethe auf sein Konzept der Me- Hochkultur aus der Provinz wurde zumindest tamorphose der Pflanzen zu sprechen, woraus partiell, soweit es im Rahmen der Ausstellung sich ein in kantischem Vokabular ausgetragener möglich war und zweifellos noch mit vielen Lü- philosophischer Disput entwickelte. Gleichzei- cken und Unvollkommenheiten, aufgeklärt. Sie tig bekräftigte die persönliche Begegnung die bot einen Deutungsansatz an, der über die Ar- schon zuvor brieflich ausgehandelte Absicht gumentation der bisherigen Präsentationen zur Goethes, an Schillers „Horen“ mitzuarbeiten, Weimarer Klassik hinausging. Man vergegen- einem literarisch-philosophischen Zeitschriften- wärtige sich dies beispielsweise anhand der projekt, das in den drei Jahren seines Beste- Bedingungen von Goethes und Schillers erster hens gleichsam zum Zentralorgan der Weima- Annäherung, des erwähnten „glücklichen Er- rer Klassik wurde. Universität und außeruniver- eignisses“: Der Umstand, dass beide Dichter, sitäre Wissenschaftseinrichtungen in Jena, die wie überliefert, in Jena zusammentreffen und Debatte um Kants Philosophie, Goethes Meta- ihren Freundschaftsbund begründen konnten, morphosenlehre und literarisch-ästhetische verdankt sich der Voraussetzung, dass Schiller Publizistik, all das waren Bedingungen des von mit Goethes Unterstützung eine Professur an Goethe beschriebenen „glücklichen Ereignis- der Universität Jena hatte erlangen können, wo ses“. In dem kulturgeschichtlich so entschei- er über Universalgeschichte las und sich daran denden Augenblick des Zusammentreffens der beteiligte, Kants Philosophie zu verbreiten. beiden Dichter bündelten sich Strukturen, die Schillers Hinwendung nach Weimar wiederum sich über längere Zeit entwickelt und Weimar- war ein Vorgang, der ursächlich bedingt war Jena zu einem für kulturelle Leistungen vorteil- von einem Vorgang, der sich Jahre zuvor, zur haften Umfeld gemacht hatten. Die von der Weihnachtszeit 1784, in Mannheim zugetragen Kleinräumigkeit der Residenzstadt und der na- hatte, der Begegnung Schillers mit Herzog hen Universitätsstadt begünstigte Kommuni- Carl August, der dort gerade in Sachen des kationsverdichtung und die daraus resultie- deutschen Fürstenbundes unterwegs war. Der rende Verknüpfung von Diskursen aus unter- Herzog ließ sich aus „Don Carlos“ vorlesen schiedlichen geistigen und künstlerischen Fel- und verlieh, immer auf der Suche nach außer- dern gehören ebenso zur Deutung des Myste- gewöhnlichen Menschen, die er auf irgendeine riums wie die institutionelle Umrahmung durch Weise an Weimar binden konnte, dem Dichter eine aufstrebende Universität und eine rege daraufhin den Titel eines weimarischen Rats, Verlagstätigkeit. der zwar noch kein Einkommen, wohl aber die Anwartschaft auf eine künftige Anstellung ge- Es erwies sich nicht nur aus ausstellungs- währte. Unmittelbarer Anlass für das Zusam- technischen Gründen als nützlich und sinn- mentreffen Goethes und Schillers in Jena wie- voll, sondern es war auch inhaltlich von größter derum war eine Versammlung der Jenaer Na- Bedeutung, „Ereignis Weimar“ im Weima- turforschenden Gesellschaft, die der Botaniker rer Residenzschloss zu präsentieren. Das August Johann Carl Georg Batsch ein Jahr Schloss selbst war schließlich ein wichtiger

50 Handlungsort und integraler Teil des histori- gründete. Selbst der Brand des Residenz- schen Geschehens gewesen, das zur Entste- schlosses am 6. Mai 1774 konstituierte eine hung der Klassik führte. Das im 17. Jahrhun- der Ausgangsbedingungen dafür, dass Wei- dert von Herzog Wilhelm IV. von Sachsen- mar nach dem Regierungsantritt Carl Augusts Weimar erbaute Barockschloss war Wohnsitz 1775 eine erste Geniehäufung erleben konn- der Herzogin Anna Amalia, die als Prinzessin te. Der für fast drei Jahrzehnte heimatlos von Braunschweig-Lüneburg 1755 den Weima- gewordene Hof musste sich in der Stadt mit rer Herzog Ernst August Constantin geheira- Provisorien behelfen, was für das traditionel- tet hatte. So verbanden sich in ihrer Person le höfische Repräsentations- und Distinkti- die kulturellen Traditionen des Braunschwei- onsbedürfnis zweifellos katastrophal war, für ger Hofes in Wolfenbüttel mit den Herr- die nach Weimar kommenden bürgerlichen schafts-traditionen einer der bedeutends- Literaten aber eine Chance darstellte. Sie ten deutschen Dynastien, die in den Jahr- konnten sich gegenüber dem nur noch rudi- zehnten der maßgeblich auf ihre Initiative in mentär funktionierenden adligen Hofleben Gang gesetzten Reformation mit den Habs- durch Talent und Leistung profilieren. Goethe burgern konkurriert, dann aber einen bei- fand für diese Situation die salomonische spiellosen politischen Abstieg erlebt hatte. Formulierung, die „durch den Schloßbrand Hinzu kamen die Gestaltungsintentionen ei- gewirkten greulichen Ruinen“ habe man ner Persönlichkeit, die bisher lediglich in lan- „schon als Anlaß zu neuen Tätigkeiten“ be- desgeschichtlichen Darstellungen Erwäh- trachtet.27 Der Ausfall des Residenzschlosses nung zu finden pflegte, aber dennoch mit ih- ließ die Reglementierung durch Etikette und ren Konzepten das Programm zur politi- Hofbürokratie nur noch in eingeschränktem schen Modernisierung von Staat und Verwal- Maße zu und erzeugte eine fast familiäre tung sowie zur Gestaltung der Residenz des Nähe zwischen den fürstlichen Personen unter langjähriger Vormundschaftsherrschaft und ihrer Umgebung. Die gesellschaftlichen herabgekommenen Herzogtums geliefert hat Standesschranken zwischen Hochadel und und dadurch wegweisend für die nachfolgen- bürgerlichen Literaten wurden dadurch zwar den Jahrzehnte geworden ist, des Premier- nicht beseitigt, wie manch einer der im Ge- ministers Graf Heinrich von Bünau. Im Weima- folge Goethes und Wielands nach Weimar rer Schloss wurden Anna Amalias Söhne ge- Gekommenen vielleicht glauben mochte, boren und erzogen. Hier schrieb Carl August aber der Fürst wurde sich des Prestige- seinen bekannten Brief an Christoph Martin potenzials, das ihm zuwuchs, indem er sich Wieland, in dem er ihn mit Bezug auf dessen mit den geistig bedeutendsten, wenn- Werk „Der goldne Spiegel“ ersuchte, sein gleich bürgerlichen Persönlichkeiten seiner „Leibdanishmend“ zu werden, woraufhin Wie- Zeit umgab, desto deutlicher bewusst. land gegen den Widerstand der Geheimen Je weniger die Ersatzresidenz im Weimarer Räte als philosophischer Lehrer Carl Augusts berufen wurde und mit dem „Teutschen Mer- 27 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 10 (= Autobiographische kur“ 1773 die erste deutsche Kulturzeitschrift Schriften II), S. 174.

