APuZAus Politik und Zeitgeschichte 63. Jahrgang · 21–23/2013 · 21. Mai 2013

Richard Wagner

Martin Geck Lassen sich Werk und Künstler trennen?

Udo Bermbach Wagners politisch-ästhetische Utopie und ihre Interpretation

Sven Oliver Müller als politisches und emotionales Problem

Dieter Borchmeyer Richard Wagners Antisemitismus

Eberhard Straub Wagner und Verdi – Nationalkomponisten oder Europäer?

Anno Mungen Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen

Hanns-Werner Heister Zu den politischen Dimensionen von Musik Sven Oliver Müller deutschen Öffentlichkeit bis in die Gegenwart hinein ist erstaunlich und letztlich rätselhaft: Warum veränderten sich die Interpretationen Richard Wagner von Richard Wagners künstlerischem Werk so häufig, aber seine politische und emotiona- le Präsenz so wenig in der an Umbrüchen rei- als politisches chen Zeit zwischen 1883 und 2013? Die Aneignung seines Werkes stand in einem und emotionales Wechselverhältnis von affirmativen Wieder- holungen und kontroversen Neuschöpfungen. Vielleicht lag genau in diesem Spannungsver- Problem­ hältnis eine der Ursachen des Erfolgs. Der Wagner-Mythos hielt keine unverrückbaren ur der Mensch Richard Wagner starb Deutungen bereit, sondern funktionierte of- N1883 an einem Herzinfarkt – nicht das fenbar stets durch seine Vieldeutigkeit. Das Phänomen und das Problem Wagner. Seine Werk ließ sich nicht nur leicht weitererzählen, Faszination hat mehr sondern auch den Veränderungen der deut- Sven Oliver Müller Menschen in Deutsch- schen Gesellschaft anpassen. Die historischen Dr. phil., geb. 1968; Leiter der land angezogen als Versuche, den Rang Wagners und die Bot- Forschungsgruppe „Gefühlte seine Fragwürdigkeit schaft seiner Kunst trennscharf zu bestimmen Gemeinschaften? Emotionen abgeschreckt. Sicher und mithin für eine bestimmte Deutung zu um Musikleben Europas“ scheint, dass die wi- vereinnahmen, sind jedoch allesamt geschei- am Max-Planck-Institut für dersprüchliche Rezep- tert. Die Wagner zugeteilten öffentlichen Rol- Bildungsforschung; Autor des tion Wagner am Leben len folgten größtenteils dem Wandel der deut- Buches „Richard Wagner und hält. Er ist vielleicht schen Gesellschaft – und triumphierten und die Deutschen. Eine ­Geschichte der einzige Kompo- scheiterten mit ihr. Die Wagner-Rezeption von Hass und Hingabe“ nist, über den die deut- kann als eine Suche nach Gewissheit gegen Be- (2013); Max-Planck-Institut für sche Gesellschaft bis drohungen, Ängste und Unsicherheit gedeutet Bildungs­forschung, heute nicht zur Ruhe werden. In Wagners Werk lassen sich zentrale Lentze­allee 94, 14195 Berlin. gekommen ist. Um Merkmale des gesellschaftlichen Wandels er- [email protected] Wagner gab es keinen kennen, der nicht nur das 19., sondern auch das Frieden, weil zahl- 20. Jahrhundert prägte: Herrschaft und Ge- reiche Musikfreunde, darunter große Teile walt, Politik und Migration, soziales Wachs- der Elite in der deutschen Gesellschaft, kei- tum und neue Unübersichtlichkeit. ❙2 ne Ruhe vor ihm haben wollten. Aus kultur- historischer Perspektive gewann Wagner seine Bedeutung nicht nur durch die Reproduktion Wer besitzt den „wahren Wagner“? seines Werkes, sondern auch durch die einzig- artige Figur des Komponisten – genauer: im Verlässt man die Position der Werkimmanenz öffentlichen Umgang mit dieser durch Regie- und blickt auf das Nachleben der Musikdra- rungen, Institutionen, Medien und Publikum. men in den Inszenierungen und beim Publi- Seine Aneignung lässt sich als eine Form der Politik mit kulturellen Mitteln verstehen. ❙1 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musi- kanten-Problem, Leipzig 1889. Vgl. Joachim Fest, Ri- Die „postume Karriere“ Wagners im chard Wagner – Das Werk neben dem Werk, in: Saul 20. Jahrhundert ist ein Ausdruck der gesell- Friedländer/Jörn Rüsen (Hrsg.), Wagner im Drit- ten Reich. Ein Schloß Elmau-Symposium, München schaftlichen Entwicklungen in Deutschland. 2000, S. 24–39; Peter Wapnewski, Richard Wagner. Friedrich Nietzsche nannte das zu seiner Die Szene und ihr Meister, München 1983. Zeit den „Fall Wagner“. ❙1 Seit dem ausgehen- ❙2 Vgl. Hartmut Zelinsky, Richard Wagner – ein deut- den 19. Jahrhundert ist Wagners Werk fester sches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsge- Bestandteil des musikalischen Repertoires in schichte Richard Wagners 1876–1976, Frank­furt/M. Deutschland. Monarchen und Politiker, Hörer 1976. Abwägender und analytisch treffender ist die Ar- beit von Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutsch- und Intendanten, Künstler und Journalisten – land. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart 2011. sie alle ließen in ihrem Interesse für Wagners Wichtig ist auch Hannu Salmi, Imagined Germany. Musikdramen nie nach. Seine Präsenz in der Richard Wagner’s National Utopia, New York 1999.

