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Unsere Mutter – „Staatsfeind Nr. 1“ Die Tochter Bettina Röhl* über , die vor 25 Jahren in den Untergrund ging

s gibt ein Märchen von den Brüdern Grimm, das heißt E„Der Froschkönig oder der ei- serne Heinrich“. Darin erlöst eine schöne Prinzessin einen Prinzen, der von einer bösen Hexe in einen Frosch verwandelt und in einen Brunnen gesperrt worden war. Als er, wieder ein Mensch, in sein Königreich zurückkehren will, holt ihn sein Diener, der treue Heinrich, mit dem Pferde- wagen ab. Über diesen heißt es: „Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, daß er drei Bande hatte um sein Herz le- gen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge.“ Erst nachdem sein Herr erlöst ist, brechen die Bande von seinem Herzen. So wie dem eisernen Heinrich ist es mir, als ich mit 13 Jahren die

DPA Nachricht vom Tod meiner Mut- Meinhof-Töchter Regine, Bettina (1969): Im Scheidungskrieg zerrieben ter, Ulrike Meinhof, bekam, er- gangen. Eiserne Bande legten sich um mein Herz. Ich konnte nichts fühlen, ich konnte nicht weinen, ich konnte es nicht begreifen. Mei- ne Mutter war wie der Prinz im Märchen verwandelt worden. Wie ein großes schwarzes Monster hat- te sich ein Mythos um sie gelegt. Etwas, das größer war als ich, verstellte mir den Blick auf meine Mutter und, wie ich später begriff, auf mich selbst. Wie der eiserne Heinrich hörte ich nicht auf zu warten, in der Hoffnung, mir mei- ne Mutter irgendwann zurücker- obern zu können. Seit sie in den Untergrund gegangen war, gehör- te sie der Öffentlichkeit mehr als uns Kindern, den Verwandten und nächsten Freunden. Eines Tages wollte ich sie heimholen in ihr Pri- vatleben zu ihrer Familie. Auch meine Mutter hatte nicht geweint – damals war sie 14 Jahre alt –, als ihre Mutter, meine Groß- mutter, nach dem Krieg an einer Grippe gestorben war. Ihre beiden Töchter, Ulrike Marie und Wien- M. ZUCHT / DER SPIEGEL Meinhof-Töchter Regine, Bettina (1995): Hatte sie uns denn nie geliebt? * Mitarbeit: Carola Niezborala.