51 Fürstenhaus der Ort geistvoller Unterhaltung an ihren Hof holten oder sich selbst musisch und höfischen Vergnügens sein konnte, desto betätigten, waren zwar im 18. Jahrhundert mehr betrachtete es die nach dem Regie- nicht ungewöhnlich, man denke nur an den rungsantritt ihres Sohnes der Bürde ihrer Re- Flöte spielenden Preußenkönig Friedrich den gentschaft entledigte Herzogin Anna Amalia Großen in Sanssouci. Aber ein Hof, wo diese als ihre neue bedeutende Aufgabe, dieses Kreativität sich nicht nur frei vom Zwang der Desiderat auszufüllen. Ihr Wittumshof, der im Etikette entfaltete, sondern auch intensiv ge- Winter in dem ehemals Fritschischen Stadtpa- meinschaftlich ausgelebt wurde, wo die Her- lais an der Esplanade, im Sommer dagegen zogin und Wieland nebeneinander auf dem in Ettersburg und später in Tiefurt residierte, Sofa sitzend ihren Mittagsschlaf hielten, um wurde zum neuen Mittelpunkt der höfischen anschließend wieder lebhaft miteinander zu Geselligkeit Weimars. Hier, wo keine Reprä- konversieren, wie es auf Anna Amalias „Zau- sentationspflichten erfüllt werden mussten, bereiland“ geschah, hatte etwas faszinierend herrschte eine heitere, gelöste Atmosphäre, Anrührendes und zugleich Exotisches. Darin konnten fürstliche Personen und adlige Mit- liegt der Grund für die mythische Verklärung, glieder der Hofgesellschaft und bürgerliche die Anna Amalias „Musenhof“ − auch wenn Literaten ungezwungen miteinander umge- diese Bezeichnung erst in den 1840er-Jahren hen, ohne dass Sitte und Anstand verletzt aufkam − schon unter den Zeitgenossen zu- wurden wie in den zu Exzessen neigenden teil geworden ist. Jene Jahre, in denen die Männergesellschaften des Herzogs. Was im- verwitwete Landesregentin außer Dienst mer in Anna Amalias Kreis den Gegenstand mit ihrem Witwenetat von 25.000 Talern das der Unterhaltung und Beschäftigung bildete kulturelle Leben der Weimarer Residenz im − man musste dabei stets selbst agieren, im- Flor hielt, was die regierende Herzogin Luise provisieren, sich öffnen und gemeinschaftlich in dieser Weise weder wollte noch konnte, mit anderen zusammenwirken, denn professio- ließen sie für das Ereignis Weimar weitaus nelle Instanzen, die für die Organisation der bedeutender werden, als sie es in ihrer Zeit höfischen Lustbarkeiten zuständig waren, hat- als regierende Herzogin je hatte sein können. ten, wie das Hoftheater, nach dem Schloss- brand abgeschafft werden müssen oder So belebend der Hof Anna Amalias auch konnten nur noch in rudimentärer Form un- war, so bildete er doch keineswegs das terhalten werden. Die intellektuelle und Hauptgeschäft seiner Akteure. Permanenten künstlerische Kreativität, in die alle Beteilig- Müßiggang, der das Leben zu einer Kette ten von Carl August und seinem Dichter-Mi- unablässiger Lustbarkeiten machte, wie etwa nister Goethe bis hin zu jenem Sargtischler am Hof des württembergischen Herzogs Mieding, der die Kulissen für die Liebhaber- Carl Eugen, ließen schon Weimars karge Fi- aufführungen zimmerte, einbezogen waren, nanzmittel nicht zu. Außer Wieland, der eine war für eine fürstliche Hofgesellschaft des Hofpension von 1000 Talern im Jahr genoss, 18. Jahrhunderts eine neue Erfahrung. hatten alle irgendwelchen amtlichen Pflichten Fürsten, die Künstler und andere Zelebritäten zu genügen, die ihre Zeit und Kraft erheblich

52 beanspruchten. Auch die Sphäre der Amts- rekrutieren, sondern musste auf die nicht in tätigkeit, des eigentlichen Fürstendienstes, war die politischen Netzwerke des Adels einge- deshalb in die Ausstellung einzubeziehen. bundenen Intellektuellen setzen, die er von Die vielen Klatsch- und Tratschgeschichten, überallher an seinen Hof holte. Bereits Wie- die über das wilde Treiben des jungen Her- land war von Carl August als „Danishmend“, zogs und das vermeintlich obszöne Beneh- als politischer Berater also, engagiert worden. men der Weimarer Genies verbreitet wurden, Gleiches galt für Goethe und Herder sowie und die einseitige Verklärung von Anna für den Exoffizier Carl Ludwig von Knebel, Amalias „Musenhof“ haben dazu geführt, der neben seinen Hoffunktionen auch immer dass dieser für die anhaltende Symbiose von wieder zu politischen Missionen herangezo- Fürsten und bürgerlichen Literaten in Weimar gen wurde. Die bürgerlichen Intellektuellen ungemein wichtige Aspekt bisher kaum be- mussten sich in das politische System integ- achtet worden ist. Carl August war bestrebt, rieren, Verantwortung übernehmen und da- sich mit Persönlichkeiten von bedeutendem bei mindestens ebenso viel Kompetenz be- geistigen Ruf zu umgeben, doch tat er das weisen wie die alten Geheimräte und die von nicht nur zur Befriedigung seines Prestige- ihnen herangezogenen Beamten. Das war bedürfnisses, sondern auch deshalb, weil er die Bedingung, unter der sie ihre Vision, den als noch fast jugendlicher Regent politische Weimarer Hof zu ihrem „Bethlehem“ zu ma- Führungsstärke und Kompetenz gewinnen chen, verwirklichen konnten. Die Basis ihres musste. Wenn es eine Erfahrung gab, die er Wirkens in Weimar war ein Junktim, ein still- bereits unter der Vormundschaftsregierung schweigend abgeschlossener Pakt mit dem seiner Mutter hatte machen können, so war Herzog. Dieser erwartete von ihnen persönli- es die, dass es unglaublich schwer war, die che Loyalität und Treue, rückhaltlosen Ein- Kontrolle über den weit über die Landes- satz im Dienst für seine Person sowie die Inter- grenzen hinaus mit der adlig-ständischen essen seines Hauses und des Herzogtums. Oligarchie verfilzten Beamtenapparat zu Dafür aber verfügten sie bei materiell gesi- behalten und nicht von ihm manipuliert oder cherter Existenz über die für ihre öffentliche gar an den Rand gedrängt zu werden. Die Wahrnehmung im 18. Jahrhundert noch unab- Staatsräson hatte es erfordert, den Herr- dingbare Plattform eines reichsfürstlichen schaftswechsel im Zeichen politischer Konti- Hofes, wo sie ihre wissenschaftlichen, litera- nuität zu vollziehen, aber der Herzog war fest rischen und nationalerzieherischen Intentio- entschlossen, über kurz oder lang nicht mehr nen frei und uneingeschränkt verfolgen an der Leine seiner Geheimräte zu laufen konnten. und ein persönliches Regiment zu führen. Hierzu bedurfte er zuverlässiger Vertrauter, Vieles, was über das erste Regierungsjahr- auf die er sich unbedingt stützen konnte. Der zehnt Carl Augusts noch im Detail zu sagen arme, nicht einmal mehr über ein eigenes gewesen wäre, scheiterte an den beschränkten Schloss verfügende Weimarer Herzog konnte Möglichkeiten der Ausstellung. So blieben solche Persönlichkeiten nicht aus dem Adel beispielsweise die philosophischen Diskurse

