IVS-SCHRIFTEN

BAND 39

Georg Hauger (Hrsg.)

Autoren:

Alessandra Angelini Josefine Brandstötter Christian Dominko Georg Hauger Doris Hennebichler Ulli Röhsner Christopher Schlembach Tamara Vlk Irene Wladar

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Wien 2016

Die Schriftenreihe des Fachbereichs für Verkehrssystemplanung Herausgegeben von Georg Hauger

Band 39

April 2016

Copyright © TU-MV Media Verlag GmbH All rights reserved. Printed in Austria, www.grafischeszentrum.com

PHOBILITY-Handbuch

Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

FFG Projekt: Gefördert durch das BMVIT, Programmlinie Personenmobilität – Mobilität der Zukunft, 4. Ausschreibung (2014)

Wien, 2016

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Technische Universität Wien, Department für Raumplanung, Fachbereich Verkehrssystemplanung

Bearbeitung: Alessandra Angelini BSc. Ao. Univ.Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Georg Hauger DI Tamara Vlk Subauftragnehmer: Dr. Christopher Schlembach

MAKAM Research GmbH (Projektleitung)

Bearbeitung: Christian Dominko Maga. Doris Hennebichler Maga. Ulli Röhsner

Psychosoziale Zentren Gesellschaft mbH

Bearbeitung: Maga. Josefine Brandstötter Maga. Irene Wladar

Das Projekt wurde unter der Leitung von MAKAM Research GmbH gemeinsam mit dem Fachbereich Verkehrssystemplanung der Technischen Universität Wien und der Psychosoziale Zentren Gesellschaft mbH umgesetzt und im Rahmen des Programms „Mobilität der Zukunft“ durch das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie finanziert. PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 5 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 13 1.1 Ausgangslage und Problemstellung 13 1.2 Aufbau des Berichts 14 2 Raum, Verkehrsmittelwahl und Barrieren: empirische und theoretische Befunde 16 2.1 Raum und Mobilitätstypen 16 2.1.1 Makroskopische Ebene 16 2.1.2 Mikroskopische Ebene 17 2.1.3 Mobilitätstypen 18 2.2 Verkehrsplanung und die Grenzen der Alltagsrationalität 19 2.3 Mobilitätsbarrieren 21 2.3.1 Bewegungs- und wahrnehmungsbedingte Mobilitätsbarrieren 21 2.3.2 Ältere Personen und Mobilitätsbarrieren 22 2.3.3 Kriminalitätsfurcht als Mobilitätsbarriere 23 2.3.4 Soziale Ungleichheit als Mobilitätsbarriere 24 2.3.5 Psychische Beeinträchtigung als Mobilitätsbarriere 24 2.4 Zusammenfassung 27 3 Angststörungen: Klassifikation, Prävalenz, Ursachen 29 3.1 Die F40-Klassifikation der ICD-10 30 3.1.1 Phobische Störungen (F40) 31 3.1.2 Andere Angststörungen (F41) 31 3.1.3 Zwangsstörung (F42) 31 3.1.4 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) 32 3.1.5 Dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] (F44) 32 3.1.6 Somatoforme Störungen (F45) 33 3.1.7 Andere neurotische Störungen (F48) 34 3.2 Epidemiologie 35 3.2.1 Prävalenz von Angststörungen 35 3.2.2 Erstmanifestationsalter 39 3.2.3 Risikofaktoren von Angststörungen 39 3.2.4 Modelle 41 3.3 Stress, Coping und Lebenslauf: die medizinsoziologische Perspektive auf den Ausbruch von Krankheit 44

6 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

3.3.1 Das Konzept Coping und der Life-event Zugang 44 3.3.2 Drei Formen von Coping 45 3.3.3 Coping als soziales Handeln 47 3.4 Zusammenfassung 49 4 Verkehrsangst: (räumliche) Situation und psychische Krankheit: Der theoretische Untersuchungsrahmen 50 4.1 Einleitung 50 4.2 Situationen in der Perspektive der Theorie sozialer Systeme 53 4.2.1 Rolle und Handlungsstruktur 53 4.2.2 Situation als objektiver Interaktionskontext 55 4.3 Zwei Raumkonzepte, zwei Zustände 58 4.3.1 Umwelt und Territorium: Zwei soziologische Raumkonzepte 58 4.3.2 Gelassenheit und Alarmierung: Zwei grundlegende Modi der Aktivität 58 4.3.3 Gelassenheit und Alarmierung in der Umwelt 60 4.3.4 Gelassenheit und Alarmierung mit Bezug auf das Territorium 70 4.4 Zwei soziologische Krankheitsmodelle 73 4.4.1 Das Kompetenzmodell (Rollenmodell) der Krankheit 73 4.4.2 Das Devianzmodell der Krankheit 75 4.5 Situative Unsicherheit: Ängste und Zwänge aus handlungstheoretischer Sicht 76 4.6 Mobilitätsbarrieren und Handlungsstruktur 79 4.6.1 Barrieren im Schema Handelnde(r)-Situation 79 4.6.2 Adaptierung an die Verkehrssituation unter Bedingungen von Angst: Barrierehemmer 81 4.6.3 Barrieren und Veränderung des Mobilitätsmusters 81 4.7 Zusammenfassung 83 5 Forschungsfragen 84 6 Studiendesign: Methodologie und methodisches Vorgehen 85 6.1 Ablauf und Vorgehensweise 85 6.2 Erhebungsmethoden 85 6.2.1 Einzelfallstudien 85 6.2.2 Gruppendiskussionen 91 6.2.3 ExpertInneninterviews und -workshops 92 6.3 Methodologische Reflexionen – Zur Verwendung von mobile methods und qualitativen Verfahren bei der untersuchten Zielgruppe 94

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 7 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

6.4 Methodologische Fragen des multiplen Fallstudiendesigns: Zur Typizität und Repräsentativität von Fallstudien und narrativen Darstellungen 101 7 Ängste als Mobilitätsbarrieren 107 7.1 Einleitung 107 7.2 Zwei Referenztypen 107 7.3 Fünf Phasen des Zusammenhangs von Krankheit und Verkehrsteilnahme 108 8 Typ A: Verlust und Wiedererlangen des normalen Erscheinungsbildes 110 8.1 Referenzfall Amadea 110 8.1.1 Mobilitätsphasen 1 bis 3: Von der anfänglichen Überwindung zu „becoming a captive“ 110 8.1.2 Mobilitätsphasen 4 und 5: Genesung (teils) durch Verkehrsteilnahme und rationale Verkehrsmittelwahl 111 8.1.3 Situative Unsicherheit 112 8.1.4 Sicherheit (zurück-)gewinnen: Stabilisierung des normalen Erscheinungsbildes 115 8.2 Alicia: Angst im Zusammenhang mit einer bipolaren Störung 120 8.2.1 Einschränkung der Mobilität 120 8.2.2 Erweiterung der Mobilität 121 8.2.3 Situative Unsicherheit: 121 8.2.4 Sicherheit zurückgewinnen 125 8.2.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 127 8.3 Anita: Burnout und Angst 127 8.3.1 Einschränkung der Mobilität 128 8.3.2 Erweiterung der Mobilität 128 8.3.3 Situative Unsicherheit 128 8.3.4 Sicherheit zurückgewinnen 129 8.3.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 129 8.4 Daktari: Zwang und Chronifizierung 129 8.4.1 Einschränkung der Mobilität 130 8.4.2 Stabilisierungsphase 130 8.4.3 Situative Unsicherheit: 131 8.4.4 Sicherheit zurückgewinnen 134 8.4.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung 136 8.5 Gini: Bewältigungsorientierung, aber wenig artikuliert 137 8.5.1 Einschränkung der Mobilität 137

8 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.5.2 Erweiterung der Mobilität 138 8.5.3 Situative Unsicherheit 139 8.5.4 Sicherheit zurückgewinnen 141 8.5.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung 142 8.6 Highlander: Unsicherheit und Unfallangst 143 8.6.1 Einschränkung der Mobilität 143 8.6.2 Stabilisierungsphase (Mobilitätsarrangement) 143 8.6.3 Situative Unsicherheit 144 8.6.4 Sicherheit zurückgewinnen 146 8.6.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 146 8.7 Hörnchen: Angst vor Fehlern beim Autofahren und Einengung in öffentlichen Verkehrsmitteln 147 8.7.1 Einschränkung der Mobilität 147 8.7.2 Stabilisierungsphase 147 8.7.3 Situative Unsicherheit 149 8.7.4 Sicherheit zurückgewinnen 151 8.7.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung 152 8.8 Ibiza: Bewältigung von Verkehrsangst und der Zusammenbruch danach 154 8.8.1 Veränderung des Mobilitätsmusters 155 8.8.2 Situative Unsicherheit und Barrieren 156 8.8.3 Sicherheit zurückgewinnen 157 8.9 Linda: Depression und körperliche Leiden 159 8.9.1 Mobilitätsverhalten 159 8.9.2 Situative Unsicherheit und Barrieren 159 8.9.3 Sicherheit zurückgewinnen 161 8.9.4 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 164 8.10 Nameless: Angst vor dem Autofahren 164 8.10.1 Mobilitätsverhalten 164 8.10.2 Einschränkungen der Mobilität 164 8.10.3 Erweiterung der Mobilität 164 8.10.4 Situative Unsicherheit 165 8.10.5 Sicherheit zurückgewinnen 165 8.11 Nora: Depressionen und Angst 165 8.11.1 Einschränkung der Mobilität 166 8.11.2 Erweiterung der Mobilität 166

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 9 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.11.3 Situative Unsicherheit und Barrieren 166 8.11.4 Sicherheit zurückgewinnen 166 8.11.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 167 8.12 Pluto: Schizophrenie und Angst 167 8.12.1 Einschränkung der Mobilität 167 8.12.2 Erweiterung der Mobilität 168 8.12.3 Situative Unsicherheit und Barrieren 168 8.12.4 Sicherheit zurückgewinnen 169 8.12.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 170 8.13 Synoman: Todesgefahr und Kontrollverlust 171 8.13.1 Einschränkung der Mobilität 172 8.13.2 Erweiterung der Mobilität 172 8.13.3 Situative Unsicherheit und Barrieren 173 8.13.4 Sicherheit zurückgewinnen 175 8.13.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 177 9 Typ B: Bedrohung territorialer Grenzen 180 9.1 Referenzfall Libella 180 9.1.1 Mobilitätsphasen 1–3: Entwicklung, Verlauf, Stabilisierung 180 9.1.2 Mobilitätsphasen 4 und 5 180 9.1.3 Situative Unsicherheit 181 9.1.4 Territoriale Sicherheit (zurück-)gewinnen 185 9.2 Elvis: Territorien beim Autofahren 189 9.2.1 Einschränkung der Mobilität 189 9.2.2 Erweiterung der Mobilität 190 9.2.3 Situative Unsicherheit 190 9.2.4 Sicherheit zurückgewinnen 191 9.2.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung 193 9.3 Grisu: Unter Menschen eingesperrt 193 9.3.1 Einschränkung der Mobilität 194 9.3.2 Stabilisierungsphase (Mobilitätsarrangements) 194 9.3.3 Situative Unsicherheit 195 9.3.4 Sicherheit zurückgewinnen 197 9.3.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 200 9.4 Interview#5: Stabilisierung in der Statusrolle einer Person mit Behinderung und das Auto als Panzer 202 9.4.1 Einschränkung der Mobilität 202

10 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

9.4.2 Stabilisierung 203 9.4.3 Situative Unsicherheit und Barrieren 203 9.4.4 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung 205 9.4.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 207 9.5 Susi P: Panik und das Gefühl, eingeklemmt zu sein 208 9.5.1 Einschränkung der Mobilität 208 9.5.2 Erweiterung der Mobilität 209 9.5.3 Situative Unsicherheit und Barrieren 209 9.5.4 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung 210 9.5.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung 210 9.6 SusiB: Angst und Erinnerung 211 9.6.1 Einschränkung der Mobilität 212 9.6.2 Erweiterung der Mobilität 212 9.6.3 Situative Unsicherheit und Barrieren 212 9.6.4 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung 212 9.6.5 Vorschläge zu besseren Situationsbewältigung 213 9.7 Sylvia: Unbewältigtes Trauma und Angst vor Männern 213 9.7.1 Mobilitätsverhalten 213 9.7.2 Situative Unsicherheit und Barrieren 214 9.7.3 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung 214 10 Situation und Falldynamik: Mobilitätsbarrieren und deren Bewältigung im Überblick 215 11 Ergebnisse GPS-Erhebung und Wegbegehung 218 11.1 Einleitung 218 11.2 Gesammelte Erkenntnisse zum Mobilitätsverhalten 220 11.3 Ergebnisse im Detail 222 11.4 Erkenntnisse zu Mobilitätsbarrieren 228 12 Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen 230 12.1 Beschreibung der unangenehmen/angstauslösenden Situationen 230 12.1.1 Psychische Komponente 230 12.1.2 Situation-Sachdimension 235 12.1.3 Situation-Persondimension 236 12.2 Umgang mit unangenehmen/ angstauslösenden Situationen 238 12.2.1 Meideverhalten 238 12.3 Vorschläge und etwaige Bedenken 245 12.3.1 Situation-Sachdimension: Vorschläge und Bedenken 245

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 11 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

12.3.2 Situation-Persondimension: Vorschläge 247 12.3.3 Situation-Symboldimension: Vorschläge und Bedenken 248 13 Die Perspektive der ExpertInnen aus den Bereichen Psychiatrie, Therapie und psychosoziale Dienste 250 13.1 Einleitung und analytischer Rahmen 250 13.2 Einschränkungen durch Ängste und Zwänge 252 13.2.1 Generelle Einschränkungen im Alltagsleben, insbesondere im Straßenverkehr 252 13.2.2 Spezielle Barrieren bei der Verkehrsteilnahme 253 13.2.3 Konsequenzen durch die Einschränkungen 254 13.2.4 Umgangsstrategien 256 13.2.5 Die Rolle von konkreten Barrieren 257 13.3 Bedarfssondierung 262 13.3.1 Unterstützungsmöglichkeiten 262 13.3.2 Unterstützungsbedarf 264 13.3.3 Einschätzung der Wirksamkeit von Maßnahmen 267 13.3.4 Kommentare zu konkreten Vorschlägen aus den Fallstudien hinsichtlich Wirksamkeit und Möglichkeit der Umsetzung 272 13.4 Herausforderungen 275 13.4.1 Früherkennung (auch durch die Betroffenen) und frühe Unterstützung 276 13.4.2 Bereitstellen von Unterstützungsangebot 276 13.4.3 Entstigmatisierung, Problembewusstsein und Rücksichtnahme 277 14 Ergebnisse der ExpertInneninterviews aus dem Bereich Mobilität und Verkehr 278 14.1 Einleitung und analytischer Rahmen 278 14.2 TEIL A: Status Quo, Problemlage, Bewusstsein 279 14.2.1 Mobilitätseingeschränkte VerkehrsteilnehmerInnen 279 14.2.2 Psychisch erkrankte VerkehrsteilnehmerInnen 280 14.2.3 Hinderliche Bereiche und Situationen im Verkehrsraum 280 14.3 TEIL B: Barrieren, Meideverhalten und Planungsrelevanz 281 14.3.1 Bewertung der vorgegebenen Mobilitätsbarrieren 281 14.3.2 Lösungsvorschläge 282 14.4 TEIL C: Barrierehemmer, Maßnahmen und Verkehrssicherheit 283 14.4.1 Maßnahmen betreffen oft mehrere Personengruppen 284 14.4.2 Bewertung der Wirksamkeit und Umsetzbarkeit der Maßnahmen 285 14.5 TEIL D: Abschluss und Ausblick 285

12 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

15 ExpertInnenworkshop 287 15.1 Vorschläge zur Minderung der Barrieren 287 15.1.1 Technische Maßnahmen 287 15.1.2 Bauliche bzw. verkehrsplanerische Maßnahmen 288 15.1.3 Personenbezogene Maßnahmen die Betroffenen adressierend 289 15.1.4 Gesellschaftsbezogene Maßnahmen 290 15.2 Bewertung des Konzepts App + Gadget 290 16 Mobilitätsbarrieren und deren Bewältigung im Überblick 292 17 Handlungsempfehlungen und Forschungsbedarf 296 17.1 Handlungsempfehlungen 296 17.2 Forschungsbedarf 298 18 Verzeichnisse 309 18.1 Tabellenverzeichnis 309 18.2 Quellenverzeichnis 311 18.2.1 Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und amtliche Mitteilungen 311 18.2.2 Wissenschaftliche Literatur 312 19 Anhang 321 19.1 Transkriptionsregeln 321 19.2 Kurzfragebögen und Leitfaden problemzentriertes Interview 322 19.2.1 Kurzfragebogen 1: Angst- bzw. Zwangserkrankung und Mobilität 322 19.2.2 Leitfaden 325 19.2.3 Kurzfragebogen 2: Für die Statistik 327 19.2.4 Postskript 328 19.3 Interviewleitfaden ExpertInnen aus den Bereichen Psychiatrie, Therapie und psychosoziale Dienste 329 19.4 Interviewleitfaden ExpertInnen aus den Bereichen Mobilität und Verkehr 336 19.5 Leitfaden Gruppendiskussionen 344 19.6 Quantitative Auswertung Checkliste VerkehrsexpertInnen 347

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 13 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

1 Einleitung

1.1 Ausgangslage und Problemstellung

In verkehrswissenschaftlicher Perspektive meint Mobilität die Möglichkeit, räum- liche Ziele zu erreichen. Ein offenes Verkehrssystem, das allen gesellschaftlichen Gruppen in gleichberechtigter Weise Zugang zur Mobilität ermöglicht, gehört zu den Grundstrukturen eines modernen, demokratischen Gemeinwesens und ist in ihren letzten Werten verankert. Die Europäische Kommission hat im Aktionsplan urbane Mobilität als Aktion 51 die Verbesserung der Zugänglichkeit zum öffentlichen Verkehr für Personen mit eingeschränkter Mobilität als strategisches Ziel festgeschrieben. Damit erfüllt sie Verbindlichkeiten, die sie im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderung einging. Dieses Übereinkommen gilt seit dem 26. Oktober 2008 auch in Österreich.2 Es begründet Bemühungen um gleichberechtigte Mobilität bis hinunter zur regionalen und überregionalen Verkehrsplanung. So wird beispielsweise im Gesamtverkehrskonzept Ober- österreich 2008 prägnant formuliert:

„Ein maßgebendes Ziel des Gesamtverkehrskonzeptes 2008 ist die Sicherstellung der Mobilität für alle Menschen – Die Zugänglichkeit zum Verkehrssystem soll für alle Nutzergruppen gewährleistet werden.“3

Die Studie PHOBILITY beschäftigt sich zum ersten Mal in Österreich mit den Schwierigkeiten bei der Verkehrsteilnahme von Menschen, die unter einer psychischen Krankheit leiden. Dabei wird insbesondere auf Angst- und Zwangsstörungen fokussiert, die neben affektiven und Substanzstörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen gehören.4 Die Studie nimmt zwei Problemstellungen in Angriff: Erstens hat man es mit ungeklärten Bedarfslagen im Verkehr von mehr als 25% der österreichischen Bevölkerung in Städten zu tun. Und die Tendenz ist steigend: EU-weite demografische Prognosen gehen von einer drastischen

1 KOM (2009, 490, S. 7). 2 BMASK (2008). 3 Amt der Oberösterreichischen Landesregierung (2008, S. 52). 4 Lieb et al. (2003, S. 86-102)

14 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Steigerung dieser Verkehrsproblematiken und der davon betroffenen Personen- anzahl aus.5 Da soziale Inklusion und gleichberechtigte Teilnahme am sozialen Leben zentrale Werte unserer Gesellschaft sind, darf sich auch die Verkehrsplanung der Forderung nach gleichberechtigter Mobilität vor dem Hintergrund dieser demo- grafischen Entwicklungen nicht verschließen. Die Prävalenzraten für psychische Erkrankungen in der österreichischen Bevölkerung sind schwierig zu ermitteln, da die Dunkelziffer der nicht diagnostizierten oder therapierten Erkrankung(en) hoch ist. Studien des Hauptverbands Österreichischer Sozialversicherungsträger zeigen auf, dass generell 10% der Bevölkerung an mindestens einer psychischen Erkrankung leiden.6 Derzeit kann eine steigende Anzahl psychischen Erkrankungen in der EU und auch in der österreichischen Bevölkerung beobachtet werden. Zweitens ist das Thema Verkehr ein interdisziplinäres Arbeitsfeld, in dem die Wissenschaften vom menschlichen Handeln und die naturwissenschaftlich- technischen Wissenschaften ineinandergreifen. Die Bedarfslagen der NutzerInnengruppe sind mit denen von körperlich eingeschränkten Personen nur bedingt vergleichbar. Es müssen neue Wege beschritten werden, um sie angemessen zu erheben, zu beschreiben, zu klassifizieren und schließlich auf sie zu reagieren. Daher braucht es in Österreich eine neue interdisziplinäre Forschung zu psychisch bedingten Mobilitätsbarrieren im Verkehr. Auf der Basis eines adäquaten Verständnisses der Verkehrsmittelwahl und der dabei wirksamen Einschränkungen, denen diese Personengruppe ausgesetzt ist, können wichtige Impulse für eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Verkehrsplanung gesetzt werden.

1.2 Aufbau des Berichts

Der Hauptteil des Berichts gliedert sich in 17 Kapitel. Zunächst wird in Kapitel 2 ein Einblick in die Problemstellungen der Verkehrs- planung gegeben, die sich mit Mobilitätsbarrieren von verschiedenen vulnerablen Gruppen (Kindern, Älteren, Kranken, sozial Depravierten) auseinandersetzt. Kapitel 3 gibt einen Abriss der Angst- und Zwangserkrankungen, ihrer Klassifikation und über Erklärungsansätze. Kapitel 4 entwickelt einen theoretischen Rahmen, der es erlaubt, Mobilitätsbarrieren von Menschen zu konzeptualisieren, die unter einer Angst- oder Zwangserkrankung leiden, bzw. die an einer psychischen Krankheit leiden, in deren Zusammenhang auch Angst

5 Statistik Austria (2013). 6 Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2012).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 15 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen auftritt (Komorbidität). Im zentralen Kapitel 5 des Berichts werden die Forschungsfragen präsentiert, die sich vor dem Hintergrund der bisherigen theoretischen Überlegungen ergeben. In Kapitel 6 werden die methodischen Instrumente beschrieben, mit denen die Forschungsfragen beantwortet werden. Darüber hinaus wird die Methodologie dargestellt, die es erlaubt, auf Basis von Fallstudien generalisierbare Schlüsse zu ziehen. Da das Thema aus verkehrs- wissenschaftlicher Sicht neu ist und in Österreich zum ersten Mal eine Untersuchung stattfindet, die sich dem Thema widmet, wird dieses Kapitel um einige methodologische und methodische Befunde ergänzt, die vor allem für künftige Forschungen relevant sind. In den Kapiteln 7 bis 16 wird das empirisch erhobene Fallmaterial aufbereitet und differenziert dargestellt. In Kapitel 7 wird zunächst dargestellt, wie aus den zwei theoretisch begründeten Raumkonzepten (der Umwelt und des Territoriums) zwei Typen gebildet werden können. Diese Typen des empirischen Zusammenhangs von Angst und Raum werden mit Hilfe von zwei paradigmatischen Fallbeschreibungen (Referenzanalysen) geschildert. In den folgenden Kapiteln 8 und 9 wird das gesamte Fallmaterial im Licht der beiden Referenzanalysen interpretiert. Kapitel 10 fasst diese Analysen unter den Gesichtspunkten von sozialer Situation und individueller Falldynamik zusammen. In Kapitel 11 werden die Ergebnisse der GPS-Aufzeichnungen dargestellt, während im darauffolgenden Kapitel 12 die Ergebnisse der Gruppendiskussionen analysiert werden. Die Kapitel 13, 14 und 15 stellen die Perspektive der Gesundheits- und der VerkehrsexpertInnen dar. Abschließend wird im Kapitel 16 und 17 die empirischen und die methodischen Ergebnisse zusammengefasst und geben dabei eine Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen zur Verbesserung der Situation für die Zielgruppe.

16 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

2 Raum, Verkehrsmittelwahl und Barrieren: empirische und theoretische Befunde

2.1 Raum und Mobilitätstypen

Die Identifikation von Mobilitätsbarrieren in bestimmten Raumtypologien kann (1) auf mikroskopischer Ebene (z.B. Garage, Parkplatz, Bus-Haltestelle) und auf (2) makroskopischer Ebene (z.B. Großstadt, Mittelstadt, Kleinstadt) erfolgen. Im Rahmen der Sondierungsstudie werden die räumlichen Untersuchungseinheiten der ProbandInnen mittels der Raumtypologien lt. Statistik Austria und OECD charakterisiert und deren strukturelle Merkmale (z.B. Erschließung, Angebote) beschrieben.

2.1.1 Makroskopische Ebene Aus makroskopischer Sicht kann die auf österreichischer, statistischer Ebene verfügbare Unterteilung von Stadtregionen herangezogen werden. Es wird dabei zwischen drei Typen von Stadtregionen unterschieden: Großstadtregion, Mittelstadtregion, Kleinstadtregion.7 In Österreich gibt es:  6 Großstadtregionen (> 100.000 EW in der Kernzone): Wien, Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck, Bregenz  9 Mittelstadtregionen (40.000 – 100.000 EW in der Kernzone): Wr. Neustadt, Wels, Leoben, Villach, Steyr, Knittelfeld, St. Pölten, Vöcklabruck, Gmunden  18 Kleinstadtregionen (< 40.000 EW in der Kernzone): Zwölfaxing, Baden, Schwechat, Voitsberg, Krems, Wolfsberg, Bludenz, Amstetten, Lienz, Spittal an der Drau, Wörgl, St. Johann im Pongau, Schwaz, Ternitz, Leibnitz, Ried im Innkreis, Weiz, Braunau am Inn, Kufstein, Eisenstadt Zusätzlich gibt es eine auf Europäischer Ebene einheitliche Klassifizierung von ländlichen Raumstrukturen nach Einwohnerdichte.8 Es handelt sich dabei um die NUTS („Nomenclature des unités territoriales statistiques“) Klassifizierung, welche der Europäischen Union ermöglicht, Raumeinheiten auf europäischer Ebene vergleichen zu können. Eine Gemeinde wird dann als ländlich eingestuft, wenn weniger als 150 EinwohnerInnen pro km2 (Gesamtfläche) leben.9 In einem

7 Statistik Austria (2013). 8 OECD (2010, S. 2f). 9 Ebd.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 17 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen weiteren Schritt erfolgt die Bewertung von Raumstrukturen als: überwiegend ländlich, intermediär oder überwiegend städtisch.10 Die Einordnung jeder Gemeinde in entweder ländliche, intermediäre oder überwiegend städtische Regionen basiert auf dem Bevölkerungsanteil der ländlichen Gemeinden (z.B. Oberpullendorf) gemessen an der Gesamtbevölkerungsanzahl in einer NUTS 3 Region (z.B. Mittelburgenland). Beispielsweise wird eine NUTS 3-Region dann als „überwiegend ländlich“ bezeichnet, wenn mehr als 50 % der EinwohnerInnen einer Region in „ländlichen“ Gemeinden leben. In Hinblick auf die Auswertung der qualitativen Untersuchungsergebnisse kann eine Zuteilung zu gängig verwendeten Raumtypologien vorgenommen werden. Es wird daher empfohlen bei weiteren (quantitativen) Forschungsvorhaben auf die hier aufbereiteten Raumtypen Rücksicht zu nehmen.

2.1.2 Mikroskopische Ebene In weiterer Folge können Mobilitätsbarrieren auf mikroskopischer Ebene je nach Fortbewegungsart (Verkehrsmittel, zu Fuß) exemplarisch einer bestimmten öffentlichen, mobilen oder immobilen Raumeinheit (z.B. Garage, Fußgänger- zone) zugeordnet werden. Je nach Modus (MIV11, ÖV12, NMIV13) können unterschiedliche räumlich verortete Mobilitätsbarrieren (z.B. FußgängerIn im Park, PKW-FahrerIn im höherrangigen Straßennetz) dazu beitragen, dass entweder Wege bzw. Routen oder gar Verkehrsmittel gemieden werden. Mobilitätsbarrieren können folgenden räumlichen Einheiten zugeordnet werden:  Öffentliche Plätze  Parkanlagen  Fußgänger- bzw. Begegnungszonen  viel oder wenig frequentierte Straßenräume  ober- oder unterirdische U- und S-Bahn-Haltestellen  ober- oder unterirdische Straßenbahnhaltestellen  Bushaltestellen  Bahnhöfe  Busbahnhöfe  Park- & Ride- bzw. Park & Drive-Anlagen  Öffentliche Parkplätze oder -garagen  Öffentliche Fahrradabstellplätze oder -garagen

10 OECD (2010, S. 2f). 11 Motorisierter Individualverkehr 12 Öffentlicher Verkehr 13 Nicht motorisierter Individualverkehr

18 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 Fahrradstraßen  Unterführungen

2.1.3 Mobilitätstypen Im Rahmen des Projektes PHOBILITY werden auf Basis der identifizierten Mobilitätsbarrieren Mobilitätstypen gebildet/definiert, um Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen hinsichtlich ihres Mobilitätsverhaltens charak- terisieren zu können. Ausgehend von dem Konzept der choice riders und captive riders14 werden spezielle, für die Zielgruppe relevante, Merkmale (Verkehrs- mittelwahl, Zeithorizont, Routenwahl) hinsichtlich des „wahlfreien“ oder „nicht wahlfreien“ Mobilitätsverhaltens untersucht. Es erfolgt dafür eine Differenzierung zwischen Mobilitätstyp 1 und Mobilitätstyp 2.

2.1.3.1 Angebotsorientierte Mobilitätstypen (Typ 1) – choice vs. captive Mobilitätstyp 1 bezieht sich in erster Linie auf das Mobilitätsangebot, welches in einem Untersuchungsraum in bestimmter Qualität (z.B. Intervalle, Ausstattungs- merkmale) zur Verfügung steht. VerkehrsteilnehmerInnen sind aufgrund des Angebotes entweder wahlfrei (also choice) oder nicht wahlfrei (also captive).

2.1.3.2 Handlungsorientierte Mobilitätstypen (Typ 2) – choice vs. captive Mobilitätstyp 2, also jener Mobilitätstyp, der in der PHOBILITY-Studie im Vordergrund steht, bezieht sich auf die Verkehrsmittelwahl als Handlung der VerkehrsteilnehmerInnen. Beispielsweise kann eine Person aufgrund einer Angststörung die Fähigkeit verlieren, zusammen mit fremden Menschen in geschlossenen Räumen zu sein – eine Standardsituation in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie ist dann bezogen auf diese Situation nicht wahlfrei und muss, wenn ihr das möglich ist, auf den PKW ausweichen. Mit der Unterscheidung dieser beiden Mobilitätstypen soll verhindert werden, dass beispielsweise Mobilitätsbarrieren, die ursprünglich und ausschließlich aus dem unzureichenden Angebot und nicht aufgrund einer Angst-, Zwangs- erkrankung oder Phobie ausgelöst werden, als solche deklariert werden. Diese werden aufgrund dessen in der vorliegenden Studie nicht näher untersucht. Wahlfreiheit im Mobilitätsverhalten von Personen mit F4-Diagnose kann hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel, der zeitlichen Komponente (z.B. Abfahrtszeit, Zeitfenster) sowie der räumlichen Routenwahl variieren. Vermeidungsverhalten kann in weiterer Folge aus dem Umstand resultieren, dass zumindest bei einem nicht wahlfreien (captive) Merkmal im

14 Cerwenka et al. (2007, S. 168).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 19 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Mobilitätsverhalten oder aufgrund des Angebotes eine damit einhergehende Unzufriedenheit besteht und eine Strategie (z.B. Vermeiden, Umweg) in Kauf genommen wird. Im theoretischen Teil wird gezeigt, dass die Unterscheidung von captive und choice drivers/riders in einer dynamischen Perspektive verwendet werden kann, um den Übergang von einem gesunden zu einem kranken Zustand zu beschreiben. Krankheit heißt, dass Personen Rollenanforderungen nicht genügen können. Wenn die Rolle als Fahrgast in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht adäquat eingenommen werden kann, weil notwendige Fähigkeiten verloren gegangen sind, kann sich die Wahlmöglichkeit hin zu einer Zwangslage verändern.

2.2 Verkehrsplanung und die Grenzen der Alltagsrationalität

Als ökonomisches Problem wird Verkehrsnachfrage durch objektiv mehr oder weniger gut messbare Restriktionen (constraints) festgelegt. Wie bei jeder Handlung lassen sich Elemente ausmachen, die den Handelnden und seine subjektive Einschätzung betreffen und Elemente, die objektive Gegebenheiten der Situation darstellen. Zu den (oft schwer fassbaren) subjektiv empfundenen Restriktionen gehören Informations- und Wahrnehmungsmangel. Einstellungen und Meinungen (Vorurteile, Prestige, Image) sowie Gewohnheiten lassen sich durch die Methoden der modernen Surveyforschung gut darstellen. Auch körperliche Restriktionen und der gesundheitliche Allgemeinzustand einer Person sind gut messbare Restriktionen, die die Verkehrsnachfrage bestimmen.15 Hinzu kommen quantifizierbare Größen wie Zeitbudget (verfügbare Zeit für Ortsveränderungen), Finanzbudget (verfügbare Finanzen für Ortsveränderungen) sowie verfügbare Verkehrsangebote.16 Gerade im Fall von Personen, die durch physische oder psychische Faktoren in ihrer Mobilität (möglicherweise) eingeschränkt sind, darf nicht alleine das objektiv verfügbare Verkehrsangebot als Möglichkeit für die Verkehrsmittelwahl in Betracht gezogen werden. Wie man bereits aus Untersuchungen zum Mobilitätsverhalten von älteren, geh-, seh-, hör- oder kognitiv eingeschränkten Personen weiß, können unterschiedlichste Faktoren (bauliche, soziale, psychische etc.) die Verkehrsmittel- und Routenwahl (individuell von unterschiedlichster Schwere) beeinflussen. Wenn diese Faktoren nicht berücksichtigt werden, kann der Bedarf nicht adäquat eingeschätzt werden.

15 Cerwenka et al. (2007, S. 163f). 16 Cerwenka et al. (2007, S.163).

20 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Bei Personen mit psychischen Beeinträchtigungen kommt hinzu, dass die Maßstäbe und Werthaltungen, die die Alltagsrationalität (reasonableness) bestimmen, nicht in vollem Umfang vorausgesetzt werden können. In dem Maß sich Personen infolge von Krankheit von geteilten Wertvorstellungen und normativen Ansprüchen zurückziehen, lassen sich die Maßstäbe der Alltagsrationalität nicht mehr anlegen, wie sie aus Sicht der Handelnden gelten; diese Rückzugstendenz wird im Rahmen dieses Berichts als eine von zwei Konzeptionen von Krankheit dargestellt. Kulturelle Normen, die die Verkehrsmittelwahl begründen und legitimieren (Statusdarstellung, Sparsamkeit, vertretbarer zeitlicher Aufwand für Transportaufgaben, Rücksicht auf Umweltbe- lastung durch Schadstoffe, usw.) werden mehr oder weniger aufgegeben. Es sind aber nicht nur Rückzugstendenzen, die die Verkehrsmittelwahl verändern. Hinzu kommt noch, dass bestimmte Krankheiten den Zugang zu sozialen Rollen im Alltag erschweren. Fahrgast ist eine solche soziale Rolle, die sich auf den Handlungskontext einer Situation bezieht und für die Fahr- gastsituation, z.B. in einem öffentlichen Verkehrsmittel, Geltung beansprucht. Wenn Personen aufgrund einer Angststörung geschlossene Kabinen nicht betreten können, dann stellt die Situation eines geschlossenen Zugabteils eine Barriere dar. Ergänzend zur Verkehrsmittel- und Routenwahl sind es daher Mobilitätsbarrieren sowie damit zusammenhängende Umgangsweisen (z.B. Meidung oder Versuche, Barrieren zu überwinden), die ins Zentrum unserer Untersuchung gestellt werden müssen.

Mobilitätseingeschränkte Personen bzw. die Berücksichtigung „besonderer“ Mobilitätsbedürfnisse für (verkehrs-)raumbezogene Planungen erfolgt im österreichischen Raum im Rahmen der Richtlinien (RVS) 02.02.3617 und 02.03.1218 der Forschungsgesellschaft Straße – Schiene – Verkehr (FSV) sowie dem Gesamtverkehrsplan für Österreich.19

Die Berücksichtigung von Mobilitätseinschränkungen aufgrund psychischer Erkrankungen ist aus der Normungsperspektive ein Desiderat. In keinem der Dokumente werden Personen mit psychischen Beeinträchtigungen erwähnt. Es erscheint daher empfehlenswert, Ergebnisse der PHOBILITY-Studie auch in diesen fachspezifischen Kreisen (u.a. Arbeitsgruppen bzw. Arbeitskreise der FSV) zu teilen. Basierend auf den Ergebnissen von PHOBILITY wurde ein RVS-

17 Forschungsgesellschaft Straße – Schiene – Verkehr (2010). 18 Forschungsgesellschaft Straße – Schiene – Verkehr (2001). 19 BMVIT (2012).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 21 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Merkblatt für die Arbeitsgruppe „Grundlagen des Verkehrswesens“ der FSV erstellt.

2.3 Mobilitätsbarrieren

Bisherige Studien zur Verkehrsteilnahme vulnerabler Personengruppen sowie den damit zusammenhängenden Mobilitätsbarrieren und Zugangsmöglichkeiten (accessibility) beschäftigen sich im Wesentlichen mit (1) bewegungs- eingeschränkten Personen (z.B. Geh-, Seh- und Hörbehinderte), (2) wahr- nehmungseingeschränkten Personen (z.B. Blinde, Sehbehinderte, Gehörlose), (3) älteren Personen (65 plus), (4) generellen Angsträumen im öffentlichen Raum und nur (5) in seltenen Fällen mit Personen mit kognitiven und psychischen (Demenz, Angststörungen, Phobien) Beeinträchtigungen. In Österreich gibt es derzeit keine Studien zur Verkehrsteilnahme von Personen mit Phobien, Angst- oder Zwangserkrankungen.

Im Folgenden soll ein Einblick in aktuelle Forschungsthemen zu Mobilitäts- barrieren verschiedener vulnerabler Zielgruppen gegeben werden. Im Rahmen dieses Projekts kann der Stand der Forschung zu dieser umfassenden Problemstellung nicht dargestellt werden. Die vorliegende Darstellung hat eher die Aufgabe, die Frage nach Mobilitätsbarrieren im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten in einem breiteren Kontext einzubetten.

2.3.1 Bewegungs- und wahrnehmungsbedingte Mobilitätsbarrieren

Die Mobilität von Personen mit Bewegungs- und Wahrnehmungseinschrän- kungen ist gut erforscht. Praktische Maßnahmen für die Reduktion physischer Barrieren wie boarding assistance systems wurden entwickelt20 und das Thema hat auch Eingang in die Konzeption von Verkehrsmodellen gefunden. Die Berücksichtigung dieser Personengruppen in Verkehrsmodellen wurde ebenso erforscht.21 Studienergebnisse zeigen, dass vor allem gemischte Nutzungen (z.B. Fußgängerzonen, Begegnungszonen) bei Personen mit körperlichen Beein- trächtigungen Problembereiche darstellen und diese mittels Umweg- oder Vermeidungsstrategien vermieden werden.22 Hinzu kommen bauliche bzw. infrastrukturelle Gegebenheiten, wie beispielsweise Kopfsteinpflaster, Stiegen, geringe Gehsteigbreiten oder mangelhafte Gehsteigabsenkungen, Orien- tierungsprobleme und mangelhafte Ausstattungsmerkmale (z.B. fehlender

20 Birkenmeyer et al. (2012). 21 nast consulting und TU Wien (2012) 22 nast consulting und TU Wien (2012, S.117).

22 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Aufzug) rund um die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel23. Weitere bekannte Problembereiche umfassen die fehlende Einhaltung des Lichtraumprofils, Baustellen und andere temporär installierte Elemente, Materialien (z.B. Glas), die (farbliche) Ausgestaltung von Haltestellen oder anderen Wartebereichen sowie fehlende taktile Bodenleitsysteme und die Fahrkartenbeschaffung.24

2.3.2 Ältere Personen und Mobilitätsbarrieren

Im Fokus der Mobilitätsforschung stehen des Weiteren das Mobilitätsverhalten und dahingehende Problembereiche von älteren Personen bzw. SeniorInnen. Das Handbook of Traffic widmet den älteren Mobilitäts- teilnehmerInnen im Abschnitt Vulnerable and Problem Road Users ein eigenes Kapitel,25 wobei ältere VerkehrsteilnehmerInnen auf die Rolle als Fahrzeug- lenkerInnen beschränkt werden. Allerdings ist das Auto für alte Menschen in den hoch entwickelten Gesellschaften nach wie vor das wichtigste Transportmittel.26 Mobilität wird im Alter auf mehreren Ebenen eingeschränkt. Dabei spielen insbesondere altersbedingte Beeinträchtigungen des Sehvermögens (visual impairment), neurologisch-kognitiver Leistungen (neurological impairment), sowie verschiedener Vitalfunktionen (Herzkreislaufsystem, Atmung, endokrines und Muskelsystem) eine Rolle. Einen besonderen Stellenwert nehmen Medikamente ein.27 Darüber hinaus verändern sich mit dem Alter die Anzahl, Dauer und Distanz der zurückgelegten Wege sowie die Wegzwecke.28

Neben dem Fahrzeug wurde wiederholt die große Rolle herausgearbeitet, die der Straßengestaltung zukommt: schlechte Beschilderung, verwirrende Raum- strukturen, Unebenheiten und Überlastung mit Sinneseindrücken stellen für ältere Menschen Barrieren dar.29

Besondere Vorsicht ist aus Sicht der Verkehrsteilnahme zum Beispiel bei der Überquerung von Schutzwegen geboten, was sich unter anderem aus verlangsamten Reaktionszeiten bei älteren Menschen ergibt30 und weil das Verkehrsgeschehen nicht immer hinreichend adäquat verarbeitet werden kann.31 Bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sind es ein hoher Einstieg, schwer

23 nast consulting und TU Wien (2012, S.117). 24 nast consulting und TU Wien (2012, S.16ff). 25 Freund und Smith (2011, S. 339–351). 26 Musselwhite et al. (2015, S.1-4). 27 Schulze et al. (2006), Freund und Smith (2011, S. 339–351). 28 BMVIT (2013, S. 11f). 29 Lavery et al. (1996, S. 181–192), Phillips et al. (2013, S. 113–124). 30 Moser (2012, S. 25). 31 Mollenkopf und Flaschenträger (2001, S. 11f).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 23 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen lesbare Displays oder unübersichtliche Anzeigetafeln, die SeniorInnen an einer regelmäßigen Nutzung von Verkehrsmitteln hindern und damit ihre Mobilität einschränken.32

2.3.3 Kriminalitätsfurcht als Mobilitätsbarriere

Im Bereich der Sicherheits- und Kriminalitätsforschung im öffentlichen Raum hat sich eine raumbezogene Kriminologie entwickelt. Diesem Ansatz liegt der Gedanke zugrunde, dass vor allem räumliche und zeitliche Determinanten sowie gewisse Personen(gruppen) Angsträume im öffentlichen (Straßen-)Raum generieren.33 In diesem Rahmen sind in den letzten Jahrzehnten nicht nur zahlreiche Studien und Projektvorhaben durchgeführt worden.34 Es haben sich darüber hinaus um Begriffe wie Designing Out Crime oder Crime Prevention through Environmental Design Präventionsansätze entwickelt, die Raumstrukturen und raumzeitliches Nutzungsverhalten ins Zentrum stellen.35 Abgeschlossene Raumtypen, wie beispielsweise Unterführungen, Tiefgaragen oder unterirdische U- und/oder S-Bahnstationen können als potenzielle Angsträume vermehrt bei Frauen als Männern Angstempfinden erzeugen.36 Darüber hinaus erzeugt die Anwesenheit bestimmter Personengruppen wie Jugendlicher, Obdachloser, MigrantInnen oder unter Drogen- bzw. Alkohol- einfluss stehender Personen zusätzliches Angstempfinden.37 Maßnahmen zur Reduzierung solcher Angsträume umfassen sowohl räumliche (z.B. Licht, Vermeidung von Nischen, Leitsysteme) als auch personelle (z.B. vermehrte Präsenz von Personal) und technologische (z.B. Überwachungskameras, Notfalltelefon) Ausstattungsmerkmale.38

Zur Vermeidung bzw. Bewältigung von Angsträumen im öffentlichen Straßenraum werden von PassantInnen beispielsweise Mobiltelefone herangezogen, da deren Gebrauch das subjektive Sicherheitsgefühl situativ erhöht.39 Das Mitführen eines Hundes oder eines Gegenstandes zur Verteidigung fällt in die Kategorie der Abwehr-Maßnahme gegen potenzielle TäterInnen.40

32 Mollenkopf und Flaschenträger (2001, S. 11f). 33 Einen guten Überblick über die wichtigsten Ansätze in diesem Bereich bieten Wortley und Mazerolle (2008). 34 u.a. Angelini et al. (2015), Schwind (2010), Steinebach und Uhlig (2012), Whitley und Prince (2005). 35 Saville und Cleveland (2013). 36 Angelini et al. (2015, S. 112ff). 37 Angelini et al. (2015, S. 118). 38 Angelini et al. (2015, S. 60). 39 Angelini et al. (2015, S. 161). 40 Angelini et al. (2015, S. 86f).

24 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

VerkehrsteilnehmerInnen wählen oftmals auch andere Routen oder Begleit- personen um bestimmte subjektive Angsträume zu meiden bzw. zu meistern.

Die Entstehung des Angstempfindens kann neben externen Einflussfaktoren auch auf das biologische Geschlecht, die Erziehung und negative Erfahrungen (z.B. Opfererfahrung) zurückgeführt werden.

In Anlehnung an die Forschung zu Angsträumen im öffentlichen Straßenraum werden genannte Aspekte, wie räumliche, zeitliche, verkehrsmittelbezogene Determinanten und Bewältigungs- bzw. Vermeidungsstrategien in den PHOBILITY-Erhebungen berücksichtigt.

2.3.4 Soziale Ungleichheit als Mobilitätsbarriere Auch die Ungleichheitsforschung hat Ansätze des Forschungsgegenstandes bereits erkannt und ihm durch das Aufzeigen von Zusammenhängen zwischen gesundheitlicher Ungleichheit und ungleicher Verkehrsteilnahme Aufmerk- samkeit geschenkt.41 Die Themen der sozialen Ungleichheit und des sozialen Ausschlusses (social exclusion) sind eng verbunden mit dem Zugang zu Mobilitätschancen. Sie sind seit langem Gegenstand theoretischer und empirischer Arbeiten.42 Die Zusammenhänge der Mobilität mit Arbeitsmöglichkeiten, aber auch die gesund- heitlichen Folgen, wurden von der Forschung dokumentiert und wie folgt dargelegt.

2.3.5 Psychische Beeinträchtigung als Mobilitätsbarriere

Psychische Beeinträchtigungen im Allgemeinen sind ein wichtiges Thema der Mobilitätsforschung, insbesondere in der Verkehrspsychologie, die dieses Thema vor allem im Kontext der Fahreignung und des Fahrverhaltens (möglicherweise erhöhtes oder verringertes Unfallrisiko) untersucht.43

Im Bereich der psychischen Beeinträchtigung werden vor allem Depression,44 Demenz und in gewissem Maß bzw. eher auf therapeutischer Ebene Angst- störungen45 im Zusammenhang mit Mobilität erforscht. Erkennbar ist auch, dass die unterschiedlichen Studien zum Thema psychische Erkrankung entweder die

41 u.a. Turrell et al. (2013), Gorman et al. (2003), Power (2012). 42 Preston und Rajé (2007). 43 Für einen Überblick vergleiche Taylor (2011). 44 Vallée et al. (2011). 45 Hendriks et al. (2014).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 25 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Mobilität eingeschränkter Personen mit dem (motorisierten) Individualverkehr46 oder dem öffentlichen Verkehr behandeln.47 Es konnten keine Untersuchungen gefunden werden, die sich im Allgemeinen mit dem Mobilitätsverhalten und den Problembereichen von Personen mit F4-Diagnosen im öffentlichen (Straßen-) Raum auseinandersetzen.

In den 1980er-Jahren wurde das Mobilitäts-Inventar („Mobility Inventory“, „MI“) entwickelt,48 welches zur Messung von Agoraphobie (Angststörung, ausgelöst durch bestimmte Orte, Situationen oder Menschenansammlungen) eingesetzt wird. Im Fragebogen bewerten PatientInnen ihr subjektiv empfundenes Vermeidungsverhalten für Wege und Orte; sie differenzieren dabei, ob sie sich dort alleine oder in Begleitung aufhalten. Der Fragebogen soll für Therapie- und Forschungszwecke dienen. PatientInnen bewerten dabei (öffentliche) Plätze, Verkehrsmittel (Busse, Züge, U-Bahnen, Flugzeuge, Boote, PKW) sowie Situationen (u.a. Fußwege, Überqueren von Brücken) auf einer 5-stufigen Ordinalskala. Rodriguez et al. (2007) untersuchten das Bewertungsschema des Mobilität-Inventars anhand von Longitudinaldaten auf dessen psychometrische Charakteristika.49 Die Studienverfasser kamen zu dem Ergebnis, dass die im Bewertungsschema enthaltene Struktur zur Einteilung von räumlichen Einheiten (public spaces, open spaces and enclosed spaces) geeignet sei, um Vermei- dungsverhalten besagter Zielgruppe (alleine oder in Begleitung) zu analysieren.

Auch im deutschsprachigen Raum wurde ein Instrumentarium zur Diagnose und Messung von körperbezogenen Ängsten, Kognitionen und Vermeidung (AKV) entwickelt, welches unter anderem die Messinstrumentarien des Mobility Inventory von Chambless et al. (1985) umfasst.50

Bereits etabliert ist auch ein Forschungsschwerpunkt, der die beiden Themen Invalidität und Angststörung vereint. Studienergebnisse zeigen, dass Angst- störungen mit Schwerbehinderungen in Zusammenhang stehen.51 Hendriks et al. (2014) überprüften, ob und inwiefern unterschiedliche Formen der Angststörung bestimmte Lebensbereiche (u.a. Mobilität) negativ beeinträchtigen.52 Die in die Studie einbezogenen invaliden Personen empfanden am häufigsten multiple

46 Laux (2002). 47 Risser et al. (2015), Handley et al. (2009), Rosenkvist et al. (2009). 48 Chambless et al. (1985). 49 Rodriguez et al. (2007). 50 Ehlers und Margraf (1993). 51 Alonso et al. (2004), Bijl and Ravelli (2000), Stein et al. (2005), Olfson et al. (1997), Mendlowicz in Hendriks et al. (2014). 52 Hendriks et al. (2014).

26 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Angststörungen sowie soziale Angststörungen.53 Im Bereich der Mobilität ist die multiple Angststörung in Hinblick auf die Invalidität einer Person am ehesten für negative Beeinträchtigungen verantwortlich.54

Studien aus den USA belegen beispielsweise den Zusammenhang zwischen Depression und PKW-Nutzung. Es konnte gezeigt werden, dass sich Depressionen bei Menschen mit einer Erkrankung drastisch verschlechtern, wenn sie nicht mehr am Verkehr teilnehmen.55 Insofern gilt es in der PHOBILITY- Studie auch zu berücksichtigen, dass Handlungsempfehlungen durch die Unterstützung von Gesundheitseinrichtungen bzw. GesundheitsexpertInnen formuliert werden.

Neben Angststörungen können auch Phobien im Bereich der alltäglichen Mobilität aufgrund unterschiedlicher Determinanten, mit ausgelöst durch unerwartete, einschneidende Ereignisse (z.B. Unfälle, terroristische Anschläge), auftreten. Bekannt ist, dass nach den Bombenanschlägen im Londoner U-Bahn- Netz im Jahr 2009 Fahrgäste posttraumatische Störungen davongetragen haben. Im Rahmen einer Studie wurden überlebende Fahrgäste im Rahmen eins psychologischen Nachbetreuungsprogrammes therapeutisch betreut und zu ihren Angstzuständen befragt. Handley et al. (2009) fanden heraus, dass etwa die Hälfte der befragten Überlebenden nach den Londoner Anschlägen bei der Benützung des öffentlichen Verkehrs durch Angstzustände bzw. Phobien beeinträchtigt waren und bei dem geringeren Anteil von 8 % eine Diagnose zur Phobie und eine psychologische Behandlung für notwendig befunden wurde.56

Weitere Studien beschäftigen sich mit dem Einsatz technologischer Hilfsmittel, wie z.B. PDA oder Smartphone gestützten Applikationen, um die außerhäusliche Mobilität von Personen mit kognitiven bzw. mentalen Beeinträchtigungen sowie deren Pflegepersonal und Angehörigen zu erforschen.57 Jene Untersuchungen zeigen, dass Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen mit digitalen Wege- aufzeichnungsprogrammen zurechtkommen und dies eine Unterstützung für alltägliche Wege bietet.58

In der bisher österreichweit einzigen Studie EKOM „Emotionale und kognitive Mobilitätsbarrieren“ zur Erörterung sozialer und kognitiver Barrieren im Verkehr,

53 Hendriks et al. (2014, S. 229). 54 Ebd. 55 Fonda et al. (2001, S. 343). 56 Handley et al. (2009, S. 1173). 57 Liu et al. (2009), Pripfl et al. (2010), Fickas et al. (2008), Carmien et al. (2005). 58 Ebd.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 27 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen heißt es, dass auch psycho-soziale Faktoren, wie z.B. das Gefühl von Privatheit und Stressfreiheit zur Verkehrsmittelwahl beitragen.59

Gesunde, handlungsfähige Erwachsene treffen eine bewusste Entscheidung für ein Verkehrsmittel bzw. sind mit der Nutzung vertraut (Gewohnheit) und handeln (zumeist) rational. Personen mit Erkrankungen hingegen neigen dazu, eher so zu handeln (z.B. Fahren unter Medikamenteneinfluss, Inkaufnahme von Umwegen), sodass Barrieren vermieden werden und reagieren weniger flexibel auf (plötzlich eintretende) Veränderungen im Straßenverkehrsalltag. Dies verweist bereits vor der Felduntersuchung auf den Einsatz von Vermeidungs- oder Bewältigungsstrategien von Personen mit F4-Diagnosen, welche es im Rahmen von PHOBILITY zu überprüfen gilt.

Die subjektive Wahrnehmung von Raum und die Visualisierung von Emotionen und Assoziationen zu Orten und Gegenden wurde im Projekt „EmoMap – Berücksichtigung emotionaler Raumwahrnehmung in Navigationssystemen für FußgängerInnen“ erforscht.60 Im Zusammenhang mit PHOBILITY soll neben Barrieren und Mobilitätstypen im Rahmen der Wegbegehung herausgefunden werden, welche subjektiven Eindrücke von ProbandInnen mit Phobien, Angst- und Zwangserkrankungen wahrgenommen werden. Bislang liegen hierzu keine Ergebnisse vor.

2.4 Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurden zunächst die Grundlagen der Typisierung von Mobilitätsentscheidungen dargestellt und argumentiert, dass handlungs- orientierte Typen der Verkehrsmittelwahl im Vordergrund stehen. Diese Typen können auf zwei analytischen raumbezogenen Niveaus, der Mikro- und der Makroebene, betrachtet werden. Da das Verkehrssystem als Teil des ökonomischen Systems betrachtet werden kann, liegt es nahe, von der ökonomischen Rationalität als Entscheidungsmodell bei der Wahl von Verkehrsmitteln auszugehen. Krankheit oder allgemein deviante Handlungsorientierungen stellen aber einen Rückzug von Rollenanforderungen dar und das bedeutet, dass mit ökonomischer Alltags- rationalität nicht gerechnet werden kann. Der Rückzug aus Rollenanforderungen im Straßenverkehr macht zugleich die Mechanismen sichtbar, die aus einem choice rider/driver einen captive rider/driver machen. Wenn man die Perspektive umdreht und anstelle des Rückzugs aus der Situationsrolle VerkehrsteilnehmerIn

59 Pripfl et al. (2010, S.48–49). 60 Gartner et al. (2013)

28 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen die Hindernisse der Verkehrsteilnahme betrachtet, ergibt sich daraus das Konzept der Teilnahmebarrieren. Diese Barrieren wurden in einem ersten Schritt allgemein diskutiert. Sie können auf den Organismus und das Alter bezogen sein (bewegungs- und wahrnehmungsbedingte Mobilitätsbarrieren, insbesondere bei älteren Personen), sie können Unsicherheit im öffentlichen Raum, etwa in Form der Bedrohung durch Kriminalität, meinen (Angstorte) oder sie können sich auch auf soziale Ungleichheit (strukturelle Barrieren) beziehen. Zuletzt wurde das Konzept der psychischen Barrieren vorgestellt. Es stellt sich heraus, dass VerkehrsteilnehmerInnen unter den Bedingungen psychischer Krankheit weniger flexibel auf situative Anforderungen bei der Verkehrsmittelwahl reagieren können. Die Rückzugstendenzen (Krankheit) machen sich darüber hinaus in Form von Meideverhalten bemerkbar. Damit wird die Verkehrssituation selbst zu einer Barriere. In Kapitel 4 sollen daher die Eigenschaften der Situation herausgearbeitet werden, die als Barriere in der Situation wirken.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 29 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

3 Angststörungen: Klassifikation, Prävalenz, Ursachen

Angst ist, genauso wie Freude, Liebe, Ärger, Wut oder Traurigkeit, ein normales menschliches Gefühl und nicht grundsätzlich als negativ zu betrachten. Sie ist ein wichtiges biologisch gesteuertes Warnsignal und bewirkt eine Alarmreaktion: der Körper wird auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Dies geschieht ohne langes Nachdenken: das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atmung wird beschleunigt und die Muskeln werden angespannt.61 Angst kann aber durchaus auch negative Folgen haben, v.a., wenn sie objektiv unbegründet ist.

„Angst wird krankhaft, wenn sie ohne reale Bedrohung zu stark, zu lange und zu häufig auftritt, mit belastenden körperlichen Symptomen einhergeht, aufgrund der Vermeidung wichtiger Aktivitäten die schulische, berufliche, soziale und private Funktionsfähigkeit beeinträchtigt und die zunehmende Lebens- einschränkung ohne fremde Hilfe nicht mehr bewältigt werden kann.“62

Folgende Kriterien ermöglichen eine Unterscheidung von pathologischer Angst und dem normalen und lebensnotwendigen Gefühl der Angst63:  die Angstreaktionen sind der Situation nicht angemessen  die Angstreaktionen sind chronisch (bzw. länger andauernd)  der/die Betroffene kann die Angst nicht erklären bzw. besitzt keine Möglichkeit zur Reduktion und Bewältigung der Ängste  die Angstzustände führen zu einer massiven Beeinträchtigung des/der Betroffenen

Alle Angststörungen gehen mit körperlichen Symptomen einher, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Häufige Beschwerden sind z.B. Schwindelgefühl, Kopfdruck, Mundtrockenheit, Herzrasen, Tunnelblick, Übelkeit, Schweißaus- brüche, weiche Knie oder auch Konzentrationsstörungen bzw. die Angst verrückt zu werden bzw. zu sterben.64

61 Morschitzky (2008a, o.S.) 62 Morschitzky (2008a, o.S.) 63 Prösch (2016, S. 6) 64 Ebd.

30 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Der Experimentalpsychologe Siegbert A. Warwitz hat für die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Angst ein „Angst-Spektrum“ aufgestellt: dieses reicht von „Unsicherheiten“ (z.B. Scheu, Zaghaftigkeit, Beklommenheit) über „Zwänge“ (z.B. Reinigungszwang, Kontrollzwang, Esszwang), „Furchtformen“ (z.B. Berührungsfurcht, Verletzungsfurcht, Versagensfurcht), „Phobien“ (z.B. Agora- phobie, Klaustrophobie, Akrophobie) und „Paniken“ (Angstanfall, Schockstarre, Katastrophenlähmung) bis hin zu „Psychosen“ (z.B. Verfolgungswahn, Lebens- angst, Neurotische Ängste).65 Diese unterschiedlichen Begriffe zeigen schon die große Bandbreite an unterschiedlichen Begrifflichkeiten aber auch an der unterschiedlichen Stärke von Angstgefühlen. Für die Diagnose von Phobien, Angst- und Zwangs- erkrankungen wird meist der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation, der im folgenden Kapitel vorgestellt wird.

3.1 Die F40-Klassifikation der ICD-10

ICD-10 ist ein weltweit anerkanntes Diagnoseklassifikationssystem, das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird. Im Jahr 2001 wurde der Diagnoseschlüssel ICD-10 österreichweit verbindlich eingeführt, seit dem Jahr 2014 gilt in Österreich eine leicht modifizierte Version66. Die für dieses Projekt interessierenden Phobien, Angst- und Zwangs- erkrankungen fallen unter „Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40-F48)“: F40 Phobische Störungen F41 Andere Angststörungen F42 Zwangsstörung F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F44 Dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] F45 Somatoforme Störungen F48 Andere neurotische Störungen

Sie sind der Kategorie „Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99)“ zuzuordnen. Im Folgenden wird eine kurze Übersicht über die wichtigsten Störungen gegeben.

65 Warwitz (2001). 66 BMG (2014).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 31 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

3.1.1 Phobische Störungen (F40) Phobische Störungen sind durch „gerichtete Ängste“ gekennzeichnet, d.h. durch bestimmte, eindeutig definierte, eigentlich ungefährliche Situationen bzw. Stimuli (äußere Reize) werden übertriebene, nicht adäquate Angstreaktionen ausgelöst. Den Personen ist bewusst, dass ihre Reaktion übertrieben und unbegründet ist, dennoch werden sie wenn möglich typischerweise vermieden. Beispiele für phobische Störungen sind Agoraphobie (Ängste vor offenen Plätzen, Menschenmengen, das Haus zu verlassen, alleine mit Bus/Bahn oder Flugzeug zu reisen), Sozialphobie (Ängste in sozialen Situationen, Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, wie beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln), oder spezifische (isolierte) Phobien (Tiere, Höhen, Donner, Dunkelheit – wie beispielsweise in schlecht beleuchteten Unterführungen, Fliegen, geschlossene Räume, etc.). Als Symptome treten häufig u.a. Herzklopfen, Schwächegefühl, Angst vor dem Sterben bzw. Kontrollverlust auf, bei sozialen Phobien werden auch Erröten, Händezittern und Übelkeit genannt.67

3.1.2 Andere Angststörungen (F41) Andere Angststörungen sind durch „ungerichtete“ Ängste gekennzeichnet, d.h. PatientInnen haben nicht vor bestimmten Stimuli Angst, sondern leiden unter einem Angstgefühl (innere Reize) und den damit einhergehenden Begleit- erscheinungen. Wenn diese Angst immer wieder kurz und attackenförmig auftritt und sich nicht auf eine spezifische Situation oder besonders Umstände zurückführen lässt, spricht man von Panikstörung (F41.0). Diese äußert sich häufig durch plötzlich auftretendes Herzklopfen, Brustschmerz, Erstickungs- gefühle, Schwindel und Entfremdungsgefühle. Ist die Angst über einen längeren Zeitraum anhaltend und „frei flottierend“ spricht man von einer generalisierten Angststörung (F41.1), die sich durch unterschiedliche Symptome, aber häufig durch Beschwerden wie ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauch- beschwerden äußert. Häufig wird die Befürchtung geäußert, dass die Person selbst oder Angehörige erkranken oder einen Unfall haben.68

3.1.3 Zwangsstörung (F42) Wichtige Kennzeichen von Zwangsstörungen sind immer wiederkehrende Zwangshandlungen (z.B. Händewaschen, wiederholte Kontrollen, übertriebene Ordnung und Sauberkeit) und/oder Zwangsgedanken (zwanghafte Ideen,

67 DIMDI (2013), Universimed (2009). 68 Ebd.

32 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen bildhafte Vorstellungen, etc.), die als unangenehm empfunden werden und auch keinen sinnvollen Zweck erfüllen. Diese Zwangshandlungen bzw. -gedanken sind sehr quälend und die PatientInnen versuchen häufig erfolglos Widerstand zu leisten.69

3.1.4 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) In dieser Gruppe werden unterschiedliche Störungen zusammengefasst, die als gemeinsamen Auslöser psychosoziale Belastungsfaktoren haben. Eine akute Belastungssituation wird durch ein außergewöhnliches, belastendes Erlebnis ausgelöst und ist nur von kurzer Dauer (wenige Stunden oder Tage). Während zu Beginn von einer Art „Betäubung“ berichtet wird, kann anschließend ein Unruhezustand bzw. Überaktivität oder aber auch ein weiteres Zurückziehen folgen. Meistens treten vegetative Zeichen panischer Angst wie z.B. Tachykardie, Schwitzen und Erröten auf. Die posttraumatische Belastungsstörung stellt hingegen eine verzögerte Reaktion auf eine außergewöhnliche Belastung, Bedrohung der Katastrophe dar. Typische Merkmale sind z.B. das wiederholte Erleben des Traumas in Erinnerung oder Träumen, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit, übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen. Die Anpassungsstörung tritt nach einer entscheidenden Lebensveränderung (z.B. Verlust enger Bezugspersonen, Emigration, Schulbesuch, Pension) auf. Es handelt sich dabei um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung. Die Anzeichen sind unterschiedlich, häufig äußert sich eine Anpassungsstörung durch depressive Stimmung, Angst oder Sorge oder dem Gefühl, mit den alltäglichen Gegeben- heiten nicht zurechtzukommen.70

3.1.5 Dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] (F44) Das Kennzeichen der dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) besteht in einem teilweisen oder völligen Verlust der normalen Integration der Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung von Empfindungen und der Kontrolle von Körperbewegungen. Diese Störungen werden als ursächlich psychogen angesehen und in enger zeitlicher Verbindung mit traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren/ unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen gesehen.

69 DIMDI (2013). 70 DIMDI (2013), Universimed (2009).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 33 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Die dissoziativen Störungen werden weiter in Subtypen gegliedert: dissoziative Amnesie (Verlust der Erinnerung kurz zurückliegender Ereignisse, der nicht durch organische psychische Störung bedingt ist), dissoziative Fugue (zielgerichtete Ortsveränderung ohne Erinnerung daran), dissoziativer Stupor (starke Verringerung oder Fehlen von willkürlichen Bewegungen oder normalen Reaktionen auf äußere Reize wie Licht, Geräusche oder Berührungen), Trance- und Besessenheitszustände (zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung), dissoziative Bewegungs- störungen (vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperteile), dissoziative Krampfanfälle (ähneln stark epileptischen Anfällen in Bezug auf die Bewegungen), dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (sensorische Ausfälle), gemischte dissoziative Störungen und sonstige dissoziative Störungen (z.B. Ganser- Syndrom, multiple Persönlichkeit).71

3.1.6 Somatoforme Störungen (F45) Charakteristisch für somatoforme Störungen ist das wiederholte bzw. anhaltende Auftreten von körperlichen Symptomen in Verbindung mit der hartnäckigen Forderung nach medizinischen Untersuchungen, obwohl bereits mehrfach negative Ergebnisse vorliegen bzw. die ÄrztInnen versichern, dass die Beschwerden nicht körperlich begründbar sind. Subtypen der somatoformen Störungen sind die Somatisierungsstörung (multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die mindestens zwei Jahre bestehen), die Undifferenzierte Somatisierungs- störung (zahlreiche, unterschiedliche und hartnäckige Beschwerden, die aber nicht das klinische Bild einer Somatisierungsstörung erfüllen), die Hypo- chondrische Störung (Angst an einer schweren körperlichen Krankheit zu leiden, obwohl negative Untersuchungsergebnisse vorliegen), Somatoforme autonome Funktionsstörung (normale körperliche Symptome wie z.B. Herzklopfen oder Schwitzen werden grundlos einer körperlichen Krankheit zugeordnet) und Somatoforme Schmerzstörung (andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der nicht durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung erklärt werden kann).72

71 DIMDI (2013). 72 DIMDI (2013).

34 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

3.1.7 Andere neurotische Störungen (F48) Zu den anderen neurotischen Störungen fällt z.B. die Neurasthenie, die sich durch vermehrte Müdigkeit bzw. Schwäche nach geistiger oder geringer körperlicher Arbeit kennzeichnet. Zusätzlich treten andere unangenehme Symptome wie z.B. Schwindel, Spannungskopfschmerz, allgemeine Unsicher- heit, Reizbarkeit und Freudlosigkeit. Auch das Depersonalisations- und Derealisationssyndrom ist dieser Kategorie zuzuordnen, tritt allerdings selten auf. Es zeichnet sich dadurch aus, dass PatientInnen beklagen, dass sich ihre geistige Aktivität, ihr Körper oder die Umgebung in ihrer Qualität verändert haben und es kommt zu einem Verlust von Emotionen bzw. zu Entfremdung.73 Die folgende Tabelle 1 bietet nochmals eine Kurzbeschreibung der – für dieses Projekt wesentlichsten – Angststörungen im Überblick:

Tabelle 1: Kurzbeschreibung Angststörungen anhand ICD-10- und DSM-IV-Definition

Quelle: Kasper und Kapfhammer (2009, S. 6).

73 Ebd.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 35 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

3.2 Epidemiologie

Die Epidemiologie beschäftigt sich unter anderem mit der Erforschung der Verteilung und des Verlaufs (deskriptive Epidemiologie) sowie der kausalen Bedingungen (analytische Epidemiologie) von Krankheiten74.

3.2.1 Prävalenz von Angststörungen Systematische Untersuchungen zur Lebenszeitprävalenz von Angst- erkrankungen gibt es erst seit den 1980er Jahren75. Sie sind mittlerweile in der Normalbevölkerung allerdings relativ gut untersucht76, jedoch sind Prävalenz- raten für psychische Erkrankungen schwierig zu ermitteln, da die Dunkelziffer der nicht diagnostizierten oder therapierten Erkrankung(en) hoch ist.77 Angststörungen gehören neben affektiven und Substanzstörungen zu den häufigsten psychischen Störungen in der Bevölkerung.78 In etwa jedeR Zehnte Erwachsene leidet im Laufe eines Jahres unter irgendeiner Art von Angst- störung.79 Lieb et al. (2003) berichten sogar von einer Lebens- zeitprävalenzschätzung für Angststörungen zwischen 5,6% und 28,7%.80 Am häufigsten ist dabei die Sozialphobie: rund jedeR Zehnte (8-13% der Bevölkerung) leidet im Laufe seines/ihres Lebens einmal an einer Sozialphobie. Sie stellt nach Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit und depressiven Störungen die dritthäufigste psychische Störung dar.81 Daten speziell für die österreichische Bevölkerung liegen kaum vor, heimische ExpertInnen schätzen aber, dass von ähnlichen Prävalenzraten wie auch in anderen Ländern ausgegangen werden kann.82 Studien des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger zeigen auf, dass 10% der Bevölkerung an mindestens einer psychischen Erkrankung leiden.83 Das Max Plank Institut für Psychiatrie in München geht sogar von einer geschätzten Lebenszeitprävalenz von Angststörungen von bis zu 25% aus.84 Für die deutsche Bevölkerung liegt die GHS-MHS mit einer Untersuchungspopulation von 4.181 18-65-Jährigen vor, nach der die 12-Monatsprävalenz für Angststörungen nach

74 Schmidt-Traub und Lex (2005), Häfner und Weyerer (1998). 75 Kasper und Kapfhammer (2009, S. 3). 76 Lieb et al. (2003). 77 Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2012). 78 Lieb et al. (2003, S.86). 79 Wancata et al. (2011, S. 332). 80 Lieb et al. (2003, S.87). 81 Morschitzky (2008b, o.S.) 82 Kasper und Kapfhammer (2009, S. 4). 83 Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2012). 84 Max Plank Institut für Psychiatrie in München (2016).

36 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

DSM-IV85 (mit Ausnahme der posttraumatischen Belastungsstörung) bei 14,5% liegt.86 Somers et al. (2006) haben eine Metaanalyse von 41 Studien zur Prävalenz von Angststörungen in der Allgemeinbevölkerung publiziert, welche weltweit zwischen 1984 und 2004 durchgeführt wurden.87 Tabelle 2 gibt einen Überblick über ausgewählte Studien zur Prävalenz aller Angststörungen, basierend auf der Metaanalyse von Somers et al. 2006:

Tabelle 2: Ausgewählte Studien zur Prävalenz aller Angststörungen

Autoren Land, Stadt 1-Jahres- Lebenszeit- Prävalenz in % prävalenz in %

Henderson et al. (2000) Australien 9,7 -

Bijl et al. (1998) Niederlande 12,4 19,3

Faravelli et al. (1997) Italien: Florenz 4,2 -

Fournier et al. (1997) Kanada: Montreal - 14,7

Offord et al. (1996) Kanada: Ontario 12,2 -

Kessler et al. (1994) USA (NCS) national 17,2 24,9

USA (ECA): 5 Regionen, Bourdon et al. (1992) 10,1 14,6 überwiegend städtisch Schweiz: Basel DSM-III-R - 28,7 Wacker et al. (1992) ICD-10 - 23,0

Wittchen et al. (1992) Früheres Westdeutschland - 13,9

Korea: Seoul (städtisch) und Lee et al. (1987) - 9,2 Myeon (ländlich)

Canino et al. (1987) Puerto Rico - 13,6

Best Estimate der Metaanalyse (95 %-CI) 10,6 (7,5–14,3) 16,6 (12,7–21,1)

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf der Metaanalyse von Somers et al. (2006). Best Estimates der Metaanalyse (Prozentwerte mit 95%-Konfidenzintervallen)

Die mittlere 1-Jahresprävalenz liegt bei 10,6%, die mittlere Lebenszeitprävalenz bei 16,6%. Wie aus der Tabelle 2 ersichtlich ist, gibt es allerdings enorme

85 Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4. Version) wird von der American Psychiatric Association in den USA herausgegeben. Es wird, analog zum ICD-10 zur Klassifikation von Krankheiten verwendet. Mittlerweile liegt es bereits in der 5. Version vor: http://www.psychiatry.org/psychiatrists/practice/dsm/dsm-5 (2016-02-17) 86 Schmidt-Traub und Lex (2005, S. 17f). 87 Somers et al. (2006).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 37 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Schwan-kungsbreiten, sowohl hinsichtlich der 1-Jahres-Prävalenz (4,2% - 17,2%) als auch hinsichtlich der Lebenszeitprävalenz (9,2% - 28,7%), weshalb die Validität der Studien kritisch betrachtet werden muss.88 Möglicherweise liegen die großen Unterschiede in der Zusammensetzung der Stichprobe (z.B. hinsichtlich Geschlecht und Alter) und/oder aber auch in den verwendeten Diagnosekriterien begründet. Lieb et al. (2003) halten beispiels- weise fest, dass für Studien ab den 1990er Jahren sensiblere Diagnosekriterien herangezogen wurden, wodurch es zu einer vergleichsweise höheren Lebens- zeitprävalenz neuerer Studien kommt. Außerdem wurden nicht durchgängig dieselben Subtypen von Angststörungen in den unterschiedlichen Studien berücksichtigt.89 Die Metaanalyse von Somers et al. (2006) betrachtete auch Ergebnisse für einzelne Typen von Angststörungen, wie folgende Tabelle 3 zeigt:

Tabelle 3: 1-Jahres- und Lebenszeitprävalenz von Angststörungen

1-Jahres-Prävalenz Lebenszeit- in % prävalenz in %

Panikstörung 1,0 (0,55–1,5) 1,2 (0,7–1,9)

Agoraphobie 1,6 (1,0–2,3) 3,1 (2,1–4,4)

Sozialphobie 4,5 (3,0–6,4) 2,5 (1,4–4,0)

Spezifische Phobien 3,0 (1,0–5,8) 4,9 (3,4–6,8)

Generalisierte Angststörung 2,6 (1,4–4,2) 6,2 (4,0–9,2)

Alle Angststörungen 10,6 (7,5–14,3) 16,6 (12,7–21,1)

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf der Metaanalyse von Somers et al. (2006). Best Estimates der Metaanalyse (Prozentwerte mit 95%-Konfidenzintervallen)

Die Metaanalyse zeigt, dass bei der 1-Jahres-Prävalenz Sozialphobien (4,5%) am häufigsten waren, während Panikstörungen (1%) am seltensten vorkamen. Bei der Lebenszeitprävalenz traten jedoch generalisierte Angststörungen am häufigsten auf (6,2%).90 Auch Lieb et al. (2003) stellen anhand ihrer Metastudie fest, dass Spezifische und Soziale Phobien die am häufigsten auftretenden Subtypen von Angsterkran- kungen sind: die Lebenszeitprävalenzschätzungen bewegen sich zwischen 5%

88 Somers et al. (2006). 89 Lieb et al. (2003, S. 87ff). 90 Ebd.

38 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen und 10% für Spezifische Phobien und zwischen 3% und 12% für Soziale Phobien. Auch sie sehen Panikstörungen mit einer Lebenszeitprävalenz von 1% und 4% als eher seltene Form an.91 Auch in der GHS-MHS Studie (Deutschland) werden Spezifische Phobie (7,6% 12-Monatsprävalenz), Soziale Phobie und Agoraphobie (jeweils 2,0% 12- Monatsprävalöenz) als häufigste Angststörungen genannt.92 Fast alle weltweiten Studien stellen darüber hinaus fest, dass Angststörungen häufiger bei Frauen vorkommen als bei Männern. Dieser Unterschied ist besonders bei Panikstörungen, Agoraphobie und spezifischen Phobien besonders ausgeprägt, wo Frauen eine doppelt so hohe 1-Jahres-Prävalenz aufweisen (vgl. Tabelle 4).93

Tabelle 4: 1-Jahres-Prävalenz von Angststörungen für Männer und Frauen

1-Jahres-Prävalenz (in %) Männer Frauen

Panikstörung 1,2 (0,54–2,1) 2,7 (1,4–4,3)

Agoraphobie 1,1 (0,72–1,7) 2,9 (1,8–4,4)

Sozialphobie 3,0 (1,7–4,7) 4,6 (2,8–7,0)

Spezifische Phobien 4,4 (4,1–4,8) 10,6 (9,0–12,3)

Generalisierte Angststörung 1,4 (0,96–2,0) 2,6 (1,6–3,8)

Alle Angststörungen 8,9 (7,2–10,9) 16,4 (12,6–20,8)

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf der Metaanalyse von Somers et al. (2006). Best Estimates der Metaanalyse (Prozentwerte mit 95%-Konfidenzintervallen)

Bei Frauen stellen Angststörungen die häufigste, bei Männern die zweithäufigste Form psychischer Störungen dar (hinter Abhängigkeitserkrankungen).94 Des Weiteren finden sich in vielen Untersuchungen Berichte über eine hohe Komorbidität von Angststörungen: 30-80% aller PatientInnen mit Angststörungen leiden an einer weiteren Angststörung. Aber auch die Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen ist hoch: PatientInnen mit Angststörungen haben eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit an Depressionen oder Substanz- störungen zu erkranken.95

91 Lieb et al. (2006, 87ff). 92 Schmidt-Traub und Lex (2005, S. 18). 93 Somers et al. (2006). 94 Prösch (2016, S. 5) 95 Kasper und Kapfhammer (2009), Wancata et al. (2011), Schmidt-Traub und Lex (2005).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 39 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Derzeit kann eine steigende Anzahl psychischer Erkrankungen in der EU und auch in der österreichischen Bevölkerung beobachtet werden.96

3.2.2 Erstmanifestationsalter Auch hinsichtlich des erstmaligen Auftretens von Angststörungen gibt es bereits diverse Studien bzw. auch Metaanalysen von diesen. Nach den bisherigen Erkenntnissen zählen Angststörungen zu jenen psychischen Störungen, die sich bereits sehr früh manifestieren. Bisherige Ergebnisse legen nahe, dass Angststörungen häufig im Alter zwischen 12 und 17 Jahren beginnen. Studien hinsichtlich des Krankheitsverlaufes berichten, dass die Krankheiten oft länger als 10 Jahre andauern.97 Andrade et al. (2000) konnten durch eine Analyse von mehreren weltweit durchgeführten Studien zeigen, dass sich Angststörungen erstmals sogar ab dem 5./6. Lebensjahr manifestieren, das höchste Risiko eine Angststörung zu entwickeln, besteht zwischen dem 10. und dem 25. Lebensjahr. Bei 80%-90% der PatientInnen mit Angststörungen manifestieren sich diese bis zum 35. Lebensjahr, „nur“ 10% entwickeln die Angststörung erst später.98 Auffällig ist auch eine Korrelation zwischen Alter und Typ der Angststörung: während beispielsweise spezifische Phobien häufig bereits im Kindesalter auftreten, treten soziale Phobien meist erstmals in der Pubertät auf. Panikstörungen wiederum gelten als Erkrankung der späten Adoleszenz bzw. des jungen Erwachsenenalters und generalisierte Angststörungen treten häufig erst nach dem 40. Lebensjahr auf.99

3.2.3 Risikofaktoren von Angststörungen Hinsichtlich der Ursachen von Angststörungen gibt es unterschiedliche Einfluss- und Risikofaktoren. Auch diverse wissenschaftliche Erklärungsmodelle wurden diesbezüglich bereits entwickelt. Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten soziodemographischen Faktoren und Risikofaktoren, bevor im nächsten Kapitel auf psychologische Modelle näher eingegangen wird. Auf körperliche Ursachen, wie z.B. Schilddrüsenfehlfunktion oder Diabetes wird in den folgenden Ausführungen nicht näher eingegangen.

96 Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2012). 97 Wittchen et al. (1999), Perugi et al. (1990). 98 Andrade et al. (2000). 99 Kasper und Kapfhammer (2009), Lieb et al. (2003).

40 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

3.2.3.1 Soziodemographische Faktoren In vielen epidemiologischen Studien wurde der Zusammenhang von verschiedenen soziodemographischen Faktoren und Angststörungen nachge- wiesen, wobei dies meist lediglich auf Querschnittuntersuchungen beruht und somit zeigt, dass bestimmte soziodemographische Merkmale häufiger bei Personen mit Angststörungen zu finden sind.100 Insgesamt gilt es als gesicherte Erkenntnis, dass Frauen in etwa doppelt so häufig an Angststörungen erkranken wie Männer (siehe auch Tabelle 4), wobei sich Geschlechtsunterschiede v.a. bei der Spezifischen Phobie und der Agoraphobie, in geringem Ausmaß aber auch bei der Sozialen Phobie und bei der generalisierten Angststörung und am wenigsten bei der Zwangsstörung finden.101 Auch der Zusammenhang zwischen Angststörungen und dem Familienstand bzw. Beziehungsstatus gilt als gesichert: bei allein lebenden, geschiedenen und verwitweten Personen zeigen sich höhere Raten für alle Angststörungen als bei Verheirateten und allein lebenden, nie verheirateten Personen. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass Personen mit Angststörungen seltener Partnerschaften eingehen, bzw. dass der Verlust einer Partnerin bzw. eines Partners auch als Risikofaktor für den Beginn einer Angststörung gilt.102 Darüber hinaus gelten Arbeitslosigkeit bzw. fehlende Berufstätigkeit sowie geringe Schulbildung und eine schlechte finanzielle Lage als Risikofaktoren für die Entwicklung von Angststörungen. Hinsichtlich der Wohnsituation und dem Leben im städtischen oder ländlichen Bereich konnten dagegen bisher keine konsistenten Ergebnisse erzielt werden.103 Auch das Alter spielt im Zusammenhang mit Angststörungen eine wichtige Rolle, wie bereits in Kapitel 3.2.2 genauer erläutert wurde.

3.2.3.2 Risikofaktoren Neben den eben beschriebenen soziodemographischen Faktoren gibt es auch einige andere Risikofaktoren, die mit der Entstehung von Angststörungen in Verbindung gebracht werden. Es gibt eine Vielzahl von psychosozialen Ursachen der Angststörungen, wobei emotional belastende Erlebnisse während der Kindheit bzw. Jugend, Miss-

100 Lieb et al. (2003, S. 92). 101 Ebd. 102 Lieb et al. (2003, S. 92). 103 Ebd.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 41 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen brauch, sozial ängstliche Eltern bzw. Überbehütung oder Demütigung durch die Eltern zu den häufigsten zählen.104 Auch der Verlust einer Partnerschaft, körperliche Gewalterfahrung, sexuelle Übergriffe oder Naturkatastrophen können zu Angststörungen, Depressionen oder anderen psychischen Störungen führen.105 Lieb et al. (2003) teilen die Risikofaktoren in vier Bereiche ein:106 (1) Familiengenetische Faktoren: die familiäre Belastung mit einer psychischen Störung gilt als einer der wichtigsten Risikofaktoren für Angststörungen (2) Behavioral Inhibition: (Verhaltenshemmung) „gilt als temperamentsbedingt Disposition, auf neue Situationen mit anfänglicher Zurückhaltung und Hemmung zu reagieren“107. Sie ist bereits sehr früh, oft schon im Säuglings- alter erkennbar und vermutlich genetisch bedingt. (3) Belastende Lebensereignisse: speziell Gewalterfahrungen (wie z.B. sexueller Missbrauch) in der Kindheit stellen ebenfalls einen wichtigen Risikofaktor für Angststörungen dar, wobei hier geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf die Art der Angststörung zu erkennen sind. Hinsichtlich anderer belastender Lebensereignisse, wie z.B. Scheidung/frühe Trennung der Eltern oder Tod eines Elternteils sind die Ergebnisse noch uneinheitlich. (4) Elterliches Erziehungsverhalten und familiärer Umgang: sowohl Überbe- hütung als auch Zurückweisung durch die Eltern kann die Entwicklung von Angststörungen begünstigen, allerdings konnten auch diese Ergebnisse bisher nicht in allen Studien bestätigt werden. Weitere Risikofaktoren, die bisher in epidemiologischen Studien allerdings nicht bestätigt werden konnten, sind beispielsweise Angstsensitivität, autonome Reaktivität, prä- und perinatale Risikofaktoren, Selbstwertgefühl und soziale Unterstützung.108

3.2.4 Modelle Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich die Wissenschaft intensiv mit Angststörungen, und es wurden viele Erklärungsmodelle zu deren

104 Kasper und Kapfhammer (2009, S. 5). 105 Schmidt-Traub und Lex (2005, S. 18f) 106 Lieb et al. (2003, S. 93f). 107 Lieb et al. (2003, S. 93). 108 Lieb et al. (2003, S. 94)

42 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Entstehung entwickelt, die von psychologischen bzw. (neuro)biologischen Modellen bis hin zu integrativen kybernetischen Modellen reichen.109 Es gibt eine Vielzahl verschiedener psychologischer Modelle, die im Rahmen dieses Berichtes nicht alle behandelt werden können. Persönlichkeitsmodelle, kognitive Schemata, soziale Kompetenz, Entwicklungsmodelle, lerntheoretische sowie psychodynamische Modelle zählen beispielsweise dazu, um nur einige zu nennen.110 Einige ausgewählte Modelle werden im Folgenden kurz vorgestellt. Detaillierte Erläuterungen zu Erklärungsmodellen für Angststörungen finden sich beispielsweise bei Morschitzky111 oder Kapfhammer112. Seit wird in der Angstpsychologie zwischen Trait-Angst (relativ stabiler Charakterzug) und State-Angst (vorübergehender Gemüts- zustand) unterschieden.113 Die meisten Persönlichkeitsmodelle der Psychologie stimmen darin überein, dass es eine Art genetische Disposition zu Ängstlichkeit, und dadurch auch zur Entwicklung einer Angststörung gibt.

3.2.4.1 Psychoanalytische bzw. psychodynamische Modelle Zu den psychoanalytischen bzw. psychodynamischen Modellen zählen beispiels- weise die Angsttheorien nach Freud und die Angsttheorie nach Bowlby (bindungstheoretisches Modell). In ihrem Buch „Studien über Hysterie“114 prägten und Josef Breuer bereits 1895 die Begriffe Angstneurose (Ängste ohne situative Auslöser) und Angsthysterie (Ängste mit situativen Auslösern). In seinem Konfliktmodell postulierte Freud, dass Angstphänomene entstehen, weil die Betroffenen ihre libidinöse Triebenergie aufgrund ihres strengen Gewissens nicht abbauen können, und sich die dadurch angestaute Triebenergie in Form von Angst- symptomen äußert. In seiner, einige Jahre später publizierten Angsttheorie (Traumamodell) postulierte er, dass neben konstitutionellen Faktoren Traumata der bisherigen Lebensgeschichte ursächlich an der Entstehung von Angststörungen beteiligt sind.115 Die Entwicklung von Angst kann auch vor einem bindungstheoretischen Hintergrund gesehen werden: in diesem Modell, das auf John Bowlby zurück-

109 Kasper und Kapfhammer (2009, S. 4f). 110 Ebd. 111 Morschitzky (2009). 112 Kapfhammer (2011). 113 Spielberger (1966). 114 Freud und Breuer (1895). 115 Elze und Elze (2016a, o.S.)

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 43 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen geht, kommt es dann zu Ängsten und Angststörungen, wenn ein Verlust von Bindung droht, egal ob dieser Verlust real ist oder sich nur um die Vorstellung des Verlustes handelt. Die primäre Bezugsperson (meist die Mutter) kann zu einer Reduktion der Angst beitragen, indem sie angemessen reagiert; in diesem Zusammenhang wurde der Begriff der „mütterlichen Feinfühligkeit“ geprägt. Dadurch kann das Kind die Fähigkeit zur selbstständigen Emotionsregulation entwickeln. Fehlt diese „mütterliche Feinfühligkeit“ bzw. die angemessenen Reaktionen, kommt es nicht zur Angstreduktion und das Kind kann die nötigen Emotionsregulationen nicht entwickeln.116

3.2.4.2 Kognitive und behaviorale Modelle Menschen die unter vermehrten Ängsten leiden, sehen und beurteilen die Welt anders, nehmen sie teilweise verzerrt wahr, was zu einer falschen Bewertung führen kann. Man spricht hier von einer Entwicklung von „maladaptiven kognitiven Schemata“, einer Art verinnerlichter Fehlurteile über die Gefährlichkeit der Welt. Dadurch kommt es in einem weiteren Schritt zu einem unangemessen starken Vermeidungsverhalten um diesen potenziellen Gefahren auszuweichen, wodurch der Aktionsradius bzw. die Aktivitäten eingeschränkt werden, was zu Rückzug und Isolation führt.117 Zu den lerntheoretischen Modellen zählt beispielsweise die Zwei-Faktoren- Theorie der Angst von Orval Hobart Mowrer. Diese besagt, dass es zunächst zu einer Koppelung zwischen einem neutralen (z.B. Fahren im Fahrstuhl) und einem potenziell Angst erzeugenden Reiz (z.B. Herzrasen) kommt (klassische Konditionierung). Im Anschluss versuchen die Betroffenen den konditionierten Reiz (z.B. Fahrstuhl) zu vermeiden (operante Konditionierung), wodurch es zu einer negativen Verstärkung kommt, die die Angst aufrecht erhält.118 Elze/Elze beschreiben auf ihrer Homepage dieses Modell anhand eines anderen Beispiels:

„Ein Individuum erlebt in einer voll besetzten U-Bahn eine übergroße Nähe von anderen Menschen (UCS), die bei ihm Gefühle der Bedrohung, Angst und Ohnmacht hervorruft (UCR). Das Milieu in der U-Bahn kann dadurch zum konditionierten Stimulus (CS) werden, was im Sinne der klassischen Konditionierung zu einer Angst vor dem U-Bahn-Fahren (CR) führen kann. Wenn der Betroffene im Verlauf das U-Bahn- Fahren vermeidet, kann es dadurch zu einer Verstärkung und

116 Scheidt und Waller (2005, 362f). 117 Wikipedia (2016). 118 Butollo und Maragkos (2005).

44 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Aufrechterhaltung der Angst kommen (operante Konditionie- rung), woraus sich schließlich eine Phobie entwickeln kann.“119

Eine Ergänzung zu lerntheoretischen Modellen stellt die Preparedness- Hypothese von Seligmann dar, nach der Reize, die für den Menschen biologisch und phylogenetisch besondere Bedeutung haben (z.B. Schlangen, Höhe, Dunkelheit etc.), mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Angstreizen werden können.120

3.2.4.3 Integrative Modelle Zu den integrativen Modellen zählt beispielsweise das Vulnerabilitäts-Stress- Modell (auch Diathese-Stress-Modell). Es wird zwischen verursachenden Bedingungen (z.B. genetische Faktoren, Persönlichkeitsstile, Erfahrungen), auslösenden Faktoren (z.B. körperliche Krankheit, Stress) und aufrechter- haltenden Faktoren (z.B. Vermeidungsverhalten) unterschieden.121 Eine zum Teil angeborene und zum Teil erworbene Angstsensibilität, kombiniert mit negativen Grundüberzeugungen und belastenden Lebensereignissen, kann zu einer Angst in Bezug auf bestimmte Objekte führen. Diese Angst wird deshalb vermieden, was dazu führt, dass sich die negative Grundüberzeugung verstärkt; ein Teufelskreis wird in Gang gesetzt.122

3.3 Stress, Coping und Lebenslauf: die medizinsoziologische Perspektive auf den Ausbruch von Krankheit

3.3.1 Das Konzept Coping und der Life-event Zugang Unter Coping versteht man den Prozess, mit dem ein Individuum auf stressauslösende Ereignisse im Lebenslauf reagiert. Soziologische und psychologische Untersuchungen haben in vielfältiger Form gezeigt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen belastenden Lebensereignissen (life- events) und dem Ausbruch einer Krankheit gibt, wobei Stress die durch das Ereignis ausgelöste negative Gefühlslage ist. Der Zusammenhang von Stress und Krankheit ist über den psychischen und situativen Anpassungsprozess des

119 Elze und Elze (2016b, o.S.). 120 Butollo und Maragkos (2005). 121 Elze und Elze (2016c). 122 Schmidt-Traub und Lex (2005).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 45 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Copings vermittelt, der den Ausbruch einer Krankheit dann begünstigt, wenn er schlecht gelingt. Man spricht dann von maladaptive coping.123 Uta Gerhardt hat darauf hingewiesen, dass der Coping-Prozess nicht in Form von Kausalfaktoren oder von Persönlichkeitsmerkmalen (traits) erfasst werden kann, sondern dass es um eine interpretative Leistung von handelnden Individuen geht.124 Diese Ansicht steht im Einklang mit dem medizinischen Paradigma der Copingforschung, wie es von Harold Wolff entwickelt wurde.125 Coping muss in diesem Zusammenhang als soziale Handlung begriffen werden. Wenn Coping kein rein individueller Umgang mit einem stressauslösenden Lebensereignis ist, sondern wenn es als soziales Handeln begriffen werden kann, dann lassen sich Coping-Prozesse generalisieren und in ihrer typischen, überindividuellen Struktur erfassen. Diese Tatsache ist ein Ansatzpunkt für die Unterstützung von Coping-Prozessen in sozialen Situationen, was Verkehrsmittel einschließt, auf die wir in unseren Alltagswegen angewiesen sind.

3.3.2 Drei Formen von Coping Coping kann auf drei verschiedene Weisen konzeptualisiert werden.126 (1) Als Anpassung an die Situation nachdem eine Krankheit ausgebrochen ist, (2) kann Coping als Inbegriff von Persönlichkeitseigenschaften und kognitiven Prozessen verstanden werden, die verhindern, dass sich nach dem Eintritt eines stressauslösenden Lebensereignisses eine Krankheit entwickelt, (3) meint Coping den Umgang mit einem stressauslösenden Ereignis, unabhängig davon, ob die Person krank wird oder nicht. Diese dritte Perspektive wird im Life-event Ansatz herangezogen und daraus ergibt sich auch eine klare Definition des Konzepts Coping:

„The focus is on the individual’s reaction to stressful situations. Coping is identified as the individual’s behaviour during the interval between a life-event and the onset of a psychiatric disturbance or a physical illness.“127

Man kann den Ausbruch einer Krankheit demnach so konzipieren, dass als Reaktion auf ein stressauslösendes Lebensereignis ein Coping-Muster entsteht, das keine adäquate Bewältigung von Stress ermöglicht, was zu Fehlan-

123 Zeidner und Saklofske (1996). 124 Gerhardt (1979). 125 Wolff (1953). 126 Gerhardt (1979). 127 Gerhardt (1979, S. 200).

46 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen passungen, zur Verstärkung von Stress und schließlich zum Zusammenbruch psychischer oder organischer Strukturen und Prozesse führt. Innerhalb dieser dritten Konzeption des Coping, die für die Life-event Forschung verbindlich ist, lassen sich wiederum drei verschiedene Formen unterscheiden: (1) das psycho-physiologische Coping, (2) das psychische Coping und (3) das soziale Coping (vgl. Tabelle 5).128 In der ersten Perspektive geht man davon aus, dass Veränderungen im Leben (life-change events) adaptive Leistungen des Organismus hervorrufen. Dadurch wird die körperliche Widerstandsfähigkeit geschwächt und die Wahrscheinlichkeit einer Krankheit steigt. Coping ist in dieser Perspektive die psycho-physiologische Reaktion des Körpers auf Veränderungen, die den Organismus schwächen und ihn krankheitsanfälliger machen. Die zweite Perspektive geht auf Lazarus zurück.129 Coping wird als Reaktion auf eine Verletzung sowie auf die Bedrohung verstanden, die sich für ein Individuum daraus ergibt. Der vom Individuum wahrgenommene Stimulus (Be- drohungsfaktor) wird als äußerlicher Faktor konzipiert. Dem stehen innere Faktoren in Form des individuellen Selbstwerts und der Einschätzung von Kompetenzen gegenüber. Wie weit ein Stimulus vom Individuum als stress- auslösend wahrgenommen wird, hängt nach Lazarus vom individuellen Selbstwert und von der Einschätzung der eigenen Kompetenzen ab. Auf diesem Gedanken aufbauend hat die Coping-Forschung eine Reihe von krank- heitsinduzierenden Faktoren (Vulnerabilitätsfaktoren) und von protektiven Faktoren herausgearbeitet. Coping heißt dann, dass protektive Faktoren wirken und fehlendes Coping meint umgekehrt, dass Vulnerabilitätsfaktoren wirksam sind. In dieser Perspektive lässt sich der geringe Selbstwert als Vul- nerabilitätsfaktor konzipieren. In der Erforschung von Depression hat man vor dem Hintergrund derartiger Überlegungen die Hypothese aufgestellt, dass sie die Reaktion auf einen nicht bewältigten Verlust darstellen. Vulnerabilitätsfaktoren führen zu einem Gefühl des Versagens, was wiederum den Selbstwert schwächt und die Wirkung von Verlusterfahrungen (das Lebensereignis, das Stress auslöst) als Auslöser von Depression begünstigt. Eine ähnliche Konstruktion wird angesetzt, wenn sich die Vulnerabilitätsfaktoren in anhaltendem niedrigem Selbstwertgefühl niederschlagen. Wenn nun eine Verlusterfahrung eintritt, löst dies Hoffnungslosigkeit aus, die generalisiert wird und auf diese Weise zu Depression führt.

128 Gerhardt (1979, S. 200–209). Die auf die drei Copingformen bezogenen Ausführungen beziehen sich auf diesen Abschnitt. 129 Lazarus (1966).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 47 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Die Schwierigkeit dieses Ansatzes besteht darin, dass der Zusammenhang und die Bedeutung der involvierten Mechanismen und Prozesse nicht geklärt werden kann. Der Sinnzusammenhang, wie er sich dem Individuum in subjektiver Perspektive darstellt und wie er auch der biographischen und geschichtlichen Entwicklung der Depression entspricht, kann auf diese Weise nicht erfasst werden. Die dritte Perspektive nennt Gerhardt soziales Coping. Der Umgang mit dem stressauslösenden Lebensereignis erfolgt durch aktive Einflussnahme auf die Umwelt. Die Person unternimmt etwas, um die Situation zu verändern. Es wird nicht nur auf der kognitiven Ebene die Situation auf eine andere Weise interpretiert, sondern es wird aktiv in die Situation selbst eingegriffen. Die verschiedenen Formen des Coping verweisen auf verschiedene Klassen von Lebensereignissen, die ihnen entsprechen. Der Verlust eines geliebten Menschen lässt sich als Lebensereignis im privaten Umfeld begreifen. Eine adäquate Antwort darauf ist Trauerarbeit und die Rekonstruktion einer sinnvollen Welt angesichts des Verlusts. Durch diese Form des psychischen Coping wird die Interpretation der Situation verändert. Dazu ist eine interpretative Arbeit notwendig, die den Verlust als Realität anerkennt und die sich daraus ergebende Lücke in der Sinnstruktur wieder schließt. Realisierung und Anerkennung des Verlusts sind adäquate Copingformen. Dieser Form der Neuinterpretation eines unveränderbaren Ereignisses stehen Schwierigkeiten gegenüber, die mehr öffentlichen Charakter haben. Der Verlust einer Wohnung oder des Arbeitsplatzes bei ArbeiterInnen, die sich in einer strukturell sehr schwachen Lage befinden, sind Beispiele dafür. Psychologisches Coping kann zur Lösung solcher Probleme nichts beitragen und im Gegenteil zu einer wenig realistischen Einschätzung der Situation führen. Hier greift soziales Coping, wenn die eigene Hilflosigkeit in einer Situation erkannt wird und Unterstützung von außen gesucht wird.

3.3.3 Coping als soziales Handeln Alle drei Formen des Copings müssen mit der soziologischen Handlungstheorie verbunden werden, damit man die kausale Verknüpfung zwischen einem stressauslösenden Lebensereignis und dem Ausbruch einer Krankheit (bzw. der Abwehr des Ausbruchs) in einer Perspektive erfassen kann, die dem sinnhaften Verstehen dieses Zusammenhangs durch den Handelnden selbst gerecht wird. In einer späteren Arbeit nennt Gerhardt diesen sinnadäquaten Erklärungs- zusammenhang action rationale130.

130 Gerhardt (1985, S. 195).

48 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Damit die Handlungen einer Person sinnhaft adäquat und kausal richtig verstanden werden können, müssen rationale Handlungskonstruktionen (Idealtypen) entwickelt werden, mit denen die Handlungsstruktur der Individuen nachvollzogen werden kann. Dasjenige Handeln, dass durch rationale Typen- konstruktion erfasst werden soll, muss dabei selbst nicht rational sein. Aber die Bedeutung des sozialen Handelns muss über den individuellen und subjektiven Sinn hinausweisen, weil sie sich immer an anderen orientiert, was ein gemeinsames Verstehen voraussetzt. Gelungenes Coping heißt, dass die Situation in einer Form bewältigt wird, die mit den intersubjektiven Sinnstrukturen des Alltags (z.B. den Rollenerwartungen) verbunden bleibt. Coping bedeutet die aktive Herstellung einer Sinnstruktur, die einerseits neu ist und dennoch dem common-sense Denken des Alltags entspricht. Sowohl in seiner psychologischen als auch in seiner sozialen Form richtet es sich an andere, an einen geteilten Handlungssinn. Fehlanpassungen und in letzter Konsequenz dem Ausbruch einer Krankheit, liegt daher misslungenes Coping zugrunde. Die drei Formen des Coping, das psycho-physiologische, das psychologische und das soziale Coping, können mit drei unterschiedlichen Formen von Lebensereignissen in Zusammenhang gebracht werden: Dem psycho- physiologischen Coping entspricht die Veränderung der biographischen Situation. Unter solchen Bedingungen geht es darum, die mit der Veränderung verbundene Unsicherheit unter Kontrolle zu halten. Die dafür notwendige Ressource ist die Fähigkeit zur Aufregungskontrolle (arousal control). Psychologisches Coping ist angebracht, wenn Erfahrungen von Verlust deren Bewältigung durch Sinnkonstruktion, etwa durch Trauerarbeit, notwendig machen. Sinnkonstruktion lässt sich als Ressource denken, durch die die Verarbeitung von Verlust gelingt. Schwierigkeiten im Leben wie der Verlust von Arbeit, Wohnung usw. können durch soziales Coping adäquat bewältigt werden. Dafür ist die Fähigkeit, Projekte zu formulieren, eine geeignete Ressource.

Tabelle 5: Beziehung zwischen Ereignissen und Coping

Ereignistyp Adäquate Ressource Coping-Typ

Projektformulierung Soziales Coping Schwierigkeit

Sinnkonstruktion Psychologisches Coping Verlust

Kontrolle der Aufregung Psycho-physiologisches Coping Veränderung

Quelle: Eigene Darstellung nach Gerhardt (1979, S. 219)

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 49 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Ängste können sich aus allen Formen stressauslösender Lebensereignisse entwickeln. Wenn das Coping nicht gelingt, dann geht anders gewendet das Vertrauen in die Rahmen verloren, mit denen Alltagssituationen erfasst und bewältigt werden können.