88 DER SPIEGEL 29/1995 . ULLSTEIN Fahndungsplakat (1970), Meinhof privat*: Es war etwas geschehen

ke, waren durch ihren Tod zu Waisen sondern auch Liebe. Das geworden. Renate Riemeck, die Freun- Glück war perfekt, als 1962 din Ingeborg Meinhofs, die mit den bei- auch noch Zwillingskinder den Schwestern zusammen am Grab ge- zur Welt kamen, meine standen hatte und später die Vormund- Schwester und ich. Doch schaft übernahm, sagte einmal darüber schon bald hörten meine El- zu mir: „Deine Mutter und Wienke ha- tern auf, sich zu verstehen. ben sich gut benommen, sie haben nicht Meine Mutter verfolgte kon- geweint.“ sequent ihren beruflichen „Nicht weinen“, das war die Haltung Weg, während mein Vater von Frauen, die sich nach dem Zweiten Zuneigung und Liebe bei an- Weltkrieg geschworen hatten, nie wie- deren Frauen suchte. der den Männern die Führung zu über- Im März 1968, als die Ehe lassen, nie wieder schwach zu sein. In meiner Eltern geschieden diesem Sinne versuchte Renate Rie- wurde, zeigte meine Mutter meck, meine Mutter zu einer selbständi- ihre wahren Gefühle nicht. gen, starken Frau zu erziehen. Schon als Obwohl sie meinen Vater Studentin mauserte sich Ulrike Meinhof geliebt und verteidigt hatte, zur Sprecherin der Antiatombewegung. konnte sie nicht weinen. Sie Als sie 1958 Klaus Rainer Röhl, den richtete ihren Zorn auf ihren Chefredakteur und Herausgeber der Ex-Mann, er wurde zum Zeitschrift Konkret, kennenlernte, be- Feind. Ulrike Meinhof war gann für meine Mutter ihre Karriere als 34 Jahre alt, als dieser Ab- Journalistin. schnitt ihres Lebens zu Ende Mit meinem Vater verband sie nicht ging. Gemeinsam mit uns nur die berufliche Zusammenarbeit, Kindern zog sie nach Berlin. In dem folgenden Schei- * Aus einem Super-8-Familienfilm. dungskrieg wurden wir Kin- TITEL der aufgerieben. Meine Mutter erholte gen von Zigaretten in ihrem Arbeits- militärische Einsatz der Polizei mit sich von diesem Zusammenbruch ihres zimmer saß, begeisterte es sie immer, paramilitärischen Mitteln beantwortet Lebens nie wieder. Sie stürzte sich in die wenn sie selbst etwas erlebte, wenn sie wird . . . Arbeit, ihre Aufgabe als Journalistin gab mit dabeigewesen war. ihr Kraft. Die politischen Ereignisse, die Regelmäßig schrieb sie ihre Kolum- Die Frage, ob Gewalt das richtige 1968 ihrem Höhepunkt zuliefen, begei- nen in Konkret. Hinzu kam jetzt ihre Mittel sein kann, politisches Bewußtsein sterten sie, nahmen sie in Anspruch. Arbeit als Rundfunk- und Fernsehjour- zu erzeugen, wurde zur beherrschenden Mit fünf Jahren besuchten meine nalistin. Sie wurde zu der Berichterstat- Frage der Zeit. Schwester und ich einen der ersten Berli- terin der Studentenrebellion. In der lin- Es war das gleiche Jahr 1968, in dem ner Kinderläden. Gemäßder neuen Idea- ken Szene, das war ihr bewußt, hatte mit dem Schritt vom Protest zum Wider- leder „antiautoritären“Erziehung wurde ihre Meinung Gewicht. Durch ihre poli- stand Ernst gemacht wurde. Am 2. uns viel von dem erklärt, was die Erwach- tischen Analysen in Konkret war sie zu April 1968 zündeten vier junge Leute senen jetzt machten und worum es bei einer Autorität geworden. ein Frankfurter Kaufhaus an. Unter ih- dem politischen Kampf, von dem jetzt Die Titel ihrer Kolumnen hießen nen die 27jährige Gudrun Ensslin und ständig geredet wurde, ging. Was ein Ka- „Gegen-Gewalt“, „Der Kampf in der 25jährige . Nie- pitalist ist und warum Polizisten Bullen den Metropolen“, „Notstand-Klassen- mand wurde getötet, ein Sachschaden heißen. Von Maos Revolution in China kampf“. Nach dem Attentat auf Rudi von fast 300 000 Mark entstand. oder dem Krieg in Vietnam. Dutschke am 11. April 1968 kam es un- Die herausragende Person im Prozeß Wir saßen neben Bergen von Flugblät- ter den Studenten zu Gewaltausschrei- war die Studentin Gudrun Ensslin. Ihre tern in Mammis Auto, einem klapprigen tungen. In „Vom Protest zum Wider- Verteidiger konnten sie als Überzeu- blauen R 4, wenn sie mit uns über die stand“ schrieb meine Mutter darüber: gungstäterin darstellen. Sie trat mit ei- Stadtautobahn ins da- mals entstehende Mär- kische Viertel fuhr. Während sie dort wie üblich mit irgendwel- chen Menschen über die Verbesserung der Wohnverhältnisse dis- kutierte, liefen wir durch die Matschpfüt- zen. Wir begleiteten sie auf ihrem Weg in ein Erziehungsheim, in dem und über das sie den Film „Bambule“ drehte, was soviel wie Aufstand, Aufbruch, Rebellion bedeutet. In unseren Hosentaschen wurden Zangen in das Heim geschmuggelt, damit die Jugendli- chen den Stacheldraht durchschneiden und fliehen konnten. Stän- dig hörten wir, wie schrecklich alles sei und welches soziale Unrecht in der Welt geschehe. Auch daß die Reichen ihr Geld mit den Armen teilen sollten war leicht zu Ehepaar Meinhof-Röhl, ehemaliger Familienwohnsitz in Hamburg-Blankenese: Nicht nur berufliche verstehen. Und dann die großen Demonstratio- Protest ist, wenn ich sage, das und das ner imponierenden Lässigkeit, ja fast ei- nen, auf die wir Kinder von unserer paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich ner geistigen Arroganz auf. Ihr wurde Mutter und ihrem neuen Geliebten Pe- dafür sorge, daß das, was mir nicht die Menschenrechtlerin abgenommen. ter Homann mitgenommen wurden. paßt, nicht länger geschieht. Gegenge- Vor Gericht sagte Gudrun Ensslin im Viele der Genossen, mit denen wir „Ho- walt, wie sie in diesen Ostertagen prak- Namen von sich und Andreas Baader: Tschi-minh“ singend durch die Straßen tiziert worden ist, ist nicht geeignet, „Wir taten es aus Protest gegen die zogen, wurden später zu gesuchten Ter- Sympathien zu wecken, nicht, er- Gleichgültigkeit, mit der die Menschen roristen. schrockene Liberale auf die Seite der dem Völkermord in Vietnam zuse- Mehr als einmal kam unsere Mutter Außerparlamentarischen Opposition zu hen . . . Wir haben gelernt, daß Reden von den Wasserwerfern der Polizei naß- ziehen. Gegengewalt läuft Gefahr, zu ohne Handeln unrecht ist.“ gespritzt nach Hause. Das waren Mo- Gewalt zu werden, wo die Brutalität der Das Interesse meiner Mutter war ge- mente, in denen sie glücklich aussah. Da Polizei das Gesetz des Handelns be- weckt. Für Konkret fuhr sie noch wäh- sie sonst meistens an der Schreibmaschi- stimmt, wo ohnmächtige Wut überlege- rend des Prozesses zu Gudrun Ensslin ne mit einer Kanne Kaffee und Unmen- ne Rationalität ablöst, wo der para- und besuchte sie in der Haftanstalt. Sie