16 APuZ 21–23/2013 kum, wird eines deutlich: Wagners Werk ist äs- In der Rezeptionsgeschichte Wagners wird thetisch und politisch eine Herausforderung. deutlicher als wohl bei jedem anderen Kompo- Das spezifisch Politische an seinen Bühnen- nisten, dass Emotionen im Musikleben auch als werken ist, wenn nicht im Notentext und der Strategien der Macht eingesetzt werden kön- Handlung, dann im interessengeleiteten Um- nen. Sie oszillieren dann oft zwischen spon- gang damit zu erkennen. Diese Handlungs- taner Reaktion und ausgeklügelter Absicht. macht des Publikums hat schon Friedrich Die in der Öffentlichkeit agierenden „Wagne- Nietzsche erkannt und geurteilt, es sei „der rianer“ waren oft versierte Experten mit einer Wagnerianer Herr über Wagner geworden“. ❙3 großen Sensibilität für emotionale Interpreta- tionen und die zu erwartenden Reaktionen des Wagners Werk vermittelt keine verbind- Publikums. Die Emotionen ihrer Gegner wa- liche Weltsicht. Seine Botschaft bleibt deu- ren ihnen nicht nur nicht fremd, sie nutzten tungsoffen und unbestimmt. Genau das diese auch, um die Wünsche und die Ängste aber ermöglicht einen Blick auf die zahlrei- der Gegner zu treffen, ja um die musikalisch chen, oft widersprüchlichen Rezeptions- „Ungebildeten“ persönlich zu verletzen. weisen. Die Frage nach der „richtigen“ oder „falschen“ Rezeption eines Wagner-Stückes Man kann die Wagner-Rezeption zwischen führt nicht weit. Es gibt keinen abschließend dem Kaiserreich und der Bundesrepublik als zu bewertenden Wagner, keinen „wahren“ eine Erregungsspirale bezeichnen. Damit ist Wagner, keine Deutung, der nicht wider- nicht nur gemeint, dass sich die emotionalen sprochen werden kann. Der Regisseur Heinz Reaktionen auf die Musik, die Hörgewohn- Tietjen hatte mit seiner Bayreuther Lohen- heiten und der Geschmack veränderten. Das grin-Inszenierung 1936 ebenso „recht“ wie Bild der Spirale kann auch das Phänomen Christoph Schlingensief mit seinem Parsifal beschreiben, dass die emotionale Bewer- von 2004. Beide realisierten ein authentisches tung Wagners in Deutschland mit der Zeit so Stück originären Wagnertums. wirkmächtig wurde, dass es leichter schien, sie immer weiter zu drehen, als sie zu durch- Im Zusammenhang mit Richard Wagner brechen. Die Benennung von Emotionen hat- haben Emotionen stets eine soziale Dimen- te immer neue Erregungen zur Folge. sion, die einerseits dem individuellen Emp- finden eine besondere Relevanz verleiht und Der Weg der emotionalen Deutungen und andererseits immer wieder auf Wagner zu- Umdeutungen Richard Wagners ist ein Weg rückstrahlt. Die Musik, die Sprache, die voller Hindernisse und Fallen. Der Politik- Handlung und die Bilder der einzelnen Mu- wissenschaftler Udo Bermbach stellt ganz sikdramen bewirken damals wie heute inten- zu Recht die Frage, ob es nicht angemessen sive und konfliktträchtige Gefühle. Auf Hass wäre, von einer „schiefgelaufenen Rezeption“ und Hingabe in der Wagner-Rezeption zu bli- zu sprechen. ❙5 Das bezieht sich nicht nur auf cken, ist deshalb aufschlussreich, weil beide die nationalsozialistische Instrumentalisie- einerseits von einem Kontrollverlust zeugen, rung Wagners. Wahrscheinlich beging auch andererseits aber auch willentlich herbeige- die demokratische Linke einen Fehler, indem führte Reaktionen waren, durch die sich be- sie bis in die 1960er Jahre hinein Wagner be- stimmte Interessen befriedigen ließen. Positi- reitwillig dem nationalistischen und rechts- ven Emotionen wie Stolz, Glück oder Rausch konservativen Lager „überließ“, ihn dann standen in der Wagner-Rezeption negative aber umso engagierter für sich beanspruchte. wie Wut, Scham oder das Gefühl des Verrats Was immer durch die Wagner-Rezeption des gegenüber. Wagners Werk bietet offenbar zu viel, als dass es emotional eindeutig begrif- kussion über das Verhältnis von Musik und Emotion fen werden könnte. Auch deshalb enthält es bieten Patrik N. Juslin/John A. Sloboda (eds.), Music 4 so zahlreiche Identifikations­möglichkeiten. ❙ and Emotion: Theory and Research, Oxford 2001. ❙5 Udo Bermbach, Opernsplitter. Aufsätze, Essays, Würzburg 2005, S. 224. Vgl. Dietrich Mack (Hrsg.), ❙3 Vgl. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzu- Richard Wagner. Das Betroffensein der Nachwelt. menschliches. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Beiträge zur Wirkungsgeschichte, Darmstadt 1984; Giorgio Colli, Berlin 1967, S. 323. Sven Friedrich, „Der Prophet seines Volkes“. Der ❙4 Vgl. Sven Oliver Müller, Richard Wagner und die Wagner-Mythos um 1900, in: Laurenz Lütteken Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hinga- (Hrsg.), Musik und Mythos – Mythos Musik um be, München 2013. Einen guten Überblick zur Dis- 1900, Kassel 2009, S. 14–71.