3.4 Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurden die wesentlichen Eigenschaften und Erscheinungs- formen von Angststörungen gemäß der WHO-Krankheitsklassifikation (ICD-10) dargestellt. Für die aktuelle Untersuchung sind insbesondere die ersten vier Gruppen von Angststörungen von Bedeutung (F40–F43). Der Abschnitt über Prävalenzraten macht trotz aller Unsicherheiten aufgrund der mangelhaften Datenbasis deutlich, dass Phobien einen sehr häufigen Krank- heitstypus darstellen. Es kann von einer durchschnittlichen Lebensprävalenz von 16,6% ausgegangen werden, also von einem erheblichen Anteil der Bevölkerung und daher der VerkehrsteilnehmerInnen. Aus epidemiologischer Sicht konnten eine Reihe von Risikofaktoren für den Ausbruch von Angststörungen identifiziert werden (familiengenetische Faktoren, Persönlichkeitsdispositionen, belastende Lebensereignisse und elterliches Erziehungsverhalten). Im letzten Abschnitt werden insbesondere die belastenden Lebensereignisse aus soziologischer Sicht diskutiert und ein Modell über den Zusammenhang von Stress im Lebenslauf dargestellt. Der Ausbruch von Krankheit erfolgt, wenn belastende Ereignisse im Lebenslauf nicht adäquat bewältigt werden (maladaptive Coping). Da Coping mit der individuellen Interpre- tation der Lebensereignisse zusammenhängt, ist eine Brücke zur soziologischen Handlungstheorie geschlagen, die im nächsten Kapitel ausführlich dargestellt werden soll.

50 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

4 Verkehrsangst: (räumliche) Situation und psychische Krankheit: Der theoretische Untersuchungsrahmen

4.1 Einleitung

In diesem Abschnitt wird eine Interpretationsperspektive entwickelt, mit deren Hilfe die Möglichkeiten und die Schwierigkeiten der Teilnahme von Personen am Straßenverkehr beschrieben und analysiert werden können, die unter einer Phobie, Angst- oder Zwangserkrankung leiden. In allen Ansätzen zur Analyse von Krankheit, die in der Soziologie seit den 1950er Jahren entwickelt wurden, lassen sich zwei ergänzende Modelle unterscheiden: das Rollenmodell und das motivationale Prozessmodell der Krankheit.131 Gerhardt spricht mit Blick auf diese doppelte Bestimmung von Krankheit von einem Kompetenzmodell (Rollenmodell) und einem Devianzmodell (psychodynamisches Modell) von Krankheit.132 Unter dem Gesichtspunkt der Rollen und Rollenanforderungen lässt sich Krankheit als Zustand begreifen, in dem ein Individuum den Anforderungen und Erwartungen, die Alltag und Beruf an es stellt, nicht in vollem Maß entsprechen kann. Eine klassische Definition von Krankheit in rollentheoretischen Begriffen gibt Parsons:

„Perhaps illness can best be conceived of as the impairment of the individual’s capacity for effective performance of social roles and of those tasks which are organized subject to role- expectations.“133

Auch die Teilnahme am Straßenverkehr ist über Rollen geregelt, die sich auf die Situationen im Straßenverkehr und in Verkehrsmitteln beziehen. Die Teilnahme am Straßenverkehr in der Rolle von VerkehrsteilnehmerInnen ist aber auch für Personen mit Erkrankungen wichtig, wenn sie eine therapeutische Einrichtung erreichen, an einer Selbsthilfegruppe teilnehmen oder soziale Kontakte pflegen wollen. Vor allem im Bereich der psychischen Krankheiten kann die aktive Teilnahme am Verkehr den Genesungsprozess unterstützen. Gerade die Nieder-

131 Gerhardt (1989). 132 Gerhardt (1990). 133 Parsons (1964, S. 112).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 51 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen schwelligkeit der Teilnahme am Straßenverkehr macht diese Form der Beteiligung am sozialen Leben zu einem geeigneten Einstieg, wenn man nach schwerer Krankheit wieder in den Alltag zurückfinden will. Diese Untersuchung blickt auf einen Grenzbereich, an dem sich Krankheit, also Rückzug aus der Teilnahme am sozialen Leben, und die kompetente Teilnahme an ihm überschneiden. Dieser Grenzbereich kann als Barriere interpretiert werden, die kranke Personen von der Teilnahme am Straßenverkehr ausschließt. Oder die Grenze wird als Schwelle interpretiert, die ein gewisses Ausmaß an Durchlässigkeit erlaubt. Eine Schwelle, die nicht gut gestaltet ist und über die man wenig nachgedacht hat, wird schnell zu einer Barriere. Die Fragestellung lautet daher, welche Barrieren es für Menschen, die unter einer Angststörung leiden, im Straßenverkehr gibt und wie man diese Barrieren abbauen bzw. Zugangsmöglichkeiten schaffen kann, damit die aktive Verkehrsteilnahme dieser Personengruppe erleichtert wird. Diese Frage lässt sich soziologisch auch so formulieren: Welche Anforderungen werden an Personen gestellt, um die Situationsrolle der Straßenverkehrsteilnahme adäquat auszuführen und wodurch wird eine Person daran gehindert, diese Rolle einzunehmen? Der Bezugsrahmen ist rollenanalytisch und systemtheoretisch aufgebaut. Wir gehen von dem Gedanken aus, dass der Straßenverkehr ein soziales Interaktionssystem darstellt, das auf einer eigenen sozialen Ordnung, der von Goffman so genannten Interaktionsordnung, beruht.134 Über die Interaktions- ordnung und die im Straßenverkehr institutionalisierten TeilnehmerInnenrollen werden situative Interpretations- und Handlungsschemata aufgebaut, die es Personen erlauben, auch unter Bedingungen hoher Anonymität und gegenseitiger Fremdheit miteinander zu handeln und aneinander vorbei- zukommen. Aus der Perspektive sozialer Interaktion gibt es aber nicht nur die strukturelle Seite der Rollen, sondern auch die prozesshafte Seite des Handelns. Neben die rollentheoretische Bestimmung von Krankheit tritt daher noch die zweite, motivationale Bestimmung. Aus motivationaler Perspektive meint Krankheit die Tendenz, sich aus Rollenanforderungen zurückzuziehen. Der Begriff des Handelns zeichnet sich dadurch aus, dass der eigentlichen Aktivität ein imaginierter Entwurf oder Plan vorausgeht135 und dass dieser Plan ein leitendes Prinzip der Aktivität darstellt. Nach Weber stellt auch das Nicht- Handeln oder Unterlassen eine Handlung dar. Entscheidend ist, dass der Handelnde mit einem Verhalten einen subjektiven Sinn verbindet, indem er sich

134 Goffman (1983). 135 Schütz (2004).

52 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen einen Zustand vorstellt, mit Bezug auf den er seine Situation verändern will.136 Auch die Entscheidung gegen die Realisierung eines Handlungsentwurfs lässt sich damit in die Analyse einer Handlung einbeziehen. Bestimmte Handlungs- entwürfe sind für Menschen, die unter Angst- oder Zwangsstörungen leiden, mit Angst besetzt. Der bloße Gedanke an ihre Realisierung löst negative Gefühle aus, denen sich die betroffene Person gar nicht oder nur im äußersten Notfall aussetzen möchte. Krankheit lässt sich unter diesem Gesichtspunkt als eine Handlungsorientierung begreifen, die sich von verschiedenen Formen der Teilnahme am sozialen Leben zurückzieht. Wenn Menschen im psychopathologischen Sinn an Ängsten oder Zwängen leiden, das heißt, wenn Situationen und situative Anforderungen nicht unter einem realistischen (intersubjektiven) Gesichtspunkt gedeutet werden können, dann kann man von einer Angst vor der Verkehrsteilnahme oder einer Verkehrsangst sprechen. Unter Verkehrsangst wird keine spezielle und neuartige Phobie verstanden, die sich neben anderen Phobien klassifizieren lässt, sondern es wird darunter die Übersetzung neurotischer psychischer Prozesse in die Handlungssituation des Straßenverkehrs und in die damit zusammenhängenden Interaktionsanforderungen verstanden. Als Krankheit gehören Angst und Zwang zu den devianten Handlungs- orientierungen. Das sind Handlungsorientierungen, die sich nicht an Erwartungen ausrichten, die auch von anderen Interaktionsteilnehmern verstanden und geteilt werden. Sie weichen von den sozialen Erwartungen ab. An den Formen der Abweichung und am Scheitern der adäquaten Ausübung von Rollen, werden die Voraussetzungen sichtbar, die erfüllt sein müssen, damit soziales Handeln möglich ist. Mit Bezug auf dieselben Voraussetzungen muss man daher auch Wege finden und Mechanismen formulieren, die kranke Personen dabei unterstützen, am sozialen Handeln teilnehmen zu können. Im Fall der vorliegenden Untersuchung ist die Teilnahme am Verkehr gemeint. Eine grundlegende Bedingung für adäquate Verkehrsteilnahme ist, dass die Ängste, die im Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme auftreten können, hinreichend kontrollierbar sind. Das gilt nicht nur für kranke Menschen, sondern auch für solche, die nach den Maßstäben der Psychiatrie für psychisch gesund gehalten werden.

136 Weber (2014, S. 1).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 53 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

4.2 Situationen in der Perspektive der Theorie sozialer Systeme

4.2.1 Rolle und Handlungsstruktur Situationen sind ganz allgemein die unmittelbaren Kontexte, in denen Personen handeln. Sie sind Orte der Verklammerung von Mitteln und Zwecken auf der einen Seite und von Handlungsbedingungen und Handlungsnormen (Ablaufs- normen und Normen der Zweckwahl) auf der anderen Seite.137 Die Situation ist eng gefasst als die raumzeitliche und biographische Lage eines Individuums. Diese Lage ist dem Individuum immer nur in der Form zugänglich, in der es die Situation interpretiert (definition of the situation).138 Das heißt, abhängig von der Interpretation der Situation werden Bedingungen hinge- nommen, Mittel ausgewählt, Normen anerkannt (oder gebrochen) und Ziele verfolgt. Wenn in eine Handlungssituation andere Handelnde mit einbezogen werden, dann kann man von einer sozialen Situation sprechen. Die Teilnahme am Straßenverkehr stellt in der Regel eine soziale Situation in diesem Sinn dar. Erving Goffman hat in einer späten Arbeit auf den situationellen (situational) Aspekt des sozialen Lebens hingewiesen, das heißt auf jene Aspekte sozialen Handelns, die nur in sozialen Situationen vorkommen:

„In this way one can move from the merely situated to the situational, that is, from what is incidentally located in social situations (and could without great change be located outside them), to what could only occur in face-to-face assemblies.“139

Die Situation darf aus dieser Sicht nicht nur als Indikator für andere Strukturphänomene der (modernen) Gesellschaft betrachtet werden, sondern sie hat ihre eigenen Regelhaftigkeiten und Anforderungen. Goffman definiert die soziale Situation in einer klassischen Arbeit mit Blick auf die Interaktionsstruktur. Diese Definition wird auch dieser Analyse zugrunde gelegt:

„A social situation may be defined (in the first instance), as any environment of mutual monitoring possibilities that lasts during the time two or more individuals find themselves in one another’s

137 Für klassische Formulierungen dieses Gedankens vergleiche Parsons (1937), Schütz (2004). 138 Thomas und Thomas (1928). 139 Goffman (1983, S. 3).

54 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

presence, and extends over the entire territory within which this mutual monitoring is possible.“140

Eine soziale Situation ist eine Umwelt (environment), die sich über eine gewisse Zeitspanne und einen bestimmten räumlichen Bereich ausdehnt. In ihr ist die wechselseitige Beobachtung des Verhaltens der anwesenden Individuen möglich, die auf Basis der Informationen, die über das Verhalten kommuniziert werden, Verhaltensabsichten verstehen und miteinander interagieren können. Die Situation ist in diesem Verständnis ein „Interaktionsforum“, in das andere in leiblicher Ko-Präsenz einbezogen werden können, indem sie sich gegenseitig über Rollen typisieren.141 Weil über die Situation der Sinn von Handlungsabsichten anderer Interaktions- teilnehmerInnen zugänglich wird, ist sie nicht bloß äußerliche Umgebung, sondern sie ist Teil der Handlungsstruktur. Gerhardt bezieht den Situationsbegriff auf die klassische soziale Systemtheorie von ,142 in der die Situation in der Weise aufgefasst werden muss, wie sie durch die Handelnden definiert wird. Es muss verstanden werden, wie „ein jeweils eigenständig durch die Individuen gewähltes Bild der Handlungskontexte“143 entworfen wird. Bei der Interpretation der Situation ist das Individuum nicht gänzlich frei, sondern es muss auf institutionelle Bedingungen Rücksicht nehmen (z.B. die Regeln der Straßenverkehrsordnung). Diese Bedingungen fungieren zugleich als interpretative (und normativ relevante) Ressourcen für die Erfassung und Bewältigung der gegebenen Situation. So kann ein(e) VerkehrsteilnehmerIn davon ausgehen, dass sich auch alle anderen VerkehrsteilnehmerInnen (abgesehen von Personen, die vom Vertrauensgrundsatz ausgeschlossen sind, wie etwa Kinder) an die Verkehrsregeln halten. Es wird unterstellt, dass sie ihre Absichten im Einklang mit den Regeln ausführen und mit den institutionalisierten Codes kommunizieren. In der Situation wird der Handelnde selbst zu einem Teil der Situation, indem er sich darstellt und indem er von anderen in dieser Darstellung wahrgenommen werden kann. Das Muster, in dem sich ein Handelnder Ausdruck gibt, ist zugleich sein Erscheinungsbild, das von anderen erkannt und anerkannt werden kann. Das Erscheinungsbild muss von und vor anderen in der Interaktionssituation gewahrt werden, damit die Interaktion gelingen kann, denn Interaktion ist nur möglich, wenn der/die ein(e) VerkehrsteilnehmerIn den/die andere(n) als in der Situation kompetent handelnd wahrnimmt. Das heißt: er/sie erscheint ihm oder

140 Goffman (1967, S. 167). 141 Gerhardt (2006, S. 430). 142 Parsons, 1951. 143 Gerhardt (2006, S. 432).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 55 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen ihr in dieser Rolle. Die Situation wird also einerseits durch die Verhaltens- darstellung und das Einräumen von Verhaltensmöglichkeiten hergestellt, in der wir die sein können, als die wir uns darstellen. Andererseits wird die Interaktion von einem typischen Muster von „Basisregeln“ gestaltet, die in einer Situation das Handeln organisieren, damit die Handelnden ihre Zwecke erreichen (können).

4.2.2 Situation als objektiver Interaktionskontext Rollen sind typische Verhaltensanforderungen und Verhaltenserwartungen, die wechselseitige Handlungsorientierung und damit Interaktion ermöglichen. Sie sind typisch, weil sie sich nicht auf Individuen, sondern auf Klassen von Personen beziehen und sie sind wechselseitig, weil Rollen immer nur in Handlungs- zusammenhängen vorkommen, in denen sie aufeinander verweisen. Ein(e) KäuferIn hat eine(n) VerkäuferIn als Gegenüber, ein Arzt/eine Ärztin ein(e) PatientIn, ein(e) SprecherIn bezieht sich auf eine(n) ZuhörerIn usw. Weil Rollen immer nur über Kontexte empirisch erfasst werden können (wie eine Gestalt immer nur vor einem Hintergrund sichtbar wird), verklammern sich auf diese Weise strukturtheoretische und handlungstheoretische Überlegungen. Die strukturtheoretische Sicht bezieht sich in der rollenanalytischen Systematik Uta Gerhardts auf die Unterscheidung von Status, Position und Situation als drei „strukturelle Kontexte“ von Rollen und Rollensettings, zu denen wir in unseren verschiedenen Lebenszusammenhängen Zugang haben.144 Dabei ist die Situation der am wenigsten bestimmte Kontext, der aber auch die geringste Reichweite beansprucht. Die Rolle des Verkehrsteilnehmers/der Verkehrs- teilnehmerin kann leicht eingenommen und ebenso leicht und schnell wieder verlassen werden. Positionen sind Kontexte mittlerer Reichweite, die in der Regel die beruflichen Rollen meinen. Sie haben über längeren Zeitraum Geltung, sind aber auch an klare Begrenzungen (z.B. die Arbeitszeit) geknüpft. In der modernen Gesellschaft legen Positionsrollen (Berufsrollen) sehr häufig, aber nicht ausschließlich, den sozialen Status fest. Status ist jener Kontext, der uns am weitreichendsten definiert und der daher situationsübergreifend Geltung beansprucht.145 Wenn ein Arzt/eine Ärztin ohne erkennbare Arbeitskleidung eine Straße hinuntergeht, befindet er/sie sich meist nicht in der Rolle des Arztes/der Ärztin, weil die mit der ÄrztInnenrolle verbundenen Eigenschaften und Verhaltenserwartungen weder erkannt noch kommuniziert werden. Sie sind im Kontext der Situationsrolle als VerkehrsteilnehmerIn nicht relevant. FußgängerInnen, RadfahrerInnen oder AutofahrerInnen, die ihm/ihr begegnen, nehmen sein/ihr Verhalten nur insofern

144 Gerhardt (1971). 145 Gerhardt (1971, S. 255).

56 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen wahr, als es den Anforderungen des Aneinander-Vorbeikommens dienlich ist. Innerhalb eines Krankenhauses und durch das Tragen entsprechender Anstaltskleidung ist Rollenhandeln im Kontext der Position wesentlich chancen- reicher. Wenn eine offensichtlich gehbehinderte Person einen U-Bahn-Waggon betritt, ist sie nicht nur als VerkehrsteilnehmerIn, sondern auch in ihrem Status als behinderte Person bestimmt (und manchmal stigmatisiert) und hat z.B. Anrecht auf einen Sitzplatz. Die Eigenständigkeit des Interaktionssystems, das im Straßenverkehr institutionalisiert ist, beruht auf der von Goffman entdeckten Interaktions- ordnung. Rollen, so die These, müssen als Teil der mit der Situation gegebenen Ordnung begriffen werden.146 Auf Basis dieser Ordnung entwickelt sich ein soziales System, das ist ein System wechselweise aufeinander ver- weisender Rollen, dessen sinnhafte (institutionelle) Ordnung den Teilneh- merInnen verständlich ist und die unter der Voraussetzung ent-sprechender Sozialisation als verbindlich anerkannt wird. Rollen sind daher objektiver Bestandteil einer sozialen Situation; sie können von den handelnden Personen abgelöst und generalisiert werden:

„Als soziale Situation (bezeichne ich) einen raum-zeitlich strukturierten und von einem Horizont von Mitgegebenheiten begrenzten Komplex von objektiven Bestimmungen eines sozialen Beziehungsgefüges, soweit und insofern sie dem handelnden Subjekt in einem aktuell sich vollziehenden Verhalten gegeben sind. Der Situationsbegriff bezieht sich also auf die Art und Weise, in der dem handelnden Individuum die objektiven Bestimmungen eines sozialen Beziehungsgefüges subjektiv gegeben sind.“147

Was in einer Situation als Mitgegebenheit aufgefasst wird und was als Bestimmungen eines sozialen Beziehungsgefüges aufgefasst wird, ist eine interpretative Leistung der Handelnden, die sich aus der Organisation des Feldes der Wahrnehmungen und der Handlungen ergibt. Die Situation muss demnach, so Gerhardt, das objektive Beziehungsgefüge meinen, wenn die Voraussetzung gelten soll, dass zwei AkteurInnen an derselben Situation teilnehmen können. Dann gilt auch der kommunikations- theoretische Ansatz der wechselseitigen Bezugnahme von SenderIn und EmpfängerIn, die nur unter der Voraussetzung einer bereits integrierten und

146 Gerhardt (1971, S. 230). 147 Dreitzel (1968), in Gerhardt (1971, S. 230).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 57 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen konstituierten Situation aufeinander abgestimmt und gegeneinander vertausch- bar sind:

„Wenn Rollensender und Rollenempfänger derselben Situation angehören, dann kann es sich dabei nicht um eine durch Interpretation der Subjekte entstandene Situation handeln – denn eine solche würde gerade individuelle Nuancierungen auf Seiten der Rollensender und Rollenempfänger aufweisen, die gewisse Aspektverschiebungen für die handelnden Partner mit sich brächten. Rollen, dies ist aus Dreitzels Ausführungen zu entnehmen, beziehen sich nicht auf die Situation als Erlebniszusammenhang. Rollen sind selbst Teil des subjektiven als Situation erlebten Interpretationszusammenhangs.“148

Rollen im Sinne kristallisierter und institutionalisierter Verhaltens- erwartungen sind also ein Teil der Situation. Sie lassen sich als geteilte Sinnstrukturen begreifen, mit deren Hilfe das Handeln anderer Interaktions- teilnehmerInnen interpretiert werden kann. Situation ist in dieser Bestimmung eine objektiv gegebene Wirklichkeit, die zwei Handelnden in den Perspektiven unterschiedlicher Rollen zugänglich wird. Über die Situationsrolle wird eine Stelle eingenommen, von der aus sich die Situation als geordnetes Handlungsgefüge zeigt. Man kann sich mit anderen Worten in die Lage eines Verkehrs- teilnehmers/einer Verkehrsteilnehmerin versetzen und versteht dessen/ihr Handeln im Nachvollzug der mit dieser Position verbundenen Erwartungen. Situationen lassen sich nun genauer als Gegebenheiten, die die Handelnden vorfinden, und Gelegenheiten, an die sie Handlungen anschließen können, verstehen. Sie sind raumzeitlich umgrenzt nach Ort und Dauer. Entlang einer konventionellen Unterscheidung im Alltag zwischen physischen und sozialen Objekten umfassen Situationen Person-Dimensionen und Sach-Dimensionen. Personen sind insofern Bestandteil von Situationen als sie Merkmals- bzw. Rollenträger sind. Ihnen werden dieselben Wahrnehmungs- und Handlungs- fähigkeiten zugesprochen, wie dem eigenen Ich. Die dingliche Komponente umfasst die Resultate menschlicher Tätigkeit, sowohl materiell (Objektivationen) als auch symbolisch (Zeichen, Symbole) und auch die baulichen und stofflichen Strukturen der Situation.149

148 Gerhardt (1971, S. 230). 149 Gerhardt (1971, S. 231).

58 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

4.3 Zwei Raumkonzepte, zwei Zustände

4.3.1 Umwelt und Territorium: Zwei soziologische Raumkonzepte In seinem Buch Relations in Public arbeitet Goffman die Bedingungen sozialer Ordnung in Form von sich wiederholenden Musterbildungen der Handelnden im öffentlichen Raum heraus. Den Raum selbst leitet er von zwei (zunächst) innerhalb der Biologie ausgearbeiteten Konzepten ab: vom Konzept der Umwelt und vom Konzept des Territoriums. Den Begriff der Umwelt entlehnt Goffman explizit aus der Arbeit Jakob von Uexkülls.150 Mit Umwelt ist ein semantisches Schema von Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umgebung gemeint, das aus Merkzeichen und Wirkzeichen besteht. Merkzeichen sind aus der Umwelt gelesene Informationen, die bestimmte Reaktionen des Lebewesens veranlassen. Wirkzeichen sind Signale, die das Lebewesen an die Umwelt sendet.

4.3.2 Gelassenheit und Alarmierung: Zwei grundlegende Modi der Aktivität Nachdem Goffman mit der Umwelt ein aus der Verhaltensbiologie entlehntes Raumkonzept soziologisch adaptiert hat, weist er auf zwei grundlegende Aktivitätsmodi (basic modes of activity) hin:

„They go about their business grazing, gazing, mothering, digesting, building, resting, playing, placidly attending to easily managed matters at hand. Or, fully mobilized, a fury of intent, alarmed, they get ready to attack or to stalk or to flee.“151

Den einen Aktivitätsmodus kann man als Gelassenheit bezeichnen, den anderen als Alarmierung. Diese beiden Aktivitätsmodi lassen sich auch für das soziale Handeln in menschlichen Interaktionssystemen (z.B. im Straßenverkehr) beschreiben. Damit greift Goffman einen grundlegenden Gedanken der modernen Handlungstheorie auf: Soziales Handeln, also Handeln, das sich an andere richtet und darin in seinem Ablauf orientiert ist,152 kann unter einem doppelten Gesichtspunkt betrachtet werden. (1) Interaktionsprozesse können in der modernen Gesellschaft und insbesondere im Straßenverkehr im Zeichen (rationaler) Planbarkeit, wechselseitiger Orien- tierung und dem Vertrauen in die Erreichbarkeit eigener Handlungsziele – auch

150 Uexküll und Kriszat (1956), Goffman (1971, S. 252). 151 Goffman (1971, S. 238). 152 Weber (2014, S. 1).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 59 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen gemeinsam mit anderen oder unter Berücksichtigung anderer – ablaufen. Die Strukturen, auf denen diese Prozesse beruhen, nennt die Soziologie intergiert. Wenn die anderen Handelnden als berechenbar, ungefährlich und harmlos eingestuft worden sind, dann kann man diesen Handelnden gegenüber auch gelassen sein. (2) Diese Prozesse können aber auch unter ganz anderen Bedingungen, im Zeichen der Verunsicherung ablaufen. Die Handelnden glauben dann, dass sie den willkürlichen Akten ihrer InteraktionspartnerInnen und den unbeherrschbaren Gewalten der Situation ausgeliefert sind. In der Soziologie wird Handeln unter diesen Bedingungen mit dem Begriff der Ordnungslosigkeit (Anomie) erfasst.153 Rituelle Beschwichtigung und das Vertrauen in überirdische Mächte oder auch panikartige Flucht aus der Situation sind Weisen des Umgangs mit unberechenbaren, ungewohnten, unheimlichen Vorgängen. In ihnen scheint die Gesetzmäßigkeit einer Ordnung außer Kraft gesetzt. Goffman hat die zwei basalen Aktivitätsmodi des integrierten (sicheren) und des verunsicherten sozialen Handelns auf Interaktionssituationen in räumlichen Settings unter Bedingungen leiblicher Kopräsenz übertragen.154 Goffman findet die Tatsache, dass Verhaltensstrukturen unter einem doppelten Gesichtspunkt betrachtet werden können, in der biologischen Verhaltens- forschung vorgebildet. Im Falle menschlicher Organismen wird dieses Verhalten jedoch als sinnhaftes Handeln interpretiert und es stellt sich für Goffman die Frage, unter welchen Voraussetzungen die eigenen Handlungen und die Handlungen anderer einen Sinn konstituieren, der sie als sicher gelten lässt, bzw. unter welchen Bedingungen Handlungen als unsicher interpretiert werden.155 Das Problem der Aufmerksamkeit gegenüber der Umwelt wird unter diesem Gesichtspunkt in einem allgemeinen, funktionalen Schema bearbeitet: Einerseits sind Handelnde gegenüber Gefahrenzeichen aus der Umwelt empfindlich. Ohne diese Empfindlichkeit könnten sie nicht rasch genug auf Gefahren reagieren und sich in Sicherheit bringen. Andererseits dürfen sie nicht jedem Zeichen nachgeben, weil sie dann mit nichts Anderem beschäftigt wären und alle anderen Bedürfnisse und Erfordernisse des Handelns zu kurz kämen. Es ist so ähnlich wie bei Alarmanlagen: Sind sie zu empfindlich eingestellt, gibt es pausenlos Fehlalarme. Sind sie zu unempfindlich eingestellt, reagieren sie auch im Ernstfall nicht.

153 Parsons (1937). 154 Zur handlungstheoretischen Begründung dieser Unterscheidung, siehe: Parsons (1937), Gerhardt (2002, 2011). 155 Goffman (1971, S. 238).

60 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Die richtige Einstellung der „Alarmierungsempfindlichkeit“ eines Individuums hängt von der Situation ab und kann als ein Teil der Situationsdefinition begriffen werden. Wie in allen anderen Handlungssystemen müssen die TeilnehmerInnen am Straßenverkehr lernen, sichere von unsicheren Situationen zu unterscheiden und die Zeichen für Gefahr oder für Unbedenklichkeit in sehr kurzer Zeit realistisch und angemessen zu interpretieren. Wenn sich beispielsweise eine Person auf einem Gehsteig einer anderen Person nähert, dann wird diese Tatsache lange Zeit überhaupt nicht beachtet. Erst wenn eine bestimmte Distanz unterschritten wird, überprüfen die FußgängerInnen kurz, ob eine mögliche Kollision mit dem Gegenüber bevorsteht oder nicht. Diese Überprüfungsroutine dauert nur Bruchteile von Sekunden. Im optimalen Fall versichern sich beide VerkehrsteilnehmerInnen, dass sie vom je anderen wahrgenommen und im eingeschlagenen Kurs berücksichtigt wurden. Wenn diese Überprüfungsroutine abgeschlossen ist, wird die „Alarmanlage“ wieder in den Hintergrund gestellt und läuft auf Bereitschaft.

4.3.3 Gelassenheit und Alarmierung in der Umwelt

4.3.3.1 Das normale Erscheinungsbild Alltagssituationen in modernen Gesellschaften können hektisch und turbulent sein; zahlreiche Aktivitäten treffen aufeinander, überschneiden und überlagern einander. Dennoch lassen sich die Menschen davon nicht so leicht irritieren. Wie bereits dargestellt vergewissern sie sich mit sehr kurzen Überprüfungsroutinen, dass alles „in Ordnung“ ist und schieben einen Großteil dessen, was sich in einer Situation abspielt, in den Hintergrund, um auf eine bestimmte Tätigkeit zu fokussieren, die gerade die Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Man kann sich eine Person, die eine belebte Fußgängerzone durchquert und dabei Buch liest, als Beispiel vorstellen. Sie vertraut darauf, dass sie von herannahenden PassantInnen gesehen wird, dass diese keine bösen Absichten verfolgen usw. In der Regel wird auch darauf vertraut, dass Personen, die sich hinter jemandem befinden, keine unberechenbaren, gefährlichen Aktionen setzen. Dass das Feld hinter dem Rücken als ungefährlich interpretiert wird, selbst wenn sich viele fremde Menschen hinter einem befinden, spricht für eine hoch integrierte Gesellschaft, in der die Fähigkeit, eine große Bandbreite an Alltagssituation als sicher zu interpretieren, auf breiter Basis vorausgesetzt wird. Den Maßstab für die Einschätzung einer Situation als unproblematisch nennt Goffman normales Erscheinungsbild (normal appearance). Das normale Erscheinungsbild ist eine sozial geteilte Vorstellung von einer Situation, der man die Eigenschaft des „Ablaufs wie üblich“ zuspricht. Weil Normalität auf sozial

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 61 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen geteilten Soll-Vorstellungen beruht, kann dieses Bild nicht individuell begründet sein. Unter Bedingungen eines normalen Erscheinungsbildes kann ein Individuum ohne weiter darüber nachzudenken seinen gewohnten Dingen (routines) nachgehen. Die Aufmerksamkeit gegenüber möglichen Gefährdungen wird an die Peripherie der Wahrnehmung verlagert. Es genügen sehr kurze Kontroll- phasen, um auftretende Irritationen zu bewerten und – in den meisten Fällen – als Teil des normalen Erscheinungsbildes einzuordnen. Unter Bedingungen normaler Erscheinung fühlt sich ein Individuum sicher (safe):

„For the individual, then, normal appearances mean that it is safe and sound to continue on with the activity at hand with only peripheral attention given to checking up on the stability of the environment. Wariness is handled as a side-involvement, the human animal might say that he can ‘take things at face value,’ the unstated implication being that he can predict from what he sees what it is that is likely to come about, and this is not alarming.“156

Was Goffman hier beschreibt, lässt sich auch mit dem Gefühl in Verbindungen bringen, dass man eine Situation unter Kontrolle hat. Das heißt, die Dinge bewegen sich im Rahmen berechenbarer Bahnen und sie bedeuten auch das, als was sie sich zeigen. Wenn die Bestandteile der Situation überwiegend sozialer Art sind (andere Handelnde), dann kann man von einem integrierten sozialen System sprechen. Ein soziales System ist ein dauerhafter, über Rollen organisierter (institutionalisierter) Handlungszusammenhang. Für ein solches System sind wechselseitige Orientierung, gemeinsame (normativen) Wertvor- stellungen und die Sicherheit, dass die InteraktionspartnerInnen im Rahmen der durch Wertvorstellungen verbürgten Verhaltensweisen bleiben, Voraus- setzungen: Die handelnde Person, die als Bezugspunkt gewählt wird, ist in dem berechtigten Glauben, dass auch die InteraktionspartnerInnen Versprechen und Verträge halten oder dass sie tun, was sie ankündigen. Die Fähigkeit, eine Situation als normales Erscheinungsbild zu interpretieren, ist ein Teil der normativen Muster und der Interpretationsschemata, mit denen in Situationen gehandelt wird. Sie ist eine Voraussetzung, damit Menschen ihren anderen Rollenanforderungen nachkommen können, die an sie im Alltag gestellt werden. Damit wird die Fähigkeit zur Konstitution einer normalen Erscheinung eine Anforderung zur adäquaten Rollenausübung. Was zum normalen Erscheinungsbild gehört und was nicht, ist allerdings vom Handlungskontext

156 Goffman (1971, S. 239).

62 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen abhängig. Die defekte Leiter an einer Hauswand ist für den/die PassantIn ein Dekorationselement, von dem nichts Bedrohliches ausgeht. Für den/die FassadenreinigerIn ist sie eine Gefahrenquelle; er oder sie kann sich bei Gebrauch verletzen. Beim normalen Erscheinungsbild geht es nicht direkt um Erwartungen oder um die Risiken und Möglichkeiten, die eine Situation enthält. Sondern es geht darum, dass ein Individuum die Eigenschaften einer Situation insgesamt für hinreichend unbedenklich hält, damit die Aufmerksamkeit davon abgezogen werden kann. Ist eine Situation als unbedenklich klassifiziert, kann in ihrem Rahmen allen möglichen anderen Aufgaben nachgegangen werden. Man kann sagen, dass im Glauben an die Normalität der Situation die Voraussetzungen für das Ausführen der eigenen Handlungsentwürfe in einer spezifischen Situation einfach hinge- nommen werden (können). Sie werden nicht selbst zum Gegenstand der Handlung. Während beispielsweise ein(e) PolizistIn die Rahmenbedingungen seiner/ihrer Rolle als geltend voraussetzen kann, muss ein(e) BetrügerIn (ein(e) falsche(r) PolizistIn) dauernd aufpassen und kontrollieren, dass seine/ihre Tarnung nicht auffliegt. Diese permanente Kontrolle der Situationsdefinition durch den/die andere(n) (hat er/sie mich durchschaut oder nicht) erfordert Aufmerksamkeit gegenüber möglichen Zeichen, die sein/ihr Erscheinungsbild in Frage stellen. InteraktionspartnerInnen müssen darüber hinaus von jenen Situationselementen, die das normale Erscheinungsbild in Frage stellen können, abgelenkt werden. Dazu ist es hilfreich, sie in Probleme zu verwickeln und ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, sodass sie nicht auf die Idee kommen, den Kontext selbst in Frage zu stellen. So kann die Konfrontation mit einer hohen Strafe Stress auslösen, was zusätzlich die Aufmerksamkeit gegenüber den Rahmenbedingungen schwächt.157 Die normalen Erscheinungen haben auch eine moralische Dimension. Individuen glauben an ein moralisches Recht auf Normalität. In den meisten Fällen glauben sie auch daran, dass plötzliche Störungen keine Bedrohung darstellen, sondern lediglich von anderen zugelassene Ausnahmen sind, die auch bald wieder verschwinden werden. Goffman kennt drei Arten von Erscheinungsbildern: das typische, das normale und das angemessene Erscheinungsbild. Beim normalen Erscheinungsbild (dessen Gegensatz ist eine Anomalie) liegt der Fokus auf der Bedrohung oder Gefahr, die von einer Unregelmäßigkeit ausgehen kann. Hier liegt die Unterscheidung von normalem und typischem Erscheinungsbild. Untypische Situationen können normal sein, also keinerlei Bedrohlichkeit ausstrahlen. Das angemessene Erscheinungsbild legt in einem normativen Sinn fest, wie etwas

157 Für eine eingehende Diskussion solcher Prozesse vergleiche Burgard und Schlembach (2013).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 63 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen auszusehen hat. Das Tragen von Anzügen ist für einen Ball oder für die Teilnahme an einer Reifeprüfung angemessen. Auf Beerdigungen sind Anzüge typisch. Dunkle, geschlossene Bekleidung wird aus Gründen des Respekts und des Takts gegenüber dem oder der Verstorbenen empfohlen.158 Mit Bezug auf Personen und mit Blick auf integrierte Situationen fallen diese drei Begriffe des Erscheinungsbildes zusammen: das normale, das typische und das angemessene Erscheinungsbild. Die Koinzidenz dieser drei Erscheinungsformen ist das Ergebnis sozialer Prozesse und darf nicht einfach vorausgesetzt werden. Die angemessene Erscheinung ist ein normatives Element, über das soziale Kontrolle ausgeübt wird. VerkäuferInnen in einem Kaufhaus, LehrerInnen oder PolizistInnen stellen in der Regel die Angemessenheit des Verhaltens anderer sicher und sanktionieren Abweichungen. Unangemessenes Verhalten von Personen, mit denen man sich in derselben Situation befindet, kann ein Alarmzeichen sein, auch wenn es keine unmittelbare Bedrohung darstellt. Auf diese Weise werden die beiläufigen und konventionellen Formen der Höflichkeit und des taktvollen Verhaltens als eine Art Frühwarnsystem benutzt. Vor allem wird registriert, wenn diese Zeichen ausbleiben. Die Abwesenheit eines erwarteten Signals ist aus kommunikations- und handlungstheoretischer Sicht ebenso ein Signal. Goffman unterscheidet hinsichtlich der Bereitschaft, auf Alarmzeichen zu reagieren, drei aus der Ethologie abgeleitete Verhaltenskategorien: (1) Fluchttierartiges Verhalten (deer-like), wo man stets in Alarmbereitschaft versetzt ist, (2) träges fluchtartiges Verhalten (cow-like), das schwierig zu mobilisieren ist, und (3) überlegene Ruhe (lion-like), die sich gegenüber AngreiferInnen relativ unbeeindruckt zeigt.159 Ein Warnsystem – auch in Form individueller Situationseinschätzung – muss über eine gewisse Fehlertoleranz verfügen. In dem Maß wie frühe und flüchtige Warnzeichen erfasst werden können, wird ein Meldesystem auch von falschen Zeichen aktiviert. Dann ist für den/die BenutzerIn des Meldesystems wichtig, schnell und richtig die relevanten Signale von den „falschen Alarmen“ zu unterscheiden. Es handelt sich dabei um „a difference in capacity to respond to alarming signs effectively with a minimum of disturbance to routine.“160 Dazu gehört der kompetente Umgang mit Notfällen, aber auch:

„the quick discounting of false alarms; the capacity to deal effectively with events after having allowed them to develop a

158 Wiener Bestattung (2009). 159 Goffman (1971, S. 243). 160 Goffman (1971, S. 243).

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little further than others safely can; a nose for minute cues that others miss, leading to an earlier than usual awareness of something being up, thus allowing a longer than usual time to cope before it is too late.“161

Derartige Fähigkeiten sind ein Zeichen von Erfahrung, die manchmal mit professioneller Berufsausübung zusammenhängt. Goffman nennt den/die EinbrecherIn, der/die am Tatort bleibt, bis er/sie die herannahende Polizei wahrnimmt oder den Polizisten/die Polizistin, der/die Zeichen dechiffrieren kann, die einem Laien verborgen bleiben. Damit soll gezeigt werden, dass das Spektrum kybernetischer Kontrolle über Alarmzeichen auch unter Bedingungen realistischer Handlungsorientierung und Situationseinschätzung groß ist. Die Verschiedenheit hinsichtlich der Situationsmerkmale, die Alarmzeichen auslösen und die notwendige Intensität der Zeichen variieren und sind Angelegenheit empirischer Untersuchung. Wie bereits angedeutet ist in der vorliegenden Studie der Fall interessant, wenn die individuellen Kontrollmechanismen zu scharf eingestellt sind und die Alarmauslöser zu einem echten Handlungsproblem werden, weil sie keine sichere Teilnahme an Handlungssituationen erlauben, sondern die Person von einer Teilnahme nahezu ausschließen. Sie ist ständig in Alarmbereitschaft versetzt und hat daher keine kognitiven Kapazitäten frei, um situationsrelevanten Aktivitäten nachzugehen. Eine Angststörung lässt sich unter diesem Gesichtspunkt als viel zu empfindlich eingestelltes Alarmsystem begreifen. Richtig eingestellt erfüllt Angst im Zusammenhang mit einem Alarmsystem eine Funktion und man kann von einer Funktionsstörung sprechen. Da Menschen keine technischen Systeme darstellen, wird hier allerdings nicht von Funktionsstörungen, sondern von Erkrankungen gesprochen.

4.3.3.2 Zustände der Alarmierung: Die Verletzbarkeit der Normalität Was passiert, wenn ein Individuum das normale Erscheinungsbild nicht als das ansieht, als was es sich zeigt, sondern als etwas höchst Beunruhigendes, Gefährliches, eine Fassade, die jeden Moment zusammenbrechen könnte? In diesem Zustand interpretiert ein Individuum die Merkmale der Umwelt im Sinne der Inkohärenz zwischen Merkmalen und den mit ihnen verbundenen Ereignissen. Wie ein(e) skeptische(r) PhilosophIn oder ein(e) argwöhnische(r) PolizistIn wird das Individuum vom ständigen Täuschungsverdacht heimgesucht. Es zweifelt an der Gewissheit, dass die Merkmale auch wirklich eine Information vermitteln, die zu richtigen Schlüssen und Entscheidungen führt. Eine solche

161 Ebd.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 65 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Person vertraut nicht den lächelnden Gesichtern der PassantInnen, sondern fühlt sich bedroht und sorgt sich um seine Gesundheit oder die Sicherheit anderer. Im Alarmzustand werden bestimmte Relevanzkriterien für die Interpretation der Situation als sicher außer Kraft gesetzt; verschiedene Klassen von Merkmalen, die unter Bedingungen des kompetenten Umgangs mit einer Situation in ihrer Bedeutung eingeschätzt und eingestuft werden können, werden als gleich wichtig erachtet: alles bedeutet potentielle Gefahr. Ein solches Individuum befindet sich im Modus der Unsicherheit. Goffman hat diese Verunsicherung vor allem durch die Tätigkeit von SaboteurInnen seit dem 2. Weltkrieg thematisiert. Der/die SaboteurIn, aber auch der/die GeheimagentIn, macht sich den Anschein der Normalität zunutze, um einem/einer GegnerIn Schaden zuzufügen. Dieser Umstand stellt den/die VerteidigerIn eines Raums vor das Problem, nicht mehr zwischen FreundIn und FeindIn unterscheiden zu können und damit alle als potentielle FeindInnen zu behandeln. Jeder kennt die langen Warteschlangen auf Flughäfen vor den Sicherheitschecks. Alle Passagiere werden als potenzielle Gefahrenquellen betrachtet und erst über eine Überprüfungshandlung wird der Generalverdacht für jede einzelne Person aufgehoben. Die Effektivität des Saboteurs/der Saboteurin liegt nicht nur in seiner zerstörerischen Kunstfertigkeit, sondern vor allem daran, dass er/sie den Alarmzustand verallgemeinert. Es gelingt den Handelnden dann nicht mehr, ohne Einführung zusätzlicher Schutzmechanismen, ein normales Erscheinungsbild zu konstituieren, um ihren Geschäften nachgehen zu können. Ständiges Scannen der Umwelt nach Alarmzeichen ist die Folge. Jede Kleinigkeit kann der Vorbote eines größeren Unheils sein:

„In this manner we are to understand that acts of sabotage tend to have two effects upon the enemy: one substantive, in terms of the essentials destroyed, and the other ‚psychological,‘ in terms of the effect on morale when the sabotage is discovered and suspicion is generalized to a whole class of familiar objects, now to be seen as no longer disattendable, with consequent generalization of alarm.“162

Alarmzustände können durch äußere Einflüsse entstehen und eine ganze Gesellschaft betreffen. Sie können aber auch die Angelegenheit von Individuen sein, denen es nicht gelingt ein normales Erscheinungsbild zu konstituieren, weil ihr „Gefahrenmeldesystem“ zu sensibel eingestellt ist, wie weiter oben bereits angedeutet wurde. Von hier aus lässt sich eine Brücke zur Krankheit schlagen.

162 Goffman (1971, S. 284).

66 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Ein Modell der Krankheit – dieser Gedanke wird im nächsten Abschnitt noch genauer dargestellt – geht davon aus, dass Krankheit den Verlust der Fähigkeit meint, Anforderungen von Rollen in Beruf und Alltag gerecht zu werden. Die Fähigkeit zur Kontrolle der Situation durch ihre hinreichende Bewertung als Normalzustand und durch die Konstitution eines normalen Erscheinungsbildes, ist eine Anforderung, die das soziale Handeln im Alltag an uns stellt. Alltagshandeln, insbesondere die Verkehrsteilnahme, ist über situative Rollen organisiert. Das adäquate Ausüben von Situationsrollen kann aus physiologischen Gründen erschwert sein, etwa aufgrund einer Verletzung oder starker Schmerzen. Darüber hinaus kann die Beeinträchtigung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten die adäquate Rollenausübung erschweren. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich eine Angststörung als Zustand beschreiben, in dem die Fähigkeit, die Situation im Rahmen einer normalen Erscheinung zu interpretieren, geschwächt ist. Plötzlich wird alles (jedenfalls zu vieles) zum Alarmzeichen, das die ganze Aufmerksamkeit eines Individuums verlangt. Nach einer kurzen Bewertung wird ein Ereignis nicht wieder in den Hintergrund entlassen, sondern es werden alle möglichen Gedanken daran geknüpft, die es zum Zeichen dafür machen, dass nicht alles in Ordnung ist, dass das Individuum in Gefahr ist. Unter einem kybernetischen Gesichtspunkt kann man vom Umschlagen eines Regelkreises in einen Teufelskreis sprechen: Der Regelmechanismus, der ein Alarmzeichen nach kurzer Situationsüberprüfung (meist) wieder mit der normalen Erscheinung integriert (negative Feedbackschleife), wird unter solchen Bedingungen durch eine positive Feedbackschleife ersetzt. Unter dieser Bedingung hat ein Individuum die Kontrolle über eine realistische Interpretation der Situation (nahezu) verloren. Dann werden therapeutische Eingriffe notwendig, um die Kluft zwischen der individuellen Situationsdefinition und der Situationsdefinition, die sich an geteilten Vorstellungen über normale Erschei- nungsbilder orientiert, wieder zu schließen. Um die Gefährdungen der öffentlichen Ordnung unter räumlichem Gesichtspunkt und im Rahmen des normalen Erscheinungsbildes der öffentlichen Ordnung darstellen zu können, hat Goffman eine Reihe von Kategorien entwickelt, die hier noch kurz vorgestellt werden:163 Eingerichtete Rahmen (furnished frames). Im Grunde meint dieses Konzept die Vorstrukturiertheit der Umwelt, die sich AkteurInnen aneignen und die sie nutzen können. Der Mensch hält sich meist in begrenzten und ausgestatteten Räumen auf:

163 Goffman (1971, S. 284–309). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diesen Abschnitt.

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„Typically, there will be material items of various kinds in these semi or full enclosures: mailboxes, parked cars, and the like in streets; furniture, furnishing, and food in domestic places. In brief, the individual spends his time in a furnished or physical frame.“164

Goffman unterscheidet beim furnished frame eine Innenseite und eine Außenseite. Für die Innenseite gilt, dass die AkteurInnen Kontrolle über die in diesem Raum erwartbaren Phänomene haben. Der ausgestattete Raum bietet Erwartungssicherheit. Menschen können darin von einem Normalzustand ausgehen. Sie sind Hintergründe für Routineaktivitäten.

„For one is assumed that for users possessing the expected range of competencies, these materials will be free of hazard, that is, free of appreciable risk of bodily harm caused by unintentional and unplanned faults, these resulting, say, from bad or incomplete construction, seepage of gas, exposed electric lines, rats, naturally poisoned food, fire, and so forth.“165

Furnished frames sind mit bestimmten Alarmzuständen verbunden und sie sind auch damit verbunden, in InteraktionspartnerInnen (z.B. in PolizistInnen) bestimmte Alarmzustände hervorzurufen, wenn man in ihnen ein bestimmtes Verhalten zeigt oder zu verbergen sucht. Goffman meint, dass es bei Kindern manchmal schwer ist, diese zur Akzeptanz eines physischen Rahmens zu überreden, der als Hintergrund für ihre Aktivitäten im Sinne eines Selbstverständnisses dient. Anhand der Sabotageliteratur seit dem 2. Weltkrieg zeigt er die neuen Formen der Verunsicherung, die sich daraus ergeben, dass AkteurInnen diejenigen Konstitutionsbedingungen der Umwelt nutzen, die von den normalen NutzerInnen nicht beachtet werden und die auch als nicht beachtenswert interpretiert werden. Die Hinterhaltslinie (lurk line). Das ist die Linie, an der sich andere der Wahrnehmung durch ein Subjekt entziehen: Der Rücken des Menschen, offene Türen, dunkle Ecken, die sich dem Blick entziehen und wo mögliche AngreiferInnen lauern können. Goffman kennt drei Klassen solcher Linien bzw. Felder:  das Feld hinter dem Rücken  das Feld hinter Raumteilern (Türen, Wänden)  das Feld jenseits der Dunkelheit.

164 Goffman (1971, S. 285). 165 Ebd.

68 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Die Vermeidung solcher Hinterhaltslinien gehört zu den wichtigsten Gestal- tungsprinzipien der Architektur unter dem Gesichtspunkt von Sicherheit. Das Gefühl, den Raum zwischen der eigenen Position in einer Wohnanlage und einer Eingangstür nicht überblicken zu können, kann beunruhigend wirken. Dabei dürfen potenzielle AngreiferInnen nicht die Möglichkeit haben, den Hinterhalt so nahe an einem Opfer zu legen, dass dieses nicht mehr fliehen kann. Anhand der Analyse von Anschlägen bzw. ihrer Abwehr, lassen sich zwei extreme Formen des Hinterhalts ausmachen, woraus sich zwei Probleme ergeben:  das Problem des Wachpostens (sentry problem) und  das Problem des/der HeckenschützIn (sniper problem). Den Wachposten kann man Ausschalten, bevor dieser Alarm geben kann, indem man sich an ihn heranschleicht und ihn außer Gefecht setzt. Dafür muss man die Felder des Hinterhalts beachten. Der/die HeckenschützIn verwandelt den unbeachteten räumlichen Hintergrund in einen alarmierenden Raum. Ein Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das PassantInnen im Normalzustand nicht beachten würden, wird so zu einer Gefahrenquelle. Die Hinterhaltslinien können also zur Überwindung der Distanz zu einem/einer GegnerIn genutzt werden. Sie können aber auch zur Verwandlung der Distanz in einen schwer zu durchquerenden Raum verwendet werden. Anschleichen ist ein Umwelt- Problem. Es betrifft in der Regel Menschen, die einander fremd sind. An Vertraute und Bekannte braucht man sich meistens nicht anzuschleichen, es sei denn, man möchte sie erschrecken. 1. Zutrittsstellen (access points). Jede räumliche Struktur, in der soziales Leben möglich sein soll, bietet anderen Personen Möglichkeiten des Zugangs. Umgekehrt können Zugänge auch kontrolliert werden.

„Access Points: Every Umwelt, howsoever closed off by walls, necessarily has points of routine access and impingement. Houses have front and back doors, ground-level windows, and often telephones. Apartment buildings have front lobbies. On the street, the individual will be conversationally accessible to strangers by virtue of request-for-an-audience signals which he is under some obligation to honor.“166

2. Das soziale Netz (social net). Beim sozialen Netz steht die Informationsseite der Umwelt im Vordergrund. Der Zugang zu Informationen in der Umwelt ermöglicht es einem/einer AkteurIn, Entscheidungen zu treffen. Sie bezieht

166 Goffman (1971, S. 300).

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sich damit im Grunde auf den Sicherheitsmodus der Gewissheit. Gewissheit, so kann man umgekehrt formulieren, manifestiert sich räumlich im Zugang zu Informationen, die wiederum zu Merkmalen für die Unterscheidung von Normalzustand und Alarmzustand werden können. Viele Lebewesen verfügen über Techniken des Tarnens und Täuschens, um Informationen abzuschirmen oder Fehlinformationen zu geben. Das soziale Netz versteht Goffman daher nicht in erster Linie als Netzwerk, sondern als die Umwelt, sofern sie sich als Gruppe von Personen darstellt.

„Now it appears that when an individual is present with others he assumes that a supply of social information will be available to him and that this will be adequate to allow him to judge whether or not he should be alarmed because of the set of persons in his immediate view – his 'social net.' Further, he anticipates that this source of information will enable him to act so as to avoid producing incidents which might themselves be alarming. And it seems to be a fact of social life that social information adequate in these terms is supplied him. What the individual needs in order to orient himself effectively to those around him he usually acquires, and he acquires it from them.

For the individual, then, it is the expectations regarding available social information that serve to limit the dangers contained in the social net around him, and typically it is these expectations which must be breached if his social net is to become a danger to him.“167

Grundsätzlich möchte Goffman darauf hinweisen, dass öffentliches Leben nur „funktioniert“, wenn Individuen sich gegenseitig als Hintergrund für ihre Routineaktivitäten nutzen können und nicht ständig in den Alarmzustand verfallen müssen. Das entscheidende Merkmal für die Verletzbarkeit öffentlicher Ordnung ist also Vertrauen in die Erwartbarkeit, Interpretierbarkeit und Harmlosigkeit des Verhaltens der jeweils anderen, die einander unter Bedingungen der modernen Massengesellschaft meistens nicht kennen. Doch nehmen sie gegenseitig voneinander an, dass sie Normen kennen, diese als verbindlich erachten und einhalten und dieselben Interessen am guten Gelingen des öffentlichen Lebens haben, unabhängig davon, welche Intentionen sie sonst noch verfolgen.

167 Goffman (1971, S. 304).

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„The vulnerability of public life is what we are coming more aware of the areas and intricacies of mutual trust presupposed in public order. Certainly circumstances can arise which undermine the ease that individuals have within their Umwelt.“168

4.3.4 Gelassenheit und Alarmierung mit Bezug auf das Territorium

4.3.4.1 Territorien des Selbst Goffman hat die Bezugnahme des Menschen zum Raum unter einem zweiten Aspekt thematisiert: unter dem Aspekt des Territoriums. Handlungstheoretisch wird der Raum als Bedingung für legitimes Handeln betrachtet. Darüber hinaus müssen räumliche Ansprüche eingehalten werden, damit bestimmte Situationsrollen auch adäquat ausgeführt werden können.169 Ein Territorium kann nur abgegrenzt und markiert werden, wenn der Raum objektiviert wird. Diese Objektivierung erzeugt einen Raum, der durch Bedeutungen und Zugangsmodalitäten strukturiert ist, die von den Individuen mehr oder weniger gut kontrolliert werden können. Wie beim normalen Erscheinungsbild lassen sich auch die Territorien des Selbst unter Bedingungen der Gelassenheit betrachten oder unter Bedingungen des Alarmzustands, was zu den Formen führt, durch die die Territorien des Selbst verletzt werden können. Territorien des Selbst sind demnach eine Interpretation des Raums mit Blick auf rechtmäßige (legitime) Ansprüche auf einen Raum durch einen Handelnden. Wenn die von Goffman geschilderten Territorien anerkannt sind und sich Individuen auf die Geltung dieser Ansprüche verlassen können, dann sind Situationen im öffentlichen Raum in hohem Maße sicher und bewältigbar. Zunächst unterscheidet Goffman acht Territorien des Selbst: 1. Der persönliche Raum (personal space): Dies ist der Raum, von dem ein Individuum ständig umgeben ist. Er ist eine soziologische Version des primären Raums, das ist der Raum, der sich um ein Lebewesen herum organisiert. Dringt ein anderes Individuum in diesen Raum ein, verursacht es zumindest einen Eingriff, im schlimmsten Fall einen Übergriff. Negative Sanktionen oder Flucht können die Folge sein. Dieser Raum ist nicht sphärisch, aber er hat eine Kontur, die sich in Blickrichtung weiter erstreckt als hinter dem Rücken des Subjekts. Der persönliche Raum kann wie eine imaginäre Linienführung vorgestellt werden. Erst wenn ein anderes Individuum die Linie überschreitet wird sie erfahrbar. Diese Linie ist unter

168 Goffman (1971, S. 331). 169 Goffman (1971, S. 28–61). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf dieses Kapitel.

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bestimmten Voraussetzungen verschiebbar wie etwa die Reduktion des persönlichen Raums in einer voll besetzten U-Bahn. Die nicht veränderlichen räumlichen Verhältnisse solcher „Transportgemeinschaften“ dienen dann als Begründung für die systematische und wechselseitige Zurücknahme der Grenzen des persönlichen Raums. 2. Die Box (stall): Boxen sind Einheiten wie Stände, Liegen, Sessel, Betten. Sie sind fest umrissene, privilegierte (bewegliche wie unbewegliche) Orte. Dieser Ort kann verlassen werden, ohne dass der/die AnspruchserheberIn seinen/ihren Anspruch darauf verliert. Ist der Anspruch nicht allgemein bekannt oder durch die Box selbst markiert, so muss er durch Zeichen der Zugehörigkeit markiert werden (z.B. durch das Zurücklassen eines Handtuchs auf einer Liege, die Eigentum einer öffentlichen Badeanstalt ist). 3. Ausführungsraum (use space): Der für eine Tätigkeit benötigte Raum. Der Anspruch auf diesen Raum legitimiert sich durch instrumentelle, funktionale Erfordernisse. Dieser Raum wird etwa durch die möglichen Radien umrissen, die ein Golfschläger beim Abschlag braucht und kann sich bis auf den Aufschlagbereich des Balls erstrecken (der heilige Rasen). Ein(e) GaleriebesucherIn kann Anspruch darauf erheben, dass ein(e) andere(r) BesucherIn nicht zwischen ihn/ihr und ein gerade betrachtetes Bild tritt. Der Ausführungsraum kann sowohl primärer als auch sekundärer Raum sein, je nachdem, ob ich der Mittelpunkt dieses Raums bin oder das Loch auf dem Grün einer Golfanlage. 4. Die Reihenfolge (turn): Bestimmte räumliche Ordnungen legen Reihenfolgen fest, in der Interaktionsfolgen oder Tauschhandlungen statt- finden können. Dies ist wichtig, wenn viele Menschen auf Einbeziehung in die gleiche soziale Situation Anspruch erheben. Das wichtigste Beispiel hierfür ist die Warteschlange. Die Warteschlange ist eine memotechnische Einrichtung, die die Abfolge der Anspruchserhebungen der anwesenden Individuen regelt. Unter bestimmten Bedingungen kommt es zur Auflösung dieser Ordnung bzw. kann sich diese Ordnung nicht ausbilden. Z.B. ist in einem bekannten Wiener Kino aufgrund der räumlichen Lage der Kassen nicht ohne weiteres klar, für welche Kassa sich Personen anstellen und damit wird die Zuordnung einer Warteschlange zu einer der Kassen als Ordnungs- instrument uneindeutig. KinobesucherInnen können, wenn sie unter Zeit- druck stehen, diese Ambiguität ausnutzen und sich vordrängen, ohne dabei absichtsvoll zu wirken. 5. Die Hülle (sheath): Dies meint zunächst die Haut, die den Körper umschließt sowie das Gewand, Panzerungen und ähnliches. Hüllen kommen kulturelle wie funktionale Aufgaben zu. Die physische Schutzfunktion von Ellbogen- schützern wird in eine Kategorie gesetzt mit rituellen Kleidern, die das

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Gesicht verhüllen oder den Kopf beim Betreten heiliger Orte bedecken. Die Hüllen können selbst zugleich Vehikel sein und zu enormer Beschleunigung der Transporteinheiten beitragen. Flugzeuge, Automobile wären solche Hüllen im Unterschied zu Fahrrädern, die den Körper unmittelbar exponieren und nicht einschließen. Fahrzeuge wie das Automobil können je nach Kontext als Box, als Hülle, als Besitzterritorium oder als Informations- aufbewahrung angesehen werden. 6. Besitzterritorien (possessional territory): Dies sind jene Räume, die Eigentums- und Besitzverhältnisse durch Zuordnung zu einem Individuum anzeigen. Jacken, Handtaschen, Hüte, Zigaretten können durch Kontakt zugeordnet werden. Manchmal genügt die Nähe der Objekte zum Körper. Manchmal werden zur eindeutigen Zuordnung Schilder angebracht wie Namensschilder auf den Schultaschen von VolksschülerInnen. Einen drastischen Gebrauch der Zuordnung von Besitzverhältnissen durch Zeichen macht der/die ExekutorIn, der/die einen Aufkleber an Objekten der SchuldnerInnen anbringt und sie damit ihrer Verfügungsgewalt entzieht. 7. Informationsaufbewahrung (information preserve): Räume, über die ein Individuum Kontrolle zu haben glaubt oder dieses wünscht. Z.B. die Hosentasche oder die gespeicherten Telefonnummern und Anruflisten eines Mobiltelefons. Der Aspekt liegt hier auf dem Inhalt und der Zugänglichkeit. Eine Handtasche kann auch ein Territorium der Informationsbewahrung sein, nicht nur ein Besitzterritorium. Bei einem Grundstück ist Informations- bewahrung schwieriger herzustellen als bei einer Handtasche. Die Kontrolle über den Besitz ist damit gut unterscheidbar von der Kontrolle der in einem Raum enthaltenen Informationen. 8. Konversationsfeld (conversational preserve): Das ist Raum der Kontrolle darüber, ob man in ein Gespräch bzw. in eine Interaktionssituation „berufen“ werden kann oder andere dazu auffordern und hineinziehen (involvieren) kann.

4.3.4.2 Die Verletzbarkeit der Territorien des Selbst Raum als Territorium kann interpretiert werden als eine Verfestigung von Zuordnungen, Beziehungen und Konfigurationen. Er ist unter diesem Aspekt eine Manifestation von Handlungssicherheit, in der eigene Intentionen mit der Situation zusammenstimmen. Territorien des Selbst legen Erwartungs- sicherheiten fest. Wer einen Sitzplatz reserviert hat, kann unter bestimmten Rahmenbedingungen davon ausgehen, diesen an einem bezeichneten Ort zu finden. Meist ist dieser Ort durch ein Ordnungssystem genau festgelegt. Goffman setzt dafür eine Umwelt voraus, die durch besitzanzeigende Merkmale strukturiert ist. Bestimmte Kategorien dieser Territorien, wie vor allem die Hüllen,

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 73 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen gewähren aber auch physische Sicherheit, sowohl gegenüber Blicken als auch gegenüber tätlichen Handlungen. Zuletzt eröffnen oder verschließen diese Territorien den Zugang zu Informationen und können damit Einfluss auf die Entscheidungssicherheit nehmen. Die Modalitäten der Verletzung sind nun die andere Seite der markierten Territorien. Damit hat Goffman die Grenzübertretung als Verletzung eingeführt. Er kennt sechs Modalitäten der Verletzung von Territorien des Selbst:170 1. ökologische Körperplatzierung, 2. der Körper und Berührungen, 3. Blicke, hier führt er den Begriff „Augendisziplin“ ein, 4. Klanginterferenzen, 5. Wortmeldungen (addressing of words), 6. körperliche Sekrete (excreta): Körperliche Ausscheidungen (Urin, Blut); Gerüche (Körpergerüche); Körperwärme (sehr untergeordnet); Markierungen unter denen sich körperliche Exkremente verbergen können (z.B. Blätterhaufen).

4.4 Zwei soziologische Krankheitsmodelle

Der nächste Bezugspunkt ist eine handlungstheoretische Fassung von Krankheit (und Gesundheit), was eine rollenanalytische und eine – neu hinzukommende – psychodynamische Bestimmung umfasst. Im Folgenden werden zunächst die zwei grundlegenden Betrachtungen von Krankheit dargestellt und mit der Handlungsanalyse in Zusammenhang gebracht. Auf dieser Basis lässt sich auf einer analytischen Ebene auch erfassen, was Menschen, die an einer Angststörung leiden, hilft, die Situation zu bewältigen.

4.4.1 Das Kompetenzmodell (Rollenmodell) der Krankheit Aus Sicht der Theorie sozialer Systeme ist Gesundheit eine Voraussetzung für rationales Handeln in wechselseitiger Orientierung (Interkationsperspektive). Gesundheit ist eine „presupposition of society’s members’ propensity to act rationally and reciprocally.“171 Die Grundstrukturen der modernen Gesellschaft beruhen auf rationalen Voraussetzungen wie dem Recht (z.B. in Form der Straßenverkehrsordnung), der Planbarkeit eigener Handlungen und der Berechenbarkeit der Handlungen anderer, wenn sie in Alltag und Beruf interagieren. Diese Konzeption von

170 Goffman (1971, S. 44–49). 171 Gerhardt (1990, S. 340).

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Gesundheit und Krankheit kann man als Funktions- oder Kompetenzmodell der Krankheit bezeichnen, wobei hier stets die psychische Gesundheit (mental health) als normative Größe im Vordergrund steht.172 Die Kompetenz bezieht sich auf die Fähigkeit, soziale Rollen adäquat auszuüben, die mit der Mitgliedschaft in einem sozialen System verbunden sind. „Mental health is rather concerned with capacity to enter into such relationships and to fulfill the expectations of such memberships.“173 Das Kompetenzmodell der Devianz fokussiert auf die Unfähigkeit einer kranken Person, Rollenerwartungen zu erfüllen und Rollenanforderungen zu genügen. Es ist allerdings für eine kranke Person möglich, eine Rolle einzunehmen, die den Rückzug von Rollenanforderungen zu einem gewissen Grad erlaubt. Mit der Krankenrolle können deviante Handlungstendenzen ausagiert werden, ohne dass dies mit Sanktionen verbunden ist, weil das Verhalten als institutionalisierte Rolle kategorisiert wird.174 Die Krankenrolle erlaubt einen zeitlich begrenzten, legitimen Rückzug aus den Verbindlichkeiten, die an Rollen im sozialen Leben gestellt werden, aber dafür verpflichtet sich die kranke Person, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen und an ihrer Gesundung so gut es geht mitzuwirken. Der Prozess der Gesundwerdung ist in eine eigene, spezialisierte Handlungs- struktur eingebettet: in das Handlungssystem, das durch die miteinander verketteten Rollen von Arzt/Ärztin und PatientIn gebildet wird.175 Die thera- peutischen Rollen, die zum großen Teil professionalisiert sind, stehen in einem arbeitsteiligen Verhältnis zu den Krankenrollen. Auf Basis dieser Arbeitsteilung sind die Krankenrolle und die therapeutische Rolle miteinander integriert und das heißt: auf dasselbe Ziel (die Gesundwerdung des/der PatientIn) abgestimmt. Parsons hat den Prozess der Gesundwerdung im Rahmen der Handlungssituati- on, in der sich Arzt/Ärztin und PatientIn befinden, durch eine Reihe von Struktur- variablen (pattern variables) beschrieben. Arzt/Ärztin und PatientIn handeln miteinander unter Bedingungen von Universalismus (Absehen von Status und Ansehen, Anwendung wissenschaftlicher Maßstäbe und Einsichten), funktionaler Spezifizität (Fokussierung auf ein diagnostisch ermitteltes Problem), affektiver Neutralität (sachlicher, nicht emotional-wertende Beurteilung der Lage), Gemeinschaftsorientierung (Interessen des Gemeinwesens stehen über selbstbezogenen Motiven, was auch auf der Seite des/der PatientIn die Gesundwerdung über den sekundären Krankheitsgewinn stellt) und Leistungs-

172 Gerhardt (1990). 173 Parsons (1964, S. 258). 174 Parsons (1964, S. 332). 175 Parsons (1951).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 75 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen prinzip (die Gesundung ist eine gemeinsame Leistung des/der PatientIn und des Arztes/der Ärztin, vor allem aber ist es eine Leistung des/der PatientIn).176

4.4.2 Das Devianzmodell der Krankheit Der Gesundungsprozess verweist auf das ergänzende Modell, mit dem Devianz als motivationaler Prozess erfasst werden kann. Unter Krankheit kann man unter dieser Perspektive den Zusammenbruch der wechselseitigen (motivationalen) Handlungsorientierung verstehen, was durch den Verlust der Kontrolle über (unbewusste) Wünsche (uncontrolled pleasure seeking) bewirkt wird. Hinter die- sem Modell steht die psychoanalytische Theorie der Persönlichkeitsstruktur. Im Fall von Krankheit gelingt es den Ich und Über-Ich Instanzen nicht, die im Es repräsentierten Triebtendenzen unter Kontrolle zu halten und mit sozial akzeptierten Handlungsformen zu integrieren. Gegenüber den am Realitäts- prinzip und an moralischen Anforderungen (Über-Ich) orientierten Handlungen der Ich-Instanz stellt die Orientierung an den Es-Tendenzen eine Regression dar, die sich mit Bezug auf eine gegebene Situation als Anpassungsfehler niederschlägt. Es gelingt dem Individuum unter diesen Bedingungen nicht mehr, die Rollenanforderungen adäquat auszuführen, weil die motivationalen Prozesse sich nicht mehr an den realistischen, situationsbezogenen und normativen Anforderungen ausrichten.177 Therapie lässt sich ebenso als sozialer Prozess darstellen, der im Rahmen der wechselseitigen Handlungsstruktur von Arzt/Ärztin und PatientIn stattfindet. In diesem Prozess werden eine Reihe von Mechanismen sozialer Kontrolle aktiviert, die schrittweise die unkontrollierbaren Es-Tendenzen mit der Kranken- rolle integrieren. Auf diese Weise kann sich der Arzt/die Ärztin mit den gesunden Anteilen der Persönlichkeit des Patienten/der Patientin verbünden und einen Heilungsprozess, der zugleich ein Resozialisierungs- und Rationalisierungs- prozess ist, auf den Weg bringen. Die Mechanismen sozialer Kontrolle sind (1) das verständnisvolle Zulassen devianter Handlungsorientierungen (per- missiveness), (2) die emotionale Unterstützung des/der PatientIn (support), (3) die Verweigerung der Bestärkung des/der PatientIn in seinen unbewussten Krankheitswünschen (denial of reciprocity), und (4) die positive Sanktionierung prosozialer Einstellungen (manipulation of rewards).178 Parsons weist darauf hin, dass dieser psychotherapeutische Genesungsprozess nicht nur im Rahmen von Psychotherapie stattfindet, sondern dass er ebenso Bestandteil von Gesundungsprozessen ist, bei denen organische Krankheiten im

176 Parsons (1951, Kapitel 10). 177 Gerhardt (1990, S. 344–348). 178 Parsons (1951, Kapitel 10).

76 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Zentrum stehen. Denn erstens haben auch somatische Erkrankungen eine psy- chische Komponente und zweitens ist die Arzt/Ärztin-PatientIn-Interaktion ein sozialer Prozess, der auf Rollen basiert und in dem dieselben abstrakten Funktionen und Mechanismen wirksam sind wie in der Psychoanalyse im engeren Sinn.179 Man kann diesen Gedanken aber noch weiter generalisieren und bestimmten Handlungssituationen eine therapeutische Wirkung zugestehen, weil sie den/die PatientIn in der Stärkung seiner/ihrer gesunden Anteile unterstützen und weil sie eine dem Genesungsprozess angemessene soziale Kontrolle ausüben. Diese Situation wird therapeutisch wirkend genannt, um sie von der therapeutischen Situation, in der sich Arzt/Ärztin und PatientIn befinden, zu unterscheiden.

4.5 Situative Unsicherheit: Ängste und Zwänge aus handlungstheoretischer Sicht

Für die vorliegende Studie ist wichtig, dass Krankheit (1) als Rolle und (2) als motivationaler Prozess begriffen werden kann. Diese beiden Komponenten, die Struktur- und die Prozesskomponente, stehen in einem engen Zusammenhang. Aus der Strukturperspektive ist Krankheit eine Unfähigkeit zur adäquaten Aus- übung von Rollenanforderungen, was psychodynamisch bedeutet, dass unbe- wusste Wünsche nicht von Ich- und Über-Ich-Instanzen kontrolliert werden kön- nen. Soziales Handeln unter den Bedingungen von Gesundheit und von Krankheit lässt sich in der Perspektive der Kybernetik, der Theorie der Regelkreise und der selbstregulierenden Prozesse, als ein Feedbackprozess begreifen. Eine Hand- lung ist definiert als ein sozialer Prozess, in dem eine vorab konstituierte Vorstellung, ein Handlungsplan, sukzessive realisiert wird. Im Handlungsplan werden die Handlungsziele, die dazu notwendigen Mittel, die nicht veränderbaren Bedingungen der Situation sowie die Regeln festgelegt, in deren Rahmen Mittel zur Erreichung der Ziele eingesetzt werden können. Solche Regeln umfassen moralische Rahmenbedingungen (z.B. Gesetze) und technisch-praktische Regeln (z.B. Kochrezepte). Im sozialen Handeln haben die Regeln zwei Seiten. Auf der einen Seite sind sie Bestandteil der institutionalisierten Anforderungen, die alle Handelnden an ihre InteraktionspartnerInnen stellen (können). Sie sind Bestandteil der Situation, der Position oder des Status, der mit einer Rolle verbunden ist. Auf der anderen Seite sind diese Anforderungen Teil der Persönlichkeitsstruktur, wie sie sich in Sozialisationsprozessen entwickelt hat. In Prozessen der Internalisierung werden

179 Parsons (1951, Kapitel 10).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 77 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen die Rollenanforderungen Teil der Persönlichkeit. Im System der Persönlichkeit werden insbesondere ihre moralischen (normativen) Elemente durch die Über- Ich-Struktur repräsentiert. Der Prozess des aktuellen Handelns wird durch die vorab entworfene und imagi- nierte Handlung reguliert. Sie dient als Maßstab für die richtige Ausführung der Handlung und für die Definition der Zielerreichung, die das Handeln zum Ab- schluss bringt. Im Sinne der Kybernetik handelt es sich um eine negative Feed- backschleife, in der die Bewertung des aktuellen Zustands einer Handlung mit dem idealen Entwurf (Soll-Zustand) verglichen wird, sodass sich der Ist-Zustand immer weiter der Soll-Norm annähert (was nicht ausschließt, dass die Soll-Norm nachjustiert werden kann). Dabei muss der/die Handelnde nicht nur moralische Anforderungen im Blick behalten, sondern auch die realistischen Möglichkeiten der Realisierung einer Handlung, also die Verfügbarkeit von Ressourcen und die Einbeziehung anderer Handelnder. Unter der Bedingung von Krankheit werden motivationale Prozesse mobilisiert, die das Individuum zum Rückzug aus Handlungssituationen veranlassen. Unter diesen Bedingungen dienen die Soll-Normen nicht mehr der Realisierung eines Handlungsentwurfs, der mit den sozial akzeptierten Vorstellungen integriert ist und dessen Entwurf auch als realisierbare Möglichkeit betrachtet wird. Diese positive Feedback-Schleife hat Parsons als Konsequenz aus unrealisti- schen Vorstellungen über die Situation und über die tatsächlichen Forderungen von der Seite der InteraktionspartnerInnen beschrieben. Beides wurzelt im Erleben von Unsicherheit (insecurity). Unsicherheit hinsichtlich der Erwartungen der InteraktionspartnerInnen oder hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten, eine Handlung im Einklang mit den institutionalisierten Normen auszuführen, ist daher ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Devianz:

“We may say that the need to security in the motivational sense is the need to preserve stable cathexes of social objects, including collectivities. Tendencies to dominance or submission, aggressiveness or compulsive independence, then, may be interpreted as manifestations of insecurity. The need for a feeling of adequacy on the other hand, we may say, is the need to feel able to live up to the normative standards of the expectation system, to conform in that sense. The compulsive enforcer, the perfectionist, the incorrigible and the evader, then, could be interpreted as motivated by a sense of inadequacy. Of course both are concretely involved in every action system. Many complex resultants are possible. But these seem to be fundamental points of reference for analysis of these processes.

78 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Insecurity and inadequacy are by the same token the primary foci of .”180

Es stehen also die Maßstäbe für das eigene Handeln nicht mehr im Zeichen geteilter Handlungsnormen, sondern sie nehmen ein immer unrealistischeres Ausmaß an und die Reaktion darauf ist verstärkter Rückzug aus der Situation. Die Arzt/Ärztin-PatientIn-Interaktion ist aus dieser Perspektive ein Handlungs- system, in dem ein Rahmen gesetzt wird, der die Überbrückung der Kluft zwischen den Handlungsplänen und den tatsächlichen Handlungen erlaubt. In einem Prozess der sozialen Kontrolle muss das Moment der Unsicherheit geschwächt werden, damit die motivationalen Prozesse Schritt für Schritt eine realistische Orientierung erhalten. Die Unsicherheit in einer Situation, in der ein Handelnder bzw. eine Handelnde in leiblicher Ko-Präsenz mit anderen Personen interagiert, wird hier situative Unsicherheit genannt. Situative Unsicherheit lässt sich mit Blick auf die zwei Raumkonzepte beziehen, die wir weiter oben dargestellt haben. Situative Unsicherheit ist ein analytisches Konzept, wodurch die Sinnstruktur von Angst als unrealistische Interpretation der Situation in Begriffe der soziologischen Situationsanalyse übersetzt werden kann. Mit Blick auf den Raum als Umwelt bedeutet situative Unsicherheit, dass der Handelnde den eigenen Handlungsfähigkeiten nicht traut und sich nicht in der Lage sieht, den von anderen InteraktionspartnerInnen gestellten Handlungs- anforderungen zu genügen. Der Bezugspunkt ist das Konzept des normalen Erscheinungsbildes. Wenn es nicht konstituiert wird, kann sich die Person auf die Leistungen, die für die Konstitution der Situation von ihr selbst und von anderen erbracht werden müssen, nicht verlassen. Manchmal betrifft das Vertrauen in die adäquate Handlungsausführung der InteraktionspartnerInnen in einer Situation bestimmte Klassen von Personen. Während das Vertrauen in anonyme und fremde Menschen verloren geht, kann das Vertrauen in bekannte und vertraute Menschen bestehen bleiben. Die Fähigkeit, sich anonymen Personen im Alltag anzuvertrauen ist aber insbesondere im Straßenverkehr eine notwendige Voraussetzung der Interaktionsteilnahme. Mit Blick auf den Raum als Territorium bedeutet situative Unsicherheit, dass ein Individuum sich nicht in der Lage sieht, die Grenzen zu kontrollieren, durch die es Informationen an die Umwelt sendet oder die territorialen Grenzen, die zur Handlungsausführung vorausgesetzt werden, sind in Frage gestellt. Sie werden als unsicher betrachtet oder sie können nicht als legitime Voraussetzungen für eigenes Handeln eingefordert werden.

180 Parsons (1951, S. 261).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 79 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

4.6 Mobilitätsbarrieren und Handlungsstruktur

4.6.1 Barrieren im Schema Handelnde(r)-Situation Vor dem Hintergrund der Handlungstheorie und des Zusammenhangs von Angst (Unsicherheit) und Handlungsentwurf lassen sich die Barrieren verstehen, die sich von der verkehrswissenschaftlichen Perspektive her ergeben. Unter einer Mobilitätsbarriere im Sinne von PHOBILITY ist eine physische, psychische oder soziale Schranke gemeint, die eine Person mit Phobie, Angst- oder Zwangs- erkrankung daran hindert, am öffentlichen oder individuellen Straßenverkehr teilzunehmen. Aus der subjektiven Perspektive bedeutet eine Mobilitätsbarriere daher, dass eine Person entsprechend ihrer Einschätzung meint, ihre (legitimen) Mobilitätsbedürfnisse mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und unter den gegebenen infrastrukturellen und sozialen Bedingungen nicht befriedigen zu können. Wenn davon ausgegangen wird, dass sich eine erwachsene Person als autonom und handlungsfähig im Sinne der Selbstwirksamkeitstheorie erfahren kann,181 dann bedeutet Krankheit den Verlust dieser Selbstwirksamkeit, was im Rahmen des Kompetenzmodells der Devianz schon erwähnt wurde. Barrieren bedeuten dann eine Verschiebung der Grenze zwischen beeinflussbaren Faktoren (Mitteln) und nicht-beeinflussbaren Faktoren (Bedingungen) in einer Situation sowie einen Konflikt mit den normativen Erwartungen und den eigenen Handlungszielen (Devianzmodell der Krankheit). Entweder betreffen sie die Verschiebung der Grenze von Mitteln und Bedingungen bzw. die Grenzen der Erfüllbarkeit von Erwartungen und Normen hinsichtlich der Ausführung der Handlungen und hinsichtlich der Ziele. Dabei kann der Fokus auf dem Handelnden/der Handelnden liegen oder auf der Situation (Umwelt oder Territorium im Sinne Goffmans).182 Selbstverständlich gehört der/die Handelnde ebenfalls zur Situation, aber er nimmt darin als Referenzpunkt einen privilegierten Ort ein. Es lässt sich damit unterscheiden, ob eine Person ein normales Erscheinungsbild von sich selbst oder von der sie umgebenen Situation konstituieren will. Eine andere wichtige analytische Unterscheidung ist die Persondimension gegenüber der Sachdimension, die beide eine Situation ausmachen. Die Sachdimension zerfällt wiederum in die physisch-materielle und die symbolisch- kulturelle Umwelt.183 Physische Strukturen, aber auch der Mangel an Informa- tionen, können dazu führen, dass die betroffene Person glaubt, die Situation nicht kontrollieren zu können. Auch die Anwesenheit anderer Menschen kann diesen

181 Bandura (1995, 1997). 182 Goffman (1971). 183 Gerhardt (1971, S. 231).

80 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Effekt auslösen. In diesen Fällen liegt der Fokus auf der Situation. Das Problem im Zusammenhang mit Angst ist beispielsweise der Wunsch, flüchten zu können. Geschlossene Räume oder Menschen, die den Weg versperren, machen die Flucht schwierig und dieser Umstand kann angstverstärkende Prozesse auslösen. Unkontrollierbare Symptome fokussieren auf die handelnde Person. Sie können beispielsweise bedeuten, dass die Person nicht in der Lage ist, ein normales Erscheinungsbild von sich zu konstituieren, um sich situationsadäquat zu verhalten. Das Wissen um diesen Mangel kann Schamgefühle auslösen. Verkehrsmittel stellen, wie oben gezeigt, immer auch zugemutete Rollen- anforderungen dar. Das bedeutet: Sie lassen sich unter bestimmten psycho- physiologischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen als Mittel für eigene Zwecke benutzen. Verkehrsmittel, die zeitabhängigen Nutzungsmuster von Verkehrsmitteln, räumliche Strukturen, usw. können unter Bedingungen von Krankheit zu Bedingungen werden, die nicht bewältig werden können und die dazu führen, dass man ein Verkehrsmittel nicht als Mittel nutzen kann. Informative Elemente nehmen eine Sonderstellung ein. Sie sind weniger Mittel in der Handlungssituation, sondern sie betreffen den Handlungsentwurf. Es stellt sich die Frage, ob es über Informationen gelingen kann, Situationen, die man als nicht bewältigbar glaubt, dennoch bewältigen zu können, weil über Informationen ein gangbarer Handlungsentwurf konstituiert werden kann. Auch Ortskenntnisse können teilweise durch Informationen substituiert werden. Die Mobilitätsbarrieren lassen sich aus handlungstheoretischer Perspektive im Schema Akteur-Situation zusammenfassen (vgl.Tabelle 6). Dabei wird zwischen der Persondimension und der Sachdimension unterschieden sowie dem Fokus auf dem/der AkteurIn gegenüber dem Fokus auf der Situation:

Tabelle 6: Mobilitätsbarrieren nach dem Akteur-Situations-Schema

Persondimension Sachdimension/

Symboldimension Akteur:  Krankheitssymptome  psychische Elemente situative Unsicherheit und ihre Überwindung

Situation:  Zeit  Verkehrsmittel, Raumtypologien und normales Erscheinungsbild,  andere Personen bzw. Infrastrukturen, Territorien des Selbst Tiere  physische Infrastrukturelemente,  informative Elemente,  Erfahrung und Ortskenntnisse

Quelle: Eigene Darstellung.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 81 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

4.6.2 Adaptierung an die Verkehrssituation unter Bedingungen von Angst: Barrierehemmer Barrieren im Projekt PHOBILITY sind keine physischen Barrieren in dem Sinn, wie sie RollstuhlfahrerInnen oder sehbehinderten Menschen begegnen. Sie beziehen sich auf sozial nicht vermittelte und daher deviante Interpretations- zusammenhänge, in denen Ängste die Situation in einem so hohen Ausmaß als unsicher definieren, dass sie für die betroffenen Menschen nicht bewältigbar erscheinen. Unter einem Barrierehemmer wird hier ein Element der Situation oder des/der Handelnden verstanden, das diese Situation als hinreichend sicher definiert, um die eigenen Handlungsziele darin umsetzen zu können. Barrierehemmer helfen einer Person dabei, sich einer Situation anvertrauen zu können, indem sie entweder das normale Erscheinungsbild stabilisieren oder die Personen bei der Etablierung von Territorien des Selbst unterstützen. Unter Bedingungen von Krankheit reagieren Personen auf situative Anforderungen (Rollenanfor- derungen) in der Regel mit dem Rückzug aus der Situation. Die Barrierehemmer verringern diese Rollenanforderungen und machen damit Situationen auch für Menschen bewältigbar, die unter anderen Umständen mit Rückzug reagieren würden. Rollentheoretisch haben die Barrierehemmer etwas mit dem Umstand zu tun, dass Aspekte der Krankenrolle in Situationen institutionalisiert werden. Dazu gehören Rückzugsmöglichkeiten innerhalb öffentlicher Situationen oder Möglichkeiten, sich des normalen Erscheinungsbildes einer Situation zu versichern, dass unter Bedingungen von Gesundheit ohne diese zusätzliche Unterstützung hergestellt werden kann.

4.6.3 Barrieren und Veränderung des Mobilitätsmusters Ein wichtiger Punkt für die Analyse ist die Veränderung des Mobilitätsmusters, die der Ausbruch einer Krankheit mit sich bringt. Diese Veränderung ist im Verlust der Fähigkeit begründet, Rollenanforderungen zu genügen, aber auch in den Adaptierungsstrategien an die neue Situation, die den Coping-Strategien analog sind. Eine wichtige Unterscheidung in der Verkehrsmittelwahl ist die Unterscheidung zwischen captive riders/drivers und choice riders/drivers. Diese Unterscheidung ist zwar umstritten, aber nach wie vor wichtig und Grundlage der Verkehrsforschung- und Planung.184 Sie ist nicht nur deswegen umstritten, weil diese Zuschreibungen stigmatisierende Effekte haben können, sondern sie wird

184 Manaugh und El-Geneidy (2013).

82 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen als zu ungenau betrachtet. Aber ihr Vorteil ist, dass sie sich auf die subjektive Sicht von VerkehrsteilnehmerInnen übertragen lässt, ob sie sich zur Nutzung eines Verkehrsmittels gezwungen sehen oder dies als freie Wahl erleben, wenn sie die Wahl auch nicht immer begründen können. Die Unterscheidung lässt sich aus dem Gegensatz von Mittel und Bedingungen ableiten. Entweder ist ein Verkehrsmittel eine situative Bedingung für Mobilität oder es ist ein Mittel, das zur Wahl steht. Krankheit lässt sich in unserer Perspektive immer als Verlust von Handlungsautonomie verstehen. Im schlimmsten Fall ist es der völlige Verlust von Mobilität, die zuvor frei wählbar war (choice riders/drivers  immobile). Folgende Muster sind in diesem Schema denkbar:  choice rider/driver  captive rider/driver (AutofahrerIn ist gezwungen, mit der Bahn zu fahren oder als BeifahrerIn mitzufahren)

 choice rider/driver  immobile (kann nicht außer Haus gehen)

 captive rider/driver (Mittel A) captive rider/driver (Mittel B), wobei Mittel B die Mobilität stärker einschränkt als Mittel A (BahnfahrerIn muss mit dem teuren Taxi fahren)

 captive rider/driver  immobile (wie choice-rider/driver  immobile)

Die Adaptierung der Mobilitätsmuster an die Situation der Krankheit (Kranken- rolle) kann entweder die Entwicklung neuer Formen der Situationsbe- wältigung meinen, wobei Situationen dabei mehr oder weniger unterstützend wirken können. Die andere Möglichkeit ist die Vermeidung, was im schlimmsten Fall zum völligen Rückzug führt. Die betroffene Person kann nicht mehr außer Haus gehen. Im Fall der aktiven Situationsbewältigung (diese Leistung lässt sich auch als Teil eines Gesundungsprozesses verstehen) lassen sich die Pfeile in der vorigen Liste umdrehen und es ergibt sich folgendes Bild:  captive rider/driver  choice rider/driver

 immobile  choice rider/driver

 captive rider/driver (Mittel B) captive rider/driver (Mittel A), wobei Mittel B die Mobilität stärker einschränkt als Mittel A

 immobile  captive rider/driver

Die Beseitigung oder zumindest die Schwächung von Mobilitätsbarrieren, wodurch eine Veränderung der Mobilitätsmuster möglich wird, ist ein Ziel des Projekts PHOBILITY.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 83 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

4.7 Zusammenfassung

Die theoretischen Ausführungen sollten zeigen, dass die Teilnahme am Straßenverkehr unter dem Gesichtspunkt sozialer Strukturen (Rollen) und sozialer Prozesse (soziales Handeln) beschrieben werden kann. Unter Bedingungen von Krankheit ist soziales Handeln durch adäquates Ausführen von Rollen nicht mehr möglich. Das wichtigste Element, das deviante Handlungs- motivationen verstärkt, wird hier situative Unsicherheit genannt. Unter Bedingungen situativer Unsicherheit geht entweder die Fähigkeit verloren, ein normales Erscheinungsbild der Situation zu konstituieren, was das normale Erscheinungsbild der handelnden Person selbst einschließt. Oder es kann heißen, dass Grenzen, wie sie mit den Territorien des Selbst beschrieben wurden, als bedroht und labil betrachtet werden. Mit den beiden von Goffman formulierten Raumkonzepten und deren Verletzbarkeit lässt sich die Unterscheidung von Rolle und Handlung auf das Problem der situativen Unsicherheit übertragen. Wenn eine Person zu leicht in den Zustand der Alarmierung gerät, weil die Situation nicht als harmlos erfasst werden kann oder eigene Handlungen fatale Folgen haben könnten, dann ist die Seite der Handlung und der Handlungsentwürfe betroffen. Die Territorien des Selbst betreffen in unserer Analyse stärker die Rollengrenzen von Individuen in der Situation. Irrationale Ängste wurden in der Analyse nicht nur als psychische Symptome einer Angststörung begriffen, sondern als Ausdruck einer sinnvollen Interpretation der Situation, die aber nicht mit den sozial geteilten Interpretationen der Situation integriert ist. Diese Ängste können mit Blick auf die Unfähigkeit, an der Interaktion im Straßenverkehr teilzunehmen (Kompetenzmodell der Krankheit) als Barrieren gedeutet werden. Damit ein Individuum dennoch am Interaktionsgeschehen teilnehmen kann, müssen diese Barrieren gehemmt werden. Wie gelingt es einem Individuum, die irrationalen Ängste soweit unter Kontrolle zu halten, dass die Teilnahme am Verkehr in der Rolle eines/einer FußgängerIn, AutofahrerIn, Fahrgastes, RadfahrerIn usw. gelingen kann?

84 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

5 Forschungsfragen

Die Forschungsfragen lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe bezieht sich auf die Beschreibung und die Analyse des Phänomens der Mobilitätsbarrieren von Menschen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen. Wie kann die Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen im öffentlichen und im Individualverkehr beschrieben werden? (Sondierung von Bedarfslagen und aktive Mobilitätsformen)  Welche Beeinträchtigungen und Problemlagen ergeben sich in der Verkehrsteilnahme, insbesondere bei den F4-Diagnosen Phobien, Angst- und Zwangsstörungen?  Welche psychischen und sozialen Barrieren können im Hinblick auf eine gleichberechtigte Verkehrsteilnahme identifiziert werden? (Konkretisierung)  Welche Bedürfnisse äußern Betroffene und Angehörige in Bezug auf eine gleichberechtigte Verkehrsteilnahme?  Welchen Bedarf an Verkehrslösungen äußern Fachleute (medizinisches und therapeutisches Personal) in Bezug auf eine gleichberechtigte Verkehrsteilnahme der Zielgruppe?  Welche Empfehlungen lassen sich im Sinne der Integration organisatorischer, infrastruktureller, technischer und sozialer Maßnahmen formulieren (soziale Innovation)? Die zweite Gruppe bezieht sich auf die Methoden, die bei diesem neuen Forschungsthema erstmals zum Einsatz kommen:  Wie lassen sich Mobile Methods auf die Zielgruppe anwenden?  Welche Grenzen sind ihrer Verwendung gesetzt?  Welcher Mehrwert lässt sich aus dem Einsatz von Mobile Methods erzielen?

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 85 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

6 Studiendesign: Methodologie und methodisches Vorgehen

6.1 Ablauf und Vorgehensweise

Bisher gab es kaum Forschungsprojekte zum Mobilitätsverhalten von Personen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere betroffen durch Phobien, Angst- und Zwangsstörungen. Im Rahmen dieses Forschungsprojektes kam deshalb ein Methodenmix zum Einsatz, der einerseits durch die methodischen Vor- und Nachteile von Interviews und automatisierter Wegaufzeichnung begründet ist und andererseits durch die Neuartigkeit des Forschungsvorhabens und Ungewissheit gegenüber der gewählten Zielgruppe. Den elementaren Bestandteil der Einzelfallstudien stellt das problemzentrierte Interview dar. Ergänzend wurde nach ProbandInnen gesucht, die bereit waren, ihre Wege und Problemlagen entweder im Rahmen einer gemeinsamen Wegbegehung zu schildern oder diese mittels GPS-Geräten aufzuzeichnen. Den ProbandInnen wurde freigestellt sich für eine oder mehrere der angebotenen Erhebungsmethoden zu entscheiden. Das Interesse, ein Einzelinterview durchzuführen, war am größten. Da die Reaktion auf die Erhebung mittels Wegbegehung wenig Anklang bei potenziellen StudienteilnehmerInnen fand, wurde auch die Möglichkeit einer individuellen GPS-Wegeaufzeichnung angeboten. Im Folgenden wird die Vorgehensweise zu der jeweils angewandten Methode beschrieben und im Anschluss die jeweiligen Vor- und Nachteile in Hinblick auf Erhebungsschritte sowie Auswertung diskutiert. Dies dient der Sondierung unterschiedlicher Methoden, was wiederum einen wichtigen Input für weitere Forschungsvorhaben darstellt. Vor allem in Anbetracht zukünftiger Forschungs- vorhaben mit besagter Zielgruppe erscheint es wichtig, die Vor- und Nachteile der einzelnen Erhebungsmethoden nach chronologisch auftretenden Erhebungs- bzw. Auswertungsschritten abzuwägen.

6.2 Erhebungsmethoden

6.2.1 Einzelfallstudien Die Einzelfallstudien sind das Kernstück des Projekts. Mit ihrer Hilfe sollten die Möglichkeiten und die Einschränkungen der Verkehrsteilnahme von Personen, die unter einer Phobie, Angst- oder Zwangsstörung leiden, verstanden und erklärt werden. Darüber hinaus wurden Bedarfslagen sondiert und für die Diskussionen

86 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen mit ExpertInnen aufbereitet. Die Einzelfallstudien stellen eine Kombination aus drei Elementen dar:  Problemzentrierten Interviews,  GPS-Erhebungen,  Wegbegehungen. Das Problemzentrierte Interview wurde mit allen TeilnehmerInnen geführt. Zusätzlich konnten sie sich für eine oder für beide der mobilen Erhebungs- methoden entscheiden, also bei einer GPS-Erhebung oder einer Wegbegehung mitmachen.

6.2.1.1 Problemzentrierte Interviews Der Zusammenhang Krankheit und Einschränkungen der Verkehrsteilnahme wird zwar individuell erlebt, aber es handelt sich um allgemeine, soziale Probleme. Um diese Art von Fragestellungen adäquat zu bearbeiten, das heißt um den individuellen und den sozialen Aspekt zu berücksichtigen, entwickelte Andreas Witzel Anfang der 1980er Jahre das problemzentrierte Interview. Witzel verfolgte ein doppeltes Ziel. Zum einen wollte er der individuellen und subjektiven Wahrnehmung (definition of the situation) gesellschaftlicher Phänomene Rechnung tragen, zum anderen wollte er das deduktive Vorgehen der Surveyforschung, in der im Vorhinein aufgestellte Hypothesen überprüft werden, zwar öffnen, aber nicht gänzlich aufgeben. Hypothesen und theoretische Annahmen sollten an Fälle herangetragen werden können, aber die Forschenden sollten zugleich gegenüber den subjektiven Äußerungen der Beforschten offen bleiben.185 Das problemzentrierte Interview basiert auf drei Grundpositionen:186 1. Problemzentrierung: Das Thema des Interviews stellt ein gesellschaftlich relevantes Problem dar. Die damit verbundenen objektiven Rahmen- bedingungen und Vorinformationen werden von den ForscherInnen genutzt, um die im Interview generierten Darstellungen zu verstehen und nach- zuvollziehen. Zugleich wird die subjektive Perspektive der interviewten Person auf das soziale Problem in der Kommunikationssituation herausgearbeitet und zugespitzt. 2. Gegenstandsorientierung: Die Methode wird den Erkenntnisanforde- rungen des untersuchten Gegenstandes untergeordnet und je nach Fragestellung adaptiert bzw. mit anderen Methoden kombiniert. So können

185 Witzel (2000). 186 Für eine prägnante Darstellung dieses Forschungsinstruments, das hier in Kurzform wiedergegeben wurde, vergleiche Witzel (2000).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 87 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

zur Vorbereitung des Interviews Gruppendiskussionen geführt werden. Die Betonung der biographischen Perspektive ermöglicht den Gesprächs- partnerInnen, Deutungsmuster zu entfalten, in denen sich ihre Auseinander- setzung mit der sozialen Realität ausdrückt, aber auch die Kombination mit standardisierten Fragebögen ist möglich. 3. Prozessorientierung: Damit wird der Forschungsablauf als Kommuni- kationsprozess ins Zentrum gestellt, in dem auf der Basis von Offenheit und Vertrauen die Perspektiven der Befragten entfaltet werden können. Das Interview wird in erster Linie als Gespräch aufgefasst, in dem sich beide, InterviewerIn und befragte Person, den Sinn ihrer Fragen und Antworten zugänglich machen und auf dieser Basis gemeinsam eine Erzählung generieren. In der Durchführung des Interviews kommen vier Instrumente zum Einsatz:187 1. Kurzfragebogen: Vor dem eigentlichen Gespräch werden Sozialdaten und andere objektiv erfassbare Informationen abgefragt. Antworten aus diesem Teil können auch als Gesprächseinstieg genutzt werden. Im Projekt PHOBILITY wurden in diesem Teil Angaben zu Krankheit und Krankheits- verlauf sowie zur Verkehrsmittelwahl erfasst. Die Sozialdaten wurden anders als von Witzel vorgeschlagen in einem abschließenden Teil erfragt. 2. Tonträgeraufzeichnung: Das Gespräch wird vollständig aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Damit wird eine präzise Erfassung des Kommuni- kationsprozesses ermöglicht und der/die InterviewerIn wird vom Mitproto- kollieren entlastet und kann sich ganz auf das Gespräch konzentrieren. 3. Leitfaden: Vorinformationen und objektive Daten zur Problemstellung werden in einem Leitfaden verarbeitet, der den InterviewerInnen als Stütze im Kommunikationsprozess und als eine Checkliste der Themen dient, die im Interview bearbeitet werden sollen. 4. Postskripte: Wenn notwendig werden nach dem Interview Anmerkungen über die Gesprächssituation, nonverbale Aspekte oder Schwerpunkt- setzungen durch die InterviewpartnerInnen festgehalten. Die Postskripte dienen auch der Organisation der theoretischen Stichprobe für die Einzelfallanalysen, indem Anmerkungen zur Klassifikation oder zur Kontras- tierung bestimmter Fälle gemacht werden. Der Ablauf des problemzentrierten Interviews lässt sich grob in drei Phasen gliedern:188

187 Witzel (2000). 188 Witzel (2000).

88 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

1. Herstellung der Kommunikationssituation und Offenlegung des Unter- suchungszwecks: Nach der unmittelbaren Kontaktaufnahme und der Zusicherung von Anonymität und vertraulicher Behandlung der Daten wird das Erkenntnisinteresse der Forschenden offengelegt und betont, dass es um die individuellen Vorstellungen und Meinungen der Gesprächs- partnerInnen geht. 2. Erzählgenerierende Phase: Mit einer vorformulierten Einleitungsfrage wird der Fokus des Interviews auf das Problem gelenkt, ohne den Gesprächs- verlauf zu sehr einzuschränken. Die subjektive Problemsicht wird in einer allgemeinen Sondierung offengelegt. Fragen, die von Interesse sind und die von den Befragten ausgeklammert werden, können mittels Ad-hoc-Fragen eingebracht werden. In dieser Phase herrscht das induktive Prinzip vor, das die Einzelfallperspektive betont. 3. Verständnisgenerierende Phase: Vorwissen und Sichtweisen, die sich im Verlauf des Interviews ergeben, werden durch Verständnisfragen und durch Konfrontation mit objektiven Befunden vertieft und präzisiert. In dieser Phase herrscht das deduktive Prinzip vor, das theoretische Annahmen und Hypothesen der ForscherInnen betont. Die Gesprächsdynamik während der Interviews gestaltete sich sehr unterschiedlich und war teilweise davon abhängig, wie lange die befragten Personen bereits an einer psychischen Erkrankung leiden oder wie reflektiert die ProbandInnen im Hinblick auf ihre Verkehrsmittelwahl und auftretende Problem- lagen agieren. Die Interviews wurden mittels Audioaufzeichnungsgeräten aufgenommen und anschließend vollständig und unter Einhaltung einheitlicher Transkriptionsregeln transkribiert.189 Ziel der problemzentrierten Einzelinterviews war es, vor dem Hintergrund des Krankheitsverlaufes der Betroffenen, einerseits den dadurch verursachten „Bruch“ in der Mobilitätsbiographie zu erheben und andererseits die Verkehrsteil- nahme betroffener Personen und aktuelle Barrieren sowie Barrierehemmer bzw. Bewältigungs-/ Umgangsstrategien darzulegen. Das problemzentrierte Interview gliederte sich in drei Teile. Im ersten Teil wurden die ProbandInnen gebeten, Angaben zu ihrer Krankengeschichte, dem Verlauf der Erkrankung, einer persönlichen Ein- schätzung der Schwere der Erkrankung sowie Angaben zur aktuellen Behand- lung zu tätigen. Im zweiten Teil wurden die StudienteilnehmerInnen zu ihren, im Regelfall gewählten sowie bevorzugten, Verkehrsmitteln befragt, wobei insbesondere bestehende Mobilitätsbarrieren und Meideverhalten besprochen

189 Siehe Anhang Kapitel 19.1.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 89 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen wurden. Im dritten und abschließenden Befragungsteil wurden die Studien- teilnehmerInnen darum gebeten, Vorschläge und Maßnahmen, die ihnen die Verkehrsteilnahme erleichtern würden, einzubringen. Generell gestaltete sich der Gesprächsverlauf flüssig, vereinzelt gelang es jedoch nicht, eine intakte Gesprächsdynamik aufzubauen. Mittels der Nennung von Beispielen und Hinweisen versuchten die InterviewerInnen Erkenntnisse zur Verkehrsteilnahme der ProbandInnen zu gewinnen. Jedes der durchgeführten Interviews führte dennoch zu den erhofften Ergebnissen und leistete einen wertvollen Beitrag für die Studie. Die Auswertung der Interviews erfolgt auf Basis der vollständigen Transkripte und entlang eines Themenrasters. Die Themenstruktur ist grob durch den Leitfaden vorgegeben und wird durch die theoretischen Annahmen ergänzt. Darüber hinaus werden thematische Auffälligkeiten mittels analytischer Zuordnungen (In- vivo-codes) erfasst. Auf diese Weise bleibt das Ineinandergreifen induktiver und deduktiver Vorgehensweisen auch in dieser Phase des Interviews gewahrt.

6.2.1.2 GPS-Erhebung Die GPS-Geräte werden zur Protokollierung von Wegen eingesetzt. Mittels der im Projekt PHOBILITY eingesetzten Geräte können Start- und Endpunkte sowie der Verkehrsmittelwechsel und die Barrieren räumlich verortet werden. Ergänzend zu herkömmlichen Methoden in der Verkehrsplanung dienen die GPS-Daten als Grundlage für Wegeprotokolle und unterstützen bei Befragungen sowie Tiefeninterviews. Durch den Einsatz der GPS-Geräte werden Wege räumlich-zeitlich festgehalten, wodurch die Erfassungsgenauigkeit und Vollständigkeit der Wegedaten von StudienteilnehmerInnen erhöht werden kann. Die Dauer der Wegeaufzeichnung mittels GPS-Gerät entspricht der Dauer, die ProbandInnen für Ihre Wege ohnehin benötigen. Mittels der GPS-Geräte können Quell-Zielmatrizen, Verkehrsmittelwahl sowie Barrieren aufgezeichnet werden. Bereits kleine Störungen und Ärgernisse können zum Zeitpunkt des Auftretens mittels einer Taste markiert und somit auf einer Kartengrundlage verortet werden. Damit wird einer späteren, eventuell lückenhaften Erinnerung an bestimmte Wege, Verkehrsmittelnutzungen und etwaige Barrieren vorgebeugt. Folgende weitere Problembereiche in der Erhebung von Mobilitätsverhalten können durch GPS-Tracking gemindert werden:  Meist können sich ProbandInnen nicht mehr genau an ihre Wege erinnern, weshalb die Erfassungsgenauigkeit teilweise lückenhaft ist.