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und warfen mit Bonbonpapier. Noch gab es keinen tieferen Grund, nieder- geschlagen zu sein. Es waren ja keine Menschen verletzt oder getötet wor- den. Die Studentenrevolte flaute Anfang 1970 ab. Intensiv wurde jetzt disku- tiert, wie man die Bewegung am Leben halten könnte. Der Weg in die Illegali- tät, der Kampf gegen den Staat wurden offen diskutiert. Auch meine Mutter war mit dieser Frage beschäftigt. „Sie sprach fast beiläufig davon, ihre Kinder zu verlassen“

Persönlich ging es ihr immer noch nicht gut. Sie befand sich in einer grundsätzlich depressiven Verfassung. Noch hatte sie die Scheidung nicht ver- kraftet, Perspektiven für ein wahres neues Leben hätten sich erst bilden müssen. Ständig war sie auf Reisen, hatte Termine. Wenn sie zu Hause war, fand sie wenig Zeit für uns. Politik stand im Mittelpunkt ihres Lebens. Meine Schwester und ich waren jetzt sieben Jahre alt. Auch wir Kinder spür- ten, daß etwas Schweres in der Luft lag. Zur Jahreswende 1969/70 wurde mei- Mutter Meinhof, Zwillinge Regine, Bettina (1963): Das Glück war perfekt ne Mutter von der Filmemacherin Hel- Gegen Brandstiftung im allge- ma Sanders interviewt. meinen spricht, daß dabei Men- In einem schwarzen T-Shirt, blaß, ei- schen gefährdet sein könnten, ne Zigarette nach der anderen rau- die nicht gefährdet werden sol- chend, saß meine Mutter auf einem len. Gegen Warenhausbrandstif- Sessel – die langen, braunen Haare hin- tung im besonderen spricht, daß gen ihr ins Gesicht –, während meine dieser Angriff auf die kapitalisti- Schwester Regine – dagegen unendlich sche Konsumwelt . . . eben die- klein und süß – am Klavier hockte und se Konsumwelt nicht aus den die tristen Worte meiner Mutter mit Angeln hebt, sie nicht einmal vorsichtigen Klaviertönen unterbrach: verletzt... So bleibt, daß das, Also ist das Problem aller politisch ar- worum in prozessiert beitenden Frauen – mein eigenes in- wird, eine Sache ist, für die klusive – dieses, daß sie auf der einen Nachahmung . . . nicht empfoh- Seite gesellschaftlich notwendige Ar- len werden kann. beit machen . . . Aber auf der anderen Seite mit ihren Kindern genauso hilflos Sie schreibt aber auch: dasitzen wie alle anderen Frauen Das progressive Moment einer auch. Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Wa- Man kann nicht antiautoritäre Politik ren, es liegt in der Kriminalität machen und zu Hause seine Kinder der Tat, im Gesetzesbruch. verhauen. Man kann nicht innerhalb ei- ner Familie die Konkurrenzverhältnisse Ich glaube, daß sich meine aufheben, ohne nicht darum kämpfen

H. SCHWARZBACH / ARGUS Mutter hier geirrt hat. Wie vie- zu müssen, die Konkurrenzverhältnisse Zusammenarbeit, sondern auch Liebe le der linken Intellektuellen in auch außerhalb der Familie aufzuhe- dieser Zeit idealisierte sie kri- ben, in die jeder reinkommt, der also wollte wissen, wer die Personen waren, minelle Taten. Sie sah darin die einzi- seine Familie anfängt zu verlassen. die den Schritt von der Theorie zur ge Möglichkeit, die Menschen wachzu- Praxis als erste getan hatten. Hatten rütteln. Die eigene Arbeit, das Den- Ulrike Meinhof sprach hier das erste die Akteure den Schlüssel für Verän- ken und Schreiben, wertete sie gering. Mal fast beiläufig davon, ihre Kinder zu derung in der Hand? In ihrem Artikel Sie glaubte, daß man mit Schreiben al- verlassen. „Warenhausbrandstiftung“, der in lein nichts mehr verändern könne. Meine Mutter sah so aus, als weine Konkret erschien, bemühte sie sich um Im Prozeß traten Gudrun Ensslin sie während des ganzen Gesprächs. Lei- eine gesellschaftliche Rechtfertigung und Andreas Baader wie junge Helden der nur innerlich. Hätte sie doch ihrem der Aktion: auf. Lachend umarmten sie einander Schmerz Ausdruck verliehen und mit