53 des Jahrzehnts von 1775 bis 1785, in dem Her- Die Wirkung, die Jena als Zentrum der Rezep- ders „Ideen zur Philosophie der Geschichte tion Kants und wichtigste Vermittlerin seines der Menschheit“ gleichsam zur integralen Wegs in die Öffentlichkeit für das Entstehen weltanschaulichen Plattform des Weimarer der Klassik entfaltete, ist kaum zu überschät- Intellektuellenkreises wurden, Goethes „Iphi- zen. Die Ausstellung platzierte deshalb in genie“, Wielands literarisches Werk und viele einer repräsentativen Umgebung, der großen andere Aspekte, die zu einem vollständigen „Falkengalerie“ im Nordflügel des Schlosses, Bild des literarischen Weimar jener Zeit ge- ein neues Kapitel ihrer Geschichtserzählung. hören, ausgeblendet. Zu jenen reduktionisti- Erst der Aufstieg der Universität Jena zu einer schen Verlusten gehört in jedem Fall auch die der geistig führenden deutschen Hochschu- Tatsache, dass es schließlich in eine tiefe Ori- len, der sich seit Mitte der 1780er-Jahre voll- entierungskrise einmündete. Weder die Re- zog, ließ das weimarische Herzogtum zu ei- formansätze des jungen Herzogs und seiner nem regelrechten Magneten der bedeutends- Berater noch die musische Geselligkeit Anna ten Geister Deutschlands werden, zu einem Amalias in Tiefurt oder das Ausgreifen der geistigen „Freihafen“, wie es Goethes Minis- naturwissenschaftlichen und philosophischen terkollege Christian Gottlob Voigt nannte.28 Interessen nach Jena, wo der Schulterschluss Erst jetzt wirkte sich der seit einigen Jahren mit den Gelehrten der Universität hergestellt verstärkte geistige Zusammenhang mit Jena und im Jenaer Schloss mit dem Carl-August- für die Ilmresidenz wirklich aus. Die geistige Museum eine Wissenschaftsdependance des Revolution der kantischen Philosophie war Weimarer Hofes geschaffen wurde, boten kein schlagartiges Geschehen, sie vollzog eine Perspektive, die zum Entstehen des- sich zunächst relativ unspektakulär und infil- sen hätte führen können, was wir heute als trierend im Verlaufe einer Reihe von Jahren, Klassik bezeichnen. Goethe suchte den Weg in denen Kants Lehre immer mehr Eingang zu einem Neuansatz in seiner Flucht nach in das wissenschaftliche Denken Deutsch- Italien, wo er seine physische und psychische lands fand. Es ist der dezidiert aufklärerisch Gesundung erhoffte. Carl August sah seine orientierten Berufungspolitik der Herzöge Perspektive in der Reichspolitik, wo er sich in von Weimar und Gotha seit Ende der 1770er- der Hoffnung, in Anlehnung an Preußen eine Jahre, an der auch Goethe maßgeblichen Reform der Verhältnisse des Alten Reiches Anteil hatte, zu verdanken, dass die Jenaer herbeiführen zu können, die ihm und seinem Universität zu diesem Zeitpunkt personell Staat eine zukunftsfähige Entwicklungsper- so aufgestellt war, dass der Same von Kants spektive zu verschaffen vermochte, für den Philosophie hier auf den fruchtbarsten Boden deutschen Fürstenbund engagierte. Der ent- fiel, den sie in Deutschland finden konnte, scheidende Anstoß indes kam von einer ganz dass sie hier sofort und in großem Umfang anderen Seite: von der geistigen Revolution, rezipiert wurde, und dass in Jena durch das die von der Philosophie Immanuel Kants aus- 1785 auf Initiative des Jenaer Philologen ging. 28 Vgl. Christian Gottlob Voigt an Goethe, 5. August 1798, in: GV 3, S. 86 f.

54 Christian Gottfried Schütz, des Weimarer und die Mitte der 1780er-Jahre eingetretene Verlegers Friedrich Justin Bertuch und Wie- Orientierungskrise überwinden konnten. lands gegründete wissenschaftliche Rezen- sionsblatt „Allgemeine Literatur-Zeitung“ So entstanden − von der Ausstellung eben- ein geistesgeschichtlich außerordentlich falls noch in der „Falkengalerie“ thematisiert bedeutungsvoller Vorgang einsetzen konnte, − neue Visionen, diesmal nicht mehr in der nämlich die Ausbreitung von Kants Lehren in überschwänglichen Diktion des Sturm und der deutschen und europäischen Öffentlich- Drangs wie nach Goethes Ankunft, als von keit, verbunden mit der Durchdringung und Weimar als einem „Bethlehem“ und Berg Ara- Neubewertung aller Wissenschaftsdisziplinen rat, wohin sich die Guten in der allgemeinen aus der Perspektive dieser neuen, transzen- Sintflut retten würden, die Rede gewesen dentalen Philosophie.29 In Jena lehrte man war, sondern bereits im Sinne konkreter kul- sogar nun eine kantische Theologie. Zum be- turpolitischer Konzepte. Wieland beschwor deutendsten philosophischen Propagandisten in seinem Aufsatz „Das Geheimnis des Kos- von Kants Lehre wurde Carl Leonhard Rein- mopolitenordens“ das Ideal eines universalen hold, ein aus dem Kloster entlaufener Geist- geistigen Kommunikationsnetzes der Intel- licher, der, gelenkt über die konspirativen lektuellen, das auf uneingeschränkter Pres- Verbindungen des Illuminatenordens, nach sefreiheit beruhe und keinerlei klandestine Weimar gelangte, dort bei Herder zum Lu- Strukturen mehr brauche, und Knebel legte thertum konvertierte, eine Tochter Wielands dem Herzog ans Herz, sich nach dem Schei- heiratete und schließlich 1787 in Jena zum tern seiner Fürstenbundpläne, die ihm öffent- Professor berufen wurde − ein Schritt, den liches Ansehen eingebracht hätten, wieder Goethe sogar in einem als geheimrätliches auf sein Herzogtum zu konzentrieren und es Votum aufzufassenden Brief aus dem fernen zum „Hirn des noch ungeschlachten Körpers Italien mit großer Genugtuung begrüßte.30 Germaniens“ zu machen.31 Auch Goethe sah Die hiervon auf Weimar-Jena zurückwirkende nun eine neue Basis seines Wirkens in Weimar; Resonanz verschaffte nicht nur der Universi- von Italien aus handelte er mit dem Herzog tät und der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ neue Modalitäten für seinen Wiedereintritt in eine enorme Autorität im geistigen Leben sein Weimarer „Geschäfts-Verhältniß“ aus. Als Deutschlands, sondern lieferte auch eine wiedergeborener Künstler, als der er sich nun neue Plattform, auf der Weimars Intellek- fühlte, wollte er von allen früher wahrgenom- tuelle ein neues Zukunftsprogramm für das menen Routinegeschäften im Geheimen Con- kleine Herzogtum Carl Augusts entwerfen silium und in der Landesadministration be- freit werden und sich nur noch der Pflege von 29 Vgl. Horst Schröpfer: Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Kunst und Wissenschaft widmen. Aus Italien Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 (= Forschungen und Materialien zurückgekehrt, brachte er seinen von dort zur deutschen Aufklärung, II, 18). 30 „Über Reinholds Verpflanzung freu ich mich und über alles 31 Vgl. Karl Ludwig von Knebel an Herzog Carl August von was Jena Guts widerfährt.“ Johann Wolfgang Goethe an Christian Sachsen-Weimar-Eisenach, 30. Januar 1788, in: ThHStA Weimar, Gottlob Voigt, WA IV, 8, S. 167. HA A XIX, 65, Bl. 110r–111v.