APuZ 21–23/2013 17 radikalen Nationalismus bis 1945 angerichtet zur offiziellen Festoper des nationalsozialis- worden war – nun spielte man unter grundle- tischen Deutschlands, etwa auf dem Parteitag gend gewandelten politischen Strukturen in der NSDAP 1935 in Nürnberg und bei den der Bundesrepublik und in der DDR diesel- „Kriegsfestspielen“ in Bayreuth 1943 und 1944. ben Opern mit neuen ästhetischen und ge- sellschaftlichen Deutungen. Dabei wäre es falsch, in diesem Werk rei- ne nationalistische oder gar nationalsozialis- Die Uneinheitlichkeit der Wagner-Deutun- tische Propaganda zu erkennen. Wagner ent- gen, die konkurrierenden Begründungen und warf vielmehr einen idealen deutschen Staat, die unterschiedlichen Praktiken derjenigen, der durch die „heilige deutsche Kunst“ legi- die sich allesamt auf einen „wahren Wagner“ timiert werden sollte. ❙6 Er hielt den „Volks- beriefen, sind das bestechende Merkmal der geist“ für das Medium, durch das die Kunst Wagner-Rezeption. Wagners Erfolg liegt wo- das Nationalbewusstsein forme. Einiges möglich darin, dass sich die verschiedenen Er- spricht dafür, dass auch auf die Meistersin- wartungen, Interessen, Verhaltensmuster und ger vieles jenseits der Komposition Liegende Konsumgewohnheiten im Umgang mit sei- projiziert wurde. In den 1920er Jahren ver- nem Werk und Wirken trotz oder wegen ih- achteten viele Musikexperten die neue demo- rer Diversität immer wieder auf gemeinsame kratische Gesellschaft und beriefen sich in Nenner bringen ließen: auf Mythen, Nationa- ihren Schriften auf die Schlussansprache von lismen, Gefühle und nicht zuletzt auf das zum Hans Sachs, weil ihnen die Kunst Wagner- Guten oder Schlechten verklärte Genie. Im scher Bauart eine problembefreite Zukunft Konflikt lag immer auch eine Angleichung. in Aussicht stellte. Die Rezeptionsgeschichte der Meistersinger im 20. Jahrhundert ist Be- Diese Überlegungen sollen anhand von standteil des eigentlichen historischen Pro- zwei Themenfeldern verdeutlicht werden, blems: der Frage nach einem möglichen Zu- die den politischen und emotionalen Um- sammenhalt zwischen den Rezeptionen vom gang mit Richard Wagner skizzieren: Zu- Kaiserreich über die Weimarer Republik hin nächst wird auf die nationalistische Deutung zum Nationalsozialismus. ❙7 Wagners bei der Bayreuther Aufführung der Meistersinger von Nürnberg 1924 verwiesen. 1924 wurden die Bayreuther Festspiele Anschließend richtet sich der Blick auf den nach einer durch den Ersten Weltkrieg be- emotionalen Streit um die Bayreuther Ring- dingten zehnjährigen Pause wieder eröffnet. Inszenierung 1976 und auf den Kampf zwi- Endlich verfügte man wieder über die not- schen konservativen und politisch links ste- wendigen finanziellen Mittel und das Per- henden Deutungen des Werkes. sonal. Im Zuschauerraum saß nun ein an- ders zusammengesetztes Publikum als in der Vorkriegszeit: Der Anteil der ausländischen „Die Meistersinger“ Festspielgäste war zurückgegangen, stattdes- als nationaler Fluchtpunkt sen kamen mehr deutsche Beamte, Lehrer, Ärzte und Studenten. Außerdem zogen die Den Meistersingern kommt eine besonde- rechtskonservativen Bekenntnisse des „Bay- re Rolle in der deutschen Wagner-Rezeption reuther Kreises“ neue Besucher an. Das Fest- zu. Denn man kann von einer symbiotischen spielpublikum wurde sozial betrachtet im- Beziehung zwischen der Geschichte der Auf- mer kleinbürgerlicher und politisch gesehen führungen und der politischen und kulturel- immer rechtskonservativer. ❙8 len Entwicklung in Deutschland reden. Diese Oper versinnbildlicht die Suche nach einer ❙6 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Udo Bermbach in durch kulturellen Zusammenhalt ermöglichten dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). politischen Einheit. In der Weimarer Republik ❙7 Vgl. Nicholas Vazsonyi, Introduction, in: ders., reagierte das Publikum vor dem Hintergrund Wagner’s Meistersinger. Performance, History, Re- des verlorenen Krieges und der französischen presentation, Rochester, NY 2004, S. 1–20; Herfried Besatzung des Rheinlands gerade auf die an- Münkler, Kunst und Kultur als Stifter politischer tifranzösischen Schlussverse des Protago- Identität. Webers Freischütz und Wagners Meistersin- ger, in: Hermann Danuser/Herfried Münkler (Hrsg.), nisten Hans Sachs gegen „welschen Dunst Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfin- mit welschem Tand“ mit Zustimmung. Nach dung in der Musik, Schliengen 2001, S. 45–60. 1933 avancierten die Meistersinger schließlich ❙8 Vgl. U. Bermbach (Anm. 5), S. 307–322.