DER SPIEGEL 29/1995 91 TITEL der Verarbeitung ihrer persönlichen dann lebten sie eine Zeitlang in Italien, sucht würden und daß wir in der Schule Probleme begonnen, ein einziges Mal, wo sie die Schriftstellerin Luise Rinser und im Kinderladen nichts von ihnen ohne an Politik zu denken; vielleicht wä- besuchten. Im Februar 1970 standen sie erzählen dürften. Eigentlich hießen sie re alles anders gekommen. vor unserer Tür und baten um Quartier. Andreas Baader und Gudrun Ensslin, Kurz bevor meine Mutter in den Un- Meine Mutter gewährte es ihnen. aber wir sollten sie einfach nur Hans tergrund ging, wurden die nächtelangen Der Apo-Anwalt , der und Grete nennen. Diskussionen in unserer Wohnung in in Berlin für die Studentenbewegung ei- Grete schnitt sich in unserem Bade- der Kufsteiner Straße 12 in Berlin im- ne ähnliche Schlüsselfigur war wie mei- zimmer ihre Haare und färbte sie. Hans mer länger und deprimierter. Die Ge- ne Mutter als Journalistin, hatte die bei- benahm sich bald, als sei er der Haus- sichter, vor allem das meiner Mutter, den Warenhausbrandstifter zurück nach herr. Daß er Kinder extrem lästig fand, immer ernster. Wenn ich abends nicht Berlin geholt. Seine Idee war es, eine daraus machte er keinen Hehl. Er war einschlafen konnte, lag ich öfter in ih- militärische Truppe zu gründen, die sich entsetzt, daß Regine und ich unsere rem Arm im Kreis der Genossen, wo in bewaffnet und gegen den Staat kämpft. Freunde aus dem Kinderladen nach den Nächten Dutzende Packungen Er rekrutierte diese Truppe aus seiner Hause schleppten. Denen hatten wir ge- Roth-Händle und Reval ohne Filter ge- Klientel. sagt, daß bei uns zwei Menschen wohn- raucht wurden. Andreas Baader, das hatte Horst ten, von denen wir nichts erzählen durf- Unser Leben veränderte sich, als die Mahler erkannt, war der richtige Anfüh- ten. Unter dem Versprechen, daß auch zwei Menschen auftauchten, die wegen rer für eine Gruppe, die im Untergrund sie ihren Eltern nichts weitersagten, der Kaufhausbrandstiftung zu drei Jah- kämpft. Nicht nur, daß er schon „abge- nahmen wir sie mit und zeigten auf die ren Zuchthaus verurteilt worden waren: taucht“ war, vor allem verkörperte er beiden Besucher. Andreas Baader floh Andreas Baader und Gudrun Ensslin. genau den Führungstypus, nach dem die vor der neugierigen Kinderschar ins Ba- dezimmer und bekam dort einen Wut- anfall. Meine Mutter konnte ihn nur mit Mühe beruhigen. Es war etwas geschehen. Meine Mut- ter hatte sich zu einer illegalen Hand- lung hinreißen lassen. Sie gewährte zwei namhaften jungen Leuten, die von der Polizei gesucht wurden, Unter- schlupf. Sie wurde zur Mitwisserin und Komplizin. In den folgenden beiden Monaten lernten sich die drei späteren Führungs- kader der RAF näher kennen. Zwi- „Statt zu helfen, zog meine Mutter andere mit in ihr Unglück“

schen Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof soll eine Art Konkurrenzver- hältnis entstanden sein, die, wie eine Freundin meiner Mutter beobachtete, „beide unsäglich an diesem Baader hingen“. Und in der Tat muß es eine Anzie- hung zwischen meiner Mutter und An- dreas Baader gegeben haben. Meiner Mutter imponierte an Baader, dem Typ in der schwarzen Lederjacke, der Journalistin Meinhof, Töchter in Berlin (1967): Mit klapprigem R 4 unterwegs schnelle Autos fuhr und sich mit jedem anlegte, der ihm in die Quere kam, Sie standen auf der Fahndungsliste der feinsinnigen Intellektuellen der Zeit da- das Direkte, Aggressive, das ihr fehlte. Polizei. Nach 14 Monaten Haft waren mals suchten. Er war der Macher, der Aber auch die Journalistin Ulrike sie, während ihr Revisionsverfahren staatsverändernde, revolutionäre An- Meinhof übte eine Anziehung auf An- lief, freigelassen worden und hatten in- führer, der ihren Zielen zur Durchset- dreas Baader aus. Eine gesellschaftli- tensiv mit jugendlichen Heimkindern zung verhalf. che Stellung, die Privilegien, die dazu- gearbeitet. Sie entwickelten ihre Arbeit Gudrun Ensslin bildete die theoreti- gehörten, eine große Wohnung, Auto, zu einem Projekt und verhandelten er- sche Ergänzung zu den praktischen Fä- Flüge zu Geschäftsterminen, journali- folgreich mit der Frankfurter Jugendbe- higkeiten von Andreas Baader, Ulrike stische Freiheiten, Prominenz – Andre- hörde. So rechneten sie auch ganz fest Meinhof war für diese militärische Trup- as Baader, der noch nicht einmal einen mit dem Erlaß der Reststrafe oder einer pe um Horst Mahler nicht vorgesehen. Schulabschluß hatte, bewunderte wahr- Aussetzung zur Bewährung. Doch die Tatsache, daß Ensslin und scheinlich das, was er nicht hatte, an Als jedoch ihre Revision verworfen Baader jetzt bei ihr wohnten, zog sie in ihr. Sie brachte ihn mit einer Welt in wurde, flüchteten sie panisch ins Aus- das Geschehen hinein. Kontakt, an der er vermutlich gerne land. Zuerst hatten sie in der Wohnung Auch uns Kinder betraf dieses konspi- teilgehabt hätte. des Revolutionstheoretikers Re´gis De- rative Ereignis. Flüsternd wurde uns er- Ihre gesellschaftliche Stellung hat bray in Paris Unterschlupf gefunden, klärt, daß die beiden von der Polizei ge- Andreas Baader meiner Mutter in den