55 mitgebrachten neuen Kunstbegriff in kulturell einem der größten Räume, die ihr zur Ver- ambitionierte Großprojekte wie den Wieder- fügung standen. In dessen Mittelpunkt war aufbau des Weimarer Residenzschlosses, die unter einem von den Ausstellungsarchitekten architektonische Gestaltung des Römischen Klaus-Jürgen Sembach und Gottfried von Hauses und des Weimarer Hoftheaters ein. Haeseler entworfenen goldenen Pavillon das Jena als „Stapelstadt des Wissens“ wurde „glückliche Ereignis“ der Freundschaft und nun so sehr zu seiner zweiten Heimat, dass künstlerischen Arbeitsgemeinschaft von Goe- der Herzog bereits regelrecht eifersüchtig zu the und Schiller inszeniert. Umgeben wurde werden begann und seinen Ärger über den diese Installation von dokumentarischen und „Leichtsinn“, mit dem Goethe die „Schäkers“ gegenständlichen Belegen für die enorme in Jena approbiere32, nur mühsam verhehlen Vielfalt des geistigen Lebens im Weimar-Jena konnte. Dennoch gelang es, das Junktim dieser Zeit: Die kaskadenartig aufeinanderfol- zwischen ihm und den Weimarer Intellek- genden großen Köpfe der idealistischen Phi- tuellen aufrechtzuerhalten und zu festigen, losophie waren ebenso vertreten wie Wilhelm obwohl es in den Jahren der Französischen und Alexander von Humboldt, die Jenaer Revolution, besonders während Carl Augusts Frühromantik und vieles andere. Gleichsam als Teilnahme an der preußisch-österreichischen Sinnbild jener Situation zeigte der Raum das Militärintervention in Frankreich von 1792, zu den Beständen der Klassik Stiftung Weimar schweren Irritationen unterworfen war. gehörende Gemälde „Die Schule von Athen“ von Johann August Nahl d. J. Das Bild selbst Die Synergieeffekte der akademischen mag künstlerisch wenig bedeutend sein, doch „Freihafen“-Politik Weimars, die mit der geisti- war seine Botschaft für die Ausstellung ausge- gen Reaktion – die in den großen Metropolen sprochen symbolträchtig. Die darin paraphra- wie Berlin nach dem Religionsedikt Wöllners, sierte „Schule von Athen“, eine der großen München nach der Unterdrückung des Illumi- Stanzen Raffaels, die Goethe und die anderen natenordens, Dresden unter dem Geheimen Weimarer Italienreisenden in Rom gesehen Rat Wurmb, der wie Wöllner ein führender und bewundert hatten, war nun gleichsam in Gold- und Rosenkreuzer war, und Wien nach Weimar-Jena Realität geworden. Als Raffael dem Tod Kaiser Josephs II. die Oberhand ge- auf seinem Fresko die großen Philosophen der wonnen hatte – scharf kontrastierten und das Antike im Disput miteinander darstellte, war kleine Herzogtum Carl Augusts gleichsam zum das eine willkürliche, lediglich deren spätere geistig spannendsten Ort der Welt (N. Boyle) Rezeption in der Renaissance versinnbild- werden ließen, bildeten die Grundlage für jene lichende Konstruktion, da die dargestellten Kommunikationsverdichtung, in deren Verlauf Persönlichkeiten zu völlig unterschiedlichen die Weimarer Klassik in den 1790er-Jahren Zeiten gelebt hatten. Die Weimarer Klassik konkrete Konturen annahm. Die Ausstellung hingegen war ein simultanes Geschehen, thematisierte diese Kulminationsphase in hier standen die führenden Philosophen, Künstler und Literaten, die in der Ausstellung 32 Vgl. Herzog Carl August an Christian Gottlob Voigt, 26. De- zember 1798, in: AS II/2, S. 581 f. dargestellt wurden, unmittelbar miteinander

56 in Berührung und vermochten einander zu Schillers und Herders, das Überrolltwerden „elektrisieren“, wie Schiller es nannte. Der durch die Kriegsmaschinerie Napoleons und weitere Verlauf der Ausstellung breitete die schließlich den Tod der Herzogin Anna Ama- einzelnen Themenfelder aus, in denen sich die lia. Vor dem Abgang durch das Marmortrep- Klassik in Weimar und Jena verwirklichte, das penhaus verwiesen die Reiterstatuette Carl von Goethe geleitete und von Schiller drama- Augusts, ein Blick in die Tiefe der Eisenkon- turgisch betreute Weimarer Hoftheater − in struktionen in der anschließenden Hofkapelle einem kleinen Theatersaal wurden die von und der nach der Erhebung Weimars zum Schauspielern des deutschen Nationalthea- Großherzogtum angefertigte neue Fürsten- ters gespielten Hexenszenen aus Schillers thron darauf, dass an dieser Stelle zwar die Inszenierung von „Macbeth“ vorgeführt −, Ausstellung, jedoch nicht ihr Gegenstand, die bildende Kunst und Kunstgeschichte, die die Weimar Klassik, ihren Abschluss fand. Herausgabe der Werke Winckelmanns, die naturwissenschaftliche und kunstgeschicht- Hinsichtlich ihres Gestaltungskonzepts war die liche Sammlungstätigkeit Goethes, die Ar- „Ereignis-Weimar“-Ausstellung kein Novum; chitekturentwürfe des Römischen Hauses bereits die von der Klassik Stiftung Weimar und der Repräsentationsräume des neuen veranstalteten Themenausstellungen „Gehei- Stadtschlosses, die von Friedrich Justin Ber- me Gesellschaft. Weimar und die deutsche tuchs Landes-Industrie-Comptoir ins breite Freimaurerei“ im Schillermuseum 200233 und Publikum gestreuten, im klassizistischen Ge- die Maria-Pawlowna-Ausstellung im Stadt- schmack gestalteten Entwürfe von Kleidermo- schloss 200434 hatten das Prinzip einer museal den, Möbeln und Gebrauchsgegenständen, illustrierten Geschichtserzählung verfolgt. und der Aufschwung der Naturwissenschaf- Wohl aber wurde hier erstmals versucht, die ten, dargestellt anhand der Reisen Alexander komplexen Zusammenhänge, Hintergründe von Humboldts, der physikalischen Entde- und Abläufe eines so umfassenden und ckungen Johann Wilhelm Ritters und des bei abstrakten geistesgeschichtlichen Vorgangs, Bertuch gedruckten anatomischen Atlasses wie ihn die Entstehung der Weimar Klassik des Jenaer Mediziners Justus Christian Lo- darstellt, in allgemeinverständlicher Form zu thar, der als ein Hightechprodukt jener Zeit konkretisieren. Gelungen ist dies, wenn man bezeichnet werden kann. Diese Illustrationen den Feuilletons der großen überregionalen der Klassik führten schließlich in den letzten Zeitungen folgen will, durchaus. Allerdings großen Raum der Ausstellung, den von den blieben viele Lücken und Desiderate, war Dichterzimmern Maria Pawlownas umrahm- ten Conseilsaal des Westflügels. Gegenstand 33 Vgl. Joachim Berger/Klaus-Jürgen Grün (Hrsg.): Geheime dieses Raumes war der Wiedereinzug der Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller-Museum herzoglichen Familie in das Weimarer Schloss, Weimar, 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München-Wien 2002. umgeben von den Bezügen auf geschichtliche 34 Vgl. „Ihre Kaiserliche Hoheit“. Maria Pawlowna. Zarentochter Ereignisse, die das Ende der Kulminations- am Weimarer Hof. Katalog und CD-R zur Ausstellung im Weimarer Schlossmuseum, hrsg. von der Stiftung Weimarer phase der Klassik markierten, wie den Tod Klassik und Kunstsammlungen 2004, München-Berlin 2004.