90 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 ProbandInnen tendieren dazu, kürzere Wege nicht als solche wahr- zunehmen. In Folge ist die angegebene Wegeanzahl im Vergleich zu den tatsächlich zurückgelegten Wegen häufig geringer.  ProbandInnen unterschätzen oftmals Distanzen oder Zeiten, die sie für zurückgelegte Wege benötigt haben. Durch den Einsatz von GPS-Geräten können Distanzen und Fortbewegungsgeschwindigkeiten exakt aufge- zeichnet werden und die Erhebung individueller Fehleinschätzungen vermieden werden.  ProbandInnen ist ihr eigenes Wegewahlverhalten meist nicht vollumfänglich bewusst, weshalb vor allem Umwege mit herkömmlichen Methoden nur unzureichend erfasst werden können. Die Vorteile der GPS-Aufzeichnungen liegen darin, dass die Wegedaten in Echtzeit aufgezeichnet werden können, während der Nachteil darin besteht, dass die Betätigung der Tasten von den ProbandInnen häufig vergessen wird.190 Gerade bei einem Verkehrsmittelwechsel oder bei auftretenden Barrieren kann es zu Stresssituationen kommen, in denen das Betätigen der jeweiligen Taste vergessen wird. Bei dem Einführungsgespräch zur Geräte-Nutzung sollten ProbandInnen insbesondere darauf hingewiesen werden. Konkrete Verkehrsmittel und Wegzwecke können mittels der Geräte alleine nicht zugeordnet werden. Aus diesem Grund folgt auf eine GPS-Datenaufzeichnung immer eine Befragung der ProbandInnen. Die Auswertung der Aufzeichnungen erfolgt manuell. Mittels der Geschwin- digkeiten und der verfügbaren Kartengrundlage (inkl. ÖV-Angaben) werden Verkehrsmittel im Nachhinein zugeordnet und im Rahmen der Befragung verifiziert. Zudem werden Wegzwecke und Barrieren im Rahmen der Nacherhebung ergänzt. Durch die Kombination der GPS-Erhebung und Nachbefragung können Unklarheiten beseitigt, fehlende Informationen ergänzt und falsche Angaben revidiert werden. Voraussetzung dabei ist, dass im Rahmen der Nacherhebung zu den ausgewerteten GPS-Daten und die darauf aufbauenden Wegeprotokolle aus dem Erhebungszeitraum vorliegen, da diese als Gedächtnisstütze dienen. Zudem ist eine möglichst zeitnahe Nachbefragung vorteilhaft. Die Nachbefragungen der ProbandInnen können sowohl telefonisch als auch per Hausbesuch erfolgen. Sofern eine persönliche Befragung möglich ist, sollte diese der telefonischen Nachbefragung vorgezogen werden. In Tabelle 8 sind die identifizierten Vor- und Nachteile der GPS-Erhebung ersichtlich.

190 Sammer et al. (2011, S.155).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 91 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

6.2.1.3 Wegbegehung Neben den individuellen GPS-Aufzeichnungen durch die ProbandInnen wird in der PHOBILITY-Studie die Methode mobile methods angewendet.191 Zu den mobile methods zählen unter anderem walk-alongs, also Wegbegehungen. Forschende und Testpersonen führen eine gemeinsame Wegbegehung (ÖV, MIV und „aktive Mobilität“) durch und generieren soziologisch-ethnologische sowie verkehrsrelevante Daten. Die technische Innovation – zusätzlich GPS- Geräte einzusetzen – wurde bisher in Kombination mit walk-alongs kaum verwendet und ermöglicht es den Forschenden, sich anstelle auf die (händische) Dokumentation eines zurückzulegenden Weges auf die Testperson zu konzentrieren. Die Wegbegehung wurde im Anschluss an ein problemzentriertes Einzelinterview durchgeführt. Die ProbandInnen wurden dabei von einer Person begleitet. Die Erfassung der Daten erfolgte durch die Begleitperson, wobei ProbandInnen den Weg teilweise mittels GPS-Gerät oder Smartphone aufzeichneten und Barrieren dokumentierten. Die Wegbegehungen stellen insofern eine Bereicherung des Datenmaterials aus den Einzelinterviews dar, als durch das Begleiten Daten einerseits verifiziert (z.B. Vermeidung bestimmter Situationen, Wege) und andererseits ergänzend generiert werden können (z.B. zusätzliche, bislang nicht bekannte Informationen zur Verkehrsmittelwahl). Die Vor- und Nachteile dieser Methoden werden in Tabelle 9 gegenübergestellt.

6.2.2 Gruppendiskussionen In den Gruppendiskussionen sollten die in den Einzelfallstudien gefundenen Probleme bei der Verkehrsteilnahme sowie die Umgangsstrategien vertiefend betrachtet werden. Allgemein versteht man unter einer Gruppendiskussion ein Gespräch mehrerer TeilnehmerInnen zu einem Thema, das von dem/der LeiterIn der Diskussion vorgegeben wird und zu dem Informationen gesammelt werden.192 Ziel ist es, die Meinungen und Einstellungen einzelner TeilnehmerInnen oder der gesamten Gruppe bezüglich eines bestimmten Themas zu ermitteln. Darüber hinaus können gruppenspezifischen Verhaltensweisen sowie die Prozesse untersucht werden, die zu einer individuellen oder einer Gruppenmeinung führen, oder es können gruppenübergreifende Orientierungsmuster herausgearbeitet werden. Mit Blick auf den Forschungsprozess können Gruppendiskussionen andere, z.B. standardisierte, Erhebungen vorbereiten, sie können komplementär zu anderen Methoden verwendet werden oder sie können zur Plausibilisierung und

191 Ross et al. (2009). 192 Lamnek (2005).

92 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Überprüfung von Ergebnissen verwendet werden, die in anderen Schritten eines Forschungsprozesses erhoben werden. Im Projekt PHOBILITY dienen die Gruppendiskussionen einerseits der Ergänzung der Fallstudien (komplementärer Einsatz) und andererseits der Plausibilisierung und Überprüfung der dort erhobenen Mobilitätsbarrieren und Bewältigungsstrategien.

6.2.3 ExpertInneninterviews und -workshops Die Ergebnisse aus den Einzelfallstudien (bestehend aus Kombinationen von problemzentrierten Interviews, GPS-Erhebungen und Wegbegehungen) und aus den Gruppendiskussionen wurden mit zwei Gruppen von ExpertInnen diskutiert. Die erste Gruppe verfügt über Expertise in den Bereichen der Verkehrs- und Infrastrukturplanung. Die zweite Gruppe ist auf die Arbeit mit Personen mit psychischen Erkrankungen fokussiert (PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen). ExpertInneninterviews sind eine besondere Form qualitativer Interviews, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnen:  Sowohl die InterviewerInnen als auch die Befragten nehmen an den Interviews in einer Rolle als Fachmänner bzw. Fachfrauen teil, die über ein spezifisches Wissen verfügen. Daraus folgt, dass es sich beim ExpertInneninterview um ein Gespräch „auf Augenhöhe“ handelt, in dem die ExpertInnen und die InterviewerInnen ein gemeinsames Verständnis des Realitätsausschnitts haben, der erfasst werden soll.193  Der Status der ExpertIn richtet sich nach der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse des Forschungsvorhabens und nur in dieser Perspektive wird der Status der befragten Person als ExpertIn festgelegt. Der ExpertInnenstatus hängt von zwei Elementen ab: (1) ob die betreffende Person Verantwortung für die Planung, Implementierung oder Kontrolle eines spezifischen Handelns trägt und (2) ob eine Person privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen und Entscheidungsprozesse verfügt.194 ExpertInnen können in zwei Kontexten in Forschungsprojekten vorkommen. (1) Sie stehen im Zentrum des Interesses oder (2) sie haben eine Randstellung und dienen der Exploration eines Forschungsfelds, der Generierung von Hintergrund- informationen oder der Kommentierung von Forschungsergebnissen. Im Projekt PHOBILITY haben die ExpertInnen die zweite Funktion. Insbesondere wurden

193 Wassermann (2015, S. 51). 194 Nagel und Meuser (1991).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 93 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen sie um die Einschätzung der Praktiken gebeten, mit denen die in den Fallstudien interviewten Personen Verkehrssituationen bewältigten. Die Auswertungsstrategie orientiert sich an dem von Nagel und Meuser195 vorgeschlagenen Verfahren. Bei ExpertInneninterviews geht es nicht darum, Einzelfälle zu rekonstruieren, sondern das ExpertInnenwissen in thematischen Einheiten zu organisieren und es im Funktionskontext zu verorten, in dem die ExpertInnen tätig sind. Zentral für die Durchführung und Auswertung von ExertInneninterviews ist der Leitfaden, wo bereits darüber entschieden wird, ob das Betriebswissen (Erklärung des ExpertInnenhandelns) oder das Kontextwissen (Wissen über Zusammenhänge, in denen auch die ExpertInnen stehen) thematisiert wird. Im Projekt PHOBILITY steht das Kontextwissen im Zentrum, weil es um die Zusammenhänge geht, in denen ExpertInnen die Handlungsmöglichkeiten betroffener Personen deuten. Für den Leitfaden wurden die Ergebnisse der Einzelfallinterviews, insbesondere die Problemlösungsstrategien der Interview- partnerInnen aufbereitet, damit sie von den ExpertInnen bewertet und kommentiert werden konnten. Dabei spielte vor allem die Generalisierbarkeit und praktische Umsetzbarkeit von Praktiken und Maßnahmen eine Rolle. Die Auswertung der ExpertInneninterviews weist folgende Struktur auf:  Aufbereitung der Interviews, teils in Form von Transkription, teils in Form von Paraphrasen.  Thematische Gliederung und Zusammenfassung: Einschätzungen werden für jede/n ExpertIn zusammengefasst.  Thematischer Vergleich: Übereinstimmung und Unterschiede in der Ein- schätzung der ExpertInnen werden herausgearbeitet. Nach der Analyse der ExpertInneninterviews erfolgten zwei moderierte Workshops mit BedarfsträgerInnen, um den aktuellen Bedarf an Lösungen für diese Zielgruppe zu eruieren und zu diskutieren und die in den ExpertInnen- interviews generierten Lösungsvorschläge auf ihre Machbarkeit hin zu überprüfen. Alle Ergebnisse fließen in die Entwicklung von konkreten Handlungsempfehlungen für die Mobilitätsforschung ein.

195 Ebd. (S. 451 ff).

94 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

6.3 Methodologische Reflexionen – Zur Verwendung von mobile methods und qualitativen Verfahren bei der untersuchten Zielgruppe

In diesem Abschnitt wird versucht, die Vor- und Nachteile der im Rahmen des Projektes verwendeten Methoden zu beschreiben und zu analysieren, damit auf der einen Seite ein Beitrag für die methodische Weiterentwicklung der Erhebungsinstrumente geleistet wird und auf der anderen Seite aber auch mögliche Schwierigkeiten aufgezeigt werden, die im Zusammenhang mit den verwendeten Methodiken bei dieser Zielgruppe auftreten können. In den folgenden Tabellen (Tabelle 7 bis Tabelle 10) werden die Vor- und Nachteile jeder einzelnen Methode jeweils gegenübergestellt.

Tabelle 7: Vor- und Nachteile von problemzentrierten Einzelinterviews

problemzentrierte Vorteile Nachteile Einzelinterviews Akquise und - zügige Terminvereinbarung mit - sensibler Umgang mit Terminvereinbarung interessierten StudienteilnehmerInnen Kontaktpersonen notwendig durch „Sondierung“ durch den (Erstkontakt mit Konsortialpartner PSZ Gesundheitseinrichtungen - verlässliche Einhaltung vereinbarter bevorzugt, birgt den Nachteil zu Termine seitens der TeilnehmerInnen; vieler involvierter Personen in der Rechtzeitige Kommunikation von Kommunikationskette) Absagen (im Gegenzug wird dies auch - Unsicherheit/Skepsis bei der von den ForscherInnen erwartet) Erstkontaktaufnahme gegenüber den Forschenden seitens der TeilnehmerInnen - Notwendigkeit mehrmaliger Anrufe/Nachrichten auf Mobilbox für Terminabstimmung Gesprächseinstieg und - einfacher Gesprächseinstieg aufgrund - anfängliche Zurückhaltung und Problemaufriss des zuvor erarbeiteten Leitfadens Skepsis (Preisgabe von sehr persönlichen Informationen, die normalerweise ausschließlich mit TherapeutInnen/ÄrztInnen besprochen werden) Atmosphäre bei - Interviewort meist Wohnort oder bereits - Schwierigkeit der Erhebung vertraute Gesundheitseinrichtung, was erstmaligen/anfänglichen wiederum die Atmosphäre sowie die Herstellung einer Vertrauensbasis Gesprächsdynamik während dem zwischen ProbandIn und ForscherIn Interview fördert - teilweise anfängliche - Format der Erhebung inkl. Interviewort Erzählhemmnis seitens der förderlich für Gewährleistung der ProbandInnen Privatheit und Vermeidung von - Risiko, dass das Erzählhemmnis Störungen/Einflüssen von außen bzw. während des gesamten Interviews durch andere Personen präsent bleibt Fortsetzung Tabelle 7 S.95

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 95 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 7

problemzentrierte Vorteile Nachteile Einzelinterviews Durchführung - kein Mitschreiben aufgrund der - anfängliches Misstrauen gegenüber gleichzeitig ablaufender mitlaufenden Audioaufnahme der Audioaufzeichnung seitens der Aktivitäten während der notwendig ProbandInnen Erhebung - positiver Einfluss des Nicht- Mitschreibens auf die Gesprächssituation (natürlicheres Gespräch) Benötigter Zeitaufwand - bewusstes Zeitnehmen für das - hohe Abhängigkeit vom Wohnort der bei Erhebung Interview seitens der TeilnehmerInnen ProbandInnen (Risiko einer weiten - Zeitraum von 45 bis 60 Minuten Anreise für ForscherIn gegeben) adäquat um erforderliche Informationen - hoher Zeitaufwand für Auswertung zu erfassen; entspricht ungefähr dem (1:1 Transkription zzgl. Fallstudie) Zeitaufwand für Therapie und somit gewohnte Anstrengung für TeilnehmerInnen Faktor Emotionalität - Themenwechsel durch ForscherIn - emotionale Belastung vor allem während Erhebung steuerbar, bei merkbarer emotionaler beim Gespräch über die Erkrankung Belastung und präsente Einschränkungen im - keine akute Auseinandersetzung mit Alltag merkbar Problemlage (z.B. Verkehrssituation) - Erfassung von sehr privaten Daten als positive Auswirkung auf das als zusätzliche emotionale Gespräch Belastung für TeilnehmerInnen Aussagekraft/Qualität - dichtes Datenmaterial aufgrund von - Abschweifen von der eigentlichen der generierten Daten Transkription vorhanden Thematik der Verkehrsteilnahme - hohes Interpretationspotential aus leicht möglich, da sich unterschiedlichsten Fachrichtungen ProbandInnen u.a. auch in anderen (Gesundheit, Verkehr, Soziologie, Lebensbereichen ähnlich Marktforschung) eingeschränkt und missverstanden fühlen (z.B. Arbeit, Freizeit) und dies mitteilen möchten (zusätzliche Zeitinanspruchnahme) Erreichung der - gut geeignet für qualitative Sondierung - Risiko der Nicht-Erreichung der Zielsetzung der Verkehrsmittelwahl vor, während angepeilten Stichprobe aufgrund und nach der Erkrankung, der von Scham/Hemmnis gegenüber Mobilitätsbarrieren, der Preisgabe sehr persönlicher Bewältigungsstrategien Daten (Meideverhalten) und vor allem - keine Verifizierung der tatsächlichen Lösungsvorschläge Verkehrsmittelwahl, Mobilitätsbarrieren und Bewältigungsstrategien (Meidung, Umweg) möglich (Angaben abhängig von Erinnerungsvermögen der StudienteilnehmerInnen) Datenauswertung - Möglichkeit der kategorischen - hoher Zeitaufwand für Auswertung nach den einzelnen Transkriptionen Fallstudien sowie direkter Vergleich des Datenmaterials möglich Quelle: Eigene Darstellung

96 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 8: Vor- und Nachteile von GPS-Wegaufzeichnungen

GPS- Vorteile Nachteile Wegaufzeichnungen Akquise und - Akquise von ProbandInnen im - Hemmnis bei Methodenteilnahme Terminvereinbarung Anschluss an Einzelinterview durch ProbandInnen (u.a. einfacher, da bereits persönlicher zusätzlicher Stressfaktor, Sorge der Kontakt während dem standortgenauen vorangegangenen Einzelinterview Datenaufzeichnung) Gesprächseinstieg und - ProbandInnen achten bewusst auf - telefonische Erreichbarkeit der Problemaufriss Verkehrsmittelwahl und Barrieren ProbandInnen ggf. nicht sehr gut während des Zurücklegens eines - Zeitraum zwischen Erhebung und Weges Nachbesprechung des - Nachbesprechung telefonisch möglich Wegeprotokolls sollte im Idealfall - aufgrund der regelmäßigen Wege fällt nicht mehr als 2 Wochen betragen es den ProbandInnen leicht, sich an (andernfalls Risiko der lückenhaften die aufgezeichneten Wege und Rekonstruierung der Barrieren zu erinnern Verkehrsmittelwahl/Barrieren entlang der aufzeichneten Wege) Atmosphäre bei - fortlaufendes, flüssiges Gespräch, da - abhängig von ProbandIn, ob Erhebung Wegeprotokoll bereits vorliegt und Telefonat unangenehm ist oder dieses mit den ProbandInnen nicht durchgegangen wird Durchführung - Gerät leicht handhabbar; kann von - bei gleichzeitiger Ablenkung gleichzeitig ablaufender ProbandInnen umgehängt werden (Teilnahme am Straßenverkehr) Aktivitäten während der oder einfach in einer Tasche/einem Potential zur verzögerten/ Erhebung Kleidungsstück transportiert werden lückenhaften Datenaufzeichnung - keine Geräusche bei Bedienung; gegeben unauffälliges Bedienen möglich - Scham bei Betätigen des Geräts während Verkehrsteilnahme (gegenüber anderen VerkehrsteilnehmerInnen) Benötigter Zeitaufwand - gering für die ProbandInnen, da sie - hoher Zeitaufwand für bei Erhebung (meist) die aufgezeichneten Wege ForscherInnen aufgrund manueller ohnehin durchführen (Alltagswege zur Auswertung der Wege (teilweise Arbeit, zum Einkaufen) fehlendes GPS-Signal erschwert Interpretation) Faktor Emotionalität - ProbandInnen sind alleine mit der - Daten (wie z.B. Befinden während während Erhebung Erhebung beschäftigt bzw. alleine Verkehrsteilnahme), die für die unterwegs und können diese Erforschung der Zielgruppe gegebenenfalls unterbrechen (z.B. in interessant/wichtig wären, können emotionalen oder schwierigen zum Zeitpunkt der individuellen Momenten) GPS- Erhebung nicht erfasst - ProbandInnen haben die Möglichkeit werden nur jene Wege aufzuzeichnen, die für - lückenhafte Daten, da der Faktor sie emotional bewältigbar sind der Emotionalität möglicherweise Auswirkungen auf die Verkehrsmittel- und Wegewahl hat, dies aber nicht realitätsgetreu erfasst wird Fortsetzung Tabelle 8 S.97

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 97 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 8

GPS-Wegaufzeichnungen Vorteile Nachteile

Aussagekraft/Qualität der - standortgetreue Aufzeichnung der - GPS-Aufzeichnung alleine nicht generierten Daten Wege aussagekräftig, da u.a. markierte - bliebe das GPS-Gerät tagsüber Barrieren nicht mit Informationen eingeschaltet, könnte man noch hinterlegt sind genauer alle durchgeführten - Wegzwecke nur durch GPS- Ortsveränderungen erfassen Erhebung nicht erfassbar - wichtige Wegedaten wie (Rücksprache mit ProbandInnen Geschwindigkeiten, Distanz und notwendig) Dauer von Wegen und - Nachbesprechung bedeutet Verkehrsmittelwahl enthalten zusätzlichen Zeitaufwand - bei Nachbesprechung sind den ProbandInnen die Barrieren meist sehr gut in Erinnerung/ bewusst, da ProbandInnen oftmals sehr stark auf diese reagiert haben Erreichung der - geeignet zur Validierung von Daten - Risiko fehlerhafter Aufzeichnungen Zielsetzung aus Einzelinterviews durch ProbandInnen (z.B. - generell positives Feedback zur Vergessen auf Betätigung des Benutzung der GPS-Geräte Gerätes, falsche Betätigung der Tasten, Vergessen auf Laden des Akkus) Datenauswertung - Anonymisierung der erhobenen Daten - hoher Zeitaufwand für die einfach, da reine Erhebung der nachfolgende Protokollierung der Verkehrsmittelwahl und Barrieren Wege auf Etappenbasis auch ohne persönliche Daten möglich - Schwierigkeit der Zuordnung von Wegzwecken mittels Vergleich anderer Kartengrundlagen (z.B. Google Maps) - Einschränkungen der Methodenanwendung aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen (u.a. Altersgrenze) - Verfügbarkeit über standortgenaue Angaben (Anonymisierung der Daten von höchster Relevanz) - Zeitaufwand für Datenauswertung dann besonders groß, wenn GPS- Erhebung nach einem Interview durchgeführt wird Quelle: Eigene Darstellung

Tabelle 9: Vor- und Nachteile von Wegbegehungen

Wegbegehung Vorteile Nachteile

Akquise von - Akquise von ProbandInnen im - starker Eingriff in Privatsphäre; es ProbandInnen und Anschluss an Einzelinterview besteht die Annahme, dass Terminvereinbarung einfacher aufgrund dessen die - flexible Termingestaltung von Seiten Teilnahmebereitschaft dermaßen der ProbandInnen gering ist - Wegebewältigung für ProbandInnen generell schwierig (zusätzliche Belastung durch „unbekannte“ Begleitperson) Fortsetzung Tabelle 9 S.98

98 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 9

Wegbegehung Vorteile Nachteile

Gesprächseinstieg und - Ablauf weniger formell als beim Problemaufriss Interview, da viele externe Einflüsse und somit laufend neue Gesprächsinputs (z.B. Problemlagen) gegeben sind Atmosphäre beim - Durchführung der Wegbegehung im - Risiko, dass während der Interview/Gespräch Anschluss an das Interview und somit Wegbegehung Angst- oder bereits Vertrauensbasis vorhanden Paniksituationen auftreten - Gesprächsverlauf wirkte offener und - Umgang schwierig, wenn Momente ungezwungener des Unbehagens seitens der - Unterstützung der ProbandInnen bei ProbandInnen auftreten; schwierig Wegbewältigung durch Anwesenheit einzuschätzen ob man die eines/einer Forschenden Situation mit ablenkenden (Barrierehemmer Begleitperson) Maßnahmen (z.B. Gesprächen) beeinflussen soll (Schweigen vs. Plaudern) Durchführung - Durchführung gleichzeitiger gleichzeitig ablaufender Aktivitäten weniger geeignet, da Aktivitäten vollste Aufmerksamkeit ProbandInnen gehören sollte

Zeitaufwand - da die Herkunftsorte der teilnehmenden ProbandInnen vorab nur ungefähr abschätzbar waren (räumlicher Bezug zu PSZ- Stellen), konnte der zeitliche Aufwand für die Durchführung der Wegbegehungen erst spät abgeschätzt werden - teilweise nahmen An- und Abfahrt mehr Zeit in Anspruch als die eigentliche Wegbegehung - da die Begleitwege von den ProbandInnen gewählt bzw. vorgeschlagen wurden (besser i.S. von Glaubwürdigkeit), war der benötigte Zeitaufwand für einzelne Wegbegehungen schwer abzuschätzen - Empfehlung: Vorab in etwa 2,5 Stunden für eine Wegbegehung inkl. An- und Abreise einplanen emotionale Komponente - Erfassung des aktuellen Befindens - erhöhte Belastung für der ProbandInnen und ProbandInnen, da starke Gefühlszustand während Konfrontation mit Krankheit und Verkehrsteilnahme möglich Mobilitätseinschränkung; führt teils zu unausweichlichen, unangenehmen Situationen während Erhebung - evtl. Scham vorhanden seitens ProbandInnen gegenüber ForscherIn, was ggf. ein anderes Verhalten (z.B. in Momenten des Unbehagens) als bei alleiniger Fahrt zur Folge hat Fortsetzung Tabelle 9 S.99

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 99 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 9

Wegbegehung Vorteile Nachteile

Aussagekraft/Qualität der - Erfassung von realen Situationen für - Nachteil bei Dokumentation der generierten Daten Studie inkl. Vergleichbarkeit mit den erfassten Daten, weil Daten aus den Interviews Verschriftlichung des Erlebten im - sehr dichtes Datenmaterial: neben der Nachhinein erfolgt Erfassung von faktischen Daten zur - sowohl Smartphone als auch Verkehrsmittelwahl werden Block/Zettel eher unhandlich: Informationen zur Einstellung und o Smartphone  Abwesenheit möglichen Alternativen der von ProbandIn bzw. ProbandInnen erfasst Abgelenktheit - Daten stellen eine wertvolle o Block/Zettel  Ergänzung zu den im Interview möglicherweise Erregung von generierten Daten/Infos dar Aufmerksamkeit durch ständiges Mitschreiben und dadurch unangenehme Situation für ProbandIn o ggf. werden keine weiteren Daten (die über das Interview hinaus gehen) erhoben => ggf. Nachbearbeitungs- aufwand

Erreichung der - Methode geeignet zur Erfassung von - Risiko mangelhafter Daten Zielsetzung Daten zur Verkehrsteilnahme und - Risiko des Abbruchs eines Weges Barrieren und fehlender Datensätze durch - zusätzliche wertvolle Informationen Wegbegehung aufgrund von aktiver Teilnahme an - ggf. fließt bei Auswahl des Weges Weg/Route für Wegbegehung durch ProbandIn Scham mit ein, sodass wenig stark beeinflussender Weg gewählt wird

Datenauswertung - Zeitaufwand für Auswertung gering - Potential fehlender (wichtiger) - es können sowohl faktische Informationen, da sich Mitschrift als Informationen als auch eher schwierig herausgestellt hat Beobachtungen durch - wenn Informationen nicht direkt im ForscherIn/BegleiterIn dokumentiert Anschluss an Wegbegehung werden festgehalten/verschriftlicht werden, besteht die Gefahr, dass wichtige Erkenntnisse verloren gehen

Quelle: Eigene Darstellung

Tabelle 10: Vor- und Nachteile von Gruppendiskussionen

Gruppendiskussion Vorteile Nachteile

Akquise von - Akquise von TeilnehmerInnen über - in der Gruppe vor „Fremden“ über TeilnehmerInnen und Kontakte bzw. Selbsthilfegruppen von eigene Ängste und Terminvereinbarung PSZ möglich Einschränkungen/Barrieren zu sprechen, schreckt manche potenziellen TeilnehmerInnen ab

Fortsetzung Tabelle 10 S.100

100 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 10

Gruppendiskussion Vorteile Nachteile

Gesprächseinstieg und - Gesprächseinstieg durch eine kurze Problemaufriss Vorstellung des/der ModeratorIn durch eine den TeilnehmerInnen bekannte Betreuungsperson (PsychologIn) schafft Vertrauen und erleichtern den Einstieg Atmosphäre beim - Durchführung der Gruppendiskussion - ModeratorIn als „externe“ Person in Interview/Gespräch in gewohnter Umgebung der einer Gruppe von Leuten, die sich TeilnehmerInnen und die jeweiligen Probleme - TeilnehmerInnen an den kennen wirkt z.T. einschränkend Gesprächsrunden kannten sich auf die Offenheit untereinander - stark introvertierte - eine den TeilnehmerInnen bekannte TeilnehmerInnen bekommen im Betreuungsperson (PsychologIn) war Setting einer Gruppe deutlich bei den Gesprächen anwesend und weniger Gesprächszeit als in trug zur Schaffung von Vertrauen und Einzelinterviews Sicherheit bei

Durchführung - durch Audioaufzeichnung der - Durchführung gleichzeitiger gleichzeitig ablaufender Gruppendiskussionen kein Aktivitäten weniger geeignet, da Aktivitäten Mitschreiben nötig, d.h. völlige vollste Aufmerksamkeit Konzentration auf die TeilnehmerInnen gehören sollte Gesprächsführung möglich Zeitaufwand - hohe Zeiteffizienz für den Forscher bei - Transkription der der Durchführung, da in einem Diskussionsrunden ist sehr Zeitraum von ca. 1,5 Stunden pro zeitaufwändig Gruppendiskussion Daten von mehreren (bis zu 8) TeilnehmerInnen erhoben werden - die TeilnehmerInnen nahmen an den Diskussionsrunden im Zuge ihres Betreuungs-programms teil, wodurch sie keinen zusätzlichen Zeitaufwand hatten emotionale Komponente - TeilnehmerInnen werden nicht nur mit den eigenen angstauslösenden Themen konfrontiert, sondern müssen sich auch mit Schilderungen anderer Betroffener auseinandersetzen Aussagekraft/Qualität der - dichtes Datenmaterial aufgrund von generierten Daten Transkription vorhanden Erreichung der - gute Datenqualität und Quantität um - Gefahr des Abschweifens vom Zielsetzung mögliche Barrierehemmer generieren eigentlichen Thema, da und analysieren zu können TeilnehmerInnen in der Gruppe dazu tendieren zu generalisieren und verleitet sind, eher allgemeine Themen (die jeden betreffen) zu diskutieren als konkreter und tiefer auf personenspezifische Probleme einzugehen Datenauswertung - zeitaufwändige Transkription und Analyse Quelle: Eigene Darstellung

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 101 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Die Kombination von mobile methods, klassischer Formen des Interviews und Gruppendiskussionen, hat sich als effizient erwiesen, da unterschiedlichste Informationen generiert werden konnten. Es zeigte sich, dass die Wegbegehungen wie auch die Interviews als eine Form der Interaktion verstanden werden müssen, da die Anwesenheit des Forschers/der Forscherin ähnlich wirkt, wie eine unterstützende (oder motivierende) Begleitperson. Insofern ist es sinnvoll, die Wegbegehungen als „ökologische Experimente“ zu begreifen, in der die ForscherInnen zu einem Teil der experimentellen Anordnung eines Settings werden.196

6.4 Methodologische Fragen des multiplen Fallstudiendesigns: Zur Typizität und Repräsentativität von Fallstudien und narrativen Darstellungen

Die empirische Erhebung und Analyse psychisch bedingter Mobilitätsbarrieren basiert im Kern auf Einzelfallstudien. Dieses Vorgehen empfiehlt sich aus zwei Gründen: (1) Krankheit ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht ein Individualphänomen, das allerdings von strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen mit- bestimmt wird. Wie eine soziale Situation, das ist der strukturelle Kontext einer Handlung, bewältigt wird, muss auf den subjektiven Sinn zurückbezogen werden, durch den ein Individuum seine Lage erfasst und darauf reagiert.197 Einzelfallstudien berücksichtigen diesen Umstand, indem jeder Fall zunächst für sich als individuelle Sinnstruktur aufgefasst und analysiert wird, bevor im vergleichenden Verfahren Generalisierungen vorgenommen werden können. (2) In Einzelfallstudien lässt sich die Verlaufsdynamik des Handelns erfassen. Insbesondere bei psychischer Krankheit ist eine Barriere kein stabiles und dauerhaftes Phänomen. Barrieren können sich innerhalb eines Tages verändern. Genauso verändern sie sich längerfristig innerhalb einer Krankengeschichte. Diese beiden Umstände: die Individualität von Barrieren, die über die Struktur von Handlungssituationen verallgemeinert werden können, sowie die Abhängigkeit der Barrieren von der Falldynamik lassen Einzelfallstudien als

196 Bronfenbrenner (1979). 197 Auf diesen Sachverhalt weist Gerhardt (1985, S. 164) in ihrer Diskussion des Coping-Modells von Harold Wolff (1953) hin, das im Zusammenhang der Stress-Theorie der Erklärung von Krankheit entwickelt wurde: „But Wolff makes it clear that it is not the nature of the stressor that counts but, rather, the meaning which the individual attributes to it.“ Der Stressor selbst ist nicht das entscheidende Moment, sondern dessen Interpretation.

102 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen geeigneten Zugang erscheinen, um psychisch bedingte Mobilitätsbarrieren als Teil von Handlungsstrukturen zu verstehen und auf dieser Basis zu erklären. Jede Fallstudie besteht zumindest aus einem problemzentrierten Interview. Zusätzlich können begleitete Wegbegehungen und GPS-Aufzeichnungen von Alltagswegen hinzukommen. In diesem Abschnitt wird erläutert, auf welche Weise Einzelfallstudien zu verallgemeinerbaren Aussagen über soziale Sachverhalte führen können. Es soll die Frage geklärt werden, in welcher Weise Einzelfälle verallgemeinert werden können, das heißt, inwiefern sie als typisch gelten können. In einer Arbeit über Anpassungsstile bei chronischer Krankheit argumentiert Radley,198 dass eine Vorab-Klassifikation der Anpassungsstile auf Basis rein analytischer Annahmen nicht erstellt werden kann. In Interviews mit chronisch kranken Personen, so konnte er zeigen, wird nicht nur über die Krankheit und den Umgang damit gesprochen; der Anpassungsstil kommt vielmehr im Diskurs selbst zum Ausdruck: „The discourse is not just a commentary on adjustment to illness; it is itself an important aspect of adjustment style.“199 Gerhardt zieht daraus den Schluss: „Der Hinweis auf ‚Stil‘ und ‚Diskurs‘ verdeutlicht, daß [sic!] Interaktionskontexte zentral zu berücksichtigen sind.“200 Äußerungen in Interviews lassen sich dann als Handlungen im Kontext der Interviewsituation begreifen. Dabei ist grundlegend, dass die Interview- partnerInnen im Sprechen nicht nur ihre Gedanken darstellen, sondern auch etwas tun. Zugleich erfassen – verstehen und erklären – sie ihre Situation nicht nur individuell, sondern es spielen auch institutionelle und strukturelle Momente eine Rolle, die eine sprachliche Äußerung formen: „Das Handlungsverständnis im individuellen Denken-Tun verwirklicht auch institutionalisierte Formen der es umgebenden Gesellschaft.“201 Im Einzelfall, der sich immer mit strukturellen und institutionalisierten Elementen der ihn umgebenden Gesellschaft auseinandersetzt, sind diese Elemente daher enthalten, aber immer in je individueller und besonderer Weise. Der wichtige Gedanke, der dabei entwickelt wird und der auch heute noch für qualitative Forschung verbindlich ist, besagt, dass zwischen den diskursiven Äußerungen über die Situationsbewältigung und den Handlungsschemata der Situationsbewältigung Gleichförmigkeit besteht. Daten, die in einer Interview- situation entstehen, liefern daher Einsicht in die individuelle Situations- bewältigung und die strukturellen Gegebenheiten.

198 Radley (1989). 199 Radley (1989, S. 234). 200 Gerhardt (1999, S. 115). 201 Gerhardt (1999, S. 116).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 103 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Dieser Gedanke, dass Erzählung (sprachliches Denken) und Handlung, aber auch individuelle Geschichte und kulturelle Umgebung verklammert sind, wird in der narrativen Psychologie verdeutlicht, wie sie unter anderem entwickelte.202 Bruner verweist darauf, dass Erzählungen über das eigene Leben immer individuelle Sinnkonstruktionen sind, in denen erinnerte Lebensereignisse ausgewählt und in Zusammenhang gebracht werden. Aber indem sich Menschen in narrativen Konstruktionen gegenüber einer anderen Person (einem/einer AdressatIn der Erzählung) erzählen, entwerfen sie sich auch: „In the end, we become the autobiographical narratives by which we ‚tell about‘ our lives.“203 Auf diese Weise wird die Gleichförmigkeit von Handlungs- und Erzählschema begründet. Aus einer übergeordneten kognitiven Struktur wird das eigene Handeln retrospektiv erkannt und prospektiv entworfen. Die Versionen einer Erzählung über das eigene Leben stellen aber immer auch mögliche Lebensentwürfe dar, die als kultureller Bestand verfügbar sind. In gewisser Weise ist eine biographische Erzählung über ein kulturell verfügbares Schema vorausentworfen. Im Erzählen autobiographischer Darstellungen muss auf kulturell vermittelte Erzählformen zurückgegriffen werden. Die kulturellen Formen springen aber auch dort ein, wo die individuellen Erzählungen „Löcher“ haben, unvollständig sind oder wo sich eine Erzählperson selbst keinen Reim auf seine Geschichte machen kann, warum etwas so gekommen ist wie es gekommen ist. Diese doppelte Einheit von Erzählung und Handlung (die Erzählperson ist der- oder diejenige als der/die sie sich erzählt und handelt entsprechend) und von individueller Version und kultureller Möglichkeit (eine individuelle biographische Darstellung ist auch eine kulturell verfügbare Möglichkeit) ist die Gelenkstelle, die es erlaubt, narrative Darstellungen von Ereignissen und Handlungen im eigenen Lebenszusammenhang als Daten für eine verallgemeinernde Analyse zu verwenden. Damit aus der individuellen Schilderung in einem Einzelfall verallgemeinerbare Aussagen abgeleitet werden können, ist eine vergleichende Fallanalyse notwendig. Eine Reihe parallel ermittelter Fallverläufe führt dann zu verlässlichen Aussagen, wofür eine systematische multiple Fallstudien-Methodologie entwickelt werden muss.204 Auf diese Weise kann das Allgemeine, das sich immer in besonderen Formen zeigt, unter einem bestimmten Gesichtspunkt auf eine typische Form gebracht werden, was eine Leistung der ForscherInnen ist, die ihr wissenschaftliches Vorwissen an eine Gruppe von Fällen herantragen.

202 Bruner (1986, 2004). 203 Bruner (2004, S. 694). 204 Gerhardt (1999, S. 119).

104 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Gerhardt verweist darauf, dass unter soziologischem Gesichtspunkt ein Einzelfall immer eine Mischung aus subjektiven Erfahrungen und objektiven Struktur- momenten darstellt, mit denen sich diese Erfahrungen auseinandersetzen.205 In Gerhardts Untersuchung über biographische Verläufe nach koronarer Bypass- Operation ist die Frage, ob beispielsweise nach einer Bypass-Operation im Alter von 55 Jahren die Rückkehr in den Beruf oder der Rückzug aus der Arbeitswelt in die Frühpension gewählt wird, eine individuelle Entscheidung, die sich mit den Möglichkeiten wohlfahrtsstaatlicher Pensionssysteme und arbeitsrechtlicher Rahmenbedingungen auseinandersetzt. Die damit eröffneten Optionen spielen als strukturelle Elemente in den Überlegungen der PatientInnen eine Rolle, aber genauso wie die Stressoren bei Harold Wolff sind sie in je individueller Interpretation im Bewusstsein der Handelnden repräsentiert.206 Wenn also valide Forschungsergebnisse aus qualitativer Forschung abgeleitet werden sollen, dann müssen mehrere Fälle untersucht und verglichen werden, weil sich erst dann Variationen um einen thematischen Kern zeigen, die Aussagen über typische Verläufe ermöglichen. Qualitative Fallstudien können nach Platt in zwei Formen auftreten: als rhetorische oder als logisch-analytische Fallstudien.207 Rhetorische Fallstudien verdeutlichen einen sozialen Sachverhalt; logisch analytische Fallstudien beschäftigen sich vergleichend mit mehreren Fällen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen und um aus dem Datenmaterial anhand der Fallkontexte soziale Prozesse herauszuarbeiten. Darüber hinaus kann eine logische und systematische Datenanalyse mit Hilfe multipler Fallstudien theoretische Aussagen aus der soziologischen Literatur empirisch überprüfen.208 In der vorliegenden Studie wird der Schwerpunkt vor allem auf den dritten Aspekt gelegt. Theoretische Konzepte der soziologischen Literatur, die den Zusammenhang von Angst und Handlungssituation herstellen, werden mit Hilfe von Fallstudien überprüft und mit Blick auf die spezifischen Problemlagen von Personen, die unter Phobien, Angst- und Zwangsstörungen leiden, konkretisiert. Die von uns herangezogenen theoretischen Konzepte werden vor dem Hintergrund von Einzelfällen daher nicht einfach falsifiziert, sondern sie werden herangezogen, um die strukturellen Kontexte zu beschreiben, mit denen sich unsere InterviewpartnerInnen in je individueller Weise auseinandersetzen. Der analytische Ausgangspunkt ist, dass eine Phobie, Angst- oder Zwangsstörung die Voraussetzungen schwächt, unter denen ein Individuum eine

205 Gerhardt (1999, S. 115). 206 Ebd. 207 Platt (1988). 208 Gerhardt (1999, S. 120).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 105 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen adäquate Interpretation der Situation leisten kann, um entsprechend der situati- ven Rollenanforderungen zu handeln. Auf dieser Basis lässt sich als Arbeitshypothese für die Interpretation der Einzelfälle formulieren: Bei einer schweren Phobie, Angst- oder Zwangsstörung, die beispielsweise mit dem Erlebnis von Panik verbunden ist, kann entweder das normale Erscheinungsbild nicht konstituiert werden oder es gelingt nicht, dass die Grenzen der Territorien des Selbst (als persönlicher Raum, Informations- aufbewahrerIn usw.) gesichert werden. In beiden Perspektiven stehen die betroffenen Personen unter dem Eindruck der Verletzlichkeit des Raums, also ihrer Handlungsumwelt oder ihrer Handlungsterritorien. Wenn die Verletzlichkeitsphantasien sich nicht beruhigen lassen und wenn sie an den (für andere) harmlosen Situationen keine Anknüpfungspunkte einer realistischen Einschätzung finden, kann die Angst stärker werden und in Panikzustände eskalieren. Wenn sich diese analytischen Annahmen bewähren, dann ist der Zweck einer Sondierung auf empirischer und theoretischer Basis erfüllt. Darüber hinaus erfüllt die Studie PHOBILITY eine Forderung, die der Methodologie der klassischen empirischen Sozialforschung entspricht: Es wird Datenmaterial erhoben, mit dem allgemeine Aussagen überprüft werden können. Auf Basis der Ergebnisse können Hypothesen aufrechterhalten oder falsifiziert werden.209 Fallstudien, die auf qualitativem (narrativem) Fallmaterial basieren, erfüllen vor dem Hintergrund dieser Überlegungen dieselben Anforderungen, die für die statistische Surveyforschung gelten. Aber das Vorgehen ist induktiv, das heißt, dass die narrative Qualität der Daten und damit die Besonderheit der Einzelfälle gewahrt werden muss. Damit wird sichergestellt, dass sich die Erklärungen der Sachverhalte in einzelnen Fällen finden lassen. Sehr oft wird in diesem Zusammenhang der Einwand vorgebracht, dass die Einzelfälle einer qualitativen Studie die Erfordernisse der Repräsentativität nicht erfüllen. Dieser Einwand übersieht aber, dass es zwei verschiedene Formen der Repräsentativität gibt. Repräsentativität kann entweder auf Basis einer Zufallsstichprobe hergestellt werden. Dieses Vorgehen wird in statistischen Untersuchungen gewählt, in denen die Stichprobe bestimmte Eigenschaften einer Grundgesamtheit abbildet. Die andere Möglichkeit ist, dass für jeden untersuchten Fall gefragt wird, ob vor dem Hintergrund eines bestimmten analytischen Interesses eine hypothetisch postulierte kausale Beziehung besteht. Diese induktive, logische Kausal- betrachtung wurde von Mitchell für die qualitative Forschung formuliert.210 Er

209 Gerhardt (1999, S. 120f). 210 Mitchell (1983).

106 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen zeigt, dass eine kausale Beziehung, die in einem Fall aufgefunden wurde, durch jeden neuen Fall nach dem Erkenntnisprinzip der Extrapolation überprüft wird. Indem aber die Fälle in ihren Kontexten betrachtet werden, ist es nicht möglich, an einem einzigen Fall die typischen Zusammenhänge aufzuweisen. Sondern es muss anhand von mehreren Fällen ein allgemeiner Zusammenhang in unterschiedlichen Formen, in denen er vorkommt, gezeigt werden. Es wird also nicht einfach eine allgemeine theoretische Regelmäßigkeit (deduktiv) an einem Einzelfall überprüft, sondern es wird gezeigt, wie eine allgemeine (typische) Regelmäßigkeit in unterschiedlichen Varianten vorkommt. In dieser Forschungs- strategie haben auch abweichende Fälle einen Platz, an denen die Grenzen des theoretischen Erklärungsrahmens ausgewiesen werden können. Wenn ein Sachverhalt auf Basis einer Reihe von Fällen untersucht wurde, lassen sich Fälle begründet auswählen, an denen dieser Sachverhalt paradigmatisch und besonders deutlich erläutert werden kann. Die Einzelfälle lassen sich auf diese Weise vor dem Hintergrund eines idiosynkratrischen Falls deuten, an dem in scharfen Konturen die Prinzipien der Ereignisse nachgezeichnet werden.211 In der vorliegenden Studie heißen diese paradigmatischen Fälle Referenzfälle. Für jeden der beiden typischen Strukturen, die in der empirischen Analyse identifiziert und für die in der soziologischen Theorie eine Entsprechung gefunden wurde, lässt sich ein Fall angeben, der den Zusammenhang zwischen Angst und Raum deutlich zum Ausdruck bringt. Da es sich bei Krankheit um ein Individualphänomen handelt, lässt sich das Typische nicht eindeutig festmachen. Für jeden Einzelfall ist etwas anderes Typisch und das Typische lässt sich auch nicht immer rein erkennen. Aber es lässt sich vor dem Hintergrund eines paradigmatischen Falls, mit dem es verwandt ist, nachvollziehen und in seiner Ähnlichkeit und Unähnlichkeit einschätzen.

211 Mitchell (1983, S. 204).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 107 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

7 Ängste als Mobilitätsbarrieren

7.1 Einleitung

Für die Analyse werden alle Fälle als Varianten der situationellen Handlungsstruktur betrachtet. Für die Frage, welche Mobilitätsbarrieren sich für Personen ergeben, die unter Phobien, Angst- und Zwangsstörungen leiden, sind die Fälle im analytischen Sinn repräsentativ, wie es im Kapitel 6.4 über die Methodologie von Einzelfallstudien dargestellt wurde. Damit ist empirische Generalisierung möglich und es können auch begründete Maßnahmen zur Unterstützung von Menschen, die unter Ängsten und Zwängen leiden, entwickelt werden. Als Bezugspunkt der Analyse wird zunächst ein zweidimensionaler Eigenschaftsraum entworfen, in dem zwei Fälle unter zwei Gesichtspunkten verortet werden. Die erste Dimension bezieht sich auf die beiden von Goffman entwickelten Raumkonzeptionen.212 Sie fragt danach, ob die Individuen eher Probleme mit der Konstitution eines normalen Erscheinungsbildes der Umwelt oder mit der Etablierung bzw. der Verletzung der Territorien des Selbst haben. Für jede der beiden Möglichkeiten kann die Situation in den oben herausgearbeiteten Aspekten betrachtet werden; Situation bezieht sich auf den/die Handelnde(n) selbst oder die Personen, Dinge und Symbole, denen er oder sie ausgesetzt ist. Wenn situationsbezogene Ängste in einer oder in beiden Formen bestehen, spricht man von situativer Unsicherheit. Die zweite Dimension bezieht sich auf die Verlaufsdynamik einer Krankheit. Die Fälle lassen sich als biographische Verlaufsmuster begreifen, die Mobilitätskarrieren im Zusammenhang mit Krankheit darstellen. In der Handlungsorientierung können Rückzugstendenzen oder Bewältigungs- tendenzen dominant sein. Die Ausprägung der Stärke der Rückzugstendenzen, stellt einen Indikator für deviante Handlungsorientierungen dar. Daher ist die zweite Dimension zugleich ein Maß für die Schwere einer Angst- oder Zwangsstörung.

7.2 Zwei Referenztypen

Auf Basis dieses Eigenschaftsraums lassen sich zunächst zwei Typen konstruieren, in denen die Probleme der Konstitution einer sicheren Handlungssituation erfasst werden. Sie werden im Folgenden als Typ A und als Typ B bezeichnet (siehe Tabelle 11). Die Typen sollen als analytische und reine

212 Siehe Kapitel 4.3.

108 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Typen verstanden werden. Sie kommen in dieser Form in der empirischen Wirklichkeit nicht vor, sondern es sind Grenzfälle, zwischen denen es Misch- formen gibt

Tabelle 11: Eigenschaftsraum für die Fallanalyse

Motivationale Orientierung

Rückzug Bewältigung

Raumbezug Umwelt Verlust des normalen Stabilisierung des normalen (Typ A) Erscheinungsbildes Erscheinungsbildes

Territorium Bedrohung territorialer Sicherung territorialer Grenzen (Typ B) Grenzen

Quelle: Eigene Darstellung

7.3 Fünf Phasen des Zusammenhangs von Krankheit und Verkehrsteilnahme

Wenn die zwei Referenztypen mit den Fallverläufen verknüpft werden, ergeben sich Übergänge, die den Prozess zunehmender Krankheit (Rückzug) oder zunehmender Genesung (Bewältigung) meinen. Krankheit wird auf zwei Weisen definiert: (1) als Inkompetenz, Rollenanforderungen zu genügen (Kompetenz- modell) und (2) als Vorherrschen motivationaler Tendenzen, die nicht mit sozialen Erwartungen zusammenstimmen (Devianzmodell). Im empirischen Material finden sich Krankheitsverläufe in verschiedenen Stadien. Manche Fälle werden im Rückblick geschildert, der Erkrankung, Krise und Genesung umfasst. Andere Fälle befinden sich mitten in einer Krankheitsphase und die künftige Entwicklung ist noch nicht absehbar. Eine dritte Art von Fallverlauf deutet auf eine Chronifizierung der Krankheit hin. Genesung wird in solchen Fällen aus Sicht der Betroffenen für sehr unwahrscheinlich gehalten oder sie leben schon sehr lange mit der Krankheit und haben auch gelernt, sie in ihren Alltag zu integrieren. Aus dieser Grundkonzeption lassen sich verschiedene Verlaufstypen konstruieren, die bei den analytischen Schnitten – das sind die Analysen von Situationen der Verkehrsteilnahme zu verschiedenen Zeitpunkten des Krankheitsverlaufs – berücksichtigt werden. Die motivationale Orientierung wird von der Verlaufsdynamik der Krankheit her in Phasen untergliedert, die eine Verschlechterung bzw. eine Verbesserung gemessen an der kompetenten Verkehrsteilnahme über Rollen bedeuten. Die Krankheitskarriere, die zur vollständigen Genesung führt, lässt sich in fünf

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 109 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Phasen darstellen (siehe Tabelle 12).213 Im Zusammenhang mit der Verkehrsmittelwahl wird die Unterscheidung von choice und captive driver/rider zugrundegelegt. Dabei wird der Begriff choice enger gefasst, der für den hier untersuchten Zusammenhang auch die (scheinbar) alternativlose Wahl eines Verkehrsmittels impliziert. Dennoch kann die Person ein Verkehrsmittel wählen, ohne sich dazu in der Situation gezwungen zu fühlen. Phase drei (Verlust) gibt es nur in sehr schweren Fällen, in denen die Rückzugstendenzen so stark sind, dass die Verkehrsteilnahme unmöglich wird. Die Phasen zwei und vier deuten auf Verschlechterung und Genesung hin. Chronifizierung bedeutet, dass die Verschlechterung irgendwann aufhört und die Person lernt, sich mit der Situation zu arrangieren. In diesem Fall ist die fünfte Phase nicht die Rückkehr zur Vollmobilität, sondern Stabilisierung im Sinne eines pragmatisch angemessenen Arrangements zwischen Angebot und eigenen Möglichkeiten.

Tabelle 12: Phasenstruktur des Zusammenhangs von Mobilität und Angststörung

Vollmobilität Einschränkung Verlust Erweiterung Vollmobilität oder Stabilisierung

freie Verkehrsmittel- freie Bewältigung der Rückzug aus der Bewältigung der nutzung (choice) Verkehrsmittel- Situation trotz Situation Situation trotz oder Arrangement nutzung Belastung Belastung (weder captive, zwischen Angebot (choicecaptive) (choice) noch choice) (captivechoice) und eigenen Möglichkeiten Quelle: Eigene Darstellung

213 Rückfälle, das heißt die Verschlechterung vom Standpunkt bereits erreichter Fortschritte der Genesung, stellen eine Komplikation des Grundschemas dar, müssen aber nicht als eigener Verlaufstyp behandelt werden. Zum Konzept der Krankheit als Karriere vergleiche Goffman (1961).

110 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8 Typ A: Verlust und Wiedererlangen des normalen Erscheinungsbildes

8.1 Referenzfall Amadea

In diesem Abschnitt wird ein Überblick über Fälle unter dem Gesichtspunkt gegeben, deren Schwerpunkt auf Problemen mit der Konstitution eines normalen Erscheinungsbildes liegt. Für jeden Fall wird ein Abriss der Mobilitätskarriere gegeben, um daran anschließend die Formen situativer Unsicherheit zu bestimmen, wobei mit Blick auf die Verlaufsdynamik die situativen Merkmale hervorgehoben werden, die Rückzugsorientierung (Vermeidung) bzw. Bewältigungsorientierung unterstützen. Amadea wird als paradigmatischer Referenzfall für den Typ A herangezogen. Zum Zeitpunkt der Interviewführung liegen die Phase der Krankheit und ihre Genesung in der Vergangenheit. In ihrer biographischen Darstellung schildert Amadea den Ausbruch einer Angststörung, ihre Steigerung zu einer schweren Krise und ihre vollständige Genesung.

8.1.1 Mobilitätsphasen 1 bis 3: Von der anfänglichen Überwindung zu „becoming a captive“ Amadea ist bis zum Ausbruch der Krankheit vorwiegend mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Einkaufswege bewältigt sie zu Fuß. Mit zuneh- menden Angstzuständen – Amadea nennt es den ersten Teil der Krankheit – fühlt sie sich zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel mehr und mehr gezwungen und wird zum captive rider:

„Beim ersten Teil der Erkrankung da MUSSTE ich ja noch fahren, obwohl ich schon gespürt habe, ich kann eigentlich gar nicht. Ich MUSS da jetzt einsteigen und ich MUSS da jetzt irgendwo, weil ich ein paar Dinge selbst erledigen musste oder gerade noch gearbeitet habe. Also die letzte Zeit in die Arbeit zu fahren, war die Hölle, ja“ (Amadea, Z. 455–458).

Als die Möglichkeit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zunehmend verloren geht, kann sie eine Zeitlang auf Taxis ausweichen, wofür sie hohe Kosten auf sich nimmt. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits gelernt, den Verlauf von Angstzuständen soweit einzuschätzen, dass sie bestimmen kann, wann das Taxi als letzte Ausweichmöglichkeit notwendig wird:

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 111 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

„Es hat mich viel Geld gekostet, ja. Aber um das zu umgehen, bin ich dann aufs Taxi ausgewichen. Wenn ich gemerkt habe, es ist extrem, ja. Ah, ich hab Angst zu sterben, oder irgendwie. Dann hab ich mir ein Taxi gerufen“ (Amadea, Z. 510–512).

Als sie am Höhepunkt der Krankheit ambulant in einem Krankenhaus betreut wird, bringt sie der Ehemann mit dem Auto zur therapeutischen Einrichtung. Sie liegt auf dem Rücksitz, weil sie das Vorne-Sitzen nicht aushält und keine Luft bekommt. Alltagswege übernimmt zu diesem Zeitpunkt der Ehemann; Amadea ist weit- gehend immobil:

„Der hat sämtliche Erledigungen gemacht. Der ist am Schluss auch in die Mutterberatung gegangen oder zum Kinderarzt“ (Amadea, Z. 406–407).

8.1.2 Mobilitätsphasen 4 und 5: Genesung (teils) durch Verkehrsteilnahme und rationale Verkehrsmittelwahl Die Rückkehr zur Verkehrsteilnahme ist direkt mit dem Gesundwerdungsprozess verbunden. Im Rahmen der Verhaltenstherapie kann sie die Angst vor der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel überwinden. Straßenbahnfahren wird als therapeutische Methode benutzt, wobei sie zunächst nur eine Station zu einem Bekleidungsgeschäft zurücklegt, wo sie sich „belohnen“ darf, was auch gelingt. Sie nimmt dieses Ereignis als „ein erstes Erfolgserlebnis“ wahr. Sie beginnt wieder mit dem Auto ihres damaligen Mannes zu fahren. Die Erfahrung, dass sie die Situation des Autofahrens bewältigen kann, gibt ihr Sicherheit. 1991 unternimmt sie ihre erste Flugreise nach den Panikattacken. Heute ist Amadea in der Freizeit viel zu Fuß unterwegs, was vor allem durch den Hund motiviert wird. Darüber hinaus fotografiert sie gerne und nimmt an geführten Spaziergängen durch Wien teil. In die Arbeit fährt sie mit dem Auto und alle paar Monate nutzt sie öffentliche Verkehrsmittel, insbesondere für Freizeitaktivitäten in Wien, weil es in der Innenstadt ohnehin keine Parkplätze gibt. Die Wahl der öffentlichen Verkehrs- mittel wird rational getroffen:

„Ja, dass es einfach Punkte schneller verbindet, als ich mit dem Auto erreichen kann, also so wie ich gesagt habe. Ich nutze das gerne, wenn ich in die Stadt fahre. Attraktiv ist es auch deshalb, weil ich keinen Parkplatz suchen muss“ (Amadea, Z. 1009– 1011).

112 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.1.3 Situative Unsicherheit

8.1.3.1 Der Verlust des normalen Erscheinungsbildes Um die Mobilitätsbarrieren in Situationen der Verkehrsteilnahme als Teil der Handlungsstruktur zu verstehen, muss man zeigen, wie sich die Angst in diese Situationen übersetzt. Es wurde im theoretischen Teil darauf hingewiesen, dass Angst eine sinnvolle Reaktion in Situationen ist, in denen etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Um die Angst zu beruhigen, kann die Alarmbereitschaft erhöht und mit Überprüfungsmaßnahmen begonnen werden, bis die Situation als sicher eingestuft wird, oder es kann die Flucht aus der Situation angetreten werden. Amadea leidet unter Panikattacken. Angst ist während der Krankheitsphase ständig präsent. Aber manchmal steigert sie sich bis zur Todesangst, was die größtmögliche Angst darstellt:

„Naja, die Angst zu sterben. Ich hatte immer permanente Angst zu sterben“ (Amadea, Z. 136).

Die Todesangst lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Situation in zwei Teile zerlegen. Der eine Teil betrifft das normale Erscheinungsbild der Situation, das ist eine Definition der Situation, in der sie als bewältigbar, ungefährlich und weitgehend in Ordnung erscheint. Wenn sich Fantasien verselbständigt haben, die immer neue Gefahrenquellen hinter der Fassade des Normalen vermuten, dann kann das normale Erscheinungsbild einer Situation nicht konstituiert werden:

„Und das hätte eben meiner Fantasie nach, oder meinem Denken nach, eben in der Straßenbahn passieren können oder in der U-Bahn, oder im Lift oder wo auch immer ich dieses komische Gefühl hatte. Ich mein, wenn ich jetzt darüber rede, denk ich mir wie verrückt war ich denn damals, oder warum hab ich das so empfunden, es ist ja heute wenn der Lift mit mir stecken bleibt, bleibt er halt stecken, naja, es wird schon wer kommen […] Da brennt dann die Fantasie mit einem durch, bei solchen Angstpatienten“ (Amadea, Z. 142–150).

Auf der Seite des Handelnden kommt der Handlungsentwurf nie zur Vorweg- nahme des gewünschten Handlungsziels, sondern er endet früher oder später in katastrophalen Konsequenzen. Dass der Entwurf einer Handlung in einem vorweggenommenen Ziel keine Ruhe findet, sondern sich zur Bedrohung steigert, kann man die Entgleisung eines Handlungsentwurfs nennen:

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 113 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

„Ja klar, da habe ich natürlich schon die Rutsche gelegt, ja. Zuhause hab ich da schon äh das, dieses Szenario durchgespielt. Da sind wir wieder beim Was-wäre-wenn-denken, ja. Schon beim Weggehen habe ich mir gedacht: ‚Oh Gott. Um Gottes Willen. Ich muss jetzt in die Straßenbahn (A seufzt). Ich kann nicht. Das wird wieder was werden“ (Amadea, Z. 660–663).

Bedrohlich werden das als gefährlich eingestufte normale Erscheinungsbild der Situation und die entgleisten Handlungsentwürfe aber erst dann, wenn es keine Fluchtmöglichkeit aus der Situation gibt. Gedanken kreisen um die Gefahrenmomente – sie können sich genau deswegen nicht lösen, weil die Situation nicht als harmloser Hintergrund eigener Aktivitäten aufgefasst werden kann – und zugleich ist sich Amadea bewusst, dass sie aus öffentlichen Verkehrsmitteln nicht einfach flüchten kann:

„Aber man denkt nicht rational, in dem Moment, ja, also, das sind ja keine, das sind ja irrationale Ängste, aber in dem Moment. Weiß ich nicht, da kann man nicht anders, es ist alles eingeschränkt das Denken, ja. Es fokussiert sich nur auf diesen einen Punkt, dieses ich kann jetzt nicht weg, wenn was ist“ (Amadea, Z. 159–161).

Der Verlust der Fähigkeit, ein normales Erscheinungsbild zu konstituieren, kann sich auch auf das eigene Selbst zurückwenden. Dann werden nicht mögliche äußerliche Gefahren der Situation als bedrohlich erlebt, sondern das eigene Handeln:

„[…] ich habe in dieser Phase der Angststörung mir selbst nicht getraut, ja. Das heißt umgesetzt jetzt auf das Thema. Ich bin am Bahnsteig ganz zurückgegangen, wenn ein Zug eingefahren ist. Ganz an die Wand. Aus dem Grund, wie soll ich das erklären. Das ist auch blöd zu erklären. Das ist dasselbe Phänomen, wie meine Schwester hat im siebenten Stock gewohnt, ja, und ein Balkon. Ich habe mich nur im Wohnzimmer aufgehalten und konnte nicht auf den Balkon gehen. NICHT weil ich springen wollte, sondern will ich mir selbst nicht getraut habe, oder so“ (Amadea, Z. 785–790).

8.1.3.2 Situative Barrieren Aus dem Verlust der Fähigkeit, ein normales Erscheinungsbild zu konstituieren, ergeben sich für Amadea systematisch eine Reihe von Barrieren.

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In öffentlichen Verkehrsmitteln hat sie Angst vor vielen Menschen und der damit verbundenen Enge. Das Wissen um fehlende Fluchtmöglichkeit ist ihr unerträg- lich. Das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten bezieht sich auf die Sachdimension der Situation, auf ihre räumliche und bauliche Struktur. So stellen sich somatische Reaktionen wie Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Atemnot, bis zum Gefühl, ersticken zu müssen, ein, wenn eine Straßenbahn zwischen zwei Stationen im Verkehr steckt, etwa, wenn die Ampel auf Rot geschaltet ist. Das Gefühl, nicht flüchten zu können, ist begleitet von einem Gefühl des Ausgeliefertseins. Das Ausgeliefertsein an die Situation – die Straßenbahn steht zwischen zwei Stationen und Amadea kann sie nicht verlassen – löst Todes- ängste aus. Enge Räume erlebt sie auch im eher geschützten Rahmen des Autos. Die Fluchtmöglichkeiten lassen sich einfach einrichten. Aber das Gefühl der Beengung macht sich dann nicht am Innenraum des Autos fest, sondern an der Umgebung, vor allem an den engen und hohen Häusern der Großstadt. In der Persondimension können andere Fahrgäste Angst verstärken. Dass sich Amadea an einen anderen Fahrgast mit der Bitte um Hilfe wenden würde, weil sie gerade eine Panikattacke erleidet, ist undenkbar. Wenn andere Fahrgäste unvorhersehbar und sogar selbst panisch reagieren, hätte das Amadeas Zustand noch verschlechtert. Darüber hinaus berichtet sie von Schamgefühlen gegenüber den Fahrgästen, was die Tendenz verstärkt, die Angst vor anderen Fahrgästen zu verbergen:

„[…] und noch dazu auch was noch so viel Energie gekostet hat, war das vor den anderen zu verstecken zu verbergen jetzt im Bus um nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Oder in der Straßenbahn jetzt die anderen nicht merken zu lassen, da kommt jetzt eine Panikattacke vom Feinsten. Also, das war schon, das kostet auch immense Energie“ (Amadea, Z. 463– 466)

„Ja das man wieder nicht den Blicken ausgeliefert ist, ja. Weil das macht’s ja dann auch, wenn die Leute schauen oder wenn ich gemerkt habe ich hyperventiliere. Ja äh.. Ich habe immer versucht das zu verbergen. Vielleicht merkt’s jemand doch, ja. Aber bei mir war dann immer so, wenn ich den nicht anschaue, dann sieht der mich auch nicht oder so irgendwie, ja. Dann schaut man halt so und dann versucht man halt alles anzuwenden, was man je gelernt hat und Bauchatmung und diese äh Lippenbremse und was weiß ich, was man dann alles macht, was man gelernt und gehört hat, ja. Aber irgendeinem

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unter, weiß ich nicht, 30 Fahrgästen, fällt’s dann vielleicht doch auf, ja. Und der EINE schaut einen dann wahrscheinlich ununterbrochen an und denkt sich: ‚Was geht denn da ab?‘“ (Amadea, Z. 1360–1367).

Andere Fälle (z.B. Grisu) zeigen, dass andere Fahrgäste sehr wohl hilfreich sein können. Sie übernehmen dann die Funktion von GedankenunterbrecherInnen (wie das Gummiband).

8.1.4 Sicherheit (zurück-)gewinnen: Stabilisierung des normalen Erscheinungsbildes

8.1.4.1 Cooling-down Mechanismen In dem Maße die Bewältigungsorientierung gegenüber der Rückzugsorientierung die Oberhand gewinnt, kann situative Unsicherheit zurückgedrängt werden. Ankerpunkte für sicheren Handlungsvollzug bilden sich aus. Eine wichtige Gruppe von Handlungsstrategien stellt der Versuch dar, die destruktiven Tendenzen aufzuhalten, die das normale Erscheinungsbild zerstören. Solche Maßnahmen sind zum Teil unabhängig davon, ob das normale Erscheinungsbild im Zentrum steht oder ob es um die Territorien des Selbst geht. Es gibt aber auch Bewältigungsorientierungen, die sich nur aus der (funktionalen) Sinnperspektive verstehen lassen, dass ein normales Erscheinungsbild wieder- hergestellt werden soll. Zu den unspezifischen Maßnahmen, die die Situationswahrnehmung beeinflussen, gehören Praktiken wie das Beobachten der Umgebung. Damit verhindert Amadea, dass die Gefahrenphantasien dominant werden. Die Entwicklung dieser Fähigkeit ist ein Lernprozess:

„Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, umso mehr ist das hochgekommen, ja. Hätte ich beim Fenster rausgeschaut und hätte ich mir gedacht: ‚Jö, da geht wer mit einem schirchen Hund,‘ oder was eiß ich was oder: ‚Da schaut eine Katze aus dem Fenster raus,‘ dann wäre das nicht so gekommen, […]“ (Amadea, Z. 569–572).

Auch Musik hilft, weil damit eine positive Stimmung unterstützt werden kann, selbst dort, wo es „nur dunkel“ ist, wie in der U-Bahn. Musik, insbesondere aus Kopfhörern, hilft aber nicht allen. Andere Personen fühlen sich durch die Einhüllung in einen Schallmantel isoliert und haben das Gefühl, dass sie die Situation nicht mehr unter Kontrolle haben.

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Spezifisch für Personen, die das normale Erscheinungsbild nicht konstituieren können, sind Gegenstände und Maßnahmen, die mögliche Bedrohungen vorwegnehmen. Amadea berichtet von einem Buch, das Vorschläge für „positive Suggestionen“ enthält. Deutlicher wird die Wirkung dieser Maßnahmen anhand der Verwendung eines Balsams, der bei Erkältungskrankheiten im Hals- und Brustbereich aufgetragen wird. Die ätherischen Öle machen die Atemwege frei. Unter dem Eindruck von Atemnot vermittelt das Medikament das Gefühl, wieder durchatmen zu können. Wenn Amadea den Balsam auftrug, bevor sie in eine Straßenbahn stieg, war die Gefahr von Atemnot in ihrer Vorstellung gebannt und auf diese Weise konnte sie die Situation bewältigen. Weil es weniger um die reale als um die geglaubte Wirkung geht, kann man von magischen Gegenständen sprechen:

„Diesen Wick (Vaporup), was man in der Apotheke bei Erkältungskrankheiten. –

I: Ja.

A: Genau. Und den habe ich jetzt nicht in der Straßenbahn oder der U-Bahn draufgetragen oder mich eingeschmiert, oder wie auch immer. Aber das hat mich im Auto manchmal gerettet, wenn ich keine Luft gekriegt habe. Wenn ich Atemnot, gar nicht mit der Nase, das hat ja mit der Nase nichts zu tun gehabt, aber ich habe immer das Gefühl gehabt ich kann nicht durchatmen, sondern nur bis da her und da ist eine Blockade, dieses oberflächliche oder dieses Hyperventilieren.

I: Genau.

A: Genau. Und da hat mir dieser depperte Wickbalsam gute Dienste geleistet. Mit dem habe ich mich dann eingeschmiert, da am Hals, ja.

I: Was riecht denn das. Ist es das, das so, es hat so einen schönen benzinischen Geruch.

A: Und dann ging das wieder einigermaßen. Das hab ich mir manchmal auch in der Früh aufgetragen bevor ich in die Straßenbahn musste, also das. Aber jetzt so unmittelbar drinnen bei einer Attacke, konnte ich nur das Büchlein aufschlagen und irgendwie da aber das hat da mir geholfen?“ (Amadea, Z. 832– 845).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 117 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Das Gummiband am Handgelenk, eine einschlägige verhaltenstherapeutische Maßnahme, kann im Zusammenhang mit Bewältigungsorientierung ebenfalls helfen, die Rückzugsorientierungen zu schwächen und die Situation bewältigbar zu machen.

8.1.4.2 Situative Barrierehemmer Es gibt eine Reihe von Mechanismen, die Amadea in einer Handlungssituation im öffentlichen Verkehr dabei helfen, das normale Erscheinungsbild zu stabilisieren. Im Fahrzeug selbst spielen vor allem andere Personen eine große Rolle, insbesondere das Zugpersonal:

„Also das ist für mich so .. nicht mehr das wie es früher war mit dem Schaffner im Waggon, der da doch für ein bisschen mehr Sicherheit,.. oder Sicherheit vermittelt hat“ (Amadea, Z. 595– 596).

Die Nähe zum Fahrer/zur Fahrerin ist ebenso beruhigend, weil damit die Möglichkeit besteht, jederzeit einen Ausstiegswunsch äußern zu können:

„[…] dass man irgendwo in der Nähe ist oder sich beim Fahrer aufhält, dass man dem sagen kann: ‚Hören’s mir geht’s schlecht. Bitte machen Sie auf, ich muss jetzt raus.‘“ (Amadea, Z. 615– 616).

Für Amadea gibt es auch Elemente in der Umgebung bzw. der Infrastruktur öffentlicher Verkehrsmittel, die ihr helfen, eine Verkehrssituation zu bewältigen. Das Gefühl der Enge und Bedrückung kann durch „Stützpunkte“, an denen sie sich sicher fühlt, gemildert werden:

„Und deswegen brauchte ich auf der Fahrt dorthin – das ist ja auch so eine konfuse Geschichte – immer irgendwelche Anhaltspunkte, wenn Sie das nachvollziehen können, ich, so Stützpunkte, ja. Das kann man so schwer beschreiben, für eine Person, die des denken (..).“

Sie nennt als Beispiel einen Stützpunkt der Wiener Rettung: „Da kann man mir helfen, wenn etwas passiert“ (Amadea, Z. 179), oder auch ein Hotel, wo sie sich ausruhen kann, falls es ihr schlecht geht. Auch Personal, das in den Stationen und Einrichtungen von Verkehrsbetrieben arbeitet, vermittelt Amadea Sicherheit:

„Aber ich finde, die vermitteln auch schon jetzt Sicherheit. Ja, wenn man die sieht fühlt man sich einfach besser, ja. Und damit

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könnten die sicher punkten. Wenn die ganz einfach da. Also die Wiener Linien, oder eben die Verkehrsbetriebe, wenn sie ganz einfach so was anbieten“ (Amadea, Z. 1188–1190).

8.1.4.3 Vorschläge für die bessere Situationsbewältigung Die Vorschläge, die zu einer besseren Bewältigung der Situationsrollen im Straßenverkehr beitragen, setzen das bisherige Bild fort. Mit Blick auf die Sachdimension kann sich Amadea ein Angebot an Ablen- kungsmöglichkeiten vorstellen, etwa Kopfhörer in einem Zugabteil, die man sich im Bedarfsfall aufsetzen kann, oder Bildschirme. Diese Methode kennt sie von ihrem Zahnarzt:

„A: Ja. Na und Fernsehen das hätte mir auch geholfen. Also Ablenkung durch Fernseher. Also den brauche ich zum Beispiel beim Zahnarzt. Da muss ich schon jetzt ehrlich sein.

I: Aha.

A: Der lenkt mich ab beim Zahnarzt, weil sonst bin ich eher. DA bin ich noch Angsthase“ (Amadea, Z. 1242–1245).

Ein neues Element sind Rückzugsmöglichkeiten in der Situation, eine Art Panicroom

„Also, nachdem die Tendenz zum Zurückziehen da ist, ja. Ähm. Möglicherweise. Kann’s jetzt natürlich nicht, ich müsst jetzt weiterspinnen den Gedanken, ob ich mich da irgendwo, wenn da jetzt wie so im Flugzeug die Toilette, ja. Wenn man sagt man geht da jetzt hinein und sperrt sich ein, ja. Ich kann mir vorstellen, dass man sich da von den anderen Blicken etwas abgeschirmt ein bisschen mehr erfängt, oder erholen kann, und dann geht man vielleicht wieder raus, ja“ (Amadea, Z. 1346–1350).

Allerdings birgt ein als solcher gekennzeichneter Panicroom die Gefahr der Stigmatisierung:

„Ja. Panicroom. (lacht). Oh Gott. Aber ist es dann irgendwie komisch, weil dann schauen einen die Fahrgäste, an: ‚Der geht da grad da rein in den Panikraum hinein.‘ Nein, das kommt auch nicht gut. ‚Jetzt wart ma wie der wieder rauskommt. Wie der ausschaut.‘“ (Amadea, Z. 1352–1354).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 119 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Den Übergang zwischen Sachdimension und Persondimension stellt ein Alarmknopf dar. Wenn die Situation zu eskalieren droht, kann man sich durch Betätigen des Knopfes Hilfe holen. Diese Möglichkeit hat dieselbe Funktion wie die Sicherheitsmaßnahmen, von denen Amadea weiter oben gesprochen hat. Der Gedanke an die Möglichkeit, im Notfall etwas unternehmen zu können und der Situation nicht hilflos ausgeliefert zu sein, ist schon beruhigend – allerdings nur dann, wenn motivationale Bewältigungstendenzen stark genug ausgeprägt sind. Amadea wünscht sich darüber hinaus, dass die Stationsaufsicht entsprechend geschult ist, um mit Menschen, die unter Angst leiden, richtig umgehen zu können. Das Personal sollte nicht nur richtig mit der Person umgehen können, sondern sie vielleicht auch begleiten:

„Sollte aber auch psychologisch geschult sein, dass der dann auch die Angst lindern kann, dass der dann sagt: ‚Ja, wird schon wieder. Steig ma kurz aus. Wir gehen in die Luft.‘ Oder was auch immer. Ähm. ‚Ich fahr mit Ihnen bis zum Ziel, wenn Ihnen das hilft.‘ Also das wäre für für mich eine Marktlücke. Also nicht mehr jetzt brauchbar. Aber für solche Klienten“ (Amadea, Z. 950–953).

Die Idealvorstellung einer unterstützenden Person gießt Amadea in die Vor- stellung eines „Angstlotsen.“

„Was auch jetzt, aber das klingt jetzt fiktiv irgendwie, aber ich bin ja so einer, ich entdecke immer irgendwelche Marktlücken oder so, solche Dinge erfinde ich manchmal und.. da stell ich mir weiß Gott was vor, dass ich gründen könnte eine Agentur für Angstlotsen oder was weiß ich was. Aber wenn’s so was gäbe zum Beispiel oder gegeben hätte, dass man sagt was weiß ich, in der nächsten Station steigt jetzt ein Angstlotse zu. Für mich, ja. Der kann mich sofort beruhigen. Der ist schneller da, als ein Arzt, ja. Weil der ist in der Station bei dem Glasfenster wo man da reinsieht mitunter, wo die sitzen, wo die die Bildschirme überwachen. Wenn da jetzt ein Angstlotse drinnen sitzt und der kommt, wenn ich eine Panikattacke habe, na dann“ (Amadea, Z. 914–921).

Eine andere Möglichkeit, eine Situation zu stabilisieren, ist ihre Erweiterung, was dank der zeitgenössischen Smartphone-Technologie relativ einfach zu reali- sieren ist. Die Funktion ist ähnlich wie der Alarmknopf. Die Gewissheit, dass man Hilfe holen kann, gibt Sicherheit:

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„Oder eine Verbindung mit dem ganz einfach ahm ich hab jetzt zum Beispiel wenn ich mit dem Hund gehe, ja - ich fühle mich einfach sicherer, weil ich geh mit dem Hund um, mitunter 23 Uhr auch noch raus, ja – habe ich eine „Komm gut heim App“. Die verbindet mich per GPS mit meiner Tochter. Die sitzt ganz wo anders, weil die wohnt in Wien

I: Mhm

A: Und die sieht punktuell genau wo ich mich bewege. Da gehe ich um den Park, da ist es stockdunkel, ja, unheimlich. Aber ich gehe. Der Hund kennt den Weg, ich wackle hinterher ahm und ich hab, wenn ich da rund um den Park gehe.. erstens einmal habe ich eine Notruftaste, wenn jetzt ein Überfall stattfinden sollte. Da steht einer im Park, der haut mir eine über den Kopf, ähm kann ich wenn ich im Stand bin die Notfalltaste drücken. Dann kriegt die Tochter sofort den Alarm. Der Mama ist was passiert, ja. Äh, wenn ich aber nicht dazu komme den Notfallknopf zu drücken, dann steht dieses GPS Signal dort, wo ich vielleicht am Boden liege“ (Amadea, Z. 931–942).

Als Situationserweiterung kann auch verstanden werden, wenn man mit einem „Angstlotsen“ in der Situation Kontakt aufnehmen kann. Dessen Aufgabe könnte darin bestehen, zu beruhigen und zum Durchhalten zu animieren:

„[…] oder von mir aus einen Angstlotsen, der irgendwo in der Station sitzt, so mit dem Mikrophon und der dann sagt: ‚Sie brauchen keine Angst haben, alles wird gut. Bis zur nächsten Station dauert es nicht mehr lange‘“ (Amadea, Z. 482–484).

8.2 Alicia: Angst im Zusammenhang mit einer bipolaren Störung

Alicia leidet seit ihrer Kindheit an einer bipolaren Störung; in den depressiven Phasen bleibt sie wochenlang im Bett. Als Auslöser der aktuellen Krise sieht sie ihre Ehe, die von Anfang an von starken Spannungen und Konflikten gekenn- zeichnet ist, was durch kulturelle Differenzen noch verstärkt wird.

8.2.1 Einschränkung der Mobilität Alicia stellt ihr Mobilitätsverhalten im Zusammenhang mit der schulischen Laufbahn dar. Den Weg zur Hauptschule legt sie mit dem Fahrrad oder zu Fuß

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 121 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen zurück. Später benutzt sie für den Schulweg die S-Bahn. Als sie Im Alter von 17 Jahren den Führerschein macht, ersetzt das Auto die S-Bahn. Bis kurz vor der Geburt ihrer Tochter fährt sie darüber hinaus Motorrad. In der akuten Phase der Krankheit fällt ihr das Autofahren schwer. Sie berichtet von einem Ereignis, als sie während der Fahrt auf einer Freilandstraße eine Panikattacke erleidet. Sie fährt nur, wenn es absolut notwendig ist. Dafür fährt sie in dieser Zeit als Beifahrerin im Auto mit, entweder mit einer Studienkollegin oder mit den Eltern. Fahrradfahren kann sie nicht mehr, weil sie sich dazu körperlich nicht in der Lage sieht. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel probierte sie ein einziges Mal. Sie musste bei jeder zweiten Station aussteigen und Luft holen.

8.2.2 Erweiterung der Mobilität Heute fährt sie wieder regelmäßig mit dem Auto und benutzt auch öffentliche Verkehrsmittel, vor allem, wenn sie die Tochter in die Schule bringt. Sie geht darüber hinaus auch wieder zu Fuß, weil ihr das gut tut und weil sie damit auch hofft, Gewicht zu reduzieren.

8.2.3 Situative Unsicherheit:

8.2.3.1 Angst vor Verlust der Handlungskontrolle Probleme der Situationsbewältigung im Straßenverkehr stehen bei Alicia in Zusammenhang mit der Angst, die Kontrolle über das eigene Handeln zu verlieren. Der damit einhergehende Stress kann sich bis zu Depersonali- sierungserlebnissen steigern:

„Ich hab auf einmal irgendwie das Gefühl gehabt, wie wenn ich nicht fahren würde, wie wenn das nicht real wäre, also das war so irgendwie, wenn man halt vorm Computer sitzt und dann, dann fahrt man halt irgendwo hin und und dann auf einmal hat ich so Herzrasen und dann keine Luft mehr und ich bin dann irgendwann stehen geblieben“ (Alicia, Z. 236-239).

Ein Bedürfnis nach Rückzug aus der Situation ist die Folge. Sie befürchtet, dass sie als Lenkerin in Verkehrssituationen, die wenig vertraut oder anspruchsvoll sind, nicht richtig reagiert:

„[...] also ich denk mit, wenn so eine, eine Situation WÄRE, außerhalb dieser normalen Verkehrslage, täte ich wahrscheinlich schlecht reagieren. Weil ich einfach so, ich könnt sagen, so zugedröhnt, irgendwie hat man dann das Gefühl, man

122 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

fährt aber man konzentriert sich nicht richtig“ (Alicia, Z. 246– 249).

Da sie sich nicht in der Lage sieht, ihre eigenen Handlungen richtig in eine Situation einzubringen, kann man von einer Angst vor dem Verlust der Handlungskontrolle sprechen. Zu dieser Angst vor dem Verlust der Kontrolle über eigene Handlungen kommt die Angst vor einer Art Entgleisung der Handlungsentwürfe. Das bedeutet, dass die Vorstellung einer Handlung sich nicht in den geordneten Gang der Dinge fügt. Sondern sie führt zu allen möglichen, mitunter gefährlichen Konsequenzen:

„I: Denken Sie schon noch nach, was sein KÖNNTE:

A: JA, sicher, den ganzen TAG. JA, ich steh jetzt von meinem Sessel auf und geh auf die Toilette und da KÖNNTE ja, da könnte mich wer anreden und da könnte, ich weiß nicht, das Schuhband könnte aufgehen und das geht den ganzen Tag so. Solche blöden Sachen“ (Alicia, Z. 559–561).

Wenn die möglichen Konsequenzen einer Handlung nicht ausgeblendet werden können und sich der Handlungsentwurf dadurch nicht als einheitliche Vorstellung verfestigen kann, dann gelingt auch die Realisierung nicht. Mit Hilfe phänomenologischer Analysen der Konstitutionsprozesse von Handlungen hat Alfred Schütz gezeigt, dass die Realisierung einer Handlung den Abschluss des variierenden Phantasierens von Handlungsentwürfen darstellt.214 Die Begrün- dung, warum Alicia nicht aus einer U-Bahn aussteigen kann, wenn sie Angst bekommt, ist ein schönes Beispiel:

„Nein, nein, da bin ich dann wieder zu. Da da mach ich mir dann Gedanken, wie ich dann rauskomme, weil die SIND ja da alle rundherum und ich kann da nicht aussteigen ohne, dass ich vielleicht hinfalle und deswegen hält mich das dann davon ab, dass ich dann aussteige“ (Alicia, Z. 789–791).

8.2.3.2 Spezifische Barrieren und Angstorte Mit den geschilderten Formen situativer Unsicherheit korrespondieren Elemente, die in der Situation Barrieren darstellen. So wird eine Angst vor Menschen- ansammlungen beschrieben, die nicht an spezifische Situationen gebunden ist; sie tritt im Flugzeug ebenso auf wie in einem Shoppingcenter:

214 Schütz (2004).

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„Das hab ich aber teilweise eben auch in einem Shoppingcenter oder so“ (Alicia, Z. 640–641).

Unter dem Aspekt der Sachdimension sind es unbekannte Situationen, die Alicia verunsichern. Unbekannte Situationen stellen eine Verunsicherung dar, weil die Flucht- und Rückzugsmöglichkeiten nicht eingeschätzt werden können. Dieses Problem stellt sie in Zusammenhang mit der U-Bahn. U-Bahnen sind nicht nur wegen der Dunkelheit unangenehm, sondern:

„Das schlimmste in einer U-Bahn, wenn man da einsteigt (Alicia und Interviewer lachen). Und man kann nicht raus und sitzen dann alle rundherum und, nein“ (Alicia, Z. 786–787).

Ob die Menschenansammlungen oder die Angst vor unbekannten Situationen die gewichtigere Eigenschaft sind, bleibt offen, wobei Alicia vermutet, dass unbekannte Situationen den stärkeren Einfluss auf das Entstehen von Angst haben:

„I: Ok, aber man könnte jetzt nicht definieren, ob das jetzt durch die Menschenmasse oder ob das?

A: Nein, das ist glaube ich, das Unbekannte“ (Alicia, Z. 332– 333).

In öffentlichen Verkehrsmitteln, insbesondere in der U-Bahn ist es ebenso die Enge, die zu Angst führt und die kann durch dichte Menschengruppen ausgelöst werden, was zusammen mit dem Hinweis auf die Raumtemperatur im Interview mit einer Interjektion unterstrichen wird, die an den Ausdruck von Ekel erinnert:

„Ja also die U-Bahn ist schlimm, weil einfach Menschenmassen zusammentreffen und so diese ENGE und HEISSE und WAHhhh, da geht’s jedem, glaube ich, so. Weil das ist wirklich ganz ganz schlimm, und dieses eingesperrt im DUNKELN, das ist...“ (Alicia, Z. 613–615).

Im Kontext des Autofahrens ist das angstauslösende Moment besser bestimmbar, da viele Menschen auf engem Raum in der Form, wie sie in öffentlichen Verkehrsmitteln möglich sind, nicht vorkommen. Hier dominiert die Angst vor der unbekannten Umgebung:

Schlimm ist dann, wenn ich auf, auf Strecken komme, die ich nicht kenne“ (Alicia, Z. 320).

124 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Situationen, in denen man mit dem Auto schwer manövrieren kann, etwa enge, belebte Gassen meidet sie allerding. Es geht scheinbar weniger um die Enge als um die hohen Interaktionsanforderungen. Ganz schwierig ist die Situation, wenn sie mit dem Auto keinen Parkplatz findet. Auch in solchen Situationen bekommt sie panische Angst und versucht sie grundsätzlich zu vermeiden, indem sie entweder gar nicht fährt oder indem sie Straßen mit größerem Parkplatzangebot aufsucht, auch wenn sie vom Zielort weiter entfernt sind:

„I: Und wenn Sie zum Beispiel keinen Parkplatz bekommen würden?

A: PANIK.

I: Schon?

A: Ja, deswegen fahr ich ja gar nicht. Weil ich Angst hab, dass ich jetzt irgendwo keinen Parkplatz bekomme. […]. Hööö, kein Parkplatz, was mach ich jetzt? Ja, und dann bin ich hoch und dann ist so „Oh Gott, da darf ich nicht stehen bleiben“. Hab ich wohl nicht richtig gelesen, weil da steht ja für PKW schon, aber irgendwie. Und dann Oh Gott, wohin jetzt und was ist, wenn ich jetzt keinen Parkplatz krieg?

I: Und wovor haben Sie da Angst? Was passiert?

A: Weiß ich nicht, ich hab keine Ahnung. JA, und werd’s schon finden (.) Und dann geh ich halt taff da, (..) dann geh ich halt lieber weiter. Ich bin dann eher so, dass ich irgendwo weiter draußen stehen bleibe und den Rest zu Fuß gehe, bevor ich da irgendwie mit dem Auto irgendwo hineinwage“ (Alicia, Z. 728– 740).

Alicia kennt darüber hinaus Angstorte wie Tiefgaragen oder abgelegene Straßen. Tiefgaragen sind dunkel; in beiden Situationen kann sie Angstphantasien, in denen sie sich ausmalt, was alles passieren könnte, nicht unter Kontrolle halten. Die Konstitution eines normalen Erscheinungsbildes gelingt unter solchen Bedingungen nicht hinreichend.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 125 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.2.4 Sicherheit zurückgewinnen

8.2.4.1 Cooling-down Mechanismen Alicia kann unter Bedingungen von Angsterleben zumindest mit Einschrän- kungen am Verkehr teilnehmen. Dafür hat sie eine Reihe von Methoden entwickelt. Die einfachste Methode ist die Fahrtunterbrechung. Diese Methode ist nur einsetzbar, wenn die Angstzustände nicht zu schnell in Panik eskalieren. So berichtet Alicia, dass sie zwei Stationen mit der U-Bahn fahren kann, ehe sie aussteigen und die Station verlassen muss, um Luft zu holen. Notfalltropfen, die sie ständig bei sich trägt und die ihr in einer Paniksituation beim Autofahren geholfen haben, stellen eine (magische) Sicherheitsmaßnahme dar. Manchmal gelingt es ihr, die Angstentwicklung so weit abzuschwächen, dass sie eine Fahrt bewältigen kann. Dann denkt sie beispielsweise an das Aussteigen und die Aufmerksamkeit ist so weit gebunden, dass sich die Angstphantasien nicht leicht verselbständigen können. Eine andere Variante der Überwindung (der Bewältigungsorientierung mit Blick auf die Situationsrolle) ist das Ersetzen von negativen Gedanken durch positive:

„[...] bei mir war es halt, bei mir ist das ist IMMER NOCH so, dass ich mir dann einfach denke, das, das dieses ‚OH GOTT; was passiert,‘ sondern einfach ‚Das WIRD schon gehen.‘ Also ich versuch das halt immer positiver rüber zu bringen. Das klingt jetzt irgendwie, ich weiß nicht wie ich das erklären soll, ja, aber einfach nicht daran zu denken, das was sein KÖNNTE, sondern einfach machen und ja, wenn’s passiert, passiert’s halt“ (Alicia, Z. 553–557).

Manchmal hat die Bewältigungsorientierung pragmatische Gründe, wenn sie beispielsweise den Regionalzug nehmen möchte, der nur im Halbstundentakt fährt. Dann bleibt ihr nichts Anderes übrig, weil sie nicht bereit ist, eine halbe Stunde auf den nächsten Zug zu warten. Die starken Stresserfahrungen (Depersonalisierung), von denen sie im Zusammenhang mit dem Autofahren berichtet, kann sie im Rückgriff auf eingeübte Handlungsroutinen bewältigen. Alicia handelt dann, als wäre sie „irgendwie ferngesteuert“ (Alicia, Z. 319). In solchen Situationen ist sie auf die eingeübten Handlungsabläufe zurückgeworfen, auf die sie sich verlassen kann. Diese Möglichkeit der Situationsbewältigung ist auch ein Grund, warum sie unbekannte Situationen meidet. Fremde Situationen, die Aufmerksamkeit und

126 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Konfrontation mit neuen Umständen erfordern, sind alleine mit dem Rückgriff auf Routinen nicht bewältigbar:

„Und das ist auch beim Autofahren. Also die, die Strecken, die ich kenne, da VERLASSE ich mich, das ist mir egal, dass ich das jetzt irgendwie ferngesteuert fahre“ (Alicia, Z. 318–319).

Ein letzter Faktor, der zur Etablierung der Bewältigungsorientierung eine Rolle spielt, sind Handlungskontexte, die als lustvoll erlebt werden. Da es sich um die Interpretation der Situation durch die Handelnde und nicht um eine objektive Eigenschaft der Situation handelt, gehört diese Möglichkeit zu den personenbezogenen Barrierehemmern. Alicia berichtet von einer Fahrt mit der Westbahn nach Salzburg, die sie ohne Belastung absolvieren konnte. Als Grund gibt sie ein Urlaubsgefühl an, also eine positive Motivation:

„Die Schnellbahn, ich weiß, ich bin damals nach Salzburg gefahren, mit der Westbahn, da war das witziger Weise nicht. Das war so, so irgendwie Urlaubsfeeling. Da hat man dann, da geht’s eigentlich. Aber ich sag ja, ich glaub, das sind auch einfach die Massen, die STÖREN“ (Alicia, Z. 615-618).

8.2.4.2 Situative Barrierehemmer Ein Hauptproblem für Alicia sind ungewisse und unbekannte Handlungs- situationen, die schnell zu Stress und Überforderung führen und in denen sie nicht auf eingeübte Routinen zurückgreifen kann, wenn sich Angst entwickelt. Eine Möglichkeit, mit der Alicia dieses Problem bewältigt, ist die Planung von Wegen mit Hilfe von Online-Tools. Werkezeuge wie Google Earth erlauben es ihr, die Situation genau vorwegzunehmen und damit verwandeln sich unbekannte Wege in bekannte Wege, was Sicherheit gibt:

„I: Erste Arbeitswege zum Beispiel oder die Wege, äh, wo Sie Ihre Tochter begleiten zur Schule, diese Wege, die Sie jetzt halt noch nicht gegangen sind, WENN Sie wo hin MÜSSTEN, wo Sie noch nicht gewesen sind, ob Sie sich das vorher anschauen.

A: JAAA.

I: Oder halt PLANEN?

A: Ja, das schau ich mir dann an im Internet alles, sogar welche Straßen ich nehmen muss welche Bäume dort sind.

I: Wieso die Bäume?

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 127 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

A: Naja, nein, also da ist jetzt ein Haus und da muss ich abbiegen und so. In der heutigen Zeit ist das ja ganz angenehm.

I: Ja.

A: Ich hab mir ja dann meine Wege quasi schon vorspaziert, bevor man dort ist (lacht)“ (Alicia, Z. 681-692).

In öffentlichen Verkehrsmitteln geben vertraute Begleitpersonen Sicherheit, wobei auch schon telefonischer Kontakt genügt. Telefonieren lenkt zusätzlich von den Ängsten ab. Ein Telefonat mit der Mutter lässt Alicia die Angst vergessen, bis sie ihr Ziel erreicht hat:

„Ich hab dann meistens angefangen zu telefonieren. Ich hab dann irgendjemanden angerufen, also meine Mutter oder was, mit der habe ich dann geredet und geredet und geredet und dann hab ich irgendwann gesagt „So jetzt bin ich da, jetzt können wir auflegen (A lacht)“ (Alicia, Z. 853–855.

Mit Blick auf die Sachdimension sind Fluchtmöglichkeiten wichtig. U-Bahnen bieten diese Möglichkeit aufgrund der kurzen Rhythmen. Weil Alicia zumindest kurze Strecken fahren kann, ehe sie die Fahrt unterbrechen und sich beruhigen muss, sind U-Bahnen, die alle paar Minuten den Ein- und Ausstieg ermöglichen, eine bewältigbare Situation.

8.2.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Alicia wünscht sich Verkehrssituationen, in denen sie wenigen Personen begegnen muss. Auch ein Taxidienst wäre für sie eine Option. Allerdings ist die telefonische Bestellung eines Taxis für sie eine schwer zu bewältigende Aufgabe.

8.3 Anita: Burnout und Angst

Bei Anita wurden vor einigen Jahren Burnout und eine generalisierte Angst- störung diagnostiziert. Sie verliert das Vertrauen in basale Alltagsfähigkeiten (Einkaufen gehen) und zieht sich zurück. Die Krankheit ist zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht überwunden. Bei Anita ist es schwer, die Teilnahme am Straßenverkehr mit einer der beiden Typen situativer Unsicherheit zu interpretieren, weil sie ihre Erlebnisse kaum verbalisieren kann. Die Ängste äußern sich weniger in unkontrollierbaren Vorstellungen, sondern in somatischen Symptomen (Zittern, Schweißausbrüche). Die Schilderungen von Autobus- fahrten legen aber eher den Typ A nahe und deswegen wird Anita in diesem Zusammenhang interpretiert.

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8.3.1 Einschränkung der Mobilität Vor dem Ausbruch der Krankheit nutzt sie für den Weg zur Arbeit täglich den Zug. Da sie über keinen Führerschein verfügt, ist sie auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Um im Rahmen ihrer Tätigkeit zu den verschiedenen Einsatzorten zu gelangen, geht sie je nach Entfernung zu Fuß oder benutzt ein Taxi. In der akuten Phase bewältigt sie alle Wege zu Fuß. Am Wochenende wird sie von ihrem Mann unterstützt, der sie mit dem Auto fährt. Gemeinsam mit dem Sohn erledigt er darüber hinaus Alltagsaufgaben wie das Einkaufen.

8.3.2 Erweiterung der Mobilität Alltagswege bewältigt sie heute nach wie vor zu Fuß. Einzig für Arzttermine nutzt sie den Autobus, was aber aufgrund der Panikattacken immer noch schwierig ist.

8.3.3 Situative Unsicherheit Anita leidet unter Panikattacken, die sich manchmal ankündigen und in vorher- sehbaren, doch nicht kontrollierbaren Phasen verlaufen: Zittern, Schweiß- ausbrüche, Weinen, Zusammenbruch und Panik. Manchmal stellen sie sich rasch und ohne Vorwarnung ein. Die Entwicklung und Steigerung der Angst zur Panik wird dadurch verstärkt, dass Anita nicht aufhören kann, auf diese Gefühle zu fokussieren. Ablenkung ist dann nur schwer möglich. In der Persondimension der Situation sind es andere Menschen, deren Präsenz sie nicht aushält. In einer Situation lösen zusteigende Kinder die Panik aus. Es fällt ihr aber auch schwer, sich dem/der BusfahrerIn anzuvertrauen, wenn diese(r) ein bisschen „wild“ fährt:

„Ich bin aufg’standen, ich hab’ am ganzen Körper gezittert. OBWOHL ich mit ihr getratscht habe. Ich war zwar abgelenkt, aber ich hab‘ trotzdem gespürt ich bin nervös und unruhig“ (Anita, Z. 179–180).

In der Sachdimension sind es Lärm (Hunde oder auch Kindergeschrei) und lange Fahrten, die die Nutzung eines Verkehrsmittels für sie unmöglich machen. So erzählt sie von einer Arbeitsstelle, die sie in Aussicht gehabt hätte. Die Strecke empfindet sie als zu lang und daher als unbewältigbar.

„I: Also Sie haben gar nicht g’schaut wie man dahin kommt?

A: Nein, ich hab nur g’hört –. und ich weiß, da muss man mim Zug und das fahren. Ich kann mit den Öffentlichen nicht fahren“ (Anita, Z. 349–351).

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8.3.4 Sicherheit zurückgewinnen Maßnahmen in der Sachdimension, die ihr bei der Bewältigung von Alltagswegen helfen sind (1) ablenkende Gegenstände (ein Schlüssel, ein Kunststoffband), (2) Rauchen und (3) Bewegung. Das Rauchen verbindet sie auf ihrem Weg zum Arzt/zur Ärztin mit Pausen von der Busfahrt: Nach drei Stationen Busfahren braucht sie fünf Minuten und zwei Zigaretten, um ihren Zustand zu stabilisieren:

„A: Ja ich mein, es sind nur drei Stationen, nicht. Aber ich brauch‘ ja dann die fünf Minuten, wo ich halt dann zum Hautarzt geh‘, brauch‘ ich halt ein, zwei Zigaretten, nein.

I: Mhm.

A: Dass ich wieder runterkomme“ (Anita, Z. 515–518).

In der Persondimension der Situation sind eine Begleitperson aber auch ein(e) freundliche(r) FahrerIn hilfreich. Keine Probleme hat sie, wenn sie von vertrauten Personen (dem Mann, aber mehr noch ihrem Vater) mit dem Auto gefahren wird. Auch in Gruppen fühlt sie sich sicher. Mit Bezug auf eine Einrichtung, in der sie betreut wird, meint sie:

„Weil so wie jetzt nach der Mittagspause, wenn wir auf einen Kaffee gehen, gehen wir zu dritt, zu viert. Da geht’s. Aber wenn ich weiß, ich geh‘ jetzt alleine, dann krieg‘ ich da die Unruhe da“ (Anita, Z. 681-682).

8.3.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Anitas Vorschläge beziehen sich vor allem auf die Persondimension der Situation. Sie wünscht sich eine vertraute Begleitperson oder auch eine(n) vertraute(n) FahrerIn. In Zusammenhang mit der Möglichkeit, ein Sammeltaxi zu benutzen hält sie fest:

„Mhm. Ja, wenn man die Person wieder KENNT, die was fährt. Dann tut man sich auch leichter, nein. Als wie wenn ein Fremder fährt. Ich kenn ja die meisten, weil ich tagtäglich immer g’fahren bin. Es sind aber frische auch, also neue“ (Anita, Z. 580–582).

8.4 Daktari: Zwang und Chronifizierung

Der Fall Daktari ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens ist es der einzige Fall in unserem Sample, bei dem eine Zwangserkrankung vorliegt. Dieser Umstand hat einen wichtigen Einfluss darauf, welche Situationen als beängs-

130 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen tigend erlebt werden. An der von uns entwickelten Grundstruktur der zwei Formen situativer Unsicherheit ändert das jedoch nichts. Zweitens ist es ein Fall, der keine Perspektive auf Genesung eröffnet, sondern wo sich die betroffene Person mit der Chronifizierung der Krankheit abgefunden und mit ihr zu leben gelernt hat. Eine Folgerung, die sich daraus ergibt ist: Angststörungen sind in den Alltag integrierbar und das betrifft auch die Lösung von Transportaufgaben.

8.4.1 Einschränkung der Mobilität Auch bei Daktari sind Mobilitätsentwicklung und Krankheitsentwicklung über die biographische Entwicklung verbunden. Bis zum Alter von 14 Jahren bewegt er sich wie andere Kinder und Jugendliche. Er wächst in einer kleinen Ortschaft auf, wo es zu dieser Zeit keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Radfahren und Gehen sind die wichtigsten Transportformen. Als die Ängste stärker werden, gibt er das Fahrradfahren auf, weil ihm die Überwindung der Ängste zu viel Kraft kostet. Er begründet diesen Schritt darüber hinaus mit fehlendem Vertrauen in die eigene Handlungskompetenz:

„Wahrscheinlich nicht sofort, aber immer weniger halt. Äh, Rad fahren ist ja noch viel dynamischer und sozusagen noch mehr drauf angewiesen, dass man irgendwie ein Vertrauen hat, dass man das eh alles im Griff hat und nicht zu langsam ist und so weiter und sofort, […]“ (Daktari, Z. 100–102).

8.4.2 Stabilisierungsphase Obwohl Daktari die Hoffnung auf Überwindung der Krankheit weitgehend aufgegeben hat, hat er insbesondere für die berufliche Tätigkeit einen gangbaren Weg für die Bewältigung von Transportproblemen gefunden. Da Besuche bei KlientInnen in Wien zum Kern seiner Tätigkeit gehören, ist er auf Mobilität in hohem Maß angewiesen. Kurze Strecken, vor allem, wenn er alleine unterwegs ist, bewältigt er oft mit dem Taxi. Genauso häufig nimmt er öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch. Auch längere Strecken bewältigt er mit dem Zug. Mit dem Auto fährt er selten, eher im Kontext von Freizeitwegen am Wochenende und dann nur mit seiner Frau als Beifahrerin. Alltagswege außerhalb der Arbeit, etwa Einkaufen, macht fast ausschließlich die Ehefrau.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 131 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.4.3 Situative Unsicherheit:

8.4.3.1 Die Angst vor Verletzung und die Verletzbarkeit des normalen Erscheinungsbildes Bei Daktari stehen Ängste im Zentrum, die sich um das normale Erscheinungsbild kristallisieren. Es sind aber nicht so sehr die verborgenen Gefahren, die hinter der Fassade der Normalität lauern, sondern die Gefährdung, die von den eigenen Handlungen ausgeht. Handlungstheoretisch bedeutet das: Die Konstitution einer Handlung im Bewusstsein gelingt nicht in einer Form, deren Ergebnis Daktari als abgeschlossen und unbedenklich betrachten kann. Die Unsicherheit bleibt, ob er durch die eigenen Handlungen andere oder sich selbst verletzt. Daktari vertraut sich selbst nicht. Die folgenden zwei Interviewstellen belegen diesen Sachverhalt sehr deutlich:

„D: Bei mir äußert sich das so, dass ich sozusagen bei, beinah immer, wenn ich mich bewege, hab ich Ängste, dass ich jemanden verletzten könnte, dabei und hab‘ sozusagen kein Vertrauen in meine Wahrnehmung.