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verletzt – der 62jährige Insti- tutsangestellte Georg Linke. Dies war die erste Niederlage der sich neu formierenden Truppe. Ein Mensch war brutal angeschossen worden. Ausge- rechnet der einzige Mann in ei- ner Befreiungstruppe, die sonst nur aus Frauen bestand, hatte die Nerven verloren und ge- schossen. Wenige Tage später hing in ganz Berlin ein Plakat aus. Es zeigte meine ernst aussehende Mutter mit der Überschrift: Mordversuch – 10 000 Mark Belohnung. Ein Foto, das sich den Menschen ab jetzt einpräg- te. Das Bild meiner Mutter un- ter der Überschrift „Mordver- such“ auf dem Fahndungspla- kat suggerierte, daß Ulrike Meinhof, die nicht einmal eine Waffe benutzt hatte – was die Polizei wußte –, die Schuld an den Schüssen gehabt hatte und

AP die Anführerin der Befreiungs- Angeklagte Kaufhausbrandstifter Baader, Ensslin (1968): Einfach nur Hans und Grete aktion gewesen war. folgenden Jahren immer wieder vorge- Mutter zurückkehrten. Von worfen, als er sie als „bürgerliche Fot- dem entscheidenden Ereig- ze“, als „bürgerliches Schwein“ be- nis – der Baader-Befreiung – schimpfte. Aber ich vermute, daß hier hörten und sahen wir nichts. sein Schwachpunkt lag, nicht ihrer. Am 14. Mai traf sich Ulri- Andreas Baader ist später immer der ke Meinhof im Lesesaal des Bösewicht gewesen, während meine Berliner Zentralinstitutes Mutter trotz ihrer Verteufelung durch für Soziale Fragen mit An- die Presse in der Rolle der Guten blieb. dreas Baader, angeblich um Wer gerecht ist, sieht zumindest, daß ein Buchprojekt über rand- sich hier zwei Menschen begegnet wa- ständige Jugendliche vorzu- ren, die sich wie zwei Pole gegenseitig bereiten. Zwei Justizbeamte anzogen. Die Eigenschaften des einen hatten den Häftling Baader entsprachen den ersehnten Eigenschaf- zum vereinbarten Treff- ten des anderen. punkt ausgeführt. Die Situation bei uns zu Hause ähnel- Meine Mutter wollte sich te schon längst einem Ausnahmezu- die Möglichkeit, mit in den stand. Sie eskalierte, als Gudrun Ensslin Untergrund zu gehen, offen- eines Tages mit der Nachricht nach halten, wie Gruppenmitglie- Hause kam, daß Andreas gefaßt worden der mir später erzählten. Ih- sei. Weil er zu schnell gefahren war, re Rolle in der Befreiungs- wurde die Polizei auf ihn aufmerksam. aktion war so aufgebaut, daß Einen gültigen Führerschein besaß er sie im Lesesaal zurückblei- nicht, und als die Polizei ihn die Daten ben und die Überraschte seines gefälschten Ausweises abfragte, hätte spielen können. Doch mußte er bei der Anzahl seiner Kinder dann ging alles sehr schnell. passen. Gudrun Ensslin stürzte