18 APuZ 21–23/2013 Der offizielle Festspielführer demonstrier- le Entstellung der Kunst Richard Wagners, te seine Affinität zu Militarismus und Na- ausgelöst durch die emotionale Verwirrung tionalismus des konservativen Lagers und nach der Niederlage des Krieges: „Wenn dann erkannte in Bayreuth „eine deutsche Waffen- nach dem ergreifenden Schauspiel, das dem schmiede“. Das Titelbild zeigt ein erhobenes wirklich Hörenden die Rede verschlägt, das Schwert vor dem Hintergrund des Festspiel- Deutschlandlied mehrstrophig abgesungen hauses. Die gerahmte Inschrift verkündet: wird, weicht Begeisterung einem gelinden Er- „Nothung!, Nothung, Neu und Verjüngt! staunen. Die anschließenden, auch bei späteren Zum Leben weckt ich Dich wieder!“ Der Aufführungen immer wiederholten oder doch Kulturhistoriker Adolf Rapp steuerte einen versuchten Heilrufe aber öffnen (…) dem kriti- Essay mit dem Titel „Wagner als Führer zu schen Beobachter vollends die Augen. Das also deutscher Art“ bei. Der Leiter der Bayreuther hat man aus dem Erbe des Länder und Herzen Festspiele, Richard Wagners Sohn Siegfried, umspannenden Genies gemacht! Dies die ge- entschied sich dafür, das Haus mit den Meis- sinnungsmäßige Umstellung, die Bayreuth seit tersingern von Nürnberg neu zu eröffnen. 1914 an sich vorgenommen hat.“ Zudem ärger- Das Dirigat übernahm Fritz Busch. Zum te sich Holl darüber, dass „auch von den Deut- Auftakt der Festspiele war der Hügel de- schen die geistig Freiheitsbedürftigen aus dem monstrativ schwarz-weiß-rot geflaggt, vom Wagnertempel fast gänzlich verschwunden Dach des Hauses bis zum Restaurant. Diese sind. Das gesellschaftliche Bild zeigt eine brei- Farben versinnbildlichten die Sehnsucht nach te Bürgerlichkeit, in der Vertreter der Großin- dem verlorenen Deutschen Kaiserreich und dustrie und des Feudalismus den Ton angeben waren ein Affront gegen die junge Republik. und das Bayreuth hörige engere Akademiker- Auch in den folgenden Jahren wurde auf dem tum als kulturelles Bindeglied erscheint. Dazu Grünen Hügel nicht die neue Nationalfahne ein paar ehemalige Herrscher und (in den Pro- gehisst, und die Spitzenpolitiker der Weima- ben) der ehemalige Feldherr Ludendorff“. ❙11 rer Republik blieben Bayreuth fern. Am Ende ging diese öffentliche Selbstin- Siegfried Wagner polemisierte gegen den szenierung der deutschen Nation wohl auch Niedergang der Kunstproduktion nach dem Siegfried Wagner zu weit, und in der fol- Ersten Weltkrieg: „Fanatisches Auge, aber genden Festspielzeit erklärte er per Aus- keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und hang: „Das Publikum wird herzlich gebeten, Ludendorff. Romane und Germane! (…) Fa- nach Schluß der Meistersinger nicht zu sin- mose echte Rasse (…). Es ist schon trostlos, gen. Hier gilt’s der Kunst!“ Eine wiederkeh- wie Deutschland herabgekommen ist!“ ❙9 So rende Begründung: 1933 stand auf dem Pro- dachte wohl auch ein großer Teil der Festspiel- grammzettel, dass der Reichskanzler Adolf besucher, denn bei der Premiere der Meister- Hitler im Interesse der Kunst Wagners keine singer am 22. Juli 1924 kam es zu einem nati- Hochrufe im Haus wünsche; und 1951 wähl- onalistischen Ausbruch: Bereits während des ten die Wagner-Enkel Wieland und Wolfgang Schlussmonologs des Hans Sachs habe sich, dasselbe Motto der Meistersinger, um als er- so berichtet eine Freundin Siegfried Wag- neuerte Demokraten die Festspiele von jedem ners, „das ganze Haus wie Ein Mann“ erho- Geruch des Politischen zu befreien. Im Bay- ben „und hörte stehend den Schluß an, und reuther Kontext wirkten Leitmotive nicht zuletzt, nach endlosen brausenden Jubelstür- nur ästhetisch, sondern auch politisch. men, wurde noch das Deutschlandlied von allen gesungen“. ❙10 Viele beendeten die Vor- stellung mit „Heil“-Rufen. Skandal um den „Jahrhundert-Ring“