I: Aha.

D: Deswegen reagier’ ich sozusagen auf das mit dem ständigen Kontrollieren, ob ich nicht irgendwas übersehen habe, ob ich nicht irgendeine Person übersehen habe, ob nicht äh, jemand am Boden liegt, auf den ich draufsteige und sozusagen das ist so ein Kontrollsog, der sich sozusagen immer weiter rauf äh äh (unverständlich) und immer absurder wird oder so und, aber dem ich mich halt nur ganz schwer entziehen kann“ (Daktari, Z. 80– 88).

„Da ist äh, das ist das größere Motiv und das andere gibt’s auch beim Überqueren der Straße, bei allen möglichen auch sehr unsicheren, durch das Kontrollieren und die Unsicherheit und die Zweifel meiner Wahrnehmung gegenüber, dass ich dann sozusagen äh nicht einfach links und rechts schau, und sehe, da ist kein Auto und geh‘ über die Straße, sondern, dass ich links und rechts schau‘ und dann unsicher bin, ob links nicht DOCH noch was kommt und rechts hab‘ ich auch noch nicht lang geschaut und so weiter. Und das hat halt den Effekt, dass man immer unsicherer wird, sozusagen, ja. Und da gibt’s dann auch die Angst sozusagen, dass mir selber was passiert, […]“ (Daktari, Z. 90–96).

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In dem Moment, wo die eigenen Handlungen keine Konsequenzen für die ihn umgebende Situation haben, fühlt er sich entlastet. Sitzen in einer vollen U-Bahn ist kein Problem, weil sich sein Tun auf innerliche Abläufe beschränkt; der Weg zu einem Sitzplatz in der U-Bahn ist das Problem:

„Also ich hab, bin sozusagen aus meinem Zwang zur Gänze entlassen mit, wenn ich wo sitze und dann ist dann wurscht eigentlich, ob ich in der U-Bahn sitz‘, oder im Bus, oder in der Straßenbahn, aber solang ich sozusagen selbstverantwortlich mich beweg‘, sollte, äh, dann, dann mach ich mir ein Drama draus, dann tut mein Kontrollzwang voll, voll, es lässt sich nicht ausblenden ganz einfach“ (Daktari, Z. 166–169).

8.4.3.2 Spezifische Barrieren Barrieren ergeben sich in der von Daktari geschilderten Problemlage in der Sachdimension und in der Persondimension. Sie verhalten sich teilweise komplementär zu den Barrieren, die bei den Phobien identifiziert wurden. Da er die Situation immer überprüfen muss, weil er sich nicht sicher sein kann, ob er richtig gehandelt hat und nicht etwas übersehen hat, können Begleitpersonen ein Problem darstellen:

„für mich ist die Fortbewegung immer eine Angstpartie und eine Konzentrationspartie. [...] Und das spießt sich dann extrem mit meinen, sozusagen, auch meinen auf der Schiene sein ich muss kontrollieren. Ja, das heißt, das macht mir einen großen Stress“ (Daktari, Z. 335–339).

Eine Hürde stellen darüber hinaus eigene Ansprüche dar, die beispielsweise gegenüber TaxifahrerInnen eingefordert werden müssen. Daktari hatte früher Probleme, seine Ansprüche klar auszusprechen und einzufordern. Das hat auch etwas mit der Vorstellung zu tun, dass das Gegenüber die speziellen Anforderungen nicht ohne weiteres nachvollziehen kann, wenn er/sie nicht um die Besonderheiten von Zwangserkrankungen weiß:

„Und das ist mir früher sehr schwer gefallen auch das recht klar, irgendwas zu verlangen. Das fällt mir inzwischen leichter so, aber, aber in dem Sinn, wäre es natürlich kein Fehler, wenn Leute sich vorstellen könnten, was andere Leute für Probleme haben, weil das ist ja für andere wirklich nicht nachvollziehbar“ (Daktari, Z. 416–418).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 133 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Da die Wege zu einem Verkehrsmittel die eigentliche Schwierigkeit darstellen, bedeuten weite und insbesondere verschachtelte Wege Barrieren:

„Und äh, und ich hab’ also sozusagen, wenn das öffentliche Verkehrsmittel sozusagen nicht vor meiner Haustür anhält äh und vor meinem Ziel mich wieder ausspuckt, dann, dann hab’ ich schon,.. dann, dann, wenn ich das, dann hab’ ich schon sehr große Probleme“ (Daktari, Z. 135–137).

„[…] U-Bahn fahr’ ich sehr wenig, aber bei mir ist nicht das Problem, dass ich ein Problem hätt’ mit dem Untertagsein, oder mit dem eng in einem, einer Straßenbahn Sein, sondern die U- Bahnen haben meistens halt einen verschlungen Weg bis man dort ist und für mich sozusagen ist dann immer die Frage wie kurz und wie wenig verschlungen und sozusagen, noch dazu ich bleib’ bei jeder Ecke hängen, ja, bei jedem Vorsprung, der glatte Vorsprung wäre für mich also der einfache Weg, der müsste dann, das ist so und, und das ist sozusagen mein Auswahl- kriterium für die Nutzung“ (Daktari, Z. 158–164).

Aus diesem Grund sind aus der Literatur bekannte Angstorte (dunkle Parks, Tiefgaragen) für Daktari eine Herausforderung. Aber auch bei Stiegenhäusern stellen sich große Probleme. Alle Orte, in die seine Kontrollzwänge ausgreifen können, sind schwierig zu bewältigen:

„[…] alle Sachen die ich bei Bewegung hinter mir lassen muss, und wo ich dann jedes Mal sozusagen äh das Bedürfnis habe zu kontrollieren, ob da nicht irgendwas.. es hat sich auch im Laufe der Jahre ein bisschen von, von, von dem Angstobjekt fast ein bisschen entfernt, aber um den Preis, dass der Zwang umfassender auch bedient wird, äh, also Parks und Tiefgaragen, das ist im Grunde genommen gleich, wie alle anderen Hindernisse, […]“ (Daktari, Z. 454–458).

„Also nämlich meine Anforderungen sind wahnsinnig kompliziert, also wenn ich jetzt einen reinen Bürojob habe, dann müsste das Büro immer noch so in dem Gebäude sein, weil es gibt viele Gebäude, die kann ich nicht bewältigen“ (Daktari, Z. 515–518).

Wie weit das Problem der Kontrolle über die eigenen Handlungen geht und welche Orte damit in die Kategorie der Unsicherheit fallen, zeigt seine Schil- derung von Kaufhausbesuchen:

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„Aber die Kaufhäuser sind halt, für mich ist es etwas besonders schweres diese riesigen Räume, wo man sich sozusagen weit in die Tiefe bewegen muss, und dann wieder weit zurück zur Kassa und quasi das ist etwas, was für mich, was super herausfordernd ist“ (Daktari, Z. 556–559).

8.4.4 Sicherheit zurückgewinnen

8.4.4.1 Die Dynamik der Bewältigungsorientierung Grundsätzlich kann Daktari seine Zwänge mit den Anforderungen von Beruf und Alltag integrieren. Ob eine Situation für Daktari bewältigbar ist oder nicht, hängt von der Beschaffenheit der Situation genauso ab, wie von seinem aktuellen Zustand. Morgens fällt es ihm leichter, schwierigere Situationen zu bewältigen, weil er ausgeruht und entspannt ist. Auch Alkohol stärkt die Bewältigungs- orientierung. Medikamente helfen seiner Erfahrung nach wenig.

8.4.4.2 Spezifische Barrierehemmer Ein wichtiges Element, das Barrieren schwächt, ist die Definition der Situation: Situationen, die als lustvoll erlebt werden, sind wesentlich einfach zu bewältigen. Lustvoll kann sich auf den Handlungskontext beziehen (z.B. in der Freizeit) oder auf die Personen – sympathische Menschen – oder auf die ästhetische Qualität der Situation:

„Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht gerne bewegen würde. Wenn’s, wenn‘s einmal gelingt, dann genieß ich’s richtig, aber es gelingt eben viel leichter, wenn’s zu tun hat mit Freizeit, mit netten Leuten, in einer angenehmen Umgebung, dann gelingt’s auch wahnsinnig viel leichter, als wie wenn ich im Rahmen der Arbeit durch, also durch eine schirche Gegend in der ich mich irgendwo hin bewegen soll. Also ganz ein, ganz ein EKLATANTER Unterschied. Es ist einmal von außen betrachtet fast so gelingt wie anderen und äh normalerweise ist es auch eine Stehpartie“ (Daktari, Z. 483–488).

Mit Blick auf die Situation werden von Daktari drei Elemente ausgemacht, die Barrieren schwächen können: (1) Begleitpersonen, (2) andere Personen in der Situation und (3) klar strukturierte Wege. Begleitpersonen wissen im Idealfall um die Problematik und die besonderen Anforderungen, die Daktari an die Situationen stellt:

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„Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich, ob ich’s allein bewältigen muss, oder ob ich an meiner Seite jemanden hab‘, der um mein Problem weiß und im Idealfall sozusagen äh weiß wie mir das Problem erleichtert und sozusagen Verständnis hat und mir da hilft“ (Daktari, Z. 131–133).

Zum Verständnis gehört es, dass die Begleitperson die richtige räumliche Position hinter Daktari einnimmt und zudem braucht Daktari das Gefühl, dass sich die Person durch die Ansprüche nicht belastet fühlt:

„Also das mir jetzt ganz EINFACH gesagt hilft, wenn jemand MIT mir geht und das muss, aber auch in einer speziellen Weise sein, also sozusagen hinter mir äh.. weil wahrscheinlich, weil der Zwang sozusagen immer wieder kontrollieren will, ob nicht irgendwas passiert ist. Weil wenn jetzt eine Person vor mir geht, kann diese Personen sozusagen, die ist keine Absicherung, und deswegen äh helfen mir Personen, die, die mit viel Verständnis OHNE, dass sie selber weiß Gott wie genervt und gestresst sind, sozusagen, mit mir gehen, ja“ (Daktari, Z. 285–290).

Auch Ablenkung durch eine vertraute Begleitperson ist möglich. Sie muss nur wissen, wie man „das Ganze beruhigen kann“ (Daktari, Z. 343). Andere Personen stärken die Überwindungstendenzen nicht durch die Vermittlung von Sicherheit, sondern indem sie „soziale Kontrolle“ ausüben, was Daktari bei kurzen und gut eingeübten Wegen zu konformem Verhalten drängt:

„das sind sehr kurze und nur bestimmte Strecken. Also zum Beispiel, das ist der Weg von der Straßenbahn zu mir ins Büro, ja. Das ist aber, also das Haus, wo mein Büro ist, das ist an der Ausstiegsstelle von der Straßenbahn, das ist vielleicht äh….. wahrscheinlich keine 100 Meter, eher nur 60 Meter, also ungefähr in dem Dreh. Und äh das ist noch dazu nur eine einfache Strecke von mir, wo ich dann auch noch weiß, da ist eine soziale Kontrolle, also ich bin da noch einmal sozusagen angetrieben, dass ich da jetzt nicht ewig picken bleib’ oder so, ja“ (Daktari, Z. 145–150).

Einfache, klar strukturierte Wege sind Wege, die durch ihre Übersichtlichkeit die Gefahr vermindern, dass Daktari etwas übersieht. Sie verringern die Unge- wissheit, ob er sich selbst oder andere gefährdet. Daktari nennt die Rollbänder auf Flughäfen als Beispiel:

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„Also das ist natürlich eben find ich… also gar nichts was ich mir in ein, eine Forderung sowieso nicht und auch einen Wunsch übersetzen kann, ich mein einfach nur ein Beispiel, zum Beispiel bei diesen Flughäfen, wo’s die ganzen Rollbänder gibt“ (Daktari, Z. 273–275).

Neben der Schlichtheit und einfachen Struktur einer Situation ist es die ästhetische Anmutung, wodurch die Bewältigung einer Situation gestärkt wird. Hässliche Orte lösen schnell Unlust-Assoziationen aus, die sehr schnell in Kränkungen und Handlungsverweigerung übersetzt werden:

„[…] außer, dass mir auffällt, dass ich, wenn etwas in der Umgebung sehr schön ist und, und das Ganze mit Freizeitstil und mit Wohlbefinden, dann fällt es mir viel leichter, weil das Ganze Hässliche äh, da gibt’s dann so einen Faktor, wo’s mir dann auch, das spielt auch eine Rolle, sozusagen“ (Daktari, Z. 458–461).

„Ja, das hat sozusagen etwas mit Genuss mehr zu tun, und dann fällt’s wesentlich leichter, als wenn‘s mir irgendwie im Sektor, äh … was ist sozusagen ich weiß nicht irgendwo innen drinn beleidigt, dass man sich ein wenig beleidigt, oder dass man sich denkt: ‚Warum muss ich da so, oder so?‘, weil man’s irgendwie nicht mag“ (Daktari, Z. 468–471).

8.4.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung Die Vorschläge stellen noch einmal die Handlungsproblematik sehr schön dar. In der Persondimension wünscht sich Daktari geschultes Personal – etwa eine(n) TaxifahrerIn, von dem/der er weiß, dass diese(r) seine Wünsche nicht als überzogene Ansprüche deutet. Schon Broschüren, die den richtigen Umgang mit angstkranken Menschen beschreiben, würden helfen. Eine Begleitperson wäre „fantastisch, ja, also wenn die Person auch noch sozusagen äh Verständnis hat und Einfühlungsvermögen, [...]“ (Daktari, Z. 270– 271). In der Sachdimension wünscht er sich kurze, direkte Wege und kleine Räume. Alles ist auf Übersichtlichkeit angelegt, um die Unsicherheit zu schwächen, dass er etwas übersehen könnte:

„Und das, sag ma. Also, für mich ist ein Geschäft gut, was nur aus einem kleinen Raum besteht und die Tür, sollte halt möglichst sozusagen breit sein und aus Glas und ganz offen

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sozusagen, dass man mit EINEM Schritt in die Bude tritt und ich sagen muss ich brauch und kann mit EINEM Schritt wieder rausgehen“ (Daktari, Z. 561–564).

Alternative Transportmittel wie Sammeltaxis oder „billigere Formen von Taxis“ wären für Daktari eine Option, weil er beruflich auf flexible Transportmög- lichkeiten angewiesen ist. Auch Fahrgemeinschaften stellen für Daktari eine gute Lösung dar, weil er sich Fahrten alleine nicht zutraut. Wenn sein Arbeitsalltag auch die Koordination von Fahrgemeinschaften aufgrund der flexiblen Arbeitszeiten und der ständig wechselnden Orte und Termine sehr erschwert, gibt es Kontexte, wo eine Fahrgemeinschaft seine Mobilität verbessern würde:

„Also, was ich ja nicht leisten könnte, wäre zum Beispiel alleine einmal, nicht, dass ich alleine irgendwo hinfahre und alleine mit dem Auto fahre. Das wäre schon, also ich könnte es nicht leisten sozusagen, ja. Für mich wäre es super, wenn jemand sozusagen vorbeikäme […]“ (Daktari, Z. 500–502).

8.5 Gini: Bewältigungsorientierung, aber wenig artikuliert

8.5.1 Einschränkung der Mobilität Bei Gini überlagern sich Mobilitäts- und Krankheitsentwicklung. Als Kind fährt sie viel mit dem Fahrrad. Im Jugendalter kommt die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für den Schulweg dazu. Als sich im Jugendalter zunehmend Ängste entwickeln, schränkt sie die Verkehrsteilnahme ein, gibt sie aber nie vollständig auf. Zunächst verzichtet sie mit 13 Jahren auf das Fahrradfahren. Einen konkreten Grund dafür weiß sie nicht, abgesehen von dem Umstand, dass ihr das Fahrradfahren „afoch EXTREM unangenehm war“ (Gini, Z. 139) und dass sie Angst vor der Geschwindigkeit hat, mit der sie sich durch ein Fahrrad bewegen kann. So bewältigt sie diese Wege lieber zu Fuß. Um in die Schule und später in die Arbeit zu kommen, muss sie öffentliche Verkehrsmittel benutzen, „das heißt i bin ned drum herum kommen, aber es war... fürchterlich“ (Gini, Z. 71–72). Kurze Fahrten mit dem Bus werden systematisch vermieden. Wenn sie lediglich zwei Stationen mit dem Bus fahren muss, „dann geh ich die zwei Stationen mal prinzipiell zu Fuß, also i wart sicher ned auf den Bus“ (Gini, Z. 218–218).

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Gini berichtet, dass sie früher große Umwege, die zeitlich bis zu 30 Minuten in Anspruch nehmen konnten, in Kauf genommen hat. Prinzipiell zieht sie die U- Bahn der Straßenbahn und dem Bus vor. Ebenso zieht sie bekannte Strecken den unbekannten Strecken vor:

„Also früher hab i bekannte, i bin früher eher bekannte Routen gefahren, oder mehr U-Bahn gefahren anstatt dass i dann halt vielleicht mit der Straßenbahn halt, also wenn ma Praterstern und dann Floridsdorf fahrt anstatt dass ma mit dem 31er von Kagran bis Floridsdorf fahrt und extra umatum a komplettes Eck, dann ist das halt dann schon... verdächtig“ (Gini, Z. 264–268).

Insgesamt hat Gini aber nie einen Punkt erreicht, an dem die Rückzugs- tendenzen die Teilnahme am Straßenverkehr unmöglich gemacht haben:

„Aber in die Situation bin i no ned kommen, bis jetzt is es sich immer ausgangen“ (Gini, Z. 259)

Die Bewältigungsorientierung überwiegt also, insbesondere zu der Zeit, als sie noch in Wien wohnt:

„Des war eigentlich das einzige, was, joa also eigentlich war des immer Augen zu und durch.. weil dir bleibt dann eh nix über“ (Gini, Z. 120–121).

In welchem Grad die Verkehrsmittelwahl für Gini eingeschränkt ist, hängt nicht nur vom Verkehrsmittel selbst ab (U-Bahn ist am günstigsten, der Bus ist die schlechteste Option), sondern auch von der Tagesverfassung. Insbesondere abends ist sie „nervöser als sonst, [...]“ (Gini, Z. 213).

8.5.2 Erweiterung der Mobilität Nach zehnjähriger Pause fährt sie wieder mit dem Fahrrad, ganz selten zwar, aber sie kann sich dazu überwinden. Öffentliche Verkehrsmittel benutzt sie fast täglich, und es fällt ihr heute leichter:

„Also die da//, es ist so dadurch i hob mi ja ned .. ma kommt ja ned drum herum, also irgendwie muss ma (G: lacht) in die Schule kommen, dadurch also ich hab ja eh quasi fahren müssen, es ist nur die, die, die das Gefühl is halt afoch dann über die Jahre leichter geworden“ (Gini, Z. 80–82).

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8.5.3 Situative Unsicherheit

8.5.3.1 Verlust des normalen Erscheinungsbildes Gini spricht an vielen Stellen von einem Gefühl der Unsicherheit, insbesondere in unvertrauten Situationen. Sie kann dieses Gefühl aber kaum artikulieren:

„Ja es is a ned wirklich so, dass i in an Angstzustand drin bin, i bin afoch voll in einer nervösen Stimmung und über// also überfordert ist jetzt übertrieben, aber i bin afoch extrem durch den Wind und und.. extremst unwohl und und .. joa es is jetzt ned i bin ned in so an Angst// natürlich würd i gern aussteigen oder so des is ned so a Angst/Panik, es kommt eher, es is so a gewisse Angst vor der Angst da, aber ned diese Angst, die man schon hat, wenn man.. es ist sehr schwer zu beschrieben..“ (Gini, Z. 387–391).

Ein wenig auf die Spur kommt man ihren Problemen als sie begründet, warum sie den Führerschein nie gemacht hat. Gini meint, sie hat Angst, falsch zu reagieren, weil die Gedanken an die Konsequenzen ihrer Handlungen sie überfordern:

„Ja, na es ist nach wie vor weil’s afoch i bin total mitm Verkehr überfordert, also das ist, es klappt afoch, fahren, aktiv, schaun, afoch alles zam es ist afoch zu viel, i mach mir zu viel Gedanken was kann sein, wenn reagieren, das ist afoch..“ (Gini, Z. 437– 439).

Der Verlust des normalen Erscheinungsbildes spielt vor allem im Zusammenhang mit Gini selbst eine Rolle. Das Gefühl, durch eine Panikattacke Aufmerksamkeit zu erregen, ist ihr unangenehm. Auch wenn die Situation eines Zusammenbruchs in einem Zugabteil in der Darstellung nur hypothetisch angenommen wird, so zeigt sie doch die Angst, die wahrscheinlich nicht durch die Aufmerksamkeit anderer entsteht, die aber doch durch diese Möglichkeit verstärkt wird:

„Hab i noch nie gemacht, muss i wirklich sagen, hab i noch nie gemacht, i drucks halt dann immer durch und zur Not, manche Leut sitzen a auf die Stiegen und solange andere Leute auf den Stiegen sitzen, hockerlt man si halt irgendwie a hin, da fallt man ned auf. Wenn’s wahrscheinlich kaner macht, tät ich’s a ned machen, i bin dann auch immer so: Hauptsache ned auffallen und Hauptsache ned, des is halt, des mag i halt dann ned

140 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

irgendwie aber wahrscheinlich werd‘ i ned drumherum kommen, bevor i umfall oder so werd i wahrscheinlich doch jemanden fragen.“ (Gini, Z. 254–260)

8.5.3.2 Situative Barrieren In öffentlichen Verkehrsmitteln sind für Gini volle Passagierräume schwierig zu bewältigen:

„I: Also wenn so richtig zur Rush-Hour Menschenmassen sind?

G: Na des geht gar net“ (Gini, Z. 236–237).

Dabei sind es nicht die Menschen selbst, die Gini beunruhigen, sondern die Hitze und die Angst, im Fall eines Zusammenbruchs Aufmerksamkeit zu erregen. Unbekannte Orte, etwa Bus- und Bahn-Stationen, sind eine weitere Barriere:

„.. Unsicherheit oder des, dass i afoch, es is wirklich a so die Stationen, die i ned kenn, haben mi afoch unsicher gmacht. I weiss ned warum, es war afoch, die Station hab i ned kennt und i wollt gar ned hin, also obwohl einem nix passiert, es is nix anderes aber man geht afoch ned hin, ma geht afoch den Weg, man kennt ihn, man geht aufi, setzt sich eini, man weiß wo man aussteigen muss, i hob ned oder a ned man muss ned aufpassen wo man aussteigt, obwohl ma, obwohl nix dabei is, aber es is halt afoch das Gewohnte is afoch angenehmer“ (Gini, Z. 274–279).

Die Unsicherheit kann sich auch auf das Umsteigen beziehen, wenn sie nicht weiß, ob sie den Folgezug erwischt. Lange Fahrten mag sie bei weitem lieber:

„[...] wenn i weiß i fahr mit dem Zug i steig dort aus, i weiß wann i ankomm, i kann mir des anschaun und dann hob i des alles und des beruhigt afoch und.. ja.. i bin dann afoch entspannt und..“ (Gini, Z. 556–557).

Eine weitere Barriere spricht Gini mit dem Fahrzeuglärm an. Als sich die Krankheit vor etwa drei Jahren auf ihrem Höhepunkt befindet, kann sie laute Geräusche sehr schwer ertragen. Plötzlich vorbeifahrende Lastwägen an einer Baustelle jagen ihr Schrecken ein.

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8.5.4 Sicherheit zurückgewinnen

8.5.4.1 Cooling-down Mechanismen Eine wichtige Methode der Bewältigung von Transportproblemen ist das Warten auf eine geeignete und bewältigbare Situation. Wenn Gini merkt, dass heute nicht „ihr Tag“ ist, wartet sie beispielsweise auf den nächsten Bus oder sie wartet auf einen leeren Bus, wenn sie es nicht eilig hat. Wenn sie merkt, dass sie Angst bekommt, steigt sie aus, wartet, bis es wieder geht und nimmt den nächsten Zug:

„[...] i bin halt dann, also an der Fahrt is es ned gelegen, also i hob eher dann was anderes, also es ist, i bin dann einfach, wenn irgendwas war ausgestiegen, des war schon das Höchste, also ich bin ausgestiegen und dann in die Nächste eingestiegen, [...]“ (Gini, Z. 112–114).

Hilfreich sind darüber hinaus verschiedene Formen der Ablenkung wie Musikhören, das Spielen mit dem Mobiltelefon oder einfach das Beobachten der Umgebung. Musik zieht ihre Aufmerksamkeit von den irritierenden Geräuschen aus der Umgebung ab, die sie belasten:

„Erstens, höre ich gerne Musik und zweitens, i glaub schon, weil i, i hob dann afoch die Geräusche ned im Kopf und es macht mi ned nervös, weil mi machen afoch die, ja, denk schon.“ (Gini, Z. 360–361).

8.5.4.2 Situative Unterstützung In öffentlichen Verkehrsmitteln fühlt sich Gini eher sicher, wenn sie sich in der Nähe des Fahrers/der Fahrerin aufhält. Hilfe ist dann in Reichweite. Die Situation bleibt unter Kontrolle. Die Bewältigungsorientierung wird auch durch ästhetische Momente gestärkt, wenn eine neue und keine der alten Straßenbahngarnituren einfährt. Gini kann nicht beschreiben, was das Gefühl der Entspannung auslöst:

„Also das ist, wenn eine neue Straßenbahn kommt, bin i viel entspannter, als wenn a alte Straßenbahn kommt, i weiß jetzt ned, es hängt a bei mir kann ma irgendwie sagen vom Gebäude a, es ist bei Gebäuden gleich wie bei.. manche Gebäude san.. kann’s ned sagen warum’s so ist, das ist so.“ (Gini, Z. 224–227).

Weiters ist es für Gini wichtig, dass die Waggons öffentlicher Verkehrsmittel klimatisiert sind. Die Angst, umzukippen und damit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wurde schon dargestellt. Umgekehrt hat sie bei ausreichender

142 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Klimatisierung keine Schwierigkeiten, in eine volle Straßenbahngarnitur einzu- steigen. Da Selbstablenkung für Gini hilfreich ist, findet sie auch Ablenkungsangebot (z.B. Infoscreens) hilfreich. Der Ablenkung dient auch ihr Hund, den sie oft auf ihren Wegen dabei hat:

„... i hob meinen Hund eigentlich recht oft mitgehabt, das hat a sehr stark abgelenkt, also abgelenkt, man hat sehr viel zu tun gehabt eigentlich also bei meiner, das hab i jz nimmer sehr, jetzt hab i sie nimmer oft mit, weil das afoch für sie zu stressig ist, ähm..ähm..joa und beim gehen eigentlich, [...]“ (Gini, Z. 319– 321).

Der Hund kann aber auch Unsicherheit verstärken, was wiederum von ihrer psychischen Tagesverfassung abhängt:

„Das kommt auf den Tag auch an, manchmal ist des, manchmal verstärkt es eher nur und manchmal wird’s besser, das kommt drauf an wie wie der, also wie sie drauf ist.“ (Gini, Z. 346–347).

Schließlich vermeidet sie in Phasen, in denen es ihr schlecht geht, lange und unbekannte Wege.

8.5.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung Auf die Frage, was sie bei der Verkehrsteilnahme unterstützen könnte, verweist sie auf Rückzugsmöglichkeiten, Ablenkungsangebot in der Sachdimension und auf Anzeigen bzw. Durchsagen in der Symboldimension. Hinsichtlich der Rückzugsmöglichkeiten erinnert sich Gini an die 6er-Abteile in den alten Zügen. Musik oder öffentliches Radio in Form einer offenen Beschallung ist für Gini eine Option, weil sie Musik als Ablenkung positiv empfindet, aber das Tragen von Kopfhörern ist manchmal unangenehm; wichtige Durchsagen könnten dann versäumt werden. Durchsagen und Anzeigen, die Gini Orientierung darüber geben, in welcher Station sich ein Verkehrsmittel befindet und wo sie aussteigen muss, empfindet sie ebenfalls als große Hilfe, insbesondere in der Nacht, wenn sie durch Beobachten der Umgebung nicht erkennen kann, wo sich der Wagen gerade auf der Strecke befindet. Taxis sind für Gini keine Option. Sie würde nur in Notfällen, etwa bei Krankheit oder wenn sie spät in der Nacht nach Hause kommen möchte, auf Taxis zurückgreifen. Die negative Haltung gegenüber Taxis ergibt sich möglicherweise

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 143 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen auch daraus, dass sie – anders als Amadea – die Bewältigungsorientierung nie vollständig aufgegeben hat und dadurch nie auf ein Taxi (als captive rider) angewiesen war.

8.6 Highlander: Unsicherheit und Unfallangst

Highlander hat im Zuge beruflicher und privater Schwierigkeiten zunächst somatische Symptome entwickelt, denen keine organischen Störungen zuordenbar waren. Er klagt über Schwindelgefühle und bemerkt beim Fahren auf stark befahrenen Straßen ein Gefühl der Unsicherheit und Konzentrations- schwäche. Vor dem Ausbruch der Krankheit ist er sowohl beruflich als auch privat täglich mit dem Auto unterwegs. Er unternimmt Fahrten mit dem Motorrad, was er aber wegen eines Unfalls aufgegeben hat. Wege, die er zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen kann, erledigt er auf diese Weise; auch im beruflichen Zusammenhang nutzt er das Fahrrad, wenn er keine schweren Arbeitsmaterialen transportieren muss, für die er das Auto benötigt.

8.6.1 Einschränkung der Mobilität Als die Konzentrationsschwäche auftritt und er ein Gefühl der Unsicherheit entwickelt, meidet er stark befahrene Straßen und fährt teilweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln:

„Ahm, bin dann schon alternativ irgendwie gefahren in die Firma auch teilweise mit die Öffentlichen, weil ich mich, vor allem da staut’s halt in der Früh, wo ich voll drinnen bin einfach keine Sicherheit mehr gehabt hab, unsicher war“ (Highlander, Z. 85– 87).

Als die Schwindelanfälle beginnen und er sich deswegen auch in ärztliche Behandlung begibt, versucht er das Auto nur mehr im Notfall zu verwenden. Seine Arbeit im Außendienst erlaubt eine relativ freie Termineinteilung, die er nach dem Verkehrsaufkommen ausrichtet und er reduziert auch die Bürozeiten auf das Notwendigste.

8.6.2 Stabilisierungsphase (Mobilitätsarrangement) Highlander ist in seiner Mobilität eingeschränkt, verloren geht sie aber nicht. Er muss sich entsprechend an die Situation adaptieren. Man kann von einem Mobilitätsarrangement sprechen. Die Veränderung lässt sich am besten mit einer Stelle dokumentieren, in der er von der „stressigen“ linken Seite auf die

144 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen rechte Seite ausweicht. Aus einem eher aktiven wird ein passiver, vorsichtiger Fahrer:

„Beim Autofahren: Wenn zu viel Verkehr ist halte ich mich eher rechts auf und zuckel dann dort eher mehr als früher, früher war ich auf der stressigen Links-Seite, das hab ich dann abgerissen irgendwie, aber das ist jetzt alles irgendwie ausweichend“ (Highlander, Z. 470–473).

Dazu kommt, dass er die Hauptverkehrszeiten meidet und auch seinen Arbeitstag nach leichter bewältigbaren Verkehrssituationen (außerhalb der Stoßzeiten) ausrichtet. Dafür nimmt er die Mühen eines sehr frühen Tages- beginns in Kauf:

„Also da in dem Prozess wo mir schwindlig war, wo ich zum Arzt gegangen bin, wo wir begonnen haben, diese Untersuchungen zu machen und Tests ahm glaub ich hab ich das Auto nur mehr im Notfall verwendet, hab dann eher geschaut, dass ich, was sehr einteilbar bei mir ist, am Morgen eher so Firmenbesuche mach und dann erst so um 10 rein fahre, wenn ich weiß: die Straße ist frei und es ist kein Unfall passiert. Also ich hab das anders geplant als früher, ich war nicht in der Früh schon im Büro sondern eher erst später und auch gegen Abend hin hab ich dann eher so Planungen gemacht, dass ich dann noch zu einer Firma fahre, oder eben in mein Büro nach Liesing fahre, ja ahm.. War dann aber fast schon so, dass ich eher relativ selten im Büro bin, was auch nicht unbedingt notwendig bei mir ist, weil’s eine Außendiensttätigkeit bei mir ist und eh alles schon über E-Mail und Handy und Sonstiges geht, ahm… Hab dann eigentlich nur mehr die Anwesenheitspflicht gehabt bei meinen fixen Journaltagen, wo man am Vormittag drinnen ist und da halt die Option gewählt mit teilweise schon um 6 drinnen und gegen Mittag, also Mittag ist dann der Journaldienst aus gewesen, dass ich dann halt eben rausfahre, ja .. das ist gegangen, ja“ (Highlander, Z. 209–221).

8.6.3 Situative Unsicherheit Highlanders Hauptproblem besteht in der raschen Überforderung in unüber- sichtlichen Situationen, woraus der Wunsch nach einfachen und übersichtlichen Situationen resultiert. Dieses Problem ist nicht auf den Straßenverkehr und das

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 145 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Autofahren beschränkt, sondern drückt sich vielleicht noch besser beim Besuch von Supermärkten aus, deren Warenangebot eine Überforderung darstellen:

„[…] also das war mir einfach zu viel und und ja „Was brauchen wir?“ „4 Sachen“: gehen wir dort hin und den Rest lassen wir, ich bin jetzt nicht mehr so im Stande wie früher, dass ich in einen amerikanischen Supermarkt hineingehe und mir alles anschaue weil es so faszinierend ist. Es würde mich faszinieren, aber das schaffe ich momentan nicht. Also.. aber auch planerisch: Wo beginnen wir? Machen wir zuerst Bellaflora, machen wir zuerst das Geschäft in der Shoppingcity oder zuerst den Metro? In welcher Reihenfolge? Wie fahren wir raus? Wie ist es günstig zu fahren, wenn man vorne nicht abbiegen kann? Also alles durchgeplant eigentlich“ (Highlander, Z. 482–489).

Grundsätzlich wird das Überforderungsgefühl durch unübersichtliche, dichte, gedrängte Interaktionssituationen ausgelöst. Das Schwindelgefühl und die Überforderung können selbst beim Gehen oder beim Fahrradfahren auftreten. In solchen Situationen weicht Highlander hin und wieder auf ein Taxi aus:

„Ja das war gegen den Schluss dann schon ein paar Mal der Fall, wo ich selbst beim Radfahren mir dann gedacht habe, ich bin so unsicher heute und so weiß nicht scheuklappenmäßig irgendwie unterwegs, unaufmerksam. Auch beim Gehen. Das ist so eine Art Schwindelgefühl manchmal also es kommt auch jetzt manchmal noch, also wenn es mir dann ein bisschen zu viel wird halt ich mir so ein Taxi an, […]“ (Highlander, Z. 652–655).

Neben der Dichte der Interaktion sind es rasche Veränderungen und plötzliche Ereignisse, die Stress auslösen. Insbesondere laute, überraschende, knallende Geräusche, wie das Schließen von U-Bahntüren oder das Rumpeln von Bussen, irritieren Highlander:

„Wenn’s am Zug ist fühle ich mich wieder wohl aber dieses Knallen, wenn dieses Signal ist und dieses ‚Zuposchen‘, ja also das macht mich total narrisch, genauso wie in der U-Bahn. Oder auch diese U-Bahnen wo ich mir jetzt immer mehr denke: die rütteln, die rütteln so extrem viel und ich kann nahezu nicht stehen und und diese (unverständlich) und der 66A, der in jedem Loch bumpert und knackst und kracht, also da ich kann die Zeitung gar nicht mehr lesen, das .. das ist dann wieder das, wo

146 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

ich sage da da fahre ich dann lieber mit dem Auto“ (Highlander, Z. 529–534).

8.6.4 Sicherheit zurückgewinnen Für Highlander ist die computergestützte Planung von Routen das beste Mittel, um Stress zu mildern. Auf diese Weise kann er Routen oder Verkehrsmittel meiden, die unangenehm sind, ohne durch die Umwege Termine zu versäumen und zu spät zu kommen:

„Mhm, also im Internet Routenplaner schaue ich mir an die Wege, die möglich sind zu fahren, Navi hab ich auch, also oh ja. Da nehme ich mir schon Zeit und plane das. Auch öffentlich, da schau ich immer: Wie lange brauche ich? Wie lang sind die Wege? Was für Optionen gibt es? Dass ich vielleicht eine unangenehme Bim auslasse und lieber ah den Fußweg länger mache dafür oder so ahm ja. Also planerisch nehme ich mir da schon viel Zeit“ (Highlander, Z. 158–162).

Abends bevorzugt er gut ausgeleuchtete Wege, die die Übersicht verbessern und ihm damit Sicherheit geben:

„Das ist eh das erste Beispiel auch vorne, wir hatten wenn man da geht XXX215 hin den Schotterweg bis hin zur Brücke, ah das ist ein Schotterweg, der aber in der Nacht nicht beleuchtet ist.. und da habe ich selber gemerkt okay ich steige jetzt XXX aus und gehe den schön beleuchteten Weg daher, geh über die Brücke, geh aber dann die Straße, wo Sie gekommen sind, die XXXgasse, glaube ich heißt die, ah geh ich rein, weil sie beleuchtet ist. Und nicht vorne den Schotterweg, wo ich sonst immer unterwegs bin. Jetzt ist er neu beleuchtet worden und jetzt gehe ich logischerweise vorne, ja ah.. das ist mit vielen anderen Dingen eben auch so, ich geh schon lieber auf der beleuchteten Straße als auf der unbeleuchteten, wenn unübersichtliche Dinge sind weiche ich eher mehr aus und geh auf der übersichtlichen Seite“ (Highlander, Z. 463–470).

8.6.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Vorschläge führt Highlander keine an. Einzig Taxis werden im Kontext des abendlichen Ausgehens angesprochen, wovon er sich weitgehend zurück-

215 „XXX“ sind jeweils verschlüsselte Personen-, Orts- und Verkehrsmittelangaben.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 147 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen gezogen hat. Als dauerhafte Lösung ist es keine Option, weil es eine zu große finanzielle Belastung darstellen würde.

8.7 Hörnchen: Angst vor Fehlern beim Autofahren und Einengung in öffentlichen Verkehrsmitteln

Hörnchen ist ein Fall, der eigentlich unter beiden Gesichtspunkten betrachtet werden kann. Panikgefühle in öffentlichen Verkehrsmitteln lassen sich besser als Bedrohung persönlicher Territorien begreifen. Beim Autofahren geht es bei Hörnchen aber mehr um die Angst vor Fahrfehlern und unvorhersehbaren Ereignissen, was auf Probleme mit dem normalen Erscheinungsbild der Situation verweist. Da Hörnchen heute aufgrund ihrer ländlichen Wohn- und Lebens- situation vor allem mit dem Auto unterwegs ist, wählen wir Typ A als Haupt- bezugspunkt der Fallanalyse. In ihrer Jugend litt sie vor allem unter Zwängen, insbesondere unter einem Waschzwang, den sie aber jetzt unter Kontrolle hat. Später entwickelt sich im Zusammenhang mit Arbeitsbelastung eine Depression. Daneben tritt eine Angststörung auf, die sich in Panikzuständen und in somatischen Symptomen wie Herzrasen und Schweißausbrüchen äußert. Sie beschreibt Gefühle der Einengung, der Atemnot und der Überforderung. Schlafstörungen, Rücken- und Kopfschmerzen kommen dazu.

8.7.1 Einschränkung der Mobilität Ihre Kindheit verbringt sie in Wien und fährt dort gerne und viel mit dem Fahrrad. Mit 13 Jahren gibt sie das Fahrradfahren infolge eines Sturzes auf. Grundsätzlich benutzt sie öffentliche Verkehrsmittel und ganz selten fährt sie mit dem Taxi. Darüber hinaus macht sie mit 21 Jahren den Führerschein. In der Akutphase kann sie selbst nicht mit dem Auto fahren. Mit der Rolle als Beifahrerin hat sie allerdings kein Problem. Öffentliche Verkehrsmittel kann sie nur eingeschränkt nutzen. Sie muss häufig aussteigen und auf den nächsten Zug warten, wenn sie merkt, dass sich eine Panikattacke ankündigt. Die Fähigkeit, die Ankündigung einer Panikattacke wahrzunehmen und damit den zeitlichen Verlauf abzuschätzen, macht es für Hörnchen möglich, öffentliche Verkehrsmittel zumindest so zu nutzen, dass sie in ihrer Mobilität nicht völlig eingeschränkt ist.

8.7.2 Stabilisierungsphase Für Alltagswege, etwa das Einkaufen, benötigt sie heute aufgrund der ländlichen Wohnsituation ein Auto. Die Anschaffung eines eigenen Autos ist wie das Fahren

148 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen kurzer, vertrauter Strecken, eine Leistung, auf die sie stolz ist. Die Rolle als Beifahrerin nimmt sie nach wie vor gerne ein, die Rolle der Fahrerin bereitet noch Schwierigkeiten, die sie aber überwinden kann, zumal ihr die Inanspruchnahme von Hilfe ein schlechtes Gewissen macht. Hörnchen hat große Fortschritte in der Überwindung der Angststörung gemacht. Sie fühlt sich aber immer noch eingeschränkt, was sich in dem Wunsch ausdrückt, einmal spontan eine Fahrt mit dem Auto unternehmen zu können:

„Das würde ich, das ist eigentlich mein GRÖSSTER Wunsch, dass ich mich einfach REINSETZE ins Auto und GANZ spontan sag, SO jetzt fahr ich mal nach Wien. Jetzt fahr ich mal nach WIEN oder fahr ich IN die Arbeit mit dem Auto oder. Oder ich fahr meine ELTERN in XXX besuchen, einfach die SPONTANITÄT, dass ich nicht so gefangen bin irgendwie von meiner Angst, dass mich die nicht so abhält, das würde ich mir wünschen, dass meine Angst WEG geht. Dass ich mich einfach REINSETZ und drauflosfahre und Nicht so viel drüber nachdenke, das würde ich mir wünschen“ (Hörnchen, Z. 587– 592).

Darüber hinaus berichtet sie von einem Fahrrad, das sie letztes Jahr geschenkt bekommen hatte. Das erste Mal seit ihrer Jugend sitzt sie wieder auf einem Fahrrad. Sie berichtet von Angst, die sie überwinden kann. Auch darauf ist sie stolz. In die Arbeit bzw. zur Ausbildung fährt sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Am Zugfahren schätzt sie, dass sie sich insbesondere auf dem Nachhause-Weg nach der Arbeit entspannen kann. Hitze und Gestank im Zug mag sie nicht, sie stehen aber nicht im Zentrum ihrer Angst. Bevor sie das Auto angeschafft hatte, nutzte sie das Rad für Fahrten zum Bahnhof und auch in Zukunft möchte sie täglich mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren. Das Fahrrad nutzt sie auch für Transportwege in der Wohnumgebung. Seltene Transportformen wie das Fliegen sind zu keinem Zeitpunkt ein Problem gewesen. Die Flugangst ist aus der Verkehrsangst ausgenommen:

„[...] ich FLIEGE auch übrigens sehr gerne, also ich hab keine Flugangst. Ich flieg schon seit ich drei Jahre alt bin immer wieder und überall auf der Welt schon UND Fliegen macht mir ÜBERHAUPT keine Angst, obwohl ich da keine KONTROLLE hab, da hab ich überhaupt NIX, da kann ich noch nicht mal aussteigen, wenn ich will, NIX“ (Hörnchen, Z. 408–411).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 149 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.7.3 Situative Unsicherheit Psychisch bedingte Mobilitätsbarrieren sind für Hörnchen vor allem Panik- attacken, die von Herzrasen, Schweißausbrüchen und Schwindelgefühlen begleitet werden. Sie spürt einen starken Druck auf der Brust und hat lediglich den Wunsch, aus der Situation flüchten zu können. Die Panik wird dabei durch das Gefühl verstärkt, dass sie die Situation nicht mehr unter Kontrolle hat:

„Das SCHLIMMSTE also war für mich war, dass ich, dass ich Au-Aussteigen musste. Dass ist einfach, einfach nicht, dass nicht mehr unter Kontrolle hatte, einfach dass ich raus musste.. Dieses dies, da, da hab ich dann so einen RICHTIGEN DRUCK auf der Brust gehabt, also wirklich eine, also das war SO schwer alles und das war wirklich, den Tränen nahe und dieses nur noch RAUS wollen und ich SCHAFFE das nicht und ich KANN nicht mehr“ (Hörnchen, Z. 277–281).

Mit Bezug auf das normale Erscheinungsbild ist es die Angst vor Fehlern, die hinter dem Gefühl des Verlusts der Kontrolle über die eigenen Handlungen steckt:

„JA. Einfach dieses Gefühl, jetzt passiert immer diese VORSTELLUNG, ICH mach jetzt was FALSCH und ich kann das nicht mehr KONTROLLIEREN und ich lass das Auto einfach MITTEN auf der Straße stehen und spring raus.. und kann nicht mehr WEITER und weiß nicht mehr WO ich bin und ich kenn mich nicht aus und ich weiß nicht, was ich machen SOLL und. Das Auto macht nicht das, was ich WILL und solche, solche GEDANKEN, solche habe ich aber schon BEVOR ich ins Auto einsteig und wenn ich jetzt weiß, ich muss jetzt irgendwo HIN fahren. Dann werd ich GANZ nervös und krieg nasse Hände und und Herzrasen und bin GANZ verkrampft sitz ich SO drinnen und..“ (Hörnchen, Z. 216–222).

In öffentlichen Verkehrsmitteln bezieht sich die Angst vor allem auf andere VerkehrsteilnehmerInnen, wobei in diesem Kontext auch das Problem auftaucht, dass der „persönliche Bereich“, also der persönliche Raum nicht gesichert werden kann:

„[...], aber aber das ist dann wirklich ab XXX so gesteckt VOLL. Das ist wirklich ein WAHNSINN. Also, wie gesagt, jetzt störts mich nicht mehr, aber früher, wie es mir eben nicht gut gegangen ist, und es sind immer MEHR Leute und immer MEHR Leute

150 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

gekommen und man steht SO drinnen und das geht vielleicht Leuten auch die NICHT krank sind genauso, dass die sich vielleicht unwohl fühlen in der Situation, weil einfach der der persönliche Bereich, der einfach DA ist, eingeschränkt ist einfach“ (Hörnchen, Z. 336–341).

In der Sachdimension lässt sich die Barriere als Mangel an Flucht- möglichkeiten beschreiben, was insbesondere bei öffentlichen Verkehrsmitteln das Problem darstellt. Eine analoge Form der Bedrohung gibt es auch beim Autofahren, wenn andere Fahrzeuge zu dicht auffahren und sie auf diese Weise ein Gefühl des Bedrängtseins erlebt. Allerdings erzählt sie in diesem Zusammenhang nicht von Panik und es geht auch nicht um territoriale Verletzung. Sondern im Zentrum steht eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit, in der sich Hörnchen Gedanken macht, was andere über sie denken. Sie stellt damit ihr Verhalten in der Situation in Frage, was ein Problem des eigenen normalen Erscheinungsbildes darstellt:

„H: Genauso ist es, ja…Oder. Auch die ungeduldigen Leute, also. Das hab ich zum Beispiel AUCH, das muss ich noch dazu sagen, ich hab zwar auf meinen STAMMstrecken keine ANGST, aber HASSE es, wenn wer HINTER mir fährt, ich hab immer das Gefühl ich bin zu LANGSAM oder sonst irgendwas, und. Und dass. Ich mach mir immer GEDANKEN, was die anderen Leute von mir denken könnten.

I: Mh-mh..

H: Was DENKT der jetzt hinter mir. Jetzt fahr ich vielleicht zu LANGSAM, da da geh ich aufs GAS. Dann dann. Dann denk ich mir NA, das das macht mir NERVÖS, wenn irgendwer noch HINTER mir ist.“ (Hörnchen, Z. 483–489).

Aber auch über die eigenen Handlungen besteht Unsicherheit und mögliche Fahrfehler, die anderen Schaden zufügen, verunsichern ebenso:

„Hautpsächlich beim Autofahren.. wenn ich mir das, das dann, dann tu ich mir das schon in Gedanken DURCHspielen .. wo ich jetzt ungefähr FAHR und was dann alles SEIN könnte und die vielen Autos. Und. Und ich kann mich vielleicht nicht richtig EINREIHEN oder oder ich ÜBERSEH jemanden oder ich fahr jemandem REIN oder..…Ja. Und dass ich mir dann denke, ich bleib einfach MITTEN auf der Straße stehen, spring raus und renn davon.. So. Und das spiel ich mir schon die GANZE Zeit im

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 151 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Kopf durch und dann. Hab alle Zustände, nur wenn ich dran DENK“ (Hörnchen, Z. 453–459).

Das Gefühl der Unsicherheit, das sich im Durchdenken aller möglichen Gefahren ausdrückt, stellt sich insbesondere bei unbekannten Strecken ein. Selbst Abweichungen von der gewohnten Strecke, etwa von der Fahrt zum Bahnhof, sind schwierig:

„Na, GANZ furchtbar.. Das letzte Mal war bei uns ein UNFALL. Und ich hätte eine andere Strecke fahren müssen.. Mein Mann hat mir das zwar eh erklärt. Er hat gesagt, wir sind diese Strecke EH schon gefahren, du braucht dort rum und dann kommst dort raus und da ist der Bahnübergang und dann fährst du zum Zug hin.. ALLE Zustände habe ich gehabt und GOTT SEI DANK, wie ich weggefahren bin, war schon äh, war schon, der, der eine Dings da freigegeben, [...]“ (Hörnchen, Z. 522–526).

8.7.4 Sicherheit zurückgewinnen Auf der Seite der handelnden Person gibt es für Hörnchen eine Reihe von Cooling-down Mechanismen, die Situationen bewältigbar machen. Dabei spielen Skills eine große Rolle, also die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. Hörnchen hilft beispielsweise der Geruch von Waschmittel, der sie bei einer herannahenden Panikattacke beruhigt. Diese Beruhigungsmechanismen sind den magischen Mechanismen, wie sie Amadea berichtet, analog. Das Waschmittel erinnert Hörnchen an eine angenehme Situation im Urlaub:

„H: Das nennt sich sogenannte SKILLS, wo man sich bestimmte Dinge einfach, zum Beispiel das kann ein DUFT sein, ein Geschmack sein, oder mit gewissen Dingen ablenken, dass SOLLTE mal wieder so eine Situation kommen, dass man jetzt genau weiß, was man jetzt tun soll.. Dass das erst gar nicht passiert.

I: Okay.. Was hat Ihnen geholfen?

H: Ä h m, also ich hab das immer eingesteckt, das hab ich jetzt NIMMER eingesteckt, ich hab immer SO vom URLAUB dieses REI in der TUBE, das erinnert mich immer so an Urlaub, das hab ich immer in so ein kleines Plastikgefäß gegeben und wenn irgendwas war, hab ich dran gerochen und das hat mich sofort beruhigt“ (Hörnchen, Z. 183–191).

152 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Ebenso hilfreich für Cooling-down Prozesse ist das Essen von Schokolade, mit dem Mobiltelefon spielen oder Musikhören. In der Persondimension und im Kontext des Autofahrens kann eine Begleitperson Sicherheit geben, insbesondere bei längeren Strecken:

„Da brauch ich wirklich jemanden, der neben mir sitzt und sagt, wie ich fahren muss [...]“ (Hörnchen, Z. 66–67).

In der Sachdimension gibt die Vereinfachung der Situation Sicherheit. So hat sich Hörnchen ein Auto mit Automatik-Schaltung angeschafft, weil das Schalten ein stressauslösendes Moment sein kann, das zu Überforderung führt:

„Aber ich bin froh, dass ich Automatik hab. Also wenn ich SCHALTEN müsste, und KUPPEL müsste. Auch noch. NA.. FURCHTBAR. – I: Mh-mh. – B: Drum hab ich Automatik…. Nicht weil ich zu FAUL bin, sondern einfach, weil ich überFORDERT bin.. Wenn ich das auch noch machen müsste.“ (Hörnchen, Z. 666–670).

8.7.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung Besonders interessant findet Hörnchen die Möglichkeit, eine Wegstrecke mittels Computersimulation durchzuspielen, bevor sie wirklich fährt:

„I: Zum Beispiel so eine Strecke, wo man noch nie gefahren ist und mit, in einer Computersimulation durchfahren kann, bevor man das richtig

H: BOAH, das wäre ein Wahnsinn“ (Hörnchen, Z. 463–465).

Aber auch ein Navi hätte möglicherweise einen ähnlichen Effekt. Es würde vor allem die Rolle eines Beifahrers/einer Beifahrerin übernehmen, der/die ihr den Weg ansagt. Allerdings ist ihr Vertrauen in die technischen Instrumente nicht sehr gefestigt und sie erinnert an Zeitungsmeldungen, wo Navis FahrerInnen in Schwierigkeiten brachten, wenn sie ihnen zu sehr vertrauten:

„Ja, das wäre SUPER..also sowas wäre TOLL, JA.. aber vielleicht, ich bin, hab auch NIE das NAVI ausprobiert, vielleicht hilft mir das WIRKLICH. Das die mir ansagt, wann ich abbiegen muss, so, das ist eigentlich auch eine meiner größten Ängste, ich bin noch nie mit nem Navi gefahren und dann denk ich mir, wenn die mir einen BLÖDSINN sagt, dann bin ich wieder irgendWO und dann steh ich am nächsten Tag in der Zeitung“ (Hörnchen, Z. 471–476).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 153 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Hörnchen kann sich auch vorstellen, anderen AutofahrerInnen mit einem „FahrerIn hat Angst“ Aufkleber ihre besondere Situation zu signalisieren. Dabei würde sie auch mögliche Stigmatisierung in Kauf nehmen:

„H: Mhh, ja SOWAS….dass die Anderen gleich alle mich sehen, dass die Anderen gleich wissen, dass sie sich GAR nicht unnötig aufregen müssen, weils, vielleicht regen sie sich trotzdem auf, aber. Dann wissens schon, da sitzt so eine Komische drinnen, die kann halt nicht ANDERS. Und ja.

I: Das ist halt immer die Gefahr, dass eben. Dieses Stigmatisieren, dass dann. Und da will man ja manchmal gar nicht, dass die anderen das WISSEN.

H: Na, mir ist lieber, sie WISSENS“ (Hörnchen, Z. 806–811).

Im Kontext der öffentlichen Verkehrsmittel findet Hörnchen Ablenkungsangebot durch Bildschirme sinnvoll. In Straßenbahnen sind solche Bildschirme teilweise montiert und sie wünscht sich so etwas auch für den Zug. Flucht- und Rückzugsmöglichkeiten sind ebenso wichtig. Das WC in Zügen würde sich als Rückzugsmöglichkeit anbieten. Aber der meist schlechte hygienische Zustand und die Tatsache, dass die WCs oft zugesperrt sind, machen sie zu einer zweifelhaften Option:

„Das ist.. ja man kann sich aufs KLO vielleicht zurückziehen, aber die sind ja meistens auch abgesperrt, außerdem geh ich nicht gern aufs Klo. (lacht). Das ist so eine grauslige Sache, da kommen dann gleich wieder meine Zwänge. (lacht) Da fang ich vielleicht noch zum Putzen an. (lacht) Na Spaß.“ (Hörnchen, Z. 251–253).

Da Hörnchen die Panikattacken bereits früh erkennen und rechtzeitig aussteigen kann, wären für sie höhere Taktfrequenzen interessant, um den Zeitverlust durch die Pausen geringer zu halten. In der Persondimension findet Hörnchen geschultes Personal sinnvoll. Hörnchen kann sich an die Straßenbahnen ihrer Kindheit erinnern, in denen es noch SchaffnerInnen gab, die Fahrkarten verkauften. Eine solche Person gibt Sicherheit und Vertrauen:

„Da ist immer einer DA und da hat man irgendwie VERTRAUEN. Das ist irgendwie, das gibt einem ein gutes Gefühl und irgendeine SICHERHEIT, wenn da jemand DA ist“ (Hörnchen, Z. 759–760).

154 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Auch eine Begleitperson wäre günstig. Sie würde vor allem Ablenkung ermöglichen und sie, so ähnlich wie Grisu, aus dem Gefängnis der Situation herausreißen:

„Das Ablenken ist wichtig, genau.. Das ich dann nicht quasi in dieser Situation gefangen bin und die Leute alle um mich herum sind sondern dass ich quasi auf eine Person konzentriere, mit der RED, dann geht das auch. Ja“ (Hörnchen, Z. 266–268).

Zu alternativen Transportmitteln hat Hörnchen eine eher ablehnende Haltung. Sammeltaxis sind keine Lösung, weil sie ihrer Meinung nach verhindern, dass sie sich der Situation stellt, in der sie Angst hat. Hörnchen hat eine stark ausgeprägte Bewältigungsorientierung und das stark auf die Krankenrolle abgestimmte Mobilitätsangebot würde diese Orientierung nicht unterstützen:

„Aber ich glaub, man läuft, läuft man dann nicht eigentlich vor seiner Angst DAVON? Weil wenn, da, da umgehe ich das ganze WIEDER und da stell ich mich dem ganzen ja WIEDER nicht. Sondern da laufe ich ja wieder davon. Und ich will es eigentlich schaffen, dass ich das DURCHBRECHE und das ich es SCHAFF, dass ich mich ins Auto setze UND oder meinen sie jetzt mit den Öffentlichen, wenn Leute Panikattacken in den öffentlichen Verkehrsmitteln haben? Oder meinen Sie schon, noch A u t o-mäßig, ja? . Nein also ich glaub, das wäre nicht der richtige Weg, weil man dann wieder davonläuft“ (Hörnchen, Z. 631–636).

Auch selbstfahrenden Autos und U-Bahnen kommen zur Sprache. Sie würde beiden Transportmitteln kein Vertrauen entgegenbringen.

8.8 Ibiza: Bewältigung von Verkehrsangst und der Zusammenbruch danach

Wie im Fall Alicia tritt bei Ibiza Angst im Zusammenhang mit einer bipolaren Störung auf. Zunächst zeigt sich, dass die Angst die Verkehrsteilnahme relativ wenig einschränkt. Die Bewältigungsorientierung herrscht in diesem Fall vor. Allerdings ist die Anstrengung, die mit der Bewältigung von Angstgefühlen verbunden ist, so groß, dass es in Situationen, in denen Ibiza alleine ist, zum Zusammenbruch kommt. Bezogen auf die Verkehrssituation geht es Ibiza darum, die Fassade eines normalen Erscheinungsbildes für andere aufrecht zu erhalten. Panik kann aber auch in beengenden Situationen auftreten. So berichtet sie von einer Situation außerhalb des Verkehrskontexts, in der sie im Rahmen einer

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 155 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen medizinischen Untersuchung eine Maske aufsetzen muss. Das Beengungs- erlebnis löst eine Panikattacke aus.

8.8.1 Veränderung des Mobilitätsmusters Ibiza fühlt sich durch die bipolare Störung in ihrer Mobilität nicht eingeschränkt. Aber sie verändert sich in Abhängigkeit von der Dominanz depressiver oder manischer Stimmungslagen. Wenn es ihr gut geht, sind Fahrradfahren und die Nutzung der U-Bahn die wichtigsten Mobilitätsformen. Wenn das Wetter schön ist, fährt sie jeden Tag mit dem Rad. Es vermittelt ihr ein Gefühl von Freiheit und Wohlbefinden:

„Also bei mir ist das so, wenn ich mich schlecht fühle, äh, ich fahr öffentlich und wenn ich ein bisschen Kraft hab, dann fahr ich mit dem Rad, WEIL ähm, dann fühl ich mich immer BESSER, mit dem Rad. Wenn ich mit dem Rad unterwegs, statt öffentlich bin. Weil ich FREIER bin sozusagen“ (Ibiza, Z. 114–116).

Darüber hinaus ist Gehen wichtig und wenn sie sich gut fühlt, macht sie sowohl vom Fahrradfahren als auch vom Gehen ausgiebig Gebrauch:

„Also je BESSER ich mich fühle, desto aktiver bin ich“ (Ibiza, Z. 177). In den depressiven Phasen bevorzugt sie den Bus, „weil ich dann weniger umsteigen muss“ (Ibiza, Z. 503–504).

Das Fahrradfahren gibt sie in den depressiven Phasen nicht auf. Weil sie in diesem Zustand das morgendliche Aufstehen weit hinauszögert, kann sie mit Hilfe des Fahrrads dennoch Termine einhalten, weil sie damit schnell zur U-Bahn kommt:

„Also dann nehm ich das Rad, weil das sind 5 Minuten bin ich dort. Genau.. Also dass ich diese Disziplin wirklich habe u n d Termine einhalte und das Ganze“ (Ibiza, Z. 451–452).

Auch mit Autofahren hat sie nie Probleme, auch nicht in der Zeit, als die Krankheit sehr stark ausgeprägt ist:

„Ähm, also ich versuch das unter Kontrolle zu haben und das geht schon, ich hab starke Panikattacken, das auch dazu, ähm, aber mit dem Auto habe ich keine Probleme gehabt“ (Ibiza, Z. 91–92).

Ibiza gibt darüber hinaus an, heute wesentlich öfter zu fahren als früher.

156 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.8.2 Situative Unsicherheit und Barrieren Wie bereits angedeutet lassen sich bei Ibiza im Zusammenhang mit Angst und Panik keine situationsspezifischen Barrieren identifizieren. Das mit möglichen Barrieren verbundene Meideverhalten richtet sich in erster Linie nach dem Kraftaufwand, der für eine Strecke notwendig ist und betrifft die depressiven Phasen der bipolaren Störung. Ibiza bringt eine Reihe von Beispielen:

„Also, zum Beispiel, ich nehme die Rolltreppe, wenn ich mich schlecht fühle und wenn ich meine manische Phase hab, dann nehm ich die Stiege, zum Beispiel. Oder geh zu Fuß. Also in XX, wo die Geschäfte sind und das Ganze, also ich kann auch zu Fuß gehen oder den Bus nehmen oder mit der U-Bahn fahren. Mit der U-Bahn ist das eine Station, mit dem Bus sind es 4, 5 aber der Weg ist kürzer, also zur U-Bahn unten. Und dann nehm ich den Bus, wenn ich wirklich keine Kraft hab obwohl die Strecke am Ende gleich ist, aber die Strecke RUNTER zu gehen, zur U-Bahn, ist viel länger als zum Bus zu gehen, zum Beispiel, obwohl ich vielleicht 10 Minuten auf den Bus warten muss, mir ist das lieber, als 10 Meter oder 100 Meter zu U-Bahn zu gehen. Also das ist wirklich diese Kraftsache sozusagen“ (Ibiza, Z. 155– 162).

Ibiza berichtet von starken Panikattacken. Sie kann ihre Entwicklung wahr- nehmen und einschätzen. Die Panikattacken können so lange kontrolliert werden, bis sie alleine ist:

„Panikattacken schon, ja. Ich spüre es schon, also irgendwie, aber ich kann sie normalerweise kontrollieren, bis ich alleine bin. Dann PLATZT das auf einmal, sozusagen. Wenn ich alleine bin, weil die Gedanken dann, also keine Ablenkung oder so was. Ich bin alleine in meinem Kopf und dann platzt das, das Ganze“ (Ibiza, Z. 272–275).

Stimmungsschwankungen sind besonders von der Tageszeit abhängig. Morgens geht es in der Regel schlecht und der Zustand bessert sich im Lauf des Tages:

„Die kommen auf einmal. Die Depressiven und die Manischen kommen auf einmal. Also ich bin vor 2 Wochen, bin ich aufgewacht und ich so, weil, gleich in der Früh ist es immer schlimmer, also ich weiß nicht, ob die anderen das gesagt haben, aber am Vormittag ist es WIRKLICH viel, viel schlimmer als am Abend und das hab ich sogar, das hat mir die Psychologin

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 157 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

auch gesagt, als ich gefragt habe, weil wenn ich die Termine bei Ihr in der Früh gehabt hab, das war viel, viel schlimmer und ich hab mich viel schlechter gefühlt als am Abend. Also Abend hab ich das Gefühl, ich hab den Tag bewältigt. Also ich hab jetzt meine Ruhe gehabt“ (Ibiza, Z. 318–324).

Schwierig zu bewältigen sind vor allem unvertraute Situationen und weite Wege. Ibiza meidet insbesondere im Zusammenhang mit dem Fahrradfahren Strecken, die sie nicht gut kennt. Sie möchte vermeiden, dass andere VerkehrsteilnehmerInnen von ihren Problemen etwas mitbekommen:

„IB: Die Strecken, die ich nicht gut kenne, MAG ich nicht fahren.

I: Mit dem Fahrrad?

IB: Ja, mit dem Rad.

I: Aber aus welchen Gründen? Sicherheitsgründe oder? Also vor anderen Verkehrsteilnehmer, den Autofahrern oder so?

IB: Also ich hab das Gefühl ich muss mich SEHR konzentrieren drauf und ich hab immer das unangenehme Gefühl, dass alle SCHAUEN und dann sehen, dass ich komplett verloren bin“ (Ibiza, Z. 465–471).

Weite Wege erscheinen in den depressiven Phasen physisch als nicht bewältig- bar.

8.8.3 Sicherheit zurückgewinnen Wenn eine Panikattacke herannaht, ist Gehen das Mittel der Wahl. Gehen wirkt auf sie beruhigend:

„U n d wenn ich Panikattacken kriege, also dann ist es eher gefährlich, dann muss ich GEHEN. Also ich DARF nicht stehen. Ich muss gehen bis es vorbei ist. Also wenn ich eine Panikattacke auch in der Wohnung kriege, ich geh immer im Kreis“ (Ibiza, Z. 116–119).

Darüber hinaus kann Ibiza die Spannung sprichwörtlich herunterkühlen (Cooling- down), indem sie eine kalte Dusche nimmt:

„Wenn ich zu Hause bin, dann ah, geh ich mich duschen, aber ich brauch ein paar Minuten zuerst im Kreis gehen und das ganze und am Ende geh ich mich duschen und dann bleibe ich

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bis zu einer halben Stunde in der Dusche mit dem kalten Wasser“ (Ibiza, Z. 281–284).

Auch lesen und die Ablenkung durch ein Smartphone hilft. Die Nutzung von Social Media ist allerdings ungünstig, weil sie ihre Situation dann mit dem (vermeintlichen) Glück anderer vergleicht und sich schlecht fühlt:

„Handy. Was lesen auch. Was Neues lesen. Ich deaktiviere Facebook immer wieder, weil ich mich normalerweise sehr schlecht fühle, wenn ich mich SEHR schlecht fühle, Facebook mach ich, dann ist es noch schlimmer, weil ich dann sehe, dass die anderen so ein glückliches Leben haben und so das ganze JA, natürlich, das weiß ich alles, das ist so ein falsches Bild von mir auch. Jemand hat mir gesagt: ‚Boah, bei dir glaubt man‘. Eine Freundin hat mir gesagt, dass der Freund von ihr hat gesagt, also von uns sozusagen, ‚Boah, die XX hat SO viel Glück im Leben gehabt, bei Ihr ist ALLES perfekt, also sie braucht nur einen Freund finden und DANN ist das wirklich ein perfektes Leben.‘ NUR, weil er mich auf Facebook hat“ (Ibiza, Z. 392–399).

Hilfreich ist auch, wenn sich Ibiza Handlungsziele vorstellt, die ihr Freude bereiten. Sie erhöht damit die Verbindlichkeit der eigenen Handlungspläne:

„JA. Also wenn i, also wenn ich so einen schweren Tag hab, dass ich mich schlecht fühle. DANN, ich versuch mich quasi zu beruhigen, dann sag ich „Ok, mit der U-Bahn fährst du jetzt in die Arbeit und dann nach der Arbeit kommst du nach Hause mit der U-Bahn und dann nimmst du das Rad, dass du die Freundin triffst und dann, wenn ich das klar im Kopf hab, das ist nicht so, BOAH, ich hab keine Ahnung, was ich machen sollte heute. Dann ist es viel besser. Und dann halte ich mich an den Plan auch“ (Ibiza, Z. 427–437).

Ablenkungsangebot, etwa Bildschirme in den Stationen, braucht Ibiza nicht. Sie ist bei ihren eigenen Gedanken und bekommt dann von der Umgebung nicht viel mit:

„Weil ich, die Bildschirme als Ablenkung irgendwie, brauche ich nicht, weil ich so viel in Gedanken bin. Also ich bin immer so in Gedanken verloren und dann krieg ich gar nicht, die Umgebung krieg ich überhaupt nicht mit“ (Ibiza, Z. 247–249).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 159 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.9 Linda: Depression und körperliche Leiden

Bei Linda wird im Zuge beruflicher Überlastung 2010 eine endogene Depression diagnostiziert. Mehrere Psychiatrieaufenthalte folgen; beim zweiten wird eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt, die durch die Depression mit zum Vorschein kam. Mit der posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt Linda eine Sozialphobie. Darüber hinaus berichtet sie über körperliche Leiden: Bandscheibenvorfälle, Bluthochdruck, die Lungenerkrankung COPD 2 und zunächst ungeklärte Hüftschmerzen, die sich als seltene Entzündungskrankheit herausstellen. Linda nimmt bei sich starke Rückzugstendenzen wahr, gegen die sie ankämpft:

„Weil wenn’s nach mir geht, ich möchte eigentlich nur meine Ruhe, das heißt, ich hätte kein Problem damit äh grundsätzlich mich nicht aus dem Haus zu bewegen“ (Linda, Z. 354–355).

Ihre Grundhaltung entspricht eher der Bewältigungsorientierung. Grundsätzlich ist sie in ihrer Verkehrsmittelnutzung nicht sehr eingeschränkt, aber die Belastung durch Angst und Aufregung sind hoch und sie benötigt Zeit zur Beruhigung. Mit Bezug auf die Bewältigung von Verkehrssituationen müssen sowohl physische als auch psychische Barrieren bedacht werden.

8.9.1 Mobilitätsverhalten Linda erzählt kaum etwas von Veränderungen des Mobilitätsverhaltens infolge der Krankheit. Sie hat eine klare, nach Transportaufgaben gegliederte, Struktur. Arztwege und Fahrten zur Therapeutin erledigt sie mit öffentlichen Verkehrs- mitteln. Innerhalb des Wohnbezirks ist sie mit dem Auto unterwegs, das sie vor allem für den Transport von Heizmaterial und Hundefutter einsetzt. Einkaufswege in der unmittelbaren Umgebung – ein Supermarkt befindet sich in Gehweite – erledigt sie zu Fuß.

8.9.2 Situative Unsicherheit und Barrieren Linda hat Angst vor Menschenansammlungen und meidet große Bahnhöfe. Wenn möglich weicht sie auf die Straßenbahn aus und nimmt dabei einen Umweg von etwa 30 Minuten in Kauf. Insbesondere auf dem Rückweg von Terminen, wenn sie keinen Zeitdruck hat, bevorzugt sie den längeren Weg: „Hauptsache ich erspar mir das Gewusel da“ (Linda, Z. 44). Grundsätzlich zieht sie die S-Bahn der U-Bahn vor, weil ihr das Publikum ruhiger und gesitteter vorkommt. Auch die Chance, dass jemand aufsteht und ihr den Sitzplatz anbietet, ist ihrer Einschätzung nach in der S-Bahn größer. Sie bringt

160 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen das mit dem Publikum in Zusammenhang, das in den vom Zug durchquerten Bezirken wohnt. Linda meidet nicht nur U-Bahnen, um sich unangenehme Begegnungen zu ersparen. Für den täglichen Spaziergang mit Hunden wählt sie Tageszeiten, an denen die Chance gering ist, andere HundebesitzerInnen mit ihren oft aggressiven, nicht angeleinten Hunden zu treffen. Bei Linda äußern sich Angst und Unsicherheit vor allem in somatischen Symptomen:

„Also, ich bin ohnehin jemand, der sehr stark schwitzt und überhaupt die Haare werden nie wirklich trocken, weil ich am Kopf sehr stark schwitz. Und es wird dann schlimmer. Es ist auch im Winter dann so, ich krieg‘ Schweißausbrüche, ich hab‘ zusätzlich zu der ohnehin vorhandenen COPD, also die Lungenerkrankung, Kurzatmigkeit das heißt ich kann nicht mehr in den Bauch atmen und ich bin nur mehr da heroben“ (Linda, Z. 619–623.).

Die Art, wie sich Angst und Panikgefühle in Situationen entwickeln, deutet auf Probleme mit der Konstitution des normalen Erscheinungsbildes hin, weswegen Lindas Fall stärker unter dem Gesichtspunkt von Typ A gedeutet wird. So berichtet Linda im Zusammenhang mit der Frage, ob Musik ablenkend wirkt, dass sie niemandem den Rücken zuwenden kann. Sie hat Angst vor einer unvorhergesehenen Attacke:

„Und dann kann mich jederzeit wer angreifen und ich hör’s nicht. Das heißt ich hör dann nicht, kommt wer von hinten, will mir wer was tun. Das geht nicht, das geht mit der Angststörung nicht. Ich kann also nur eins reintun, und da mach ich’s gleich gar nicht, weil es nutzt nichts. Der kann mich nicht ablenken, das geht nicht. Also muss ich eben eine der anderen Methoden anwenden“ (Linda, Z. 641–644).

Bezogen auf ihre eigene Erscheinung hat sie die Vorstellung, dass der Ausdruck von Schmerzen, den sie unwillkürlich zur Schau stellt, von anderen Fahrgästen als Aggression missdeutet wird. Die Unsicherheit beruht dann nicht darauf, dass andere ihre Krankheit entdecken könnten und sie bestimmte Informationen über sich nicht abschirmen kann, sondern sie beruht auf der Sorge selbst, für andere in der Situation Anlass der Sorge zu sein:

„[...] man macht vielleicht schnell den Eindruck, dass man grantig ist, oder man mit niemandem reden will oder, dass schmerz-

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verzerrte Gesichter oft falsch ausgelegt wird. Wenn dann schon Aggression da ist, dann wird’s sicher dazu beitragen, dass die noch gesteigert wird und von daher ist öffentlicher Verkehr, ja, immer ein Problem“ (Linda, Z. 128–131).

In U-Bahnen setzen ihr die Enge und die Hitze zu und verursachen Stress. Sie hat dann das Gefühl, keine Luft zu bekommen und dieses Gefühl wird durch die Dunkelheit in U-Bahntunnels noch verstärkt. Auch Lärm verursacht Stress oder das Gefühl, von anderen bedrängt zu werden. Derartige Situationen sind für sie nicht mit Angst verbunden. Sie sind ihr aber unangenehm:

„Ich bin kein Klaustrophobiker, das absolut nicht, äh aber in einer U-Bahn ist es mir hochgradig unangenehm“ (Linda, Z. 112–113).

Linda wird in derartigen Situationen durch eine latente Aggression beunruhigt – sie nennt es Aggressionspotential – die der Stress bei ihr auslöst oder den sie bei anderen Fahrgästen vermutet:

„Das sind so diese. Dieses Aggressionspotential, was da von Haus aus schon drinn schwebt und das ist für Angstzustände mörderisch“ (Linda, Z. 91–92).

8.9.3 Sicherheit zurückgewinnen Seit dem Ausbruch der Krankheit vor fünf Jahren hat Linda gelernt, das Herannahen einer Panikattacke wahrzunehmen und sie kann gegensteuern. Sie spricht von einer „kleine[n] Vorwarnungsstufe, wo ich sag, jetzt merk ichs, ich merk’s rechtzeitig wenn’s anfängt zu steigen und kann.. gegensteuern“ (Linda, Z. 683–685). Die ersten Anzeichen sind somatischer Art: „man merkt’s da heroben im Schulterbereich merk’ ich’s als erster, dass sich das zusammenzieht, so einrollt [...]“ (Linda, Z. 628–629). Der Lernprozess war auch Ergebnis thera- peutischer Arbeit:

„Das ist einfach da und man kriegt’s nicht mehr mit. Und da gibt’s viele viele viele kleine Kleinigkeiten, wo man einfach merkt, dass sich eine Spitze wieder im Prinzip aufbaut und äh wo man dann noch abfedern kann. Wie gesagt eigentlich auch erst jetzt, nach fünf Jahren Übung und immer wieder und ich bin ja seit fünf Jahren regelmäßig bei meinen Therapeuten und ich bin regelmäßig am dagegen arbeiten und sonst wird das auch nicht gehen, sonst würd’s mich auch so überraschend treffen“ (Linda, Z 691–695).

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Wie bereits angedeutet, überwiegt bei Linda die Bewältigungsorientierung. Auch wenn der Gedanke an eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln unangenehm ist, kann sie sich überwinden:

„L: Und also das sind immer die Tage wo ich im Prinzip am Vortag schon weiß es ist am nächsten Tag der Termin und wo’s mir am Vortag schon nicht besonders gut geht.

I: Mhm.

L: Das ja. Man kriegt’s immer irgendwie hin sich zu überwinden und weil man ja auch dafür was tun WILL und weiß, dass man’s tun MUSS“ (Linda, Z. 25–29.).

Hilfreich ist eine genaue Vorbereitung der Fahrt, insbesondere bei neuen, ungewohnten Strecken. Die Ungewissheit der Situation ist sehr schwer zu bewältigen, doch sie arbeitet an diesem Problem in der Therapie:

„Also wenn’s um neue Strecken geht. Dann besprechen wir, welche Streckenmöglichkeiten es gibt, ah, ich such mir dann die aus, die noch am ehesten, wo ich sag: Okay, ich muss keine U- Bahn verwenden, ich kann vielleicht fahren mit – früher war sie in der XXX meine Therapeutin und da bin ich gefahren mit der Linie XX Straßenbahn und dann mit der Linie XX. Dann bin ich ausgestiegen bei der XX und das Stück raufgegangen. War super“ (Linda, Z. 160–165).

Auf den vertrauten Zugstrecken weiß sie, wie die einzelnen Zugwaggons von anderen Fahrgästen genutzt werden. Sie kann entsprechend planen und sich auf die Situation einstellen:

„Wenn’s Strecken sind, die man A nicht vermeiden kann, und B unter Anführungszeichen gewohnt ist, dann kann man sich auch auf das Publikum halbwegs einstellen. Der erste Waggon ist eher leer, oder der letzte Waggon ist eher der wo man, wo eine Ruhe ist. Dann kann man sich so ein bisschen helfen, aber wenn das jetzt ganz eine neue Strecke ist und ich zu einem neuen Arzt oder so muss, wo ich noch nie war, dann kenn‘ ich dort auch die Leute natürlich nicht und den Verkehr nicht, und dann ist meistens Vorarbeit mit der Therapeutin nötig“ (Linda, Z. 131– 136).

Darüber hinaus ist die S-Bahn-Linie, die sie in Anspruch nimmt, nie überfüllt. Auch das macht die Strecke für sie attraktiv. Wie im Fall von Hörnchen ist die

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Planung eine wichtige Methode, um eine unsichere Situation zumindest so weit in eine sichere, das heißt vertraute, Situation zu verwandeln, dass sie bewältigbar wird. Linda hat eine Reihe von Praktiken gelernt und geübt, die ihr helfen, sich abzulenken und sich zu beruhigen. Sie zählt vorbeifahrende Autos oder noch detaillierter die Anzahl an Fünfern auf den Nummernschildern. Derartige Cooling- Down Mechanismen sind anstrengend. Sie spricht von harter „Konzen- trationsarbeit“ (Linda, Z. 347). Gerade mit Blick auf die Ablenkungsmöglichkeiten bietet die Streckenführung der S-Bahn gegenüber der unterirdisch geführten U- Bahn Vorteile:

„Nicht überladen, man kann sich schön ablenken damit und kann sich eben auf welcher Schrebergarten oder welcher Kleingärtner hat grade was Neues angebaut. Man kann sich irrsinnig viel ablenken“ (Linda, Z. 1049–1050).

In Supermärkten, wo sie vor allem das Drängeln in der Warteschlange an der Kassa stört, hat sie eine Technik entwickelt, um die Situation erträglicher zu machen. Diese Technik könnte man als „Puffern“ bezeichnen und sie gehört eigentlich zur Etablierung und Durchsetzung von Territorien des Selbst, insbesondere des persönlichen Raums. Linda erzählt von einem Trick, der ihr hilft, die Situation der Warteschlange im Supermarkt auszuhalten, wenn drängelnde Kunden sie mit ihrem Einkaufswagen berühren. Der Trick besteht in der Schaffung eines räumlichen Puffers, indem sie sich nicht hinter, sondern vor dem eigenen Einkaufswagen aufstellt:

„[…], hat mir die Therapeutin gesagt, der BESTE Trick ist, das passiert ihr auch immer wieder, der beste Trick ist, stellen Sie das Wagerl nicht vor sich hin, sondern hinter sich. Ziehen Sie praktisch den Wagen hinter sich nach, räumen Sie ihn so aus, dann haben Sie den Wagen, als Dämpfer zwischen Ihnen und dem nächsten. Und das funktioniert gut, die Methode funktioniert gut“ (Linda, Z. 660–664).

In öffentlichen Verkehrsmitteln sind Pufferzonen schwer einzurichten. Aber es gibt Ausweichmöglichkeiten. So weist Linda auf die Toilette in der S-Bahn hin:

„WENN irgendwie Angst oder so ist: es gibt eine TOILETTE in der Schnellbahn, wo man ausweichen könnte“ (Linda, Z. 15–16).

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8.9.4 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Pufferzonen und Ausweichmöglichkeiten betreffen die Sachdimension einer Situation. Vorschläge für eine bessere Bewältigung der Situation bringt Linda jedoch in der Persondimension. Auf die Frage, ob ein(e) SchaffnerIn, etwa in der Straßenbahn, günstig wäre, meint sie:

„Ja das wäre toll. Also für das, für die Krankheit, für die Erkrankung für die Problematik, wäre es toll. Wenn es den Schaffner noch geben würde, weil der doch immer alles im Überblick hat“ (Linda, Z. 758–759).

8.10 Nameless: Angst vor dem Autofahren

Nameless leidet unter Panikattacken und Ängsten, die sich vor allem in somatischen Symptomen äußern (Atemnot, Herzrasen, Zittern). Sie berichtet von Überlastung in der Arbeit und einer Krise nach dem Verlust einer Angehörigen, die zugleich eine wichtige Bezugsperson für sie war. Ein stationärer Krankenhausaufenthalt folgt. Für Nameless ist es nicht leicht, die mit der Angst verbundenen psychischen Vorgänge zu schildern, vor allem wegen des somatischen Charakters der Symptome. Aber in ihrer Geschichte zeigt sich deutlich eine Phase, die von starken Rückzugstendenzen dominiert wird, die sie überwindet. Heute herrscht die Bewältigungsorientierung in ihrem Handeln vor.

8.10.1 Mobilitätsverhalten Nameless lebt in einem ländlichen Umfeld. Als sie den Führerschein macht, erledigt sie die meisten Alltagswege mit dem Auto. Da sie beim Fortgehen nichts trinkt, fungierte sie auch oft für ihre FreundInnen als „Taxi.“

8.10.2 Einschränkungen der Mobilität In der Akutphase gibt sie das Autofahren auf, kann aber auch nicht in den Zug einsteigen. Wenn sie nicht völlig immobil sein möchte, nimmt sie vor allem die Unterstützung ihrer Mutter in Anspruch, die sie mit dem Auto überall hinbringt.

8.10.3 Erweiterung der Mobilität Nameless hat kurz vor dem Interviewtermin wieder mit dem Autofahren begonnen. In Wien fährt sie allerdings nicht gerne Auto. Ebensowenig nutzt sie gerne die öffentlichen Verkehrsmittel, verwendet aber zumindest die U-Bahn, weil sie keine andere Option sieht.

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8.10.4 Situative Unsicherheit Das Autofahren gibt sie auf, weil sie noch vor dem Einsteigen zu zittern beginnt und diesen Zustand nicht kontrollieren kann. Sie stellt ihre eigene Fähigkeit, ein Auto sicher zu lenken, in Frage und möchte andere VerkehrsteilnehmerInnen nicht gefährden. Zugfahren ist weniger aus Angst sondern aus Scham schwierig, wenn andere Fahrgäste beobachten, wie sie zittert. Dieser Gedanke hängt aus der Perspektive der situativen Unsicherheit mit dem Gefühl zusammen, dass das eigene normale Erscheinungsbild in den Augen anderer (wie sie in der eigenen Wahrnehmung interpretiert werden) in Frage gestellt wird. Unangenehme Situationen (Angstorte), die für Nameless eine Rolle spielen, hängen wahrscheinlich weniger mit der Krankheit und mehr mit ihrer Geschlechtsrolle zusammen. Sie meidet Tiefgaragen und dunkle Parks, aber auch Personen, die sie ansprechen und um eine Zigarette bitten, sind ihr unangenehm.

8.10.5 Sicherheit zurückgewinnen Nameless hat gelernt, mit ihrer Angst umzugehen. Wenn sie merkt, dass sie sich aufregt, kann sie sich mit Wassertrinken und Atemübungen (autogenes Training) beruhigen. Im Zug hilft ihr vor allem Musikhören und Ablenkung, indem sie einfach aus dem Fenster sieht. Während des Autofahrens hält sie Musik allerdings für ungünstig, weil sie die dafür notwendige Konzentration schwächt.

8.11 Nora: Depressionen und Angst

Bei Nora entwickeln sich Ängste im Zusammenhang mit einer Depression, die sie in den ersten Jahren nach dem Auftreten fast nicht außer Haus gehen lässt. Ängste äußern sich in somatischer Form (Krämpfe) und in einem generellen Unwohlsein bei Verlassen des Hauses. Sie spricht gut auf Medikamente zur Behandlung der Depression an, findet zu einem zufriedenen Lebensgefühl zurück und kann seitdem den Alltag gut bewältigen. Da die Depression im Vordergrund steht, kann Nora nicht so einfach in das entwickelte Schema der zwei Typen eingeordnet werden. Ihre Ängste stellen einen Bezug zum Erscheinungsbild der VerkehrsteilnehmerInnenrolle her, weswegen sie im Rahmen von Typ A interpretiert wird.

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8.11.1 Einschränkung der Mobilität Nora bewältigt ihre Alltagswege mit dem Auto (Einkaufen, Freizeitwege, Kind in die Schule bringen). Mit dem Ausbruch der Depression stellt sie alle Transportaktivitäten ein. Nur in dringenden Fällen (Arztbesuch) verlässt sie das Haus. Den Weg zum Arzt/zur Ärztin bewältigt sie mit dem Bus. Sowohl das Auto als auch ein Moped gibt sie in dieser Zeit weg, vor allem aufgrund der finanziellen Belastung. Unterstützung erhält sie in dieser Zeit von ihrem Mann, der vor allem das Einkaufen erledigt. Auch die Tochter wird noch im Kindesalter in die Bewältigung des Alltags eingebunden.

8.11.2 Erweiterung der Mobilität Heute geht Nora viel zu Fuß und macht vor allem Spaziergänge. Darüber hinaus nutzt sie einmal in der Woche ein günstiges (subventioniertes) Sammeltaxi. Wenn sie Einkäufe zu erledigen hat, bringt sie der Fahrer zum Supermarkt, hilft ihr beim Einladen und bringt sie nach Hause. Ähnlich ist es bei Arztbesuchen: der Fahrer wartet und nimmt sie wieder mit.

8.11.3 Situative Unsicherheit und Barrieren Noras Barrieren sind psychischer Art. Autofahren traut sie sich aufgrund ihres Alters und der Beeinträchtigung durch Medikamente nicht mehr zu:

„Jetzt würd ich, es würde, wie wenn ich Alkohol getrunken hätte, oder so, dann würden sie draufkommen, ich bin so krank, wegen dem Pulver und das ist, das würde ich nicht machen, Auto fahren“ (Nora, Z. 316–318).

8.11.4 Sicherheit zurückgewinnen Hinsichtlich der Teilnahme am Straßenverkehr trotz Beeinträchtigung spielen für Nora drei Momente eine Rolle: (1) die Orientierung an der Überwindung bzw. Bewältigung der Angst, womit auch (2) das bewusste Setzen von Wegzielen zusammenhängt und (3) eine vertraute Umgebung. Die Entwicklung der Bewältigungsorientierung hängt eng mit den Medikamenten zusammen. Wenn Angst aufkommt, geht sie trotzdem weiter und nimmt die Belastung auf sich. Sie meint es sei wichtig, auch mit Angst hinauszugehen und weist auf die Leistung hin, die mit der Überwindung der Angst verbunden ist:

„Wenn’s auch Angst macht. Weil, wenn man’s g’schafft hat ist es ein schöneres Gefühl“ (Nora, Z. 411–412).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 167 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Insbesondere das bewusste Setzen von Wegzielen hilft Nora, das mit der Angst verbundene Leiden auf sich zu nehmen und die Situation dennoch zu bewältigen. Da Nora die dörfliche Umgebung, in der sie sich bewegt, seit ihrer Kindheit vertraut ist, gibt es keine Orte, die sie meiden würde:

„Da war ich überall. In XXX bin ich überall, weil ich in XXX aufgewachsen bin und da kenn ich mich am besten aus“ (Nora, Z. 324–325).

8.11.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Noras Vorstellung der Verbesserung ihrer Situation zielt auf die soziale Komponente. Sie wünscht sich einen Partner, der sie unterstützt und der ihr Sicherheit gibt. Sie berichtet von ihrem Ex-Mann, zu dem sie heute eine freundschaftliche Beziehung hat und mit dem sie gemeinsam Spaziergänge unternimmt.

8.12 Pluto: Schizophrenie und Angst

Wie bei Nora stellen bei Pluto die neurotischen Ängste nicht die primäre Krankheit dar. Ängste treten in der Form von Unsicherheit im Zusammenhang mit schizophrenen und paranoiden Symptomen auf. Die Symptome – sie hört in allen möglichen Situationen Stimmen und glaubt, dass andere Menschen, denen sie auf der Straße begegnet, über sie sprechen – treten das erste Mal im Alter von 19 Jahren auf. Zu dieser Zeit macht sie gerade den Führerschein. Die Halluzinationen verwirren Pluto und lösen Gefühle der Verunsicherung, der Ungewissheit und Desorientierung aus, sodass sie sich bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oft verfährt. Sie reagiert darauf mit Rückzug oder mit Aggression.

8.12.1 Einschränkung der Mobilität Vor dem Ausbruch der Krankheit benutzt Pluto alle Verkehrsmittel, die einer Jugendlichen in der Großstadt zur Verfügung stehen: öffentliche Verkehrsmittel benutzt sie genauso wie das Fahrrad, sie geht aber auch gerne zu Fuß und fährt regelmäßig als Beifahrerin mit dem Auto. Als die Krankheit ausbricht, zieht sie sich aus allen Verkehrssituationen zurück. Anfangs geht sie noch viel zu Fuß.

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8.12.2 Erweiterung der Mobilität Heute bewältigt Pluto ihre Alltagswege nur noch mit dem Auto, was sich im Lauf der Zeit als die einzige Möglichkeit herausgestellt hat. Andere Verkehrsmittel zu nutzen wäre ihr ein Anliegen, denn der PKW kostet viel Geld. Für bestimmte Alltagswege wie Einkaufen oder Amtswege erhält sie Unterstützung durch eine Familienhelferin. Das Benutzen von Flugzeugen ist für sie kein Problem. Unangenehm ist lediglich, dass sie nicht rauchen kann. Allerdings ist in dieser Situation immer eine vertraute Begleitperson dabei.

8.12.3 Situative Unsicherheit und Barrieren Die Mobilitätsbarrieren, mit denen sie es zu tun hat, leiten sich stärker aus den psychotischen Symptomen ab und sind nur teilweise in Verkehrsängsten begründet. Pluto gerät leicht in Zustände, in denen sie Stress empfindet, was oft zu Desorientierung führt:

„Und VERGESS auszusteigen und fahr dann irgendwie weiter und dann kenn ich mich nicht aus, wo ich hingehör und, ja. Ich bin dann verwirrt und dann muss ich IRGENDWIE wieder den Weg zurückfinden, den ich falsch gefahren bin. Alo ich verirr mich dann“ (Pluto, Z. 104–107).

Der Stress in der Handlungssituation (beim Autofahren) lässt sie unachtsam und hektisch werden, was manchmal Parkschäden zur Folge hat. Stress und der damit einhergehende Mangel an Konzentrationsfähigkeit lassen für Pluto unterstützende Smartphone-Apps als problematisch erscheinen. In weniger belastenden Situationen können sie jedoch unterstützend wirken:

„Die Apps helfen mir dann DOCH, aber aber die die die beschlagnahmen mich dann SO, dass ich wieder. Das ich erst wieder unsicher bin, also. Das ist die totale UNSICHERHEIT auch mit den Verkehrsmitteln“ (Pluto, Z. 110–112).

Derartige Verunsicherungserlebnisse auch sind Hinweise darauf, dass es Pluto nicht gelingt, das normale Erscheinungsbild einer Verkehrssituation zu konsti- tuieren. Sie kann die Rollen der anonymen VerkehrsteilnehmerInnen nicht adäquat einschätzen und sie auch nicht zum unproblematischen Hintergrund ihrer Aktivitäten machen, da sie glaubt, dass andere VerkehrsteilnehmerInnen über sie sprechen. Gegenüber anderen, die ihr Handeln beobachten, glaubt sie, alles falsch zu machen, wobei dieser Glaube nicht auf Verkehrssituationen beschränkt ist:

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„Nein, es ist nicht nur bei der Verkehrsmittelnutzung, also es ist bei mehreren anderen Menschen auch. Also bei Menschen- ansammlungen. Wenn ich glaub, ich mach alles falsch“ (Pluto, Z. 153–154).

Ein solcher Verlust des Vertrauens in die eigene Handlungskontrolle ist ein stressauslösendes Moment. In der Persondimension der VerkehrsteilnehmerInnenrolle sind es Menschen- ansammlungen und fremde Menschen, die sie belasten und weswegen sie insbesondere öffentliche Verkehrsmittel meidet und das Auto als einzige Option zulässt:

„So, mit fremden Menschen in einem ABTEIL zu sitzen oder sonst irgendwas, deswegen fühl ich mich ja im Auto sicher, weil da fühl ich mich sicher, weil da bin ich entweder ALLEINE oder mit vertrauten Personen, also.. Fremde Menschen sind nichts für mich“ (Pluto, Z. 112–116).

In der Sachdimension wird Unsicherheit durch unbekannte Wege verstärkt. Bekannte Strecken kann sie bewältigen:

„JA, das sind Erfahrungswege, genau. Also, irgendwelche unerfahrenen Wege.. wo, wo ich dann auch nicht weiß, wo ich lande, also wo ich nicht weiß, wo, wie schaut das aus, das macht dann eine sehr große Angst.. Also da krieg ich Angstzustände.“ (Pluto, Z. 146–148).

Beunruhigend sind für Pluto nicht nur unbekannte, sondern auch schlecht beleuchtete Situationen wie dunkle Parks und Unterführungen.

8.12.4 Sicherheit zurückgewinnen Wenn Stress und Unsicherheit abgebaut werden sollen, lässt sich als übergreifendes Moment der Rückgriff auf stabile, vertraute oder sich wieder- holende Strukturen ausmachen. Von den Cooling-down Mechanismen ist Musik hilfreich:

„Wenn man gestresst ist, also so Klassiker oder Relaxing Music oder so gibt’s da, da kann man sich helfen. Dann ist das gut.. Oder RADIO hören mit Liedern, die man schon oft gehört hat, das geht dann auch“ (Pluto, Z. 191–193).

In der Persondimension der Situation helfen ihr vertraute Personen bei der Bewältigung. Auch ihr Hund stärkt ihr Sicherheitsgefühl:

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„Ja. Auch wenn er ganz harmlos ist und zam, aber ein Hund. Neben einem laufen haben, ist ein Unterschied“ (Pluto, Z. 425– 426).

In der Sachdimension stärkt eine vertraute Umgebung die Fähigkeit, Verkehrssituationen zu bewältigen. Es handelt sich um Strecken, die Pluto mit dem Auto bewältigt, um zu einer vertrauten Person zu gelangen:

„Das sind so die Wege, die ÜBERHAUPT keine Probleme machen und die auch angenehm sind..Da bin ich auch gerne, da fahr ich mit den Kindern von A nach B und bin dann glücklich, wenn ich bei B ankomme und da jemand Vertrauten habe“ (Pluto, Z. 329–331).

Das Auto nimmt dabei die besondere Rolle einer Schutzhülle ein und stellt insofern ein Territorium des Selbst dar:

„Nein im Auto bin ich in einem geschützten, in einer BLASE, sag ich dazu.. Dann. Wenn ich in dieser Blase drin bin, kann mir nix passieren und deshalb ist es auch nicht schlimm, wenn dichter Verkehr ist oder so“ (Pluto, Z. 128–130).

Kontakt zu vertrauten Personen lässt sich über das Telefon herstellen und daher ist auch Telefonieren hilfreich: Es beruhigt Pluto und hilft ihr bei der Orientierung, wenn sie sich auf dem Weg verirrt hat:

„Ich ruf dann. Also wenn ich mich um Beispiel VERFAHR oder so oder wenn ich mir unsicher bin, wo ich hinfahren soll. Oder wenn ich mit den Öffentlichen bin, oder wie ich EINKAUFEN war, zum Beispiel, hab ich mit einer Freundin telefoniert. Also es ist dann immer ein Anruf“ (Pluto, Z. 374–376).

8.12.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Auch Plutos Vorschläge fügen sich gut in ihre Bewältigungsstrategien ein. In der Persondimension ist für sie eine Begleitperson hilfreich. Sie könnte mit ihr Alltagswege üben, bis man genügend Selbstvertrauen zurückgewonnen hat, um es alleine zu schaffen. Darüber hinaus kann sie sich eine „Begleiterapp“ vorstellen:

„Es könnte eine App geben, eine Begleiterapp. Ich weiß nicht, wo wo ein ein Bild ist von einer Person, weil weil wenn man ein Bild zu einer Person hat, ist das ja viel persönlicher als wenns nur eine Stimme ist und wenn man da ein Gesicht dazu hat. Die

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mit einem redet, und und wo man ein Foto drinnen hat oder oder sowas wie ein Kamera oder so. Das wär, das wär. GUT, weil dann könnte man mit der Kamera auch der Person die Umgebung zeigen, wo man grade Probleme hat“ (Pluto, Z. 435– 439).

In öffentlichen Verkehrsmittel würde Pluto Personal begrüßen. Es würde ihr beim Ablenken von quälenden Gedanken helfen, aber sie schätzt diese Möglichkeit als zu teuer und unrealistisch ein. Mit Blick auf die Symboldimension und im Zusammenhang mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann sich Pluto eine Notfallapp vorstellen. Diese App ist in ihrer Vorstellung auch mit einer Person verbunden, die im Bedarfsfall zusteigt und Unterstützung bietet. Diese Begleitperson müsste im Umgang mit Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden, geschult sein. In öffentlichen Verkehrsmitteln sind Rückzugsmöglichkeiten im ersten Moment eine gute Option, aber es ergeben sich Probleme der Stigmatisierung. Bereits existierende Rückzugsräume wie Toiletten sind ebenso ein Problem, weil Pluto ständig Angst hätte, dass der/die SchaffnerIn kommt und sich daher nicht entspannen kann. Ein Alarmknopf wäre insbesondere in Situationen hilfreich, in denen sich Pluto von Fahrgästen, die ihr aufdringlich oder gefährlich erscheinen, bedroht fühlt:

„Da fahrt man jetzt mit der U-Bahn und dann kommt irgendwie eine GANZ schräge Gestalt und setzt sich einem GENAU gegenüber und man kriegt eine Panikattacke und dann, wenn man DA so einen Knopf hätte, dann wäre die, die ANGST vorm U-Bahnfahren gleich viel geringer“ (Pluto, Z. 486–489).

Von den alternativen Transportmitteln sind für Pluto Taxis oder Sammeltaxis keine Option. Aber Fahrgemeinschaften von Personen, die ähnliche Wege haben, sind interessant. Dabei steht der kommunikative Aspekt im Zentrum:

„Ja. Ja. Das wäre für MICH eine Option.. Weil so lernt man ja dann auch die Leute kennen. Die. Irgendwie OFFENER sind für, für solche Thematiken….Ja“ (Pluto, Z. 542–543.).

8.13 Synoman: Todesgefahr und Kontrollverlust

Synomans Krankheitsgeschichte entwickelt sich infolge eines inadäquaten Coping-Verhaltens nach wiederholtem Verlust wichtiger Bezugspersonen (ein Todesfall und eine Trennung). Aus diesem Muster heraus entwickelt sich eine generalisierte Angst vor dem Verlust der Kontrolle über die Situation, die man

172 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen sehr gut mit dem Verlust der Fähigkeit, ein normales Erscheinungsbild zu konsti- tuieren, analysieren kann. Synoman hat die volle Amplitude der krankheitsbedingten Veränderung der Mobilität durchlaufen und befindet sich heute auf dem Weg der Gesundung.

8.13.1 Einschränkung der Mobilität Vor dem Ausbruch der Krankheit im jungen Erwachsenenalter nutzt Synoman vor allem öffentliche Verkehrsmittel. Er wächst in der Großstadt auf; ihre Nutzung ist ihm selbstverständlich. In der akuten Phase zieht er sich aus allen Alltagszusammenhängen zurück. Er absolviert einen mehrmonatigen, stationären Therapieaufenthalt, womit Mobilitätsprobleme in den Hintergrund treten. Um die Einrichtung am Wochen- ende hin und wieder zu verlassen, benutzt er ein Taxi. Öffentliche Verkehrsmittel kann er nicht mehr benutzen, weil:

„diese Panikattacken so stark werden, dass ich es einfach nicht mehr aushalte“ (Synoman, Z. 246–247).

Die Meidung öffentlicher Verkehrsmittel führt auch dazu, dass realistische Interpretationen der Situation durch eigene Vorstellungen ersetzt und verfremdet werden. Sie werden als unheimlich erfahren:

„Das war dann eben, dass ich schon so lange nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren bin, dass es auf einmal unheimlich wurde“ (Synoman, Z. 96–97).

Das Taxi ist für ihn die einzige Möglichkeit angesichts des vollständigen Rückzugs aus der Verkehrsteilnahme dennoch Termine einzuhalten. Selbst mit dem Auto zu fahren lehnt er ab, weil er „nicht für alle mitdenken“ (Synoman, Z. 151) und die Situation daher nicht kontrollieren kann. Deswegen bricht er auch die Führerscheinausbildung ab.

8.13.2 Erweiterung der Mobilität Durch medikamentöse und therapeutische Unterstützung kann Synoman heute mit der Krankheit besser umgehen. Obwohl es für ihn anstrengend ist, versucht er, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, insbesondere, weil er weiß, dass Meideverhalten seine Rückzugstendenzen verstärkt (Bewältigungsorientierung). Aus einem captive rider, der auf Taxis als einziges Verkehrsmittel angewiesen ist, wird ein eingeschränkter choice rider von öffentlichen Verkehrsmitteln. Dabei ist Busfahren und Straßenbahnfahren kein Problem, Zugfahren hingegen schwieriger. Er meint, das hängt mit der langen Vermeidung dieses Verkehrs-

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 173 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen mittels zusammen und kommentiert eine kurze Verspätung zum aktuellen Interviewtermin. Er nimmt dafür den Zug, muss aber wegen einer drohenden Panikattacke aussteigen, eine Pause machen und den nächsten Zug nehmen:

„Also Bus und Straßenbahn ist überhaupt kein Problem, also das macht gar nichts, Zug jetzt anscheinend, weil ich schon länger nicht gefahren bin ist wieder (….). Aber da muss ich jetzt durch, das muss ich jetzt wieder weiter probieren“ (Synoman, Z. 194– 196).

Auch Fahrradfahren ist eine Option (choice driver). Beim Fahrradfahren hat er die Situation weitgehend unter Kontrolle. Er muss sein Leben nicht anderen anvertrauen und kann dem Verkehr ausweichen, wenn es ihm zu viel wird. Alltagswege wie das Einkaufengehen bewältigt er zu Fuß.

8.13.3 Situative Unsicherheit und Barrieren Die wichtigste psychische Barriere sind schwere Panikattacken, eine positive Feedbackschleife, in der sich Angst vor möglichen Bedrohungen in einer Handlungssituation bis zur Todesangst steigert. Synoman fühlt die Panikattacken herannahen und er kennt ihren genauen Verlauf bis zur Bewusstlosigkeit durch Hyperventilieren. Daher kann er rechtzeitig auf sie reagieren: die Situation verlassen oder, wenn das nicht geht, eine hockende Haltung einnehmen, um einen Sturz zu vermeiden, sollte er das Bewusstsein verlieren. Synoman kann die durchlebten Zustände bei einer Panikattacke sehr genau beschreiben und es lassen sich die Mechanismen gut erkennen, die seine Angst in eine Panik eskalieren lassen:

„Na es fängt halt an, wenn die Türen sich schließen und man weiß halt, man ist jetzt eingesperrt. Und dann gibt’s vielleicht Tunnel und keine Ablenkung und man weiß, man ist jetzt drinnen und hat eben NICHT die Möglichkeit, falls irgendwas passiert sich zu melden. Ähm … ja dann, (unverständlich), dass man dann hektische Bewegungen macht. Vielleicht ist dann auch der Wagon noch VOLL und das stresst dann einen (schmunzelt), weil man nicht weiß was die anderen jetzt über einen denken. Es ist ja nicht, dass man eigentlich nicht irgendwie grundsätzlich hektisch ist, sondern, dass das dann situationsbedingt ist. Und das stresst einen dann noch mehr“ (Synoman, Z. 588–594).