Die Stimmung war fortan nicht mehr vermummt mit einem Klein- K. MEHNER gedrückt oder depressiv, sondern freu- kalibergewehr hinein, mit Tatort der Baader-Befreiung in Berlin (1970) dig erregt. Spannungsgeladen. Plötzlich ihr ein Mann, ein ehemaliger Dann ging alles sehr schnell wußten alle, was zu tun war. Es gab ein Häftling, der schon einige Ziel. Für meine Mutter und Gudrun „harte Sachen“ gemacht hatte, den sie Mit diesem Plakat begann der My- Ensslin, die dieses Ereignis zusammen- extra für diese Aktion angeheuert hatte. thos, setzte die Verteufelung und die wachsen ließ, stand fest, daß Baader aus Es kam zu einer Schießerei. Wenige Au- Glorifizierung von Ulrike Meinhof ein. dem Gefängnis befreit werden mußte. genblicke später sprangen alle zusam- In Zukunft sollten alle Taten, die die Anfang Mai wurden wir von meiner men aus dem Fenster. Baader und mei- Gruppe gemeinsam beging, auf das Mutter zu dem befreundeten Schriftstel- ne Mutter als erste. Konto meiner Mutter gehen, die, wie ler Jürgen Holtkamp nach Bremen in Die Befreiung von Andreas Baader eine Art Sündenbock, für alles die die Pfingstferien geschickt, von denen war zwar geglückt. Zurück blieb aber – Schuld auf sich zog. Seit dieser Gefan- wir nie wieder nach Berlin zu unserer durch einen Lebersteckschuß schwer genenbefreiung stand sie mit ihrem

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Kopf für die Baader-Meinhof-Bande Bremen, um uns abzuholen. Doch er Untergrund – bot nicht mehr die Vor- ein. kam zu spät. aussetzung, zwei kleine Kinder aufzu- Ich glaube, daß der hauptsächliche Meine Mutter, so sagten uns die Ge- ziehen. Antrieb meiner Mutter, in den Unter- nossen später, wollte auf keinen Fall, Morgens um sechs Uhr wurden wir grund zu gehen, in einer falschen Auf- daß wir bei unserem Vater aufwuchsen, geweckt. Man sagte uns, daß wir fliehen fassung über das Helfen zu suchen ist. der für sie jetzt ein sexistischer Salon- müßten, bevor unser Vater vor der Tür Wie viele sozial engagierte Menschen kommunist war. Aber mein Vater hatte stünde. Wir wurden nach Berlin ge- glaubte sie, daß sie sich gleichmachen recht: Meine Mutter – verschwunden im bracht und trafen uns am Zoo mit Moni- müsse mit den Unglück- lichen, daß sie deren Schmerz am eigenen Körper fühlen müsse, um das Leid zu mildern. Sie lebte in der Überzeu- gung, daß es nicht darauf ankomme, wie es ihr sel- ber ginge. Als Journalistin hatte sie wirklich Menschen zu ihrem Recht verholfen in ihren Artikeln über Hilfsschulkinder, über den Triebtäter Jürgen Bartsch oder über Fa- brikarbeiterinnen. Über- all versuchte sie zu doku-

mentieren, daß die Men- SÜDD. VERLAG schen aus der sogenann- Reisebegleiterin Herzog ten unteren Klasse glei- Am Berliner Zoo getroffen che Rechte und gleiche Chancen verdienten und eben auch so zu behan- deln seien. Auch Andreas Baader hätte sie in ihrer Eigen- schaft als Journalistin helfen können. Hätte meine Mutter dieses Buch, für das sie sich jetzt mit ihm nur zum Schein getroffen hatte, wirklich mit ihm gemein- sam verfaßt, dann hätte zwischen beiden eine fruchtbare Zusammenar- beit entstehen können. So aber tat sie etwas,

was niemandem mehr H. G. LEHMANN helfen konnte. Ihre Ent- Meinhof-Tochter Bettina (1967): Im Auto versteckt scheidung für ein Leben im Untergrund schnitt sie von den Mög- lichkeiten, etwas Wirksames gegen das soziale Unrecht zu tun, radikal ab. Von nun an befand sie sich selber in einer hilfsbedürftigen, ausweglosen Lage. Sie mußte an der Tür ehemaliger Freunde und Genossen klopfen und um Solidarität, um Aufnahme für sich und ihre Gruppe bitten. Statt zu helfen, zog Palästinensisches Kinderlager (Konkret, meine Mutter, indem sie sich aufgab, andere mit in ihr Unglück hinein – dieje- ka Berberich, Marianne Herzog – zwei nigen, die an sie glaubten und die sie Freundinnen meiner Mutter – und einer liebten. Am stärksten betroffen von ih- Hanna, die wir bis dahin nicht kannten. rer Selbstaufgabe waren jedoch ihre Von dort fuhren wir weiter. Kinder, die sie mit aufgegeben hatte. Im Auto herrschte Hochstimmung. Noch am Tag der Baader-Befreiung Das Gesprächsthema: die Baader-Be- ließ sich mein Vater, den wir seit der freiung. Die Frauen hatten nicht direkt

Scheidung nur noch selten gesehen hat- ULLSTEIN daran teilgenommen, kannten aber jede ten, das Sorgerecht für uns übertragen. Reisebegleiterin Berberich Einzelheit. Stundenlang amüsierten sie Er erfuhr, wo wir waren, und reiste nach Mit den Kindern durch den Wald sich darüber, wie dumm die Bullen ge-