Der Kritiker der „Frankfurter Zeitung“, Am 24. Juli 1976 hob sich der Vorhang zum Karl Holl, war sich nicht sicher, ob er die nati- Vorspiel des Rheingolds als Auftakt zu einer onale Begeisterung des Publikums als sponta- Neuinszenierung des Ring des Nibelungen. ne Tat positiv werten sollte oder als eine dunk-

❙11 Frankfurter Zeitung vom 3. 8. 1924. Vgl. Dietrich ❙9 Zit. nach: Hans Mayer, Richard Wagner, Frank­ Mack, Die Bayreuther Inszenierungen der „Meis- furt/M. 1998, S. 311. tersinger“, in: Attila Csampai (Hrsg.), Die Meister- ❙10 Rosa Eidam, Bayreuther Festspielzeiten 1883– singer. Texte – Materialien – Kommentare, Reinbek 1924. Persönliche Erinnerungen, Ansbach 1925, S. 31. 1981, S. 158–185.

APuZ 21–23/2013 19 Es sollte der „Jahrhundert-Ring“ zur Feier Wagner erhielt Ankündigungen von Mitglie- des hundertjährigen Bestehens der Bayreuther dern der „Gesellschaft der Freunde von Bay- Festspiele werden – wurde aber zunächst der reuth“ und anderen Wagner-Verbänden, ihre Opernskandal des Jahrhunderts. Buhs und Spenden zurückzuhalten, und Aufforderun- Bravos war das Haus mittlerweile gewöhnt, gen, das Amt niederzulegen; dem Regisseur doch der Unmut, der sich in der ersten Fest- wurde nahegelegt, sich „hinter den Vorhang“ spielwoche des Sommers 1976 Bahn brach, zurückzuziehen und sich „eine Kugel durch war bis dato einzigartig. Mit Rufen und Pfif- den Kopf“ zu jagen. ❙14 Das Ziel der sich als fen, Geschrei und Gelächter protestierten Tei- „Mehrheit der Wagner-Kenner“ präsentie- le des Publikums anhaltend gegen die Insze- renden Gruppe der Gegner dieser Inszenie- nierung des jungen französischen Regisseurs rung wurde rasch deutlich: Die sofortige Ab- Patrice Chérau; mitgebrachte Trillerpfeifen, setzung der Neuproduktion. die wahrlich nicht zur Standardausrüstung der Festspielbesucher gehörten, demonstrier- Was ist dort auf der Bühne zu sehen und ten die emotionale Erwartungshaltung und zu hören gewesen, das einen solchen Tu- den organisierten Charakter dieses Protests. mult auszulösen vermochte? Chéreau, der auf Am letzten Abend schließlich, zu Beginn Empfehlung des bereits engagierten Dirigen- des dritten Aufzugs der Götterdämmerung, ten mitsamt seinem Bühnen- schien es sogar, als müsse die Vorstellung ab- bildner Richard Peduzzi und dem Kostüm- gebrochen werden, so ausladend und lärmend bildner Jacques Schmidt berufen wurde, war waren die Krawalle im Zuschauersaal. Der ein Theaterregisseur von 31 Jahren, der erst Kritiker Joachim Kaiser warnte die Zuhörer zwei Regiearbeiten in der Oper vorzuweisen an den Radios angesichts der Lärmkulisse iro- hatte. Auf der Pressekonferenz der Festspiele nisch vor Fehlschlüssen: „Der letzte Akt der bekannte er, sich mit Wagners Ring noch nie Götterdämmerung beginnt keineswegs mit zuvor beschäftigt, ja, ihn noch nicht einmal Wutgeheul, sondern in F-Dur.