Am Anfang steht das Erlebnis des Einschlusses. Wenn dann Ablenkungs- möglichkeiten verloren gehen und zugleich eine Fokussierung auf die Bedrohlich-

174 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen keit der Lage erfolgt (keine Möglichkeit, sich zu melden), spitzt sich die Angst zu. In besetzten Waggons öffentlicher Verkehrsmittel lösen die anderen VerkehrsteilnehmerInnen bei Synoman nicht das Gefühl aus, eingeklemmt zu sein (wie z.B. bei Susi P), sondern die Scham darüber, was andere über ihn denken könnten setzt ihn unter Stress. Er meint, er würde hektisch wirken, womit für andere Passagiere erkennbar werden würde, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Scham spielt beim Einleiten von Sicherheitsmaßnahmen bei einer drohenden Panikattacke eine große Rolle:

„Weil ich im Zug gemerkt hab, dass diese Panikattacken so stark werden, dass ich es einfach nicht mehr aushalte. Ich muss mich dann hinhockerln und das ist mir dann vor nicht gar allzu langer Zeit wieder mal passiert, sogar in der XXX Bahn. Wie ich in die XXX fahren wollte nach einem Interviewtermin und ich muss mich dann hinhockerln und das ist so unangenehm, weil man dann weiß, dass einen andere Leute anschauen, weil Sie nicht wissen, was das jetzt ist“ (Synoman, Z. 246–250).

Die Panikattacken lassen sich als Verlust des normalen Erscheinungsbildes begreifen, was direkt mit dem Gefühl zusammenhängt, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Dieses Gefühl begründet auch, warum er das Autofahren meidet, weil er als Fahrer eine Gefahr für andere darstellen würde, sollte er im Auto eine Panikattacke erleiden:

„Also ICH in einem Auto und mit einer Panikattacke, das glaub ich wäre keine gute Idee“ (Synoman, Z. 716).

In der Sachdimension der Situation wirkt der Mangel an Fluchtmöglichkeiten als Barriere. U-Bahn- und Zugabteile sind daher viel schwierigere Situationen als Busse oder Straßenbahnen, insbesondere bei langen Fahrten ohne Zwischenstopp. Im Bus oder in der Straßenbahn hat Synoman zumindest das Gefühl, er könne im Bedarfsfall ein Anhalten erwirken und der Situation entkommen. Dunkle Parks und ähnliche Angstorte stellen für Synoman keine bedrohlichen Situationen dar, weil er weiß, dass er flüchten kann: „Wenn ich laufen kann, ist mir das ziemlich egal“ (Synoman, Z. 533). In der (erweiterten) Persondimension sind solche Situationen bedrohlich, in denen Synoman keine Möglichkeit hat, sich zu melden:

„[…] man weiß, man ist jetzt drinnen und hab eben NICHT die Möglichkeit, falls irgendetwas passiert, sich zu melden“ (Synoman, Z. 589–590).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 175 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

8.13.4 Sicherheit zurückgewinnen Da es bei Synoman um die Kontrolle der Situation und ihr normales Erscheinungsbild geht, sind alle Maßnahmen, die das Kontrollgefühl stärken sinnvoll. Radfahren, insbesondere auf Radwegen, ist deswegen ein geeignetes Transportmittel, weil Synoman meint, er brauche dabei keine Verantwortung abgeben:

„S: Nicht, weil man ist sein eigener Herr. Man kann beim Radweg immer selber kontrollieren, wo man hinfährt oder wie man was macht.“

I: Aha

S: Stimmt eigentlich, das ist auch ein Grund. Wenn man Verantwortung jemanden anderen überlässt, über sein eigenes Leben, ist das ein bisschen ein Problem“ (Synoman, Z. 697– 701).

Synoman verwendet eine Reihe von Cooling-down Strategien: Musikhören, verschiedene Formen der Ablenkung, indem er die Aufmerksamkeit von den angstauslösenden Vorstellungen abwendet und verschiedenen Aspekten der Situation (Umgebung, Werbebildschirme, usw.) zuwendet. Eine wirksame Methode, den Eskalationsprozess einer Panikattacke aufzu- halten, ist die Unterbrechung einer Fahrt. Deswegen sind die kurzen Stationsführungen von Straßenbahnen für Synomans situative Angstdynamik besser geeignet als die längeren Strecken von Zügen. Dieser Umgang mit der Angst ist aber nur möglich, wenn das Herannahen einer Panikattacke erkannt werden kann und wenn zwischen den ersten Signalen und der Eskalation der Angst noch genügend Zeit bleibt, um zu reagieren. Weil die Angst an die Situation gebunden ist, unterbricht die Fahrtunterbrechung auch den psychischen Prozess, der zu einer Panik führt:

„Deswegen würde ich das manchmal nicht unbedingt herausfordern. So wie ich erzählt hab, ich hab gewusst, wenn ich jetzt noch kurz wart, würde es wahrscheinlich mit den nächsten Zug besser gehen“ (Synoman, Z. 121–122).

In der Sachdimension der Situation wirken drei Elemente auf den Ausbruch einer Panikattacke hemmend: (1) Ablenkungsangebot, etwa Werbung auf Bildschirmen:

„Weil da kommt ja immer wieder was Neues und man hat die Möglichkeit, dass man da drauf schaut und man denkt drüber

176 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

nach und somit ist man dann ja mit seinen Gedanken auch wieder wo anders“ (Synoman, Z. 284–286).

(2) Rückzugsmöglichkeiten: für Synoman bieten sich Toiletten oder die Durchgänge zwischen den Zugabteilen an und (3) die Möglichkeit, eine Fahrtunterbrechung herbeizuführen (Notbremse):

„Man kann immer wieder die Notbremse ziehen. Also man weiß, man kann raus und das is dann eh wie im Zug auch. Das ist dann halt eine gewisse Sicherheit. Nur es, obwohl’s wahrscheinlich eh nie dazu kommt, es ist nur der Gedanke, dass es möglich ist“ (Synoman, Z. 211–213).

Insbesondere die Möglichkeit der Fahrunterbrechung macht Busfahren und Taxifahren attraktiv, weil Synoman unmittelbar mit dem/der FahrerIn interagieren kann, was eine Eigenschaft der Persondimension der Situation darstellt. Meistens ist dieser Schritt gar nicht notwendig; es reicht das Wissen um diese Möglichkeit, um die Angstentwicklung zu hemmen:

„Da weiß ich, ich sag dem Busfahrer „Ich muss jetzt raus!“. Der Busfahrer ist halt so nah (Läuten der Türglocke), also dass man wirklich auch vor gehen kann und ich hab mir das öfters überlegt und das macht man halt im Laufe der Zeit, wenn man versucht, ich will nicht sagen Krankheit, aber wenn man halt versucht mit dieser Situation umgehen lernen. Dann versucht man sich Techniken anzueignen. Und das ist eben eine Technik, dass man sich sagt, „ok, ich kann“. Und eigentlich reicht das schon. Wahrscheinlich braucht man das gar nicht. Aber alleine, dass die Möglichkeit besteht, man kann raus, ist schon ganz gut“ (Synoman, Z. 356–361).

Wie oben anlässlich des Bedürfnisses nach Kontrolle der Situation angedeutet, sind Radwege eine Situation, die es Synoman weitgehend erlauben, sich jederzeit aus dem Verkehr zurückzuziehen und eine Pause zu machen, weswegen auch sie in die Kategorie der Sachdimension der Situation gehören. In der Persondimension der Situation sind ähnliche Eigenschaften wichtig, wie in der Sachdimension. Synoman schätzt Züge, die über einen Speisewagen verfügen, nicht nur, weil Essen eine gute Ablenkungsmethode darstellt, sondern auch, weil die Interaktion mit dem Zugpersonal einen starken ablenkenden Effekt hat. Synoman genügt es, dass jemand da ist, der ihm helfen kann. Bei den Taxis kommt die persönliche Beziehung zu den TaxifahrerInnen bzw. dem Taxiunternehmen hinzu. Synoman hatte ein Taxiunternehmen seines

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Vertrauens; die FahrerInnen wussten um seine Bedürfnisse und so konnte Stigmatisierung vermieden werden. Auch die Symboldimension der Situation birgt für Synoman angsthemmende Elemente. Fahrtinformationen orientieren die Situation, machen sie auf eine gewisse Weise berechenbar und erleichtern das Einplanen von Pausen. So unterstützt ein Zähler, der die Minuten bis zum Eintreffen in der nächsten Station herunterzählt, die Berechenbarkeit der Zielerreichung. Das kann auch damit zusammenhängen, dass er die Zeit gut einschätzen kann, die es braucht, bis sich die Panikattacke aufgebaut hat:

„Ja genau, das ist das nächste, was ich grad sagen wollte. Also im Bus gibt’s ja mittlerweile, dass man sieht, welche Station die nächste ist. Und da kann man so ungefähr abschätzen wie lange es noch dauern wird. Dass man sagt, ok die eine Station schaff ich noch. Das hab ich schon öfter gehabt. Und dann sag ich mir, na eigentlich geht vielleicht die nächste Station auch noch“ (Synoman, Z. 288–291).

In ganz anderer Weise wirkt eine Taxi-App unterstützend, die über Fahrtpreise in verschiedenen Städten informiert, was Synoman den Besuch fremder Städte leichter macht.

8.13.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Synomans Vorschläge zur Hemmung von Angst, wodurch Verkehrssituationen bewältigbar werden, lassen sich ähnlich organisieren wie die Barrieren. In der Sachdimension wünscht er sich mehr Kontrolle, was z.B. durch Videoüberwachung geleistet werden kann:

„Weil da ja auch andere Sachen passieren, nicht nur Unfall, sondern vielleicht auch Raub, oder was weiß ich, dass irgendjemand zusammengeschlagen wird“ (Synoman, Z. 378– 380).

Generell wünscht sich Synoman eine sichere Umgebung, was er in Verbindung mit den eigenen vier Wänden bringt:

„Aber zuhause ist es halt doch ein wenig anders, eben weil es eine sichere Umgebung ist. Eben diese sichere Umgebung sucht man, egal wo man ist“ (Synoman, Z. 673–675).

In der Persondimension spricht sich Synoman für Schulungen der Fahrgäste aus. Das Problem bei Fahrgästen ist, dass sie nicht wissen, wie sie mit der

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Situation umgehen sollen. Synoman würde es helfen, wenn man den Blick nicht so sehr auf seinen Zustand lenkt – das passiert, wenn andere Fahrgäste in Sorge sind und ihn fragen, wie es ihm geht – sondern, wenn man ihn ablenkt:

„Also man muss aus diesem Gedankenkreis raus. Dann ist es besser, weil wenn man jetzt sagt ‚Na, was haben Sie denn?‘, ‚Na was ist denn?‘, ah, oder ‚Warum geht’s Ihnen denn so schlecht?‘. Und das sind dann alles so negative Sachen, die auf einen dann einwirken. Und dann kommt man sich eh schon blöd vor, weil man diese Panikattacke hat“ (Synoman, Z. 390–393).

Als Konsequenz wäre Bewusstseinsbildung für Fahrgäste wichtig, damit sie einen entsprechend diskreten Umgang lernen. Zur Persondimension gehören auch technische Kommunikationsmög- lichkeiten in Verkehrsmitteln, etwa Gegensprechanlagen ähnlich wie in Aufzügen oder Stationen:

„Ich glaub, es ist für viele sicherer, wenn es wirklich diese Gegensprechanlage gibt. Ich würde mir nicht ausmalen müssen, wenn jemand wirklich eine Panikattacke in diesem Aufzug hat, wenn der stecken bleibt“ (Synoman, Z. 335–338).

Das Personal müsste jederzeit erreichbar sein, sodass man im Bedarfsfall immer jemanden hat, mit dem man reden kann. Eine dezentere Variante technisch vermittelter Kommunikation wäre ein Notfallknopf. Wichtig ist für Synoman, dass man diesen Knopf unbemerkt betätigen kann und dass man die Gewissheit erlangt, jederzeit jemanden erreichen zu können. In der Symboldimension sind für Synoman beruhigende Durchsagen vorstellbar. Er erinnert an einen freundlichen Lokführer, von dem er in der Zeitung gelesen hat:

„Lustigerweise hab ich das mal gefunden, da war im Standard ein Gerücht, über die scherzhaften Aussagen von Lokführern oder wie auch immer. Und da gab es jemanden, der, eh wie Sie vorher auch gemeint haben, gesagt hat: „Ja in kürze erreichen wir diesen Standpunkt und äh das Wetter ist grad so und so“. Und ich glaub das hat die Leute allgemein ziemlich amüsiert und ich glaub das hat halt einfach gut getan. Aufmerksam, freundlicher und netter zu sein“ (Synoman, Z. 461–465).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 179 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Im Bereich von App-Lösungen sieht Synoman ebenfalls Verbesserungs- potential. Im Zusammenhang mit der Nutzung von Apps öffentlicher Verkehrsmittel verweist er auf den Mangel an Möglichkeiten, sich alternative Routen ausgeben zu lassen und die dafür notwendigen Parameter eingeben zu können:

„Ich hab ja auch die ÖBB-App am Handy und kann so halt schauen, wann der nächste Zug fährt oder Bus oder wo auch immer. Man kann dort den aktuellen Standort verwenden, oder man gibt einfach ein, bei welcher Haltestelle man gerade ist. Das ist auf jeden Fall sinnvoll. Nur wenn ich die U-Bahn vermeiden will, kann das die App nicht“ (Synoman, Z. 447–450).

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9 Typ B: Bedrohung territorialer Grenzen

Parallel zu den vorangehenden Analysen sollen in diesem Kapitel Fälle diskutiert werden, die stärker auf Ängste bei der Aufrechterhaltung und Durchsetzung territorialer Grenzen fokussieren.

9.1 Referenzfall Libella

Der Fall Libella wird als Bezugspunkt für die zweite Form herangezogen, wenn adäquate Rollenausübung weniger über den Verlust der Fähigkeit erschwert wird, ein normales Erscheinungsbild zu konstituieren, sondern wenn territoriale Grenzen bedroht sind. Die territorialen Grenzen beziehen sich auf das Konzept der Territorien des Selbst und ihre Verletzbarkeit. Im Unterschied zu Amadea liegt Libellas Krankengeschichte nicht in der Vergangenheit. Zum Zeitpunkt des Interviews ist die Krankheit noch nicht überwunden, aber ihr Zustand ist stabil und der Ausblick auf die Zukunft ist positiv. Libella leidet schon als Kind unter Ängsten. Sie hat Angst, verrückt zu werden. Als Jugendliche leidet sie unter Stimmungsschwankungen. Später wird eine bipolare Störung festgestellt.

9.1.1 Mobilitätsphasen 1–3: Entwicklung, Verlauf, Stabilisierung Libella arbeitet freiberuflich in einem klientInnenzentrierten Beruf. Solange sie ihre freiberufliche Tätigkeit ausübt, die mit Hausbesuchen verbunden ist, ist sie für die tägliche Fahrt zu den KlientInnen auf ein Auto angewiesen. Weite Strecken bewältigt sie selten und benutzt dafür den Zug. In ihrer Freizeit unternimmt sie gelegentlich Fahrradausflüge. Während ihrer Ehe, in der sie in einem anderen Bundesland wohnt, verliert sie ihre Mobilität. Sie ist auf ihren Mann angewiesen, der sie mit dem Auto mitnimmt. Insbesondere durch starke Medikamente gibt es Phasen, in denen sie nicht fahren kann. Als sie in Wien Therapie macht und in Niederösterreich wohnt, kann sie den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht immer ausweichen.

9.1.2 Mobilitätsphasen 4 und 5 Autofahren ist unmittelbar nach einer schweren Krise aufgrund von Medika- menteneinnahme nur eingeschränkt möglich – es wird die Empfehlung ausgesprochen, dass sie nicht fahren soll. Doch grundsätzlich liegt die Ein- schätzung der Fahrtauglichkeit in ihrem Ermessen und heute fährt sie auch

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 181 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen wieder regelmäßig mit dem Auto. Auch für die Fahrt nach Wien (zur Therapie) nimmt sie das Auto, weil sie die öffentlichen Verkehrsmittel nach Möglichkeit meiden möchte. Der Vater stellt Libella ein Auto zur Verfügung, weil ihre finanzielle Situation heute kein eigenes Auto ermöglicht. Auch Reparaturen übernimmt er. Sie muss nur für das Benzin aufkommen. Wenn sie doch den Zug nach Wien nimmt, legt sie die Strecke zum Bahnhof zu Fuß zurück und gibt darüber hinaus an, heute viel zu Fuß zu gehen. In Wien geht sie fast alles zu Fuß, weil sie das Benutzen der U-Bahn schlecht und das Straßenbahnfahren gar nicht aushält. Entsprechend plant sie für Fahrten nach Wien längere Wegzeiten ein. 1,5 Stunden war der größte Umweg, den sie einmal in Wien in Kauf genommen hat. Mit dem Fahrrad fährt sie häufig, etwa vier Mal in der Woche, weil sie durch die schöne Wohnumgebung dazu angeregt wird, in der sie seit 2008 lebt. Mit dem Fahrrad fährt sie auch gerne in der Freizeit, um dem Hund ausreichend Bewegung zu ermöglichen und weil ein nahegelegener Radweg einladend wirkt. Schließlich fährt sie in der Zeit, in der sie über kein Auto verfügt, mit dem Rad zum Zug.

9.1.3 Situative Unsicherheit

9.1.3.1 Bedrohung der Territorien des Selbst Vor allem in der Straßenbahn leidet sie unter Beklemmungszuständen:

„(B holt Luft) I hab dann so eine BEKLEMMUNG, also eh so eine eine Angstpanikattacke, wie auch immer man das nennt, wo sich alles zusammenzieht, wo ich ganz STEIF werd und wo ich mir eigentlich gar nicht mehr bewegen kann“ (Libella, Z. 377–379).

Diese Beklemmungsgefühle stehen nicht im Zusammenhang mit Gefahren, die hinter der Fassade (dem normalen Erscheinungsbild) der Situation lauern. Sie sind in dem Gefühl begründet, das man am besten als Bedrohung territorialer Grenzen erfassen kann bzw. mit dem Unvermögen, selbst in den persönlichen Raum anderer Fahrgäste einzudringen. Wenn sie unter Angst leidet, stellt sich ein Lähmungsgefühl ein und sie wird handlungsunfähig:

„I hab des, des früher wie i studiert hab, hab i hab i das auch schon gehabt. Hab zwei Jahre in Wien studiert und i hab da nicht aussteigen, genau das Gegenteil, i kann da net aussteigen. Es kommt die Station wo i aussteigen muss, und das geht nicht, weil i mi da nicht vorbeidrängen kann, weils nicht geht. Da bin i sitzen

182 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

geblieben bis zum, bis zum. XX, XX, Endstation vom XXer und dort bin i dann mit alle anderen ausgestiegen und wieder zurück gefahren dann, zur U-Bahn und dann ins Krankenhaus, also. Das ist mir ein paar Mal passiert halt, weil das. Keine Ahnung, wenn du am Fenster sitzt und dann muss i fragen, dass wer aufsteht, dass i heraus kann, wenn i eh den, den Gangplatz nehm. Dann, muss i entweder () sich auch jemand hinsetzten will, oder i muss irgendwie selbstbewusst darstellen, dass i da sitzen bleiben will und nur Platz mache, dass der vorbeigehen kann. Aber dann muss i irgendwie das vertreten, JA, is sitz da und rutsch net. (B lacht). Und da solche, solche, solche Probleme habe i dann in meinem Kopf, JA“ (Libella, Z. 379–389).

9.1.3.2 Angst vor dem Verlust der Informationskontrolle Libella hat Angst vor Interaktion, weil im schlimmsten Fall andere Personen ihre Gedanken mitbekommen könnten. Das deutet auf eine Schwäche der Rollenkonstitution hin, wobei es um eine Verschiebung der Rolle/Person-Grenze geht, was Verunsicherung in der Eigenschaft des Selbst als Informations- bewahrerIn bedeutet:

„L: Naja, wenn’s mir wirklich GANZ schlecht geht, dann hab i Angst, dass DIE, dass DIE meine Gedanken HÖREN, dass die bis in mein INNERSTERS schauen können, WIES mir geht.

I: Mh-mh.

L: Und wenns mir ganz schlecht geht, will i das net, dass die das merken, weil weil da is sowieso jeder ÜBERFORDERT mit diesem Loch in mir, mit diesem Schwarzen, JA. Und. A h m..“ (Libella, Z. 489–493).

Eine ähnliche Angst äußert sie im Zusammenhang mit ihrem Wunsch, eine Vorlesung an der Universität zu besuchen:

„L: […] was ich zum Beispiel bis jetzt nicht geschafft habe, was i gerne machen würde, i würde gerne zu Vorlesungen gehen auf der Uni.

I: Okay.

L: Und einfach mithorchen, das geht net, das kann i net….i hab diese Rolle der Studentin nicht mehr..…und.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 183 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

I: Also da geht’s () um das Einzufügen in eine Situation?

L: Ja und auch, dass mich wer ANREDET oder wer ANSCHAUT und..was wahrscheinlich eh net ist, ja wenn da zweihundert im Audimax drinsitzen, ist das auch wurscht ob i da sitz oder net..

I: Mh-mh.

L: Aber.. Das geht net, das nehm i mir schon seit, seit i da wohn, seit 2008, nehm i mir das vor“ (Libella, Z. 609–618).

9.1.3.3 Situative Barrieren Aus dem Problem bedrohter Territorien des Selbst ergeben sich spezifische Barrieren. Da Libella viel mit dem Auto fährt, ist insbesondere das Parkplatz- suchen für sie ein Problem. Zunächst lösen Parkplatzmangel und Parkplatzsuche, wenn sie am Stadtrand von Wien parken möchte und auf ein öffentliches Verkehrsmittel wechselt, Stress aus. Stress, der nicht bewältigt werden kann, ist eine äquivalente Perspektive auf den Umstand, dass Situationsrollen nicht adäquat bewältigt werden können:

„Und dann hab ich mir dann schon so ein Stress gemacht, weil ich nicht gewusst hab, wie lang ich dort einen Parkplatz such und wo ich letztendlich einen Parkplatz KRIEG und. Jaaa. […] Und dann dacht ich da kenn ich mich ja noch weniger aus und und im Auto (und rennt) das ist, das ist und weiß i net“ (Libella, Z. 314– 318).

Stress, Angst und Panik tauchen aber auch unter der Prämisse auf, dass die Territorien des Selbst bedroht sind, und zwar immer dann, wenn die Dinge nicht wie gewohnt laufen, wenn Unvorhergesehenes passiert oder wenn sich Libella in einer unbekannten Umgebung bewegt, in der sie die regelmäßigen Abläufe und Ereignisse nicht kennt: Die Situation ist dann nicht unter Kontrolle:

„Und auch beim Autofahren, JA, i krieg oft, schnell, beim Autofahren eben, wenns nicht so ist wies immer ist dann die P A N I K und und mach einfach IRGENDWAS weiter und komm dann zehn Minuten später drauf, HÖÖÖÖ, das weiß i net, wo i jetzt steh und keine Ahnung und äh, und das letzte Mal wie i nach Wien gefahren bin, zu meiner Therapeutin, hab i über Share and Care, diese Facebookgruppe, Sachen hergeschenkt. Und hab das einer Frau GEBRACHT und da bin i glaube i, dreimal, viermal stehen geblieben und hab immer wieder geschaut, wo bin i und wo ist sie, wo gehör i hin und das letzte, das letzte Mal

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wie i dann ausgestiegen bin, hab i sie dann angerufen. Und hab das alles ein bissl langsamer gemacht. Und dann is ja das viel angenehmer. Aber. Es war kein PROBLEM, aber wenn i wirklich angespannt bin und Angst hab, dann geht das bei mir alles so schnell, ja.. im AUTO. Und in der U-Bahn kann i, oder in der Straßenbahn, kann i, mi net mehr bewegen, das ist genau das Gegenteil, JA. Entweder es geht viel schneller oder AUS“ (Libella, Z. 504–514).

Überforderung und Stress stellt auch die Überlastung mit Eindrücken dar. Musik im Auto etwa wirkt nicht als Ablenkung und Beruhigung, sondern als Quelle der Irritation:

„Gestern hab i wieder meinem Sohn erklärt, i kann zum Beispiel net nach Wien fahren und Radio hören. Das GEHT nicht. I, i bin SO voll mit diesen REIZEN, wenn i im Auto sitz und in WIEN bin, da kann i net Radio hören und () neben mir noch wer red“ (Libella, Z. 664–666).

Mit Bezug auf die Persondimension wirken für Libella Menschenansammlungen nicht in dem Sinn bedrohlich, dass sie aus der Situation nicht flüchten könnte oder dass sie sich einer unberechenbaren Gefahr ausgeliefert fühlt. Vielmehr hat sie Angst vor der Interaktion mit anderen Personen. In Verkehrsmitteln beschränkt sich die Interaktion mit anderen Fahrgästen sehr häufig auf den Blickkontakt und auf kleine, ritualisierte Handlungsabläufe, wenn andere Fahrgäste an ihrem Sitzplatz vorbei wollen und Ähnliches:

„Die, die Leute, dass i. Also die BLICKE von den Leuten. I hab keine Angst vor vielen Leuten, überhaupt nicht. Also ich kann auf das Donauinselfest FAHREN und hab WIRKLICH a Gaudi dabei. Es sind nicht die vielen Leute und nicht, dass es ENG ist, das ist, das ist irgendwie so dieses Kontakthaben. Irgendwie in Kontakt kommen mit denen. Weil die mich anschauen, weil die mich was FRAGEN, weil eben weil die da vorbei wollen bei den Sitz in der Straßenbahn, vor solchen Sachen habe ich Angst..“ (Libella, Z. 444–449).

Diese Stelle soll verdeutlichen, was die Angst ausmacht, die entsteht, wenn Territorien des Selbst bedroht werden, im Unterschied zu der Angst die sich einstellt, wenn das normale Erscheinungsbild einer Situation nicht konstituiert werden kann. Im ersten Fall sind Grenzen bedroht, selbst Blicke werden als verletzendes Eindringen erlebt. Im zweiten Fall kann sich die Aufmerksamkeit nicht von den Rahmenbedingungen der Situation lösen. Das Gefühl, es ist alles

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 185 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen in Ordnung, kann sich nicht entwickeln. Stattdessen kann jede unvorher- gesehene Kleinigkeit alarmierend wirken und sich zur Panik steigern.

9.1.4 Territoriale Sicherheit (zurück-)gewinnen

9.1.4.1 Cooling-down: Grenzen schützen und aufrechterhalten Libella schildert, dass sie Menschen, die ihr im Zug gegenübersitzen und die sie beobachten, nicht aushält. Lesen oder aus dem Fenster sehen lenkt sie ab und die negativen Gefühle können sich nicht so leicht bilden:

„Wenn i mich dann beschäftige, mit Lesen. Dann is es kein Problem. Dann les i was.“ (Libella, Z. 412).

Schon als Kind hat sie immer etwas zu lesen mit:

„Und das hab i schon seit Kind. Also immer schon. I hab immer was zu lesen mit. Weil man nie weiß, welche, welche Situation kommt, für mich peinliche und dann lese i halt einfach. Im Wartezimmer beim Arzt, oder wo i nur Panik hab, dass mich jeder anschaut und und“ (Libella, Z. 414–416).

Musikhören mit Kopfhörern geht nicht, weil sie damit ein Stück Kontrolle über die Situation aufgibt. Insbesondere in Phasen, in denen es ihr gut geht, unternimmt Libella bewusst Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, um ihre Kompetenz bei der Verkehrsteilnahme zu verbessern. Diese Aktivität ist dennoch anstrengend und sie kann auch als eine Form von Arbeit aufgefasst werden. Goffman hat im Zusammenhang mit Blicken und dem Vermeiden von Blickkontakt von „Augenarbeit“ (eye-work) gesprochen.216 Analog dazu kann man von einer Grenzarbeit sprechen, wodurch Libella ihre Fähigkeit der Verkehrsteilnahme stärkt und situative Barrieren abbaut:

„Und wenns mir, wenns mir EINIGERMAßEN gut geht, so mittel, d a n n dann versuch i halt schon, dass i mir diesen Herausforderungen halt stelle, JA. Dass i….je nach dem, dass i manchmal wirklich ganz BEWUSST in der U-Bahn wen anrede und frag: „Darf i mi da bitte hinsetzen.“ Oder so, weil.. I mein, i versteh das ja selber nicht warum das so ist, es geht mir IRRSINNIG auf die Nerven, dass mir das oft so, so. Ja, i bin, wenn i von Wien heimkomme, HUNDSERLEDIGT, weil i bin SO

216 Goffman (1971, S. 88–89).

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müde, von diesem ständig Angespannt-Sein und AUFPASSEN und und und Angst haben. Und das wäre ja eigentlich net notwendig, aber.. und eben wenns mir ein bissl besser geht, d a n n dann.::. dann geh i dem net so gleich absolut aus dem Weg, JA“ (Libella, Z. 495–502).

Sicherheit geben darüber hinaus lustvolle Handlungskontexte, die die Motivation der Verkehrsteilnahme stärken. Libella berichtet von einer Fahrt mit der „Ringbim.“ An diesem Tag passt die Stimmung und sie kann sich Zeit nehmen. Der Freizeitkontext und das Motiv (Wien ansehen) helfen ihr, die Situation als lustvoll zu erleben und sie wird damit auch bewältigbar:

„Und an dem Tag war i, war i auch so in der Stimmung gewesen und dann seh i diese Ringbim und denk mir, so jetzt SETZ dich da mal REIN und und und tust so Wien anschauen. So ganz relaxt setzt dich da rein und tust Wien schauen.. Und das hab i dann auch können. Also, da bin i einfach beim Fensterplatz gesessen.. und hab das gar nicht so mitgekriegt , was da so in der Straßenbahn passiert.. Und das Aussteigen war dann. Da bin i dann beim XX-Ring ausgestiegen und da waren gar nicht so viele Leute, da kann i mich gar nicht so daran erinnern, da war nix AUFREGENDES… Und mit sowas versuch i dann jedesmal das so ein bissl, bissl zu, AUFZUWEICHEN“ (Libella, Z. 401–407).

Genügend Zeit ist ein wichtiger Faktor, der Stress lindert. Dahinter steht bei Libella die Angst vor Unpünktlichkeit. Um sie zu vermeiden, fährt sie Stunden früher los als notwendig:

„Was weiß ich was sein könnte. Ja, also bei der bei der letzten, bei dem letzten TERMIN, bei der BVA, vor 2 Jahren, bei dem bei dem Gutachter, war ich DREI Stunden vorher dort. Und wie ich DORT gewesen bin, da dachte ich mir ‚Na das ist wirklich nicht mehr normal. Das ist wirklich nicht mehr normal.‘ Ich fahr eine dreiviertelstunde hin, und hab DREI Stunden Puffer und da hab ich noch meine Kinder dazu mitgehabt. Ich hab nicht gewusst, was wir in den drei Stunden jetzt tun solln, JA. Wir sind dann in ein Kaffeehaus gegangen, dann war die Zeit vorbei, vom Kaffeehaus und es war noch so viel Wartezeit ÜBER, also.. Das war, das war das Extremste was ich erlebt hab“ (Libella, Z. 331– 338).

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9.1.4.2 Situative Barrierehemmer Situative Barrierehemmer lassen sich ebenfalls in dem Gedanken verankern, dass es bei Libella vornehmlich um die Sicherung territorialer Grenzen geht. So ist bei öffentlichen Verkehrsmitteln die Größe der Fahrkabine eine wichtige Eigenschaft der Situation, die ihre Bewältigung erleichtert. Libella meint, dass sie die U-Bahn eher benutzen kann als die Straßenbahn. Sie weiß nicht genau warum, aber die U-Bahn bietet mehr Platz. Die großzügigere Raumgestaltung verhindert gedrängte Situationen beim Aussteigen. Im Gegensatz zur Straßenbahn, wo man nicht aneinander vorbeikommt, geht das in der U-Bahn sehr wohl:

„Und in der U-Bahn da ist es ein bissl LEICHTER, da kann man, da kann man sitzen und trotzdem können sich die drei um einen herumsetzen, wie sie’s wollen. Da brauch i, da gibt’s net so ein.. GERANGEL, ich mein Gerangel gibt’s eh net, aber. Das ist ein bissl GRÖSSER“ (Libella, Z. 391–393).

In Stationen und mit Blick auf die Sachdimension ist ein Ablenkungsangebot, etwa durch Infoscreens, für Libella interessant, um Interaktion in Form von Blickkontakt zu vermeiden:

„Und wenn bei, bei, bei U-Bahnbahnsteig, da stell i mi halt immer auf die Seite, und wenn da ein Bildschirm ist, dann setz i, stell i mi oft davor, damit i halt abgelenkt bin“ (Libella, Z. 449–451).

Ein wichtiges Element territorialer Kontrolle ist Übersicht. Im Kontext mit den Bildschirmen am Bahnsteig schildert sie eine bestimmte Positionierung:

„Weil.. aber dann stell i mi auch HINTEN hin, damit irgendwie, weil i muss das immer so ein bissl im Blickfeld haben, was um mich herum passiert, i mein es hat mi noch nie wer überfallen oder von hinten blöd ( …). I hab überhaupt bewusst kein, kein Erlebnis da-dazu“ (Libella, Z. 454–456).

Die Kontrolle durch Übersicht entspricht der Kontrolle des Hörraums, die nicht durch Musik vermindert werden darf:

„Aber so diesen Überblick haben wollen …… aber mir macht allein die Vorstellung, dass i jetzt solche Stöpsel drin hab total nervös“ (Libella, Z. 478–479).

In der Persondimension ergeben sich Parallelen zu Amadea. Eine Begleitperson wäre hilfreich. Dieser Hinweis lässt sich nicht im Zusammenhang von Verkehrsmitteln erschließen, sondern durch ihren Wunsch, eine Vorlesung an

188 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen einer Universität besuchen, wie er weiter oben beschrieben wurde. Libella meint, dass sie es nicht schafft, eine große Vorlesung zu besuchen, weil sie die Rolle der Studentin nicht mehr kann und weil sie Angst vor Interaktion hat.

9.1.4.3 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Vorschläge drehen sich bei Libella um die Territorien. Ein wichtiges Gestaltungselement jeder sozialen Ordnung mit Bezug auf den Raum ist die Sitzordnung, was die Sachdimension in Fahrzeugen betrifft:

„Und da sind diese, diese, weiß net was, oder Rex sind das glaube i, diese City irgendwas, diese Stockzüge, wo man, wos viele Sitzplätze gibt, wo man in eine Richtung sitzt, wos lauter Zweiersitze in eine Richtung schauen. Und net diese Vierer. Und das ist angenehm. Wenn jeder Zug so wäre, dass zwei nebeneinandersitzen oder sogar nur EINER. Mit mit Gang dazwischen, das wäre überhaupt optimalst“ (Libella, Z. 421– 425).

In der Persondimension wäre eine Begleitperson hilfreich, die Libella dabei unterstützt, ihre Grenzen zu sichern:

„Also, so ein COACH würde mir wirklich helfen. So ein. So, so wies Besuchsdienst gibt, für ältere Leute. Vom Hilfswerk aus oder vom PSD aus.. Die dafür DA sind. Dass man. Dass man unbekannte Wege einmal GEMEINSAM macht am Anfang. Und BESPRICHT, was da jetzt eigentlich des.. Des, des Irritierende oder Angstmachende dran ist…weil EBEN, seit i über solche Sachen RED, und wenn’s nur so. Jetzt red i über GANZ kleine Sachen“ (Libella, Z. 660–664).

In der Symboldimension (Informationsdimension) wäre eine Parkplatz-App eine große Unterstützung:

„I: Vielleicht gibt es ja mal eine Internet, so eine App fürs Smartphone. So eine Art Parkplatzassistent.

L: Ja genau, das wäre SUPER.

I: Das sagt, das dort, da sind viele Parkplätze.

L: Ja GENAU und wo man sagt, da ist es gratis, das ist es neunzig Minuten, da is zwei Stunden, das ist in Wien ja auch so“ (Libella, Z. 636–640).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 189 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

9.2 Elvis: Territorien beim Autofahren

Elvis leidet unter Panikattacken, die vor etwa 1,5 Jahren begonnen haben. Zunächst kann Elvis die Panikattacken nicht richtig einordnen. Er glaubt, dass er einen Herzinfarkt erlitten hat und begibt sich in ein Krankenhaus:

„Weil der Puls gerannt ist und das Herz gerannt ist. Ich mein, ich tu rauchen auch, das ist nicht so abwegig“ (Elvis, Z. 132–133).

Es stellt sich eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Krankheiten ein und er beginnt, sich aktiv mit Krankheiten und ihren Symptomen auseinanderzusetzen:

„Aber seit die Krankheit angefangen hat, hab ich jede Fernsehserie gesehen, die mit Krankheiten zu tun hat. Jetzt weiß ich auch, was alles passieren kann. Vom Rauchen. Oder beim Herzinfarkt. Ich hab alles schon gesehen im Fernsehen“ (Elvis, Z. 266–268).

Elvis lässt sich zunächst nicht eindeutig einem der beiden Referenztypen zuordnen, weil seine Ängste eher somatisch artikuliert werden und es ihm schwerfällt, die mit den Ängsten verbundenen Sinnerlebnisse zu beschreiben. Im Kontext des Autofahrens – für Transportbedürfnisse, die nicht zu Fuß bewältigt werden können, benutzt er fast ausschließlich das Auto – stehen territoriale Probleme im Vordergrund. Aber es finden sich auch Situationen, in denen es mehr um das normale Erscheinungsbild geht. Da der Schwerpunkt auf den territorialen Problemen liegt, wird dieser Fall unter dem Gesichtspunkt von Typ B diskutiert.

9.2.1 Einschränkung der Mobilität Bis zum Ausbruch der Krankheit fährt Elvis fast täglich mit dem Auto. Danach schränkt er das Fahren drastisch ein:

„Ja, sagen wir mal, am Anfang bin ich wenig gefahren. Also das war vielleicht nur jede zweite Woche oder jede dritte Woche ein Mal“ (Elvis, Z. 35–36).

Allerdings nimmt er in dieser Zeit die Rolle des Beifahrers ein. In der akuten Phase bewältigt er die meisten Alltagswege zu Fuß, wobei Arztwege im Zentrum stehen, da er aufgrund von Panikattacken zur „Stammkundschaft“ beim Arzt wird.

190 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

9.2.2 Erweiterung der Mobilität Die Erweiterung der Mobilität bezieht sich ebenso auf das Autofahren, allerdings wählt er vertraute und einfach zu bewältigende Straßen, auf denen es weniger Verkehr gibt und auf denen weniger hohe Geschwindigkeiten gefahren werden dürfen. Auch das Gehen spielt nach wie vor eine große Rolle, was durch eine krankheitsbedingte Unsicherheit mit Bezug auf die eigene Gesundheit begründet wird:

„Ich fühl mich halt NICHT so fit wie früher. Deswegen geh ich auch zu Fuß, weil da kann weniger passieren“ (Elvis, Z. 145– 146).

9.2.3 Situative Unsicherheit

9.2.3.1 Bedrohung von Territorien Bis heute meidet Elvis Autobahnen wegen der hohen Geschwindigkeit und der drängelnden Fahrzeuge:

„Ja, weil ich nicht so schnell fahren muss. Also ich fahr nicht einmal 100. Und das Autobahn-Fahren und dann kommen da hinten die Autos und drängeln, das brauch ich gar nicht“ (Elvis, Z. 237–238).

Um die Autobahn zu vermeiden, etwa für regelmäßige Fahrten zu den Eltern, wo sich die Autobahn anbietet, nimmt er Umwege von etwa 20 Minuten in Kauf. Darüber hinaus meidet er starken Verkehr und fährt lieber nachts, weil dann weniger Fahrzeuge unterwegs sind. Eine analoge Form der Situations- vermeidung und eine damit verbundene Zeitverzögerung schildert Elvis beim Aufzugfahren:

„Ja, das dauert schon eine halbe Stunde. Weil dann (trinkt) ich halt mal und dann überleg ich, ob eh keiner mit dem Aufzug fährt. Weil ich ja den Leuten nicht unbedingt begegnen möchte“ (Elvis, Z. 125–126).

9.2.3.2 Verlust der Handlungsfähigkeit durch Medikamente Eine wesentliche Einschränkung bei der Verkehrsteilnahme als Autofahrer stellen Medikamente dar. Laut Angaben des Herstellers können sie die Reaktionsfähigkeit einschränken:

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 191 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

„[…] deswegen hab ich mich lieber die Beifahrerseite gesetzt, wegen der Reaktionsfähigkeit und alles“ (Elvis, Z. 64–65).

Die Medikation schränkt darüber hinaus künftige Arbeitstätigkeiten, etwa als Staplerfahrer, ein:

„Ich hab das eh 11 Jahre lang gemacht, Stapler fahren. Aber jetzt ist es halt, bin ich nicht mehr so, weiß ich net, die Reflexe oder sowas, wenn ich die Pulver nehm. Deswegen möchte ich die die Arbeit da nicht mehr machen, muss ich ehrlich sagen“ (Elvis, Z. 444–446).

9.2.3.3 Situative Barrieren Elvis schildert zwei situative Komponenten, die zu Angst und Panik führen: unbekannte Situationen und Menschenansammlungen. Mit Bezug auf unbekannte Situationen erzählt er von einer Flugreise nach Kopenhagen, die er mit einem Freund unternehmen wollte. Auf der Hinfahrt zum Flughafen gerät er in Panik. Er fährt wieder zurück, weil er die vertraute Umgebung hätte verlassen müssen:

„Ja, weil ich nicht ZURÜCKkommen kann, das was ich kenn“ (Elvis, Z. 387).

Menschenansammlungen empfindet er als beunruhigend, wie er auf Nachfrage erläutert:

„I: Äh, fühlen Sie sich da eher unsicher, wenn zum Beispiel viele Passanten unterwegs sind oder viel auf den Straßen?

E: Ja, wenn mehr Leute da sind. Dann ist es, dann bin ich unruhig…Aber wenn ich allein bin, dann geht’s“ (Elvis, Z. 94– 96).

9.2.4 Sicherheit zurückgewinnen Grundsätzlich kann Elvis mit Unterstützung von Medikamenten Alltagswege bewältigen. Die Krankheit ist zwar nicht verschwunden, aber es ist einfacher, weil Elvis die Entwicklung und den Verlauf einer Panikattacke kennt und gut voraussehen kann:

„Sagen wir jetzt Mal so, es ist jetzt schon leichter geworden. Weil ich weiß, was kommen ja, im schlimmsten Fall. Aber am Anfang, hab ich das nicht gewusst. Und wie ich das, das erste Mal gekriegt hab, da hab ich geglaubt ich sterbe, aber jetzt weiß ich

192 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

EH schon, wie’s ist, also ist man ein bissl ruhiger geworden“ (Elvis, Z. 222–225).

Die Vertrautheit mit der Angst ermöglicht es Elvis, sie in Alltagssituationen zu integrieren:

„Ja, ich mein die Angst ist weniger geworden, weil ich schon weiß was ist. Weil ich’s jetzt schon kenn, aber. Früher hab ich’s net gewusst. Das war dann.. ärger. Jetzt, wenn man schon WEIß, was alles kommt, dann ist es LEICHTER zum Verkraften“ (Elvis, Z. 362–364).

9.2.4.1 Cooling-down Aufgrund der Medikation herrscht bei Elvis eine Bewältigungsorientierung hinsichtlich der Verkehrsteilnahme vor. Die Medikamente schränken zwar das Fahrvermögen ein, machen die Verkehrsteilnahme aber überhaupt erst möglich, zumindest auf vertrauten Strecken und bei niedriger Geschwindigkeit. Wie bei Daktari ist es hilfreich, wenn der Handlungskontext als lustvoll interpretiert wird. So schildert Elvis das Angeln, eine Freizeitaktivität, die Erholung bietet und ihn ruhig werden lässt. In Situationen ist wichtig, dass eine langsame Anpassung an die Umstände ermöglicht wird. Er erzählt, wie ihn beim Betreten von Innenräumen – wenn er in ein Spital geht – Angst überfällt. Hitze und Schweißausbrüche sind die Symptome. Er benötigt etwa 10 Minuten, um sich an die Situation zu gewöhnen.

9.2.4.2 Situative Barrierehemmer Situative Elemente, die Barrieren hemmen, sind in der Persondimension vertraute Begleitpersonen und – insbesondere bei Autofahren – in der Sachdimension das Gefühl, von einer schützenden Hülle umgeben zu sein. Eine vertraute Begleitperson hätte die Verwirklichung der Flugreise nach Kopenhagen möglich gemacht. Die Unsicherheit wäre zumindest soweit gemildert worden, dass eine Bewältigung der Situation in den Bereich des Möglichen rückt. Ein Grund, warum Elvis die Reise im letzten Moment absagte, war der Umstand, dass er den Freund schon längere Zeit nicht gesehen hatte und er damit wenig vertraut war:

„Also ich weiß ja net, vielleicht, wenn irgendwer DABEI gewesen, den was ich besser kennen tät als meinen Freund, weil den hab ich vorher, vor einem halben Jahr das letzte Mal gesehen gehabt. Und, weiß nicht, wenn vielleicht einer, den ich besser

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gekennt hätt, dann wäre es leichter gewesen“ (Elvis, Z. 387– 390).

Die Schutzhüllenfunktion des Autos, das zweite hemmende Element, verweist direkt auf Goffmans Konzept der Territorien des Selbst. Auch aus diesem Grund ist es sinnvoll, Elvis eher im Kontext des Typs B zu analysieren.

„Ja ich mein, das Auto ist halt groß. Ich mein, es ist halt ein amerikanisches und da fühl ich mich schon sicherer, als wenn, wenn ich mit ihrem Auto fahr, mit einem Opel. Weil es stabiler ist“ (Elvis, Z. 451–452).

„Aber, da fühl ich mich schon sicherer als in einem kleinen Auto, muss ich ehrlich sagen“ (Elvis, Z. 458).

9.2.5 Vorschläge für bessere Situationsbewältigung Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung macht Elvis kaum. Ein Notfallknopf wäre nicht schlecht, aber er lässt sich in seinem alten amerikanischen Auto nur schwer einbauen. Darüber hinaus würde er ihn nicht bedienen, weil er mit dem Auslösen Kosten verbindet, für die er nicht aufkommen möchte. Taxis benutzt Elvis nicht und Sammeltaxis sind nur dann eine Option, wenn er durch sie nicht mit fremden Personen in Kontakt kommt. Darüber hinaus verbindet Elvis Sammeltaxis eher mit abendlichem Ausgehverhalten, das für ihn keine Rolle spielt:

„Ja, es kann schon sein, dass wenn da mehr Leute drin sind, dass ich nervös werde wieder. Ich mein, das hab ich noch nicht probiert.. Ich mein, trinken tu ich nix irgendwo in einem Lokal oder so. Also. Brauch ich auch kein Sammeltaxi“ (Elvis, Z. 412– 414).

9.3 Grisu: Unter Menschen eingesperrt

Die Verkehrsangst ist bei Grisu in ihrer Ausprägung und Form sehr ähnlich wie bei Libella. Sie steht im Zusammenhang mit einer Depression, die ihn schon lange begleitet. Die Depression bricht im Zuge hoher Arbeitsbelastung aus. Er sieht sie aber nicht als primären Auslöser, sondern lediglich als Verstärker älterer Probleme, die er unter anderem auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückführt. Die Verkehrsangst lässt sich in Grisus Fall sehr gut vor dem Hintergrund der Territorien des Selbst begreifen, deren Aufrechterhaltung und Durchsetzung ihm schwerfällt.

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9.3.1 Einschränkung der Mobilität Vor dem Ausbruch der Krankheit fährt Grisu regelmäßig und hauptsächlich mit dem Auto. Ein oder zwei Mal in der Woche benutzt er das Fahrrad, was er immer schon gerne gemacht hat. Auf dem Höhepunkt der Krankheit ist er weitgehend immobil und verbringt die Zeit zuhause.

9.3.2 Stabilisierungsphase (Mobilitätsarrangements) Als er später beginnt, das Betreuungsangebot einer Tagesklinik anzunehmen, nutzt er öffentliche Verkehrsmittel aufgrund der guten Verbindung. Insbesondere im Winter fährt er täglich S-Bahn. Auch Autofahren ist wieder möglich, insbesondere für kurze Strecken, etwa Arzttermine. Aber er fährt nicht gerne und meidet das Autofahren, vor allem, weil er sich durch Medikamente beeinträchtigt sieht, vor allem morgens. Auch die Einnahme der Position des Beifahrers ist schwierig, weil ihm dabei leicht übel wird. Kurze Wege in der Wohnumgebung bewältigt er daher mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Grisu repräsentiert ein Muster, in dem das ursprünglich dominante Verkehrsmittel (Auto) durch Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel ersetzt wird. Uneingeschränkte Mobilität ist aber auch im Rahmen der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich. Insbesondere zu Hauptverkehrszeiten oder in der Großstadt, wo viele Menschen unterwegs sind, meidet er sie und geht stattdessen lieber zu Fuß:

„Das heißt, wenn ich in Wien unterwegs bin – das ist eher selten; ich schau, dass ich so wenig als möglich in die Stadt muss – dann ist es auch schon mal öfters passiert, dass ich mir das vorher anschaue und auch zwei, drei Stationen zu Fuß gehe. Das habe ich auch schon gemacht. Auf der Mariahilferstraße. Weniger wegen dem Schaufensterbummel, sondern einfach, dass ich den Weg hab und dort ausweichen kann. Da kann ich immer schauen, sind da viele Leute, kann ich die Straße wechseln“ (Grisu, Z. 373–378).

Grisu vermittelt seine Mobilitätsmuster mit den Einschränkungen, die ihm die Krankheit auferlegt, und nimmt dafür eine Verdoppelung der Wegzeiten in Kauf:

„Da .. investiere ich schon viel Zeit. Weil ich sozusagen ja auch das Radfahren dem Autofahren vorziehe. Ah würde ich schon sagen, dass ich bestimmt, kann man jetzt schwer sagen, aber ich sag, dass ich sicher, bestimmt mindestens die doppelte Zeit für das alles brauche, wenn ich so Sachen mache“ (Grisu, Z. 383–386).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 195 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Grisus Mobilitätsarrangements ist die Tatsache, dass Angst und Panik sehr schnell und ohne Vorwarnung über ihn hereinbrechen. Er kann nicht ohne weiteres bis zur nächsten Station warten und dann aussteigen in dem Wissen, dass der Ausbruch noch eine Zeit dauert bzw. durch das Aussteigen verhindert wird. Dieses plötzliche, unvorhersehbare Auftreten von Panik macht vorausschauende Sicherheitsvorkehrungen notwendig und veranlasst Grisu darüber hinaus, auf günstige Transportsituationen zu warten:

„Äh ja, das Problem ist bei mir, dass ich ähm, dass ich ziemlich schnell, das schießt ziemlich schnell bei mir. Also das heißt, ich kann von einer Minute auf die andere in Panik geraten. Also ich hab leider net des, wo i sag, das fangt langsam an. Ich spür äh schon manche Dinge, wo ich sag, also da fühl ich mich jetzt nicht wohl. Aber wie gesagt, wenn die, die Situation dann nicht gleich beengt wird, dann kann ich sofort in Panik sein. Und das ist das Schwierigkeit. Deshalb handle ich auch so, weil ich weiß, wie schnell ich in Panik sein kann, nehme ich diese Umwege oder diese Wartezeiten in Kauf“ (Grisu, Z. 406–411).

9.3.3 Situative Unsicherheit In vielen Verkehrssituationen leidet Grisu unter Panikattacken. Sie entstehen durch das Gefühl, in einer beengenden Situation unter Menschen handlungsunfähig, paralysiert zu sein. Wenn es ihm zu heiß wird, kann er keine Menschen ansprechen, um seine Wünsche entsprechend zu artikulieren und durchzusetzen:

„Jahrelang soziale Probleme damit und dass man auch irgendwie eingesperrt ist unter den Leuten. Ich tu mir dann schwer, dass ich sag, ok, jetzt wo mir das zu viel wird mach ich ein Fenster auf. Man ist gehemmt, man fühlt sich komplett äh .. ja, wie soll man sagen, wie eine Beute die da sitzt und nichts tun kann. Und das ist sehr, sehr SCHWIERIG. Und da ist es gescheiter VORHER was zu unternehmen, weil wenn man dann in der Situation ist, ist man dann fast bewegungsunfähig. Und dann muss man das ERDULDEN, siehe zum Beispiel die HITZE in Dings, wenn man jetzt kein Fenster sich aufmachen traut, also wenn man so sich beengt fühlt oder die ENGE der Menschen. Siehe zum Beispiel in U-BAHNEN in Wien, das ist schrecklich, SCHRECKLICHST. Wenn Menschen so dann auch stehen und

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man steht sich so nahe, wo man gar niemanden so nah ran lässt, na. Des ist völlig unangenehm, des macht, das erzeugt PANIK“ (Grisu, Z. 78–87.).

Diese Belegstelle macht eindrucksvoll deutlich, was die Bedrohung der Territorien des Selbst bedeutet. Grisu kann weder den Raum zu einer anderen Person durchbrechen, das heißt, er kann keine Gesprächssituation herstellen, noch kann er den eigenen persönlichen Raum vor anderen schützen, was in der passiven Orientierung ein Gefühl des Ausgeliefertseins bedeutet und in der aktiven Orientierung ein Gefühl der Ohnmacht. In der weiteren Schilderung Grisus wird die Handlungsunfähigkeit und die damit verbundene Angst auch auf der grammatischen Ebene symbolisiert, in der er auf ein unpersönliches man-Subjekt ausweicht:

„Und dann wird es ganz schwierig, weil dann kann man nicht raus während der Zugfahrt und dann muss man in irgendeiner Station aussteigen, was mir auch schon passiert ist, weil man es nicht mehr aushält. Man muss dann einfach aussteigen und auf irgendeinen anderen warten, wo weniger Leute drinnen sind. Das haltet man nicht aus, also mir geht es halt so“ (Grisu, Z. 87– 90).

Letztlich führt diese Angst zu Todesängsten. Orte, wo er solchen Ängsten ausgesetzt ist, kann er nicht betreten:

„Na und da ist man in einem totalen Ausnahmezustand. Man denkt sich, da verlier‘ ich mein Leben da drinnen. Also ich kann da nicht einsteigen, das ist wie Gefahr da drinnen. Das ist keine Situation, wo man sagt, naja okay, mit viel Zusammenbeißen da geht’s. Das funktioniert nicht. Das muss ich unbedingt vermeiden so eine Situation“ (Grisu, Z. 418–421.).

Problematisch sind, so kann man Grisus situative Unsicherheit zusammen- fassen, nicht enge Räume, sondern die Enge unter Menschen, die nicht auf Situationen in Verkehrsmitteln und auf der Straße beschränkt ist:

„Und jetzt denkst dir, ich brauche aber was zu trinken. Und jetzt gehst da rein, da sind aber dreißig Leute angestellt. Pah. Also das wollte ich nur verdeutlichen. Das sind alles Dinge, die nur SCHWER aushaltbar sind“ (Grisu, Z. 227–229).

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Die entscheidende Frage ist in solchen Situationen, welche Fluchtmöglichkeiten bestehen – eine Frage, die sich auf die räumlich bauliche Struktur der Situation und damit auf die Sachdimension bezieht. Um sie kreisen alle Gedanken:

„Also es gehen nicht sehr viele Gedanken durch den Kopf. Das ganze drum herum, es dreht sich eigentlich alles darum, WIE kann man aus dieser Situation heraus. WIE komm ich da jetzt weg. Das heißt, da ist ist dieses, der Denkprozess SEHR minimiert, das ist SEHR eingeengt und ah handelt nur von FLUCHT und des zu vermeiden. Und ja äh, schaff ich es aufzustehen, jo, man ist sozusagen wie in einer Falle. Man weiß nicht, wie kann ich da jetzt entkommen. Und ja .. SO stellt sich das ungefähr da, ja“ (Grisu, Z. 145–149).

Insbesondere U-Bahnwaggons, die Grisu noch zusätzlich in einer dunklen Röhre einsperren, stellen unter diesem Gesichtspunkt eine große Herausforderung dar:

„U-Bahn ist ganz schlimm. Erstens ist man in diesen ah eingesperrt ah ah, dann ist man in diesem Tunnel drinnen, da wo man nicht auskann. Ich mag den Tunnel überhaupt nicht. Also da hat das sehr viel mit, mit Kontrolle zu tun. Weil da hab ich das Gefühl, ich hab keine Kontrolle mehr darüber, wenn dann irgendwas ist. Ich komm da nicht weg. Also U-Bahn fahre ich sehr ungern“ (Grisu, Z. 361–365.).

Angesprochen auf das Thema Angstorte, wiederholt Grisu seinen Gedanken. Dunkle und enge Orte geben ihm ein Gefühl der Enge, die er metaphorisch (und ironisch) auf die Autos überträgt:

„Es ist die Atmosphäre von diesem, dieses Dunkle, dieses Enge. Weil die Decke ist ja nicht sehr hoch, zwei Meter zwanzig oder dreißig oder vierzig, was weiß ich. Mehr ist das nicht. Und das ist doch alles sehr beengend da drinnen. Und die vielen Autos, die wie die Semmeln aufgereiht sind (B lacht) Und, ich meine, Tiefgaragen sind ja noch schlimmer“ (Grisu, Z. 441–445.).

9.3.4 Sicherheit zurückgewinnen Da Ängste in Grisus Alltag nach wie vor eine große Rolle spielen, stellt sich das Zurückgewinnen von Sicherheit vor allem in Form der Entwicklung situativer Arrangements dar. Unter einem situativen Arrangement lässt sich ein Anpassungsmuster verstehen, in dem mögliche Gefahrenquellen, die zum Ausbruch einer Panikattacke führen können, vorausschauend in das eigene

198 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Handeln einbezogen werden. Auf diese Weise können Verkehrssituationen problemlos bewältig werden, weil die Gefährdungen der Territorien des Selbst in öffentlichen Verkehrsmitteln unter Kontrolle scheinen. Solche Anpassungs- muster treten dann auf, wenn eine durch Angst deutlich beeinträchtigte Bewältigungsorientierung vorherrscht, was sich auch aus der Falldynamik erklären lässt, gemäß der sich Grisu in einer Stabilisierungsphase befindet. Ein wichtiges räumlich-körperliches Element situativer Arrangements ist die Schaffung von Pufferzonen, die ihm genügend Bewegungsspielraum geben. So steigt Grisu in den letzten Waggon einer S-Bahngarnitur ein und wartet beim Aussteigen ab, sodass er den Menschenschlangen, die oft an den Aufgängen entstehen, ausweichen kann:

„Das heißt auch, dazu gehört auch zum Beispiel: Es klingt vielleicht komisch, aber ich schaue immer, dass ich in den letzten Waggon einsteige obwohl ich den WEITEREN Weg habe. Denn da habe ich die Möglichkeit, ich steige aus und dann warte ich noch kurz. Und dann gehen alle vor mir einmal. Die gehen einmal alle und dann schau ich einmal hinter mich, ist keiner und dann geh ich halt auch einmal. Wenn ich sehe auf den Stiegen sind sehr viele, dann warte ich heroben noch. Sodass ich nicht in diesen Trubel hineinkomme“ (Grisu, Z. 190–195).

Zur Strategie der Schaffung situativer Arrangements gehört auch eine leicht erhöhte Alarmbereitschaft, damit mögliche Gefahrenquellen rechtzeitig erkannt und ausgeschaltet werden können. Ablenkung ist unter solchen Umständen eine schlechte Strategie. Grisu lehnt deswegen auch Selbstablenkung durch Musikhören ab, weil damit die Gefahr unangenehmer Überraschungen steigt:

„Na, das ist für mich GAR NIX. Das macht mich unruhig. Das kann ich nicht machen. Das hab ich schon ausprobiert, .. das beunruhigt mich sehr. Weil ich während der Fahrt ah versuche unbedingt klaren Kopf zu haben. Das heißt ich muss auch nach draußen schauen, wo fahrt der ah, sodass ich auch ein bisschen immer in der Realität bin und nicht abgleite. Weil dann kommen so Schock-Momente, wenn ich weiß ok, jetzt passiert grade was, oder ich sag jetzt, passiert was im Sinne von, da steigen jetzt plötzlich viele Leute ein. Und, da dann wird das plötzlich eine Situation, die sich da sammeln, net. Also muss ich vorher immer schon auf das vorbereitet sein. Wenn ich mich mit Musik ablenke überrascht mich die Situation“ (Grisu, Z. 179–186).

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Eine Situation, in der auch unter Bedingungen geschlossener Fahrzeugwaggons die rasche Erfassung von Gefahren und die Möglichkeit zur Flucht sichergestellt werden kann, ist ein Sitzplatz im Randbereich des Waggons:

„[...], aber helfen tut mir, wenn ich mich wo am Rand hinsetze. Es gibt Plätze, die ich schon herausgefunden hab auch, wenn man da so rauf geht. Da gibt’s Reihen, die gleich so daquer sind. Wenn ich mich da am Rand hinsetze, dann ist das gut ertragbar“ (Grisu, Z. 163–165).

Im Sommer ist es darüber hinaus wichtig Plätze aufzusuchen, die von der Klimaanlage ausreichend gekühlt werden. Informationselemente, also die Symboldimension der Situation, stärkt in Grisus Fall die bereits etablierte Bewältigungsorientierung. In Regionalzügen wird der Name der nächsten Station angeschrieben und Grisu fände es gut, wenn es auch einen Zähler gibt, der die Zeit bis zur Ankunft angibt. Auch wenn die Panik für Grisu ein überraschendes Ereignis ist, so meint er doch, dass Information in der Situation beruhigend wirkt:

„Das würde auf jeden Fall verhindern, dass man da jetzt in Panik kommt, nicht so SCHNELL in Panik kommt. Weil wenn man weiß okay, da steht dann fünf Minuten und in die andere nur zwei Minuten. Aha, dann kann ich doch noch schauen, ah in zwei Minuten sind wir eh da bei der Station, schon. Wenn ich vielleicht noch irgendwann aufstehe und mich irgendwo hinstelle daweil noch. Aber so, wenn ich jetzt irgendwo neu fahre, dann weiß ich nicht, kommen wir schon bald hin, kommen wir nicht bald hin. Dann fangt schon die Verzweiflung an. Weil man nicht weiß, ähm kann man es sich noch irgendwie einteilen oder nicht mehr oder ja. .. Das wäre dann sicher eine gute Hilfe“ (Grisu, Z. 543–549).

Die hinsichtlich der Fluchtmöglichkeiten und der Bewegungsfreiheit beste Situation besteht für Grisu beim Fahrradfahren, weswegen er diesen Transportmodus auch sehr schätzt. Er gibt ihm Kontrolle über die Situation und entsprechend müssen auch weniger situative Arrangements eingegangen werden:

„Dann schaut man, wie schaut’s mim Verkehr aus und man hat einfach mehr Übersicht. Es ist sozusagen, vielleicht auch weniger auch Übersicht, aber Kontrolle hat man auch. Das erscheint mir auch ein sehr wichtiger Punkt“ (Grisu, Z. 314–316).

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Fahrradfahren wird von Grisu als lustvoll erlebt. Er kann Radwege benutzen und im Grünen fahren. Darüber hinaus kann er nach eigenem Ermessen Pausen einlegen und sich erholen, was beim Autofahren nicht geht, mit dem er das Radfahren vergleicht:

„Dort kann ich auch jederzeit stehen bleiben, wenn es mir gerade nicht gut geht. Und das befreit. Das ist einfach angenehm, wenn man weiß, man ist in keiner Zwickmühle sozusagen“ (Grisu, Z. 222–223).

Unter diesem Gesichtspunkt sind Radwege ein wichtiges Angebot, um Grisu eine angstfreie Mobilität im Alltag zu ermöglichen.

9.3.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Angesichts des zentralen Problems der Flucht aus Situationen, in denen er sich gelähmt und handlungsunfähig fühlt, sind Rückzugsmöglichkeiten die wichtigste vorgeschlagene Maßnahme. Am Beispiel der situativen Arrangements sieht man, wie sich Grisu diese Räume durch geschicktes Ausnutzen der Bewegung anderer Passagiere und bereits vorhandener räumlicher Strukturen schafft. Die optimale Lösung wäre eine Art Panikraum:

„Aber wenn ich einfach mir das so wünschen darf, ohne dass es realistisch ist, dann würde ich das bevorzugen, was Sie erwähnt haben: Ein so ein eigener Raum, das wäre toll. Wo man sagt, da gehen Personen rein, die einfach leicht Panik kriegen, der sogenannte Panikraum (B lacht), ich weiß nicht wie man den nennen kann“ (Grisu, Z. 463–466).

Hilfreich sieht Grisu auch eine Begleitperson. Obwohl sie seiner Sicherheits- ideologie nicht entspricht, könnte ihn eine solche Person ablenken. Allerdings geht es in der Persondimension nicht darum, dass Aufmerksamkeit gegenüber Gefahren der Situation abgezogen wird. Andere Personen können vielmehr den Gedankenprozess unterbrechen, der letztlich in eine Panik führt. Das könnten nicht nur Begleitpersonen leisten. Wenn andere Personen Grisu ansprechen und aus seinen Gedanken herausreißen, wäre das genauso hilfreich. Die Erfahrung hat Grisu gezeigt, dass andere Fahrgäste so etwas nicht machen und er sieht diese Hilfsmöglichkeit als Desiderat. Zudem darf der Eskalationsprozess der Angst noch nicht weit fortgeschritten sein:

„Man müsste sich natürlich vorher im Klaren sein, dass man vorher ah wenn man eine bestimmte Ebene erreicht hat, dass man da schon ruft. Weil wenn es einmal soweit ist, dass man

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Panik hat, dann ist es zu spät, dann geht’s nicht. Da müsste man einen direkt anreden und sagen: „Geht’s ihnen schlecht?“ Oder so irgendwas. Vielleicht. Das holt einen doch ein bisschen runter, dass es nicht so schlimm ist. Aber es wird niemand tun, also ich hab die Erfahrung gemacht, dass niemand einen anredet. Auch wenn sie merken, es geht einem schlecht, schon überhaupt nicht. Weil die Menschen dann selber Angst kriegen und sich denken, puh was hat denn der, ist der betrunken, hat der, weiß ich nicht, ist der unter Drogen“ (Grisu, Z. 128–134).

Geschultes Personal könnte diese Aufgabe auch übernehmen. Alleine das Wissen darum, dass das Personal geschult ist und im Ernstfall richtig und gut reagieren kann, würde für Grisu beruhigend und befreiend wirken. Die beruhigende Wirkung kommt für Grisu auch dadurch zustande, dass er geschul- tes Personal eher ansprechen würde, weil er auf Verständnis und adäquates Reagieren hoffen kann:

„Weil egal was der jetzt für eine Erkrankung hat, Panik haben schon sehr viele Menschen von psychischen Erkrankungen, egal, was das jetzt ist. Und wie man da umgeht am besten, mit solchen Personen. Dass man zum Beispiel auch vom Personal, vielleicht hin und wieder angesprochen wird, wenn es ersichtlich ist natürlich, net. Man kann jetzt auch nicht jeden ansprechen: „Haben Sie Panik, haben Sie Panik?“ Dann wird das net so dings werden. Aber, zum Beispiel, wäre es, ich denk mir es wäre denkbar, in so Züge, der Zugbegleiter der da durchgeht, der heißt jetzt glaube ich Zugchef oder so, wann die zum Beispiel wissen würden was das ist Panik und so. Wenn die a bissl so eine kleine Schulung hätten oder so, die müssen ja keine Jahresausbildung kriegen. Ah dann, wenn man das wüsste als Mensch mit Panik, dann würde man sich freier fühlen die anzureden und sagen: „Hörens, kann ich mit Ihnen kurz reden, ich bin grad panisch.“ Dann wäre auch vielleicht ein Gespräch möglich mit dieser Person und da fühlt man sich sicherer im Zug“ (Grisu, Z. 472–482).

Unter den technischen Hilfsmöglichkeiten sieht Grisu am ehesten den Anwendungsbereich von Handy-Apps, bleibt aber diesbezüglich vage. Einen Alarmknopf kann er sich wegen der Missbrauchsgefahr nicht vorstellen.

202 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

9.4 Interview#5: Stabilisierung in der Statusrolle einer Person mit Behinderung und das Auto als Panzer

Interview#5 begreift sich in der Rolle einer chronisch kranken Person und er hat sich mit dieser Situation arrangiert. Das Element der chronischen Krankheit lässt sich mit dem Fall Daktari vergleichen. Im Unterschied zu Interview#5 gelingt es Daktari, die Krankheit mit den beruflichen und privaten Anforderungen weitgehend zu vermitteln. Interview#5 hingegen nimmt bewusst und dauerhaft die Krankenrolle ein. Er befindet sich krankheitsbedingt in Berufsunfähig- keitspension und es wurde ihm der Status als Person mit Behinderung zuerkannt. In diesem Kontext wird die Krankenrolle zur Statusrolle. Die Person wird damit umfassend in ihrer gesellschaftlichen Stellung bestimmt. Sie legt situations- übergreifende Anforderungen und Erwartungen, die an Teilnahme am sozialen Leben geknüpft sind. Die Einnahme der Statusrolle als Person mit Behinderung hat daher Konsequenzen für die Art der Stabilisierung der Situation mit Bezug auf die Verkehrsteilnahme. Die Krankenrolle ist nicht nur mit Einschränkungen verbunden, sondern eröffnet auch Möglichkeiten, in dem etwa wohlfahrts- staatliche Angebote in Anspruch genommen werden können. Dieses Element der Hemmung von Mobilitätsbarrieren wird bei der Interpretation von Interview#5 in den Vordergrund gestellt. Der Fall soll im Zusammenhang mit der Fähigkeit, Territorien des Selbst aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, verstanden werden.

9.4.1 Einschränkung der Mobilität Mit dem Erwerb eines Führerscheins verwendet er gerne und häufig das Auto und nutzt insbesondere für den Nahverkehr ein Fahrrad. Davor gibt es für den Schulweg und für abendliches Ausgehen für ihn keine Alternative zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch während der Krankheit fährt er noch lange Auto. Als sich sein Zustand um das Jahr 2000 verschlechtert, gibt er das Autofahren auf. Er verübt einen Suizidversuch und wird nach einem dadurch verursachten Polizeieinsatz dem Amtsarzt vorgeführt. Dieser rät ihm angesichts der verschriebenen Medikamente und seines schlechten psychischen Zustands vom Autofahren ab. Interview#5 folgt dem ärztlichen Rat und gibt den Führerschein ab. Er benutzt in dieser Zeit regelmäßig öffentliche Verkehrsmittel, um eine Freundin in Wien zu besuchen.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 203 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

9.4.2 Stabilisierung Auch wenn Interview#5 das Autofahren aufgegeben hat und ihm die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel Schwierigkeiten bereitet, so hat er im Rückblick doch stets eine Bewältigungsorientierung beibehalten:

„verkehrstechnisch gesehen hab ich immer versucht,.. selbst mobil zu bleiben“ (Interview#5, Z. 27–28).

Alltagswege bewältigt er mit dem Fahrrad und verweist dabei auf das gut ausgebaute Fahrradwegnetz in seiner Heimatgemeinde. Fahrradfahren ist auf die Wohnumgebung beschränkt. Als Reichweite gibt er 5 bis 6 km an. Auch heute fährt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln, insbesondere mit der U- Bahn, nach Wien. Allerdings ist die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht einfach. Die Situation überfordert ihn schnell und macht ihm Angst. Ausgiebigen Gebrauch macht er von einem Sammeltaxi-System, das für Personen mit Behinderung einen stark ermäßigten Fahrpreis anbietet. Das AST- Taxi verwendet er gerne, wenn er mit Taschen unterwegs ist und viel zu transportieren hat. Zudem ist er im Vergleich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zeitlich weniger stark gebunden. Aufgrund seines Status muss er nicht die Haltestellen der AST-Taxis aufsuchen, sondern er wird von zuhause abgeholt und auch wieder dorthin gebracht. Hin und wieder, wenn es nicht anders geht, fährt er mit dem Taxi, wobei es sich auch hier um lokale Fahrten und kurze Strecken handelt:

„Naja, wenn’s wirklich sein muss, zahlt man um die 6, 7 Euro. Ich zahle jetzt, mim Ast zahl’ ich 2 Euro. Das ist schon ein großer Unterschied“ (Interview#5, Z. 486–487).

Vor allem im Winter, wenn er nicht mit dem Fahrrad fahren kann, aber auch bei größeren Einkäufen oder bei Arztbesuchen, erhält er Unterstützung durch seine Mutter, die ihn mit dem Auto fährt.

9.4.3 Situative Unsicherheit und Barrieren Interview#5 kann gut einschätzen, ob er eine Verkehrssituation bewältigen kann. Umgekehrt hat er sich damit abgefunden, dass er in einer bestimmten Verfassung nicht mit der U-Bahn fahren kann. Insbesondere in U-Bahnen sind Angstzustände, die sich zu Panik steigern können, die größte Barriere:

204 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

„In Wien krieg’ ich Panik, Angst.. Ich sitz mit meiner Frau in der U-Bahn wenn ma zu ihr in die Stadt fahren“ (Interview#5, Z. 71– 72).

In öffentlichen Verkehrsmitteln bedeutet schon der Gedanke an einen versperrten Weg eine Barriere:

„Der Gedanke, ich steh’ da jetzt und kann da nicht weggehen“ (Interview#5, Z. 118).

Angstauslösende Momente in öffentlichen Verkehrsmitteln gehen vor allem von anderen Personen aus (Persondimension der Situation), was auch der Form der Verkehrsangst, die hier als Typ B bezeichnet wird (Bedrohung der Territorien des Selbst) eher entspricht. Die Angst vor Begegnungen bezieht sich vor allem auf Konflikte. Interview#5 will vermeiden, dass er in der U-Bahn „blöd angeredet“ (Interview#5, Z. 81) wird:

„[...] aber es gibt einfach Leute, die einfach auf Provokation aus sind. Ich habe früher nie Probleme gehabt mit den sogenannten Sandlern oder Obdachlosen. Ja überhaupt nicht. Es ist im Zuge der Krankheit die Angst denen gegenüber mit der Krankheit stärker geworden.“ (Interview#5, Z. 173–175).

„Ich hab‘ eigentlich, ja, nicht nur von Obdachlosen (…) seit des Au Ausbruchs der Krankheit, sondern einfach so jungen Burschen,.. die ziemlich getrimmt sind und und, und, und einen guten Körperbau haben, wo ich mir denk‘ gut da brauch‘ ich jetzt nicht blöd z’ruckreden, wenn mich der angeht. Da muss ich mir was anderes überlegen, [...]“ (Interview#5, Z. 196–199).

Aber es sind nicht nur Bedrohungen durch fremde Personen. Er kann auch das Quietschen und Schreien von Kindern nur schwer ertragen und „machmanl fürchte ich mich vor den Fahrern auch, da kommen so Ängste, [...]“ (Interview#5, Z. 608). Im öffentlichen Raum, etwa im Kontext von Fahrradfahren, besteht das Problem, dass es nicht immer möglich ist, rasch aus einer Situation zu fliehen und sich an einen Ort zurückzuziehen, an dem er Ruhe findet:

„I#5: Man setzt sich halt manchem aus und kann halt nicht schnell flüchten, na.

I: Mhm

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 205 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

I#5: In der Stadt ist das Flüchten nicht so leicht. Vielleicht in öffentliches Klo oder so, wo man seine Ruhe hat drinnen. Aber sonst ist in der Stadt ständig was los“ (Interview#5, Z. 159–162).

Zu dem Gefühl, keinen Rückzugsort zu haben, an dem er sich ausruhen kann, kommt das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Dieses Gefühl überkommt ihn, wenn sich links und rechts um ihn Häuser auftürmen:

„Auf einmal stehen wir zwischen, auf einmal stehen wir inmitten in sich links und rechts auftürmender Häuser, sag ich: „So, und jetzt fürcht‘ ich mich wieder.“ Da ist nichts los, diese hochragenden Häuser, das erinnert mich, an meine Erfahrungen im Wald, wo alles g’schlossen ist. Dicht, Blätter, Blätterdach her sag‘ ich einmal und ich krieg‘ die Panik im Wald“ (Interview#5, Z. 565–568).

9.4.4 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung Angst, die sich in Handlungssituationen aufgebaut hat, kann langsam abklingen. Auch wenn er derartige Prozesse nicht kontrollieren kann – auf diesen Eindruck verweist seine an organischen Prozessen und Naturerscheinungen orientierte Schilderung – ist die Erfahrung des Abklingens der Angst ein Fortschritt. Früher hätte er für diesen Vorgang die Unterstützung von Medikamenten benötigt:

„I#5: Und irgendwann macht’s einen kleinen Schnalzer im Hirn und jo, die Angst spürt man auf einmal, wie’s nachlässt und sowie das Warmwasser vom Wasserhahn runterkommt, kalt und immer wärmer wird, so ähnlich kann man vergleichen, dass die Angst verschwindet.

I: Aha. Jaja.

I#5: Wenn man ein eiskaltes Wasser, ein heißes Wasser reinschüttet langsam und dieser Schmerz der Kälte vergeht und geht über in ein angenehmes Gefühl“ (Interview#5, Z. 377–382).

Heute kann er aufkommende Ängste bewältigen. Er bemüht sich bewusst darum, die Empfindlichkeit gegenüber der Angst abzubauen und sich zu desensi- bilisieren. Daneben setzt er eine Reihe von Cooling-down Mechanismen ein, etwa rauchen, die Situation verlassen und ein paar Schritte gehen, dabei zu singen oder zu pfeifen. Auch Pausen sind wichtig:

„Wenn wir jetzt mit den mit den Öffis gefahren wären, hätte ich mich jetzt irgendwo in ein Lokal gesetzt und gewartet, bis es mir

206 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

wieder besser geht, wenn’s nicht zu überfüllt ist. Irgendso ein kleines Bäckerlädchen oder so was, wo man einen Kaffee kriegt, oder ein Mineral (..). Das geht auch“ (Interview#5, Z. 570–573).

Das Wissen, dass er eine Situation jederzeit verlassen kann, dass es eine Alternative zum Angsterleben gibt, musste er lernen und es trägt, wie er meint, wesentlich zu seiner Selbständigkeit bei:

„Seit meinem letzten Spitalsaufenthalt hat sich die Eigenständigkeit immer mehr ergeben. Über Strategien, wo ich mir sag: ‚Okay, ich geh‘ jetzt zum Merkur rein, ich krieg Angst, ich geh raus, die Angst ist weg.‘ Also einmal eine Alternative ich kann jederzeit mein Wagl stehen lassen und rausgehen“ (Interview#5, Z. 529–532).

Interview#5 gibt an, dass er längere Strecken aushalten würde, er meidet sie dennoch, weil er in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht rauchen kann. Rauchen gehört zu seinen Cooling-down Methoden:

„In den Öffis geht das nicht. Ich mag keine weiten Fahrten machen, [...] Das würd’ mir nie einfallen... Erstens einmal gibt’s keine Möglichkeit zu rauchen und zweitens, jo,.. ich muss jetzt nicht mehr wie früher, den Ort wo die Panik au au aufkommt verlassen, ich kann das jetzt schon aushalten“ (Interview#5, Z. 369–372).

Interview#5 interpretiert das (private) Auto als Rückzugsort, in dem er sich geschützt fühlt. Zugleich ermöglicht es ihm aber auch den Ausdruck von Aggressionen:

„I#5: Und.. wenn ich im Auto sitz, merk ich auf einmal wie der Stress nachlässt. Ich fühl mich beschützt. Das ist ja eigentlich ein altes Thema, dass da einem die Autofahrer (unverständlich) in Kampfposition stellen, wenn’s im Verkehrsteil am Verkehr teilnehmen und… ein jeder hat so seinen Schutz um sich, den Panzer sag ich mal und da fluch ma drinnen und schreien und

I: Genau.

I#5: Und deuten Gesten und ja,.. es gibt halt die das Phänomen, meiner Meinung nach, dass sich der Mensch im Auto.. beschützter fühlt und das hat auch ähm ähmääää meine Krankheit mit sich gebracht, dass ich mich im Auto g’schützter gefühlt habe, als als… wenn ich jetzt am Karlsplatz steh’äh

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 207 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

(unverständlich) tschuldigung, als wenn ich jetzt am XXX XXX steh‘ im XXX in die Straßenbahn oder die Badner Bahn halt ausfällt ist es schw(unverständlich) schwerer runterzukommen, als im Individualverkehr. Da ist man doch irgendwie g’schützter. Die Leute (….) das ist wahrscheinlich ein soziologisches Phänomen, dass die Menschen im Auto sich beschützt fühlen und in Kampfposition stehen, so wie.. mir kommen’s alle vor, wie ein Kampfpilot“ (Interview#5, Z. 90–103).

Diese Gruppe der Territorien des Selbst beschreibt Goffman als Hüllen (sheath), deren Hauptaufgabe es ist, den Körper zu umschließen und ihn zu schützen.217 Dieser Schutz kann physisch erfolgen, wie bei einer Panzerung, oder symbolisch, etwa mittels ritueller Gewänder. Das Fehlen solcher Hüllen im öffentlichen Raum wurde als Barriere im Fall Interview#5 bereits geschildert. Autos stellen dem gegenüber in den modernen Gesellschaften eine der wichtigsten derartigen Hüllen dar. Diese Erfahrung lässt sich mit den Ängsten im Zusammenhang mit dem Autofahren, die Hörnchen oder Highlander erleben, kontrastieren und zeigt, wie wichtig es ist, Erfahrungen von Barrieren bzw. die Unterstützung beim Zurückgewinnen von Sicherheit als individuell und kontingent zu betrachten. Was Interview#5 ebenso bei der Bewältigung von Verkehrssituationen hilft, ist eine Begleitperson, in der Regel ist es seine Freundin:

„Da sitz ich in der U-Bahn mit Hand halten und wart’ bis ich aussteigen kann“ (Interview#5, Z. 85).

9.4.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung Interview#5 wünscht sich, dass die öffentlichen Verkehrsmittel besser überwacht werden. Man solle sie „unter Schutz stellen“ (Interview#5, Z. 80), insbesondere Polizeipräsenz würde helfen. Diesen Wunsch äußert er im Kontext der unangenehmen Möglichkeit, in der U-Bahn angesprochen zu werden. Weitere Fahrten mit dem Fahrrad wären für ihn vorstellbar, wenn sich eine Begleitperson dafür zur Verfügung stellt:

„Vielleicht probier’ ich’s einmal in dem Sommer, aber ich hab‘ keinen der mit mir fährt, [...]“ (Interview#5, Z. 516–517).

Eine weitere interessante Möglichkeit der Verkehrsteilnahme wären Einzelfahrscheine, die mehrmaliges Ein- und Aussteigen erlauben, wenn längere Pausen zwischen den Fahrten in eine Richtung liegen. Bei Panikattacken

217 Goffman (1971, S. 38)

208 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen muss man aussteigen und sich ausruhen. Theoretisch müsste man einen neuen Fahrschein kaufen, weil der Einzelfahrschein nur begrenzt gilt:

„Das wär‘ ein Wunsch, wenn ich schon mich dazu äußern kann, dass man als wenig Begüterter auch ein, also diese 8 Tage Klimakarte, (..) für Pensionisten und Behinderte ein Viertel ein Drittel billiger machen, nicht. Weil ich muss so eine Karte lösen, weil raushüpfen, wenn’s mir schlecht geht und wenn ich dann nach Wien fahr’, irgendwann einmal und ich steig’ zwei- dreimal aus, in eine Richtung, dann zahl’ ich da jedes Mal 2€ irgendwas und geh’ mit 20€ Fahrtkosten heim“ (Interview#5, Z. 682–686).

Analog zu einem Kulturpass könnte es so etwas wie einen Öffi-Pass geben:

„Und dieser Kulturpass im im im verkehrstechnischen Sinne, der Öffi Pass, oder was weiß ich wie man’s nennen mag, oder ich fahr‘ billiger durch Wien Pass, oder so, das wär schon eine klasse Sache, na“ (Interview#5, Z. 715–716).

9.5 Susi P: Panik und das Gefühl, eingeklemmt zu sein

Susi P erleidet infolge von Überarbeitung und Konflikten ein Burn-Out und wenige Jahre später einen Zusammenbruch, der sich in Panikattacken manifestiert. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie inadäquates (maladaptive) Coping in einer stressinduzierenden Problemsituation die Situation verschlimmert, bis es zum Ausbruch einer Krankheit und damit zum Rückzug aus der Situation kommt. Mit Bezug auf die Referenzanalysen lässt sich Susi P dem Typ B zuordnen, weil in ihrem Fall die Panikattacken ihren Ausgang von dem Gefühl nehmen, eingeklemmt zu sein. Es geht nicht wie bei Amadea darum, dass die Situation lebensbedrohlich ist und sie nicht flüchten kann, sondern das Feststecken selbst ist ihr unerträglich. In den Alltagssituationen gehen die physischen Handlungs- spielräume verloren und sie können auch nicht eingefordert oder durchgesetzt werden.

9.5.1 Einschränkung der Mobilität Vor dem Ausbruch der Krankheit benutzte sie wegen der schlechten Zugverbindung und der weiten Fahrtstrecke zur Arbeit das Auto. In der Akutphase zieht sie sich vollständig zurück. Sie erhält einen Therapieplatz in einem Krankenhaus und geht überhaupt nicht hinaus. Langsam beginnt sie auf

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 209 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen dem Gelände des Krankenhauses mit Nordic Walking und erweitert Schritt für Schritt ihren Gehradius. Auch nach dem Aufenthalt setzt sie diese sportliche Aktivität in der Freizeit fort. Alltagswege bewältigt sie zu Fuß; Einkäufe beschränken sich auf eine Menge, die sie nach Hause tragen kann. Andere wichtige Ziele wie Arztpraxis oder Apotheke, sind ebenfalls in Gehweite. Darüber hinaus unterstützt sie der Ehemann, der sie mit dem Auto an gewünschte Ziele fährt.

9.5.2 Erweiterung der Mobilität Heute meidet Susi P das Auto und benutzt, wenn es möglich ist, öffentliche Verkehrsmittel. Sollte es nicht anders gehen, ist sie auch bereit, ein Taxi zu nehmen. Zugfahren ist wegen der langen Intervalle unattraktiv. In ihrer Freizeit hat sie das Nordic Walking durch Laufen ersetzt und benutzt dafür nach wie vor Waldwege, weil sie sich auf den bekannten Wegen wohler fühlt und weil sie bewusst den Wechsel der Jahreszeiten erleben kann.

9.5.3 Situative Unsicherheit und Barrieren Zu den psychischen Barrieren gehört der Verlust des Vertrauens in die Kontrolle des eigenen Handelns und ein genereller Verlust des Selbst- vertrauens. Sie berichtet von suizidalen Tendenzen am Anfang ihrer Krankheit. Sie meidet deswegen U-Bahnstationen, weil sie befürchtet, sie könnte auf die Gleise springen. Die weitere wichtigere Barriere ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Person- und der Sachdimension der Situation. Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen erzeugen das Gefühl, eingeklemmt zu sein. Dieses Gefühl ist nicht einfach eine Variante des Fehlens von Fluchtmöglichkeiten, sondern es lässt sich als Bedrängung interpretieren, der Susi P nichts entgegenzusetzen hat:

„Menschen. Menschen. Große Menschen, ich bin ja nicht groß. Ja, es ist nichts. – I: Was löst das aus? Macht das dann… – S: So ein richtiges Erdrückungsgefühl, so, so als würden alle noch viel größer werden und noch viel mehr auf mich zu kommen und mich zusammendrücken und ich find’ nicht mehr raus. Also das, das ja, das ist eigentlich… dieses, ich bin da irgendwo so klein drinnen und ich fühl’ mich wie ein kleines Kind eingeklemmt“ (Susi P, Z. 255–260).

210 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Eine typische Alltagssituation, in der sich dieses Gefühl aufbauen kann, ist die Warteschlange im Supermarkt. Ein großer Teil ihrer Routenwahl hängt mit der Vermeidung solcher Situationen zusammen. Die Fußwege sind so gelegt, dass soziale Interaktion und Begegnungen auf der Straße großteils vermieden werden können. Das Einkaufen erledigt sie zu einer Tageszeit, zu der sie mit der Bildung von Schlangen an der Kassa nicht rechnen muss. Sollte sie trotzdem in eine sozial belebte Situation im Supermarkt geraten, wenn mittags die Schule endet, dann setzt sie sich auf eine Bank und wartet, bis es vorbei ist. In Aufzügen und in öffentlichen Verkehrsmitteln geht es ihr ähnlich. Deswegen nutzt sie öffentliche Verkehrsmittel nicht gerne, eher noch den Zug. Eine weitere Barriere in der Infrastruktur öffentlicher Verkehrsmittel ergibt sich in der Sachdimension. Susi P erträgt verschmutzte Abgänge und Bahnsteige nur schwer. Sie verbindet diese Raumqualitäten nicht direkt mit Angst, aber mit einem Gefühl des Unwohlseins, das die Bewältigung einer Situation erschweren kann, wie das auch im Fall Daktari deutlich wird. Ebenso meidet Susi P Tiefgaragen, Durchgänge, dunkle Parks und ähnliche Angstorte. Immer besteht die Gefahr, in eine Menschenmenge zu geraten und in ihr „steckenzubleiben.“ Beim Autofahren gibt es drei Barrieren: (1) die Parkplatzsuche, die für Susi P eine Überforderung darstellt, (2) Staus, die wie in den anderen Verkehrs- zusammenhängen das Gefühl des Steckenbleibens auslösen und (3) weite Wege, weil sie lange Strecken generell anstrengend empfindet.

9.5.4 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung Unterstützend wirken für Susi P zwei Maßnahmen, die man als Stärkung territorialer Grenzen auffassen kann: (1) Musik, weil man damit abgeschottet und für sich sein kann und (2) die Begleitung des Ehemannes, der sie insbesondere beim Besuch von Veranstaltungen oder beim Benutzen öffentlicher Verkehrs- mittel unterstützt:

„Weil dann ja jemand da ist, wo man sich vielleicht ein bisschen anhalten kann“ (Susi P, Z. 462–463).

9.5.5 Vorschläge zur besseren Situationsbewältigung In öffentlichen Verkehrsmitteln kann sich Susi P eine Art „Notglocke“ (Alarmknopf) vorstellen, allerdings wäre der mögliche Missbrauch zu bedenken. Ihre Gedanken führen sie aber schnell zu einem Notfallsender, den die kranke Person bei sich trägt und mit dessen Hilfe im Bedarfsfall ein Signal abgegeben werden kann.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 211 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Auch Rückzugsmöglichkeiten findet sie interessant, allerdings müssen stigmatisierende Effekte (etwa durch die Bezeichnung) vermieden werden. Wichtig sind ihr ästhetische Qualitäten wie Farbgebung und Sauberkeit. Für den Bus, den zu nutzen sie sich auch vorstellen kann, wünscht sie sich eine eigene Spur, um die Gefahr des Steckenbleibens zu minimieren:

„Bus fahren wäre natürlich attraktiver, wenn der Bus eine eigene Spur hätte, wo er einfach fahren könnte und nicht immer auch im Stau stehen würde, so wie alle anderen“ (Susi P, Z. 351–353).

In der Persondimension kann sich Susi P Personal vorstellen, das man im Notfall rufen kann. Das Personal müsste aber diskret agieren und im Umgang mit Panikattacken geschult sein. Die Anforderung müsste über einen Notfallknopf erfolgen, nicht über das Telefon, weil man im Zustand der Panik nicht telefonieren kann. Auch freiwillige Helfer sind für Susi P denkbar. Man müsse dann weniger Angst haben, weil man weiß, dass im Bedarfsfall jemand da ist – bezahltes Personal, das im Bedarfsfall zur Stelle ist, hält sie für wenig realistisch, weil kaum finanzierbar. Es kann auch sein, dass Sitznachbarn spontan helfen, aber diese Möglichkeit ist unberechenbar. Manche würden sich eher wegsetzen, wenn sie Zeugen einer Panikattacke werden. In der Sachdimension der öffentlichen Verkehrsmittel weist Susi P erneut auf Aufenthaltsqualität und ästhetische Gestaltung hin: Überschaubarkeit, Sauberkeit und Farbgebung sind wichtige Merkmale. Diese Qualitäten geben Sicherheit und insbesondere Überschaubarkeit und Einsehbarkeit, was auch genügend Licht impliziert, machen eine Situation in gewisser Hinsicht berechen- bar und leichter beherrschbar. Von den alternativen Transportmitteln werden nur Sammeltaxis erwähnt, die von Susi P skeptisch betrachtet werden, gefühlsmäßig möchte sie nicht mit unbekannten Personen in einer ähnlichen Lage in eine gemeinsame Situation geraten.

9.6 SusiB: Angst und Erinnerung

SusiB leidet unter psychischen Problemen, seit sie in die Schule geht. Als Jugendliche kommt sie erstmals in psychiatrische Behandlung. Die Probleme werden nicht näher dargestellt. Sie hat Angst vor vielen Menschen, die sie seit einigen Jahren mit Bildern aus ihrer Kindheit in Zusammenhang bringt. Auch wenn die Interpretation dieses Falls vor dem Hintergrund der zwei Referenztypen schwierig ist, weil es SusiB schwerfällt, über ihre Angst zu sprechen, so lässt sich dennoch die Vermutung aufstellen, dass es eher um Schwierigkeiten vom Typ B

212 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen geht. Angst vor bedrängenden Situationen lässt sich eher als Bedrohung der Territorien des Selbst darstellen.

9.6.1 Einschränkung der Mobilität Vor der Angststörung fährt sie mehrmals in der Woche als Beifahrerin mit dem Auto mit und sie benutzt für den Schulweg den Bus. In der Akutphase reduziert sie auch das Mitfahren mit dem Auto (etwa einmal im Monat).

9.6.2 Erweiterung der Mobilität Heute nutzt sie das Fahrrad für ihren Weg zum Bahnhof und nutzt den Zug für ihren Weg zur Therapie. Busfahren kann sie allerdings nicht. Zumindest einmal in der Woche ist sie darüber hinaus zu Fuß unterwegs.

9.6.3 Situative Unsicherheit und Barrieren Die stärkste Barriere für SusiB ist psychischer Art. Sie verweist auf Fragmente von Bildern, die auf einmal in bestimmten Situationen hochkommen. Busfahren ist mit diesen Bewusstseinserlebnissen verbunden. Man kann nur mutmaßen, dass es sich um ein Trauma handelt, das SusiB nicht thematisieren kann oder möchte. Panikattacken brauchen aber keinen Auslöser, wie sie ihn anhand der Bilder beschrieben hat. Sie kommen plötzlich und unerwartet. Manchmal muss sie Termine wegen akut auftretender Angst absagen. Wenn die Angst auf dem Weg auftritt, dreht sie oft um oder sie bleibt zu Hause. Sie versucht aber, der Vermeidungstendenz nicht nachzugeben. Ein Auslöser und damit eine Barriere sind viele Menschen und enge Situationen. Auch wenn Gruppen von Männern an einem Ort sitzen, ist ihr das unheimlich:

„Da mache ich auch einen großen Bogen“ (SusiB, Z. 292–293).

9.6.4 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung SusiB hat eine Reihe von Praktiken entwickelt, wie sie Verkehrssituationen trotz Angst bewältigen kann. Das sind insbesondere das Warten auf eine bewältigbare Situation (warten, bis eine weniger überfüllte U-Bahn kommt), das Umsteigen auf ein anderes Verkehrsmittel (zu Fuß gehen statt mit der U-Bahn fahren) oder das bewusste Umgehen unangenehmer Situationen (Plätze, an denen sie viele Menschen vermutet).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 213 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Als Cooling-down Maßnahmen verwendet sie Coping-Strategien, die sie in der Therapie eingeübt hat. Sie nennt als Beispiel die Vorstellung eines sicheren Ortes. Dazu kommt der Einsatz von Medikamenten. In öffentlichen Verkehrsmitteln sind Fluchtmöglichkeiten wichtig, die ihr je nach Bedarf mehrmaliges Ein- und Aussteigen ermöglichen. Dasselbe gilt für Situationen im öffentlichen Raum, wo es ihr darauf ankommt, dass sie im Bedarfsfall ausweichen kann (z.B. die Straßenseite wechseln kann). SusiB nutzt auch Taxis, allerdings nur im vertrauten Nahbereich ihres Wohnortes. Fremden Personen (TaxifahrerInnen) in unbekannten Situationen kann sie sich nicht anvertrauen. Eine vertraute Begleitperson ist ebenfalls ein wirksames Mittel zur Überwindung von Barrieren. So berichtet SusiB, dass sie beim Einkaufen von einer Freundin begleitet wird und diese Aktivität auch lieber zu zweit erledigt.

9.6.5 Vorschläge zu besseren Situationsbewältigung Auf die Frage, was sie von einer Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln hält, meint sie:

„Wär einfacher, aber ich habe es mir schon so eingerichtet mit dem Abwarten und so“ (SusiB, Z. 201).

9.7 Sylvia: Unbewältigtes Trauma und Angst vor Männern

Sylvia hat eine leidvolle Geschichte von traumatisierenden Erlebnissen (männliche Gewalt) vor dem Hintergrund geringer Coping-Ressourcen hinter sich. Die Möglichkeiten der Aufarbeitung waren gering, die Eltern finden keinen adäquaten Umgang und verschärfen die Situation und so bleibt eine Mischung aus Angst und Wut, die sich immer dann einstellt, wenn Sylvia (unbekannten) Männern in Alltagssituationen begegnet. Die Gegenwart von vertrauten männlichen Personen – sie erwähnt den Vater und einen Nachbarn – hält sie aus, in Gegenwart fremder Männer fängt sie zu zittern an. Nur ganz langsam gelingt es ihr, den Zusammenhang negativer Erfahrungen von ihrer gegen- wärtigen Situation abzulösen und durch eine positive Definition der Situation zu ersetzen.

9.7.1 Mobilitätsverhalten Sylvias Mobilitätsverhalten ist trotz Krankheit relativ stabil. Früher ist sie Fahrrad gefahren. Sie verfügt über keinen Führerschein und nutzt täglich den Bus für ihre

214 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Alltagswege. Wenn sie das Wochenende bei ihrem Vater verbringt, wird sie von ihm abgeholt und wieder nach Hause gebracht. Manchmal geht sie mit einer Freundin in ein Kaffeehaus, wohin sie gemeinsam mit dem Auto der Freundin fahren.

9.7.2 Situative Unsicherheit und Barrieren Die wichtigste Barriere liegt in der Persondimension der Situation und bezieht sich auf Männer. Sie fasst den Verlust des Vertrauens in Fremde am Beispiel des Taxifahrens exemplarisch zusammen:

„Ja, nein ins Taxi steige ich nicht ein… und auch bei keinen Fremden, die ich nicht kenne. Das war mein letzter Fehler. Nein, weil ich auch mit dem Vertrauen so Probleme habe, also ich vertraue nichts und niemandem…“ (Sylvia, Z. 478–480).

Auf dieses Thema kommt sie im Zusammenhang mit Busfahren genauso zurück wie im Zusammenhang mit Angstorten. Sie meidet Parks, weil sie fürchtet, männlichen Passanten oder gar Betrunkenen zu begegnen. Es genügt allerdings schon die Begegnung auf der Straße.

9.7.3 Sicherheit zurückgewinnen und Unterstützung Sicherheit geben ihr vertraute Begleitpersonen. Auch hier steht die Persondimension der Situation im Zentrum. So muss im Supermarkt der Vater hinter ihr stehen oder sie berichtet von einem Park, den sie nur gemeinsam mit ihrem Vater betritt. Genauso fühlt sie sich sicher, wenn sie unter Frauen ist. Sylvia ist sich ihres Problems bewusst und arbeitet mit einer Therapeutin an desensibilisierenden Maßnahmen. Sie beschreibt den Umgang mit ihrer Wut und Angst als sehr schwierig, weil sich diese Gefühle in ihr „eingebrannt“ haben und sie dies in ihrer Erzählung als nicht beeinflussbar beschreibt.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 215 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

10 Situation und Falldynamik: Mobilitätsbarrieren und deren Bewältigung im Überblick

Wie jede Handlungssituation, in der primär Situationsrollen aktiviert werden, müssen für ihre Bewältigung zwei grundlegende und auf den Raum bezogene Konstitutionsleistungen erbracht werden. Die zwei Referenzanalysen zeigen, wie unter den Bedingungen von Angst die Mobilität eingeschränkt wird, weil entweder die Fähigkeit, ein normales Erscheinungsbild zu konstituieren, verloren geht oder, weil die Fähigkeit fehlt, die Grenzen der Territorien des Selbst zu behaupten und als sicher zu interpretieren. Sie zeigen aber auch, wie diese Fähigkeiten schrittweise wieder zurückgewonnen werden können und was den betroffenen Personen dabei hilft, ihre Alltagskompetenz der Verkehrsteilnahme zu festigen. Dabei lassen sich verschiedene Stufen von der unproblematischen Situationsbewältigung bis zu verschiedenen Mobilitätsarrangements aus- machen, in denen Kompromisse zwischen der Bewältigungstendenz und der Rückzugstendenz, den beiden motivationalen Hauptdimensionen, gefunden werden. Designvorschläge können so konzipiert werden, dass sie eines der beiden (oder beide) Komponenten ansprechen: den Raum als Umwelt oder den Raum als Territorium. Und weil das Abstraktionsniveau der Analyse sehr grundlegende und allgemeine Eigenschaften des Handelns in Situationen zugänglich macht, können die beiden raumbezogenen Komponenten auch auf Phänomene der Kriminalität und der Verunsicherung im öffentlichen Raum angewendet werden. Damit werden Insellösungen vermieden, weil die Problematik der Angst in das allgemeinere Thema der Devianz systematisch eingegliedert wird. Das heißt praktisch: bestimmte Gestaltungselemente der räumlichen Kriminal- prävention können auch als Barrierehemmer bei der Verkehrsteilnahme verwendet werden. Verkehrsmittelwahl lässt sich als Handlung begreifen und sie besteht, wie jede Handlung, aus personenbedingten und situationsbedingten Faktoren.218 In dieser Untersuchung geht es um personenbedingte Faktoren, die den Zugang zu einer Handlungssituation im Alltag überhaupt erst eröffnen. Mit Lazarsfeld, der bei den personenbedingten Faktoren zwischen „Motiven“ und „Mechanismen“ unterscheidet, und mit Blick auf Goffmans Konzeption der Interaktion im öffent- lichen Raum, kann im Rahmen dieser Untersuchung von situationskonsti-

218 Lazarsfeld (2007, S. 449).

216 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen tuierenden Mechanismen gesprochen werden. Diese beiden Mechanismen werden (1) die Konstitution eines normalen Erscheinungsbildes und (2) die Anspruchserhebung auf Territorien des Selbst sowie die Sicherung ihrer Grenzen genannt. Im Unterschied zu anderen Mechanismen, die gemeinsam mit Motiven die individuelle Gesamtverfassung ausmachen, greifen situations- konstituierende Mechanismen in die Situation selbst ein. In den Kapiteln 0 und 9 konnten zwei Grundformen der Verkehrsangst herausgearbeitet werden, was der Störung dieser situationskonstituierenden Mechanismen entspricht. Verkehrsangst meint dabei keine neue und spezifische Phobie, sondern es ist die Form, in der sich Ängste (und Zwänge) in die Situation der Verkehrsteilnahme übersetzen lassen, die wir unter dem Gesichtspunkt der Interaktion im öffentlichen Raum begreifen. Das über- greifende Konzept zur Erklärung von Verkehrsangst wurde als situative Unsicherheit bezeichnet. Dieses Konzept überträgt den Gedanken der Devianz, wie er in der Theorie der sozialen Systeme entwickelt wurde, auf den Zusammen- hang von Angst und Raum im Straßenverkehr (siehe Kapitel 4.5). Wie Unsicherheit im Allgemeinen führt situative Unsicherheit zu einem positiven Rückkopplungsprozess der sich bis zur Eskalation der Angst in Panik steigern kann. Anderen InteraktionsteilnehmerInnen und den Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass eine Situation als Hintergrund für eigene Aktivitäten erlebt werden kann, werden nicht im Zeichen von Sicherheit und Vertrauen, sondern von Unberechenbarkeit und Misstrauen erlebt. Ein Ergebnis dieser Analyse ist: Wenn unterstützende Maßnahmen konzipiert werden, müssen sie entweder das Bedrohliche an einer Situation mildern und sie als bewältigbar erscheinen lassen (z.B. können magische Gegenstände Gefahren bannen) oder sie müssen territoriale Grenzen stärken (z.B. durch Abschirmung von den Blicken anderer VerkehrsteilnehmerInnen). In beiden Fällen muss der Rückzug aus der Situation möglich sein. Auch wenn diese Möglichkeit nicht genutzt wird, sie gibt der kranken Person dennoch die Sicherheit, eine Handlung jederzeit abbrechen zu können. Die jeweiligen Barrieren und die für die Bewältigung der Situation unter- stützenden Maßnahmen und Arrangements müssen als individuelle An- passungsformen begriffen werden. Beispielsweise kann Musik in einem Fall von der Situation ablenken und daher problematisch sein, weil die Konzentration auf mögliche Gefahren abgelenkt wird (Grisu, Libella) oder sie kann hilfreich sein, weil sie eine vertraute Umgebung schafft oder weil sie die betroffene Person einhüllt und in gewisser Weise abschirmt (Nameless). Barrieren sind darüber hinaus nichts Statisches, sondern sie müssen mit der Phase der Krankheit in Zusammenhang gebracht werden. Unterstützende

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 217 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Maßnahmen helfen in schweren Fällen nicht, aber wenn sich Bewältigungs- orientierung gegenüber der Rückzugsorientierung einstellt, dann können solche Maßnahmen bei der Überwindung einer Schwelle unterstützend wirken. Die Maßnahmen können im Schema Person-(Rolle)-Situation klassifiziert werden. Rollenbezogene Elemente meinen die psychische Komponente, während sich die situationsbezogenen Komponenten in die Sach-, die Person- und die Symboldimension untergliedern lassen.