57 manches auch in ausstellungspädagogischer „Vermittlungsmedien“, denen ein hoher Stellen- Hinsicht unausgereift und dilettantisch, wert auch für die Forschung selbst zukommt.35 die Möglichkeiten der modernen Medien wurden − die Theaterszene ausgenommen Er misst ihnen einen eigenständigen Wert als − nicht genutzt, und das Publikum hätte – wenngleich stets nur ephemeren – Kunstwer- durch ein geeignetes Werbekonzept weitaus ken zu. Indem sie mit ihrem Thema gleichsam wirkungsvoller auf die mit der Ausstellung künstlerisch spielen und es auf unkonventi- gegebene Chance, das Erlebnis der verschie- onelle Weise verfremden, vermögen sie den denen Weimarer Dichterhäuser, Museen auszustellenden Objekten Aspekte und Deu- und Erinnerungsorte zu einem umfassenden tungsvarianten abzugewinnen, die von der Gesamtbild des klassischen Weimar abzu- akademisch-wissenschaftlichen Beschreibung, runden, hingelenkt werden können. Die ge- deren Denk- und Analysestrukturen von der wünschten und auch theoretisch möglichen Theorie und Methode des jeweiligen Wissen- Besucherzahlen konnten daher nicht erreicht schaftsgebietes vorgegeben sind und strikt dis- werden. Immerhin ist mit der Ausstellung ziplinierten Regeln unterliegen, oft nicht oder ein Fundament gelegt worden, auf dem die nur unzureichend wahrgenommen werden. Der weitere Bildungsarbeit der Stiftung, wie das Historiker etwa, der sein Wissen überwiegend „Weimarpedia“-Konzept zeigt, aufbauen kann. aus Archiven und Bibliotheken generiert, ver- fügt in der Regel nur über ein sehr begrenztes Interpretationsinstrumentarium, um die in III. gegenständlichen Objekten und Kunstwerken verborgenen Botschaften zu deuten. Die Folge „Wozu braucht Carl August einen Goethe? ist, dass diese kaum rezipiert werden: Was nicht Fürstliche Sehnsucht nach Individualismus“. in den Akten ist, ist nicht in der Welt, lautet Das war der Titel einer Ausstellung, mit der nicht von ungefähr eine alte Weisheit der His- Herbert Lachmayer gleichsam die Finger in die toriografie. Ausstellungen zu erarbeiten ist für Desiderate der „Ereignis-Weimar“-Ausstellung Lachmayer insofern individuelle, kreative Aus- legte. Im Rahmen des von Nike Wagner veran- einandersetzung mit dem jeweiligen Gegen- stalteten Weimarer Kunstfestes „pèlerinages“ stand. In diesem Interaktionsprozess erzeugt er wurde 2008 das klassische Weimar im Nord- und „thematische Denkräume“, die eine bestimmte Ostflügel des Stadtschlosses erfrischend neu Balance von rational-narrativer Struktur und inszeniert. „Ereignis Weimar“ war ihm zu ab- einer in der Regel vom Betrachter unbewusst strakt akademisch, zu wenig die tatsächlichen apperzipierten Bild-Dynamik herstellen und Mentalitäten und Befindlichkeiten der handeln- durch paradox anmutende Kombinationen den Protagonisten berücksichtigend gewesen. „komplexe Aufmerksamkeit“ erzeugen. Ob- Für Lachmayer sind Ausstellungsinszenierungen jektauswahl und Materialaufbereitung erfordern nicht nur populärwissenschaftliche Hilfskonstruk- te, um kanonisierte akademische Forschungs- 35 Vgl. Rita Lucia Kommentisch: Kunst und Mode – ein Winnig Team? Eine Abhandlung über Anleihen und Annäherung zweier ergebnisse unters Volk zu bringen, sondern Kulturbereiche, Diss. Phil. Wien 2008, S. 227.

58 Hypothesenbildungen, transdisziplinäre Ver- facettenreich in ihre Welterfindungen und knüpfungen und subjektive Assoziationen suggestive Individualitäts-Imaginationen ein- ebenso wie eine methodisch sichere Kombi- zubauen. Der Künstler konnte diese Aufgabe natorik. Lachmayers Ausstellungen stellen sich aber nur aus einem als frei zugelassenen daher als multimedial inszenierte Denkexperi- Selbstbewusstsein heraus gut lösen. Um dem mente dar, sie sind „Wissensopern“, wie er es Fürsten in Augenhöhe begegnen zu können, nennt, und haben den Anspruch, die „der Re- mussten Künstler allerdings eine nicht unbe- alität innewohnende Surrealität“ bewusst wer- trächtliche Verwegenheit aufbringen.“36 Die den zu lassen und so den Horizont der wissen- Künstler, so Lachmayer, seien aber nicht nur schaftlichen Hypothesenbildung zu erweitern. „Illusionierungs-Produzenten zur Ausstaffierung des hybriden Allmachtkonzepts absolutistischer Lachmayer hat relativ elaborierte Vorstellungen Herrschaft“ gewesen, sondern hätten „mit ihrer über die Rolle des Künstlers für die Selbstinsze- eigenen künstlerischen Allmachtsinspiration nierung der Hocharistokratie des 18. Jahrhun- entschieden mehr“ gewollt. „Beide Freiheiten derts gewinnen können: „Die Inszenierung des ihrer Zeit wollten sie haben und genießen, gesellschaftlichen Lebens der Aristokratie – im an sich selbst erleben, auch überhöhen: die Absolutismus noch des ausgehenden 18. Jahr- Willkürfreiheit des Erbadels im Luxusgenuss hunderts – machte die Anwesenheit von Künst- mitkonsumieren, aber auch die Freiheit der lern bei Hofe notwendig, da dem enormen Individualitätserfindung durch Kunst voll entfal- Bedarf einer massenhaften Symbolproduktion ten – das muss schon etwas Berauschendes an professionell entsprochen werden musste. So sich gehabt haben. Als Individualisten einer frü- waren die Künstler eng in die umfassende Ge- hen Bürgerlichkeit, noch vor der Französischen staltung des aristokratischen Lebens, bis hin zu Revolution, traten sie bei Hofe der fürstlichen den sich damals erst konstituierenden intimen Individualität mit autonomem Gestus gegen- Bereichen der Herrschenden selbst, einge- über, ausgestattet mit Genius, unübertreffbare bunden […] Die politische Entscheidungs- und Kunst schaffen zu können.“ In diesem Sinne Handlungsrealität war zwar pragmatisch dem hätten Künstler wie Mozart und Da Ponte kei- Rationalismus verpflichtet, musste aber unter ne „künstlerischen Gegenwelten“ zu erfinden, Berücksichtigung vielfältigster Legitimitäts- sondern einen essenziellen Beitrag dafür zu referenzen immer auch symbolisch abgehandelt leisten gehabt, die symbolische Repräsentation werden. Das räumte den Künstlern, die für die- der Herrschaftswelt als real zu erhalten. „Es war se Realitätssymbolisierung stets handwerklich sozusagen eine schamlose Schamgesellschaft, verantwortlich waren, eine äußerst wichtige die zu bedienen war − nicht jene Schuldge- Position im Herrschaftsgefüge ein. Mussten sie sellschaft oder Über-Ich-Gesellschaft wie im doch wie selbstverständlich die Eigenart der 19. Jahrhundert und später.“ Mozart und Da feudalen Individualitätsansprüche höchst diffe- Ponte seien als Opernproduzenten am Wiener renziert sich zu eigen machen, um im Stande zu sein, die imaginierten Individualitäten op- 36 Herbert Lachmayer: Die reale Virtualität der Oper, in: Lorenzo Da Ponte. Aufbruch in die neue Welt, hrsg. von Werner Hanak im tionaler Herrschaftsrollenträger finessen- und Auftrag des Jüdischen Museums Wien, Wien-Ostfildern 2006, S. 12 ff.