“ ❙12 auf der Bühne gesehen zu haben. Was die Zu- schauer von diesem Team zu sehen bekamen, Glaubt man der durchaus sensationslüs- folgte nicht der verbürgten Bayreuther Tradi- ternen Berichterstattung, setzte sich der Tu- tion der „Originalität“ von Wagner. Stattdes- mult in den Pausen fort und fand in hitzigen sen öffnete sich der Vorhang über einer rea- Diskussionen voller Schmähungen und Be- len Welt voller menschlicher Schicksale. Der geisterung (von „grandios“ bis „Schweine- Rhein wogte nicht im Urzustand, sondern rei“) seinen Ausdruck. Ein Gast schrieb, er wurde durch den riesigen Staudamm eines habe „in den Pausen (…) viele Äußerungen Wasserkraftwerks als gezähmte Natur des aufgeschnappt von Festspielbesuchern, was industriellen Zeitalters gedeutet. Statt Fellen mit Herrn Chéreau und seinen Genossen zu und Hörnern oder stilisierten Tuniken be- geschehen hätte. Die Herren gehören aufge- stimmten Gehrock, Uniform und Smoking, hängt, an die Wand gestellt, abgeknallt, um- Biedermeierkleid und Jugendstil-Interieur gelegt, gelyncht usw.“ Vor dem Festspielhaus die Optik. Die Götter dieses Rings waren kündeten Schilder und Plakate vom Protest: scheiternde Machthaber der Gründerzeit, die „Haltet Wagner rein“ war darauf zu lesen, sich im Rheingold ihr in den Tiefen der Erde „Disneyland auf dem Grünen Hügel?“ und von Sklaven und Arbeitern geschaffenes Ka- „Verflucht sei dieser Ring“. ❙13 pital erst hatten erobern müssen. ❙15

Im Nachgang der Premierenwoche wurden Der Protest der selbsternannten Retter Flugblätter und Schmähschriften gedruckt; Wagners hatte zwei Stoßrichtungen: zum ei- ein Aktionsbündnis wurde gegründet; die nen die politische Diffamierung der „Geg- Festspielleitung in Person von Wolfgang ner“, zum anderen die auf emotionaler Krän- kung basierende Selbstdarstellung. Der ❙12 Chéreau-Dämmerung am Grünen Hügel. Die Chéreau-Ring war nicht nur die vielleicht po- Götterdämmerung verendete als Hafen-Zeremonie, litischste Deutung, die es je in Bayreuth gege- Richard Wagner Nationalarchiv, Bayreuth, A2525. ❙13 Private Äußerungen an verschiedene Adressa- ten. Beschwerden über die Chéreau-Inszenierung, ❙14 Private Äußerungen an verschiedene Adressaten Richard Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A2678-1 (Anm. 13), S. 2 ff. a–f, e), S. 3 ff.; Aus dem Geiste der Musik? Bayreuther ❙15 Vgl. Pierre Boulez et al., Der „Ring“ – Bayreuth Notizen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14. 8. 1976. 1976–1980, Berlin 1980.