218 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

11 Ergebnisse GPS-Erhebung und Wegbegehung

11.1 Einleitung

Im Rahmen der GPS-Erhebung wurden die StudienteilnehmerInnen gebeten, ihre Wege in den Monaten Juli und August des Jahres 2015 an zwei bis drei Tagen durch GPS-Tracking aufzuzeichnen und so zu dokumentieren. Die generierten Daten können einerseits methodisch (siehe Kapitel 6) und andererseits inhaltlich ausgewertet werden. Die inhaltliche Auswertung umfasst jene Merkmale zum Mobilitätsverhalten der ProbandInnen, die mittels der GPS- Geräte erfasst werden konnten. Dazu zählen neben der exakten Lokalisierung der Wege auch die Angabe von Kennzahlen, wie z.B. mittlere Unterwegszeit pro Tag, Anzahl der Wege pro Tag oder mittlere Wegedauer. Zudem beinhaltet das nachfolgende Kapitel einen methodischen Vergleich hinsichtlich der im Interview getätigten Aussagen u.a. zur Verkehrsmittelwahl und den mittels der GPS-Geräte erfassten Verhaltensmerkmalen. Mit Hilfe von GPS-Geräten konnten die genutzten Verkehrsmittel, die Anzahl der Wege sowie die Unterwegszeit bzw. die zurückgelegte Distanz der Studienteil- nehmerInnen im Beobachtungszeitraum (meistens 3 Tage) aufgezeichnet werden. Anders als bei den problemzentrierten Interviews war es möglich, mit den GPS-Aufzeichnungen die tatsächlichen Wege der ProbandInnen bzw. bestenfalls ihr tatsächliches Mobilitätsverhalten empirisch zweifelsfrei zu erfassen. Ergänzend zu den Aufzeichnungen fanden anschließend telefonische bzw. persönliche Nachbesprechungen statt, im Rahmen welcher die Wegeprotokolle auf Validität geprüft und etwaige Falsch- oder Fehlinformationen ergänzt wurden. Vor allem für die Zuordnung von Wegzwecken und Verkehrs- mittelnutzungen zu den einzelnen Wegen waren die Nachbesprechungen unabdinglich. Ein Weg wird dabei immer über einen Wegezweck bzw. ein Wegeziel definiert (z.B. Arbeit, Freizeitaktivität, Arztbesuch). Aufgrund der gewählten Verkehrsmittel können Wege in Etappen unterteilt werden (z.B. Fuß-Etappe, Straßenbahn- Etappe). Im Zuge der, von den ProbandInnen freiwillig gewählten, Wegbegehungen wurden ebenso GPS-Geräte zum Weg-Tracking eingesetzt, ergänzend dazu wurden die ProbandInnen von einem Forscher bzw. einer Forscherin auf je einem Weg begleitet. Die Wegbegehungen fanden im August 2015 statt. Vorteil dieser Erhebung gegenüber einer gewöhnlichen GPS-Erhebung ist, dass es ForscherInnen möglich ist, tatsächliche Situationen und Handlungen während

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 219 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen des Zurücklegen eines Weges wahr- bzw. aufzunehmen. Insgesamt meldeten sich drei ProbandInnen freiwillig für die Begehung eines gemeinsamen Weges, wobei ein Weg grenzüberschreitend (von Niederösterreich nach Wien), ein Weg in Wien und ein weiterer Weg in einer niederösterreichischen Kleinstadt, stattgefunden haben. Zwei dieser Wege wurden mit dem ÖV und ein Weg zu Fuß zurückgelegt. Im Rahmen der Wegbegehungen wurden ähnlich qualitative Informationen wie bei den problemzentrierten Interviews gesammelt. Die Erfassung von Mobilitätskennzahlen war in diesem Fall nicht relevant. Auch die erhobenen Daten der GPS-Erhebung sind in Bezug auf Vollständigkeit der Erfassung insofern mit Vorsicht zu genießen, als StudienteilnehmerInnen manche Wege aus unterschiedlichen Gründen (u.a. Schamgefühl, Vergessen, Wahrung der Privatsphäre) bewusst oder unbewusst nicht aufgezeichnet haben. Derartige „Datenmängel“ sind im Rahmen der Datenauswertung zumindest dann leicht erfassbar, wenn beispielsweise die durchschnittliche Wegeanzahl einer Person pro Tag lediglich bei 1,3 liegt (was deutlich unter dem üblichen Durchschnitt liegt) oder andere Unstimmigkeiten im Erhebungsdesign (u.a. in Abgleich mit dem Interview oder der telefonischen Nachbesprechung) auftreten. Um zu prüfen, ob tatsächlich alle im Beobachtungszeitraum zurückgelegten Wege erfasst wurden bzw. eine plausible Aufzeichnung der Wege vorliegt, müssen alle Wege gemeinsam mit den ProbandInnen nachbesprochen werden. Wenn beispielsweise an einem Tag nur ein einziger Weg laut Aufzeichnung stattgefunden hat, kann man davon ausgehen, dass alle weiteren Wege entweder bewusst oder unbewusst (z.B. vergessen) nicht aufgezeichnet wurden. Bei der GPS-Erhebung haben insgesamt neun ProbandInnen mitgemacht, wobei aufgrund fehlerhafter Datensätze die bereinigte Stichprobe Datensätze von acht ProbandInnen enthält und diese acht im Rahmen der Studie analysiert wurden. Bei den Wegbegehungen haben drei ProbandInnen mitgewirkt. Die folgende Tabelle 13 zeigt das Geschlechterverhältnis der ErhebungsteilnehmerInnen.

Tabelle 13: Beschreibung der Stichprobe der GPS-Erhebung und Wegbegehungen

Stichprobe bereinigte Stichprobe Summe GPS-Erhebung Stichprobe GPS- Wegbegehung Erhebung*

m w m w m w 11

3 6 3 5 1 2

* Ein Daten-Ausfall aufgrund fehlerhafter GPS-Aufzeichnungen.

Quelle: Eigene Darstellung

220 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Die teilnehmenden ProbandInnen waren zum Erhebungszeitraum zwischen 25 und 55 Jahren alt und waren ungefähr gleichermaßen berufstätig oder arbeitslos. Detaillierte statistische Angaben sind im Fall dieser geringen Fallzahl irrelevant, zumal die Erhebungsergebnisse auch keinen Anspruch auf Repräsentativität haben. Die folgenden fallbezogenen GPS-Befunde geben einen Einblick in die zurück- gelegten Wege. Insgesamt wurden von acht ProbandInnen 90 Wege im Zeitraum von Juni bis August 2015 aufgezeichnet. Abgesehen von der projektbezogenen Testung der Anwendung der GPS-Geräte mit der Zielgruppe und der qualitativen Interpretation der Erhebungsergebnisse können die Rohdatensätze im Rahmen ergänzender Auswertungszwecke in Verkehrsnachfragemodelle eingepflegt werden. In Anbetracht der geringen Fallzahl wäre jedoch ein weiterer Erhebungsvorgang empfehlenswert. Es könnte damit beispielsweise die verhaltenshomogene Gruppe der Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen besser beschrieben werden und Auffällig- keiten gegenüber einer anderen Grundgesamtheit festgestellt werden.

11.2 Gesammelte Erkenntnisse zum Mobilitätsverhalten

Die ProbandInnen legten an unterschiedlichen Erhebungstagen im Durchschnitt drei bis vier Wege zurück. Die Wege dauerten durchschnittlich 25 Minuten und wurden von sechs von acht ProbandInnen größtenteils mit dem privaten PKW zurückgelegt. Da lediglich acht der insgesamt 20 StudienteilnehmerInnen bereit waren an der GPS-Erhebung teilzunehmen, ist die Stichprobe der erhobenen Wege klein und die daraus resultierenden Ergebnisse zu Mobilitätskennzahlen mit Vorsicht zu genießen. Zudem wurde eine methodenübergreifende Validierung der GPS-Erhebungen und der problemzentrierten Interviews durchgeführt. Hierbei zeigten sich einige interessante Abweichungen von angegebenen und tatsächlich durchgeführten Wegen bzw. Aktivitäten. Aus welchen Gründen manche Angaben unterschiedlich ausfallen, wurde im Rahmen der Studie nicht erforscht. Anzunehmen ist, dass sich die Interview-Angaben aufgrund bekannter Annahmen wie z.B. Vergesslichkeit oder sozial erwünschter Antworten von den GPS-Aufzeichnungen unterscheiden. Da es sich bei den Wegbegehungen um nur einen Weg (der außerdem meist auch im Zuge der GPS-Erhebung aufgezeichnet wurde) handelt, werden hierzu keine separaten Mobilitätskennzahlen angeführt. Genauere Informationen zu den Weg- begehungen werden je ProbandIn bei den Detailergebnissen genannt. Durchschnittlich waren die StudienteilnehmerInnen ca. 1,5 Stunden pro Erhe- bungstag unterwegs (über mehrere Wege hinweg). Auffallend ist, dass vor allem

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 221 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen in Hinblick auf die Verkehrsmittelwahl deutliche Unterschiede zwischen den erzählten Eindrücken und dem aufgezeichneten Mobilitätsverhalten auftreten. Einerseits gibt es Fälle, bei welchen während des Einzelinterviews angesprochen wurde, dass bestimmte Verkehrsmittel auf keinen Fall benutzt würden, diese jedoch im Rahmen der GPS-Erhebung trotzdem von den ProbandInnen gewählt wurden. Andererseits schilderten ProbandInnen ihre Gewohnheiten zur bevorzugten Verkehrsmittelwahl, wobei eben diese Verkehrsmittel während der GPS-Erhebung nicht in Anspruch genommen wurden. Dies kann natürlich auch daran liegen, dass der Erhebungszeitraum von zwei bis drei Tagen zu kurz war, um derartige Muster anhand der GPS-Aufzeichnungen fundiert festzustellen. Jene StudienteilnehmerInnen, die auch bereit waren ihre Wege mit den GPS- Geräten aufzuzeichnen, waren nahezu täglich mobil. Anhand der Geschwindigkeitsaufzeichnung wurde eingeschätzt, welche Verkehrsmittel von den ProbandInnen genutzt wurden. In der Nachbearbeitungs- phase wurde dies im Rahmen von telefonischen Interviews mit den Proban- dInnen überprüft. Die ProbandInnen markierten mittels einer Taste auf dem GPS Gerät neben Start, Ziel und Verkehrsmittelwechsel auch Barrieren. Natürlich ist nicht alleine durch die Markierung für die Forschenden ersichtlich, um welche Barrieren es sich hierbei handelt. Demnach sind auch hier Nachgespräche mit den ProbandInnen unerlässlich. Auf die Barrieren wird in Kapitel 11.4 näher eingegangen. Im Zeitraum der GPS-Erhebung nutzten zwei der acht ProbandInnen den PKW weder als FahrerIn noch als MitfahrerIn. Beispielsweise legte Anita von Montag bis Freitag zumindest 2 Wege an einem Tag zurück, wobei ebenso häufig zumindest 3 Wege an einem Tag zurückgelegt wurden. Die durchschnittliche Wegeanzahl über alle ProbandInnen betrug im Erhebungszeitraum (Achtung: variierende Stichtage) 3,75. Anhand der nachfolgenden Referenzbeispiele sieht man, welche Gewohnheiten bzw. Problemlagen ProbandInnen während der Verkehrsteilnahme haben. Gut erkennbar ist, dass teilweise Widersprüchlich- keiten der Angaben, die im Interview und der Angaben, die im Rahmen der GPS- Erhebung getätigt wurden, existierten. Dies kann einerseits daran liegen, dass im Rahmen des Interviews ganz einfach auf Wege bzw. Verkehrsmittel vergessen wird, diese aus persönlichen Gründen einfach nicht genannt werden (z.B. Hemmnis bestimmte Gewohnheiten im Gespräch zu erwähnen) oder ProbandInnen sich nach dem Interview und dank des Mitführens eines GPS- Geräts bei der GPS-Erhebung mehr zutrauen. Die GPS-Erhebung fand in jedem der Fälle nach dem problemzentrierten Einzelinterview statt. Es erscheint, dass Personen, die tendenziell weniger Wege bzw. wöchentlich stattfindende Alltagswege unter Einhaltung einer bestimmten Routine (wöchent-

222 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen liche Termine, Besuche sowie Verkehrsmittelwahl) zurücklegen und diese (Wege generell, Verkehrsmittel) gleichzeitig als Belastung empfinden, eher wiedergeben können, welche Verkehrsmittel sie tatsächlich benutzen. Einen maßgeblichen Mehrwert für die Beschreibung der Verkehrsteilnahme von Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen stellt die Erfassung der tatsächlich gewählten Verkehrsmittel mittels der GPS-Geräte dar. Wobei natürlich die Begleiterhebung weiterer persönlicher Umstände wie z.B. die Nicht- Nutzung des GPS-Geräts aufgrund von Stressprävention auf bestimmten Wegen (z.B. Spaziergang mit Hund) bei dieser Zielgruppe nicht außer Acht zu lassen ist. Hinzu kommen die Erkenntnisse, dass viele Personen ihre Verkehrsmittelwahl entweder nicht bewusst wahrnehmen und diese dann bei Interviewsituationen bzw. Befragungen vergessen anzugeben. Dies kann bei der gegenständlichen Zielgruppe vor allem bei Wegen und Verkehrsmitteln zutreffen, die für Betroffene kein (Alltags-)Problem bzw. keine derartig drastische Mobilitätseinschränkung darstellen.

11.3 Ergebnisse im Detail

In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der einzelnen ProbandInnen beschrieben: Anita nutzte das GPS-Gerät zur Aufzeichnung von insgesamt 26 Wegen im Zeitraum von acht Tagen (Mo, Di, Mi, Do, Fr). Durchschnittlich legte Anita 3,25 Wege pro Tag zurück, wobei diese durchschnittlich zehn Minuten dauerten. Die mittlere Unterwegszeit pro Tag betrug bei Anita rund 30 Minuten. Im Fall von Anita wurden widersprüchliche Aussagen zu Wochenendwegen getätigt. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um eine Hypothese, da Anita Wege in diesem Zeitraum gehabt haben könnte, diese jedoch möglicherweise aus persönlichen Gründen (bewusst oder unbewusst) nicht aufgezeichnet hat. Den Interview-Transkripten ist zu entnehmen, dass Anita ein bis vier Mal pro Woche als im PKW mitfahrende Person unterwegs ist. Dies lässt sich mit den GPS- Aufzeichnungen nicht nachvollziehen, da hierzu keine Aufzeichnungen gemacht wurden. Dies könnte ein Hinweis dafür sein, dass Wege, welche als weniger unangenehm wahrgenommen werden (z.B. als BeifahrerIn in Begleitung zum Einkaufen) auch nicht mit dem GPS-Gerät aufgezeichnet wurden. Im Fall von Anita handelt es sich bei den erfassten Wegzwecken um Einkaufs-, Arbeits- und Arztwege. Anita hat im Interview erwähnt, dass die Straßenbahn höchstens einmal am Heimweg vom Blutlabor benutzt wird. Anhand der GPS- Aufzeichnungen ist ersichtlich, dass Anita am dritten Erhebungstag zweimal die Straßenbahn benutzt hat. Eine Hypothese hierzu könnte sein, dass Anita aufgrund des Mitführens des GPS-Gerätes eher dazu im Stande ist, die

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 223 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Straßenbahn zu nutzen und sich dadurch z.B. sicherer fühlt. Während des Nachgesprächs gab Anita allerdings an, sich „ein bisschen gestresst“ gefühlt zu haben aufgrund des Mitführens des GPS-Gerätes. Vor allem die unterschied- lichen Knöpfe auf dem GPS-Gerät haben bei Anita ein Unsicherheitsgefühl ausgelöst was auch dazu führte, dass Anita immer das Begleitschreiben (inkl. Geräte-Erklärung) bei sich trug. Linda zeichnete an drei Tagen (Mo, Di, Do) insgesamt 8 Wege auf. Beispielsweise zeichnete Linda mit dem GPS-Gerät explizit nur jene Alltagswege auf, die für sie persönlich eine Herausforderung und eine Problemlage darstellten. Spazierwege, die täglich mit dem Hund zurückgelegt wurden, gehörten nicht dazu und wurden daher auch nicht aufgezeichnet. Diese Wege konnten nur im Rahmen eines Nachgesprächs und dabei auch nur sehr ungenau erfasst und in die Beschreibung einer Grundgesamtheit aufgenommen werden. Laut GPS-Aufzeichnung ist Linda täglich zu Fuß unterwegs, hauptsächlich um zum eigenen PKW oder zu öffentlichen Verkehrsmitteln zu gelangen. Im Interview erwähnt Linda diese Fußwege nicht. Eventuell nimmt sie die angesprochenen Fußwege nicht als erwähnenswert wahr. Entsprechend der Aussagen, die während des Interviews getätigt wurden, ist Linda auch während des Erhebungszeitraums nie mit dem Fahrrad unterwegs. Im Rahmen des Interviews machte Linda keine Angaben zur Nutzung der Verkehrsmittel Bus und Straßenbahn. Im Rahmen der GPS-Aufzeichnung wurden von Linda beide Verkehrsmittel mehrmals pro Woche genutzt. Die U-Bahn wird von Linda laut eigenen Angaben nur ungern genutzt. Während der GPS-Aufzeichnung wurden mehrere Wege mit der U-Bahn zurückgelegt. Bei der Nachbesprechung gab Linda an, dass während des Erhebungszeitraums die S-Bahn, mit der Linda üblicherweise Wege zurücklegt, aufgrund von Sanierungsarbeiten nicht nutzbar war und deshalb auf die U-Bahn ausgewichen werden musste. Die PKW-Wege deckten sich im Rahmen beider Erhebungsvorgänge. Der PKW wird von Linda für Einkaufswege innerhalb des Bezirks genutzt. Bei einem Weg der GPS- Erhebung erfolgte gleichzeitig eine gemeinsame Wegbegehung, die rund 45 Minuten dauerte. Dieser Weg wurde stellenweise zu Fuß (Zu- und Abgang zum ÖV) sowie mit Straßenbahn, U-Bahn und Bus zurückgelegt. Unter anderem konnten bei dieser Wegbegehung die Verkehrsmittel- und Platzwahl von Linda beobachtet werden. So wählte Linda nur die Straßenbahn, da die S-Bahn aufgrund von Sanierungsarbeiten zum Zeitpunkt der Wegbegehung nicht verfügbar war. Vorteile der S-Bahn sind laut Linda u.a. die Verfügbarkeit von Toiletten, die Klimatisierung und das geringere Fahrgastaufkommen. Die U- Bahn-Wahl war zum Erhebungszeitraum für Linda auch nicht selbstverständlich, da dort einerseits Lärm in den Stationen sowie das dichte Fahrgastaufkommen als Barrieren wahrgenommen werden. Dennoch bevorzugte Linda in diesem Fall

224 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen die U-Bahn gegenüber einer weiteren Straßenbahnlinie, da das Erlebnis dann „schneller vorüber“ sei. Zusätzlich fühlte sich Linda während der U-Bahn-Fahrt durch Tunnel bzw. die unterirdische Fahrt gestört. Linda erzählte, dass dies bei Benützung der S-Bahn nicht der Fall wäre. Insgesamt wurde im Zuge der gemeinsamen Wegbegehung deutlich, welchen Schwierigkeiten Linda während der Bewältigung eines alltäglichen Weges begegnet. Nichtsdestotrotz werden Barrierehemmer bzw. Hilfsstrategien herangezogen, um Wege dennoch bewältigen zu können. Linda verwies beispielsweise auf die zeitlich beschränkte Gültigkeit des Fahrscheins, die Linda (im positiven Sinne) daran hinderte, auf die nächste U-Bahn zu warten.

Im Fall Synoman wurden an drei Erhebungstagen (Mo, Di, Mi) vier Wege aufgezeichnet. Anhand des Wegeprotokolls von Synoman ist deutlich erkennbar, dass an zwei von drei Erhebungstagen Wege zurück zum Wohnort nicht aufgezeichnet wurden. Dieses Referenzbeispiel zeigt, dass Wege zwar tatsächlich stattfanden, jedoch aufgrund unterschiedlicher, sehr subjektiver und aufgrund der fehlenden (telefonischen) Nacherhebung nicht festzumachender, Entscheidungskriterien nicht aufgezeichnet wurden. Synoman zeichnete in den drei Erhebungstagen Wege im zeitlichen Ausmaß von insgesamt 60 Minuten auf. Durchschnittlich wurden 1,3 Wege pro Tag zurückgelegt. Erstaunlich war, dass Synoman im Rahmen des Interviews angab, nie die U-Bahn zu benutzen und diese im Rahmen der GPS-Erhebung (gleichzeitig Wegbegehung) dennoch in Anspruch genommen hat. Bei den erfassten Wegzwecken im Erhebungs- zeitraum handelte es sich um Freizeitwege. Für die gemeinsame Wegbegehung wählte Synoman einen Weg, der am Bahnhof einer niederösterreichischen Kleinstadt begann und an einem Wiener Bahnhof endete. Die gemeinsamen Etappen des Freizeitweges von Synoman dienten einzig der Studie. Synoman wählte erst eine Zug-Etappe, danach eine U-Bahn-Etappe, gefolgt von einem Fußweg und einer Busfahrt. Insgesamt dauerte die gemeinsame Strecke ca. 1,5 Stunden. Insbesondere während der Zug- und U-Bahnfahrt verwies Synoman auf das ungute Gefühl, nicht spontan und (im Notfall) selbstständig die Türen des jeweiligen Fahrzeugs öffnen zu können. Während der Busfahrt beschrieb Synoman, dass das Busfahren angenehmer ist als Zug- und U-Bahnfahren, da das Fahrpersonal im Bus einfach zu kontaktieren ist. Alleine der Gedanke daran, dass dies möglich wäre, half Synoman, die Busfahrt ohne Probleme zu bewältigen. Beispielsweise erwähnte Synoman auch, dass die Benützung von Aufzügen nicht in Frage käme und die Warteräume auf Bahnhöfen nicht attraktiv seien. Im Rahmen der Wegbegehung fragte Synoman den Busfahrer nach der idealen Linie um zum Zielbahnhof zu gelangen. Dies deutet darauf hin, dass Synoman insofern keine Hemmungen hat, mit Angestellten der Wiener Verkehrsbetriebe zu sprechen. Für die U-Bahnfahrt wählte Synoman eine

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 225 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Strecke aus, die in kurze Etappen gegliedert werden kann, sodass u.a. auch das Verlassen der Station für einen Augenblick machbar wäre. Somit wurden erst zwei Stationen mit der U-Bahn zurückgelegt, anschließend eine Frischluftpause eingelegt und weitere zwei Stationen bewältigt, ehe der nächste Fußweg begann. Ursprünglich war eine längere U-Bahnfahrt geplant, die dann von Synoman abgebrochen wurde. Zu erwähnen ist, dass Synoman während der Fahrt (ärztlich verordnete) Medikamente zur Beruhigung einnahm, ohne die die gesamte Fahrt möglicherweise nicht machbar gewesen wäre. Gemeinsam wurde dann eine neue Strecke ausgewählt, die anschließend zu Fuß und mit dem Bus zurückgelegt wurde. Hier fühlte sich Synoman sichtlich wohler. Susi P zeichnete innerhalb von zwei Erhebungstagen (Fr, Sa) insgesamt acht Wege auf. Ein Weg dauerte durchschnittlich 20 Minuten, pro Tag war Susi P durchschnittlich eine Stunde und 23 Minuten unterwegs. Im Rahmen des Interviews erzählte Susi P, dass das Verkehrsmittel PKW gemieden wird. Während des Erhebungszeitraums von zwei Tagen wurde dieser allerdings an jedem der beiden Erhebungstage genutzt. Die Verkehrsmittel Fahrrad und Zug, die von Susi P laut Interview-Transkript einmal wöchentlich genutzt werden, wurden im Rahmen der GPS-Aufzeichnung nicht genutzt. Susi P fühlte sich vom Mitführen des GPS-Geräts nicht gestört, fand allerdings die Tastenbenennung nicht logisch. Im Rahmen der GPS-Erhebung von Susi P kam es zu einem Zwischenfall, der laut des Nachgesprächs mit Susi P beinahe zu einer Panikattacke geführt hätte. Es handelte sich dabei um eine Straßenblockade aufgrund eines Feuerwehreinsatzes. Susi P entschied sich in diesem Fall dafür einen Umweg in Kauf zu nehmen, da kein Zeitdruck bestand und dieser mit Hilfe des Navigationsgerätes machbar war. Ibiza legte innerhalb von fünf effektiven Erhebungstagen (Do, Fr, Sa, Mo, Di; sonntags wurde kein Weg aufgezeichnet) insgesamt 25 Wege zurück. Ibiza erzählte im Rahmen des problemzentrierten Interviews, regelmäßig zu Fuß unterwegs zu sein. Dementsprechend fanden auch während der GPS-Erhebung Fußwege in der näheren Umgebung des Wohnortes sowie An- und Abgangswege von bzw. zu ÖV-Stationen statt. Im Rahmen der fünftägigen Erhebung wurden sowohl Wochentags- als auch Wochenendwege aufge- zeichnet. Ibiza fährt laut eigenen Angaben während des Interviews mehrmals die Woche mit dem Fahrrad; dies bestätigte sich im Rahmen der GPS-Erhebung. Ebenso werden die Verkehrsmittel U-Bahn und S-Bahn im GPS-Erhebungs- zeitraum in Anspruch genommen. Im Interview wurde von Ibiza angemerkt, dass bei schlechterer körperlicher Verfassung eher der Bus anstatt der U-Bahn genutzt wird, da hier die Zugangswege kürzer sind. Ibiza dürfte sich während der GPS-Erhebung in guter körperlicher Verfassung befunden haben, da neben den Fahrradwegen auch U-Bahnfahrten stattgefunden haben. Auch die Angaben zur

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PKW-Nutzung stimmen mit den im Interview getätigten Aussagen überein. Ibiza legte durchschnittlich fünf Wege pro Tag zurück, wobei die mittlere Wegdauer bei 21 Minuten lag. Zu den unternommenen Wegzwecken gehörten Arbeits- sowie Freizeitwege.

Pluto legte über drei Erhebungstage (Mi, Do, Sa) 17 Wege zurück, wobei diese durchschnittlich 21 Minuten dauerten und die Unterwegszeit im Rahmen eines Tages zwei Stunden betrug. Während der GPS-Aufzeichnung legte Pluto täglich Wege mit dem PKW zurück. Im Interview gab Pluto an, während der Erkrankung nur noch mit dem PKW unterwegs zu sein und dass alles andere „überhaupt kein Thema“ mehr sei. Weiters geht Pluto auch täglich zu Fuß. Allerdings wurde während des Interviews auch die Alternative ÖV als Möglichkeit der Verkehrs- mittelwahl in Ausnahmefällen genannt. Den GPS-Aufzeichnungen ist beispiels- weise eine U-Bahnfahrt zu entnehmen. Im Rahmen der Nachbesprechung erwähnte Pluto, dass in diesem (Ausnahme-)Fall die U-Bahn für den Zweck Fortgehen genutzt wurde und in so einem Fall die Parkplatzsuche in Wien noch stressiger empfunden wurde, als die U-Bahnfahrt. Pluto erwähnte auch, dass Barrieren während des Erhebungszeitraums, also der GPS-Erhebung, viel bewusster wahrgenommen wurden als sonst.

Elvis legte im Zeitraum von vier Erhebungstagen (Fr, Sa, So, Mo) die meisten der insgesamt 14 aufgezeichneten Wege zu Fuß zurück, wobei er durchschnittlich 3,5 Wege pro Tag bewältigte. Laut der Interview-Angaben von Elvis werden täglich Wege mit dem PKW zurückgelegt. Während des Zeitraums der GPS-Erhebung fanden lediglich an zwei Tagen PKW-Fahrten statt, wobei Elvis das Fahrzeug lenkte. Entsprechend der Interview-Angaben, weder ein Fahrrad zu besitzen noch mit dem ÖV unterwegs zu sein, wurden derartige Mobilitätsmuster auch nicht während der GPS-Erhebung festgehalten.

Grisu legte im Rahmen der GPS-Erhebung 14 Wege im Zeitraum von drei Tagen (Do, Fr, Sa) zurück. Die durchschnittliche Wegeanzahl von Grisu betrug 4,6 Wege pro Tag. Die mittlere Unterwegszeit pro Tag betrug knapp zwei Stunden, die mittlere Wegdauer betrug 27 Minuten. Laut eigenen Angaben während des Interviews geht Grisu relativ viel zu Fuß; bei genauerem Nachfragen allerdings nur „hin und wieder im Monat“. Laut GPS-Erhebung ist Grisu beinahe täglich auf Zu- und Abgangswegen zu bzw. von ÖV-Stationen zu Fuß unterwegs. Grisu gibt im Interview an, hauptsächlich zu Fuß zu gehen, um Menschenansammlungen in den ÖV zu vermeiden, was anhand der GPS-Auswertung allerdings nicht nachvollziehbar ist. Eventuell bezieht sich Grisu dabei eher auf die seltenen Wege, die in Wien zurückgelegt werden müssen. Grisu gibt an, eher dann zu Fuß zu gehen, um die U-Bahn zu vermeiden. Entsprechend der Angaben im Interview nutzt Grisu im Rahmen der GPS-Erhebung mehrmals wöchentlich für kürzere

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Wege das Fahrrad. Im Interview gab Grisu an, im Winter die S-Bahn zu nutzen. Bekanntlich fanden die GPS-Erhebung in den Sommermonaten Juli und August statt. Den GPS-Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass Grisu auch bei sommerlichen Verhältnissen die S-Bahn zu nutzt. Beispielweise nutzt Grisu für die Strecke Tulln – Stockerau die S-Bahn mit der längeren Fahrzeit, da die Züge in diesem Fall weniger frequentiert und die Nutzung daher als angenehmer empfunden wird. Für dieselbe Strecke gibt es auch eine raschere Zugverbindung, bei der man rund 25 Minuten kürzer unterwegs ist. Bezüglich der PKW-Nutzung gibt Grisu an, drei bis vier Mal im Jahr kurze Strecken mit diesem Verkehrsmittel zurückzulegen. Während der GPS-Auswertung wurden zumindest zwei kurze Strecken (Einkauf und Freizeit) mit dem PKW zurückgelegt, weswegen angenommen werden kann, dass Grisu eigentlich häufiger mit dem eigenen PKW fährt. Ein Auslöser für die nicht periodisch festzumachende Nutzung des PKW könnte, im Fall von Grisu, Dauermedikation sein, die die Fahrtüchtigkeit vor allem morgens beeinträchtigt. Während der GPS-Erhebung haben die PKW-Fahrten eher am Nachmittag stattgefunden.

Mit Gini erfolgte ergänzend zum Interview eine Wegbegehung. Anders als bei den anderen TeilnehmerInnen nahm Gini nicht bei der GPS-Erhebung teil. Die gemeinsame Strecke führte vom Wohnort zum lokalen Bahnhof. Es handelte sich dabei um einen Weg, der mit dem PKW, dem Fahrrad, dem Bus oder zu Fuß zu bewältigen ist. Gini entschied sich, den Weg zu Fuß zurückzulegen mit der Begründung, dass es sich dabei um eine als angenehm wahrgenommene Aktivität handelte. Zudem wählte Gini nicht die Option, mit dem Bus zu fahren, da einerseits der Fahrplan nicht bekannt war und andererseits die Kosten, jedes Mal den Bus zu nehmen, zu hoch wären. Einzig die vorbeifahrenden motorisierten Fahrzeuge empfand Gini als störend; insbesondere an den Streckenabschnitten, an denen der Gehweg nicht durch parkende Autos, Gebüsch oder Bäume von der Fahrbahn und den vorbeifahrenden Fahrzeugen getrennt war. Auffallend war, dass Gini bewusst den schnellsten Weg vom Quell- zum Zielort wählte und trotz vorhandener Unannehmlichkeiten (u.a. weite/offene Plätze) nicht auf einen (langsameren) Weg auswich. Ergänzend dazu beschrieb Gini, währenddessen wir an einer kaum von FußgängerInnen frequentierten Kreuzung auf die Grünphase warteten, dass es angenehmer sei, in einer großen Menschenmasse unterzugehen als aufzufallen. Der gemeinsame Weg dauerte ca. 30 Minuten und wurde im Sommermonat August zurückgelegt. Die Dokumentation des Weges und der Vorkommnisse erfolgte durch die begleitende Forscherin.

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11.4 Erkenntnisse zu Mobilitätsbarrieren

Die Mobilitätsbarrieren konnten von den ProbandInnen im Zuge der GPS- Erhebung räumlich verortet sowie zeitgenau festgehalten werden. Während der Wegbegehung wurden Barrieren von den Forschenden notiert bzw. von den ProbandInnen am GPS-Gerät markiert. Um die Art der Barriere erfassen zu können, bedarf es im Rahmen der (alleinigen) GPS-Erhebungsmethode allerdings immer eines Nachgesprächs. Dies erfolgte in den meisten Fällen telefonisch; einerseits um den Aufwand der Forschenden in Anbetracht des straffen Zeitplans und beschränkt verfügbaren Budgets gering zu halten und andererseits um den ProbandInnen keinen weiteren gemeinsamen Termin zumuten zu müssen. Die ProbandInnen wurden, sofern sie zusätzlich zum problemzentrierten Interview auch bei der GPS-Erhebung mitwirkten, ohnehin oft kontaktiert und mit eher ungewohnten (Stress-) Situationen (selbstverständlich auf freiwilliger Basis) konfrontiert. Zur nachträglichen Erfassung bzw. Auswertung der Mobilitätsbarrieren wurde das, anhand der GPS-Daten erstellte, Wegeprotokoll herangezogen und die einzelnen Wege sowie Vorkommnisse mit den ProbandInnen besprochen. Erstaunlicherweise konnten sich die ProbandInnen an all ihre Wege sehr gut erinnern; viele führten neben der GPS- Aufzeichnung auch ein händisches Mobilitätstagebuch. Die folgende Tabelle 14 zeigt, welche Barrieren von den ProbandInnen im Rahmen der GPS-Erhebung am häufigsten aufgezeichnet und anschließend benannt wurden.

Tabelle 14: Übersicht Mobilitätsbarrieren GPS-Erhebung

Barrieren-Zuordnung Barrieren, die von ProbandInnen erfasst wurden

Psychische Komponente  Geringe Stresstoleranz  Fluchtbedürfnis  Konzentrationsschwäche

Situation-Sachdimension  Beengende Räume  Weite/offene Räume  Dunkle Räume  Lärm  Betreten/Verlassen von Räumen  Keine Fluchtmöglichkeit  Verkehrsmittelelemente

Situation-Persondimension  Menschenansammlungen  Unangenehme Begegnung  Personal  Lärm Situation-Symboldimension  Unzureichend Information verfügbar  Mangelnde Beschriftung

Quelle: Eigene Darstellung

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 229 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Definitiv am häufigsten wurden Aspekte, die eine geringe Stresstoleranz implizieren, als Barriere während der GPS-Erhebung markiert. Hierbei handelte es sich beispielsweise um Gefühlsausprägungen wie Nervosität, Unruhe oder Angst in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie um unerwartete Situationen wie z.B. Straßensperren. Bei den beengenden Räumen wurden vor allem öffentliche Verkehrsmittel genannt. Zudem wurden Aufzüge und im Fall der PKW-Nutzung eng parkende Fahrzeuge genannt. Fehlende Fluchtmöglichkeiten beziehen sich auf Züge bzw. U-Bahnen, bei deren Benützung die ProbandInnen das Gefühl hatten, aufgrund der automatischen Türen und der räumlichen Trennung zum Fahrpersonal nicht unmittelbar aus dem Fahrzeug aussteigen zu können. Lärm, der entweder durch Fahrzeuge oder andere Fahrgäste verursacht wird, wurde von den ProbandInnen ebenso als Barriere markiert. In einem Fall wurde die unzureichende Information bzw. mangelnde Beschriftung bei der Benützung des ÖV als Barriere genannt.

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12 Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen

12.1 Beschreibung der unangenehmen/angstauslösenden Situationen

Menschen mit einer Phobie, Angst- oder Zwangsstörung werden bei der Verkehrsteilnahme aber auch bereits bei dem Versuch der Nutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels mit zahlreichen Barrieren konfrontiert. Diese Barrieren lassen sich – gemäß der Literatur (vgl. Kapitel 4.6.1) – den Kategorien Psychische Komponente, Situation-Sachdimension und Situation-Person- dimensionen zuordnen. Bei vielen Situationen spielt auch ein Meideverhalten der Personen eine wichtige Rolle. Nachfolgend werden die genannten Kategorien anhand von Aussagen der TeilnehmerInnen näher erklärt.

12.1.1 Psychische Komponente Unter der Kategorie der Psychischen Komponente lassen sich Eigenschaften oder Handlungen der betroffenen Person verstehen, die die Nutzung eines Verkehrsmittels erschweren oder auch unmöglich machen.

12.1.1.1 Territoriale Grenzen Einige TeilnehmerInnen schildern, dass sie sich in Situationen unwohl fühlen, in denen andere Menschen ihnen zu nahe kommen:

„Ich kenne es von mir, dass mir das zu nahe ist, ein persönlicher Abstand, eine persönliche Distanz, die nicht eingehalten wird. Leute kommen so nahe, dass es schon in die Intimzone geht. Spätestens wenn man riecht, der war heute noch nicht duschen, gestern aber schon, dann nein.“ (2, 259)

„Es ist geräumiger und die Leute gehen nicht so nahe bei dir vorbei, wenn man zum Beispiel am Fenster sitzt. Man kann sich irgendwie mehr abschotten, im Zug. Die Sitze sind auch höher und da kann man sich kleiner machen, zum Beispiel.“ (1, 47)

12.1.1.2 Geringe Stresstoleranz Wenn sich Personen durch geringe Anforderungen oder Irritationen in einer Situation überfordert fühlen, könnte dies auf eine geringe Stresstoleranz zurück-

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 231 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen zuführen sein. Zwei der an den Gruppendiskussionen teilnehmenden Personen schildern dabei ihre Erfahrungen:

„Wenn man in der Stadt ist oder so wo die Leute auch langsam gehen, beim Einkaufen, dann macht mich das so aggressiv, wenn da einer nicht weitergeht und die Leute einfach nicht schauen und so im Weg stehen und dann immer, wenn man nach rechts geht, wankt der andere auch nach rechts, obwohl er es gar nicht sieht weil er vor einem geht. Wenn man dann auf der anderen Seite vorbei will, drückt die Tasche so und man dann da auch nicht vorbei und ich würde dann normalerweise schneller gehen und da kriege ich dann Aggressionen.“ (2, 27)

„Ich kann das gut nachvollziehen, meine Situation ist die, all morgens wenn ich hier her fahre, dass ich U4 Schwedenplatz wechsle, in die U1 hinunter und da kriege ich auch alle Zustände wenn die Leute kreuz und quer gehen oder es grün ist und die schlafen alle und stehen alle herum und man könnte schon wo anders sein, dass ist auch etwas was mich in Aufregung versetzt. Die schlafen auf Wegen die eigentlich zum Gehen da sind.“ (2, 30)

12.1.1.3 Konzentrationsschwäche Ein Teilnehmer schildert, dass es ihm, abhängig von seiner Tagesverfassung, schwer fällt, sich ausreichend auf die Situation zu konzentrieren:

„Bei mir ist es so, an Tagen wo ich mit der Konzentration eingeschränkt bin und da muss ich eben sehr auf die Ampeln und Verkehrsregeln aufpassen, Radfahrer wie Autofahrer und darauf achte ich. Es kommt auch darauf an wo ich gehe, wenn es im innerstädtischen Bereich ist und ich von der Ringstraße in einen Park spazieren gehe und wieder raus, über die Straße zur Straßenbahn, da kommen die Fußgänger, die Radfahrer und die Autofahrer dazu und da muss ich sehr aufpassen.“ (2, 22-24)

Die beschriebene Konzentrationsschwäche kann des Weiteren dazu führen, dass sich die betroffene Person in eine persönlich empfundene riskante Situation begibt:

„In meiner Situation ist das viel zu unsicher, mit der Konzen- tration und der Einschränkung und grundsätzlich hätte ich die

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Sorge, die Furcht, dass ich irgendwie unachtsam bin und ich auf eine Seite komme, wo es nicht gut ist.“ (2, 79)

12.1.1.4 Verlust des Vertrauens in die Handlungskontrolle Die zuvor beschriebene Situation, dass sich eine Person in eine Gefahr begibt, beschreibt noch eine weitere Form einer psychischen Komponente, nämlich den Verlust in das Vertrauen in die eigene Handlungskontrolle. Die Person ist der Auffassung, die eigenen Aktivitäten nicht steuern zu können und sich selbst oder andere damit zu gefährden. Eine andere Teilnehmerin beschreibt, dass sie auf das Fahren eines Autos verzichtet, weil entweder sie oder eine andere Person die Kontrolle verlieren könnte:

„Momentan, weil ich vielleicht die Kontrolle verliere oder jemand anderer.“ (2, 266)

12.1.1.5 Verlust in das Vertrauen in Fremde Sich gegenüber fremden Menschen unsicher zu fühlen und sich unbekannten Menschen in einer Situation nicht anvertrauen zu können, sind ebenfalls Erfahrungen, die von einigen der GruppendiskussionsteilnehmerInnen geschil- dert werden. Im Zusammenhang mit dem Verlust in das Vertrauen in Fremde werden von den betroffenen Personen Erlebnisse aus der Vergangenheit geschildert:

„Ich habe nur schlechte Erfahrungen aus der Schulzeit und da meide ich den Bus lieber.

I: Die schlechten Erfahrungen haben mit den Leuten zu tun?

Ja, nicht mit dem Fahrzeug, sondern mit den Leuten.“ (1, 18-20)

„Was ich nicht mag, ist das Warten auf den Bahnhöfen. Ich weiß nicht, da sind auch oft so viele Leute und Kinder, die einen auf die Schienen stoßen.“ (1, 40)

„Es ist einfach die allgemeine Angst, ob mich wer längere Zeit anschaut, da kriege ich Angst irgendwie. Früher ist es passiert, dass ich zweimal entführt worden bin, zwar nur auf kurzer Strecke, weil es die Polizei sofort mitbekommen hat, denn es war zweimal der Gleiche. Und die Schlägereien, wie die anderen Leute drauf sind, ob sie gerade aggressionslustig drauf sind, wegen Diebstählen und da habe ich schon viel Angst. Auch wenn

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ich in die Stadt gehe und es ist gerade viel los, da stecke ich meine Geldbörse lieber in den Rucksack oder nahe bei mir in die Jacke.“ (3, 89)

12.1.1.6 Verlust des normalen Erscheinungsbildes Unter einem normalen Erscheinungsbild versteht man die Beschreibung der Situation als ungefährlich und bewältigbar. Bei manchen Menschen führen ihre Gedanken oder Fantasien dazu, dass dieses Erscheinungsbild einer Situation nicht mehr gebildet werden kann und die Situation als unangenehm und angstauslösend empfunden wird. In dem Zusammenhang werden von den GruppendiskussionsteilnehmerInnen Situationen in öffentlichen Verkehrsmitteln beschrieben, in denen etwas Unerwartetes passiert ist, entweder, weil der Waggon plötzlich leer war oder der Bus aufgrund einer Baustelle eine andere Route fahren musste:

„Das ist ja auch ein unschönes Erlebnis, es muss ja nicht mal was sein, aber man sitzt alleine drinnen und man fragt sich „habe ich was verpasst, fahre ich ins Nirwana?“. Da bin ich aber schon mal ausgestiegen und habe auf die nächste gewartet, nur um festzustellen, dass gar nichts gewesen ist und ich hätte drinnen sitzen können.“ (2, 110)

„Ich habe auch so ein Erlebnis gehabt, es war nicht so schlimm, aber ich bin auf einer Strecke gefahren die ich gut kenne, mit einem Bus und da gibt es Baustellen und der Bus, es war der 10A, ist plötzlich abgebogen und ich habe momentan nicht mehr gewusst wo ich bin und wo bleibt der stehen, wo bin ich jetzt, obwohl ich die Gegend kenne. Es war nicht einfach und ich habe die Übersicht verloren, ich bin dann falsch ausgestiegen und bin zu weit gefahren und ganz wo anders als ich geglaubt habe.“ (2, 177)

Die Erfahrung bei einem öffentlichen Verkehrsmittel falsch ein- oder ausge- stiegen zu sein oder mit Veränderungen der gewohnten Strecke konfrontiert zu werden, wird vielen NutzerInnen der Verkehrsmittel ein Begriff sein. Menschen, die an einer Phobie, Angst- und Zwangsstörung leiden, erleben solche Situationen jedoch intensiver:

„Bei mir wäre das Zug und Schnellbahn, weil ich mich dort am wenigsten auskenne und ich nicht weiß wo fährt der jetzt hin. Ich bin dann, gerade im Zug und der Schnellbahn, in einer Daueranspannung, weil ich immer mitverfolgen und schauen

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muss, fährt er eh noch so wie er fahren soll und wenn dann eine Station kommt, die…“ (2, 169)

„Normalerweise bin ich eher schüchtern und zurückhaltend, aber in so einer Situation frage ich ohne guten Tag zu sagen, irgendwen der gerade in der Nähe steht, wohin fährt er und ich wirke dann auch sehr verschreckt. Wenn aber die Leute zu weit weg stehen ist die Hemmschwelle zu groß und ich traue mich nicht zu fragen und dann wird es noch unangenehmer, wenn es nicht sofort aus mir raus kann „wo fährt der denn hin“, dann traue ich mich auch gar nicht fragen und dann werde ich total nervös und warte auf die nächste Station und steige aus und schaue zwischendurch aufs Handy, GPS wo ich gerade bin.“ (2, 175)

12.1.1.7 Panikattacke mit oder ohne Ankündigung Einige der TeilnehmerInnen erzählen, aufgrund von vielen PassantInnen in einem Verkehrsmittel Panikattacken gehabt zu haben:

„Was ich noch sagen wollte, eine Zeit lang hatte ich Panikattacken und da konnte ich nicht mit dem öffentlichen Verkehr fahren, gar nicht. Da konnte ich auch nicht mal in die Station, die Menschen haben das ausgelöst und als es besser war, musste ich in der U6 nach 1-2 Stationen aussteigen, auf die nächste warten. Ja, es waren bestimmte, nicht jeder hat es ausgelöst, wenn der Waggon leer gewesen wäre, also der Raum alleine hätte es nicht ausgelöst. Je mehr Leute da waren, desto stärker ist es ausgebrochen.“ (2, 268-270)

„Jetzt geht es, zuerst war ich ziemlich nervös und hatte Panikattacken, aber mit der Zeit geht es gut und ich kriege keine Panikattacken, aber wenn viele Leute da sind, dann werde ich etwas nervös und kann nicht durch den Zug gehen und muss da bleiben wo ich bin.“ (3, 102)

An den zuletzt dargestellten Erlebnissen erkennt man, dass noch weitere Faktoren bei dem Erleben von Angst eine Rolle spielen, wie die fehlenden Fluchtmöglichkeit und die Anwesenheit anderer Menschen, auf diese Barrieren wird in den nächsten Abschnitten näher eingegangen.

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12.1.2 Situation-Sachdimension Beengende Räume, keine Fluchtmöglichkeit, Parkplatzsuche, Staus aber auch der Weg an sich, sind Merkmale einer Situation, die ebenfalls eine Barriere für Menschen darstellen können. Einige davon werden von den TeilnehmerInnen beschrieben.

12.1.2.1 Beengende Räume, keine Fluchtmöglichkeit Diese zwei Barrieren treten bei einigen TeilnehmerInnen in der gleichen Situation auf und werden daher zusammen dargestellt. Bei vielen Menschen löst die Raumstruktur ein Gefühl der Beengung aus, einerseits können es kleine Räume sein, andererseits können auch weite Plätze für dieses Gefühl verantwortlich sein. Neben dem Gefühl der Enge kommt noch dazu, dass die Situation nicht verlassen werden kann, die betroffenen Personen keine Fluchtmöglichkeit haben und sich der Situation daher ausgeliefert fühlen. Das Mitfahren in einem Auto, das Erleben von Enge und der Tatsache, die Situation nicht verlassen zu können, löst bei einem Teilnehmer Panikattacken aus:

„Ich kriege Panikattacken wenn es so eng ist, zum Beispiel im Auto als Beifahrer. Ich denke immer, ich kann nicht raus gehen und dann kriege ich Panikattacken. Am schlimmsten ist es auf der Autobahn, wenn es zu schnell ist.“ (1, 20)

Auch andere TeilnehmerInnen berichten von ihren Erfahrungen in öffentlichen Verkehrsmitteln:

„Viele Leute auf kleinem Raum, keine Ausweichmöglichkeiten.“ (1, 17)

„Aber bei mir war es in der Schulzeit auch schon ein Problem, wenn der Bus voll war und ich habe einen richtigen Reizhusten bekommen und es war, als ob man in den Moment ersticken würde.“ (1, 173)

„Die U-Bahn war zu voll und insofern, die Gefühle waren, ich bin eingesperrt, ich habe keine Ahnung was passiert, ich kann nicht vor und nicht zurück, was ist eigentlich draußen passiert.“ (2, 94)

„Bei mir ist es so, ich habe Platzangst und bekomme voll Panik und dadurch, dass ich mit dem Zug in die Arbeit fahren muss und um 7:10 geht der normalerweise und da sind so viele Leute drinnen.“ (3, 7)

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12.1.2.2 Wege Der Weg, den eine Person von einem Ort zum nächsten zurücklegen muss, kann ebenfalls zu dem Erleben einer unangenehmen oder angstauslösenden Situation führen. Weite Wege, unbekannte, aber auch verschachtelte Wege, können der Grund dafür sein. Für eine Teilnehmerin sind unbekannte Wege, wenn sie nicht weiß wo ihr Zielort genau ist, der Grund für Schwierigkeiten bei der Nutzung der Verkehrsmittel:

„Wenn ich nicht weiß wo das Endziel ist, also wenn ich den Plan nicht im Kopf habe, dann nutzt es mir nichts wenn ich weiß, der fährt nach Himberg. Bei der U-Bahn sehe ich die Stationen und da ist es irgendwie leichter.“ (1, 33)

12.1.3 Situation-Persondimension Bei Barrieren, die man dieser Dimension zuordnen kann, spielen andere Personen und deren Verhalten eine zentrale Rolle. So kann eine Interaktion mit einer fremden Person, aber auch die Forderung der Aufmerksamkeit einer bekannten Person zum Entstehen einer Situation führen, in der sich die betroffene Person unwohl oder ängstlich fühlt. Der/die FahrerIn, Menschen- ansammlungen und Lärm sind ebenfalls Barrieren, die hier ihre Berücksichtigung finden.

12.1.3.1 Menschenansammlungen Ein enger Raum, aus dem man nicht fliehen kann: auf diese Barriere wurde im letzten Abschnitt bereits eingegangen. In vielen Situationen spielt darüber hinaus noch die Anwesenheit vieler Menschen eine wichtige Rolle:

„Viele fremde Leute, ich bin zwar früher in Wien öfter mit der U- Bahn gefahren, aber ich habe mich nie wohl gefühlt, einfach die vielen Leute.“ (1, 76)

„Ich habe keine Angst vor den Gerätschaften als solches, aber es sind mir zu viele Leute. Wenn dann immer alle Leute bei der Türe stehen, sie sind zu dämlich sich auf den Raum zu verteilen der eh schon da ist.“ (2, 111)

„Ich kriege keine Luft, ich kriege Erstickungsanfälle, schlecht, schwindlig, alle Zustände die es gibt. Ich habe auch versucht, wenn ich mit dem Zug fahre, Musik zu hören, aber es bringt nichts. Die Leute da drinnen halte ich nicht aus. Ich fahre zwar jeden Tag hier her, aber sehr schwer.“ (3, 65)

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„Bei mir ist es so, wenn ich auf die U-Bahn warte, ich fahre nicht gerne mit der U-Bahn, ich gehe fast alles zu Fuß oder rufe mir ein Taxi. Einmal habe ich es versucht mit der U-Bahn und es geht eigentlich gar nicht, also wie ich gewartet habe, sind so viele Leute herunter gestürmt, drinnen bin ich nur so schräg gestanden und wie sie stehen geblieben ist, bin ich sofort die nächste Station raus und bin nach oben gerannt und habe mich fangen müssen.“ (3, 126)

12.1.3.2 Unangenehme Begegnungen Bei manchen TeilnehmerInnen löst eine Interaktion, aber auch bereits der Gedanke an eine Interaktion mit einer fremden Person, Unwohlsein aus.

„Ich will nicht, dass sich Leute neben mich setzen und mich mit irgendwas zureden, ich fühle mich dann unwohl und denke „was willst du eigentlich von mir?“.“ (1, 93)

„Ich habe die Angst wenn ich jemanden frage warum die U-Bahn steht, er zu mir sagt „steig aus und frag ihn“.“ (2, 210)

„Oft bleibe ich einfach stehen, wo ich keinem im Weg stehe, weil nichts frei ist. Aber da steht dann wieder einer gegenüber und da schaut man auf den Boden oder wenn mich wer anstarrt, dann schaue ich weg.“ (1, 74)

12.1.3.3 Fahrverhalten Bei der Nutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels kann auch das Fahrverhalten des Fahrers/der Fahrerin bei Menschen mit einer Phobie, Angst- und Zwangsstörung zu einer unangenehmen und angstauslösenden Situation führen. Ein Teilnehmer erzählt, dass der Fahrstil des Fahrers bei ihm ein Unwohlsein auslöst:

„Entweder weil die Fahrweise vom Chauffeur ungestüm ist auf solchen Strecken oder weil es die Strecke nicht anders zulässt, weil viel gebremst wird und die Straße mit anderen Verkehrsteilnehmer sehr frequentiert ist und die Fahrweise sehr unrhythmisch ist und das ist was bei mir großes Unbehagen schafft.“ (2, 156)

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12.1.3.4 Lärm Auch Geräusche, die von anderen Personen ausgehen oder die in alltäglichen Situationen auftreten, können bei betroffenen Menschen zu Schwierigkeiten in der Nutzung verschiedener Verkehrsmittel führen. Ein Teilnehmer beschreibt Situationen, in denen er sich vom Lärm stark beeinträchtigt fühlt, diese Situationen können im Auto oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel sein, aber auch die Geräusche einer Kassa in einem Supermarkt sind für ihn belastend:

„Jetzt zum Beispiel geht es mir recht schlecht und ich könnte mit dem Auto nicht fahren. Wenn ich halbwegs okay bin, dann kann ich eigentlich mit dem Auto, dann macht mir der Lärm nichts. Momentan ist der Lärm.[..] Generell, ob es das Auto oder die Straßenbahn ist. Ich bin eher langsam und reduziert.“ (3, 36-40)

„Egal, Lärm ist Lärm. Ich sage immer Fühler, meine Fühler sind ganz weit ausgefahren und ich höre die Autos von ganz weit weg [..].Wenn man einkaufen geht und das Piepsen, ich würde dann nicht einkaufen, wenn ich in dem Zustand bin.“ (3, 57-59)

12.2 Umgang mit unangenehmen/ angstauslösenden Situationen

Nachdem die TeilnehmerInnen von den Situationen berichtet haben, die bei ihnen Ängste und Unwohlsein auslösen, wurden sie auch hinsichtlich ihres persönlichen Umgangs mit diesen Situationen befragt. Mehrere Personen versuchen solche Situationen im Vorfeld zu vermeiden, indem sie unter anderem auf die Nutzung eines Verkehrsmittels verzichten oder auf eine bewältigbare Situation warten. Neben diesem Meideverhalten gibt es noch weitere Möglichkeiten mit unangenehmen/angstauslösenden Situationen umzugehen. Analog zu der Beschreibung der Situationen lassen sich die Kategorien „Psychische Komponente“, „Situation-Sachdimension“, und „Situation- Persondimension“ unterscheiden und die Strategien oder „Barrierehemmer“ können diesen zugeordnet werden.

12.2.1 Meideverhalten In manchen Situationen zeigen einige Personen ein Meideverhalten. Dabei lassen sich folgende unterscheiden: Verzicht/Ausweichen auf ein anderes Verkehrsmittel, Delegieren von Transportaufgaben, partieller Verzicht auf ein Verkehrsmittel und das Warten auf eine bewältigbare Situation.

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12.2.1.1 Verzicht/Ausweichen auf ein anderes Verkehrsmittel Um nicht in eine angstauslösende oder unangenehme Situation zu kommen, verzichten einige Personen gänzlich auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder weichen auf ein anderes Verkehrsmittel aus:

„Ich wollte sagen ich kenne das auch sehr gut, ich nehme da oft längere Wege in Kauf um stark frequentierte Wege zu meiden.“ (2, 31)

„Da ist der Punkt, wo ich mir eine andere Route suche, wenn es geht oder ich zu Fuß gehe.“ (2, 72)

12.2.1.2 Delegieren von Transportaufgaben Bei diesem Meideverhalten werden verschiedene Aufgaben an andere Personen abgegeben. In der geschilderten Situation lässt sich der Betroffene, statt wie sonst selbst mit dem Auto zu fahren, von seiner Mutter an seinen Zielort bringen:

„Heute hat mich meine Mutter hier her gebracht.“ (3, 47)

12.2.1.3 Partieller Verzicht auf ein Verkehrsmittel Lediglich in bestimmten Situationen verzichtet die Person auf die Nutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels:

„Für mich in Wien, also ich nutze uneingeschränkt sämtliche Verkehrsmittel, bis auf manche Tage wo viel los ist und es mir zu nervig wird, im Prinzip bin ich uneingeschränkt in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs.“ (2, 11)

12.2.1.4 Warten auf eine bewältigbare Situation Einige der betroffenen Personen warten so lange ab, bis sie Bedingungen vorfinden, unter denen sie das gewählte Verkehrsmittel nutzen können. Sie lassen zum Beispiel Busse fahren, in denen sich zu viele Menschen befinden:

„Ich lasse auch mal einen Bus oder einen Zug fahren, wenn er zu voll ist, da gibt es bei mir eine Schmerzgrenze, wenn kein Platz ist und der nächste kommt eh schon in 5 Minuten.“ (2, 70)

„Strategie ist, ich versuche solche Strecken zu meiden beziehungsweise wenn es meine Zeit zulässt, wie es der Kollege schon erwähnt hat, den Bus weiterfahren zu lassen und in den nächsten einzusteigen, sofern der nicht auch wieder voll ist natürlich.“ (2, 158)

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12.2.1.5 Psychische Komponente Wenn Eigenschaften oder Handlungen der betroffenen Person ihre Angst so stark hemmen können, dass die Situation bewältigbar ist, werden diese Strategien der Psychischen Komponente zugeordnet. Hierbei nehmen vor allem Strategien, die der Ablenkung dienen, eine entscheidende Funktion ein. Für andere Personen ist das aktive Zeigen ihrer Angst und Aggression eine Möglichkeit, mit der für sie unangenehmen Situation umzugehen. Die Strategie des Überwindens kann ebenfalls ein weiterer Barrierehemmer sein.

12.2.1.6 Cooling-down Beim Cooling-down gelingt es der Person, den Erregungszustand soweit zu verringern, d.h. sich abzulenken, dass die angstauslösende Situation bewältigbar wird oder ist. Es lassen sich hier einige Barrierehemmer unterscheiden: die Musik, die Beobachtung, bestimmte Gegenstände, Sicherheitsmaßnahmen und Gedankenunterbrecher. Auch das Telefonieren oder die Bewegung an der frischen Luft hilft einigen Personen sich abzulenken. Einige TeilnehmerInnen erzählen, dass ihnen das Hören von Musik und/oder das Beobachten der Umgebung helfen, ein öffentliches Verkehrsmittel zu nutzen:

„Es kommt darauf an wie viele Leute da sind und wenn ich mich hinsetze schaue ich meistens aus dem Fenster, höre Musik und dann vergesse ich die Angst, aber wenn ich nichts dabei habe, fühle ich mich eingeengt.“ (3, 9)

„Ich höre Musik und über die Religion höre ich mir auch etwas an und da bin ich eh versunken und nehme nicht alles so wahr.“ (3, 169)

„So komme ich hier her, ich schaue auch wo wenige Leute sind, höre Musik, schaue aus dem Fenster raus und dann geht es.“ (3, 97)

Das Telefonieren mit bekannten Menschen ist für andere betroffene Personen eine Ablenkungsstrategie:

„Ich versuche zu telefonieren und das lenkt ab.“ (1, 93)

„Am Anfang als ich den Zug genommen habe, habe ich immer mit meiner Mutter geredet, also am Telefon und das hat mir sehr geholfen.“ (3, 114)

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Anderen Personen helfen bestimmte Gegenstände dabei, sich abzulenken, wie ein Buch oder eine Zeitung, um darin zu lesen oder das Handy und die darauf vorhandenen Handy-Spiele:

„Mich würde es aber ablenken, vor der Panik, dass ich nicht raus kann. Oder ich habe was zum Lesen oder zum Anschauen.“ (2, 138-140)

„Es gibt auch Handy-Spiele, mit denen man sich ablenken kann.“ (1, 185)

Eine Teilnehmerin berichtet, dass ihr Atemübungen als Gedankenunterbrecher helfen, eine andere Teilnehmerin versucht sich gezielt auf etwas Anderes zu konzentrieren:

„Mir nach Möglichkeit ein Eck suchen, wo ich mich trotz allem verhältnismäßig sicher fühle, es ist eine persönliche Geschichte was solche Winkel ausmachen und Atemübungen mache ich. Wenn ich bewusst atme und die Situation versuche anzunehmen wie sie ist.“ (2, 160)

„Da fällt mir etwas ein, wobei ich nicht weiß ob Sie das in dem Bezug interessiert, wenn ich in die Straßenbahn einsteige, steigen manche irrsinnig langsam die Stufen hinauf, also ganz langsam und auch wenn ich mich ärgere und so ist es mir letztens passiert, dass ich mir überlege „okay, was möchte ich eigentlich für mich“ und ich habe ganz konzentriert überlegt und dann verschwindet das Umfeld und die Aggression, weil ich so konzentriert bin.“ (2, 147)

Gegenstände, die eine beruhigende Wirkung haben, wie Öle oder der Stress- Balm, werden von einer Teilnehmerin als mögliche Sicherheitsmaßnahme beschrieben:

„Ich arbeite viel mit Ölen, Stress-Balm [..]“ (2, 90)

Manche TeilnehmerInnen erzählen, dass ihnen die frische Luft und/oder die Bewegung abseits der öffentlichen Verkehrsmittel helfen, um ihren Erregungszustand auf ein niedrigeres Niveau zu bekommen:

„Die Luft einfach, die frische Luft.“ (3, 83)

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„Ich gehe sehr viel ins Grüne, in den Wald so wie dieses Wochenende.“ (3, 44)

„Das einzige was geholfen hat war das Gehen, möglichst schnell alleine gehen.“ (2, 285)

12.2.1.7 Überwinden Eine Person begibt sich in eine Situation und traut es sich zu, diese zu bewältigen. Die Angst kann soweit kontrolliert werden, dass öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden können:

„Ja, dann kommen welche in Stockerau dazu und eine Station später steige ich aus. Ja, aber die eine Station schaffe ich schon noch.“ (1, 105-107)

„Ich bin meistens ruhig gesessen und habe es durchgestanden bis ich am Ziel war.“ (1, 172)

12.2.1.8 Aktives Zeigen von Angst und Aggression Drei der TeilnehmerInnen schildern, dass sie, wenn sie sich in einer unangenehmen Situation befinden, die mitunter auch Aggressionen entstehen lässt, spezielle Verhaltensweisen zeigen, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Teilnehmerin stößt Leute in den öffentlichen Verkehrsmitteln an, einer macht auf sich aufmerksam, indem er hustet oder ein Geräusch mit den Füßen macht und ein anderer beginnt in bestimmten Situationen zu schimpfen:

„Wenn es im Bus ist, dann remple ich Leute auch absichtlich, manchmal. Es ist auch räumlich dann besser. Ich mache das nicht von mir aus, es ist eine Reaktion darauf eigentlich.“ (2, 42- 44)

„Was ich vorhin zum Gehen gesagt habe, ich habe mir angewöhnt ein Geräusch von mir zu geben, ich huste dann oder radiere absichtlich mit dem Fuß und die Leute gehen dann zur Seite und das ist recht praktisch.“ (2, 53)

„In der U-Bahn schaue ich natürlich auch, also erstens wo stehen die meisten Leute und ich versuche dort einzusteigen wo weniger Leute stehen, auch wenn ich weiter gehen muss und ich kenne die Situation gut, vom Kollegen beschrieben, wenn wirklich ein Stopp ist in der U-Bahn, wo es wirklich finster ist und man nirgends hinaussieht und man nicht weiß, minutenlang nicht

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weiß was los ist, da ärgere ich mich schon sehr darüber, wenn niemand fähig ist Informationen zu geben und entweder gelingt es mir auch da Ruhe zu bewahren und eben verhältnismäßig Ausgeglichenheit zu bewahren oder ich gebe meinem Ärger Luft. Ich schimpfe, ob es hilft oder nicht ist die andere Frage.“ (2, 162- 164)

12.2.1.9 Situation-Sachdimension Neben den Psychischen Komponenten nutzen manche der betroffenen Personen andere Möglichkeiten, um eine angstauslösende Situation zu bewältigen oder auch das Eintreten einer solchen Situation zu verhindern. Die an den Gruppendiskussionen teilnehmenden Personen nennen hierbei das Vorhandensein einer Fluchtmöglichkeit oder Erholungsmöglichkeit und die Nutzung vertrauter Wege.

12.2.1.10 Erholungsmöglichkeit Ein Mann beschreibt, dass er seine Zugfahrt unterbricht, sobald sein Erregungs- zustand ein bestimmtes Niveau erreicht und er nach einer Erholungsphase seine Fahrt fortsetzt:

„Die Ruhe, wenn ich zum Beispiel nach Wien fahre suche ich mir ein Abteil aus wo fast nichts los ist, da setze ich mich hinein, aber ich schaffe es trotzdem nur bis nach Baden. In Baden muss ich aussteigen, wenn mir das Ganze zu viel wird und ich warte den nächsten Zug ab und fahre dann weiter. Entweder Mödling oder Baden brauche ich meine Auszeit.“ (3, 81)

12.2.1.11 Fluchtmöglichkeit Die Möglichkeit, oder bereits der Gedanke eine Situation verlassen zu können, stellt für einige Personen einen Barrierehemmer dar:

„Egal wo ich bin, mein Sicherheitsgefühl entsteht dadurch, dass ich weiß wo ich schnell aus der Situation aussteigen kann.“ (2, 186)

12.2.1.12 Vertraute Wege Die Entstehung einer unangenehmen Situation kann bei einigen Personen weitestgehend verhindert werden, in dem vertraute Wege genutzt werden, wie es auch eine Teilnehmerin hinsichtlich ihrer Fahrradnutzung beschreibt:

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„Weil das mit dem Fahrrad ist Gewöhnungssache, ich habe mir das am Anfang auch gedacht. Man weiß dann auch schon wo man fahren kann, mit der Zeit kriegt man ein Gefühl wo ich fahren kann, wo ist es gut zum Fahren.“ (2, 81)

12.2.1.13 Situation-Persondimension Wenn die Anwesenheit einer anderen bekannten oder auch unbekannten Person oder die Möglichkeit der Kommunikation mit anderen Personen gegeben ist, werden die Barrierehemmer dieser Kategorie zugeordnet. Ein Teilnehmer erzählt von einer Begleitperson. Anderen TeilnehmerInnen hilft es zu wissen, dass sie, wenn sie den/die BusfahrerIn ansprechen, die Möglichkeit haben, aus dem Bus auszusteigen und die Situation damit verlassen zu können.

12.2.1.14 Vertraute Person Zwar ist die vertraute Person in der Schilderung nicht physisch anwesend, jedoch begleitet diese die betroffene Person am Telefon auf dem Weg nach Hause und vermittelt dadurch Sicherheit:

„Wenn ich auf dem Nachhauseweg war und meine Freundin wartet schon auf mich und ich kann sie anrufen und ihr sagen, der Bus fährt schon wieder irgendwo hin und sie lacht und dann lache ich und dann ist es eigentlich egal. Und es ist eine andere Person involviert, die mir die Sicherheit gibt, die sind deppert und nicht ich.“ (2, 188-190)

12.2.1.15 Fluchtmöglichkeit – FahrerIn ansprechbar Zu wissen, dass man den/die BusfahrerIn ansprechen und eine angstauslösende Situation auf Wunsch verlassen kann, wirkt auf einige TeilnehmerInnen beruhigend:

„Wie gesagt, ich muss immer wissen, dass ich wohin gehen kann, zum Chauffeur und ich Hilfe bekomme, wenn ich sage mir geht’s nicht gut und ich fliege gleich um und irgendwer da ist, der sich auskennt.“ (2, 225)

„Er ist langsamer und ich habe Platz zum Gehen, ich kann den Fahrer fragen ob er stoppen kann, wenn ich mich schlecht fühle.“ (3, 112)

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12.3 Vorschläge und etwaige Bedenken

Im Anschluss an die Beschreibung der unangenehmen/angstauslösenden Situationen (Barrieren) und dem Umgang mit diesen Situationen (Barriere- hemmer) wurden die TeilnehmerInnen der drei Gruppendiskussionen gebeten, Vorschläge zu äußern, die Abhilfe schaffen und in einer Situation die unangenehmen Gefühle minimieren könnten. Die Ideen können in drei Kate- gorien unterteilt werden und zwar in die „Situation-Sachdimension“, die „Situation-Persondimension“ und die „Situation-Symboldimension“.

12.3.1 Situation-Sachdimension: Vorschläge und Bedenken Die meisten Vorschläge die genannt wurden, lassen sich der Kategorie „Situation-Sachdimension“ zuordnen. Bei einigen Vorschlägen werden auch Bedenken und Befürchtungen genannt, die bei dem jeweiligen Vorschlag mit angeführt werden. Ein Teilnehmer kann sich eine gelbe Zone bei den Türen der U-Bahn vorstellen, ein weiterer Teilnehmer wünscht sich getrennte Ein- und Ausstiege:

„Ich finde es sollte eine gelbe Zone geben wo die Leute nicht stehen dürfen, überhaupt nicht vor der Türe.“ (1, 115)

„Ich hätte gerne Ein- und Ausgänge getrennt.“ (2, 255)

Größere Abstände zwischen den Sitzen, um mehr Raum für sich zu haben, oder kleinere Kabinen in den Zügen, in denen sich lediglich ein paar Mitfahrende befinden, sind Ideen von anderen betroffenen Personen, die Umsetzbarkeit wird jedoch in Frage gestellt:

„Zwischen den Sitzen Abstände.“ (1, 111)

„Im Zug natürlich unrealistisch, aber so kleine Kabinen. Zwei Leute oder vier Leute.“ (1, 116)

Die Idee, sich zurückziehen zu können, wird von einigen TeilnehmerInnen aufgegriffen. Einerseits in Form eines Panikraums und andererseits mit einem Ruhe- oder Raucherwaggon. Im Hinblick auf einen Raum, in den man sich zurückziehen kann, wird auch die Befürchtung geäußert, dass andere Leute, die sich in keiner angstauslösenden Situation befinden, diesen besetzen könnten.

„Ich hätte mir gewünscht, so Litfaßsäulen, die eine Art Panikraum sind, wo man rein kann, Tür zu machen und drinnen vielleicht gefragt wird was los ist.“ (2, 326)

246 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

„Im Zug einen Raum einbauen. Ein Raum wo man mal alleine ist. Ja, aber da ist die Gefahr, dass der Raum von anderen Leuten besetzt ist, aber wenn man so eine Karte macht und jeder, der solche Probleme hat, bekommt die und mit der Karte kann man die Tür öffnen. Ob der Staat das macht mit dem Geld glaube ich eher nicht.“ (3, 187-191)

„So ein Waggon unter strenger Aufsicht, wo sprechen verboten ist und wirklich in dem Waggon Ruhe herrscht. Unter strenger Aufsicht und das wäre eine Möglichkeit.“ (3, 202)

„Eventuell einen eigenen Raucherwaggon, weil meine Großmutter hat das gleiche Symptom wie ich, wenn es ihr zu viel wird steigt sie aus und früher ist sie in den Raucherwaggon gegangen, nur den haben sie abgesetzt. Weil drinnen ist doch eine Ruhe, denn wer raucht ist komischerweise auch ruhig. Ein Ruhe/Raucherraum mit so Tischen, wo Gläser mit Wasser stehen. Oder ein Raum, wo man rauchen darf mit einer beruhigenden Musik drinnen.“ (3, 227)

Ein Alarmknopf in den öffentlichen Verkehrsmitteln wird als gute Idee aufgenommen, es werden jedoch auch Befürchtungen genannt: zum einen die Hemmschwelle einen Alarmknopf zu drücken und zum anderen könnten andere Mitfahrende den Alarmknopf ohne ersichtlichen Grund betätigen:

„Ist gar nicht so schlecht, auch wenn einem körperlich übel ist.“ (2, 288)

„Jetzt einmal ehrlich, wenn du im Zug sitzt und du drückst den Knopf und der fragt dich was los ist, erzählst du vor dem ganzen Waggon was du für ein Problem hast? Ich würde das nicht machen.“ (1, 163)

„Ist die Frage ob die Leute so was dann nicht ausnutzen und sich spielen. Da gehören dann die Kameras dazu, die schauen ob da wirklich was ist.“ (1, 157)

„Ich glaube es ist eine riesengroße Hemmschwelle.“ (3, 303)

Für einen Teilnehmer stellt auch die Gestaltung der U-Bahn Stationen eine Möglichkeit dar, sich während des Aufenthalts wohler zu fühlen:

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 247 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

„Man kann natürlich die U-Bahn Stationen so gestalten, dass man sich wohl fühlt oder sich nicht wohl fühlt, ob jetzt Kunst hängt oder Skulpturen oder was auch immer.“ (2, 148)

Sich mit der Betrachtung von Bildschirmen in den öffentlichen Verkehrsmitteln ablenken zu können, wird als weiterer Vorschlag genannt und auch ein Radio kann sich eine Teilnehmerin gut vorstellen:

„Nein, so kleine Fernseher, aber innen drinnen, so was vielleicht. Es muss ja keine Werbung sein, es können auch Zeichentrickfilme sein.“ (2, 134)

Eine Teilnehmerin äußert den Wunsch von einer eigenen LKW-Spur:

„Wenn es eine Strecke geben würde, nur für Autos und eine nur für LKWs.“ (3, 239)

12.3.2 Situation-Persondimension: Vorschläge Es wurden auch Ideen gesammelt, die die Anwesenheit bekannter oder unbekannter Personen beinhaltet. Die Anwesenheit von geschultem Personal stellt für einige der TeilnehmerInnen eine Möglichkeit dar, sich in verschiedenen Situationen sicher zu fühlen. Das geschulte Personal soll durch die Waggons gehen und bei Bedarf eingreifen, außerdem wird eine Schulung, die sich auf die Bedürfnisse von Menschen mit Panikattacken richtet, als wichtig erachtet.

„Wenn ein Sicherheitsorgan anwesend wäre, so was würde schon Sicherheit vermitteln. Dass in den Zügen, jeweils in 2-3 Waggons, einer herum rennt der schaut ob alles passt, stänkern irgendwelche Leute, ist irgendjemand ungut und auf solche Sachen aufpasst.“ (1, 130-132)

„Es würde Sicherheit geben, wenn es dafür ein geschultes Personal gibt. Genau und das gibt schon Sicherheit, weil auch die Angst vor den anderen Leuten etwas geringer wird. Wenn wirklich was ist, kann der eingreifen. Er soll physisch schon durch die Waggons durchgehen und Präsenz zeigen. So was würde einigen Leuten Sicherheit geben. Da wäre es gescheiter, wenn es nicht auf die Station begrenzt ist, sondern auf die Waggons. Also nicht einer der in jeder Station steht, sondern der

248 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

in den Waggons mitfährt und in den Waggons präsent ist.“ (1, 226-234)

„Ich finde solche Leute sollten eine psychologische Schulung haben und mit Panikattacken und solchen Leuten auch umgehen können. Es ist nicht so einfach, wenn jemand eine Panikattacke hat, dann steckt der da drinnen und es kann einer einem in einer Panikattacke nicht wirklich helfen, man versucht zu beruhigen indem man ablenkt, mit der Person redet, also es sollten sehr redegewandte Leute sein. Die sich dement- sprechend auch einfühlen können.“ (1, 276)

Begleitung, wie durch Freunde, würde manchen ebenfalls helfen:

„Wenn man Freunde mit hat und mit ihnen redet.“ (1, 240)

12.3.3 Situation-Symboldimension: Vorschläge und Bedenken Unter dieser Kategorie werden jene Vorschläge zusammengefasst, die zur Orientierung beitragen. Informationen, entweder über Bildschirme oder über Durchsagen, würden in bestimmten Situationen Abhilfe schaffen:

„Der Vorteil von so einem Bildschirm ist, wenn es durchgesagt wird, ist es oft so laut und man versteht dann nicht was gesagt wird. Es ist oft auch bei der Haltestelle so, wenn viele Leute dort stehen und ein Zug gerade einfährt, versteht man gar nicht was angesagt wird. Wenn ich es am Bildschirm habe, sehe ich es wenigstens schwarz auf weiß.“ (1, 217)

„Was bei der Information wichtig ist, wie lange muss ich das noch aushalten, wie lange dauert das noch und das ist der Punkt und wenn ich Null Information habe, kann es mir aussuchen es dauert von 1 Minute bis unendlich.“ (2, 251)

Analog zu dem Alarmknopf in den öffentlichen Verkehrsmitteln wird eine App mit Notfallnummern am Handy als weiterer Vorschlag genannt, aber es werden auch Bedenken hinsichtlich der Handhabung geäußert:

„Oder vom Handy aus, man wählt zum Beispiel 335 und der Busfahrer kriegt die Meldung, sonst muss ich immer zum Knopf und das ist schon oft beim Aussteigen schwierig, wenn man

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 249 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

irgendwie dazwischen sitzt, wenn ich dann hinten sitze und beim Druckknopf bin, es ist vielleicht schwer.“ (1, 152)

„Ich muss ehrlich sagen, ich weiß nicht ob ich dann immer das Handy zur Hand habe. Es ist auch immer die Frage, weil ich habe das schon bei mehreren Apps gehabt, dass wenn man eine App offen hat, die andere zwar nutzen kann, die aber dann zu ist. Es müsste eine App sein, die im Hintergrund läuft und jederzeit wieder zu öffnen ist.“ (1, 262)

250 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13 Die Perspektive der ExpertInnen aus den Bereichen Psychiatrie, Therapie und psychosoziale Dienste

13.1 Einleitung und analytischer Rahmen

In diesem Abschnitt sollen die Ansichten der ExpertInnen aus den Bereichen Psychiatrie, Therapie und der psychosozialen Dienste dargestellt werden. Insgesamt wurden 6 persönliche Interviews anhand eines Interviewleitfadens219 im Zeitraum von November 2015 bis Dezember 2015 geführt. Die Darstellung der Ergebnisse folgt weitgehend dem Interviewleitfaden. Darüber hinaus wird mit dem Nachzeichnen von ExpertInnenansichten auch das analytische Niveau verändert. Mit Hilfe der Rekonstruktion von Einzelfällen konnten gezeigt werden, dass unter Bedingungen von Angst situative Unsicherheit entsteht, die sich im Alltag (und im Straßenverkehr) in zwei Grundformen ausdrückt: (1) im Verlust des normalen Erscheinungsbildes der Situation und (2) in Schwierigkeiten, die Grenzen der Territorien des Selbst einzufordern bzw. aufrechtzuerhalten. Die beiden Grundformen wurden von zwei soziologischen Raumkonzepten (Umwelt, Territorium) und von der nicht integrierten (sich im Modus der Unsicherheit befindenden) Definition der Situation abgeleitet. Für die Deutung des ExpertInnenwissens wird ein übergeordneter Rahmen verwendet, wie ihn die Phänomenologie des Handelns darstellt. 220 Schütz zeigt, dass (soziales) Handeln im Alltag idealtypischen Sinnstrukturen folgt, die sich im individuellen Bewusstsein der Handelnden aufgebaut haben. Idealtypen sind begriffliche Deutungsschemata, mit deren Hilfe Handlungen nicht nur verstanden, sondern auch entworfen werden können. Handlung ist bei Schütz ein Verhalten, dem ein Entwurf, ein Handlungsplan vorausgeht, auch dann, wenn diese Entwürfe ganz selbstverständlich und alltäglich (implizit) gemacht werden. Viele dieser Sinnstrukturen sind kaum bewusst, sondern sie haben sich als selbstverständliche Annahmen über die Voraussetzungen und den Verlauf von Handlungen und Interaktionen im Bewusstsein verfestigt (Schütz verwendet den phänomenologischen Begriff der Sedimentierung). Schütz konnte zeigen, dass soziales Handeln in modernen Gesellschaften voraussetzt, dass Menschen unter Bedingungen von Fremdheit und Anonymität im Alltag miteinander auf der Basis

219 Siehe Anhang, Kapitel 19.3. 220 Schütz (2004).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 251 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen weitgehend rationaler Interaktionsstrukturen handeln, was den Situationen Sicherheit und Berechenbarkeit verleiht. Die Grundthese ist: In der anonymen Welt des Alltags, die uns nicht auf Basis persönlicher Vertrautheit zugänglich ist, müssen wir auf Idealtypen zurückgreifen, die wir an die Stelle der direkten und persönlichen Erfahrung setzen, um (mit anderen) handeln zu können.221 Damit die Idealtypen (Deutungsschemata) aber in fremden und (teilweise) unbekannten Situationen eingesetzt werden können, müssen sie gegenüber der Situation offen sein. Idealtypen sind in diesem Sinn das Gegenteil von Stereotypen. Stereotype sind starre, unveränderliche Typisierungen, die gegenüber korrigierenden Erfahrungen weitgehend resistent sind, wenn sie sich einmal etabliert haben. Idealtypen reagieren hingegen sensibel auf ein aktuell gegebenes Jetzt und So und lassen eine Abwandlung des bisher verwendeten Deutungsschemas zu. Auf diese Weise wird überhaupt erst Handeln in der pluralistischen modernen Gesellschaft und ihrer Vielzahl an Interaktions- situationen möglich. Demgegenüber lassen sich neurotische Ängste soziologisch folgendermaßen verstehen: Unter den Bedingungen einer Angststörung geht die Fähigkeit verloren, die idealtypischen Handlungsentwürfe zum sicheren Fundament des eigenen Handelns zu machen. Dieser Gedanke entspricht der Definition von Krankheit als Rückzug aus sozialen Interaktionssituationen und der Unfähigkeit, Rollen in Handlungssituationen adäquat auszuführen. Es handelt sich um eine allgemeinere Formulierung der zwei Grundformen der Alltagsbewältigung, der Konstitution eines normalen Erscheinungsbildes und der Etablierung Territorien des Selbst. Es werden zwei leitende Hypothesen aufgestellt: 1. Unter Bedingungen einer Angststörung kommt es zu einer „Erosion“ der sedimentierten, als sicher und selbstverständlich geglaubten Sinnstrukturen. Bisher als fraglos geltend vorausgesetzte Eigenschaften der Situation und der in ihr handelnden Personen, sind in Frage gestellt. 2. Mit den Rückzugstendenzen werden idealtypische Deutungsschemata in Deutungsschemata umgewandelt, die den Stereotypen analog sind. Man kann von einem Erstarren der Idealtypen des Alltags sprechen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werden die Aussagen der ExpertInnen zusammengefasst und, wenn notwendig, durch thematische Überschriften strukturiert.222

221 Ebd. 222 Für dieses Vorgehen vergleiche Nagel und Meuser (1992).

252 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.2 Einschränkungen durch Ängste und Zwänge

13.2.1 Generelle Einschränkungen im Alltagsleben, insbesondere im Straßenverkehr Als Haupthindernis im Alltag sehen die ExpertInnen den größeren Zeitrahmen, der zwischen der Planung und der Ausführung einer Handlung besteht. Schon im Vorfeld tauchen Gedanken auf, was man benötigt, um Wege zurückzulegen. Dieser Prozess erfordert viel Zeit. Z.B. müssen sich Betroffene schon sehr früh vorbereiten, wenn sie einen Termin haben. Auch die Vergewisserung, ob das eigene Handeln richtig ausgeführt wurde (wurde beispielsweise die Haustüre abgeschlossen), benötigt viel Zeit. Frühe Termine (um acht Uhr morgens) werden daher ungern wahrgenommen, da man dafür z.B. schon um fünf Uhr aufstehen müsste. In der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel besteht Verunsicherung. Generell sind Betroffene überall dort verunsichert, wo neue Situationen auftreten, die nicht genau strukturiert sind und die viel Flexibilität erfordern. Das können Amtswege oder Verkehrswege sein, aber auch Umstellungen, wo immer weniger Servicepersonal vorhanden ist, wie im Supermarkt oder im Kaufhaus, wenn man jemanden fragen muss. Alle Situationen, in denen Unklarheiten auftreten, stellen große Barrieren dar. Die ExpertInnen differenzieren zwischen den Hindernissen, die bei Angster- krankung und jenen, die bei Zwangserkrankung bestehen. Unter Zwang hat man beispielsweise Angst, dass man vergessen hat, den Ofen abzudrehen oder, jemanden am Weg mit dem Auto anzufahren, deshalb fährt man oft drei bis vier Mal dieselbe Strecke um zu sehen, ob niemand geschädigt wurde. Angststörungen lösen oft viele Handlungen aus, die einem Zwang ähnlich sind. So werden Rituale entwickelt, die zuerst durchgeführt werden müssen, damit die Person mit dem Auto fahren kann, wie z.B. ein doppelter Sicherheitscheck, bei dem man zwei oder drei Mal um das Auto herumgeht. Das kostet viel Energie. Baustellen, Umleitungen, Staus oder aggressive Verkehrs- teilnehmerInnen erhöhen die Belastung. Wie der Zwang erzeugt Angst Stress. Die Anreise benötigt schon so viel Energie, dass es sich viele der Betroffenen zwei Mal überlegen, ob sie die Fahrt (z.B. um Freunde zu treffen) überhaupt machen sollen. Bei Angststörungen müssen Alltagswege neu organisiert werden, etwa aus Sorge, eine Panikattacke zu erleiden. Die Panikattacken können sehr schnell auftreten. Betroffene können sich deshalb nicht darauf vorbereiten bzw. adäquat reagieren. Unterstützend wirkt eine Begleitperson. Bei der Auswahl der Wege sind Rückzugsmöglichkeiten besonders wichtig. So muss beim Autofahren die

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 253 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Möglichkeit bestehen, am Straßenrand halten zu können. Deshalb werden Autobahnen gemieden. Unter Umständen müssen Umwege in Kauf genommen werden. Personen, die unter Panikattacken leiden, haben oft ein hohes Kontrollbedürfnis und haben Angst, Kontrolle abzugeben. Eine Zugfahrt setzt den Glauben voraus, dass der Zug sicher auf den Schienen fährt und der/die LokführerIn seine/ihre Arbeit ordentlich macht. Umgekehrt löst das Lenken eines Fahrzeugs seltener Angst aus. Soziophobe Tendenzen (viele Leute) erschweren die Abgabe von Kontrolle zusätzlich. Im oben dargestellten analytischen Rahmen bedeutet Kontrollverlust den Verlust von selbstverständlich vorausgesetzten Sinn- strukturen, auf die man sich verlassen und an deren Geltung man glauben kann. Die ExpertInnen heben drei Formen von Einschränkungen hervor, von denen Personen mit Angststörungen betroffen sind: 1. Generelle Einschränkungen der Aktivitäten und der Handlungs- autonomie: Betroffene gehen weniger außer Haus und verzichten auf Aktivitäten. So lässt sich beispielsweise ein Kinobesuch nicht realisieren, wenn man sich nicht in der Warteschlange anstellen kann, um eine Karte zu kaufen. Diese Personen sind meist in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. Sie ziehen sich zurück, vermeiden Außenkontakte, gehen weniger aus. 2. Einschränkung von Interaktionschancen: Soziale Kontakte werden eingeschränkt, was auch einen Verlust an Ressourcen bedeutet. Betroffene vermeiden Situationen, in denen die „Gefahr“ besteht, angesprochen zu werden. Alltagsaktivitäten, wie das Einkaufen, verschieben sich auf Rand- zeiten. Auch am Verkehr kann nur zu den weniger frequentierten Randzeiten teilgenommen werden. 3. Einschränkungen der Verkehrsteilnahme in zwei Formen: a. Ausweichen auf niederrangige Straßen oder andere Verkehrsmittel: Manche fahren mit dem Auto, weil sie die Menschen in öffentlichen Verkehrsmittel nicht aushalten. Wenn das Autofahren Probleme bereitet, sind sie auf Unterstützung durch Angehörige oder PartnerInnen angewiesen. b. Einschränkung der Routenwahl: Beim Autofahren werden Autobahnen vermieden, weil dort das Stehenbleiben schwierig ist. Orte, wie hoch frequentierte Bahnhöfe, werden gemieden und müssen umfahren werden.

13.2.2 Spezielle Barrieren bei der Verkehrsteilnahme Die Hauptschwierigkeit bei der Verkehrsteilnahme sehen die ExpertInnen in der Bewältigung unvertrauter Situationen. Das können sein:

254 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 Fremde Orte und fremde Wege: Zurechtfinden in nicht vertrauten Gegen- den. Beim Autofahren werden unbekannte Wege vermieden und der Aktionsradius eingeschränkt. Das Neue ist dann selbst eine Barriere: Autobahnen, Überlandfahrten, alles was aus dem gewohnten Bezirk hinaus- geht.  Unvertraute Verkehrsmittel: Mit dem Verkehrsgeschehen bzw. dem Verkehrsmittel nicht vertraut sein.  Unvertraute Situationen: Etwa Fahrkartenverkauf und generelle Unsicher- heit bei Ungewohntem, nicht Alltäglichem.  Mangel an Orientierung und Information: Busfahrpläne können unklar, schlecht lesbar oder nicht nachvollziehbar sein. Ein Beispiel sind Busse mit derselben Nummer, die aber nicht zum selben Ziel fahren. In solchen neuen Situationen müsste der/die Betroffene eventuell um Hilfe bitten (z.B. BusfahrerIn). Jedoch sind in öffentlichen Verkehrsmitteln oft keine Ansprech- personen verfügbar.  Zeitdruck: Zeitdruck verstärkt Ängste, die sich aus Unvertrautem ergeben. Wie bereits festgestellt, benötigen die Betroffenen zur Planung und Durch- führung einer Handlung mehr Zeit und sie können sich auf neue Situationen nicht so schnell einstellen, wie es z.B. beim Wechsel öffentlicher Verkehrs- mittel erforderlich ist.  Das eigene normale Erscheinungsbild: Die Angst, dass diese Unsicher- heiten von anderen VerkehrsteilnehmerInnen wahrgenommen oder erkannt werden, erzeugt zusätzlich Stress.

13.2.3 Konsequenzen durch die Einschränkungen Auch hier lassen sich drei Dimensionen herausstellen, in denen sich Konse- quenzen aus den Einschränkungen bei der Teilnahme am Alltagsleben und am Verkehr ergeben:  Vereinsamung/Isolation: Dies betrifft generell die Teilnahme am sozialen Leben. Das tägliche Leben beschränkt sich oft nur mehr auf die Wohnung und das Wohnumfeld – wo sie zum Teil auch vom Taxi abgeholt werden. Eine Klientin geht kaum aus dem Haus. Sie hat Probleme mit Rolltreppen. Sie fürchtet hinunterzufallen und hat ein starkes Bedürfnis nach ausrei- chender Beleuchtung. Daher geht sie kaum aus dem Haus, was zu Vereinsamung führt. Sie kann dadurch ihren Ängsten nachgehen, diesen Raum und Nahrung geben, was die Verschiebung zu immer angstvolleren Deutungen der Situation und Rückzugstendenzen verstärkt.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 255 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Unflexibilität, was man Erstarren der Idealtypen im Alltag nennen kann, führt zu Isolation. Viele Situationen im Alltag sind unvorhersehbar und erfordern Flexibilität. Die Spontanität, die im Leben immer mehr gefordert wird, wird aus der Sicht einer Expertin als kaum bewältigbare Kluft verstanden, etwa, wenn sich beispielsweise ein Termin verschiebt. Das kann reduzierend auf die Teilnahme wirken. Als Folge nimmt die Zahl der FreundInnen beständig ab: Er oder sie kommt ja nie, man weiß nicht, was los ist. Am Anfang wird noch nachgefragt, aber wenn Informationen ausbleiben, kann es sein, dass sich das soziale Netzwerk auf Familie und enge FreundInnen beschränkt.  Schwierigkeiten im Arbeitsleben: Zu spät kommen führt zu Problemen mit dem/der ArbeitgeberIn. Ist der Besuch einer Betriebsfeier nicht möglich, verliert man möglicherweise den Anschluss an KollegInnen. Es besteht das Risiko der Vereinsamung (siehe oben), wenn man aufgrund der Ängste KollegInnen systematisch meidet. Ein anderes Problem ist die Jobsuche: Wenn Neues und Fremdes eine Schwelle ist, haben Betroffene beispielsweise Probleme mit dem Anrufen und Kontaktieren einer Firma. Teilweise können solche Ängste beim Bewerben überwunden werden, weil alles immer anonymer wird (E-Mail, Online-Bewerbung). Allerdings sind gute Computerkenntnisse die Voraus- setzung dafür. Die Schwelle ist dann das Bewerbungsgespräch. Die eingeschränkte Verkehrsteilnahme betrifft die Arbeitssituation ebenso: Das AMS macht laut Auskunft der ExpertInnen bei vielen KlientInnen großen Druck. Es besteht Unverständnis, wenn sich Arbeitssuchende nicht über den Bezirk hinaus bewerben wollen. Die Betroffenen können ihre Erkrankung vor dem AMS nur sehr zögerlich offenlegen. Unter Umständen erfolgt eine Sperrung, solange kein Befund beigebracht wird. Angesichts der Angst vor Stigmatisierung ist viel Vertrauen notwendig.  Gesundheitliche Folgen: Eine Expertin meint, sie fühle sich auch gesünder, wenn sie aktiver ist. Wenn sie nicht hinausgehen kann, wenn es ihr Probleme macht und alles schwierig ist, beeinflusst das auch ihren allgemeinen Gesundheitszustand. Die verminderte Aktivität führt dazu, dass Personen mit Angststörungen weniger Bewegung und weniger Sport machen. Auch für die psychische Gesundheit sind Isolation und Einsamkeit nicht zuträglich. Darüber hinaus werden Arztbesuche verzögert oder gänzlich vermieden. Gesundheitsprobleme und Isolation verstärken sich gegenseitig (maladaptive coping). Oft können Familienangehörige Hilfe bieten. Bei Zwängen kann ein Krankenhausbesuch aufgrund der Ansteckungsgefahr durch Keime mit großen Ängsten verbunden sein. Notwendige Unter-

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suchungen werden dann aufgeschoben bis es nicht mehr geht. Folgeer- krankungen und Chronifizierung von Krankheiten sind für alleinstehende Personen sehr kritisch. Untersuchungen für Behörden (z.B. Behin- dertenpass, PVA) werden oft nicht gemacht. Eine Folge kann sein, dass Förderungen ausbleiben.

13.2.4 Umgangsstrategien In den ExpertInnengesprächen aus dem Gesundheitsbereich konnten fünf Umgangsstrategien mit Alltags- und Verkehrssituationen identifiziert werden.  Vermeidung/Hinnehmen der Situation: Öffentliche Verkehrsmittel können durch Autofahren oder zu Fuß gehen vermieden werden. Einkäufe können online erledigt werden. Viele Betroffene lernen auch, die Situation der Immobilität „auszuhalten“, da die Angst größer ist als die Vorstellung, man könnte etwas ausprobieren, was weiterhelfen könnte. Vermeidungs- strategien verstärken Rückzugstendenzen, weil sie die Einstellung stärken, dass man die meisten Situationen ohnehin nicht bewältigen kann. Insbesondere neue Situationen (siehe oben) werden vermieden. Die Beschränkung des Aktionsradius ist einfacher, als den Stress auszuhalten, den neue Situationen mit sich bringen. Bei der Arbeitssuche werden Jobs leichter abgesagt oder es wird gar nicht probiert, eine Arbeit anzunehmen, weil das Erreichen des Arbeitsplatzes so schwierig ist. Die Entfernung vom Arbeitsplatz spielt im Vergleich zu gesunden Personen eine viel größere Rolle als der Inhalt der Tätigkeit. Auch das Ausweichen auf andere Verkehrsmittel oder bewältigbare Verkehrssituationen lässt sich in diesem Rahmen verstehen. Beispielsweise fährt eine Klientin nicht mit der U-Bahn, sondern mit der S-Bahn, obwohl das länger dauert. Aber es sind weniger Fahrgäste im Zug und sie kann den Behindertensitzplatz benützen. Insgesamt ist es ruhiger. Dennoch, so meint die Klientin, führt diese Art der Vermeidung zu einem schlechten Gewissen. Darüber hinaus wird in Kauf genommen, dass sich FreundInnen abwenden.  Therapie: Manche Betroffene versuchen, ihre Probleme über Therapie in den Griff zu bekommen, gehen zum Facharzt/zur Fachärztin und lassen sich beraten, wenn sie merken, es geht nicht mehr anders oder sie haben schon in der Nacht Angst vor dem Autofahren.  Bewältigungsorientierung: Statt Rückzug wählen angsterkrankte Personen auch den Weg, sich der Angst zu stellen, beispielsweise, indem sie sich ablenken. Sie versuchen, den Ablauf zu kontrollieren, was in vertrauten Situationen leichter gelingt. Lange Fahrten können durch akribische Planung und Vorbereitung bewältigt werden, was ebenso ein

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Hinweis darauf ist, dass die flexiblen Idealtypen durch weniger flexible Handlungsschemata ersetzt werden müssen. Situatives Adaptieren wird durch genaue Planung ersetzt. Die Änderung des Mobilitätsverhaltens ist immer eine Mischung aus Vermei- dung und Situationsbewältigung. So verwendet ein Klient das Elektrofahrrad, was gut funktioniert. Eine andere Klientin fährt mit dem Zug und meidet U- Bahnen. Sie wendet jedoch ihre Skills an (Gummiringe, Bälle, Zählen). Eine geht viel zu Fuß und findet immer Menschen, die ihr helfen. Sie kann sich das gut organisieren. Selbstablenkung funktioniert oft sehr gut. Es ist wichtig, Selbstverantwortung zu übernehmen und eigene Ressourcen zu erschlie- ßen.  Alkohol und Medikamente: Wenn Betroffene in ihrem Bemühen, die Situationen unter Kontrolle zu halten, nicht weiterkommen, greifen sie oft zu Alkohol und Medikamenten.  Persönliche Unterstützung in Anspruch nehmen: Damit ist beispiels- weise die Begleitung durch PSD-MitarbeiterInnen bei Amtswegen gemeint. Auch das Beantragen von Pflegegeld ist möglich, wobei Pflegegeld bei psychischen Erkrankungen kaum bewilligt wird. Darüber hinaus gibt es Fahrtrainings oder Unterstützung beim Ausdrucken von Fahrkarten.

13.2.5 Die Rolle von konkreten Barrieren Die ExpertInnen wurden gefragt, welche Rolle konkrete Barrieren, die im Rahmen der Studie PHOBILITY identifiziert wurden, bei ihren KlientInnen bzw. PatientInnen spielen. In diesem Abschnitt werden die Barrieren nach dem Grad der Bedeutung, den die ExpertInnen ihnen beimessen, geordnet. Darüber hinaus wird die Begründung ihrer Bedeutung angegeben. Die Bedeutung der jeweiligen Barriere wird nach hoher, mittlerer und niedriger Relevanz angegeben:  bei hoher Relevanz sind sich alle ExpertInnen über die Bedeutung einig,  bei mittlerer Relevanz gibt es verschiedene Meinungen,  bei niedriger Relevanz machen die ExpertInnen keine Angaben oder geben an, dass sie über keine diesbezüglichen Erfahrungen bei ihren KlientInnen berichten können.

13.2.5.1 Kontrolle über den Situationszugang: keine Fluchtmöglichkeit (hohe Relevanz) Das Gefühl aus der Situation nicht flüchten zu können, ist eine große Barriere. Sie wird subjektiv wahrgenommen und kann im Supermarkt genauso auftreten

258 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen wie auf der Autobahn, wenn keine Haltemöglichkeit (Pannenstreifen) besteht. Insbesondere bei Panikattacken, wo eine rationale Interpretation der Situation wegfällt, spielt Fluchtmöglichkeit eine Rolle. In Situationen, aus denen Menschen mit Angststörung nicht flüchten können, verstärkt sich das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. In öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Fluchtmöglichkeit jedenfalls ein großes Problem. Deshalb sitzen viele sehr nahe beim Ausgang.

13.2.5.2 Beengende Räume (hohe Relevanz) Beengende Räume stehen ebenfalls in Zusammenhang mit dem Verlust der Kontrolle über die Möglichkeit, flüchten zu können. Tunnel werden oft vermieden, weil sie über die Enge hinaus hohe Konzentration erfordern. Enge kann auch weit gefasst werden als Angst vor Dichte (Menschenansammlungen) und schnellen Abläufen (Abwicklung an der Kassa). Auch kann Angst vor Automatisiertem bestehen, dessen Abläufe die Person einengen. Aufzüge sind oft ein Thema, warum sich Leute in manchen Büros nicht bewerben können (siehe Schwierigkeiten im Arbeitsleben). Viele KlientInnen berichten über Angst vor engen Situationen: Aufzug, U-Bahn, Tunnel, Auto eher weniger. Enge Gänge mit vielen Menschen machen Angst, wie auch Tiefgaragen – solche Orte können für jeden Menschen beängstigend sein. Andere KlientInnen berichten, dass enge und dunkle Räume ein großes Problem darstellen. Aber auch offene, ungeschützte weite Räume. Der eigene Bereich zu Hause gibt Sicherheit. Sobald sie nach draußen gehen, entsteht Unsicherheit. D.h. nicht nur die Enge, auch das Offene und Weite kann Angst machen. Das Auto, das einen engen Raum darstellt, wird ambivalent gesehen: einerseits ist es eng und andererseits ist es ein eigener, vertrauter Raum, der als schützende Hülle fungiert.

13.2.5.3 Unbekannte Situationen (hohe Relevanz) Fremdheit, also unbekannte Situationen, machen Angst. Schon kleinste Veränderungen können unter Bedingungen von Angst Unsicherheit auslösen, insbesondere, weil die KlientInnen sie als nicht einschätzbar und nicht kontrollierbar erleben. Sie schränken stark ein und sind daher eine große Herausforderung. Eine Klientin berichtet, dass selbst ein neuer Paketdienst schon eine große Unsicherheit auslöst. Personen, die vor der Krankheit gerne reisten, geben das Reisen auf (Verlust von positiv assoziierten Tätigkeiten). Neue Situationen verunsichern, wo stabile Menschen eher mit Neugier reagieren würden. Auch wenn man rational weiß, dass nichts passieren kann (wenn man z.B. in den falschen Zug steigt, nimmt man einfach den nächsten Zug zurück. Man verschwindet ja nicht.) Umgekehrt gibt Wiederholung und alles, was man kennt, Sicherheit. Der PSD macht regelmäßig das Angebot: „Probieren wir es

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 259 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen gemeinsam aus.“ Man kann viel Unsicherheit nehmen, wenn die Situation im Vorfeld besprochen wird. Daher ist die Planbarkeit wichtig. Dieser Gedanke entspricht dem Wiederaufbau der verlorengegangenen sedimentierten Sinn- strukturen. Verunsicherung wird nicht nur durch Fremdheit, sondern auch durch Ähnlichkeit ausgelöst. So kann eine Situationen Ähnlichkeit mit eigenen biographischen Erlebnissen haben (z.B. liest man, dass jemand Selbstmord begangen hat, was an einen eigenen Suizidversuch erinnert).