59 Hof Josephs II., so Lachmayer, „durchaus ein jedoch nach seiner Kindheit unter der allge- subversives Paar“ gewesen und hätten ihre genwärtigen Supervision des Grafen Görtz, Freiheit in Kreativität fokussiert, anstatt sie an die keine seiner Seelenregungen unbemerkt Attitüden der Selbststilisierung bei Hofe zu gelassen und mit pädagogischen Maßnahmen verschwenden. So hätten sie ihre Energien in beantwortet hatte, keinerlei „Erziehung“ mehr. jene qualitative Optimierung einer Kunstpro- Was er wollte, war Entfaltung, schrankenloses duktion investiert, die es ihnen ermöglichte, Ausleben all der Triebe und Bedürfnisse, die ihre individualistische Freigeistigkeit zu ob- bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit diszi- jektivieren und mit ihren Opern Medienkon- pliniert worden waren. Die Übernahme der strukte von Dauer zu schaffen. Die innerlichste Regentschaft seines Herzogtums schien ihm, Autoritätsablehnung ihrer Bühnenfiguren wirke wie er meinte, endlich die ersehnte Freiheit zu bis heute nach. „Sie haben der absolutisti- gewähren, seinen schier unstillbaren Erlebnis- schen Adelswelt die Freiheitsobsession in den hunger zu befriedigen. Deshalb suchte er vor Pelz gesetzt, um über politische Zerreißpro- allem Persönlichkeiten an seinen Hof zu zie- ben hinweg etwas freizusetzen, was sich als hen, die gleichsam auf derselben Wellenlänge nachhaltiger herausgestellt hat als die Gesell- lagen und als unkonventionelle, den Selbstver- schaft, für die sie ihre Werke produzierten.“ wirklichungsanspruch des Individuums pro- klamierende Literaten des Sturm und Drangs Vor diesem Hintergrund erschien es Lachmayer öffentlich hervorgetreten waren. Gerade der ungemein reizvoll, auch die Verhältnisse des Umstand, dass sie in der „guten Gesellschaft“ klassischen Weimar, vor allem die Beziehung regelrecht berüchtigt waren, wie Goethe durch zwischen Herzog Carl August und Goethe, seinen den in der christlichen Moral verpönten auf ihre tragenden Elemente und Prinzipien Selbstmord zur freien Entscheidungsoption des hin zu befragen. In der Tat war eine solche Individuums verklärenden „Werther“, machte Sichtweise auf die Beziehung zwischen Fürst sie für Carl August zum Faszinosum. Mag man und Dichter, wie sie Lachmayer entwickelte, in Wielands Fürstenspiegel-Roman „Der goldne der bisherigen, noch immer hagiografisch be- Spiegel“ noch so etwas wie eine rokokohaft stimmten Goethe-Biografik vollkommen fremd. verspielte und in exotischer Kulisse inszenierte Zwar wird in den wichtigen Goethe-Biografien Belehrungsabsicht erkennen, so trifft das für ausführlich darüber sinniert, welche Gründe Goethes Umgang mit Carl August kaum noch Goethe bewogen haben konnten, nicht nur zu. Goethe war für Carl August neben vielem nach Weimar zu gehen, sondern auch, und das anderen in erster Linie ein Partner, der Con- lebenslang, dort zu bleiben. Die Gegenfrage naisseur, der seinen Drang nach unbegrenzter aber, welche Gründe Carl August hatte, Goethe Selbstverwirklichung mittrug und maßgeblich, und andere Künstler an seinen Hof zu holen, ja essenziell beförderte. Carl Augusts Bedürf- wird kaum reflektiert. Jahrzehntelang war in nis, alle „normalen“ Erkenntnis- und Erlebnis- platter Simplizität von „Fürstenerziehung“ die grenzen zu überschreiten und auszukosten und Rede, wenn es um die Beziehung von Goethe auszutesten, was überhaupt nur vorstellbar war, und dem Herzog ging. Carl August tolerierte war so extrem ausgeprägt, dass sich Goethe

60 mitunter davon überfordert sah. Nachdem er O Fürst, laß dir die Wollust schenken, ihn einmal während der Schweizer Reise 1779 Wenn du sie wahr empfinden willst. nach einer riskanten Tour auf den Berner Alpen- […] gletschern mit Mühe wieder heil ins Tal hinab Was ist die Lust, die in den Armen hatte bringen und das Herzogtum so vor der der Buhlerin die Wollust schafft? politischen Katastrophe bewahren können, sei- Du wärst ein Vorwurf zum Erbarmen, nen Regenten durch einen Unfall zu verlieren, Ein Tor, wärst du nicht lasterhaft. schrieb er entnervt an : […] Sei ohne Tugend, doch verliere Wär ich allein gewesen wär ich höher und Den Vorzug eines Menschen nie! tiefer gegangen, aber mit dem Herzog muß Denn Wollust fühlen alle Tiere ich thun was mäßig ist. Doch könnt ich uns Der Mensch allein verfeinert sie. mehr erlauben, wenn er die böse Art nicht Laß dich die Lehren nicht verdrießen, hätte den Speck zu spicken, und wenn man Sie hindern dich nicht am Genuß. auf dem Gipfel des Bergs mit Müh und Ge- Sie lehren dich, wie man genießen fahr ist, noch ein Stiegelgen ohne Zweck Und Wollust würdig fühlen muß.38 und Noth mit Müh und Gefahr suchte.37 Selbstverständlich konnte Goethe damals Konnte sich Lachmayers Deutungsansatz in noch nicht ahnen, dass er einst an der Seite Bezug auf Carl Augusts Persönlichkeit durch- eines Reichsfürsten eine beispiellose Dichter- aus bestätigt sehen, so zeigte sich bald auch karriere absolvieren würde. Der „Fürst“ war ein überraschender Beleg dafür, dass auch für ihn zu jener Zeit lediglich ein Symbolbe- Goethe seinerseits diese Rolle des Connais- griff; er bezeichnete schlechthin das freie, seurs bewusst angestrebt und übernommen zu grenzenloser Entfaltung fähige und auch hatte. Goethes Übersiedlung nach Weimar war berechtigte menschliche Individuum, das in nicht nur das Resultat des Ausbruchs aus einer der Realität seiner Zeit nicht anders vorstellbar krisenhaften Situation, in der er sich in seiner war als in Gestalt einer auf der obersten Stufe Frankfurter Lebenswelt nach dem Scheitern der gesellschaftlichen Hierarchie stehenden seines Verlöbnisses mit Lili Schönemann mit Fürstenpersönlichkeit, die keinerlei gesell- der Aussicht auf eine lebenslange Fron in einer schaftliche Schranken zu respektieren brauchte. bürgerlichen Anwaltskanzlei zu sehen glaubte. Auch Goethes „Faust“ ist bekanntlich ein von Schon 1767 hatte Goethe in seinem Gedicht Allmachtsfantasien Getriebener, der, als er „Der wahre Genuß“ geschrieben: den Erdgeist im „gotischen Gewölbe“ seiner Studierstube mit alchimistischen Beschwö- Umsonst, daß du, ein Herz zu lenken, rungsformeln nicht zu zwingen vermag, seiner Des Mädchens Schoß mit Golde füllst.

38 Johann Wolfgang von Goethe: Der wahre Genuß, in: Der junge 37 Johann Wolfgang von Goethe an Charlotte von Stein, 14. Okto- Goethe, Bd. 1, 1749 – März 1770, hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg, ber 1779, in: WA IV, 4, S. 78. Berlin-New York 1999, S. 293–295.

61 Ohnmacht inne wird und dann in Mephisto- Goethé si celebre par ses écrits, par la hardies- pheles einen Partner findet, der für ihn die se de ses pensées, par l’empire qu’il exerce Rolle des Connaisseurs übernimmt und ihm sur les esprits, par son irreligion, par sol mepris zur Befriedigung seiner Obsessionen verhilft. pour les moers, pal le metamorphose qu’il a Es entsprach also durchaus der Logik dieser in opéré sur le Duc de Weimar en convertissant Goethes frühem literarischen Schaffen bereits un jeune home modeste et doux en un téme- formulierten Denkfigur, dass er, als sich ihm raire qui vit au milieu la paix comme s’il etait au acht Jahre später die Chance dazu bot, nicht sein de la guerre et pour le quell la vie n’aurait zögerte, die Rolle des Connaisseurs eines pas de charme, si au milieu d’un ordre des cho- realen Fürsten, des jungen Carl August, zu ses tranquile et uniforme il ne exposoit tous übernehmen, um diesem Geschmacksintelli- les jours et si les plus violantes passions, celle genz und Genussfähigkeit als triebsublimie- du vin, des filles et l’ambition n’avaient l’air rende Mittel der bewussten Selbststeuerung de chechirer son sein, lui dont les facultés ret- und Voraussetzung zu wirklichem Genuss recies n’etaient pas déstiné à enfanter autant beim Ausschreiten aller erreichbaren Denk- de passion et le corps foible à les nourier.39 und Erlebnishorizonte nahezubringen. Diese Aufgabe war nicht gleichzusetzen mit der Diese Interpretation der Beziehung Carl Au- eines Prinzenerziehers, wie es der Graf Görtz gusts zu Goethe experimentell zu inszenieren, und dann Wieland gewesen waren, denn sie war das Grundanliegen des Lachmayer’schen schloss auch das verwegene psychologische Ausstellungskonzepts. In den Diskussionen, Kalkül ein, dem Fürsten zunächst grundsätz- die zur Konstruktion des „Denkraums“ der lich das Recht auf „Lasterhaftigkeit“ und das Ausstellung im Kuratorenteam über einige Überschreiten der Normen zuzugestehen, die Monate hinweg geführt wurden, stellte sich für den in strenge Moral- und Rechtsnormen jedoch bald heraus, dass Lachmayers aus der ständischen Gesellschaft eingezwängten der Beschäftigung mit der josephinischen normalen Zeitgenossen unüberschreitbar Opernkultur in Wien abstrahierter, idealtyp- waren. Im Sinne des oben zitierten Gedichts scher „Modellfürst“ des 18. Jahrhunderts in ging es sogar darum, ihn regelrecht dazu zu Weimar nicht existierte, ja gar nicht existieren verführen, sich „auszuleben“, denn nur auf- konnte. Mochte sich Joseph II. als absoluter grund dieser dem Herzog in seiner Kindheit Herrscher der habsburgischen Erblande und und Jugend verwehrten elementaren Selbst- Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deut- erfahrung konnte ein durch das Erlernen von scher Nation mit einer gewissen Evidenz als Geschmacksintelligenz gesteuerter Selbst- allmächtiger Potentat fühlen können, so zeigte formungsprozess überhaupt einsetzen. Mit die Begrenztheit des Kleinstaats und seiner geradezu frappierender Präzision schildert ein materiellen Ressourcen einem Herzog von Diplomatenbericht aus dem Jahr 1787 die irri-