20 APuZ 21–23/2013 ben hatte, der Skandal um die Inszenierung ganz bestimmtes Gefühl, es werden ganz be- machte Richard Wagner und seine Festspiele stimmte Schwingungen des Nervensystems wieder zu einem handfesten Politikum. Ek- oder sagen wir auch der Seele hervorgeru- latant wie nie zuvor klaffte der für den „Fall fen“, erklärte der sich als Sprachrohr der Pro- Wagner“ so charakteristische Widerspruch testler produzierende Walter Just der Pres- zwischen politischer Polemik und Anrufung se. Für diese „echten Kenner“ erwies sich politischer Autorität für die eigene Sache ei- schon der Begriff der „Deutung“ als abwe- nerseits versus Negation jedweder politischen gig, da „die Musik deutlich und ausschließ- Bedeutung der Festspiele oder der Musikdra- lich sagt, was zu empfinden und zu fühlen men Wagners andererseits. Diesen Ring kön- ist“. ❙19 Gefühle wurden zu einem Besitz, sie ne man allenfalls als „sozialpolitisches Ten- waren gerade nicht mehr fluide, wechselhaft denztheater bezeichnen“, hieß es. Die für und subjektiv, sondern etwas von realer Sub- diese Produktion Verantwortlichen könnten stanz, über das nur die „echten Wagnerianer“ „aufgrund ihrer politischen Einstellung gar wachten. Ekel und Neid standen als emotio- nicht anders (…) als aus jeder Inszenierung nale Negative den erhabenen eigenen Gefüh- eine politische Demonstration zu machen“. ❙16 len des Genusses und der Freude gegenüber. Dem Regieteam wurde jedwede künstlerische Dass diese empfindsame Gemeinschaft auch Intention abgesprochen: „Wer sich zum Mar- sehr emotional auf die durch die Ring-Insze- xismus bekennt, ist und bleibt Ideologe.“ Wei- nierung erlebte Verletzung ihrer Gefühle re- ter hieß es daher auch: „Chéreau demonstriert agierte, schien da nur konsequent: Die in den hier allzu deutlich, daß es ihm ausschließlich Schmähbriefen und -schriften zum Ausdruck um die Verunglimpfung unserer Welt geht, gebrachte Stimmung war auch die von gede- wobei ihm die Verfälschungen großer Kunst- mütigten Opfern einer gezielten Provokation. werke doppelt nützlich sind.“ ❙17 Die ironische Empfehlung, Pierre Boulez „hätte – vielleicht Die Auseinandersetzungen und Skandale zusammen mit den Herren Stockhausen und um bestimmte Wagner-Produktionen offen- Henze – eine eigene Musik dazu schreiben baren die Grenzen zwischen verschiedenen sollen“, ❙18 zielten nicht auf eine gemeinsame Wertesystemen, die zu den jeweiligen Zei- musikalische Sprache –, sondern gruppierte ten durch die deutsche Gesellschaft verliefen sie politisch „links“. Die politische „Reinheit“ und in expressiven Auseinandersetzungen um der Inszenierung (die auch auf den Postern die Interpretationen des Wagnerschen Wer- vor dem Festspielhaus gefordert worden war) kes ausgetragen und mitunter neu verhandelt erschien den Anhängern erstrebenswerter als werden konnten. Die emotional aufgeladenen eine kritische Auseinandersetzung mit der Diskurse um Ehrerhalt und Ehrverletzungen, politischen Dimension von Wagners Werk. Schmach und Schande folgten zwei Deutungs- mustern, in denen die Exegese der Interpreta- Eine weitere Argumentationslinie schloss tion gegenüberstand, das Wort der Vergangen- hier unmittelbar an, die politische Färbung heit den Bildern und Gefühlen der Gegenwart. wurde jedoch durch eine emotionale abgelöst. Die Konflikte, die sich um diese Differenzen Das Verständnis Wagners könne nicht allein drehten, sind Kämpfe um eine Deutungsho- durch gründliches Studium erworben wer- heit des Werkes und seiner Geschichte – und den, sondern erst durch „richtiges“ Empfin- vor allem, wer sie beanspruchen darf. den. Die sich gegen den Chéreau-Ring erhe- benden „Wagnerianer“ verstanden sich auch als eine Gefühlsgemeinschaft: „Echte Wag- Wagner wird „normal“ nerianer haben eine bestimmte Antenne, ein Die Geschichte der Wirkung Richard Wagners ❙16 Hans Zeller, Rückmeldung zum Rundschreiben, in Deutschland kann helfen, wichtige Probleme Bamberg Anfang Dezember 1976, S. 1, Richard Wag- der politischen und kulturellen Ordnung zu ner Nationalarchiv Bayreuth, A2525 1976 II. verdeutlichen. Vielleicht nirgendwo sonst ste- ❙17 Richard Wagner Blätter, 1 (1977) 2+3, Richard hen persönliches Musikempfinden und ge- Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A 2324–2+3 1977, sellschaftliche Deutungen von Kunstwerken S. 91. in einem so engen Verhältnis. Daher lohnt es ❙18 Helmut Trommer, „“, Rückblick auf die Aufführung Bayreuth 1976. Feststel- lung und Forderung (Brief ohne Adressaten), Richard ❙19 Private Äußerungen an verschiedene Adressaten Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A2525 1976 II. (Anm. 13), S. 2 ff.