13.2.5.4 Andere Menschen (hohe Relevanz) Für fremde Menschen gilt zunächst Ähnliches wie für unbekannte Situationen. Betroffene haben Angst vor unangenehmen Begegnungen oder vor Ablehnung. Aus sozialpsychologischer Sicht besteht die Neigung, Begegnungen als unangenehm zu attribuieren und negative Annahmen schon im Vorfeld zu machen. Die Wahrnehmung bei der Erinnerung an Begegnungen wird gefiltert. Umgekehrt werden positive (wertschätzende) Begegnungen nicht als solche erfasst, sondern sie werden eher als Erleichterung wahrgenommen. Daher ist es auch sehr schwierig, sich Unterstützung durch andere Menschen zu suchen und sich auf das Unbekannte einzulassen. Ein Experte beschreibt es nahezu als eine Kulturleistung, in ein volles Fußballstadion hineinzugehen und die Menschenmassen auszuhalten. Für die ExpertInnen ist die Angst vor anderen Menschen nachvollziehbar. Eine Expertin kennt es aus eigener Erfahrung, wenn Fahrgäste in die U-Bahn einsteigen, obwohl andere noch aussteigen wollen, was auf mangelnde Rücksichtnahme hinweist. Oder in der U-Bahn werden z.B. AusländerInnen angepöbelt und man traut sich nichts zu sagen – eine Klientin ist darauf extrem sensibilisiert. Wenn man in öffentlichen Verkehrsmitteln fremden Personen gegenübersitzt, so achten diese im Kontakt nicht auf die Bedürfnisse der anderen. Die Situation vieler fremder Menschen ist darüber hinaus mit sinnlichen Situationseigenschaften, wie Stimmen und Enge, verbunden. Wenn man sich selbst nur unzureichend schützen kann (das entspricht dem weiter oben ausgearbeiteten Typ B), löst es noch viel mehr Ängste aus. Eine Möglichkeit des Umgangs ist die Isolation in der Situation, etwa indem man sich Kopfhörer aufsetzt oder anders ablenkt und die andern nicht mehr wahrnimmt.

13.2.5.5 Keine Kommunikationsmöglichkeiten (mittlere Relevanz) Nicht alle ExpertInnen machen zu diesem Punkt Angaben. Diese Barriere trifft eher für einzelne Personen zu. In der U-Bahn kann man Hilfe holen und

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Fahrgäste ansprechen. Auch über Mobiltelefone kann Unterstützung angefordert werden. Sie bieten darüber hinaus Möglichkeiten der Ablenkung. Kommuni- kationsmöglichkeiten stehen im Zusammenhang mit der Kontrolle über die Situation, wenn Personen Angst haben, in einer Situation keine Hilfe rufen können. Darüber hinaus ist Kommunikation sehr schwierig. KlientInnen müssten von sich aus jemanden ansprechen und z.B. nach dem Weg fragen. Leichter wäre es, wenn jemand auf sie zukommen und helfen würde. Diese Barriere ist daher vor allem dann ein Problem, wenn Betroffene nicht gelernt haben und sich nicht trauen, jemanden anzusprechen. Im öffentlichen Verkehr gibt es immer weniger Personal, an das man sich wenden kann, etwa SchaffnerInnen oder Schalter mit Personal, und es fehlen Orientierungspunkte.

13.2.5.6 Angstorte (mittlere Relevanz) Betont wird die Unterschiedlichkeit von Angstorten. Tiefgaragen, Parks oder Stiegenhäuser sind typische räumliche Strukturen, die Angst machen können. Tiefgaragen können auf dem Niveau, wo man niemanden sieht, Angst einflößen. Meiden kann man Parks und Tiefgaragen, indem man z.B. auf das Hochplateau ausweicht. Man könnte Frauenparkplätze nutzen. Park and Ride-Anlagen sind oft bereits oberirdisch und gut beleuchtet. Solche Einschränkungen lassen sich relativ leicht umgehen. Schlecht beleuchtete Orte, die auf dem Weg liegen, sind beängstigend, ebenso schlecht beleuchtete Unübersichtlichkeit in Stiegenhäuser, mangelnde Orien- tierung durch Erkrankung, schlechte Beschilderung generell und eine dunkle und verwinkelte Bauweise. Angstorte sind eng mit den Themen Kontrolle und Flucht verbunden. Sie sind nicht vertrauenserweckend.

13.2.5.7 Andere, sinnlich wahrnehmbare Situationseigenschaften (mittlere Relevanz) Licht, Lärm und Hitze können als Barriere eine Rolle spielen. Sie sind nach Meinung eines Experten aber nicht auf Angststörungen beschränkt. Helligkeit fördert Sicherheit, Dunkelheit und Fremdheit fördern im Gegenzug Unsicherheit. Hitze und fehlende Klimatisierung, vor allem im Zusammenhang mit engen Räumen, in denen viele Personen sind, können die Angst, keine Luft zu bekommen, auslösen. Hitze kann Stress und damit Angst verstärken. Menschen, die unter Angst leiden, sind oft sehr sensibel. Daher sind sinnliche Situationseigenschaften relevant. So besteht Angst vor Berührung von fremden Menschen, z.B. bei einer Drängelei und Körperkontakt in der U-Bahn.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 261 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Menschen mit Angststörungen können Sinneseindrücke nicht so gut verarbeiten, etwa Lärm, viele Stimmen, Temperatur, usw. Eine Klientin beschreibt sich als durchlässig und dünnhäutig: Sie hält es nicht aus, wenn Menschen zu laut sprechen und viele Stimmen bzw. Menschen auf sie einströmen. Eine andere Klientin meint, sie geht nicht hinaus, weil sie so „dünnhäutig“ ist. Damit sind aus der analytischen Perspektive die Territorien des Selbst und ihre Verletzbarkeit angesprochen.

13.2.5.8 Aggressive AutofahrerInnen (mittlere Relevanz) Für die ExpertInnen ist diese Barriere vorstellbar und sie kann manche ängstigen, aber sie kommt in der Praxis selten vor. Routinierte AutofahrerInnen reagieren gelassener auf Drängeln, weichen aus oder rücken an den Rand. Es muss alles sehr schnell gehen und es ist wenig Zeit. Auf der Straße muss man sich behaupten können. Wenn man ängstlich ist, fährt man langsamer – dann wird es noch stressiger. Ängstliche FahrerInnen empfinden sich oft selbst als Hindernis für den Verkehr. Sie haben Angst stehen zu bleiben, Angst vor eigenem unsicherem Fahren und Angst jemanden anzufahren. Autobahnfahrten sind schwierig, da Menschen mit Angst langsamer fahren und länger brauchen, um sich zu orientieren. Die Betroffenen beziehen Beschimpfungen, die oft sehr persönlich ausfallen, sehr oft auf sich und dadurch verstärkt sich die Verunsicherung. Unsicherheit beim Parken vermehrt die Unge- duld der anderen.

13.2.5.9 Aggressive BusfahrerInnen (mittlere bis geringe Relevanz) In einem vollen Bus, in dem es keinen Sitzplatz gibt, kann ruppiges Fahren die Angst verstärken. Angsterkrankte bemühen sich oft nicht um einen Sitzplatz in einem vollen Bus. Sie können kaum stehen und erleben das als Stress und zugleich wird die Fahrt ruckartig erlebt, weil sich die Personen oft nicht hinsetzen. Eine Expertin hat Erfahrung mit einer Klientin beim Üben von Busfahrten. Die Klientin klammerte sich fest. Sie hatte Angst, dass etwas wegrutscht und machte sich Sorgen, ob sie überhaupt aussteigen kann.

13.2.5.10 Lange Fahrten (mittlere bis geringe Relevanz) Lange Fahrten sind bei Zwängen sehr unangenehm und oft nur in Begleitung möglich. Bei öffentlichen Verkehrsmitteln ergibt sich beim Umsteigen die „Gefahr“ interagieren zu müssen. Ein Problem langer Fahrten ist Pünktlichkeit: KlientInnen, die beispielsweise in die Reha kommen, fürchten, dass sie zu spät kommen. Sie sind dann z.B. schon 1,5 Stunden vorher da, da sie Angst haben, auf dem Weg Zeit zu verlieren. Wege,

262 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen die nicht gut vorausgeplant werden können, sind belastend, etwa Staus oder Gebrechen bei öffentlichen Verkehrsmitteln. Drei ExpertInnen ist dieses Problem noch nicht untergekommen. Ihrer Ansicht nach könnten lange Fahrten auch beruhigend wirken, aber es kann alles ins Gegenteil kippen. Schwierig sind lange Fahrten auch, wenn keine Pausen möglich sind.

13.2.5.11 Offene, weite Räume (geringe Relevanz) Zwar spielen Plätze und Menschenansammlungen eine Rolle, aber die ExpertInnen meinen eher, offene, weite Räume haben keine Relevanz oder sie haben von ihren KlientInnen diesbezüglich noch nichts gehört.

13.3 Bedarfssondierung

In diesem Teil wird der Bedarf eingeschätzt, den die ExpertInnen hinsichtlich der Unterstützung von Menschen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen aus- machen.

13.3.1 Unterstützungsmöglichkeiten Die ExpertInnen sehen Unterstützungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen. Insgesamt lassen sich sieben Bereiche ausmachen.

13.3.1.1 Ausbau des Verkehrsangebots Insbesondere im ländlichen Bereich könnte das Angebot öffentlicher Verkehrsmittel ausgebaut oder durch gemeindefinanzierte Taxis unterstützt werden. Das mobile Angebot sozialer Einrichtungen (z.B. PSZ-Bus) sollte ebenso ausgebaut werden. Bei Firmen könnte auch Taxifahren interessant sein (geringer Unkostenbeitrag bei größeren Konzernen).

13.3.1.2 Situationsgestaltung und Barrierefreiheit  Eigenes Abteil: Analog zum Frauenabteil, wie es in einigen Ländern existiert, wäre ein eigenes Abteil für kranke Personen denkbar.  Rückzugs- und Sitzmöglichkeit: Darüber hinaus könnten Sitzplätze, die für Menschen mit Behinderung vorgesehen sind, auch von anderen Personen (z.B. mit Angststörung) genutzt werden.  Bessere Beleuchtung: Insbesondere von dunklen Arealen, um Sicherheit zu geben.  Ausbau von Gehsteigen und Radwegen

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 263 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 Kameras: Viele Leute fühlen sich sicherer, wenn Kameras die Situation überwachen.

13.3.1.3 Ausbau therapeutischer Unterstützung Betroffene müssen zunächst ihre Probleme zugeben lernen, dann können therapeutische Angebote greifen. Mehr Therapieplätze auf Krankenschein wären erforderlich. Durch personenzentrierte Arbeit lässt sich eine Besserung der Situation erreichen. Therapieangebot wird auch kritisch gesehen, wenn es nur darum geht, Menschen schnell „funktionierend“ zu machen. Ein anderes Problem bezieht sich auf Informationen zur Therapie: Man bekommt Psychotherapie empfohlen (bei einem Psychiatrieaufenthalt), aber man wird nicht informiert, wie man zu einer Therapie kommt. Das Prozedere ist oft schwierig für PatientInnen. Auch (ambulante) Ergotherapie wäre ausbaubar und leichter zu finanzieren als Psychotherapie.

13.3.1.4 Motivationale Bewältigungsorientierung stärken Hier ist vor allem gemeint, dass Personen durch ihre Krankheit nicht die Fähigkeit der Verkehrsteilnahme verlieren.  Skills-Training: Eine klassische verhaltenstherapeutische Maßnahme, in der mit den Personen Wege abgegangen werden.  Ansprech-Training: Man muss den Mut entwickeln, jemanden anzuspre- chen. Auch diese Fähigkeit lässt sich über verhaltenstherapeutische Maßnahmen erwerben.  Unterstütztes Fahrtraining und Begleitung: Beim Autofahren wäre ein Fahrsicherheitstraining speziell für Menschen mit psychischer Erkrankung vorstellbar. Wenn Betroffene in ländlichen Gegenden wohnen und auf das Auto angewiesen sind, ist diese Maßnahme sehr zielführend. Das Training gibt wieder Sicherheit: Traut man es sich zu, eine mit Schnee bedeckte Fahrbahn zu benutzen oder wie geht man mit Dränglern um. Solche Trainings muss nicht immer ein(e) TherapeutIn durchführen, sondern diese Aufgabe können auch geschulte Laien übernehmen, etwa Sozial- begleiterInnen. Davon gibt es aber viel zu wenig. Der Einsatz von TherapeutInnen erhöht die Kosten und deswegen wäre insbesondere der ehrenamtliche Bereich auszubauen.  Sicherheitsseminare: Flugfirmen bieten oft Seminare für Flugangst an. Eventuell sollte es ähnliche Seminare für Busse/Öffis geben. Man erhält Einblick in die FahrerInnenkabine, lernt, dass Türen zuverlässig aufgehen etc.

264 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 Organisation von Selbsthilfe: Selbsthilfe, die analog zum „Bündnis gegen Depression“ aufgebaut ist, ist für die ExpertInnen gut vorstellbar. Fahrge- meinschaften könnten auf diese Weise organisiert werden, um zur Arbeit oder zu FreundInnen zu kommen. Der Aktionsradius lässt sich erweitern, ohne auf die Hilfe von PartnerInnen oder Verwandten angewiesen zu sein. Elemente der Organisation von Selbsthilfe sind abwechselndes Fahren, Feedback, gegenseitige Unterstützung und Arbeitsteilung (eine(r) fährt, der/die andere navigiert, oder eine(r) bringt den Proviant mit, eine(r) wählt die Musik aus). Bei der Selbsthilfe geht es um den Ausbau von Stärken.

13.3.1.5 Technische Unterstützung Hier könnten sich die ExpertInnen beispielsweise Sensoren am Auto vorstellen, die melden, wenn man wo streift.

13.3.1.6 Kommunikation und personelle Unterstützung  Rasche, persönliche Hilfe: Alarm auszulösen ist zwar gut – wichtig ist aber, dass jemand sofort reagiert, dass jemand direkt angesprochen werden kann.  Mobiltelefon: Ist als Kommunikationsmittel sehr wichtig – kann aber auch wiederum Panik hervorrufen – was tun, wenn das Handy nicht da ist?  Ansprechperson: SchaffnerInnen gibt es nicht mehr und sie wären auch nicht die richtigen AnsprechpartnerInnen. Eine Alternative wären Peers oder Fahrgäste. Eine eigene Ansprechperson im Zug/Bus ist sicher nicht möglich. Dennoch könnte der/die BuschauffeurIn solchen Personen raten, sich nicht in die letzte Reihe zu setzen.

13.3.1.7 Jobanforderungen Bei Bewerbungen wird oft ein Führerschein vorausgesetzt, der dann gar nicht unbedingt notwendig ist, da der Arbeitsplatz auch anders erreichbar ist.

13.3.2 Unterstützungsbedarf Die ExpertInnen sehen Unterstützungsbedarf in allen Bereichen, wo sie auch Möglichkeiten der Unterstützung gefunden haben. Die Bereiche wurden in ähnlicher Weise gruppiert. Darüber hinaus wird vor allem der Bedarf an Aufklärung und Entstigmatisierung betont. Im Detail wurden folgende Bereiche aus den Antworten herausgearbeitet:

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 265 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.3.2.1 Stärkung der Bewältigungsorientierung  Skills-Training  Selbsthilfegruppen: Es gibt Angstselbsthilfegruppen, die sich eventuell zusammenschließen und Ideen entwickeln könnten, was für sie gut und sinnvoll wäre.  Mobilitätsschulungen: Schulungen sollen bewirken, dass die Situationen einladender wahrgenommen werden. Mehr mit den erkrankten Personen sprechen, etwa über Bus- und Zugfahren. Die betroffenen Personen müssen begleitet werden und sie müssen die Verkehrsteilnahme üben, damit sie mehr Sicherheit bekommen.

13.3.2.2 Ansprechpersonen und Mobilitätsassistenten In stark frequentierten Stationen, wie z.B. dem Westbahnhof und dem Stephansplatz, wäre es gut, wenn es Angestellte gibt, die angsterkrankte Personen begleiten könnten (MobilitätsassistentInnen). Diese Maßnahme ist auch für körperlich Behinderte sinnvoll. Auch sollte Unterstützung durch SozialarbeiterInnen leichter zugänglich sein. Wenn man nicht beim PSD ist, hat man keine Chance zu einem/einer SozialarbeiterIn zu kommen. Diese sind oft sehr wichtig, um an Informationen zu kommen. Es bräuchte mehr nieder- gelassene SozialarbeiterInnen, TherapeutInnen und PsychiaterInnen. Gesundheitszentren, in denen man verschiedene Angebote und Dienst- leistungen an einem Ort gebündelt findet, wären sinnvoll.

13.3.2.3 Niederschwellige Unterstützung/Arbeitsassistenz Im Arbeitsbereich ist die Arbeitsassistenz vermehrt vor Ort in den Betrieben und in gemischten sozialökonomischen Betrieben. Dort kann die Teilnahme am sozialen Leben geübt werden.

13.3.2.4 Therapieangebot ausbauen Fast alle ExpertInnen fordern Therapieplätze für Psychotherapie und Ergotherapie auf Krankenschein: Da nicht jede Methode für jede(n) geeignet ist, sollten mehr Wahlmöglichkeiten bestehen. Dennoch ist das Wahrnehmen und Erkennen der (Angst)Situation ein guter Anfang und damit beginnt oft schon die Verbesserung. Reha-Angebot wird zwar derzeit ausgebaut, die Betroffenen warten aber sechs bis acht Monate auf einen Platz. In dieser Zeit verstärkt sich dann meist die Erkrankung. Bei Arbeitssuche ist dann das lange Warten auf einen Reha-Platz nicht förderlich.

266 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.3.2.5 Sichtbarkeit im öffentlichen Raum Blinde erkennt man durch Blindenstab, psychisch kranke Personen nicht. Es wäre zu diskutieren, ob es sinnvoll wäre, solche Menschen für andere „erkennbar“ zu machen. Für einen Teil der Betroffenen wäre das eine Unter- stützung. Aber öffentliche Erkennbarkeit kann genauso zu einer Stigmatisierung führen.

13.3.2.6 Aufklärung und Entstigmatisierung Das Sichtbarmachen von psychisch kranken Personen löst oft die Angst vor Stigmatisierung aus. Dies ist aus Sicht der ExpertInnen nicht unbegründet. Es fehlt in der Öffentlichkeit nach wie vor an Aufklärung: Man muss einfach weitermachen mit Aufklärungskampagnen und Antistigma-Kampagnen. Alle Altersgruppen sollten angesprochen werden. Beispiele dafür sind:  Schulungen zur Sensibilisierung für MitarbeiterInnen der Verkehrsbetriebe.  Gesundheitsdienstleister, öffentliche Hand: Werbung kann hier ein wichtiges Thema sein. Mehr Offenheit der Firmen beim Bewerben.  Zivilcourage und Hilfsbereitschaft stärken. Früher war es eher üblich zu fragen: „Brauchen Sie etwas?“. Unwissenheit ist oft verantwortlich dafür, dass Konflikte entstehen.  Mehr Informationen, Leute wissen oft noch sehr wenig über psychische Erkrankungen: Wie ist es mit Ängsten und Zwängen? Das würde viel helfen, dann wären sie offener und nicht so ablehnend.

13.3.2.7 Situative Maßnahmen In diesem Bereich, der banale Fragen des Lebens betrifft, könnte mehr passieren. Beispiele hierfür sind:  Ampelschaltungen: Wie kommt man über die Straße, wenn diese kurz geschaltet ist?  Schilder wie „Bitte nicht mit dem/der FahrerIn sprechen“ schrecken ab  beleuchtete Parkplätze  sichere Parkplätze oder Frauenparkplätze sind zwar gut, aber es sollte generell darauf geachtet werden, dass diese für alle sicherer sind (Beleuch- tung, Bewachung)  Gestaltung der Sitzplätze: mehr Einzel- und Zweierplätze

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 267 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.3.2.8 Technische Maßnahmen Hier wurden Apps auf Handys genannt, die neben einer Ablenkung auch Informationen, beispielsweise über Fahrtstrecken, Staus, Umleitungen etc. bieten. Dadurch kann die Selbstwirksamkeit der Betroffenen gestärkt werden.

13.3.3 Einschätzung der Wirksamkeit von Maßnahmen In einem nächsten Schritt wurden die ExpertInnen gebeten, Maßnahmen, die aus den Einzelfallstudien herausgearbeitet und verallgemeinert werden konnten, zu bewerten und zu kommentieren. Ähnlich wie bei der Rolle konkreter Barrieren, werden die Maßnahmen nach ihrer Wirksamkeit gegliedert in sehr wirksam (alle ExpertInnen sind einer Meinung), teilweise wirksam (verschiedene Meinungen) bis eher unwirksam (auch hier sind ExpertInnen einer Meinung).

13.3.3.1 Selbstablenkung und Selbstmanipulation (sehr wirksam) Die ExpertInnen halten sehr viel von Selbstablenkung und Selbstmanipulation, außer im Zusammenhang mit dem Autofahren. Alle Methoden, bei denen Selbstwirksamkeit gestärkt wird, sind hilfreich. Wichtig ist, dass damit auch Verantwortung für eigenes Handeln übernommen wird und sich gezielt mit den eigenen Ressourcen auseinanderzusetzen: Was gelingt gut, was kann ich gut, was kann ich mir mitnehmen? Selbstmanipulation erhält so ein therapeutisches Moment, weil es die Handlungsfähigkeit zurückgibt. Folgende Möglichkeiten wurden angesprochen:  Umgebung Beobachten: Die Umgebung zu beobachten ist wirksam im Zusammenhang mit Achtsamkeitstraining. Das kann hilfreich sein im Zug oder Bus, um den Fokus von sich selbst wegzulenken. Zugleich kann versucht werden, sich auf ästhetische Erlebnisse zu konzentrieren (schöne Umgebung). Dann wird das Beobachten der Umgebung ein Anreiz und mehr als nur etwas Selbstverständliches, um von A nach B zu kommen. Manchmal lassen sich angsttypische Symptome damit schwächen, weil die Konzen- tration auf beschleunigten Atem oder Hitzewallungen und Schweißausbrüche diese Prozesse noch verstärkt.  Musikhören: Hilft, um bei sich zu bleiben, insbesondere in Situationen, in denen viele andere Menschen anwesend sind. Musik hören (Lieblingsmusik) kann darüber hinaus beim Schaffen einer vertrauten Umgebung hilfreich sein.  Lesen: Geht in öffentlichen Verkehrsmitteln. Lesen kann eine gute Beschäf- tigung und eine gute Ablenkung sein.

268 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 Bewegung und bewegungstherapeutische Maßnahmen: Bewegungen finden, die stabilisieren und die zugleich so dezent sind, dass man sie in der Öffentlichkeit ausüben kann. Bewegung kann beim Warten auf den Bus hilfreich sein, um Nervosität abzubauen.  Alkohol (und Rauchen) (wirksam, aber problematische Konsequenzen): Rauchen und Alkoholkonsum sind wirksam aber nicht ideal, weil es nur eine kurzfristige Wirkung hat und die Angst nach Abklingen der Wirkung verstärkt wird: Damit besteht die Gefahr von Abhängigkeit.  Medikamente: Schon das Wissen, dass man sie bei sich hat und im Notfall einsetzen kann, ist hilfreich. Disziplinierter Umgang und eine gute Einschulung sind erforderlich. Medikamente sind dann sinnvoll, wenn die Ängste so groß sind, dass man kaum schlafen kann oder nicht aus dem Haus gehen kann, um generell mehr Ruhe zu bekommen, mehr Schlaf zu bekommen oder mehr Energie zu haben. Beim Autofahren ist die Frage, unter welcher Medikation das Fahren noch erlaubt und möglich ist.  Gummiband: Diese Maßnahme ist für manche hilfreich, wird aber dann oft bei unmittelbarer Angst vergessen. Es funktioniert, wenn die Personen Warnsignale spüren. Es hilft beim Unterbrechen der „Zwangsgedanken- spirale.“  Bewusstes Desensibilisieren: Wird als sehr gute und hilfreiche Maßnahme bewertet. Man kann diese Maßnahmen zuerst mit einer anderen, vertrauten Person gemeinsam üben und im nächsten Schritt alleine durchführen. Man sollte in kleinen Schritten arbeiten.  Tagesverfassung: Kann man sich leider nicht aussuchen und viele Arbeitsstrukturen können darauf keine Rücksicht nehmen. Vor- und Nachteile, wenn man z.B. immer von der Tagesverfassung abhängig ist, gehe man vielleicht nie zum Kurs. Hier ist eine Therapie sicherlich unter- stützend, um unabhängig von der Tagesverfassung aus dem Haus gehen zu können und den Kurs besuchen zu können.  Strukturierter Tagesablauf: Wird von einer Expertin als wichtig eingestuft.  (Magische) Sicherheitsmaßnahmen und Gegenstände: Zwang ist auch eine Kontrollmaßnahme. Magische Gegenstände kommen im Alltag häufig vor, weil sie Sicherheit geben. Auch gesunde Personen machen von ihnen Gebrauch. Eine Trinkflasche bei sich zu haben bewirkt: (1) Sicherheit für sich, (2) Vertrautes schmecken in einer möglicherweise nicht so vertrauten Situation, (3) sich zwischendurch „sicher zu fühlen.“ Magische Gegenstände sind wirksam und ihr Gebrauch ist individuell anpassbar. Zwänge könnten durch diese Maßnahmen aber auch verstärkt werden, da ist ein Experte skeptisch.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 269 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.3.3.2 Ablenkungsangebot (teilweise wirksam) Da für jeden etwas Anderes ablenkend wirkt, ist es nicht leicht, ein allgemeines Angebot zu gestalten. Man sitzt in der U-Bahn und wird vielleicht über den Bildschirm mit etwas Unangenehmem konfrontiert (Überforderung, Reizüber- flutung). Ablenkungsangebot ist eine gute Sache, wenn dieses individuell gestaltbar ist.  Bildschirme: Bildschirme, wie man sie z.B. von Zahnarztpraxen oder U- Bahn-Stationen kennt, sind sicher geeignet. Geräuschlose Bildschirme sind eine gute Idee.  Tiere: Auch Tiere bieten Ablenkung und geben Sicherheit, etwa ein Hund beim Spazierengehen.

13.3.3.3 Situationsgestaltung (Mikro- und Makroebene) Die Gruppe der Maßnahmen, die sich auf Verkehrssituationen beziehen, bewerten die ExpertInnen als positiv, aber nicht durchgängig. Sie sollen hier im Detail dargestellt werden:  Stützpunkte auf dem Weg (sehr wirksam): Stützpunkte geben Sicherheit und werden daher als wirksam eingestuft. Es darf aber nicht vergessen werden, die Wege zu erweitern – auch unbekannte Wege zu gehen. Infopoints auf Bahnhöfen, die zumindest zu den Hauptzeiten besetzt sind, wären hilfreich. Sprechanlagen in der U-Bahn sind sinnvoll und es ist auch eine gute Selbsthilfe-Methode: Wo kann man sich hinwenden, z.B. Rettung als Stützpunkt, Notrufsäule auf Autobahn. Auch Hinweisschilder auf Stützpunkten können Sicherheit geben.  Einfache, geführte Wege (sehr wirksam): Sie sind hilfreich, weil Orientierung auch Sicherheit bedeutet (man kann sich nicht leicht verirren). Außerdem bringt es die Betroffenen nicht in die Situation, fremde Personen ansprechen zu müssen, um nach dem Weg zu fragen. Auch eine klare Kennzeichnung und eine gute Beschilderung sind eine gute Intervention, ebenso ist eine Wegskizze hilfreich. Damit wird abschätzbar, wohin man geht und wie lange der Weg ist und man verirrt sich weniger leicht. Leitlinien und Leitsysteme (Karlsplatz) können ebenfalls Sicherheit geben.  Ästhetische Gestaltung (teilweise wirksam): Auf der einen Seite gut, weil sich ansprechende Gestaltung, Licht und Begrünung positiv auswirken. Eine schäbige Umgebung kann Zwänge auslösen oder zumindest verstärken. Warteräume im öffentlichen Bereich sind so konzipiert, dass sie Sicherheit vermittelt. Sie sind in der Regel warm, geräumig und hell (ästhetische Gestaltung). Andererseits sprechen einige ExpertInnen dieser Maßnahme

270 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

keine Wirkung zu, zumindest keine spezifische. Helle und saubere Orte sind für alle hilfreich.  Fluchtmöglichkeit (sehr wirksam): Sollte gekennzeichnet werden, daher ist eine Beschilderung wichtig. Man kann persönlich daran arbeiten, wie Flucht in einer Paniksituation möglich ist. Problematisch ist es auf Auto- bahnen, wo keine Pannenstreifen verfügbar sind. Auch bei Staus oder bei der Bildung einer Rettungsgasse ist eine Flucht schwierig oder unmöglich. Man beobachtet, dass in Straßenbahnen die Einzelplätze am begehrtesten sind. Man will auch nicht in Kontakt kommen. Hilfreich ist, wenn man vorher weiß, wo sich Fluchtmöglichkeiten befinden und wo Orte sind, an denen man eine kurze Auszeit nehmen kann.  Rückzugsmöglichkeit (sehr wirksam): Die Rückzugsmöglichkeit ist sehr eng mit der Fluchtmöglichkeit verbunden. Schon ein Raum, der als sicher empfunden wird, könnte helfen. Eine Expertin erwähnt auch in diesem Zusammenhang Waggons für Frauen. Man müsste aber länger darüber nachdenken, was das sein soll. In Zügen wird ein eigenes Rückzugsabteil nicht umsetzbar bzw. leistbar sein. Man müsste erproben, ob so etwas Sinn ergibt und untersuchen, wer, abgesehen von der Zielgruppe, diese Möglichkeiten nutzen würde. Wenn man einen solchen Ort definiert, wo sich Personen hinwenden bzw. treffen könnten, nutzen ihn einige, während andere sagen: „Genau dort, will ich nicht hin.“ In Zügen könnte das WC einen Rückzugsort darstellen. Das WC ist vielleicht nicht so gemütlich, aber man nimmt sich aus der Situation heraus und kann nach einer kurzen Verschnaufpause wieder hineingehen. Wenn es keine Rückzugsmöglichkeit gibt, wie in der U-Bahn, muss man aussteigen. Bei solchen Orten kommt es auch auf die ästhetische Gestaltung an, damit sie entspannend wirken können.  Bedienerleichterung beim Auto (teilweise wirksam): Bedienerleich- terungen sind im Kontext von Angst vor einem Unfall sinnvoll. Die Strecke müssen sie aber trotzdem fahren. Autofahren kann aber selbst schon eine Ablenkung sein und weniger Tätigkeit könnte dazu führen, dass sich die Person wieder mehr auf die Problematik konzentriert, was wiederum eher eine Panikattacke provozieren könnte. Wahrscheinlich ist die Wirksamkeit sehr subjektiv. Überhaupt stellt sich die Frage, ob das Autofahren unter starker Angst gut ist. Eine Expertin bringt diese Maßnahme nicht in Zusammenhang mit Angststörungen. Aber sie könnte wirksam sein, weil sie Stress reduziert und man weniger nachdenken muss.  Notbremse (teilweise wirksam): Ist ein zweischneidiges Schwert. Ein Experte empfiehlt andere Alternativen zu erarbeiten, da man sich genau

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 271 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

rechtfertigen muss, wenn man diese zieht. Zudem ist die Notbremse eine radikale Handlung für eine Ausnahmesituation. Das traut man sich ja gar nicht. Darüber hinaus ist relevant, mit welcher Strafe man zu rechnen hat, wenn man die Notbremse betätigt. Andere ExpertInnen finden die Maßnahme sehr gut und wären auf diese Idee nicht gekommen. Nicht nur die Notbremse, sondern auch eine Gegensprechanlage wird gefordert. Dass eine „Notbremse“ da ist, gibt schon ein gutes Gefühl (Sicherheitsmaß- nahme).  Fahrtinformationen (sehr wirksam): Sie würden auf jeden Fall helfen. Auch wenn man als gesunde Person nicht jede Ansage hören muss: Für unsichere Personen ist das sicher hilfreich. Ganz wichtig ist es, Menschen mit Ängsten darauf vorzubereiten und sie anzuleiten, zu motivieren, zu aktivieren. Manche Apps, etwa die der Wiener Linien, sind nicht so einfach. Jüngere KlientInnen können mit Apps oder Navigationssystemen umgehen. Daher sind sie gut geeignet für diese Zielgruppe. Klassische Fahrpläne sind nicht gut lesbar und auch da helfen Apps. Telefonische Informationen sind sehr gut, z.B. wenn ein Zug fährt und der Plan nicht gelesen werden kann. Personen sind aufgeregt, welcher Zug der richtige ist, was man im Fall einer Verspätung tun kann usw. Durchsagen wären auch sehr sinnvoll, wenn man genaue Information über Wartezeit oder über Alternativen erhält, wenn ein Zug ausfällt. Navigationssysteme können beim Autofahren und zu Fuß gehen hilfreich sein. Plan lesen ist nicht immer für alle leicht. Wenn man sich einen Weg vorher ansehen kann, vermittelt das Sicherheit.

13.3.3.4 Personen, die Sicherheit geben (sehr wirksam) Personen, die man um Auskunft fragen kann, etwa nach dem Fahrplan oder Alternativmöglichkeiten, werden als wichtig wahrgenommen. Sie geben Sicherheit: Da ist jemand im Waggon, wenn es einem nicht mehr gut geht, an den man sich wenden kann. Das ist einer der wichtigsten Punkte im Zusammenhang mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Personen sollten gut erkennbar sein. Vielleicht könnte man ein Begleitservice zumindest für Stoßzeiten (z.B. Zivildiener) anbieten. Man kann mit ihnen Wege üben, da wäre noch viel möglich und auch dieses Angebot gibt Sicherheit. Darüber hinaus fördert es die Autonomie. Begleitpersonen könnten auch andere Aufgaben übernehmen, z.B. die Begleitung von Kindern, wenn sie später am Abend mit dem Zug fahren und sonst vielleicht nur noch drei weitere Personen im Abteil sitzen.

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Wenn jemand für Auskünfte zuständig ist, muss keine fremde Person gefragt werden. Die ExpertInnen kritisieren, dass es kaum noch SchaffnerInnen und BahnvorsteherInnen gibt. Man muss da schon sehr selbstständig agieren. Auch nette BusfahrerInnen sind schwer zu finden.

13.3.4 Kommentare zu konkreten Vorschlägen aus den Fallstudien hinsichtlich Wirksamkeit und Möglichkeit der Umsetzung Zum Abschluss der Bedarfssondierung wurden den ExpertInnen noch einige konkrete Maßnahmen aus den Einzelfallstudien vorgestellt, um sie hinsichtlich der Wirksamkeit und der Umsetzbarkeit zu kommentieren.

13.3.4.1 „Panikraum“ Rückzugsmöglichkeiten sind wirksam, aber sie müssen wegen der Stigmati- sierungsgefahr gut durchdacht werden. Eine Möglichkeit besteht darin, eine weniger stigmatisierende Bezeichnung zu finden. Ein eigener Waggon ist schwer vorstellbar. Vielleicht verstärkt so ein Ort das Gefühl der Panik. Ein Panikraum ist übertrieben, aber so etwas, wie ein Erste-Hilfe-Raum ist denkbar. Die Umsetzung eines solchen Raums wird als schwierig gesehen, obwohl der Speisewaggon einen solchen Raum darstellen könnte.

13.3.4.2 Alarmknopf Der Alarmknopf wird als wirksam gesehen. Optimal wäre es, wenn es zwei oder drei Arten gäbe. Ein Alarmknopf ist sehr dramatisch und entsprechend hoch ist die Hemmschwelle bei seiner Verwendung. Es müsste ein Knopf sein, dessen Betätigung klar geregelt ist. Insbesondere muss seine erlaubte Nutzung deutlich gekennzeichnet sein. Wann würde seine Verwendung bestraft werden? Das verursacht Kosten. Die Umsetzung ist fraglich, weil nicht klar ist, wer zuständig ist und wie viele Ressourcen sein Betrieb bindet. Es stellt sich auch die Frage, wo er sein sollte. Alarmsäulen auf der Straße sind schwierig zu realisieren. Im Bus sind die FahrerInnen nicht so weit weg. Die Missbrauchsgefahr lässt sich nicht gut einschätzen. Der Knopf kann hilfreich sein, wenn man weiß, wo er ist und wenn er nicht unbemerkt gedrückt werden kann. Eine Expertin hält den direkten Kontakt mit dem/der FahrerIn für besser, dann kann er/sie beim Fahren aufpassen oder Hinweise geben, wann man aussteigen muss. Gespräche sind sinnvoller als der Alarmknopf. Insgesamt ist es eine gute Idee, die eventuell leichter umzusetzen wäre. So etwas Ähnliches gibt es auch schon.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 273 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.3.4.3 Ästhetische Gestaltung einer Verkehrssituation (Autobahnraststätte) Die Maßnahme wird insgesamt als sehr gut und wirksam beschrieben. Neu errichtete Autobahnraststätten sind sauber und man kann dort jederzeit aufs WC gehen. Sie sind ein Anreiz, mit dem Auto auf der Autobahn zu fahren. Farben, Licht und liebevolle Gestaltung können zum Wohlfühlen beitragen.

13.3.4.4 Videoüberwachung Videoüberwachung ist umstritten. Sie ist zwar umsetzbar, aber die ExpertInnen bezweifeln, ob sie hilft. Wenn man unter Verfolgungswahn leidet, sind Kameras sicherlich ein Problem. Andere können der Videoüberwachung etwas abgewinnen, zumindest, wenn durch Schilder darauf hingewiesen wird, dass ein Bereich überwacht wird. Teilweise gibt es das schon und diese Form der Überwachung wird auch ausgebaut.

13.3.4.5 Beruhigende Durchsagen Informationen mittels Durchsagen können in Verkehrssituationen beruhigend wirken (z.B. Hinweise, wie lange ein Baustellenbereich auf der Autobahn noch ist (Kilometer herunterzählen). Zu viel Information (Reizüberflutung) ist allerdings nicht gut. Die Maßnahme ist einfach umsetzten und wäre nicht nur für psychisch kranke Personen, sondern auch für TouristInnen sinnvoll. Wichtig ist auch hier die Gestaltung: Spezielle Stimmen werden ausgewählt, die ein gutes Feedback bekommen. Klare, beruhigende, informative Durchsagen sind wichtig.

13.3.4.6 Geschultes Personal Die Idee wird positiv aufgenommen. Eine erkennbare Person, an die man sich wenden kann, gibt Sicherheit. Dieses Personal muss auf Menschen zugehen können und darf dabei nicht aufdringlich wirken. Das Personal muss geschult sein, welche Ängste auftreten können und wie man mit ihnen umgeht. Die Umsetzbarkeit ist allerdings vom Geld abhängig und sie lässt sich nicht flächendeckend durchführen.

13.3.4.7 Kommunikationsmöglichkeiten Eine Sprechanlage muss einfach zu bedienen sein. Diese Idee ist umsetzbar. In Aufzügen gibt es solche Anlagen, aber das erleichtert nicht die in ihnen erlebte Beengung. In der Regel meldet sich bei Betätigung immer jemand. Sprechanlagen sind auch wichtig, wenn FahrerInnen weit weg sind. Sie müssten gut beschriftet und zugänglich sein. Es ist sehr wichtig, dass man im Notfall mit jemanden reden kann. Da kann man noch mehr machen.

274 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.3.4.8 Aufklärung/Schulung der Fahrgäste Eine allgemeine Aufklärung der Bevölkerung wäre wichtig und sollte sich daher nicht nur auf die Fahrgäste beschränken. Das Bewusstsein über die Problematik verändert auch den Umgang damit. Das Bündnis gegen Depression geht so einen Weg. Aufklärung wirkt entstigmatisierend und das erleichtert den Betroffenen auch, sich anderen Menschen anzuvertrauen. Aufklärung lässt sich durch Artikel in Gratiszeitungen, vielleicht auch mit Plakaten, relativ einfach realisieren. Allerdings kann man die Rezeption nicht gut steuern. Die ExpertInnen halten die Schulung des Personals für mindestens genauso wichtig. Man findet bei den ExpertInnen auch die Meinung, dass es immer noch zu wenig Information über psychische Erkrankungen gibt, die über Medien vermittelt werden.

13.3.4.9 Computersimulation einer unbekannten Strecke Diese Maßnahme wird als sehr gut empfunden, technisches Verständnis voraus- gesetzt und sie ist auch leicht umsetzbar. Sie würde die Handlungsplanung sehr erleichtern, (was sich aus dem phänomenologischen Rahmen dieses Berichts- teils begründen lässt.) Eine Idee wäre, keine komplette Computersimulation zu machen, sondern sich die Strecke mit dem Navi auf einem PC anzusehen, etwa mit Satellitenfotos. Auch die Entwicklung einer App ist denkbar. Angesichts der rasanten Fortschritte in der Computertechnologie, kann man hier bestimmt viel tun.

13.3.4.10 „FahrerIn hat Angst-Aufkleber“ Diese Maßnahme wird als wirksam beschrieben, aber sie muss auf einer individuellen Entscheidung beruhen. Auch ist der Begriff Angst vielleicht nicht gut gewählt. Personal, das den Aufkleber sieht, muss geschult sein, um richtig zu reagieren. Andere VerkehrsteilnehmerInnen können verstehen, warum eine Person sehr langsam oder unsicher fährt und können sich darauf einstellen. Die Maßnahme ist kostengünstig und fügt zumindest keinen Schaden zu, abgesehen von stigmatisierenden Effekten und es könnte auch sein, dass sich aggressive FahrerInnen genau solche Personen als Opfer suchen, um sie zu ärgern. Eine Expertin berichtet davon, dass sich KlientInnen Fahr-Anfänger-Aufkleber auf das Auto getan haben, was für sie hilfreich war. Auch auf diese Weise wird der Begriff Angst vermieden.

13.3.4.11 Alternativrouten-App Sehr wirksam und gut umsetzbar. Die Maßnahme vermittelt Sicherheit, weil sich Personen, die unter Angst leiden, immer Worst-Case-Szenarien ausdenken. Sie hindern sich selbst an der Teilnahme am öffentlichen Leben, weil sie davon ausgehen, dass das Schlimmste passieren kann, dass man den Weg so nicht

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 275 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen machen kann, wie man geglaubt hat. Wenn man das im Vorfeld durch Alternativen, etwa durch andere Routen, abwenden kann, wäre das sicherlich sehr hilfreich. Die ExpertInnen vermissen eine solche App für die Wiener Linien und meinen, dass es Information, wie man bei einem technischen Gebrechen trotzdem zeitgerecht in die Arbeit kommt, wichtig sind. Ein Problem ist die erforderliche Kompetenz. Eine Expertin berichtet, dass von ihren KlientInnen nur eine dabei ist, die mit einer solchen App umgehen kann, da viele Apps sehr komplex gestaltet sind. Die anderen können höchstens telefonieren oder eine SMS schreiben. Die Bedienung einer App ist sehr anspruchsvoll, wenn diese komplex gestaltet ist.

13.3.4.12 „Angsttaxis“ und Sammeltaxis Hinsichtlich Stigmatisierung gilt dasselbe wie für Aufkleber. In Dubai haben sich Frauentaxis bewährt, das Modell könnte übertragen werden. Bei Taxis ist wichtig, dass sie leistbar sind und im ländlichen Raum wäre die Versorgung ohnehin schwierig. Die ExpertInnen würden auch für ein solches Konzept einen anderen Begriff wählen und sehen verwandte Modelle wie Sammeltaxis und Fahrgemeinschaften als gute Ideen. Das Ausweichen auf ein „Angsttaxi“ wird darüber hinaus als Meideverhalten problematisiert, was zur Stigmatisierung noch hinzukommt. Auf der anderen Seite ermöglicht es den betroffenen Personen hinauszugehen. Sie können die Verkehrsteilnahme üben und werden dadurch autonomer.

13.3.4.13 Fahrscheinmodelle Fahrscheinmodelle sollten sich mehr am Einkommen und nicht an einer Erkrankung orientieren. Die ExpertInnen sind skeptisch, ob das viele Menschen betrifft. Jenen, die über Wochen- oder Monatskarten verfügen, ist das eher gleichgültig. Fahrscheinmodelle sind nicht immer einfach zu verstehen. Sie dürften nicht nur für eine Fahrt gelten, damit das mehrmalige Ein- und Aussteigen keine Probleme macht. Eine andere Idee ist die Förderungen für Sammeltaxis, für Personen, die nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren können. So könnte man Bons für reduzierte Fahrten ausgeben. Hier stellt sich auch die Frage der Finanzierung.

13.4 Herausforderungen

Abschließend wurden die ExpertInnen nach den Herausforderungen gefragt, die sich aus dem Problem der Verkehrsteilnahme von Menschen, die unter Phobien, Angst- oder Zwangsstörungen leiden, ergeben. Die Herausforderungen sehen sie in vier Bereichen:

276 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.4.1 Früherkennung (auch durch die Betroffenen) und frühe Unterstützung Rasche und zielgerichtete therapeutische Angebote, nachdem eine Diagnose gestellt wurde: Die Betroffenen werden oft für ein Jahr vom Kontrollarzt/von der Kontrollärztin krankgeschrieben, bevor sie irgendwelche Maßnahmen machen. Diese werden dann nicht vorgeschlagen, sondern die Betroffenen müssen sie sich selbst hart erarbeiten. Sie müssen von einer Stelle zur anderen laufen, bis sie zur richtigen kommen. In dieser Zeit hätte schon viel an Therapie und anderen Maßnahmen passieren können. Daraus ergibt sich die Gefahr, dass sich der Zustand verschlechtert (Isolation, Angst vor der Angst entwickelt). Betroffene müssen Angst als Erkrankung erkennen, zugeben und Unterstützung suchen. Kompetenzen und Selbstwert stärken Wichtig ist die Stärkung der eigenen Kompetenz. Wenn Betroffene aus einem Zug nicht aussteigen können, muss man ihnen diese Kompetenzen wieder zurückzugeben. Die moderne Leistungsgesellschaft drängt psychisch Kranke schnell an den Rand. Hier kann man die Menschen nur in ihrer Individualität stärken und ihnen zu verstehen geben, dass sie gut sind, wie sie sind, dass sie auch etwas wert sind. Es braucht viel mehr Öffentlichkeitskampagnen und Narrative, die auch psychisch kranke Menschen in normalen zwischenmenschlichen Verhältnissen zeigen. Der Schnelligkeit des modernen Lebens sollte die Einsicht entgegengehalten werden, dass Ruhe, sich Zeit nehmen, wichtig wäre.

13.4.2 Bereitstellen von Unterstützungsangebot Die Schnelligkeit und Komplexität des Verkehrsnetzes, insbesondere im städtischen Raum, machen die Nutzung des Verkehrssystems schwieriger. Mittel für niedrige Nutzungsschwellen sollten zur Verfügung stehen: Unterstützung, Information, Vernetzung, Transparenz des Angebots. Man könnte ein Paket aus niederschwelligen Ideen schnüren und dann einige Dinge ausprobieren. Vernetzung und Miteinander hinausgehen, mehr üben, auch in Gruppen üben, wäre möglich, Die KlientInnen benötigen mehr Information über die Krankheit, den Umgang damit. Man muss ihnen helfen, Ressourcen zu erschließen. Eine wichtige Form der Unterstützung wären Therapien (Psychotherapie, Verhaltenstherapie, usw.).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 277 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

13.4.3 Entstigmatisierung, Problembewusstsein und Rücksichtnahme Das Problem der Stigmatisierung psychischer Krankheit und das mangelnde Problembewusstsein gehört in der Gesellschaft angesprochen, auch in der Politik ist das Thema laut ExpertInnen noch nicht angekommen. Entstigmatisierung dient dem Abbau von Schamgefühlen und vermindert die Angst, entdeckt zu werden. Diese Angst ist wiederum ein Auslöser dafür, dass die betroffenen Personen sich mehr zurückziehen und sich nicht mehr im öffentlichen Raum bewegen. Aufklärung über Menschen mit psychischen Erkrankungen ist nach wie vor wichtig. Sie sind weder dumm, noch gestört, sondern eingeschränkt auf Grund einer Erkrankung. Von den gesunden Mitgliedern einer zunehmend fordernden Gesellschaft sollte Geduld und Rücksichtnahme einfordert werden. Mit Blick auf den Leistungsdruck ist es eine große Herausforderung zu bestehen, wenn man schwächer ist. Auch der Straßenverkehr ist ein Abbild dieser Gesellschaft. Rücksicht gibt es wenig. Diese Situation auszuhalten ist für alle VerkehrsteilnehmerInnen eine Heraus- forderung. Für Personen mit psychischen Erkrankungen umso mehr. Die ExpertInnen berichten von positiven Erlebnissen mit KlientInnen, die man ihnen nicht zutraut, viel Feinfühligkeit, sehr viel Toleranz, ganz viel Mitgefühl. Das gehört gestärkt. Sie gehören ernster genommen. Eine Expertin formuliert diese Herausforderung als Spannungsfeld zwischen der Frage, wem vertraut man sich an – und bekommt Hilfe und Verständnis – und wo führt diese Offenheit zu Stigmatisierung: Wenn man zu viel sagt, bekommt man vielleicht Schwierigkeiten, weil z.B. der/die zukünftige DienstgeberIn nicht versteht, warum eine Person für den Anfahrtsweg zwei Stunden braucht und nicht eine. Verständnis kann nicht von jedem erwartet werden und daher sind hier sicher Vertrauenspersonen wichtig. Der öffentliche Verkehr hat sich in den letzten Jahren nicht unbedingt verbessert. Mobilität steigt generell und das bringt mehr Stress. Sei es durch das vermehrte Autoaufkommen oder der Wunsch nach hoher Flexibilität (soziale Mobilität). In dieser Situation müsse man das Miteinander noch mehr stärken und Sensibilisierung ist sicher sehr wichtig, wenn es um gegenseitige Rücksicht- nahme geht.

278 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

14 Ergebnisse der ExpertInneninterviews aus dem Bereich Mobilität und Verkehr

14.1 Einleitung und analytischer Rahmen

Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Einzelinterviews (face-to- face-Interviews) mit den ExpertInnen aus dem Bereich Mobilität und Verkehr beleuchtet. Da die PHOBILITY-Studie erstmalig in Österreich die Verkehrs- teilnahme von Menschen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen untersucht, werden die meisten befragten VerkehrsexpertInnen zum ersten Mal mit dieser Thematik konfrontiert. Insgesamt wurden 6 Personen im Rahmen von persönlichen Interviews mit Hilfe eines Interviewleitfadens223 im Zeitraum von November 2015 bis Januar 2016 befragt. Die Interviews der VerkehrsexpertInnen werden entsprechend des Fragebogens nach vier Teilabschnitten (A, B, C, D) zusammengefasst. Während sich der erste Teilabschnitt A auf die Berührungspunkte der bisherigen Tätigkeitsbereiche der VerkehrsexpertInnen in Bezug auf die Personenmobilität im Sinne der sozialen Teilhabe und der gleichberechtigten Mobilität bzw. Mobilitätseinschränkungen (im Allgemeinen) konzentriert, bezieht sich Teilabschnitt B auf Mobilitäts- barrieren, dem daraus resultierenden Verhalten der VerkehrsteilnehmerInnen sowie in weiterer Folge auf planungsrelevante Vorgehensweisen der betreffen- den Institutionen bzw. Unternehmen. Teilabschnitt C befasst sich mit den, von Betroffenen eingesetzten, Barrierehemmern und erforscht die Einschätzungen der VerkehrsexpertInnen hinsichtlich der Wirksamkeit barrierehemmender Maßnahmen sowie der Verbesserung der Verkehrssicherheit. Eine quantitative Auswertung der Bewertung der Umsetzbarkeit und Wirksamkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen befindet sich im Anhang in Tabelle 26. Abschließend wird im Teilabschnitt D abgehandelt, inwieweit sich die Thematik der Verkehrsteilnahme von F4-Erkrankten auf künftige Planungen/ Strategie- ausrichtungen der Institutionen bzw. Unternehmen auswirken. Anzumerken ist, dass in allen Abschnitten die VerkehrsexpertInnen keine Differenzierung/ Unterscheidung zwischen psychischen Erkrankungen und den F4-Diagnosen vornehmen. Die Einschätzungen der VerkehrsexpertInnen beziehen sich daher viel mehr auf psychische Erkrankungen im Allgemeinen und weniger auf F4-Diagnosen. Die Aussagen der VerkehrsexpertInnen wurden ano-

223 Siehe Anhang, Kapitel 19.4.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 279 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen nymisiert, zusammengefasst und thematisch in den jeweiligen Teilabschnitten sortiert.

14.2 TEIL A: Status Quo, Problemlage, Bewusstsein

Die Gewährleistung sozialer Teilhabe und gleichberechtigter Mobilität spielen in unterschiedlichen Roadmaps (z.B. Forschung, Technologie, Integration, Verkehr) eine zentrale Rolle. Im Vordergrund steht dabei ein Verkehrssystem, das sozial und sicher gestaltet sowie für alle Personengruppen zugänglich ist. Im Folgenden werden die Meinungen der VerkehrsexpertInnen zu Mobilitäts- einschränkungen im Allgemeinen sowie zu Mobilitätseinschränkungen der betroffenen Zielgruppe (Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen) im Besonderen zusammengefasst.

14.2.1 Mobilitätseingeschränkte VerkehrsteilnehmerInnen Unter den interviewten VerkehrsexpertInnen besteht ein großes Bewusstsein für vorrangig körperlich mobilitätseingeschränkte Personengruppen im Verkehrs- raum wie z.B. geheingeschränkte Personen, seheingeschränkte Personen oder Personen mit Gehöreinschränkungen. In den letzten Jahren wurde zwar viel zur Verbesserung der Verkehrsteilnahme für Personen mit physischen Beein- trächtigungen unternommen (u.a. bedingt durch den rechtlichen Druck im Rahmen des Behindertengleichstellungsgesetzes), Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen wurden bislang jedoch nicht berücksichtigt. Zu den vulnerableren VerkehrsteilnehmerInnen zählen die VerkehrsexpertInnen Kinder und Jugendliche, Personen mit physischen Mobilitätseinschränkungen sowie SeniorInnen; hier insbesondere in ihrer Rolle als FußgängerInnen, RadfahrerInnen, Motorrad-/ MopedfahrerInnen. Die Problemlagen und Bedürfnisse von oben erwähnten mobilitätseinge- schränkten Personen – plötzlich bedingt durch z.B. einen Unfall oder langsam durch das Älterwerden – sind den VerkehrsexpertInnen dabei überwiegend bekannt. Thematisiert werden auch der demographische Wandel und damit einhergehende gesellschaftliche Herausforderungen. Eine weitere wesentliche Komponente stellen räumliche Gegebenheiten dar. Es wird davon ausgegangen, dass wohl im städtischen Raum (z.B. Wien) spontan bzw. flexibel auf Mobilitätsbarrieren/-einschränkungen reagiert werden kann, dahingehende Möglichkeiten im ländlichen Raum jedoch sehr eingeschränkt sind.

280 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

14.2.2 Psychisch erkrankte VerkehrsteilnehmerInnen Die Zielgruppe der VerkehrsteilnehmerInnen mit psychischen Erkrankugnen wird nur in einigen Tätigkeitsbereichen weniger befragter Unternehmen thematisiert. Dies geschieht vorwiegend in Zusammenhang mit älteren, demenzerkrankten oder unter Depressionen leidenden Personen. Untersuchungen hinsichtlich der Verkehrsabläufe im Umfeld großer Menschenansammlungen in Bezug auf Angstzustände und Verkehrssicherheit finden ebenfalls in manchen Unternehmen statt. Jene Personengruppen, die konkret an Phobien, Angst- und Zwangsstörungen leiden, werden derzeit nicht berücksichtigt. Es besteht zwar ein Bewusstsein für die Existenz von VerkehrsteilnehmerInnen mit psychischen Erkrankungen, jedoch werden die Bedarfslagen aktuell noch nicht berücksichtigt (argumentiert wird u.a. mit der Komplexität dieses Themas). Laut den VerkehrsexpertInnen gewinnt die Berücksichtigung dieser Zielgruppe zunehmend an Bedeutung. Als problematisch werden die fehlenden Kenntnisse über die konkreten Problemlagen und Bedürfnisse von VerkehrsteilnehmerInnen mit psychischen Erkrankungen eingeschätzt. Die VerkehrsexpertInnen wissen beispielsweise um die Gefahr – gerade bei älteren Personen – von Vereinsamung und Depressionen, ausgelöst durch Immobilität bzw. Mobilitätseinschränkungen und der damit einhergehenden sinkenden Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Es wird davon ausgegangen, dass die Nachfrage nach Mobilität (tendenziell) mit dem Alter sinkt (z.B. durch Wegfallen der Arbeitswege) und die abnehmende körperliche sowie kognitive Funktionstüchtigkeit zu Beeinträchtigungen in der Verkehrsteilnahme führt und sich daher dieser Thematik gezielt angenommen werden muss. Die Verkehrsteilnahme von Personen mit psychischen Erkrankungen unter Berücksichtigung zeitlicher (z.B. Tageszeiten, Fahrzeiten, Intervalle) und räumlicher Faktoren (z.B. Orientierung, Wegfindung), sowie (Verkehrs-)Sicher- heit und Gestaltungselementen (z.B. zur Ablenkung) sind wichtige, in weitere Verkehrsplanungen mit einzubeziehende Aspekte.

14.2.3 Hinderliche Bereiche und Situationen im Verkehrsraum In Bezug auf die Gestaltung des öffentlichen Raums spielen Angsträume, dunkle Wegabschnitte und stark befahrene Straßen (z.B. man hat Angst, dass man es nicht über die grüne Ampel schafft) immer wieder eine große Rolle in Bezug auf das Mobilitätsverhalten verschiedener Personengruppen. Einschätzungen der VerkehrsexpertInnen zufolge existieren derzeit Bereiche oder Situationen im Verkehrsraum sämtlicher Verkehrsmittel, die mobilitäts- eingeschränkte Personen und somit auch Personen mit psychischen Erkran-

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 281 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen kungen an einer gleichberechtigten Verkehrsteilnahme hindern. Es besteht daher weiter verstärkter Handlungsbedarf. Das Behindertengleich-stellungsgesetz, Richtlinien, aber auch Forschungsförderungen in diesem Bereich und deklarierte Zielsetzungen innerhalb des Gesamtverkehrsplans für ein soziales Verkehrs- system, stellen dabei Möglichkeiten der Sicherung zur Umsetzung von Maßnahmen dar. Als Problemlagen von VerkehrsteilnehmerInnen mit psychischen Erkrankungen werden nach Ansicht der VerkehrsexpertInnen vor allem Umwege, fehlende Orientierung, weite Wege sowie die Angst sich zu verlaufen, gesehen. Zu einer unüberwindbaren Barriere kann ebenfalls die generelle Komplexität des Verkehrsnetzes werden sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten beim Lesen von Fahrplänen oder beim Ticketkauf am Automaten. Dennoch gibt es viele Möglichkeiten, pre- und on-trip Reisen zu planen, die gegebenenfalls auch während der Reise nochmals geändert werden können (z.B. mit qando). Es stellt sich hier nur die Frage, in wie weit das in Anspruch genommen wird bzw. genommen werden kann. Generell lässt sich feststellen, dass Barrierefreiheit und Zugänglichkeiten der Verkehrsinfrastrukturen derzeitig vorwiegend baulich (im Bereich der Infrastruktur) gelöst werden, um der Gesamtbevölkerung (mit und ohne Mobilitätseinschränkung) eine selbstständige Verkehrsteilnahme zu ermög- lichen. Vor allem in ländlichen Gebieten können die Verkehrsinfrastrukturen oftmals – aufgrund von Budgetmangel – nicht barrierefrei angepasst werden, sodass beispielsweise Gehsteigkanten zu unüberwindbaren Hindernissen für körperlich beeinträchtigte Menschen werden. Nicht selten entstehen hier aber auch Zielkonflikte zwischen den NutzerInnengruppen, da die Bedarfslagen oftmals stark unterschiedlich sind.

14.3 TEIL B: Barrieren, Meideverhalten und Planungsrelevanz

Im folgenden Abschnitt werden die Ansichten der VerkehrsexpertInnen zu konkreten Mobilitätsbarrieren der Zielgruppe, die zu einem Meideverhalten und bestimmten Planungsverhalten führen, dargelegt.

14.3.1 Bewertung der vorgegebenen Mobilitätsbarrieren Die VerkehrsexpertInnen wurden im Interview mit folgenden Mobilitätsbarrieren konfrontiert und dabei um ihre Einschätzung gebeten:

282 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 keine Fluchtmöglichkeiten  keine Kommunikationsmöglichkeiten  beengende Räume (Auto, Aufzug, Tunnel)  offene, weite Räume  lange Fahrten  „Angstorte“ (Park, Tiefgarage, Stiegenhaus)  andere sinnlich wahrnehmbare Situationseigenschaften (Dunkelheit, Lärm, Hitze)  unbekannte Situationen  andere Menschen (Menschenmassen, unangenehme Begegnungen)  Kontext Öffentlicher Verkehr: Aggressives Fahren von LenkerInnen  Kontext Autofahren: Aggressive AutofahrerInnen (DränglerInnen) Diese Mobilitätsbarrieren sind den VerkehrsexpertInnen größtenteils bekannt. Dennoch kristallisierten sich an dieser Stelle Unterschiede in der Erwartungs- haltung der Befragten heraus. Die Tatsache, dass Menschen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen beispielsweise lange Fahrten meiden oder Ängste davor entwickeln, keine Möglichkeiten zur Kommunikation und zur Flucht zu haben, wurden von manchen VerkehrsexpertInnen nicht erwartet. Ein mangelndes Informationsangebot sowie die Komplexität des öffentlichen Verkehrs wird hingegen von den VerkehrsexpertInnen durchaus als guter Grund identifiziert, Änderungen oder gar Vermeidung hinsichtlich des Mobilitäts- verhaltens dieser Personengruppe zu veranlassen, da hier die Gefahr an der Verkehrsteilnahme zu scheitern extrem groß ist. Stark befahrene Straßen werden direkt den Personen mit F4-Diagnose als zusätzliche Barriere von den VerkehrsexpertInnen zugesprochen.

14.3.2 Lösungsvorschläge Die Erweiterung des Informationsangebots würde beispielsweise für mehr Transparenz sorgen und beeinflusst daher die Entscheidungsmöglichkeiten. Es sollten Fluchtmöglichkeiten in den Stationen geschaffen werden und diese müssen durch ausreichende Beschilderungen deutlich gekennzeichnet werden. Die bessere Verfügbarkeit und Benutzerfreundlichkeit von analogen und digitalen Fahrzeitanzeigen und Fahrplänen verhelfen den Reisenden dazu, die Dauer der Reise abschätzen zu können. Zudem lassen sich (kurzfristige) Änderungen im Fahrplan (z.B. Verspätungen, Störungen) besser und zeitgerechter erfassen.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 283 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Nach Meinung der VerkehrsexpertInnen würde die Bereitstellung von Vermeidungsoptionen (z.B. kurze Wege) durch beispielsweise App-Lösungen, den Betroffenen Handlungsspielräume geben. Eine Kombination verschiedener Verkehrsmittel und geeignetes Informationsmaterial könnte ebenfalls helfen, Wege besser miteinander zu verbinden und damit Alternativrouten zu schaffen; beispielsweise mit car2go und dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrs- mitteln. Dabei sollte ein einfaches Umsteigen ermöglicht werden. Personal vor Ort (für Hilfestellungen) wird zum einen als positiv und unterstützend gewertet, dies könnte aber zum anderen bei bestimmten Personen wiederum zu Problemen führen, da sie eine Interaktion mit fremden Personen möglichst vermeiden möchten. Gewohntes Personal (z.B. BusfahrerInnen, Taxilen- kerInnen) könnte das Mobilitätsverhalten der betroffenen Personen erleichtern. Auch das Einrichten von zusätzlichen Notrufstellen könnte Veränderungen im Meideverhalten der betroffenen Personengruppe bewirken. Schulungen zur Kompetenzsteigerung der Fahrgäste verschiedener Personengruppen (Personen mit F4-Diagnose, aber auch ältere Menschen) wären ebenfalls eine Möglichkeit, Ängste in Bezug auf z.B. Ticketkauf, abzubauen. Dennoch sollten übersichtliche Anzeigen und die Vereinfachung des Ticketverkaufssystems (weiterhin) im Fokus stehen. Die VerkehrsexpertInnen sehen die teilweise massiven Unterschiede bezüglich des Mobilitätsverhaltens, Meideverhaltens und Planungsverhaltens der Zielgruppe, wodurch es einerseits spezieller Zugänge, die bereits in der Reiseplanung ansetzen, bedarf. Andererseits sollte die Implementierung von Insellösungen vermieden werden. Die generelle Bewusstseinsschärfung für das Miteinander – vor allem in der heutigen Zeit – ist grundsätzlich laut den VerkehrsexpertInnen zusätzlich zu forcieren, um Akzeptanz für die Problemlagen der betroffenen Personengruppe zu generieren. Zielkonflikte mit den anderen Personengruppen dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden. Zusätzlich sollte PlanerInnen ein Planungs- handbuch mit Lösungen hinsichtlich baulicher und situativer Barrieren als Anleitung künftiger Neu- und Umplanungen zur Verfügung gestellt werden.

14.4 TEIL C: Barrierehemmer, Maßnahmen und Verkehrssicherheit

Um Barrieren besser bewältigen zu können werden seitens der Betroffenen bereits selbst Maßnahmen ergriffen, beziehungsweise werden diese für VerkehrsteilnehmerInnen bereitgestellt. Im folgenden Teilabschnitt werden daher diese Maßnahmen von den VerkehrsexpertInnen bewertet. Es handelt sich bei

284 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen den Maßnahmen unter anderem um die Selbstablenkung oder Selbst- manipulation, Stützpunkte auf dem Weg oder Ablenkungsangebote, einfache, geführte Wege, die Wahl von ästhetisch gestalteten Wegen, Fluchtmöglichkeit bzw. Rückzugsmöglichkeit (in Fahrzeugen, Stationen), Lärmschutz, Klimati- sierung oder die Bedienerleichterung (beispielsweise von Autos), die Notbremse oder Personen, die Sicherheit geben (nette BusfahrerInnen, vertraute FahrerInnen, Begleit- und Stationspersonal), Fahrtinformationen (Taxi App, Fahrpläne), Stress- und Panikknöpfe in Fahrzeugen oder Stationen, sowie den Alarmknopf.

14.4.1 Maßnahmen betreffen oft mehrere Personengruppen Viele der oben genannten Maßnahmen werden von den VerkehrsexpertInnen nicht ausschließlich den Menschen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen zugeordnet. Stützpunkte auf Wegen können beispielsweise mehreren Personengruppen helfen (z.B. auch älteren Personen) und einfach geführte Wege sowie eine angenehme ästhetische Gestaltung der Verkehrs- infrastrukturen kommen allen Personengruppen zu Gute. Die Verfügbarkeit von Fluchtwegen, der Einsatz von Sicherheitspersonal in den Stationen und Alarmknöpfe schaffen allgemein ein Gefühl von Sicherheit. Dennoch sollte davon abgesehen werden, den öffentlichen Raum bzw. Verkehrsinfrastrukturen mit Alarm-, Stress- oder Panikknöpfen zu überfluten. Angedacht sind hier beispielsweise eher (individuell adaptierbare) App-Lösungen. Rückzugsmöglichkeiten – vor allem in Stationsbereichen – können ihre Wirkung verfehlen und zu Angstorten werden (z.B. durch Aufenthalt „dubios“ wirkender Personengruppen). Die VerkehrsexpertInnen sehen die Selbstablenkung als positive Lösungs- strategie, die es ermöglicht, viele problematische Situationen zu lösen. Dies fordert aber ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit und Selbstbeherrschung und nicht jeder Mensch hat die Kraft, sich selbst problematischen Situationen mental zu entziehen. Ein zur Verfügung gestelltes Ablenkungsangebot, beispiels- weise auf öffentlichen Screens, wird kritisch bewertet, da es –verschärfend zur Situation – zu einer Reizüberflutung beitragen kann und damit die ohnehin schon für die Personengruppe anspruchsvolle Situation zusätzlich belastet. Ein weiterer Aspekt könnten zusätzlich gezielte Schulungen und Weiterbildungen in Bezug auf „angeleitete Mobilität“ sein, die von PsychologInnen durchgeführt werden müssten. Während teilweise die Institutionen bzw. Unternehmen die Erweiterung eines entsprechenden Informationsangebots zur Hilfestellung bzw. Problemlösung für Fahrgäste planen, können zusätzliche konkrete Maßnahmen bzw. bestimmte

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 285 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Insellösungen durchaus in das Gesamtverkehrssystem integriert werden. Grundsätzlich ist aber darauf zu achten, dass alle NutzerInnengruppen davon profitieren. Bei technischen Maßnahmen muss das Kosten-Nutzen-Verhältnis gewahrt bleiben.

14.4.2 Bewertung der Wirksamkeit und Umsetzbarkeit der Maßnahmen Wirksamkeit und Umsetzbarkeit der Maßnahmen stehen oftmals in Konflikt zueinander. Zum Beispiel werden die Personen, die Sicherheit geben, wie nette BusfahrerInnen, vertraute FahrerInnen, Begleitpersonal oder Stationspersonal als sehr wirksam, aber auch als aufwendig in der Umsetzung eingeschätzt, ebenso die Aufklärung beziehungsweise die Schulung von Fahrgästen. Fahrtinformationen wie beispielsweise eine Taxi App, Fahrpläne oder Navi- gationssysteme werden hingegen als sehr wirksam und leicht umsetzbar bewertet. Viele der genannten Maßnahmen, wie z.B. Rückzugsmöglichkeiten, einfach geführte Wege, Ablenkungsangebote etc. sind bereits vorhanden, müssten aber gegebenenfalls auf die Zielgruppe abgestimmt werden. Die quantitative Auswertung der Checkliste kann dem Anhang entnommen werden.

14.5 TEIL D: Abschluss und Ausblick

Abschließend wurden die VerkehrsexpertInnen befragt, inwieweit beziehungs- weise ob die Thematik der Verkehrsteilnahme von Personen mit psychischen Erkrankungen bzw. Personen mit F4-Diagnose zukünftig Relevanz für das eigene Unternehmen bzw. die eigene Institution haben wird. Dabei wird deutlich, dass sich die VerkehrsexpertInnen aufgrund der steigenden Zahlen dieser Personengruppe durchaus bewusst sind, dass die angesprochene Thematik mehr Aufmerksamkeit bekommen muss, vor allem auch im Kontext der Entwicklung des Verkehrssystems, Automatisierung und den damit in Verbindung stehenden Problematiken (z.B. Angewiesenheit auf Fahrpersonal vs. Automatisierung von ÖV-Fahrzeugen). In diesem Zusammenhang sollten die Lebensqualität und der demografische Wandel in weiterführenden Forschungs- feldern zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass gerade im europäischen Kontext Städte generell viel Verbesserungsarbeit hinsichtlich Barrierefreiheit leisten müssen. Das Themenfeld der Mobilitätseinschränkungen bzw. -barrieren sollte daher nicht isoliert (auf die Zielgruppe der Personen mit psychischen Erkrankungen bzw. F4-Diagnosen) betrachtet werden. Im europäischen Ver- gleich hat Wien bereits viel in Richtung Barrierefreiheit unternommen und man

286 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen ist daher der Meinung, dass man sich in diesem Fall durchaus schon mit diesem nächsten Schritt, also der Problem- und Bedarfslagen der Betroffenen, beschäf- tigen kann.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 287 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

15 ExpertInnenworkshop

15.1 Vorschläge zur Minderung der Barrieren

Gemeinsam mit ExpertInnen aus verkehrsplanerischen und psychosozialen Arbeitsbereichen wurden Ansätze für Lösungsvorschläge zur Minderung bzw. Beseitigung von Mobilitätsbarrieren für Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörung erarbeitet. Die erarbeiteten Lösungsansätze betreffen sowohl technische und bauliche bzw. verkehrsplanerische Maßnahmen, als auch personenbezogene Unterstützungsangebote, die direkt die Betroffenen, aber auch deren unmittelbares sowie weiteres Umfeld (=Gesellschaft) betreffen.

15.1.1 Technische Maßnahmen Vor dem Hintergrund bestehender und sich immer weiter entwickelnder technischer Lösungen, die die VerkehrsteilnehmerInnen in ihrer Mobilität unterstützen sollen, wird die damit einhergehende Gefahr der Überforderung des/der Einzelnen thematisiert. Zwar werden Entwicklungen wie z.B. Türen in öffentlichen Verkehrsmittel, die per Knopfdruck öffnen oder PKW-Bordcomputer, die sich per Gesten steuern lassen, generell positiv und fortschrittlich erlebt, jedoch sehen die ExpertInnen in derartigen Entwicklungen die Gefahr, dass sich bestimmte NutzerInnengruppen – u.a. auch Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen – dadurch überfordert fühlen. Konkret wird beispielsweise die Durchsage in U-Bahnstationen „Achten Sie auf den Spalt“ thematisiert. Diese, als Sicherheitshinweis gedachte Durchsage, kann laut Ansicht der ExpertInnen bei Personen mit Phobien, Angst- und Zwangserkrankungen genau das Gegenteilige, nämlich eine Sensibilisierung bzw. Fokussierung auf die Gefahr bewirken und somit Unwohlsein und Angstzustände auslösen. Bei der Entwicklung derartiger Angebote sollte somit auch auf die besonderen Bedürfnisse von eingeschränkten Zielgruppen Rücksicht genommen werden, bzw. diesen die Wirkung und Funktionalität in Form von Erklärungen, Schulungen etc. näher gebracht werden. Als mögliche, sinnvolle Unterstützung bzw. Ablenkung wird von ExpertInnen die Schaffung von Informations- bzw. Unterhaltungsbildschirmen in öffentlichen Verkehrsmitteln genannt. Ähnlich wie bei den Sicherheitsanweisungen in Flugzeugen können NutzerInnen darüber auf Sicherheitshinweise aufmerksam gemacht werden, wobei dabei in Hinblick auf die Zielgruppe der Angst- und ZwangspatientInnen auf eine möglichst unterschwellige Kommunikation geachtet werden sollte.

288 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Als technisch leicht umsetzbare Unterstützungsmaßnahme wird das Anbringen von Notrufnummern in öffentlichen Verkehrsmitteln genannt. Nach Vorschlag der ExpertInnen könnte diese Notrufnummer beispielsweise direkt zur nächsten Stationsaufsicht geleitet werden, die – nach entsprechender Schulung – dem/der Hilfesuchenden möglichst rasch Unterstützung zukommen lassen kann.

15.1.2 Bauliche bzw. verkehrsplanerische Maßnahmen Von den ExpertInnen werden die Bedürfnisse der Zielgruppe hinsichtlich genügend Freiraum bzw. Schaffung von Rückzugsmöglichkeiten erkannt. Hinsichtlich der baulichen und verkehrsplanerischen Maßnahmen wird in erster Linie auf den öffentlichen Verkehr fokussiert, wo u.a. der Ausbau von durch- gängigen U-Bahn-Zügen thematisiert wird. Diese Entwicklung wird äußerst positiv gesehen und schafft den Betroffenen die Möglichkeit der Bewegung und Flucht aus unangenehmen Situationen auch innerhalb eines U-Bahn-Zuges, was in den Augen der ExpertInnen eine wesentliche Erleichterung für Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen darstellen kann. In Bezug auf die U-Bahn-Wagen wird auch die Schaffung eines größeren Platzangebots bzw. einer Passagierobergrenze pro Waggon thematisiert, wobei die technische bzw. organisatorische Umsetzbarkeit in Frage gestellt wird. Eine Möglichkeit, die von den ExpertInnen angesprochen wird, ist eine automatische Zugangskontrolle mittels Lichtschranken, die bei Erreichen einer definierten Passagieroberzahl weiteren Personen den Zutritt untersagt. Offen bleibt, wie diese Zugangskontrolle exekutiert werden kann. Umsetzbarer scheint in der Diskussion der Gedanke, das Platzangebot in den U- Bahn-Wägen generell dadurch zu erweitern, Sitzplätze zu reduzieren und damit eine größere Fläche zu generieren. Die Idee der Schaffung eigener Zu-/Austrittsbereiche in den Waggon, bei denen das Ein- und Austeigen beispielsweise durch ein Stangen-Leitsystem geregelt wird, soll betroffenen Personen ein stressfreies und geregeltes Zu-/Aussteigen ermöglichen. Weiterführend wird an einen eigenen Bereich/Waggon für Betroffene gedacht, in dem die oben angeführten Änderungen – nebst weiteren Angeboten – umgesetzt werden. Begleitet sollte diese (wie andere Maßnahmen) durch Kommunika- tionskampagnen werden, um einer Stigmatisierung der Zielgruppe entgegen zu wirken. In Bezug auf den motorisierten Individualverkehr werden eigene Parkplätze für Betroffene thematisiert, die möglichst kurze Wege, ein einfaches Parken sowie Ein- und Aussteigen ermöglichen und so angelegt sind, dass die NutzerInnen mit

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 289 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen keinen, ihnen unangenehmen oder angsteinflößenden, Situationen konfrontiert sind. In der Gestaltung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden wird von den ExpertInnen angeregt, auf eine ausreichende und beruhigende Beleuchtung zu achten.

15.1.3 Personenbezogene Maßnahmen die Betroffenen adressierend Unter den ExpertInnen ist die Meinung vorherrschend, dass bei vielen PatientInnen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen ihre Beschwerden durch unbekannte, neue bzw. neu erlebte Situationen oder Gegebenheiten hervor- gerufen werden. Aus diesem Grund ist neben der Schaffung möglicher Unterstützungsangebote auch die entsprechende Kommunikation und Mani- festation über das Vorhandensein verschiedenster Unterstützungsangebote in der Zielgruppe entscheidend. Den Betroffenen sollen die Informationen über mögliche Unterstützungsangebote bestmöglich zugänglich gemacht werden und neue Angebote bzw. Maßnahmen sollen mit den PatientInnen immer wieder gemeinsam genutzt bzw. geübt werden, damit die entsprechende Sicherheit z.B. im Umgang mit technischen Neuerungen gewonnen werden kann bzw. die Hemmschwelle zur Inanspruchnahme von Unterstützung gesenkt wird. In diesem Zusammenhang wird die Unterstützung der Betroffenen in Form von Schulungen erwähnt, für deren Angebot die ExpertInnen eine Vielzahl von Organisationen bzw. Institutionen in der Verantwortung sehen. Analog zu den Fahrtechniktrainings von Autofahrerclubs sollten beispielsweise öffentliche Verkehrsbetriebe Kurse anbieten, in denen verunsicherten NutzerInnen der Umgang mit den Verkehrsmitteln näher gebracht bzw. geübt wird. Neben Mobilitätsanbietern werden aber auch Gesundheits- bzw. Psychologische Einrichtungen in die Verantwortung genommen, in der Form, dass beispielsweise bei betroffenen/gefährdeten PatientInnen im Entlassungsmanagement eines Krankenhauses systematisch auf die Thematik Rücksicht genommen wird. In diesem Zusammenhang werden Maßnahmen, die die Selbstverantwortung des/der Betroffenen fördern, als wesentlich thematisiert. So werden ver- schiedenste Selbstablenkungs-, Selbstberuhigungs- und Selbstmanipulations- tools als besonders hilfreich erachtet, da diese laut den ExpertInnenmeinungen bei der Zielgruppe durch die Selbstanwendung und somit Unabhängigkeit von anderen die stärkste Wirkung haben. Als ebenfalls wichtig und leicht umsetzbar wird die Zurverfügungstellung von Planungs- und Fahrtinformationen erachtet, die das subjektive Angstgefühl reduziert.

290 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

15.1.4 Gesellschaftsbezogene Maßnahmen Bei allen bestehenden und zu entwickelnden Maßnahmen erachten es die ExpertInnen begleitend für besonders wichtig, das Wissen der Bevölkerung in Bezug auf Phobien, Angst- und Zwangsstörungen zu erhöhen und eine Akzeptanz für deren besondere Bedürfnisse zu generieren. Im gesellschafts- politischen Kontext ist dies in erster Linie über breit angelegte Informations- und Kommunikationskampagnen zu erreichen, die einer Stigmatisierung entgegen- wirken sollen. Als TrägerIn bzw. AbsenderIn dieser Kampagnen werden von den ExpertInnen verschiedenste Ministerien genannt. Bestimmten Zielgruppen in der Gesellschaft, nämlich jenen, die ihres Berufs bzw. ihrer Tätigkeit wegen vermehrt in Kontakt mit Personen, die an Phobien, Angst- oder Zwangsstörungen leiden, kommen, soll in gezielten Schulungen der Umgang mit der Zielgruppe näher gebracht werden. In Zusammenhang mit der Mobilität der Betroffenen sind dies insbesondere die Zielgruppen der MitarbeiterInnen bzw. des Kundenpersonals von öffentlichen Verkehrsmitteln (LenkerInnen, SchaffnerInnen, Stationsaufsichten, Reinigungs- und Sicherheits- mitarbeiterInnen,…), TaxifahrerInnen, etc. Personen aus der Bevölkerung, die freiwillig entsprechende Schulung absolvieren, können den Betroffenen z.B. bei Fahrten mit der U-Bahn als persönliche Assistenz fungieren. Als Gegenleistung für ihren ehrenamtlichen Einsatz könnte diesen Personengruppen Vergünstigungen bei der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel geboten werden.

15.2 Bewertung des Konzepts App + Gadget

Die Vorstellung des Konzepts/Vorhabens, eine Applikation zu entwickeln, die durch die Anbindung an ein Gadget, das Vitalfunktionen der TrägerInnen misst und bei Erreichen voreingestellter Grenzwerte automatisch Unterstützungs- angebote (Informations- und Ablenkungsmaßnahmen, Anwahl Notruf- nummern,…) aktiviert, wird von den ExpertInnen sehr positiv bewertet. Von den GesundheitsexpertInnen wird speziell der Aspekt hervorgehoben, dass das Tool ideal dazu geeignet ist, die Selbstverantwortung der Betroffenen zu fördern. In der gemeinsamen Arbeitsrunde werden u.a. folgende Aspekte thematisiert, die als wertvoller Input der ExpertInnen in die Entwicklung mit einfließen können:  Allem voran soll die App so aufgebaut sein, dass sie lernfähig ist. Es soll ein Rahmen für individuelle Erweiterungen und Gestaltungsmöglichkeiten geschaffen werden, innerhalb dessen jede(r) NutzerIn seine/ihre persön- lichen Unterstützungsangebote optimieren kann.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 291 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 Aus motivatorischer Sicht entscheidend für die regelmäßige Nutzung und Wirkung der App ist aus Sicht der GesundheitsexpertInnen eine Form des „Belohnungssystems“. Immer dann, wenn Betroffene bestimmte Barrieren mit Unterstützung der App überwunden haben, soll das Programm ihnen entsprechende Anerkennung und positive Stärkung zukommen lassen (Sternchen sammeln, automatisiertes Lob,…).  Im Umfeld der App kann die Infrastruktur für eine Art soziales Netzwerk geschaffen werden, über das Betroffene untereinander, aber auch mit (ehrenamtlich) Hilfebietenden, interagieren können.

292 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

16 Mobilitätsbarrieren und deren Bewältigung im Überblick

Verkehrsmittelwahl lässt sich als Handlung begreifen und sie besteht, wie jede Handlung, aus personenbedingten und situationsbedingten Faktoren.224 In dieser Untersuchung geht es um personenbedingte Faktoren, die den Zugang zu einer Handlungssituation im Alltag überhaupt erst eröffnen. Mit Lazarsfeld, der bei den personenbedingten Faktoren zwischen „Motiven“ und „Mechanismen“ unter- scheidet, und mit Blick auf Goffmans Konzeption der Interaktion im öffentlichen Raum, kann im Rahmen dieser Untersuchung von situationskonstituierenden Mechanismen gesprochen werden. Diese beiden Mechanismen werden (1) die Konstitution eines normalen Erscheinungsbildes und (2) die Anspruchserhebung auf Territorien des Selbst sowie die Sicherung ihrer Grenzen genannt. Im Unterschied zu anderen Mechanismen, die gemeinsam mit Motiven die individuelle Gesamtverfassung ausmachen, greifen situationskonstituierende Mechanismen in die Situation selbst ein und sie haben möglicherweise in den objektiven Bestandteilen der Situation ihre Widerlager. In den Kapiteln 0 und 9 konnten zwei Grundformen der Verkehrsangst heraus- gearbeitet werden, was der Störung dieser situationskonstituierenden Mechanismen entspricht. Verkehrsangst ist, so soll noch einmal betont werden, keine neue und spezifische Phobie, sondern es ist die Form, in der sich Ängste (und Zwänge) in die Situation der Verkehrsteilnahme übersetzen lassen, die unter dem Gesichtspunkt der Interaktion im öffentlichen Raum begriffen werden. Das übergreifende Schlüsselkonzept zur Erklärung von Verkehrsangst wurde als situative Unsicherheit bezeichnet. Dieses Konzept überträgt den Gedanken der Devianz, wie er in der Theorie der sozialen Systeme entwickelt wurde, auf den Zusammenhang von Angst und Raum im Straßenverkehr (siehe Kapitel 4.5). Die zwei Grundformen der situativen Unsicherheit sind daher (1) der Verlust des normalen Erscheinungsbildes der Situation, was die handelnde Person miteinschließt, und (2) das Unvermögen, die Territorien des Selbst in einer Situation aufrecht zu erhalten oder gegenüber anderen einzufordern. Wie Unsicherheit im Allgemeinen, so führt auch situative Unsicherheit zu einem positiven Rückkopplungsprozess der sich bis zur Eskalation der Angst in Panik steigern kann. Anderen InteraktionsteilnehmerInnen und den Rahmen- bedingungen, die es ermöglichen, dass eine Situation als Hintergrund für eigene Aktivitäten erlebt werden kann, werden nicht im Zeichen von Sicherheit und Vertrauen, sondern von Unberechenbarkeit und Misstrauen erlebt.

224 Lazarsfeld (2007, S. 449).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 293 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Auf Basis dieser Grundstruktur konnten eine Reihe konkreter Mobilitäts- barrieren identifiziert werden, die in vielen Fällen zusammenwirken:

Das betrifft die öffentlichen Verkehrsmitteln selbst, die nicht immer eine uneingeschränkte und barrierefreie Benützung ermöglichen, da ein Ausstieg nicht immer möglich ist und keine Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sind. Auch Ausstattungselemente in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie z.B. eine geringe Anzahl an Einzelsitzplätzen oder automatisch schließbare Fahrzeugtüren können ein Gefühl von Unbehagen und Flucht- bzw. Vermeidungsbedürfnis bei den Betroffenen auslösen.

Hinsichtlich der Infrastruktur finden sich ähnliche Barrieren: Beengende und dunkle Gänge/Räume ohne Fluchtmöglichkeit, die die Orientierung erschweren oder fehlende Rückzugsmöglichkeiten in Stationen, können dazu beitragen, dass Personen mit Phobien, Angst- und/oder Zwangsstörungen bestimmte Verkehrsmittel, Wege oder Bestandteile der Verkehrsinfrastruktur (z.B. Aufzüge) nicht in Anspruch nehmen.

Die Präsenz anderer Fahrgäste kann in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Stationen Angst auslösen, weil sie entweder die Flucht erschweren oder weil sich die Betroffenen ihren Blicken ausgeliefert fühlen. Daher werden von den Betroffenen Hauptverkehrszeiten - wenn möglich - gemieden, damit sie den oft stark überfüllten Verkehrsmitteln ausweichen.

Menschen mit Phobien, Angst- und/oder Zwangsstörungen haben ein hohes Informations- und Planungsbedürfnis. Sie planen ihre Routen in der Regel sehr ausführlich vor Antritt der Fahrten, unvorhergesehene Ereignisse, wie beispielsweise Routenänderungen bei Baustellen oder Fahrplanänderungen, können Angstzustände begünstigen. So kann auch ein Mangel an Informatio- nen, wie schlecht lesbare oder schwer verständliche Fahrpläne, Beschilde- rungen oder sonstige Orientierungshilfen dazu führen, dass die betroffene Person glaubt, die Situation nicht kontrollieren zu können. Verstärkt wird diese Situation dadurch, dass sich Betroffene oft nicht trauen, Fremde anzu- sprechen und offizielle Ansprechpersonen meist nicht verfügbar sind.

Auch können fehlende Erfahrung und Ortskenntnis, wie unbekannte Fahrt- routen oder ungeplante Zwischenstopps, eine Mobilitätsbarriere sein.

Ein weiteres Element potentieller Mobilitätsbarrieren können Krankheits- symptome, wie z.B. Harndrang, Unsicherheit oder Aufmerksamkeitsstörungen sein.

294 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Neben der Analyse der Barrieren wurden das derzeit von der Zielgruppe eingesetzte Vermeidungsverhalten sowie mögliche Bewältigungs- strategien, die von Betroffenen angewendet werden, um Wege dennoch zurücklegen zu können, ermittelt. Zudem wurden potentielle Lösungs- strategien, die eine Erleichterung für die Zielgruppe bieten, erhoben. Unter einer Bewältigungsstrategie wird ein Element der Situation oder des Handelnden verstanden, das diese Situation als hinreichend sicher definiert, um die eigenen Handlungsziele darin umsetzen zu können. Sie helfen einer Person dabei, sich einer Situation anvertrauen zu können, indem sie entweder das normale Erscheinungsbild stabilisieren oder die Personen bei der Etablierung von Territorien des Selbst unterstützen.

Folgende wesentliche Bewältigungsstrategien und/oder Lösungsstrategien wurden im Rahmen der Studie ermittelt:

Selbstablenkungs- und Selbstmanipulationstools: Als mögliche wesentliche angstreduzierende Maßnahme erachten viele Betroffene Cooling-down- Techniken, wie beispielsweise Musik, Videos, Spiele, Fotos, Bücher, Medita- tionen, Atemübungen usw.

Informationsangebote: Die Zurverfügungstellung ausreichender und verständlicher Informationen vor und während des Weges/der Fahrt gibt den Betroffenen Sicherheit und reduziert angstauslösende Faktoren.

Bewusstseinsbildende Maßnahmen: Um die Entstigmatisierung der Erkran- kung zu fördern und die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, erscheinen bewusstseinsbildende Maßnahmen, die alle Verkehrsteilneh- merInnen adressieren, als hilfreich.

Räumliche und infrastrukturelle Veränderungen: Das Angebot an Rückzugsmöglichkeiten im öffentlichen Verkehr in Form von eigenen Abteilen in Zügen oder Aufenthaltsräumen in Stationen, Panikräumen und ähnlichem, sowie die Möglichkeit, sanktionslos die Notbremse oder eigens installierte Alarmknöpfe zu betätigen, erachten die Betroffenen als weitere Form der Unterstützung.

Personelle Sicherheitsaspekte: Die Bereitstellung von qualifizierten Ansprech- partnerInnen (sei es direkt vor Ort oder über Notrufnummern schnell alarmierbar) wird als wirksame Bewältigungsstrategie angesehen. Die Schulungen von MitarbeiterInnen öffentlicher Verkehrsbetriebe (bestehendes Personal) bzw. aller interessierten Personen (ehrenamtliche UnterstützerInnen) können ein dichtes Netzwerk an gewünschten UnterstützerInnen bilden.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 295 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Für die Zielgruppe sollten also Wege gefunden und Mechanismen formuliert werden, um sie dabei zu unterstützen, am sozialen Leben (wieder) – und somit auch am Verkehr – teilnehmen zu können. Eine grundlegende Bedingung für adäquate Verkehrsteilnahme ist, dass Ängste, die im Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme auftreten können, für die Betroffenen hinreichend kontrollier- bar sind. Als wesentlichste und umsetzbare Lösungsansätze erachten die Betroffenen sowie Gesundheits- und VerkehrsexpertInnen neben Sensibilisierungs- maßnahmen in der Bevölkerung zur Entstigmatisierung der Betroffenen verschiedenste Selbstablenkungs-, Selbstberuhigungs- und Selbstmani- pulationstools sowie Planungs- und Fahrtinformationen. Wesentlich ist nun, dass die im Rahmen von PHOBILITY erarbeiteten Lösungsstrategien gebündelt und leicht umsetzbar gemacht werden, da sich viele der Betroffenen aufgrund ihrer Angststörung teils völlig aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen oder von öffentlichen Verkehrsmitteln auf den privaten PKW umsteigen.

296 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

17 Handlungsempfehlungen und Forschungsbedarf

17.1 Handlungsempfehlungen

Auf Basis der empirischen Untersuchung lassen sich eine Reihe von Möglichkeiten ableiten, wie Barrieren reduziert und die Verkehrsteilnahme der Zielgruppe gestärkt werden kann. Die Maßnahmen werden gemäß dem rollenanalytischen Zugang, der die Verkehrsteilnahme als Situationsrolle versteht, gegliedert. Im Rahmen des Projektes werden rollenbezogene (psychische Komponente) und situationsbezogene Maßnahmen und bei Letzteren wiederum die Person-, die Sach- und die Symboldimension unterschieden. Die Maßnahmen müssen sich aber nicht unbedingt auf die Situation selbst beziehen, sondern können auch das Wissen über die Situation betreffen (Bewusstsein und Entstigmatisierung). Die nachfolgende Tabelle 15 enthält Handlungsempfehlungen, die sich direkt an Bedarfsträger aus den Bereichen Verkehr und Gesundheit richten.

Tabelle 15: Handlungsempfehlungen

Personbezogene Kommunikation diverser bzw. bekannter nicht-technologischer Maßnahmen zur Maßnahmen Selbstablenkung, Selbstberuhigung und/oder Selbstmanipulation für Betroffene. (psychische Komponente) Entwicklung einer digitalen Applikation für tragbare, internet- und GPS-fähige Endgeräte (z.B. Smartphones) zur Selbstberuhigung, Selbstablenkung und/oder Selbstmanipulation.

Situationsbezogene Sachdimension Einfach geführte Wege im Bereich von Verkehrsinfrastrukturen Maßnahmen der Situation bzw. im öffentlichen Raum wie z.B. ÖV-Haltestelle, Bahnhof, Parkplatz/Garage.

Stützpunkte (z.B. Sitzbänke, Informationsstände/-säulen) im Bereich von Verkehrsinfrastrukturen (z.B. ÖV-Haltestelle, Bahnhof, Park & Drive-Anlage).

Einrichtung von Rückzugsmöglichkeiten bzw. Fluchtmöglichkeiten im Bereich von Verkehrsinfrastrukturen oder Rollmaterialien (z.B. Bahnhof, Garage, Zug, Bus). (Ästhetische) ansprechende Gestaltung (Sauberkeit, Farben, Akustik) von Verkehrsinfrastrukturen und Rollmaterialien sowie entlang von Wegen und in Verkehrsmitteln.

Gewährleistung der Funktionalität und Verfügbarkeit diverser Ausstattungsmerkmale (z.B. Klimatisierung, Sitzplätze, Bewegungsfreiheit) im Bereich von Verkehrsinfrastrukturen und Rollmaterialien (z.B. Bahnhof, Zug).

Zugänglichkeit von Behindertenparkplätzen bzw. Frauenparkplätzen für Betroffene i.S. der Barrierefreiheit und Erleichterung des Alltags.

Fortsetzung Tabelle 15 S.297

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 297 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 15

Personbezogene Kommunikation diverser bzw. bekannter nicht-technologischer Maßnahmen zur Maßnahmen Selbstablenkung, Selbstberuhigung und/oder Selbstmanipulation für Betroffene. (psychische Komponente) Entwicklung einer digitalen Applikation für tragbare, internet- und GPS-fähige Endgeräte (z.B. Smartphones) zur Selbstberuhigung, Selbstablenkung und/oder Selbstmanipulation.

Situationsbezogene Sachdimension Adaptierung von ÖV-Tarifsystemen an die Bedürfnisse der Maßnahmen der Situation Betroffenen (z.B. vergünstigte Fahrpreise zu Schwachlaststunden).

Zugänglichkeit zu bereits vorhandenen, auf (andere) Notfallsituationen ausgerichtete, Fluchtmöglichkeiten für Betroffene.

Uneingeschränkte Zugänglichkeit zu öffentlichen (Verkehrs-) Einrichtungen i.S. einer umfassenden Barrierefreiheit.

Bedienerleichterung im Bereich der Fahrzeugtechnologie.

Person- Begleitung von Wegen durch geschultes Personal oder dimension engagierten bzw. geschulten Privatpersonen.

der Situation Aufbau eines „sozialen“ Netzwerks zur Ermöglichung der Selbstorganisation von Betroffenen und mit Hilfe von interessierten UnterstützerInnen bzw. HelferInnen.

Zugänglichkeit zu (bestehenden) Kommunikationsmedien vor Ort im Bereich von Verkehrsinfrastrukturen oder Rollmaterialien (Station, Fahrzeug) für Betroffene gewährleisten.

Symbol- Veröffentlichung analoger Beiträge zur Fahrgastinformation vor dimension Ort (Fahrzeuge, Stationen, Gesundheitseinrichtungen) in der Situation verfügbaren Zeitschriften.

Veröffentlichung digitaler Beiträge zur Fahrgastinformation vor Ort (Fahrzeuge, Stationen) auf verfügbaren Infoscreens.

Uneingeschränkte Verfügbarkeit von (aktuellen) Fahrtinformationen (z.B. Routenplanungs-Apps, Echtzeit- Anzeigen vor Ort).

(Weiter-)Entwicklung einer digitalen Applikation für tragbare, internet- und GPS-fähige Endgeräte (z.B. Smartphones) zur bedarfsspezifischen Gestaltung von Fahrplänen, Echtzeitanzeigen und Störungsmeldungen für den ÖV oder andere Verkehrsmittel (z.B. Taxi-App zur Kontaktaufnahme mit „gewohntem“ Fahrpersonal).

Einsatz von Computersimulation zum vertraut machen einer unbekannten Situation, Strecke oder Örtlichkeit.

Alternative Bereitstellung eines Fahrtendienstes i.S. eines Sammeltaxis bzw. Kommunikation der Verkehrsmittel Möglichkeit zur Nutzung bestehender (Mikro-ÖV-) Angebote für Betroffene.

Bewusstsein und Sensibilisierung der Gesellschaft (i.S. einer persönlichen/virtuellen Schulung von Entstigmatisierung Fahrgästen) hinsichtlich der erschwerten Mobilitätsteilnahme der Betroffenen.

Quelle: Eigene Darstellung

298 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

17.2 Forschungsbedarf

Weiterer Forschungsbedarf ergibt sich aufgrund der in PHOBILITY generierten Studienergebnisse, die unter Einbeziehung von Betroffenen, Fachpersonal aus dem Bereich Gesundheit (PsychologInnen, ÄrztInnen etc.) und Verkehrs- expertInnen erarbeitet wurden. Im Sinne der praxis- bzw. forschungsrelevanten Verwertung des ausgesprochenen Forschungsbedarfs werden Ziele, die in nationalen mobilitäts- und gesundheitsrelevanten Ausschreibungen enthalten sind, adressiert. Bei den berücksichtigten Zielsetzungen handelt es sich um eine selektive Auswahl aktueller Forschungsförderungsausschreibungen. Die Bewertung der möglichen Wirkungsorientierung (direkt, indirekt) erfolgte entsprechend der Einschätzung der Forschenden und ist als Vorschlag zu betrachten. Bei den berücksichtigten Programmen, aus denen die Zielsetzungen entnommen wurden, handelt es sich um die aktuelle FTI-Initiative „Mobilität der Zukunft“ des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie und den darin formulierten Programmzielen225, das „Arbeitsprogramm 2016“ des Fonds Gesundes Österreich226 und die mit dem Arbeitsprogramm adressierten Rahmenziele-Gesundheit227 sowie das Programm „benefit - Intelligente Technologien für ältere Menschen“. Neben dieser Auswahl gibt es auch zahlreiche weitere potentielle Förderstellen bzw. Fördertöpfe, welche zur Abdeckung des Forschungsbedarfs herangezogen werden könnten; beispielsweise Ausschreibungen auf EU-Ebene (z.B. Horizon 2020) oder anderweitige nationale, nicht vom Öffentlichen Dienst bereitgestellte Förder- initiativen wie z.B. der Rahmen-Pharmavertrag der pharmazeutischen Industrie Österreichs. Ergänzend wurde je formuliertem Forschungsbedarf eine Empfehlung für die Art der potentiellen Forschungsförderung (Grundlagenforschung, angewandte Forschung, Pilot) im Sinne einer effizienten Schließung von Wissenslücken ausgesprochen. Der im Rahmen der PHOBILITY-Sondierung identifizierte Forschungsbedarf zur Verkehrsteilnahme von Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen richtet sich jedenfalls an unterschiedlichste Förder- und AuftraggeberInnen, die den Bedarf sehen, die Verkehrsteilnahme der betroffenen Zielgruppe zu gewährleisten. Zudem werden jene Forschungsfragen orange hervorgehoben (F2, F5, F7, F11), die mit dem geplanten Folgeprojekt „PHOBILITY Aktiv“ (derzeit in Einreichung im Rahmen der 6. Ausschreibung des Programms „Mobilität der

225 BMVIT (2015, S. 8). 226 Gesundheit Österreich GmbH (o.J.). 227 Rendi-Wagner (2015).

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 299 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Zukunft“) adressiert werden. Darüber hinaus werden Querverweise zur Verkehrs- teilnahme und den dabei auftretenden Problemlagen von Personen mit anderen psychischen Beeinträchtigungen (z.B. Depression, Demenz) hergestellt und bei der Formulierung von Forschungsbedarf berücksichtigt. Tabelle 16 enthält die formulierten Forschungsfragen inkl. Kennzeichnung der jeweiligen möglichen Art des Forschungsvorhabens (Grundlagenforschung, angewandte Forschung, Pilot). Die Bewertung der direkten und indirekten Wirkungsorientierung der Forschungsfragen gegenüber den, in ausgewählten Forschungsprogrammen, formulierten Zielsetzungen ist den darauffolgenden Tabellen (Tabelle 17 bis Tabelle 22) zu entnehmen und als Empfehlung zu betrachten. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass durch die Kombination mehrerer formulierter Forschungsfragen auch dementsprechend ergänzende bzw. mehrere Zielsetzungen adressiert werden können.

Tabelle 16: Formulierte Forschungsfragen und Art des Forschungsvorhabens

LEGENDE:

Berücksichtigung im Rahmen des Forschungsvorhabens „PHOBILITY Aktiv“

Forschungsbedarf  Grundlagenforschung, Angewandte Forschung, Pilot

rt der anzustrebenden Forschungsförderung:    Nummerierung der Forschungsfragen-Gruppen Bezeichnung der Forschungsfragen/des Forschungsbedarfs A

Wie hoch ist die Anzahl der durch Phobien, Angst- und Zwangsstörungen betroffenen ÖsterreicherInnen? Wie viele Personen mit F4-Diagnose müssen an einer der Zielgruppe entsprechenden repräsentativen Umfrage zu ihrer Verkehrsteilnahme F1 teilnehmen, um dann auch für einzelne Untergruppen, wie beispielsweise nach Alter,  Geschlecht, Region, Verkehrsmittelnutzung, Berufstätigkeit usw. valide Ergebnisse generieren zu können? Wie groß ist das Dunkelfeld im Bereich der von F4-Diagnosen betroffenen Personen bzw. VerkehrsteilnehmerInnen?

Fortsetzung Tabelle 16 S.300

300 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 16

Inwieweit spielen Gender-Aspekte bei der Verkehrsteilnahme von F4-Diagnostizierten F2 sowie bei Personen mit anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) eine  Rolle?

Inwiefern unterscheiden sich Mobilitätsformen, -bedürfnisse und -barrieren von F3 Personen mit F4-Diagnose bzw. Personen mit anderen psychischen Beeinträchtigungen  (siehe F26) nach Raumtypen (z.B. urban, rural)?

Welchen Problemlagen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades begegnen Personen mit F4 F4-Diagnose und anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) bei der  Ausübung unterschiedlicher Wegzwecke (z.B. Arbeit, Einkauf)?

Welche Rolle spielen Angehörige von Personen mit F4-Diagnose und anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) im Sinne der Gewährleistung von Mobilität F5 und sozialer Teilhabe? Welchen Einfluss hat dies auf die Mobilitätsbiographie bzw. auf  das -muster von Betroffenen? Wie kann eine unabhängige Lebensweise von Betroffenen (und Angehörigen) gewährleistet werden?

Inwieweit soll/muss die Gestaltung (Ausstattung, Design etc.) der (öffentlichen) Verkehrssysteme so angepasst werden, dass diese von Personen mit F4-Diagnose bzw. Personen mit anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) uneingeschränkt genutzt werden können? F6  Wie kann ein solches Verkehrssystem bedarfsgerecht, ökonomisch und ökologisch gestaltet werden?

Wie kann die Finanzierung entsprechender Maßnahmen sichergestellt werden?

Können (tragbare) Technologien erfolgreich dazu beitragen, Mobilität im Alltag der Personen mit F4-Diagnose sowie Personen mit anderen psychischen  Beeinträchtigungen (siehe F26) und somit die soziale Teilhabe dauerhaft zu erleichtern   F7 bzw. zu gewährleisten? 

 Wenn ja, welche (tragbare) Technologien tragen dazu bei und welche Wirkung haben  diese direkt/ indirekt (Stichwort Verkehrssicherheit)?