96 DER SPIEGEL 29/1995 wesen waren, wie klasse alles geklappt der, die uns zu einer leerstehenden Ba- digen und zu repräsentieren . . . Dieje- hatte, daß alle Befreier entwischt waren racke führten. Hier sollten wir in Zu- nigen, die sagen, nicht die Bullen sind und so weiter. kunft leben. schuld, die Bullen sind auch irgendwie Dann der folgende Plan: Hanna sollte Die Baracke hatte orangefarbene Menschen . . . die kommen natürlich das Auto über die französische Grenze Wände, die mit Styropor gefüllt waren, überhaupt nicht dazu, das System da fahren. Die anderen beiden wollten mit und grüne Fensterläden. Fensterschei- zu bekämpfen, wo das System uns be- uns Kindern zu Fuß durch ein Wald- ben gab es keine. Nur einmal in der Wo- kämpft. stück gehen und sich so der Paßkontrol- che wurde frisches Wasser gebracht und le entziehen. in eine große Tonne gefüllt. Essen und Ohne daß ich meine Mutter entschul- Fast gemütlich schritten wir durch den kochen sollten wir in der großen Ge- digen will, habe ich bis heute das Ge- Wald und mußten uns nur einmal flach meinschaftsküche im Lager. auf den Boden legen, als Grenzbeamte Marianne und Monika fuhren noch uns entgegenkamen. Bevor sie uns be- am selben Tag wieder ab. Hanna, die Revolutionslieder gegnet wären, bogen sie jedoch wieder ausgewählt worden war, für uns zu sor- im heißen Barackenlager ab. Hinter der Grenze trafen wir auf ei- gen, warf sich auf ein Bett in der Barak- ne vor Angst schwitzende Hanna, die ke und heulte. auf Sizilien nur mühsam über die Witze der anderen Dies war der erste Moment, in dem lachen konnte. In Frankreich wurde uns ich mich verloren fühlte. Ich hatte das fühl, daß die kühnsten Thesen in ihren eingeschärft, kein Wort zu sprechen, Gefühl, daß etwas Schlimmes passiert Texten fortan von Gudrun Ensslin er- und zu unserem Entsetzen wurde davon sein mußte. Wo war denn eigentlich un- dacht wurden, die meine Mutter befür- geredet, „den Kindern die Haare sere Mutter? Warum waren wir hierher wortete und dann als Journalistin zu Pa- schwarz zu färben“ – doch zum Glück gekommen? Warum waren Monika und pier brachte. nur geredet. Marianne gleich wieder abgefahren? Die Gedanken Gudrun Ensslins führ- Am nächsten Tag fuhren wir weiter in Hanna kannten wir doch gar nicht, und ten in Teilen weit über das moralisch Richtung Italien. Wieder hatten wir offenbar fand sie es schrecklich, mit uns Vertretbare hinaus. Die Idee, „den Glück. Der Paß, den wir überqueren zusammen hierzubleiben, sonst würde 24-Stunden-Tag auf den Begriff Haß zu wollten, war genau noch einen Tag we- sie nicht so weinen. Meine Schwester bringen“ oder das fünfte Gebot umzu- gen zu vielen Schnees gesperrt. In der Regine stand genauso verloren neben drehen, so daß es „Du sollst töten“ Abenddämmerung ging es im Schrittem- mir. heißt, stammten von ihr. Sie entwickelte Der Krieg zweier Welten eine ethische Rechtfertigungsstrategie, hatte begonnen. Der Krieg die es „erlaubte“, Menschenleben in zwischen meinem Vater und Gefahr zu bringen. Dadurch wurden meiner Mutter, zwischen Handlungsspielräume geöffnet, die Schweinen und Menschen. durch die normalen zwischenmenschli- Gut und Böse. Eine Handvoll chen Moralgesetze aus guten Gründen Menschen hatte sich aufge- verschlossen sind. Sie, die Pfarrerstoch- macht, mit Waffengewalt die ter, beherrschte die Kunst, kriminelle Welt zu verändern und dem Aktionen durch Idealismus zu erhöhen „allgegenwärtigen System“ in und als revolutionäre Taten erscheinen die Fresse zu schlagen. zu lassen. Das war ihr vom Gericht im Wie ich später erfuhr, hielt Kaufhausbrandstifter-Prozeß quasi be- sich meine Mutter indessen scheinigt worden. im West-Berliner Untergrund Gudrun Ensslin war aber dadurch, auf. Das waren eigentlich nur daß meine Mutter mit in den Unter- drei Wohnungen, die Freunde grund gegangen war, ins Hintertreffen der Gruppe zur Verfügung ge- geraten. Sie, die im Brandstifterprozeß stellt hatten. Über eine fran- als die theoretische Anführerin geglänzt zösische Journalistin ließen hatte, wurde durch die Prominenz mei- die Baader-Befreier der Öf- ner Mutter verdrängt. Baader-Meinhof- fentlichkeit eine Botschaft zu- Bande hieß es in Zukunft. Das kann kommen. Mit dieser Ton- Ensslin nicht gefallen haben. Sie war bandaufnahme machte die doch die Freundin von Baader, sie hatte Gruppe endgültig klar, wel- zusammen mit ihm als Traumpaar a`la che Position sie bezogen hat- Bonnie und Clyde alles angefangen. te. Gudrun Ensslin hätte sicher ebenso gerne im Zentrum des Rampenlichtes Die Bullen sind Schweine. gestanden, wie meine Mutter gerne dar- Wir sagen, der Typ in der Uni- auf verzichtet hätte. In diesem Unver- 1968): Wir sollten zu Partisanen ausgebildet werden form ist ein Schwein, das ist hältnis der beiden zueinander kann eine kein Mensch, und so haben erbitterte Konkurrenz entstanden sein, po den schmalen Weg zwischen Ab- wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. die sich später, unter den verschärften grund und Bergen von Schnee über den Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu Bedingungen in Stammheim, zu einem Paß. Regine und ich lagen unter einer reden, und es ist falsch, überhaupt mit unauflösbaren Haß verdichtete. Decke versteckt hinten im Auto. diesen Leuten zu reden. Und natürlich Doch zunächst bildeten, wie Grup- Zwei Tage später waren wir in Sizilien kann geschossen werden. Denn wir ha- penmitglieder mir später erzählten, und erreichten ein Barackenlager, das ben nicht das Problem, daß das Men- Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof ein wegen der Erdbeben für die Obdachlo- schen sind, insofern es ihre Funktion, Gedankenpaar. Die beiden Frauen sa- sen errichtet worden war. In einem Teil beziehungsweise ihre Arbeit ist, die ßen stundenlang zusammen und rede- des Barackenlagers lebten italienische Verbrechen des Systems zu schützen, ten. Vieles, was gesagt oder gemacht Genossen, Freunde von Andreas Baa- die Kriminalität des Systems zu vertei- wurde, wurde von ihnen geplant und