tierte Wahrnehmung von Goethes Einfluss auf 39 Depesche des Grafen N. P. Rumjanzew an den Kanzler den Herzog im maliziösen Klatsch der deut- Graf I. A. Ostermann, 2./13. Januar 1787, in: Archiv des Außen- ministeriums Moskau, F 92/2, l, 1–2 ob, zitiert nach der im GSA schen Adelswelt: vorliegenden Kopie.

62 Sachsen-Weimar-Eisenach doch zwangsläufig Thron gesetzt. Der beispiellose Abstieg zur sehr bald die realen Grenzen seiner Macht auf. politischen Machtlosigkeit, den das ernes- Indes musste das keineswegs bedeuten, dass tinische Fürstenhaus in den Jahrzenten der solche Phantasmagorien bei einem Fürsten Reformation und Konfessionalisierung infolge wie Carl August nicht existierten. Besonders der Niederlage Kurfürst Johann Friedrichs im Carl Augusts Großvater, Herzog Ernst August Schmalkaldischen Krieg erlebte, hatte schließ- von Sachsen-Weimar-Eisenach, war mit sei- lich dazu geführt, dass den Ernestinern durch ner schon in grotesker Weise mit den realen kaiserlichen Machtspruch ein Erbteilungsrecht Möglichkeiten seines Landes kontrastierenden aufgezwungen wurde, das ihren Territorialbe- Soldatenspielerei, Prunksucht und den vielen sitz in viele einzelne Linien und Herzogtümer Schlossbauten, von denen manche so kulissen- zersplitterte. Ihren Anspruch, dem Kaiser haft gebaut waren, dass sie nur wenige Jahre gleich zu gelten, hatten die ernestinischen existierten, ein charakteristisches Beispiel Herzöge jedoch nie aufgegeben. Mehrere dafür. Gerade Kaiser Joseph und seine Haus- Generationen des weimarischen Herzogshau- machtpolitik machten den deutschen Fürsten ses hatten versucht, die alte Machtstellung im Allgemeinen und Herzog Carl August im wiederzugewinnen. Der prominenteste un- Besonderen die Fragilität ihrer politischen ter ihnen war der legendäre Heerführer des Existenz in dem nur durch das Gleichgewicht Dreißigjährigen Kriegs, Herzog Bernhard von der europäischen Mächte aufrechterhaltenen Weimar, gewesen, den Carl August persönlich politischen Ordnungssystem des Alten Reichs hoch verehrte und nach dem Wiederaufbau allzu deutlich. Schon seit Jahrhunderten hatte des 1774 abgebrannten Residenzschlosses das ernestinische Haus Sachsen, vor allem das einen besonderen Memorialraum, das Bern- weimarische Fürstenhaus, in der Auseinander- hardzimmer, widmete.40 Noch heute genie- setzung mit dem Haus Habsburg eine Kom- ßen einige auf den prominentesten Thronen pensationsstrategie entwickelt, die es ihm er- Europas sitzende Linien der Ernestiner die möglichte, seinen Anspruch auf Gleichrangig- Früchte dieses hartnäckigen Insistierens auf keit mit der europäischen Hocharistokratie dem althergebrachten Status im europäischen wenigstens ideell aufrechtzuerhalten. Die Hochadel, auch wenn sie ihren alten Stamm- Herzöge von Sachsen hatten niemanden über namen als Herzöge von Sachsen mittlerweile sich, auch nicht den Kaiser, der lediglich pri- abgelegt haben. Auch für Carl August war mus inter pares und zumindest im Hinblick das Bewusstsein, in einer solchen exzeptio- auf seine zum Reichsgebiet gehörenden Ter- nellen dynastischen Tradition zu stehen, einer ritorien genauso der von ihm nur verwalteten der wesentlichen Antriebe seines politischen Oberlehnsherrlichkeit des Reichs unterworfen Handelns. Sein Bestreben, in der Politik des war wie jeder andere Reichsstand. Kurfürst Alten Reichs eine besondere Rolle zu spie- Friedrich der Weise war in seinem Status als len, und sein Ehrgeiz, mit dem deutschen Reichsstatthalter und mächtigster der deut- schen Kurfürsten dem Kaiser gleich gewesen 40 Vgl. Gerd-Dieter Ulferts: Gotische Formen im klassischen Weimar. Der Memorialraum für Herzog Bernhard im Residenzschloß, und hatte den Habsburger Karl V. erst auf den in: Hellmut Th. Seemann (Hrsg.): Anna Amalia, S. 334–344.

63 Fürstenbund ein Gegengewicht zur Groß- Pawlowna sowie schließlich mit Carl Alexan- machtpolitik der Habsburger zu schaffen, war der selbst und thematisierten deren bestän- mindestens ebenso von diesem dynastischen dige Versuche, die Kulturblüte der Klassik zu Traditionsbezug wie von der oben geschilder- erneuern, „die Mumien neu zu wickeln“, wie ten Eigenart seiner Persönlichkeit bestimmt. es Lachmayer gern nannte. Dabei gelangen Diese Erwägungen veranlassten Lachmayer interessante Einblicke in die Denkstruktur und sein Ausstellungsteam, die ursprüngliche von Persönlichkeiten, die als Glieder einer Idee des Ausstellungsthemas auszuweiten zeitübergreifenden dynastischen Kette gleich- und die dynastische Dimension der Tradition sam das „Blei der Tradition in den Knochen“ des ernestinischen Hauses Sachsen in den trugen. Den dynastischen Vertretern des zu schaffenden „Denkraum“ zu integrieren. Hauses Weimar im 19. Jahrhundert gelang es nicht, die Klassik wiederzubeleben, aber Die Ausstellung begann mithin nicht mit Carl sie vermochten es, mit ihrer Kulturpolitik, August, sondern mit Carl Augusts Enkel, Groß- seit Bismarck und der Gründung des neuen herzog Carl Alexander. Carl Alexander hatte deutschen Kaiserreichs zumal, der politischen als Kind engen Umgang mit Goethe gehabt; Macht- und Bedeutungslosigkeit des Klein- das Goethehaus war gleichsam seine zweite staats die Ambition entgegenzusetzen, in Wei- Heimat gewesen. Zeitlebens bildete für ihn mar einen weltweit ausstrahlenden kulturellen der Bezug zu Goethe eine zentrale Orientie- Mittelpunkt zu etablieren. Das Fin de Siècle im rungskonstante. Er könne alles entbehren, nur Weimar Carl Alexanders war dekadent, aber nicht Goethe, soll er einmal gesagt haben. So es handelte sich um eine ungemein „produkti- bot sich Goethes Rolle als virtueller Connais- ve Dekadenz“, deren Leistung und Tragweite seur für Carl Alexander dazu an, einen idealen bis heute noch keineswegs voll erfasst ist. Einstieg in den „Denkraum“ der Ausstellung abzugeben, ähnlich wie noch für jeden heuti- Die Auseinandersetzung mit den dynastischen gen Weimar-Besucher das Erlebnis des realen Denkwelten der weimarischen Herzöge und Weimar, das weitgehend das Weimar Carl Großherzöge bildete somit einen ungewöhnli- Alexanders ist, den zwangsläufigen Ausgangs- chen und spannenden Zugang zum Kernthema punkt für die Erschließung des Goethe’schen der Ausstellung, der Beantwortung der Frage: Weimar bildet. Nach der Hommage auf Carl „Wozu braucht Carl August einen Goethe?“ Alexander in der Eingangszone gelangte Die Dimension der Klassikrezeption Carl Ale- man in die sonst als Depoträume genutzten xanders vermittelte dem Ausstellungsbesucher Zimmer im Nordostflügel des Schlosses, wo, eine fiktive Perspektive aus der Wendezeit beginnend in der „Falkengalerie“, das kom- vom 19. zum 20. Jahrhundert auf die glei- pensatorische Streben des Hauses Weimar che Frage, die im Jahr zuvor die Ausstellung nach „ideeller Deutungsmacht“ seit Kurfürst „Ereignis Weimar“ gestellt hatte. Carl Ale- Johann Friedrich inszeniert worden war. Die xander als deutscher Bundes- und Reichsfürst weiteren Räume beschäftigten sich mit dem des 19. Jahrhunderts musste sich anders als Großherzogspaar Carl Friedrich und Maria sein Großvater Carl August, der sich in seiner