Wie wirken sich neue bzw. automatisierte Fahrzeugtechnologien auf das Mobilitätsverhalten von Personen mit F4-Diagnose und anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) aus?   Inwieweit muss/soll bei der Entwicklung von zukünftigen (automatisierten)  F8 Fahrzeugtechnologien auf die Bedürfnisse von Personen mit F4-Diagnose bzw.  Personen mit anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) eingegangen  werden? Wie kann bzw. muss ein Fahrzeug ausgestattet/gestaltet sein, damit die  Mobilitätsbedürfnisse dieser Personengruppe im Sinne der verkehrspolitischen Zielsetzungen entsprechend erfüllt werden können?

Welche Wirkungen sind bei der Umsetzung einzelner Maßnahmen zu erwarten und F9 welches Nutzen-Kosten-Verhältnis entsteht dabei? Welche Maßnahmen sind  infolgedessen realisierungswürdig bzw. nicht realisierungswürdig?

Welche Formen von Mobilitäts- oder Gesundheitstraining können erfolgreich dazu  F10 beitragen, dass Personen mit F4-Diagnose ihren individuellen (Mobilitäts-)Bedürfnissen  ohne erhebliche Einschränkung nachgehen können?

Fortsetzung Tabelle 16 S.301

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 301 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 16

Welche AkteurInnen müssen aktiv in die Ausgestaltung eines auch für Personen mit F4-Diagnose bzw. Personen mit psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) zugänglichen Verkehrssystems eingebunden werden? F11  Wie kann ein intensiver Austausch zwischen Gesundheits- und Verkehrswesen gefördert werden, um die geforderte uneingeschränkte Mobilität im Sinne des „Design for all“ gewährleisten zu können?

Welchen Beitrag können private Unternehmungen und öffentliche Einrichtungen F12 leisten, sodass Mobilitätsbarrieren von Betroffenen minimiert bzw. zur Gänze  vermieden werden? Welche Dienstleistungen wären denkbar bzw. umsetzbar?

In welchen Bereichen der Verkehrssicherheit (z.B. Risikowahrnehmung, Fahrtüchtigkeit, Unfallursachen) sind die Bedürfnisse und zielgruppenspezifische F13  Erkenntnisse zum Mobilitätsverhalten von Personen mit F4-Diagnosen unbedingt zu berücksichtigen?

Wie können die Ergebnisse im Bereich der wirkungsorientierten Verwaltung F14  angewandt werden?

Wie ist in der Bevölkerung das Bewusstsein gegenüber Personen mit F4-Diagnose und anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) vorhanden und wie wird damit umgegangen?

F15  Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, um eine Aufklärung, Sensibilisierung und Entstigmatisierung in der Bevölkerung gegenüber Personen mit F4-Diagnose und anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) zu erreichen?

Inwieweit berücksichtigen die vorhandenen verkehrs-, gesundheits- und forschungspolitischen Zielsetzungen (z.B. Roadmaps) und Gesetze (z.B. Behindertengleichstellungsgesetz) die Zielgruppe und wo müssen/sollen sie   F16 gegebenenfalls adaptiert werden?   Wenn ja, was müsste im Detail geändert werden, damit die oben genannten Zielsetzungen die Zielgruppe mit adressieren?

Welche gesundheitspräventiven und mobilitätsrelevanten Beiträge können in den Bereichen Bildungswesen, Gesundheitswesen und Normungswesen (Stichwort F17  Barrierefreiheit) zur ganzheitlichen Inklusion von Personen mit psychischen Beeinträchtigungen geleistet werden?

Inwieweit finden Personen mit F4-Diagnose bzw. Personen mit psychischen F18 Beeinträchtigungen (siehe F26) generell im (österreichischen) Gesetzeswesen zur  Gewährleistung gleichberechtigter Lebensumstände Berücksichtigung?

Inwiefern sollten die Bedürfnisse psychisch erkrankter Personen (siehe F26) im Feld des einschlägigen Normungswesens bei der Erstellung von (normativen) Richtlinien F19  für das Straßen- und Schienenverkehrswesen im Sinne der Verkehrssicherheit berücksichtigt werden?

Fortsetzung Tabelle 16 S.302

302 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 16

Welche gesamtwirtschaftlichen Kosten ergeben sich aufgrund der derzeitigen Nicht- Berücksichtigung der (Mobilitäts-)Bedürfnisse und (mobilitätsrelevanten) Problemlagen   F20 von Personen mit psychischen Beeinträchtigungen (u.a. Krankenstand)?   Gibt es externe Effekte aufgrund der Nicht-Berücksichtigung und wenn ja, welche?

Welche zusätzlichen Barrieren bzw. erschwerten Bedingungen ergeben sich für F21 Personen mit F4-Diagnose aufgrund einer Komorbidität bzw. der fortschreitenden  Alterung?

Welche Konfliktsituationen ergeben sich beim Vergleich der sehr individuellen F22 Bedürfnisse verschiedener vulnerabler VerkehrsteilnehmerInnengruppen (z.B.  körperlich vs. psychisch Beeinträchtigte (siehe F26)?

Inwiefern unterscheiden sich die zielgruppenspezifischen Bedürfnisse und Mobilitätsbarrieren von jenen Bedürfnissen und Barrieren anderer Zielgruppen F23  (Stichwort Rebound-Effekte)? Kann sichergestellt werden, dass sich die identifizierten Mobilitätsbarrieren ausschließlich auf die Erkrankung zurückführen lassen?

Sind Teilergebnisse des Projektvorhabens PHOBILITY auf andere Zielgruppen (z.B. F24 Depressionen, Demenz) übertragbar, um aufbauend darauf für andere Zielgruppen  (siehe F26) Maßnahmen ableiten zu können?

Welche anderweitigen Methoden können herangezogen werden, um die F25 Verkehrsteilnahme von F4-Diagnostizierten sowie anderer vulnerabler Zielgruppen  repräsentativ und in leistbarer Form zu erforschen?

Wie können die im Projektvorhaben PHOBILITY angewandten Forschungsmethoden F26 auf andere Zielgruppen (z.B. Depressionen, Demenz) umgelegt werden und welche  Ergebnisse sind zu erwarten?

Quelle: Eigene Darstellung

Den nachfolgenden Tabellen (Tabelle 17 bis Tabelle 22) ist der auf den Ergebnissen von PHOBILITY basierende Forschungsbedarf sowie die Bewer- tung der direkten und indirekten Wirkungsorientierung auf aktuelle gesellschafts- und forschungspolitische Zielsetzungen in Österreich zu entnehmen. Orange markiert sind wieder jene Forschungsfragen, die im Forschungsvorhaben „PHOBILITY Aktiv“ berücksichtigt würden. Folgende Legende ist für die Tabelle 17 bis Tabelle 22 anzuwenden.

LEGENDE:  direkte Wirkungsorientierung () indirekte Wirkungsorientierung Berücksichtigung im Rahmen des Forschungsvorhabens „PHOBILITY Aktiv“

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 303 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 17: Überblick Forschungsbedarf F1 bis F5 und ausgewählte Zielsetzungen Gewährleistung der Sicherheit und Mobilität und Sicherheit der Gewährleistung

    Unterstützung im Alltag im Unterstützung

) Verbesserung der Informationsvermittlung und Informationsvermittlung der Verbesserung  (

e

) ) ) Aufrechterhaltung der sozialen Eingebundenheit ("e-inclusion") Eingebundenheit sozialen der Aufrechterhaltung

    konzepten und Wertschöpfungsketten und konzepten

)( )( Anregungen von neuen Geschäftsmodellen, Marketing- Geschäftsmodellen, neuen von Anregungen  

benefit – das Programm umgebungsunterstütztes Leben (AAL) Leben umgebungsunterstütztes

)( Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz für für Akzeptanz gesellschaftlichen der Erhöhung 

Link: https://www.ffg.at/benefit Link:

Fokus:

Produkte und technologiegestützten Dienstleistungen technologiegestützten und Produkte

Erhöhung der Bedien- und Anwendbarkeit der entwickelten der Anwendbarkeit und Bedien- der Erhöhung technologiegestützte Dienstleistungen technologiegestützte

) )( )( )( Technologie-Produkte (insbesondere im IKT-Bereich) und und IKT-Bereich) im (insbesondere Technologie-Produkte

   

Anregung der Forschung und Entwicklung für innovative, innovative, für Entwicklung und Forschung der Anregung ( ( ( Intelligente Technologien fürIntelligente ältere Menschen(BMVIT, FFG)*** Bevölkerungsgruppen fördern Bevölkerungsgruppen

)(

Psychosoziale Gesundheit bei allen allen bei Gesundheit Psychosoziale  

( entsprechende Gestaltung der Lebenswelten fördern fördern Lebenswelten der Gestaltung entsprechende

)

Gesunde und sichere Bewegung im Alltag durch die durch Alltag im Bewegung sichere und Gesunde  

( bestmöglich gestalten und unterstützen und gestalten bestmöglich

) Gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendliche Jugendliche und Kinder alle für Aufwachsen Gesundes   (

) Durch sozialen Zusammenhalt die Gesundheit stärken Gesundheit die Zusammenhalt sozialen Durch   

hnungen an eine Auswahl nationaler Forschungsförderungsprogramm nationaler Auswahl eine an hnungen Generationen nachhaltig gestalten und sichern und gestalten nachhaltig Generationen

)( Boden sowie alle unsere Lebensräume auch für künftige künftige für auch Lebensräume unsere alle sowie Boden

 Die natürlichen Lebensgrundlagen wie Luft, Wasser und und Wasser Luft, wie Lebensgrundlagen natürlichen Die

) )( Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken Bevölkerung der Gesundheitskompetenz Die

Link: http://www.fgoe.org/  

( ( von der Herkunft, für alle Altersgruppen sorgen Altersgruppen alle für Herkunft, der von

) Geschlechtern und sozioökonomischen Gruppen, unabhängig Gruppen, sozioökonomischen und Geschlechtern

  Rahmen-Gesundheitsziele (Rendi-Wagner 2015) für2015) (Rendi-Wagner Rahmen-Gesundheitsziele Für gesundheitliche Chancengerechtigkeit zwischen den zwischen Chancengerechtigkeit gesundheitliche Für (

Arbeitsprogramme des Fonds Gesundes Österreich Politik- und Gesellschaftsbereiche schaffen Gesellschaftsbereiche und Politik-

Fokus:

für alle Bevölkerungsgruppen durch Kooperation aller Kooperation durch Bevölkerungsgruppen alle für Gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und Lebens- Gesundheitsförderliche

) Aufbau und Forcierung internationaler Kooperationen Kooperationen internationaler Forcierung und Aufbau

( Kompetenzführerschaft im Mobilitätsbereich im Kompetenzführerschaft Forschung      Wirtschaft und

) ) Reduzierung von Emissionen und Immissionen und Emissionen von Reduzierung   ( ( Umwelt

Mobilitäts-und gesundheitsrelevante Zielsetzungen in Anle Qualität und Verfügbarkeit der Verkehrsinfrastruktur der Verfügbarkeit und Qualität

) Nachhaltige Mobilitätsformen und -muster und Mobilitätsformen Nachhaltige Mobilität der Zukunft (BMVIT 2012) (BMVIT Zukunft der Mobilität  (

Gesellschaft Link: https://www.ffg.at/mobilitaetderzukunft Link: Verkehrssystems des Zugänglichkeit und Nutzbarkeit

Fokus:

        

Pilot Forschung, Angewandte  

Grundlagenforschung, Grundlagenforschung, 

     Art der anzustrebenden Forschungsförderung: anzustrebenden der Art

bei der Verkehrsteilnahme Verkehrsteilnahme der bei von Personen von F4-mit Bezeichnung der Forschungsfragen/des Forschungsbedarfs Forschungsfragen/des der Bezeichnung (z.B. Arbeit, Einkauf)? Forschungsbedarf der durch Phobien, Angst- und Angehörige Wegzwecke Gender-Aspekte Anzahl (z.B. urban, rural)? urban, (z.B. im Bereich der von F4-Diagnosen betroffenen

Wie hoch ist die ist hoch Wie Wie ÖsterreicherInnen? betroffenen Zwangserkrankungen der einer an müssen F4-Diagnose mit Personen viele Zielgruppe entsprechenden füreinzelne repräsentativenauch dann um Umfrage zu ihrerteilnehmen, Verkehrsteilnahme beispielsweise Untergruppen, wie nach Alter, Geschlecht, Berufstätigkeit Region,Verkehrsmittelnutzung, valide usw. Wie istdas groß können? zu generieren Ergebnisse Dunkelfeld spielen Inwieweit -bedürfnisse Mobilitätsformen, sich unterscheiden Inwiefern Personen bzw. F4-Diagnose mit Personen von -barrieren und mit anderen psychischen Beeinträchtigungen Raumtypen (siehe F26) nach Schwierigkeits- unterschiedlichen Problemlagen Welchen anderen und F4-Diagnose mit Personen begegnen grades psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) bei der Ausübung unterschiedlicher Welche Rolle spielen Diagnose und anderen psychischen Beeinträchtigungen sozialerF26)derMobilität von und Sinne Gewährleistung im (siehe Mobilitäts- die auf dies hat Einfluss Welchen Teilhabe? biographie bzw. auf das(und -musterBetroffenen von Lebensweise von Betroffenen?unabhängige eine Wie kann werden? gewährleistet Angehörigen) Personen bzw. VerkehrsteilnehmerInnen? bzw. Personen von F4-Diagnostizierten sowie bei Personen mit anderen anderen mit Personen bei sowie F4-Diagnostizierten von psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) eine Rolle? Nummerierung der Forschungsfragen-Gruppen der Nummerierung

F1 F2 F3 F4 F5 Quelle: Eigene Darstellung

304 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 18: Überblick Forschungsbedarf F6 bis F8 und ausgewählte Zielsetzungen Gewährleistung der Sicherheit und Mobilität und Sicherheit der Gewährleistung

 Unterstützung im Alltag im Unterstützung

) Verbesserung der Informationsvermittlung und Informationsvermittlung der Verbesserung 

)( Aufrechterhaltung der sozialen Eingebundenheit ("e-inclusion") Eingebundenheit sozialen der Aufrechterhaltung

(

konzepten und Wertschöpfungsketten und konzepten Anregungen von neuen Geschäftsmodellen, Marketing- Geschäftsmodellen, neuen von Anregungen 

benefit – dasProgramm umgebungsunterstütztes Leben (AAL) Leben umgebungsunterstütztes Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz für für Akzeptanz gesellschaftlichen der Erhöhung

Link: https://www.ffg.at/benefit

Fokus: Fokus:

Produkte und technologiegestützten Dienstleistungen technologiegestützten und Produkte

Erhöhung der Bedien- und Anwendbarkeit der entwickelten der Anwendbarkeit und Bedien- der Erhöhung technologiegestützte Dienstleistungen technologiegestützte

) Technologie-Produkte (insbesondere im IKT-Bereich) und und IKT-Bereich) im (insbesondere Technologie-Produkte

    

Intelligente Technologien für ältere Menschen (BMVIT, FFG)*** (BMVIT, Menschen fürältere Technologien Intelligente innovative, für Entwicklung und Forschung der Anregung Bevölkerungsgruppen fördern Bevölkerungsgruppen

)( )

Psychosoziale Gesundheit bei allen allen bei Gesundheit Psychosoziale   entsprechende Gestaltung der Lebenswelten fördern fördern Lebenswelten der Gestaltung entsprechende

)( )(

Gesunde und sichere Bewegung im Alltag durch die durch Alltag im Bewegung sichere und Gesunde   bestmöglich gestalten und unterstützen und gestalten bestmöglich

)( )( Gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendliche Jugendliche und Kinder alle für Aufwachsen Gesundes   ( (

en an eine Auswahl nationaler Forschungsförderungsprogramme nationaler Auswahl eine an en Durch sozialen Zusammenhalt die Gesundheit stärken Gesundheit die Zusammenhalt sozialen Durch

Generationen nachhaltig gestalten und sichern und gestalten nachhaltig Generationen Boden sowie alle unsere Lebensräume auch für künftige künftige für auch Lebensräume unsere alle sowie Boden

 Die natürlichen Lebensgrundlagen wie Luft, Wasser und und Wasser Luft, wie Lebensgrundlagen natürlichen Die

) Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken Bevölkerung der Gesundheitskompetenz Die

Link: http://www.fgoe.org/  von der Herkunft, für alle Altersgruppen sorgen Altersgruppen alle für Herkunft, der von

)( Geschlechtern und sozioökonomischen Gruppen, unabhängig Gruppen, sozioökonomischen und Geschlechtern

 Rahmen-Gesundheitsziele (Rendi-Wagner 2015) für Für gesundheitliche Chancengerechtigkeit zwischen den zwischen Chancengerechtigkeit gesundheitliche Für

Arbeitsprogramme des Fonds GesundesÖsterreich Politik- und Gesellschaftsbereiche schaffen Gesellschaftsbereiche und Politik-

Fokus:

für alle Bevölkerungsgruppen durch Kooperation aller Kooperation durch Bevölkerungsgruppen alle für Gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und Lebens- Gesundheitsförderliche

)( Aufbau und Forcierung internationaler Kooperationen Kooperationen internationaler Forcierung und Aufbau

( Kompetenzführerschaft im Mobilitätsbereich im Kompetenzführerschaft Forschung       Wirtschaft und und Wirtschaft

) ) Reduzierung von Emissionen und Immissionen und Emissionen von Reduzierung   ( ( Umwelt

Mobilitäts- und gesundheitsrelevante Zielsetzungen in Anlehnung in Zielsetzungen gesundheitsrelevante und Mobilitäts-

Qualität und Verfügbarkeit der Verkehrsinfrastruktur der Verfügbarkeit und Qualität Nachhaltige Mobilitätsformen und -muster und Mobilitätsformen Nachhaltige Mobilität der Zukunft (BMVIT 2012) (BMVIT Zukunft der Mobilität

Gesellschaft Link: https://www.ffg.at/mobilitaetderzukunft Verkehrssystems des Zugänglichkeit und Nutzbarkeit

Fokus:

     

Pilot Forschung, Angewandte  

Grundlagenforschung, Grundlagenforschung, 

     Art der anzustrebenden Forschungsförderung: anzustrebenden der Art (Ausstattung,Design etc.)

erfolgreich dazu beitragen, Bezeichnung der Forschungsfragen/des Forschungsbedarfs Forschungsfragen/des der Bezeichnung entsprechender Maßnahmen Maßnahmen entsprechender automatisierte automatisierte Forschungsbedarf auf das Verkehrsverhalten von von Verkehrsverhalten das auf Gestaltung Gestaltung Technologien Finanzierung

der (öffentlichen) Verkehrssysteme so angepasst werden,diese dass Personen von F4-Diagnose mit Personen bzw. mit anderen psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) uneingeschränkt genutzt werden können? Wie einsolches kann Verkehrssystemwerden? bedarfsgerecht, gestaltet ökologisch und ökonomisch die kann Wie der Personen Alltag Mobilität F4-Diagnoseim mit sowie Personen anderen mit psychischen Beeinträchtigungen(siehe erleichtern zu dauerhaft Teilhabe soziale die somit und F26) zu bzw. gewährleisten? Wenn ja, welche (tragbare) Technologien tragen dazu bei und Wirkung diesewelche haben direkt/ indirekt (Stichwort Verkehrssicherheit)? Inwieweit soll/muss die soll/muss Inwieweit Können (tragbare) Wie wirken sich neue bzw. Fahrzeugtechnologien sichergestellt werden? sichergestellt Personen mit F4-Diagnose anderenund psychischenaus? F26) (siehe Beeinträchtigungen von zukünftigen bei muss/soll der Entwicklung Inwieweit (automatisierten) anderen Fahrzeugtechnologienmit Personen bzw. F4-Diagnose mit Personen aufvon die Bedürfnisse psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) eingegangen werden?Wie mussein Fahrzeugausgestattet/ bzw. kann gestaltet sein,die Mobilitätsbedürfnisse damit dieser Personengruppe im Sinne der verkehrspolitischen Zielsetzungen entsprechend erfüllt werden können? Nummerierung der Forschungsfragen-Gruppen der Nummerierung F6 F7 F8 Quelle: Eigene Darstellung

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 305 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 19: Überblick Forschungsbedarf F9 bis F14 und ausgewählte Zielsetzungen Gewährleistung der Sicherheit und Mobilität und Sicherheit der Gewährleistung

   Unterstützung im Alltag im Unterstützung

) Verbesserung der Informationsvermittlung und Informationsvermittlung der Verbesserung 

)( Aufrechterhaltung der sozialen Eingebundenheit ("e-inclusion") Eingebundenheit sozialen der Aufrechterhaltung

 

( konzepten und Wertschöpfungsketten und konzepten

) ) Anregungen von neuen Geschäftsmodellen, Marketing- Geschäftsmodellen, neuen von Anregungen    (

benefit – das Programm umgebungsunterstütztes Leben (AAL) Leben umgebungsunterstütztes

)( Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz für für Akzeptanz gesellschaftlichen der Erhöhung 

Link: https://www.ffg.at/benefit

Fokus: Produkte und technologiegestützten Dienstleistungen technologiegestützten und Produkte

) )(

Erhöhung der Bedien- und Anwendbarkeit der entwickelten der Anwendbarkeit und Bedien- der Erhöhung  

( technologiegestützte Dienstleistungen technologiegestützte

)( Technologie-Produkte (insbesondere im IKT-Bereich) und und IKT-Bereich) im (insbesondere Technologie-Produkte

 

Anregung der Forschung und Entwicklung für innovative, innovative, für Entwicklung und Forschung der Anregung ( Intelligente Technologien für ältere Menschen (BMVIT, FFG)*** Bevölkerungsgruppen fördern Bevölkerungsgruppen

)

Psychosoziale Gesundheit bei allen allen bei Gesundheit Psychosoziale  entsprechende Gestaltung der Lebenswelten fördern fördern Lebenswelten der Gestaltung entsprechende

)(

Gesunde und sichere Bewegung im Alltag durch die durch Alltag im Bewegung sichere und Gesunde  bestmöglich gestalten und unterstützen und gestalten bestmöglich

)( Gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendliche Jugendliche und Kinder alle für Aufwachsen Gesundes 

eneineanAuswahl nationaler Forschungsförderungsprogramme )( Durch sozialen Zusammenhalt die Gesundheit stärken Gesundheit die Zusammenhalt sozialen Durch

  Generationen nachhaltig gestalten und sichern und gestalten nachhaltig Generationen

) Boden sowie alle unsere Lebensräume auch für künftige künftige für auch Lebensräume unsere alle sowie Boden

und und Wasser t, Die natürlichen Lebensgrundlagen wie Luf wie Lebensgrundlagen natürlichen Die (

)( Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken Bevölkerung der Gesundheitskompetenz Die

Link: http://www.fgoe.org/   

uppen sorgen uppen Altersgr alle für Herkunft, der von

) )( Geschlechtern und sozioökonomischen Gruppen, unabhängig Gruppen, sozioökonomischen und Geschlechtern

  Rahmen-Gesundheitsziele (Rendi-Wagner 2015) für2015) (Rendi-Wagner Rahmen-Gesundheitsziele Für gesundheitliche Chancengerechtigkeit zwischen den zwischen Chancengerechtigkeit gesundheitliche Für (

Arbeitsprogramme des Fonds Gesundes Österreich Gesundes Fonds des Arbeitsprogramme Politik- und Gesellschaftsbereiche schaffen Gesellschaftsbereiche und Politik-

Fokus:

)( für alle Bevölkerungsgruppen durch Kooperation aller Kooperation durch Bevölkerungsgruppen alle für

 Gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und Lebens- Gesundheitsförderliche (

) Aufbau und Forcierung internationaler Kooperationen Kooperationen internationaler Forcierung und Aufbau

( Kompetenzführerschaft im Mobilitätsbereich im Kompetenzführerschaft Forschung   Wirtschaft und

) Reduzierung von Emissionen und Immissionen und Emissionen von Reduzierung  ( Umwelt

Mobilitäts-und gesundheitsrelevante Zielsetzungen inAnlehnung Qualität und Verfügbarkeit der Verkehrsinfrastruktur der Verfügbarkeit und Qualität  

) ) Nachhaltige Mobilitätsformen und -muster und Mobilitätsformen Nachhaltige Mobilität der Zukunft (BMVIT 2012) (BMVIT Zukunft der Mobilität   ( (

Gesellschaft Link: https://www.ffg.at/mobilitaetderzukunft Verkehrssystems des Zugänglichkeit und Nutzbarkeit

Fokus:

       

Pilot Forschung, Angewandte  

Grundlagenforschung, Grundlagenforschung, 

       Art der anzustrebenden Forschungsförderung: anzustrebenden der Art und wären denkbar (z.B. Nutzen-Kosten-

zwischen Gesundheits- Bezeichnung der Forschungsfragen/des Forschungsbedarfs Forschungsfragen/des der Bezeichnung leisten, sodass sodass leisten, Dienstleistungen Verkehrssicherheit Forschungsbedarf private Unternehmungenprivate Austausch Mobilitäts- oder Gesundheits-training Mobilitäts-oder entsteht dabei? Welche Maßnahmen sind sind Maßnahmen Welche dabei? entsteht

und Verkehrswesen gefördert werden, um die geforderteuneingeschränkte Mobilität Sinne im des Design for All gewährleisten zu können? bzw. umsetzbar? bzw. Welche Wirkungen sind bei der Umsetzung einzelnerMaßnahmen zu erwarten und welches Verhältnis nicht bzw. realisierungswürdig infolgedessen realisierungswürdig? Welche Formen vonF4- mit Personen dass beitragen, dazu erfolgreich können Diagnose ihren (Mobilitäts-) individuellen bedürfnissenkönnen? ohne nachgehen Einschränkung erhebliche eines Ausgestaltung die in aktiv müssen AkteurInnen Welche auch für Personen F4-Diagnose mit Personen bzw. mit psychischen Beeinträchtigungenwerden? (sieheeingebunden F26)Verkehrssystems zugänglichen Wie kann ein intensiver Welchen Beitrag können Einrichtungen öffentliche Mobilitätsbarrieren von Betroffenen minimiert zur bzw. Gänze vermieden werden? Welche der Bereichen welchen In Wie können die Ergebnisse im BereichVerwaltung derwirkungsorientierten angewandt werden? Risikowahrnehmung, Fahrtüchtigkeit, Unfallursachen)Bedürfnisse sind die und zielgruppenspezifische ErkenntnisseMobilitätsverhalten von Personen F4-Diagnosen mit zum unbedingt berücksichtigen? zu Nummerierung der Forschungsfragen-Gruppen der Nummerierung

F9 F10 F11 F12 F13 F14 Quelle: Eigene Darstellung

306 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 20: Überblick Forschungsbedarf F15 bis F18 und ausgewählte Zielsetzungen

ilität Mob und Sicherheit der Gewährleistung

Unterstützung im Alltag im Unterstützung

Verbesserung der Informationsvermittlung und Informationsvermittlung der Verbesserung

Aufrechterhaltung der sozialen Eingebundenheit ("e-inclusion") Eingebundenheit sozialen der Aufrechterhaltung konzepten und Wertschöpfungsketten und konzepten

) Anregungen von neuen Geschäftsmodellen, Marketing- Geschäftsmodellen, neuen von Anregungen 

benefit – das Programm umgebungsunterstütztes Leben (AAL) Leben umgebungsunterstütztes Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz für für Akzeptanz gesellschaftlichen der Erhöhung

Link: https://www.ffg.at/benefit

Fokus: Fokus:

Produkte und technologiegestützten Dienstleistungen technologiegestützten und Produkte

Erhöhung der Bedien- und Anwendbarkeit der entwickelten der Anwendbarkeit und Bedien- der Erhöhung technologiegestützte Dienstleistungen technologiegestützte

)( Technologie-Produkte (insbesondere im IKT-Bereich) und und IKT-Bereich) im (insbesondere Technologie-Produkte

Anregung der Forschung und Entwicklung für innovative, innovative, für Entwicklung und Forschung der Anregung ( Intelligente Technologien für Intelligente ältereMenschen (BMVIT, FFG)***

Bevölkerungsgruppen fördern Bevölkerungsgruppen

Psychosoziale Gesundheit bei allen allen bei Gesundheit Psychosoziale 

entsprechende Gestaltung der Lebenswelten fördern fördern Lebenswelten der Gestaltung entsprechende

Gesunde und sichere Bewegung im Alltag durch die durch Alltag im Bewegung sichere und Gesunde  

bestmöglich gestalten und unterstützen und gestalten bestmöglich Gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendliche Jugendliche und Kinder alle für Aufwachsen Gesundes

en an eine Auswahl nationaler Forschungsförderungsprogramme nationaler Auswahl eine an en ) ) Durch sozialen Zusammenhalt die Gesundheit stärken Gesundheit die Zusammenhalt sozialen Durch

 

(

Generationen nachhaltig gestalten und sichern und gestalten nachhaltig Generationen

Boden sowie alle unsere Lebensräume auch für künftige künftige für auch Lebensräume unsere alle sowie Boden Die natürlichen Lebensgrundlagen wie Luft, Wasser und und Wasser Luft, wie Lebensgrundlagen natürlichen Die

)( Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken Bevölkerung der Gesundheitskompetenz Die

Link: http://www.fgoe.org/ 

(

von der Herkunft, für alle Altersgruppen sorgen Altersgruppen alle für Herkunft, der von Geschlechtern und sozioökonomischen Gruppen, unabhängig Gruppen, sozioökonomischen und Geschlechtern

Rahmen-Gesundheitsziele (Rendi-Wagner 2015) für 2015) (Rendi-Wagner Rahmen-Gesundheitsziele Für gesundheitliche Chancengerechtigkeit zwischen den zwischen Chancengerechtigkeit gesundheitliche Für

Arbeitsprogramme des Fonds Gesundes Österreich Politik- und Gesellschaftsbereiche schaffen Gesellschaftsbereiche und Politik-

Fokus: für alle Bevölkerungsgruppen durch Kooperation aller Kooperation durch Bevölkerungsgruppen alle für

  

Gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und Lebens- Gesundheitsförderliche

Aufbau und Forcierung internationaler Kooperationen Kooperationen internationaler Forcierung und Aufbau Kompetenzführerschaft im Mobilitätsbereich im Kompetenzführerschaft Forschung     Wirtschaft und

) Reduzierung von Emissionen und Immissionen und Emissionen von Reduzierung  ( Umwelt

Mobilitäts- und gesundheitsrelevante Zielsetzungen in Anlehnung in Zielsetzungen gesundheitsrelevante und Mobilitäts-

Qualität und Verfügbarkeit der Verkehrsinfrastruktur der Verfügbarkeit und Qualität Nachhaltige Mobilitätsformen und -muster und Mobilitätsformen Nachhaltige Mobilität der Zukunft (BMVIT 2012) (BMVIT Zukunft der Mobilität

Gesellschaft Link: https://www.ffg.at/mobilitaetderzukunft Verkehrssystems des Zugänglichkeit und Nutzbarkeit

Fokus:

      

Pilot Forschung, Angewandte  

Grundlagenforschung, Grundlagenforschung, 

     Art der anzustrebenden Forschungsförderung: anzustrebenden der Art

in in (z.B. , (Stichwort verkehrs-, verkehrs-, Zielsetzungen Zielsetzungen zur Gewährleistung Gewährleistung zur Entstigmati-sierung

Bildungswesen Bezeichnung der Forschungsfragen/des Forschungsbedarfs Forschungsfragen/des der Bezeichnung und vorhandenen Normungswesen (z.B. Forschungsbedarf und Gesetzeswesen Gesetze Sensibilisierung ,

psychischen Beeinträchtigungen (siehe F26) geleistet werden? geleistet F26) (siehe Beeinträchtigungen psychischen Barrierefreiheit) zur ganzheitlichen Inklusion von Personen mit Personen von Inklusion ganzheitlichen zur Barrierefreiheit) der Bevölkerung gegenüber Personen mit F4-Diagnose und und F4-Diagnose mit Personen gegenüber Bevölkerung der anderen psychischen Beeinträchtigungen (sieheerreichen? F26) zu Gesundheitswesen Wie ist in der Bevölkerungpsychischen anderen das und Bewusstsein F4-Diagnose mit Personen gegenüberdamit wird wie und vorhanden F26) (siehe Beeinträchtigungen umgegangen? eine um werden, getroffen müssen Maßnahmen Welche Aufklärung berücksichtigen Inwieweit die Welche gesundheitspräventiven Bereichen undden mobilitätsrelevantenin können Beiträge mit Personen bzw. F4-Diagnose mit Personen finden Inwieweit im generell F26) (siehe Beeinträchtigungen psychischen (österreichischen) gesundheits- und forschungspolitischen forschungspolitischen und gesundheits- Roadmaps)wo und und Zielgruppe die Behindertengleichstellungsgesetz) müssen/sollen sie gegebenenfalls adaptiert werden? die damit werden, geändert Detail im müsste was ja, Wenn adressieren? mit Zielgruppe die Zielsetzungen genannten oben gleichberechtigter Lebensumstände Berücksichtigung? Lebensumstände gleichberechtigter Nummerierung der Forschungsfragen-Gruppen der Nummerierung

F15 F16 F17 F18 Quelle: Eigene Darstellung

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 307 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 21: Überblick Forschungsbedarf F19 bis F23 und ausgewählte Zielsetzungen Gewährleistung der Sicherheit und Mobilität und Sicherheit der Gewährleistung

Unterstützung im Alltag im Unterstützung

Verbesserung der Informationsvermittlung und Informationsvermittlung der Verbesserung

Aufrechterhaltung der sozialen Eingebundenheit ("e-inclusion") Eingebundenheit sozialen der Aufrechterhaltung konzepten und Wertschöpfungsketten und konzepten

) Anregungen von neuen Geschäftsmodellen, Marketing- Geschäftsmodellen, neuen von Anregungen  

benefit – das Programm umgebungsunterstütztes Leben (AAL) Leben umgebungsunterstütztes

) Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz für für Akzeptanz gesellschaftlichen der Erhöhung 

Link: https://www.ffg.at/benefit

Fokus: Produkte und technologiegestützten Dienstleistungen technologiegestützten und Produkte

)(

Erhöhung der Bedien- und Anwendbarkeit der entwickelten der Anwendbarkeit und Bedien- der Erhöhung  technologiegestützte Dienstleistungen technologiegestützte

)( )( Technologie-Produkte (insbesondere im IKT-Bereich) und und IKT-Bereich) im (insbesondere Technologie-Produkte

 

Anregung der Forschung und Entwicklung für innovative, innovative, für Entwicklung und Forschung der Anregung ( ( Intelligente TechnologienIntelligente für ältere Menschen (BMVIT, FFG)*** Bevölkerungsgruppen fördern Bevölkerungsgruppen

)

Psychosoziale Gesundheit bei allen allen bei Gesundheit Psychosoziale   entsprechende Gestaltung der Lebenswelten fördern fördern Lebenswelten der Gestaltung entsprechende

)(

Gesunde und sichere Bewegung im Alltag durch die durch Alltag im Bewegung sichere und Gesunde    bestmöglich gestalten und unterstützen und gestalten bestmöglich

)( Gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendliche Jugendliche und Kinder alle für Aufwachsen Gesundes 

en an eine Auswahl nationaler Forschungsförderungsprogramme nationaler Auswahl eine an en ) ) )( Durch sozialen Zusammenhalt die Gesundheit stärken Gesundheit die Zusammenhalt sozialen Durch

  

( Generationen nachhaltig gestalten und sichern und gestalten nachhaltig Generationen

)( Boden sowie alle unsere Lebensräume auch für künftige künftige für auch Lebensräume unsere alle sowie Boden

 Die natürlichen Lebensgrundlagen wie Luft, Wasser und und Wasser Luft, wie Lebensgrundlagen natürlichen Die

)( )( Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken Bevölkerung der Gesundheitskompetenz Die

Link: http://www.fgoe.org/   

( von der Herkunft, für alle Altersgruppen sorgen Altersgruppen alle für Herkunft, der von

) )( Geschlechtern und sozioökonomischen Gruppen, unabhängig Gruppen, sozioökonomischen und Geschlechtern

  Rahmen-Gesundheitsziele (Rendi-Wagner 2015) für Für gesundheitliche Chancengerechtigkeit zwischen den zwischen Chancengerechtigkeit gesundheitliche Für ( (

Arbeitsprogramme des Fonds Gesundes Österreich Politik- und Gesellschaftsbereiche schaffen Gesellschaftsbereiche und Politik-

Fokus:

für alle Bevölkerungsgruppen durch Kooperation aller Kooperation durch Bevölkerungsgruppen alle für

Gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und Lebens- Gesundheitsförderliche

Aufbau und Forcierung internationaler Kooperationen Kooperationen internationaler Forcierung und Aufbau Kompetenzführerschaft im Mobilitätsbereich im Kompetenzführerschaft Forschung

Wirtschaft und und Wirtschaft Reduzierung von Emissionen und Immissionen und Emissionen von Reduzierung Umwelt

Mobilitäts- und gesundheitsrelevante Zielsetzungen in Anlehnung in Zielsetzungen gesundheitsrelevante und Mobilitäts-

Qualität und Verfügbarkeit der Verkehrsinfrastruktur der Verfügbarkeit und Qualität Nachhaltige Mobilitätsformen und -muster und Mobilitätsformen Nachhaltige Mobilität der Zukunft (BMVIT 2012) (BMVIT Zukunft der Mobilität 

Gesellschaft Link: https://www.ffg.at/mobilitaetderzukunft Verkehrssystems des Zugänglichkeit und Nutzbarkeit

Fokus:

         

Pilot Forschung, Angewandte  

Grundlagenforschung, Grundlagenforschung, 

      Art der anzustrebenden Forschungsförderung: anzustrebenden der Art - vulnerabler Rebound-

ergebensich Bezeichnung der Forschungsfragen/des Forschungsbedarfs Forschungsfragen/des der Bezeichnung verschiedener ergeben sich Vergleich beim der Forschungsbedarf bei der Erstellung von (normativen) bzw. der fortschreitenden bzw. Alterung? gesamtwirtschaftlichenKosten Konfliktsituationen )? Kann sichergestellt werden, dass sich die die sich dass werden, sichergestellt Kann )?

)Bedürfnisse und (mobilitätsrelevanten) Problemlagen von von Problemlagen (mobilitätsrelevanten) und )Bedürfnisse Personen mit psychischen Beeinträchtigungen (u.a. Krankenstand)? Gibt es externe Effekte aufgrund der Nicht-Berücksichtigung und wenn ja, welche? aufgrund der derzeitigen Nicht-Berücksichtigung der (Mobilitäts sehr individuellen Bedürfnisse VerkehrsteilnehmerInnengruppen (z.B. körperlich vs. psychisch Beeinträchtigte (siehe F26)? Inwiefern sollten die Bedürfnisseeinschlägigen des psychischFeld im 26) erkrankter(siehe Personen Normungswesens Richtlinien für das Straßen- und SchienenverkehrswesenSinne im der Verkehrssicherheit berücksichtigt werden? Welche Welche zusätzlichen Barrieren erschwertenbzw. Bedingungen ergeben sich für Personen mit F4-Diagnose aufgrundKomorbidität einer Welche Inwiefern unterscheiden sich die zielgruppenspezifischen Bedürfnisse und Mobilitätsbarrieren von jenen Bedürfnissen und Barrieren anderer Zielgruppen (Stichwort die auf Effekte ausschließlich Mobilitätsbarrieren identifizierten Erkrankung zurückführen lassen? Nummerierung der Forschungsfragen-Gruppen der Nummerierung

F19 F20 F21 F22 F23 Quelle: Eigene Darstellung

308 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 22: Überblick Forschungsbedarf F24 bis F26 und ausgewählte Zielsetzungen Gewährleistung der Sicherheit und Mobilität und Sicherheit der Gewährleistung

 

Unterstützung im Alltag im Unterstützung

Verbesserung der Informationsvermittlung und Informationsvermittlung der Verbesserung

Aufrechterhaltung der sozialen Eingebundenheit ("e-inclusion") Eingebundenheit sozialen der Aufrechterhaltung konzepten und Wertschöpfungsketten und konzepten

) Anregungen von neuen Geschäftsmodellen, Marketing- Geschäftsmodellen, neuen von Anregungen  (

benefit – das Programm umgebungsunterstütztes Leben (AAL) Leben umgebungsunterstütztes Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz für für Akzeptanz gesellschaftlichen der Erhöhung

Link: https://www.ffg.at/benefit

Fokus:

Produkte und technologiegestützten Dienstleistungen technologiegestützten und Produkte

Erhöhung der Bedien- und Anwendbarkeit der entwickelten der Anwendbarkeit und Bedien- der Erhöhung

technologiegestützte Dienstleistungen technologiegestützte

Technologie-Produkte (insbesondere im IKT-Bereich) und und IKT-Bereich) im (insbesondere Technologie-Produkte

Intelligente Technologien für ältere Menschen (BMVIT, FFG)*** innovative, für Entwicklung und Forschung der Anregung Bevölkerungsgruppen fördern Bevölkerungsgruppen

)

Psychosoziale Gesundheit bei allen allen bei Gesundheit Psychosoziale  entsprechende Gestaltung der Lebenswelten fördern fördern Lebenswelten der Gestaltung entsprechende

)(

Gesunde und sichere Bewegung im Alltag durch die durch Alltag im Bewegung sichere und Gesunde  bestmöglich gestalten und unterstützen und gestalten bestmöglich

)( Gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendliche Jugendliche und Kinder alle für Aufwachsen Gesundes 

)( Durch sozialen Zusammenhalt die Gesundheit stärken Gesundheit die Zusammenhalt sozialen Durch 

nungen an eine Auswahl nationaler Forschungsförderungsprogramme nationaler Auswahl eine an nungen Generationen nachhaltig gestalten und sichern und gestalten nachhaltig Generationen

)( Boden sowie alle unsere Lebensräume auch für künftige künftige für auch Lebensräume unsere alle sowie Boden

 Die natürlichen Lebensgrundlagen wie Luft, Wasser und und Wasser Luft, wie Lebensgrundlagen natürlichen Die

)( Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken Bevölkerung der Gesundheitskompetenz Die

Link: http://www.fgoe.org/  von der Herkunft, für alle Altersgruppen sorgen Altersgruppen alle für Herkunft, der von

)( Geschlechtern und sozioökonomischen Gruppen, unabhängig Gruppen, sozioökonomischen und Geschlechtern

 Rahmen-Gesundheitsziele (Rendi-Wagner 2015) für Für gesundheitliche Chancengerechtigkeit zwischen den zwischen Chancengerechtigkeit gesundheitliche Für

Arbeitsprogramme des Fonds Gesundes Österreich Politik- und Gesellschaftsbereiche schaffen Gesellschaftsbereiche und Politik-

Fokus:

für alle Bevölkerungsgruppen durch Kooperation aller Kooperation durch Bevölkerungsgruppen alle für Gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und Lebens- Gesundheitsförderliche

)( Aufbau und Forcierung internationaler Kooperationen Kooperationen internationaler Forcierung und Aufbau 

)( Kompetenzführerschaft im Mobilitätsbereich im Kompetenzführerschaft Forschung  Wirtschaft und

)( Reduzierung von Emissionen und Immissionen und Emissionen von Reduzierung  Umwelt Mobilitäts- und gesundheitsrelevante Zielsetzungen in Anleh in Zielsetzungen gesundheitsrelevante und Mobilitäts-

)( Qualität und Verfügbarkeit der Verkehrsinfrastruktur der Verfügbarkeit und Qualität 

)( Nachhaltige Mobilitätsformen und -muster und Mobilitätsformen Nachhaltige Mobilität der Zukunft (BMVIT 2012) (BMVIT Zukunft der Mobilität 

Gesellschaft

)( Link: https://www.ffg.at/mobilitaetderzukunft Verkehrssystems des Zugänglichkeit und Nutzbarkeit Fokus:

         

(

Pilot Forschung, Angewandte  

Grundlagenforschung, Grundlagenforschung, 

   Art der anzustrebenden Forschungsförderung: anzustrebenden der Art andere andere (z.B.

können herangezogen herangezogen können Bezeichnung der Forschungsfragen/des Forschungsbedarfs Forschungsfragen/des der Bezeichnung andereZielgruppen Forschungsbedarf auf Methoden (z.B. Depressionen, Demenz) übertragbar, um

Depressionen, Demenz) umgelegt werden welcheund Ergebnisse sind zu erwarten? Sind Teilergebnisse des Projektvorhabens Phobility auf Zielgruppen aufbauend darauf für andere Zielgruppenkönnen? (siehezu F26)ableiten Maßnahmen Welcheanderweitigen Wie können die im Projektvorhaben Phobility angewandten Forschungsmethoden werden, um die Verkehrsteilnahme von F4-Diagnostizierten F4-Diagnostizierten von Verkehrsteilnahme die um werden, sowie anderer vulnerabler Zielgruppen repräsentativerforschen? in und zu Form leistbarer Nummerierung der Forschungsfragen-Gruppen der Nummerierung

F24 F25 F26 Quelle: Eigene Darstellung

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 309 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

18 Verzeichnisse

18.1 Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Kurzbeschreibung Angststörungen anhand ICD-10- und DSM-IV-Definition 34 Tabelle 2: Ausgewählte Studien zur Prävalenz aller Angststörungen 36 Tabelle 3: 1-Jahres- und Lebenszeitprävalenz von Angststörungen 37 Tabelle 4: 1-Jahres-Prävalenz von Angststörungen für Männer und Frauen 38 Tabelle 5: Beziehung zwischen Ereignissen und Coping 48 Tabelle 6: Mobilitätsbarrieren nach dem Akteur-Situations-Schema 80 Tabelle 7: Vor- und Nachteile von problemzentrierten Einzelinterviews 94 Tabelle 8: Vor- und Nachteile von GPS-Wegaufzeichnungen 96 Tabelle 9: Vor- und Nachteile von Wegbegehungen 97 Tabelle 10: Vor- und Nachteile von Gruppendiskussionen 99 Tabelle 11: Eigenschaftsraum für die Fallanalyse 108 Tabelle 12: Phasenstruktur des Zusammenhangs von Mobilität und Angststörung 109 Tabelle 13: Beschreibung der Stichprobe der GPS-Erhebung und Wegbegehungen 219 Tabelle 14: Übersicht Mobilitätsbarrieren GPS-Erhebung 228 Tabelle 15: Handlungsempfehlungen 296 Tabelle 16: Formulierte Forschungsfragen und Art des Forschungsvorhabens 299 Tabelle 17: Überblick Forschungsbedarf F1 bis F5 und ausgewählte Zielsetzungen 303 Tabelle 18: Überblick Forschungsbedarf F6 bis F8 und ausgewählte Zielsetzungen 304 Tabelle 19: Überblick Forschungsbedarf F9 bis F14 und ausgewählte Zielsetzungen 305 Tabelle 20: Überblick Forschungsbedarf F15 bis F18 und ausgewählte Zielsetzungen 306

310 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Tabelle 21: Überblick Forschungsbedarf F19 bis F23 und ausgewählte Zielsetzungen 307 Tabelle 22: Überblick Forschungsbedarf F24 bis F26 und ausgewählte Zielsetzungen 308 Tabelle 23: Barrieren und Meideverhalten Teil 1 329 Tabelle 24: Barrieren und Meideverhalten Teil 2 331 Tabelle 25: Barrieren und Meideverhalten Teil 3 333 Tabelle 26: Quantitative Auswertung der Checkliste zur Wirksamkeit und Umsetzbarkeit von Maßnahmen 347

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 311 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

18.2 Quellenverzeichnis

18.2.1 Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und amtliche Mitteilungen

Amt der Oberösterreichischen Landesregierung (2008). Gesamtverkehrskonzept Oberösterreich, Linz. Bestattung Wien (2009). Das richtige Verhalten bei einem Trauerfall. Bestattung Wien: Wien. BMASK: Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (2008). UN-Konvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Fakultativprotokoll, bmask: Wien. BMG (2014). ICD-10 BMG 2014. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision – BMG- Version 2014. Systematisches Verzeichnis. Wien. Online abrufbar unter: http://bmg.gv.at/cms/home/attachments/8/6/4/CH1166/CMS1128332460003/icd -10_bmg_2014_-_systematisches_verzeichnis.pdf (2016-02-16) BMVIT (2013). Mobilität im Alter, ein Handbuch für PlanerInnen, EntscheidungstägerInnen und InteressenvertreterInnen, Wien. BMVIT (2012). Gesamtverkehrsplan für Österreich. BMVIT: Wien. DIMDI (2013). ICD-10-GM Version 2013. Kapitel V. Psychische Verhaltensstörungen (F00-F99). Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40-F48). Online abrufbar unter: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10- gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2013/block-f40-f48.htm (2016-02-16) Forschungsgesellschaft Straße – Schiene – Verkehr (2001). RVS 02.03.12 idF. vom Juni 2001. Forschungsgesellschaft Straße – Schiene – Verkehr (2010). RVS 02.02.36 idF. vom 01.09.2010. Gesundheit Österreich GmbH, Geschäftsbereich Fonds Gesundes Österreich (o.J.). Arbeitsprogramm 2016. KOM (2009). Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Aktionsplan urbane Mobilität, KOM (2009) 490.

312 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

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PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 321 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19 Anhang

19.1 Transkriptionsregeln

Folgende Transkriptionsregeln wurden im Projekt angewandt:

 Zeilennummerierung  Kodierung der GesprächsteilnehmerInnen z.B. für Interviewer I1, für Befragte B1  Absatz: Längere Interviewpassagen untergliedern (ca. 2-3 Absätze/Seite)  Pausen (pro Sekunde ein Punkt) = . .. . (oder Zeitangabe)  nichtverbale Äußerungen wie Lachen oder Husten in runder Klammer angeben = (B1 lacht)  situationsspezifische Geräusche in spitzer Klammer angeben = >Telefon läutet<  Hörersignale bzw. gesprächsgenerierende Beiträge als normalen Text angeben = mhm, äh  Betonung  Großschreibung der betonten Silbe = etwa SO  unverständliches als Punkte in Klammer, wobei jeder Punkt eine Sekunde markiert = (.. .)  vermuteter Wortlaut bei schlechtverständlichen Stellen in Klammer schreiben = (etwa so)  sehr gedehnte Sprechweise mit Leerzeichen zwischen den Buchstaben = e t w a s o  Wortabbruch: an ein abgebrochenes Wort „//“anhängen = Fotoapp//  Zitat: Anführungszeichen benutzten = Der sagte zu mir: „Wie meinst du das denn?“

322 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.2 Kurzfragebögen und Leitfaden problemzentriertes Interview

19.2.1 Kurzfragebogen 1: Angst- bzw. Zwangserkrankung und Mobilität

Welchen Namen für die Anonymisierung möchten sie sich geben?

Diagnose/Eckpunkte Krankengeschichte (kurz):

Wie ist die Krankheit bei Ihnen verlaufen? (kurz, in eigenen Worten):

Krankheitsverlauf, kategorisiert: Punktuelles, anfallsartiges Auftreten  Chronische (längerfristige) Symptomatik Stabil innerhalb einer Störungsperiode Zunehmende Verschlechterung Fluktuierend (ständig wechselnder Ausprägungsgrad einer Episode) Episodisch in bestimmten Zeitabständen Episodisch mit völligem Verschwinden der Symptomatik Episodisch mit Restsymptomen, die nicht als Störung klassifiziert werden Chronifizierung

Alter Erstdiagnose:

Wie schwer schätzen sie ihre Erkrankung ein? (1 ganz leicht bis 10 sehr schwer)

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Sind sie in Therapie? JaNein 

Wenn ja: Art der Behandlung: ______

Nehmen sie Medikamente? Ja  Nein 

Werden sie in einer Einrichtung betreut? Ja Nein 

Wenn Ja: stationär teilstationär ambulant Führerschein: Ja Nein

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 323 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Verkehrsmittelnutzung vor Erkrankung:

Weniger als 1–4 Mal 1–3 Mal Fast täglich einmal im pro Woche im Monat Monat Auto als Fahrer Auto als Beifahrer Motorrad (> 50cc) als Fahrer Motorrad (> 50cc) als Beifahrer Gehen Fahrradfahren Öffentliche Verkehrsmittel Moped (<= 50cc) als Fahrer Sonstiges, und zwar:

Verkehrsmittelnutzung während der Erkrankung:

Weniger als 1–4 Mal 1–3 Mal Fast täglich einmal im pro Woche im Monat Monat Auto als Fahrer Auto als Beifahrer Motorrad (> 50cc) als Fahrer Motorrad (> 50cc) als Beifahrer Gehen Fahrradfahren Öffentliche Verkehrsmittel Moped (<= 50cc) als Fahrer Sonstiges, und zwar:

Verkehrsmittelnutzung nach der Erkrankung:

Weniger als 1–4 Mal 1–3 Mal Fast täglich einmal im pro Woche im Monat Monat Auto als Fahrer Auto als Beifahrer Motorrad (> 50cc) als Fahrer Motorrad (> 50cc) als Beifahrer Gehen Fahrradfahren Öffentliche Verkehrsmittel Moped (<= 50cc) als Fahrer Sonstiges, und zwar:

324 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Verfügen sie: über ein eigenes Auto  über ein eigenes Moped/Motorrad  über ein eigenes Fahrrad  über eine Wochen/Monats/Jahreskarte 

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 325 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.2.2 Leitfaden

Impulsfrage (Bezugnehmen auf Verkehrsmittelwahl vor und während der Angst- oder Zwangserkrankung aus dem Kurzfragebogen 1):

 Einstieg: Sie sind vor ihrer Erkrankung immer viel/häufig/abwechselnd [Verkehrsmittelwahl]: können sie mir erzählen, was sie dazu veranlasst hat, dass sie [Auto fahren, Öffis nutzen, etc.]?

 Wenn sie zurückdenken an die Zeit als ihre Krankheit begonnen hat: Wie hat sich bei Ihnen das [Autofahren, Motorradfahren, Gehen, Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel] verändert? o Wege zur Arbeit o Alltagswege wie Einkaufen, Arztbesuche, Kinder abholen usw. o Wege in der Freizeit o Mit welchen Schwierigkeiten (=Barrieren) waren sie konfrontiert? . Wie sind sie mit den Schwierigkeiten umgegangen? . Konkret: Welche Lösung haben sie gefunden? . Wer hat Sie dabei unterstützt und in welcher Form haben Sie Unterstützung erfahren? . Projektiv: Welche Lösungen könnte es noch geben? o Bei Veränderung bei der Verkehrsmittelwahl: . Wie ist es gekommen, dass sie auf [das Autofahren, öffentliche Verkehrsmittel, Motorradfahren] verzichten? . Was hat sie dazu veranlasst, zu Fuß zu gehen, mit dem Auto zu fahren, etc. . Wie ist die Veränderung abgelaufen/wie hat sie sich entwickelt – gab es einen konkreten Auslöser?

 Wenn sie an heute denken: Schildern Sie mir bitte Ihre Wege und welche Verkehrsmittel sie dabei benutzen. o Was kann ihnen auf ihren Alltagswegen an Unannehmlichkeiten passieren [on- trip-Perspektive]? . Schildern sie konkrete Situationen, die für sie unangenehm waren? . Welche Probleme treten (häufig) auf? . Wenn etwas Überraschendes passiert ist, wie haben sie darauf reagiert/wie gehen sie damit um? . Konkret: Was hat ihnen geholfen, um die Situationen zu bewältigen? . Wer hat Sie dabei unterstützt und in welcher Form haben Sie Unterstützung erfahren? . Projektiv: Was würde helfen, um solche Situationen weniger beängstigend zu erleben?

o Wodurch wird ein Weg/ein Verkehrsmittel für sie attraktiv, sodass sie ihn/es gerne benutzen? . Welche konkreten Situationen, die angenehm, wünschenswert waren, fallen ihnen ein? . Was könnte man tun, um Situationen angenehm und angstfrei zu gestalten? . Wer könnte bzw. sollte dabei Unterstützung bieten?

326 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

o Wenn sie Wege planen, gibt es da welche, die sie von vorneherein ausschließen [pre-trip Perspektive]? (=Welche Eigenschaften eines Wegs/eines Verkehrsmittels machen ihn für sie unbenutzbar?) . Worauf kommt es an, dass sie einen Weg meiden? . Worauf kommt es an, dass sie ein Verkehrsmittel meiden? . Offen fragen:  Welche konkreten Situationen, die sie meiden würden, fallen ihnen ein?  Was hat ihnen geholfen, um solche Situationen zu bewältigen?  Wer hat Sie dabei unterstützt und in welcher Form haben sie Unterstützung erfahren?  Was würde helfen, um solche Situationen weniger beängstigend zu erleben? . Gibt es Alternativen zu den genannten Wegen? . Wie viel Zeitverlust würden Sie in bei Umwegen in Kauf nehmen? . Würden sie diesen Weg auch bei Nacht wählen?

. Nachfragen:  Meiden sie Passagen, Tiefgaragen, verschmutzte Orte, Menschenmengen, keine Möglichkeit zum Ausrasten, etc.?  Wie reagieren Sie auf solche Situationen oder Orte?  Was hat ihnen geholfen, um solche Situationen zu bewältigen?  Was würde helfen, um solche Situationen weniger beängstigend zu erleben?

o Erhalten sie zur Bewältigung ihrer Alltagswege Unterstützung (durch Verwandte, Vereine, usw.)?

 Wenn die interviewte Person eine Episode erzählt, weiterfragen mit: Wie ist es weitergegangen? Welche Auswirkungen hatte das auf Routenwahl und Verkehrsmittelwahl?

Abschluss/Ausblick  Was würden sie sich wünschen, damit sie ihre täglichen Wege besser bewältigen können?

 Wenn Sie jetzt an die Wege, Orte, Situationen, Routen denken über die wir gesprochen haben: Was wären Maßnahmen/Vorkehrungen, die ihnen bei der Bewältigung ihrer Wege helfen würden?

 Haben sie konkrete Vorschläge, wie man Menschen in ihrer Lage helfen könnte, ihre Wege besser bewätligen zu können

 Wer sollte Unterstützung bieten?

 Konkrete Vorschläge (Nachfragen) o Was halten sie von Sammeltaxis? o Was halten sie von Fahrgemeinschaften? o …

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 327 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.2.3 Kurzfragebogen 2: Für die Statistik

Alter: ______Geschlecht: M W Familienstand/Lebenssituation: Allein lebend in Partnerschaft  mit Familie lebend alleinerziehend verheiratet verwitwet Getrennt/geschieden bei den Eltern lebend anderes:______Kinder: Ja  Nein  Wenn Ja: Anzahl ______Alter ______Höchste abgeschlossene Ausbildung: Kein Abschluss Volksschule  Hauptschule/Unterstufe Polytechnikum

Berufsbildende Schule Höhere Schule/Matura Universität/FH

Berufsstatus SchülerIn/Lehre Elternteilzeit Karenz Hausmann/frauFrühpension Invaliditätspension  angestellt selbständig beurlaubt Pension arbeitslos

Erwerbsstatus Vollzeit beschäftigt Teilzeit beschäftigt  geringfügig beschäftigterwerbslos/ohne Einkommen Derzeit ausgeübter Beruf: Hat sich Ihre berufliche Situation durch Ihre Erkrankung verändert? Wenn ja, wie?

Monatliches Einkommen/Zusammensetzung (Pension, Notstandshilfe, etc.): Monatliche Kosten für Auto/Öffis etc.: Beschreibung des Wohnumfelds Ländlich/dörflich Kleinstadt Suburban/Vorstadt Urban/Großstadt

328 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.2.4 Postskript  Übersicht Gesprächsinhalte  Situative, nonverbale Aspekte  Schwerpunktsetzungen des Interviewpartners  Auffälligkeiten  Interpretationsideen

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 329 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.3 Interviewleitfaden ExpertInnen aus den Bereichen Psychiatrie, Therapie und psychosoziale Dienste

Alltag und Einschränkungen der Teilnahme am sozialen Leben, insb. Verkehrs- teilnahme [25 Minuten]  Welche Hindernisse und Barrieren existieren im täglichen Ablauf bei Personen mit psychischen Einschränkungen, insbesondere jene die an einer Angst- und Zwangserkrankungen leiden?  Welche Hindernisse und Barrieren lassen sich bei Personen, die unter Ängsten und Zwängen leiden bei der Verkehrsteilnahme im Speziellen ausmachen?  Welche Konsequenzen haben Einschränkungen der Mobilität für Personen, die unter Ängsten und Zwängen leiden, beispielsweise mit Blick auf: o Teilnahme am sozialen Leben, o berufliche Tätigkeit, o Gesundheit  Welche Umgangsstrategien entwickeln diese Personen? (etwa Umwege, Vermeidung von Verkehrsmitteln)  Nachfragen: Ich möchte Ihnen eine Reihe von Barrieren vorstellen, die wir in unserer Studie identifiziert haben und Sie um ihre Einschätzung hinsichtlich der Rolle bitten, die diese Barriere bei ihren KlientInnen/PatientInnen/mit Angststörungen spielt (siehe Tabelle 23):

Tabelle 23: Barrieren und Meideverhalten Teil 1

Kategorie Ankerbeispiel Keine Fluchtmöglichkeiten „Na, wenn die Tür zugeht ist das schlimme, weil man weiß man kommt nicht mehr raus“

Keine „und keine Ablenkung und man weiß, man ist jetzt drinnen und Kommunikationsmöglichkeit hat eben NICHT die Möglichkeit, falls irgendwas passiert sich zu melden.“

Beengende Räume „Also, das würd‘ ich nicht. Weil viele Menschen auf einem  Auto Haufen, das würde ich einfach nicht aushalten…. Dunkle  Aufzug Röhren, Karlsplatz. – I: Karlsplatz, ja. Das ist eh auch eine Frage, ob’s so Plätze gibt, so Situationen, die du meiden würdest? So  Tunnel zum Beispiel, Tiefgaragen, U-Bahn Stationen. Oder dunkle Parks. – S: Ja, würd‘ ich auf jeden Fall vermeiden. Äh, was würde ich noch vermeiden? Also U-Bahn Stationen, Tiefgaragen, Aufzüge, Lastenaufzüge, keine Ahnung was es da noch alles gibt an Aufzügen, wo man irgendwo hinfahren kann. Ähm Kassenschlangen.“

Fortsetzung Tabelle 23 S.330

330 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 23 Offene, weite Räume Wegbegehung mit Gini

Lange Fahrten „Obwohl wenn’s mit dem Bus geht…. Hätt man ja probieren können. – A: Mm. Ja schon, aber ich weiß, dass es nicht funktioniert. – I: Okay. Weil’s zu weit ist, oder – A: Es ist zu weit und und das ist dann zu viel Stress für mich.“

„Angstorte“ „Es ist die Atmosphäre von diesem, dieses dunkle, dieses enge.  Parks Weil die Decke ist ja nicht sehr hoch, zwei Meter zwanzig oder  Tiefgaragen dreißig oder vierzig, was weiß ich. Mehr ist das nicht. Und das ist doch alles sehr beengend da drinnen. Und die vielen Autos,  Stiegenhäuser die wie die Semmeln aufgereiht sind (lacht) Und, ich meine, Tiefgaragen sind ja noch schlimmer. Wo man ganz runter fährt und gar kein Licht, also nur künstliches Licht da unten ist.“

Andere sinnlich wahrnehmbare „A: Ich glaub‘ eher die vielen Leute. Ich kann auch auf kein Situationseigenschaften: Konzert gehen, ähm oder sowie im Prater, wenn da die UR laute  Dunkelheit Musik ist, oder was. Das kann ich nicht. Weil da krieg‘ ich voll die  Lärm Panik.“  Hitze/fehlende Klimatisierung

Unbekannte Situationen „.. Unsicherheit oder des, dass i afoch, es is wirklich a so die Stationen, die i ned kenn, haben mi afoch unsicher gmacht. I weissned warum, es war afoch, die Station hab i ned kennt und i wollt gar ned hin, also obwohl einem nix passiert, es is nix anderes aber man geht afochned hin, ma geht afoch den Weg, man kennt ihn, man geht aufi, setzt sich eini, man weiß wo man aussteigen muss, i hob ned oder a ned man muss ned aufpassen wo man aussteigt, obwohl ma, obwohl nix dabei is, aber es is halt afoch das Gewohnte isafoch angenehmer.“

Andere Menschen „Zu viel, das das ist weg. Menschen. Menschen. Große  Menschenmassen Menschen, ich bin ja nicht groß. Ja, es ist nichts. – I: Was löst  Unangenehme das aus? Macht das dann? – S: So ein richtiges Begegnungen Erdrückungsgefühl, so, so als würden alle noch viel größer werden und noch viel mehr auf mich zu kommen und mich zusammendrücken und ich find‘ nicht mehr raus. Also das, das ja, das ist eigentlich… dieses, ich bin da irgendwo so klein drinnen und ich fühl‘ mich, wie ein kleines Kind eingeklemmt.“

Kontext Öffis: „Und der Autobuschauffeur ist halt ein bisschen wild g’fahren. Aggressives Fahren des Lenkers Sie hat gsagt: „Gott sei Dank, steigen wir jetzt aus.“ Ich bin (Busfahrer) aufg’standen, ich hab‘ am ganzen Körper gezittert. OBWOHL ich mit ihr getratscht habe. Ich war zwar abgelenkt, aber ich hab‘ trotzdem gespürt ich bin nervös und unruhig.“

Kontext Autofahren: „Genauso ist es, ja…Oder. Auch die ungeduldigen Leute, also. Aggressive Autofahrer (z.B. Das hab ich zum Beispiel AUCH, das muss ich noch dazu sagen, Drängler) ich hab zwar auf meinen STAMMstrecken keine ANGST, aber HASSE es, wenn wer HINTER mir fährt, ich hab immer das Gefühl ich bin zu LANGSAM oder sonst irgendwas, und. Und dass. Ich mach mir immer GEDANKEN, was die anderen Leute von mir denken könnten. –I: Mh-mh.. – B: Was DENKT der jetzt hinter mir. Jetzt fahr ich vielleicht zu LANGSAM, da da geh ich aufs GAS.“

Quelle: Eigene Darstellung

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 331 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Unterstützung, Bedarf, insb. bei Verkehrsteilnahme [25 Min]  Welche Möglichkeiten der Unterstützung sehen Sie, damit Personen, die unter Ängsten und Zwängen leiden, besser am sozialen Leben teilnehmen können, insbesondere, wenn sie an die Verkehrsteilnahme denken?  Welche Maßnahmen wären aus ihrer Sicht darüber hinaus sinnvoll?  Wie schätzen Sie den Bedarf an Hilfsangeboten ein? o In welchen Bereichen besteht Unterstützungsbedarf? o Wie sehen Sie den Bedarf bei der Teilnahme am Straßenverkehr (als Fußgänger, Autofahrer, Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel)? o Welche Unterstützungsangebote könnte es von Seiten der Gesundheitsdienstleister und der öffentlichen Hand geben? o Welche Rolle könnte bei der Unterstützung der Zivilgesellschaft zukommen? o Welche Probleme/Versäumnisse sehen Sie bei der Unterstützung psychisch kranker Menschen?  Ich möchte Ihnen einige konkrete Maßnahmen vorstellen, die Menschen geholfen haben, eine Verkehrssituation zu bewältigen (siehe Tabelle 24): o Wie schätzen Sie die Wirksamkeit dieser Maßnahme ein? / Warum ist die Maßnahme wirksam? o Wie schätzen Sie die Möglichkeit der Umsetzung ein?

Tabelle 24: Barrieren und Meideverhalten Teil 2

Kategorie Ankerbeispiel

Selbstablenkung/Selbstmanipulation (Magische) Gegenstände: Erkältungsmedikamente, die das  Umgebung Beobachten Gefühl freier Atemwege vermitteln.  Musik hören  Lesen „Diesen Wick (Babuhob), was man in der Apotheke bei  Bewegung Erkältungskrankheiten. – I: Ja. – A: Genau. Und den habe  Rauchen ich jetzt nicht in der Straßenbahn oder der U-Bahn  Gummiband am Handgelenk draufgetragen oder mich eingeschmiert, oder wie auch (Gedankenunterbrecher) immer. Aber das hat mich im Auto manchmal gerettet, wenn  Medikamente ich keine Luft gekriegt habe. Wenn ich Atemnot, gar nicht mit  Alkohol der Nase, das hat ja mit der Nase nichts zu tun gehabt, aber  Bewusstes Desensibilisieren ich habe immer das Gefühl gehabt ich kann nicht  Ausnutzen der durchatmen, sondern nur bis da her und da ist eine Tagesverfassung/ Blockade, dieses oberflächliche oder dieses Tageszeitverfassung Hyperventilieren.“  (Mitunter magische) Sicherheitsmaßnahmen treffen

Fortsetzung Tabelle 24 S.332

332 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 24

Stützpunkte auf dem Weg „Und deswegen brauchte ich auf der Fahrt dorthin – das ist ja auch so eine konfuse Geschichte – immer irgendwelche Anhaltspunkte, wenn Sie das nachvollziehen können, ich, so Stützpunkte, ja. Das kann man so schwer beschreiben, für eine Person, die des denken (..)“ Sie nennt als Stützpunkt die Wiener Rettung: „Da kann man mir helfen, wenn etwas passiert.“ Ablenkungsangebot „I: Und so Ablenkung und so, jetzt gibt’s immer Bildschirme in der Straßenbahn. Da rennen irgendwelche Filme. – A: Das schau‘ ich mir auch immer an dann.“

Einfache, geführte Wege „Also das ist natürlich eben find ich… also gar nichts was ich mir in ein, eine Forderung sowieso nicht und auch einen Wunsch übersetzen kann, ich mein einfach nur ein Beispiel, zum Beispiel bei diesen Flughäfen, wo’s die ganzen Rollbänder gibt, wo’s die vorsprungslose, das ist für mich sehr einfach, ja.“

Ästhetische Gestaltung „außer, dass mir auffällt, dass ich wenn etwas in der Umgebung sehr schön ist und, und das Ganze mit Freizeitstil und mit Wohlbefinden, dann fällt es mir viel leichter, weil das ganze hässliche äh, da gibt’s dann so einen Faktor, wo’s mir dann auch, das spielt auch eine Rolle, sozusagen.“

Fluchtmöglichkeit „Wie gesagt, am besten ist natürlich, wenn man flüchten kann. Und äh in so einer Situation, wo man gar nicht aus kann, man setzt sich vielleicht wohin wo man am Fenster zum Beispiel sind und dann setzen sich noch Leute dazu.“

Rückzugsmöglichkeit „Ja, also ich hab damals oft genutzt, dass ich dann auf die Toilette ging und so zum Beispiel. Oder in diesen Zwischenraum. – I: Wo dann der Durchgang ist zwischen zwei Waggonen. – B: Genau. Weil da is man halt, da wird man nicht beobachtet. Man weiß halt, das schaff ich jetzt auch noch.“

Lärmschutz/Klimatisierung „Da (….) diese Regionalzüge, weil die haben eine Klimaanlage. Es ist zwar ein bisschen schwierig da drinnen zu sitzen, wenn man weiß ah, dass keine Fenster zu öffnen sind. Das macht einem ein bisschen Panik, …“

Bedienerleichterung (Auto) „Aber ich bin froh, dass ich Automatik hab. Also wenn ich SCHALTEN müsste, und KUPPEL müsste. Auch noch. NA.. FURCHTBAR. – I: Mh-mh. – B: Drum hab ich Automatik…. Nicht weil ich zu FAUL bin, sondern einfach, weil ich überFORDERT bin.. Wenn ich das auch noch machen müsste“

Notbremse Zug und Straßenbahn: „Man kann immer wieder die Notbremse ziehen. Also man weiß, man kann raus und das is dann eh wie im Zug auch. Das ist dann halt eine gewisse Sicherheit. Nur es, obwohl’s wahrscheinlich eh nie dazu kommt, es ist nur der Gedanke, dass es möglich ist.“

Personen, die Sicherheit geben „Also das ist für mich so .. nicht mehr das wie es früher war  Netter Busfahrer mit dem Schaffner im Waggon, der da doch für ein bisschen  Vertrauter Fahrer mehr Sicherheit,.. oder Sicherheit vermittelt hat.“  Begleitperson  Stationspersonal Fortsetzung Tabelle 24 S.333

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 333 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 24 Fahrtinformationen „Aha. Ja das wäre auch gut. Das ist auch günstig. Vor allem  Taxi-App für Strecken, die man vielleicht neu fährt. Weil da ist man ja  Fahrpläne sehr angespannt und da weiß man noch nicht, wo ist das, ähm dauert es noch länger, wann komm ich da hin, bleibt er  Navigationssysteme eh da stehen. Und (B lacht) im Regionalzug ist es zum Glück schon, da gibt es immer so ein Band, da schreibt’s immer die nächste Station an. Das ist ja schon einmal sehr gut. Und ah, das wäre vielleicht auch gut, dass dort stehen würde, ah in drei Minuten oder in 10 Minuten die Station.“

Quelle: Eigene Darstellung

Ich möchte Ihnen noch eine Reihe von Vorschlägen vorstellen: (siehe Tabelle 25)  Wie schätzen Sie die Wirksamkeit dieser Maßnahme ein?  Wie schätzen Sie die Möglichkeit der Umsetzung ein?

Tabelle 25: Barrieren und Meideverhalten Teil 3

Kategorie Ankerbeispiel

Rückzugsmöglichkeiten „Aber wenn ich einfach mir das so wünschen darf, ohne dass es realistisch ist, dann würde ich das bevorzugen, was Sie erwähnt haben: Ein so ein eigener Raum, das wäre toll. Wo man sagt, da gehen Personen rein, die einfach leicht Panik kriegen, der sogenannte Panikraum (B lacht), ich weiß nicht wie man den nennen kann. Wenn es sowas geben würde, sag ich, das wäre natürlich super. Sowas wäre ganz toll, ja. Ist zwar nicht realistisch, aber (B lacht)“ Alarmknopf „Aber viel sinnvoller [als eine App, Anm.], glaube ich wäre, vielleicht sogar einfach nur ein Knopf, wo man weiß, wenn man dran vorbei geht oder so. Es gibt ja auch so für Pensionisten so einen Schalter, dass wenn Sie im Bus sitzen, ähm, dass es vielleicht dort auch die Möglichkeit gibt, dass man vielleicht unbemerkt irgendwo drauf drückt.“

Ästhetische Gestaltung von „Natürlich. Jo, das mit der Sauberkeit, dann natürlich. Die Leute Verkehrssituationen (Sauberkeit, kannst du schwer weggeben. Das würde Sicherheit geben. Farben) Einen Korridor, wo nur ängstliche Personen durchgehen, aber ist auch wieder eine, ein Branding. Das ist, wennst dort rauskommst haha. Aber das wär schon sowas, einfach diese dunklen Gänge zu vermeiden, nur die ja teilweise, ja, die Gänge sind ja meistens eh nicht dunkel. Das, das ,der U-Bahn Schacht selber ist dann meistens dunkel.“

Videoüberwachung „Und ich glaub das ist hoffentlich auch jeden klar (schmunzelt). Diese Kameraüberwachung ist glaub ich eh schon .. ganz normal. Weil da ja auch andere Sachen passieren, nicht nur Unfall. Sondern vielleicht auch Raub, oder was weiß ich, dass irgendjemand zusammengeschlagen wird. Dass man einfach die Möglichkeit hat, vielleicht auch unbemerkt irgendwie ein … ähm einen Notfallknopf zu drücken“

Fortsetzung Tabelle 25 S.334

334 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 25 Beruhigende/Orientierende „Ich glaub, wahrscheinlich macht’s sogar Sinn, wenn es in der U- Durchsagen Bahn die Möglichkeit gäbe, das man sagt, ok wir sind jetzt in, keine Ahnung, zwei Minuten da, bitte beruhigen Sie sich (schmunzelt), oder kurz oder so. Ich weiß nicht.“

Begleitpersonen/ „Genau, da steht dann vielleicht auch 24 Stunden oder so, oder Geschultes Personal wie auch immer das auch ist, wie das geregelt ist, wenn die öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Oder die U-Bahn ist mittlerweile 24 Stunden und dass man halt weiß, ok in diesen Momenten, man kann wirklich mit jemanden reden. Und dass das auch wirklich dort steht, eine Firma oder wie auch immer. Ich glaub das bringt ziemlich viel“

Kommunikationsmöglichkeiten „Was ich glaube ich ansprechen wollte, war Aufzüge in öffentlichen, also bei öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich glaub es ist für viele sicherer, wenn es wirklich diese Gegensprechanlage gibt. Ich würde mir nicht ausmalen müssen, wenn jemand wirklich eine Panikattacke in diesem Aufzug hat, wenn der stecken bleibt.“

Aufklärung/Schulung von Das Problem bei Fahrgästen ist, dass sie nicht wissen, wie sie Fahrgästen mit der Situation umgehen sollen. Synoman würde es helfen, wenn man den Blick nicht auf seinen Zustand lenkt (das passiert, wenn andere Fahrgäste in Sorge sind und ihn fragen, wie es ihm geht), sondern, wenn man ihn ablenkt: „Also man muss aus diesem Gedankenkreis raus. Dann isses besser, weil wenn man jetzt sagt ‚Na, was haben Sie denn?‘, ‚Na was ist denn?‘, ah, oder ‚Warum geht’s Ihnen denn so schlecht?‘. Und das sind dann alles so negative Sachen, die auf einen dann einwirken. Und dann kommt man sich eh schon blöd vor, weil man diese Panikattacke hat“

Unbekannten Situationen durch Eine Computersimulation, wo man eine Strecke mit allen Computersimulation einer Strecke möglichen Vorkommnissen durchspielen kann, bevor man fährt, vertraut machen würde ihr helfen: „I:Zum Beispiel so eine Strecke, wo man noch nie gefahren ist und mit, in einer Computersimulation durchfahren kann, bevor man das richtig () – B: BOAH, das wäre ein Wahnsinn.“

Fahrer hat Angst-Aufkleber „Mhh, ja SOWAS….dass die Anderen gleich alle mich sehen, dass die Anderen gleich wissen, dass sie sich GAR nicht unnötig aufreden müssen, weils, vielleicht regen sie sich trotzdem auf, aber. Dann wissens schon, da sitzt so eine Komische drinnen, die kann halt nicht ANDERS. Und ja. – I: Das ist halt immer die Gefahr, dass eben. Dieses Stigmatisieren, dass dann. Und da will man ja manchmal gar nicht, dass die anderen das WISSEN (). – B: Na, mir ist lieber, sie WISSENS.“

Alternativrouten-App „Ich hab ja auch die ÖBB-App am Handy und kann so halt schauen, wann der nächste Zug fährt oder Bus oder wo auch immer. Man kann dort den aktuellen Standort verwenden, oder man gibt einfach ein, bei welcher Haltestelle man gerade ist. Das ist auf jeden Fall sinnvoll. Nur wenn ich die U-Bahn vermeiden will, kann das die App nicht.“

Fortsetzung Tabelle 25 S.335

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 335 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 25 „Angsttaxis“ und Sammeltaxis Alternative Transportmittel sind unter den ProbandInnen umstritten. Manche finden das gut, manche weisen auf Stigmatisierung hin. Eine Probandin meint, man würde damit dem Problem lediglich ausweichen: „B: Aber ich glaub, man läuft, läuft man dann nicht eigentlich vor seiner Angst DAVON? Weil wenn, da, da umgehe ich das ganze WIEDER und da stell ich mich dem ganzen ja WIEDER nicht. Sondern da laufe ich ja wieder davon. Und ich will es eigentlich schaffen, dass ich das DURCHBRECHE und das ich es SCHAFF, dass ich ins Auto setze UND oder meinen sie jetzt mit den Öffentlichen, wenn Leute Panikattacken in den öffentlichen Verkehrsmitteln haben? Oder meinen Sie schon, noch A u t o- mäßig, ja? . Nein also ich glaub, das wäre nicht der richtige Weg, weil man dann wieder davonläuft.“

Fahrscheinmodelle „Und dieser Kulturpass im imim verkehrstechnischen Sinne, der Öffi Pass, oder was weiß ich wie man’s nennen mag, oder ich fahr‘ billiger durch Wien Pass, oder so, das wär schon eine klasse Sache, na“

Quelle: Eigene Darstellung

Ausblick [10 Min]  Wo sehen Sie die größten Herausforderungen hinsichtlich der Verkehrsteilnahme von Personen, die unter Ängsten und Zwängen leiden  Wo sehen Sie generell die größten Herausforderungen im gesellschaftlichen Umgang mit Personen, die psychisch erkrankt sind?  Gibt es sonstige Anmerkungen, sie Sie zum Thema haben? Was ist aus ihrer Sicht wichtig und sollte in weiterer Folge des Projektes berücksichtigt werden?

Interesse an einem Workshop teilzunehmen?  Falls Interesse besteht, Aufnahme der Daten und Zusendung der Ergebnisse

336 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.4 Interviewleitfaden ExpertInnen aus den Bereichen Mobilität und Verkehr

Zielgruppe: Expertinnen oder Experten im Bereich Mobilität und Verkehrsteilnahme von Personen mit Mobilitätseinschränkungen Methode: Face-to-face-Interviews Struktur: Teil G: Generelle Angaben zum Interview Teil A: Status Quo, Problemlage, Bewusstsein Teil B: Barrieren, Meideverhalten und Planungsrelevanz Teil C: Barrierehemmer, Maßnahmen und Verkehrssicherheit Teil D: Abschluss und Ausblick Dauer: ca. 60 Minuten Einleitung im Interview: In der PHOBILITY-Studie wird erstmals in Österreich die Verkehrsteilnahme von Menschen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen im Individualverkehr und dem öffentlichen Verkehr untersucht. Es werden die physischen, psychischen und sozialen Barrieren für eine geforderte gleichberechtigte Verkehrsteilnahme erforscht (z.B. Angst vor Überfüllung, Stigmatisierung, Rücksichtslosigkeit, Eindringen in die körperliche Intimsphäre durch Stoßen etc.). Im Rahmen der PHOBILITY-Studie soll erstmals gemeinsam mit ExpertInnen aus dem Gesundheits- und Verkehrsbereich eine Grundlage für spätere, innovative Verkehrskonzepte für diese zahlenmäßig stark steigende Zielgruppe erarbeitet werden.

Hintergrund zu PHOBILITY [optional, wenn InterviewpartnerIn noch mal einen Überblick möchte]:

 Kurztitel: PHOBILITY  Langtitel: Sondierungsstudie über die Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen  Finanzierung: F&E-Projekt gefördert von der FFG  Projektlaufzeit: 12 Monate (April 2015 bis März 2016)  Programm: Mobilität der Zukunft  Ausschreibung: MdZ - 4. Ausschreibung (2014)  Projektpartner: MAKAM Research, TU Wien (Fachbereich Verkehrssystemplanung), PSZ Psychosoziale Zentren

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 337 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

TEIL G: Generelle Angaben zum Interview

G.1 Interviewpartnerin, -partner G.2 Position des Interviewpartners G.3 Organisation/Unternehmen

G.4 Interviewort

G.5 Datum Beginn Ende (Uhrzeit) (Uhrzeit) G.6 Interviewerin / Interviewer

TEIL A: Status Quo, Problemlage, Bewusstsein

Nr. Frage Antworten

Im Sinne der sozialen Teilhabe und der gleichberechtigten Mobilität werden in unterschiedlichen Roadmaps (siehe FTI-politische Roadmap zur Ausrichtung der FTI-Maßnahmen „Mobilität der Zukunft“ im Themenfeld „Personenmobilität innovativ gestalten“) die Gestaltung A.1 eines sozialen und inklusiven Verkehrssystem thematisiert. Welche Personengruppen stehen bei ihren Tätigkeitsbereichen im Fokus? Haben sie eine konkrete Zielgruppe, die Sie ansprechen?

Laut dem Behindertengleichstellungsgesetz aus dem Jahr 2006 ist man verpflichtet, behindertengerecht zu planen und barrierefrei zu bauen und somit gleichberechtigte Mobilität zu ermöglichen. In welcher Form sind Mobilitätseinschränkungen (im Allgemeinen) bei ihrem/r Unternehmen/Organisation ein Thema? (für Mitarbeiter und Kunden) A.2 Wenn nein, warum nicht? Wird bei der Gestaltung des Verkehrssystems auf die Bedürfnisse von mobilitätseingeschränkten Personen Rücksicht genommen? Wenn ja , wie? Wie schätzen Sie die Verkehrsteilnahme von mobilitätseingeschränkten Personen ein?

Psychische Krankheiten gewinnen als soziales Phänomen zunehmend an Bedeutung, auch in der öffentlichen Diskussion. Im Rahmen der Phobility Studie wird erstmals erforscht/sondiert, inwiefern Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen durch ihre Erkrankung in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. (Inwiefern) wird in Ihrem Unternehmen die Mobilität von Personen mit psychischen Erkrankungen thematisiert? Wenn nein, warum nicht? A.3 Berücksichtigen Sie die Bedarfslage von psychisch erkrankten Personen, insbesondere die, die unter Phobien, Angst- und Zwangsstörungen leiden? Wenn ja, wie? Wenn nein: Warum nicht? Besteht ihrer Meinung nach ein generelles Bewusstsein für die Mobilitätsbedürfnisse dieser Personengruppe? Wie schätzen Sie die Verkehrsteilnahme von psychisch erkrankten Personen ein?

338 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Teil A

Denken Sie, existieren derzeit spezielle Bereiche oder Situationen im Verkehrsraum (ÖV, MIV, Fahrrad, Gehen), die  mobilitätseingeschränkte Personen an einer gleichberechtigten Verkehrsteilnahme hindern? A.4  psychisch erkrankte Personen (i.B. mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen) an einer gleichberechtigten Verkehrsteilnahme hindert? Welche Bereiche bzw. Situationen sind das? Wie behindern diese die Verkehrsteilnahme von psychisch erkrankten Personen?

TEIL B: Barrieren, Meideverhalten und Planungsrelevanz

Nr. Frage Antworten

Eine Mobilitätsbarriere bedeutet, dass eine Person o Keine Fluchtmöglichkeiten entsprechend ihrer Einschätzung meint, ihre (legitimen) o Keine Kommunikationsmöglichkeiten Mobilitätsbedürfnisse mit den ihr zur Verfügung stehenden o Beengende Räume (Auto, Aufzug, Tunnel) Mitteln und unter gewissen psychischen und sozialen o Offene, weite Räume Rahmenbedingungen (nämlich F4) nicht zur Gänze o Lange Fahrten befriedigen zu können. o „Angstorte“ (Parks, Tiefgaragen, Stiegenhäuser) Welche Mobilitätsbarrieren kennen Sie? o Andere sinnlich wahrnehmbare B.1 Welche dieser Barrieren erachten Sie im Hinblick auf eine Situationseigenschaften (Dunkelheit, Lärm, Hitze) gleichberechtigte Verkehrsteilnahme als hinderlichste? o Unbekannte Situationen Was wird derzeit unternommen um bestehende o Andere Menschen (Menschenmasse, unangenehme Mobilitätsbarrieren zu reduzieren bzw. zukünftig zu Begegnungen) vermeiden? o Kontext Öffis: Aggressives Fahren des Lenkers (Busfahrer) Was könnten Sie sich noch vorstellen? o Kontext Autofahren: Aggressive Autofahrer (Drängler) Im Zuge der Einzelfallstudien konnte nachgewiesen werden, dass betroffene Personen in ihrem Mobilitätsverhalten stark eingeschränkt sind. Das Mobilitätsverhalten und die Verkehrsmittelwahl verändern sich während der Erkrankung maßgeblich. Verkehrsmittel, bestimmte Wege bzw. Wegabschnitte oder Routen werden von betroffenen Personen ab Eintritt der Erkrankung gemieden. Es kommt dabei vor allem zu - Situationsspezifischem Ausweichen - Delegieren von Transportaufgaben - Partiellem Verzicht auf Verkehrsmittel/-zwecke - Abwarten auf bewältigbare Situationen. B.2 In fast jedem Fall kommt es dabei zu zeitlichen Verlusten von rund 30-60 Minuten, die von Betroffenen in Kauf genommen werden. Hinzu kommt, dass erkrankte Personen aufgrund ihres Verkehrsangebotes oftmals wahlfrei, aufgrund der Erkrankung jedoch stark eingeschränkt sind. Inwieweit sollen dahingehende Erkenntnisse (z.B. Wegwiderstände) bei verkehrsplanerischen Aktivitäten berücksichtigt werden (z.B. Mobilitätserhebungen, Verkehrsnachfragemodellierung)?

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 339 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Teil B

Empfehlungen und Richtlinien zur Berücksichtigung mobilitätseingeschränkter Personen erfolgt in Österreich im Richtlinienwesen (RVS) der Forschungsgesellschaft Straße – Schiene – Verkehr (FSV) sowie im Zuge des Gesamtverkehrsplans Österreich (BMVIT 2014). In keinem der Dokumente werden Personen mit psychischen Erkrankungen in der Gruppe der mobilitätseingeschränkten Personen berücksichtigt. Wie B.3 die Phobility-Studie zeigt, besteht diesbezüglich Potenzial für Änderungs- bzw. Handlungsbedarf. Inwieweit sehen Sie Potenzial, Maßnahmenvorschläge und Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Verkehrsteilnahme von psychisch erkrankten Personen (i.B. mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen) in künftigen Verkehrskonzepten/Masterplänen zu berücksichtigen?

TEIL C: Barrierehemmer, Maßnahmen und Verkehrssicherheit

Nr. Frage Antworten

Um Barrieren besser bewältigen zu können werden seitens der Betroffenen selbst Maßnahmen ergriffen bzw. verschiedene Maßnahmen angeboten. Bei den Maßnahmen handelt es sich unter anderem um: o Selbstablenkung/Selbstmanipulation o Stützpunkte auf dem Weg o Ablenkungsangebot o Einfache, geführte Wege o Ästhetische Gestaltung o Fluchtmöglichkeit o Rückzugsmöglichkeit (in Fahrzeugen, Stationen) o Lärmschutz/Klimatisierung C.1 o Bedienerleichterung (Auto) o Notbremse o Personen, die Sicherheit geben (nette Busfahrer, vertraute Fahrer, Begleit- und Stationspersonal) o Fahrtinformationen (Taxi App, Fahrpläne) o Stress-/Panikknöpfe in Fahrzeugen/Stationen o Alarmknopf

Was halten Sie von diesen Lösungsvorschlägen? Welche Maßnahmen ergreift ihr Unternehmen, um betroffenen Personen die Verkehrsteilnahme zu erleichtern? Wenn nein: Warum ergreifen Sie keine Maßnahmen?

340 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Teil C

Wie schätzen Sie die Wirksamkeit der Maßnahmen ein? [siehe Anhang: Checkliste 1] Wie schätzen Sie die Möglichkeit der Umsetzung ein bzw. wie realistisch schätzen Sie die Umsetzung adäquater Lösungen/Maßnahmen für den realen Betrieb ein? Wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die hierfür aufgewendeten Kosten in ein entsprechendes Tarif- bzw. Fahrscheinmodell integriert werden? C.2 Wo sehen Sie Limitationen der Anwendung aus betrieblicher/unternehmerischer Sicht? Wo sehen Sie Limitationen der Anwendung aus Sicht aller VerkehrsteilnehmerInnen bzw. ihres Kundenstammes? Können Ihrer Meinung nach Folgeprobleme (z.B. mit Nutzungen) entstehen? Wenn ja: Welche?

Für psychisch erkrankte Personen werden teils maßgeschneiderte Lösungsvorschläge entwickelt um im Sinne der sozialen Teilhabe das Grundbedürfnis der Mobilität zu gewährleisten. Doch nicht alle Menschen sind C.3 gleich stark von den Planungsmaßnahmen betroffen. Wie wird mit Insellösungen umgegangen? Können Sie sich vorstellen, dass derartige maßgeschneiderte Maßnahmen bzw. Lösungsvorschläge in das übergeordnete System eingebettet werden?

TEIL D: Abschluss und Ausblick

Nr. Frage Antworten

Gegen Ende des Projektes wird ein Handbuch erstellt, in welchem Handlungsempfehlungen und weiterer Forschungsbedarf dargelegt wird.

Wie wichtig ist das Phobility-Forschungsfeld für Ihr Unternehmen/ihre zukünftigen Vorhaben?

Ist diese Thematik für ihr Unternehmen zukünftig D.1 interessant? Welche Forschungsergebnisse bzw. Inhalte würden Sie für ihr Tätigkeitsfeld benötigen?

Wo besteht Ihrer Meinung nach konkreter Forschungsbedarf? Wie wichtig schätzen Sie die Erforschung dieses Themenfeldes (im europäischen Kontext) ein?

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 341 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Teil C

Gibt es sonstige Anmerkungen, die Sie zum Thema haben? Hinweise? Was Ihnen wichtig ist, was wir in D.2 weiterer Folge des Projektes beachten, integrieren, berücksichtigen sollten?

Abschluss des Interviews / Dank & Ausblick:  Hinweis auf Workshop mit Bedarfsträgern  Entwicklung von Handlungsmaßnahmen und Inputs für die Mobilitätsforschung  Erstellung des PHOBILITY-Handbuchs  Falls Interesse besteht, Aufnahme der Daten für Zusendung der Endergebnisse

342 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Anhang Checkliste 1: Einschätzung der Wirksamkeit und Umsetzung der Maßnahme Teil 1

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 343 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Anhang Checkliste 1: Einschätzung der Wirksamkeit und Umsetzung der Maßnahme Teil 2

Quelle: Eigene Darstellung

344 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.5 Leitfaden Gruppendiskussionen

Begrüßung, Vorstellung, Informationen zum Projekt, Informationen zum Ablauf (Dauer, Aufzeichnung, Gesprächskultur,…) [MOD: Vorbereitetes Flipchart mit Verkehrsmittel gut sichtbar für alle TN platzieren; je TN 5 grüne und 5 rote Klebepunkte verteilen] Bitte vergeben Sie für die Verkehrsmittel, die Sie auf diesem Flipchart sehen nun Punkte nach folgendem Schema: Vergeben Sie bitte einen grünen Punkt, wenn Sie dieses Verkehrsmittel gerne nutzen bzw. die Situation im Normalfall angenehm für Sie ist. Bitte vergeben Sie andererseits einen roten Punkt, wenn Sie dieses Verkehrsmittel nicht nutzen bzw. eher meiden, weil es dabei zu unangenehmen Situationen bzw. Angstzuständen kommt. Sie können alle Punkte einer Farbe nur einem Verkehrsmittel geben, oder können die Punkte auch beliebig je nach Ihrem Empfinden aufteilen.  MOD: Jenes Verkehrsmittel mit der höchsten Gesamtpunktezahl als erstes thematisieren:  Das Verkehrsmittel XY hat hier bei uns in der Runde die meisten bzw. sehr viele rote Punkte bekommen.  Was ist es, was bei Ihnen dabei unangenehme Gefühle/Angstzustände verursacht bzw. verursacht hat?  Bitte schildern Sie konkret die Situation – Welche Vorstellungen oder Gedanken führen zu diesen unangenehmen Gefühlen?  MOD: Ursachen/Auslöser [=BARRIEREN] beim entsprechenden Verkehrsmittel bzw. Situation auf dem Flipchart notieren  Was schafft Ihnen in dieser Situation Abhilfe? Bzw. was hat eventuell schon einmal Abhilfe geschaffen? – Bitte schildern Sie, wie Sie mit der Situation umgehen.  Denken Sie an andere Verkehrsmittel, in denen es eventuell zu ähnlichen Situationen/Auslösern kommen könnte, die Sie aber ohne Einschränkungen nutzen [Mod. exemplarisch auf Verkehrsmittel mit vielen grünen Punkten verweisen, bei denen es ähnlich sein könnte und Fragen, ob bzw. inwiefern die Situation dort eine andere ist]  Gibt es Ideen, oder Vorschläge die Abhilfe schaffen könnten? – Lassen Sie uns gemeinsam Ideen sammeln und diskutieren, die in dieser konkreten Situation helfen könnten, die unangenehmen Gefühle zu minimieren. o Was können Sie tun?

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 345 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

o Wer könnte unterstützen? –Wie könnte unterstützt werden? o Welche Voraussetzungen könnten geschaffen werden, um die Situation zu erleichtern? – Wie könnte man diese Voraussetzungen schaffen?  MOD: (Mögliche) Abhilfen [=BARRIEREHEMMER] beim entsprechenden Verkehrsmittel bzw. Situation auf dem Flipchart notieren

 MOD: In weiterer Folge basierend auf bereits gesammelten Barrieren und Barrierehemmern mit Querverweisen auf dem Flipchart arbeiten und dieses laufend ergänzen

Mögliche Fragen zur Verknüpfung:  Kennen Sie diese oder ähnliche Auslöser [auf bereits genannte Auslöser lt. Flipchart eingehen] auch aus Ihren Erfahrungen oder Erlebnissen mit anderen Verkehrsmitteln oder Situationen?

 Bitte schildern Sie konkret die Situation – Welche Vorstellungen oder Gedanken führen zu diesen unangenehmen Gefühlen?  Was schafft Ihnen in dieser Situation Abhilfe? Bzw. was hat eventuell schon einmal Abhilfe geschaffen? – Bitte schildern Sie, wie Sie mit der Situation umgehen.  Gibt es Ideen, oder Vorschläge die Abhilfe schaffen könnten? – Welche Erfahrungen/Möglichkeiten der Abhilfe, die wir bei anderen Verkehrsmitteln bereits angesprochen haben [auf Flipchart verweisen], könnten helfen o Was können Sie tun? o Wer könnte unterstützen? –Wie könnte unterstützt werden? o Welche Voraussetzungen könnten geschaffen werden, um die Situation zu erleichtern? – Wie könnte man diese Voraussetzungen schaffen?

 Könnte man diese Abhilfe [auf bereits genannte Lösungen/Barrierehemmer lt. Flipchart eingehen] auch auf andere Verkehrsmittel/Situationen [auf gleiche/ähnliche Ursachen bzw. Auslöser bei anderen Verkehrsmittel eingehen] umlegen?  Welche Maßnahmen sind „universell“ (in vielen Situationen/Bereichen) einsetzbar, wo/wann kommt es zu speziellen Anforderungen an Barrierehemmer?

346 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

 Wie könnte dies in Verkehrsmittel bzw. in Situation XY Abhilfe schaffen?

Stützfragen zu Barrierehemmern:  Falls nichts bzw. nur wenig kommt: Mögliche „Barrierehemmer“ aus TI vorstellen und diskutieren lassen [Mod: zu Verkehrsmittel/Situation passende Vorschläge aus „Barrierehemmer aktuell“ und „Barrierehemmer Vorschläge“ vorstellen und diskutieren lassen“] o Könnte das helfen? – Warum/Warum nicht? o Wie müsste das gestaltet/ausgeprägt/umgesetzt sein, damit es unterstützen würde?  MOD: Methodik der GPS-Aufzeichnungen bzw. begleitenden Wegbe- gehung erklären und abfragen, ob jemand in der Gruppe Interesse daran hat.

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 347 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

19.6 Quantitative Auswertung Checkliste VerkehrsexpertInnen

Tabelle 26: Quantitative Auswertung der Checkliste zur Wirksamkeit und Umsetzbarkeit von Maßnahmen

Fortsetzung Tabelle 26 S.348

348 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Fortsetzung Tabelle 26

Quelle: Eigene Darstellung

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 349 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Bisher in den IVS-SCHRIFTEN erschienen:

Band 1: THOMAS OBERMAYR: Die Parkraumbewirtschaftung im ersten Wiener Gemeindebezirk aus raumplanerischer Sicht (1997)

Band 2: THOMAS POSCH: Anruf-Sammeltaxis in Österreich – Analyse der Nachfrage und Wirtschaftlichkeit (1998)

Band 3: BARDO HÖRL: Engpaßbeseitigende Investitionsmaßnahmen auf Schienenstrecken und deren Bewertung (1998)

Band 4: GEORG HAUGER (HRSG.): Forum Verkehrssystemplanung Ausgewählte Seminararbeiten 1998 (1998)

Band 5: GEORG HAUGER (HRSG.): Forum Verkehrssystemplanung Ausgewählte Seminararbeiten 1999 (1999)

Band 6: GEORG HAUGER (HRSG.): Festschrift für Gerd Steierwald (1999)

Band 7: PETER CERWENKA: Ach so ist das ! Trostspende für Planende (1999)

Band 8: JEAN-LUC WEIDERT: Behindertengerechter öffentlicher Straßenraum unter besonderer Berücksichtigung Geh- und Sehbehinderter (2000)

Band 9: THOMAS KELLER: Entwicklung und Potential von organisiertem Car-Sharing in Deutschland, Österreich und der Schweiz (2000)

Band 10: GEORG HAUGER (HRSG.): Forum Verkehrssystemplanung Ausgewählte Seminararbeiten 2000 (2000)

350 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Band 11: BARDO HÖRL, MICHAEL KLAMER: IC-Zug, Neigezug oder Fernlinienbus? Systemvergleich des öffentlichen Personenfernverkehrs im Korridor der österreichischen Südbahn (Wien — Graz bzw. Wien — Klagenfurt — Villach) (2001)

GEORG HAUGER: Ecological and Spatial Impacts of modern Communication and Transportation (2001)

Band 12: ANDREAS DEURING: Flächenverbrauch der Straßenverkehrserschließung (2001)

Band 13: KLAUS ROBATSCH, ERWIN SCHRAMMEL: Grundlagen der Verkehrssicherheit (2001)

Band 14: GEORG HAUGER (HRSG.): Perspektiven der Verkehrssystemplanung – Festschrift für Peter Cerwenka (2002)

Band 15: GEORG HAUGER (HRSG.): Forum Verkehrssystemplanung 2002 Ausgewählte Seminararbeiten (2002)

Band 16: THOMAS PRESLMAYR: Wege zur Reorganisation des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) in Österreich – Eine Sammlung von Erfahrungen aus Österreich, Deutschland, Schweden und Großbritannien (2002)

Band 17: PETER CERWENKA: Ach so ist das gewesen! (2003)

Band 18: THOMAS MÖSSLACHER: Das Karlsruher Modell und Planungen für eine Umsetzung in Österreich (2003)

Band 19: MARTIN PÖCHEIM: Nutzen-Kosten-Untersuchungen – Darstellung und Bewertung ausgewählter formalisierter Entscheidungsverfahren an Beispielen der Bundesstraßenplanung in Österreich (2003)

Band 20: BIRGIT NADLER: Analyse der Wirkungen von Streckenbeeinflussungsanlagen auf die Verkehrssicherheit im Autobahnnetz (2003)

PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen 351 - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Band 21: DORIS FUCHS: Öffentlicher Stadtverkehr in der Nacht (2004)

Band 22: EVELYN ZODTL: Verkehrsunfälle auf Eisenbahnkreuzungen in Österreich (1993-2002) – Dringlichkeitsreihung zur Sanierung der Unfallstellen (2005)

Band 23: CHRISTIAN LAIMER: Harmonisierung der elektronischen LKW-Mautsysteme auf Fernstraßen in Europa (2005)

Band 24: HARALD BUSCHBACHER: Ländlicher Eisenbahnpersonenverkehr im Weinviertel und in Südmähren (2005)

Band 25: STEFAN SIMA: Österreich im transeuropäischen Verkehrssystem (2005)

Band 26: PAUL GROHMANN: Angebotsänderung im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und Auswirkungen auf die Nachfrage (2006)

Band 27: HEINZ DÖRR, SILKE FRANK, STEFAN GROSSAUER, BARDO HÖRL, SIEGFRIED PÖCHTRAGER: Milky Ways – Implementierung effizienter und umweltgerechter Transportketten am Beispiel einer Food Supply Chain einer Milchregion (2006)

Band 28: STEPHANIE NOVAK: Citymaut-Systeme mit besonderer Berücksichtigung ihrer möglichen Auswirkungen auf den Modal Split am Beispiel Wien (2006)

Band 29: MYRIAM MAIER: Fahrleistungsabhängige Pkw-Mautsysteme in Europa und mögliche Implementierungen in Österreich (2008)

Band 30: FRANK BRUNS, PETER CERWENKA, RALF CHAUMET, REINHARD HALLER: Berücksichtigung von erreichbarkeitsbedingten Veränderungen der Wertschöpfung in Kosten-Nutzen-Analysen (Bewertung der Standortqualität) (2008)

Band 31: PHILIPP ROSENECKER: Parkdruck in Wien – Lösungsansätze im Bereich der Parkraumbewirtschaftung- und Steuerung (2008)

352 PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen

Band 32: PETER CERWENKA: Streifzüge eines exilierten Hofnarren durch Kafkas Schloss (2009)

Band 33: KLAUS ROBATSCH; CHRISTIAN KRÄUTLER; BERND STRNAD: Grundlagen der Verkehrssicherheit (2009)

Band 34: EVA AIGNER-BREUSS ET AL.: Mobilitätszukunft für die Generation 55+ (2011)

Band 35: HEINZ DÖRR; BARDO HÖRL; SIEGFRIED PÖCHTRAGER ET AL.: Friendly Supply Chains (2011)

Band 36: GEORG HAUGER (HRSG.): Projektbericht: GIVE & GO – Entwicklung eines ehrenamtlich organisierten individualverkehrsbasierten Mobilitätsservices (2014)

Band 37: ALESSANDRA ANGELINI ET AL.: Zusammenhang zwischen Kriminalitätsfurcht und Raumtypen Untersuchung am Beispiel der Stadt Wien (2014)

Band 38: GEORG HAUGER (HRSG.): Optimierung multimodaler Knoten im Korridor VII (Donaukorridor) (2016)

Band 39: GEORG HAUGER (HRSG.): PHOBILITY-Handbuch: Verkehrsteilnahme von Menschen mit psychischen Erkrankungen - insbesondere Phobien, Angst- und Zwangsstörungen (2016)