APuZ 21–23/2013 21 Abbildung: CD-Cover „Walking mit Wagner“ innerhalb der Gesellschaft. Die Rezeption Ri- chard Wagners in Deutschland steht für die Macht nationaler Traditionen, für die kritische Neubewertung des Musiklebens und für des- sen Verwandlung durch eine plurale, offene Gesellschaft. Beobachten lassen sich in diesem Aushandlungsprozess Konservatismus, zag- hafte Erneuerungsversuche und rapide Brü- che. Wagner hat nicht die Deutschen gemacht – es ist umgekehrt: Es sind die Hörer und Zu- schauer, die Politiker und Journalisten, die aus Wagner das gemacht haben, was er wurde und was er heute ist. Richard Wagner ist all das, als was er angesehen wurde, sein Werk alles, was über 150 Jahre darauf projiziert wurde.

Auf der anderen Seite dieser Entwicklung ist zwar keine Entpolitisierung, aber doch ein wachsender Musikkonsum und eine neue Medialisierung zu erkennen. Seit etwa 25 Jahren beginnt Wagner in Deutschland „normal“ zu werden. Denn mit der Plura- Quelle: Delta Music, Frechen. lisierung der Deutungsangebote und der gleichzeitigen Fragmentierung der bürgerli- sich, bei der Betrachtung dieser Rezeptionsge- chen Kultur schwand zwar nicht die politi- schichte über die künstlerischen Entwicklun- sche Brisanz der Musik insgesamt, wohl aber gen hinauszugehen und die Figur „Wagner“ die politische Brisanz der Kunstmusik. ❙21 So- als ein Element der Geschichte der deutschen gar in die Welt des Breitensports findet sei- Gesellschaft zu begreifen. Vielleicht liegt auch ne Musik inzwischen Eingang. Eine CD mit darin der Erfolg Richard Wagners begründet, dem Titel „Walking mit Wagner“ (Abbildung) dass der Umgang mit ihm ein Bestandteil der gibt dem sportlichen Zeitgenossen Ratschlä- Wandlungen, auch der sich wandelnden Selbst- ge, wie das Anhören bestimmter Stücke des deutungen der Deutschen im 20. Jahrhundert „Meisters“ beim schnellen Gehen die Ge- war. Die Geschichte der Wagner-Rezeption sundheit und die Lebensqualität verbessert. lässt sich daher schreiben als eine „musikali- Der Bogen auf dieser CD reicht vom „Warm sche deutsche Gesellschaftsgeschichte“. Up“ (Walkürenritt) bis hin zur „Relaxation“ (Isoldes Liebestod). Auf der Hülle ist zu le- Richard Wagner wurde auch an der Wen- sen: „Die wunderschönen Stücke auf die- de zum 21. Jahrhundert nicht zu einem Kom- ser CD entstammen dem Werk des genialen ponisten wie alle anderen. Bis heute besteht Komponisten Richard Wagner (1813–1883). eine hohe politische Sensibilität bei seiner Be- Wer den energiegeladenen und wohltuenden wertung. In öffentlichen Zeremonien, in Pro- Klängen beim Walken in freier Natur lauscht, grammheften, im Feuilleton oder in Schulbü- wird erstaunt sein, wie leicht der Boden un- chern kritisiert man die Wagner-Rezeption ter den Laufschuhen wird.“ Vielleicht ist auch bis 1945 als eine nationalistische Fehlentwick- das ein Ergebnis der sich über die Jahrzehn- lung. ❙20 Sich mit Wagners Werk und Welt zu be- te als gelungen erweisenden „Vergangenheits- schäftigen, war und bleibt daher immer mehr bewältigung“ der Deutschen. als ein unpolitischer Genuss und eine emoti- onale Laune. Es ist ein Aushandlungsprozess

❙21 Vgl. Herbert Rosendorfer, Bayreuth für Anfänger, ❙20 Bermbach meint, dass Bayreuth „spätestens mit Be- München 19996, S. 47 f.; Neil Lerner, Reading Wag- ginn der achtziger Jahre in der Demokratie der Bundes- ner in Bugs Bunny Nips the Nips (1944), in: Jeong- republik Deutschland angekommen“ sei. U. Bermbach won Joe/Sander L. Gilman (eds.), Wagner & Cinema, (Anm. 2), S. 496. Vgl. Jan Ingo Grüner, Die Rezeption Bloomington, IN 2010, S. 210–224. Richard Wagners in der Bundesrepublik Deutschland. Rettung eines schwierigen Erbes, Saarbrücken 2008.

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