64 dynastischen Stellung als Oberhaupt der ältes- zunehmend verlierenden Deutschland ten Linie des Gesamthauses Sachsen und den überzuleiten. Zweimal wurden Carl Augusts daraus resultierenden Prärogativen seit seiner ehrgeizige Ambitionen, auf der Grundlage Geburt konstituiert fand, gegenüber einer des so generierten öffentlichen Prestiges zunehmend bürgerlich geprägten, kritischen die Nationsbildung der Deutschen auf der Öffentlichkeit legitimieren. Er inszenierte seine staatlich-politischen Ebene voranzutreiben – Individualität als konstitutioneller Fürst, und die Episode des deutschen Fürstenbundes in er tat das, wie man heute feststellen muss, den 1780er-Jahren und der liberal-nationale auf hohem intellektuellem Niveau und auch Reformaufbruch von 1815–19, dessen Hö- ungemein erfolgreich über die Rezeption der hepunkt das studentische Wartburgfest von Klassik, die für ihn als geistiger Hintergrund 1817 bildete –, durch die Wiener Diplomatie ebenso bedeutsam war wie die Jahrhunderte eines Kaunitz und Metternich vereitelt, mit der dynastischen Generationenkette zuvor.41 gravierenden Folgen und Verwerfungen für Aus diesem Traditionsfundus kreierte er – am die nachfolgende deutsche Geschichte. Was nachhaltigsten mit der historistischen Rekon- blieb, war die ungeheure Dynamik des durch struktion der Wartburg – eine unverwechsel- die Weimarer Klassik ausgelösten kulturellen bare und auch heute noch beeindruckende Identitäts- und Wertebildungsprozesses, der Symbolik seiner Herrschaftsepoche, die weltweit ausstrahlte und heute noch anhält. wiederum als sinngebende Instanz für die So konnte Weimar, wie der abschließende kulturelle Identitätsbildung im Prozess der Teil der Ausstellung zu bedenken gab, gleich- nationalstaatlichen Einigung der Deutschen sam auf einer Welle surfen, die es heute noch wirksam wurde und die dynastische Tradition trägt. Eine ironisierende Galerie der deutschen des Hauses Weimar mit dieser verknüpfte. Muster-Kulturbürger, die ihre geistige Identi- tät und Energie aus der Klassik bezogen und Die folgenden Kapitel der Ausstellung, die noch beziehen, schloss die Ausstellung ab. sich mit der Beziehung Carl Augusts und Goe- thes beschäftigen, inszenieren zunächst das Dem Verständnis der Ausstellung als dynami- erste Jahrzehnt Goethes in Weimar, das maß- schem Denkraum und Wissensinszenierung, geblich von dem von Goethe als Connaisseur die nichts Kanonisiertes und Abgeschlossenes beeinflussten gemeinsamen Ausschreiten in- bieten wollte, sondern als geistiges Experi- dividueller Erfahrungs- und Erlebnishorizonte ment gesehen werden sollte, entsprach auch geprägt war, um dann auf Carl Augusts Instru- die Ausstellungsarchitektur. Lachmayers Mar- mentalisierung der Klassik für seine Politik der kenzeichen bildeten wie stets Teppiche und Inszenierung Weimars als kulturellen Mittel- Tapeten. Das Thema der Ausstellung ironisch punkt des seinen staatlichen Zusammenhang kommentierend und die dem überwiegenden Teil der Besucher in ihrer schulischen Sozialisa-

41 Vgl. die Diskussion zwischen Herbert Lachmayer und Hellmut tion eingeprägte Klassik-Adoration brechend, Th. Seemann in: Wozu braucht Carl August einen Goethe? Fürstliche wurden die Räume mit einer von Franz West Sehnsucht nach Individualismus. Eine Ausstellung im Stadtschloss Weimar, 24.8.–2.11.2008, CD, „pèlerinages“, Kunstfest Weimar 2008. entworfenen Tapete ausstaffiert, von der die

65 Köpfe Goethes, Carl Augusts, Anna Amalias einen Goethe?“ nicht den Anspruch erheben, und anderer Protagonisten des klassischen das Ideal einer museumspädagogisch ausge- Weimar auf hellblauem Grund in der Gestalt feilten und inhaltlich ausgereiften Darstellung von Zitronen auf die Besucher blickten. Ein der Klassik, die man von einer ständigen Aus- grellbunter Pop-Art-Teppichfußboden mit ei- stellung der Klassik Stiftung Weimar künftig nem Design von Roy Lichtenstein durchzog die erwarten darf, zu antizipieren. Wohl aber gesamte Ausstellung und verbannte jeglichen ist sie von vielen Besuchern als kreative Anflug von verstaubter Museumsatmosphä- Anregung verstanden und rezipiert worden. re aus den gleichwohl in ihrem historischen Charme auf die Besucher wirkenden Räumen des Schlosses. So entstand eine behagliche Atmosphäre, in der man sich nicht durchge- schleust fühlen musste wie im Goethehaus, wo selbst der Feuchtigkeitsgehalt des Atem- volumens der Besucher eine konservatorische Berechnungsgröße bildet, sondern auch ver- sucht war, sich einfach auf dem Teppichbo- den auszustrecken, den stetigen Druck des modernen Zeitregimes abzuschalten und die ausgestellten Porträts, Plastiken und anderen Objekte auf sich wirken zu lassen. Lachmayer verzichtete auch auf Erklärungstexte und überließ, lediglich durch einige auf der Tape- te applizierte Überschriften und Schlagworte gelenkt, die Interpretation des Dargestellten dem Betrachter. Die narrative Funktion von durch die Ausstellung leitenden Kommentaren übernahmen einige Monitore, in denen mit Kurztexten unterlegte Bildfolgen zu den The- men der einzelnen Räume in Endlosschleifen vorgeführt wurden. Ein besonderes, für die Ausstellung unverzichtbares Medium bildete jedoch die Rhetorik der Führungen, die der Kurator häufig selbst anbot und die als ein höchst individuelles und anregendes pädago- gisches Instrument für Lachmayers Auffassung vom Ausstellungsmachen charakteristisch ist. Zweifellos konnte das Experimentalformat der Ausstellung „Wozu braucht Carl August

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Anna Amalia im Alter von 43 Jahren, Fürstenberger Büste von 1784; Carl August in jungen Jahren, anonym