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diskutiert. Andreas Baader störte die ten, darüber bestand Einigkeit. So ten Holzschwertern. In der Gemein- Frauen bei diesen Prozessen nicht. Am überlegte man, uns in ein palästinensi- schaftsküche stand eine riesige Tonne mit Ende entschied er, was zu tun war. sches Waisenlager zu geben. Dort hät- Olivenöl, in das wir Kinder unser Brot Im Juni 1970 flog die Gruppe, inzwi- ten wir zu Partisanen ausgebildet wer- tunkten. schen waren es insgesamt mehr als 20 den können. Da meinVaterunsmiteinem Foto über Leute, von denen die meisten jedoch Viele derjenigen, die damals mit da- Interpol suchen ließ, gab es ab und zu Va- noch nicht straffällig waren, über Ost- beigewesen sind, erzählten mir später, ter-Alarm. Wenn es hieß, er sei uns auf Berlin in Richtung Nahost. Das Ziel war meine Mutter habe in dieser Zeit große dieSpurgekommen, mußten wirineinem Sehnsucht nach uns gehabt. Zu einer Versteck außerhalb des Barackenlagers Freundin sagte sie, daß ihre Kinder untertauchen. stark seien, daß sie uns zutraue, mit un- Aus diesem Grund verbrachten wir ein serer Situation fertig zu werden. Im- paar Wochen mit Hanna im Steinhaus ei- merhin hätten wir es sieben Jahre lang nes italienischen Architekten, wo unge- gut gehabt, im Gegensatz zu Kindern in fähr 20 Katzen herumliefen, die uns na- Vietnam, die schon Krieg und den Tod türlich begeisterten. In diesem Haus ha- ihrer Eltern miterlebt hätten. ben Regine und ich kochen gelernt. Ich Doch sie überschätzte uns. Für sie mochte ihr Handeln logisch sein. Für meine Schwester und mich war das Verhalten meiner Mutter, als Mutter, verheerend. Für Kinder sind Monate Jahre. Sie haben sehr viel Vertrauen in ihre Eltern. Sie sind sicher, daß diese sie nicht im Stich lassen, daß sie geliebt werden. Wir warteten. Den Boden in der Baracke zu fegen war unmöglich, weil er aus bröseligem Stein war und immer wieder eine neue Staubschicht aufgewirbelt wurde. Für Regine und mich wurde ein Zimmer eingerichtet. Der Tisch bestand aus ei-

SÜDD. VERLAG nem heruntergefallenen grünen Fen- Augsburger Polizeidirektion (1972) sterladen, der auf ein paar Ziegelsteine gestellt wurde. Auf die Bettgestelle ein jordanisches Camp, in dem sie sich wurden Matratzen geworfen, und die einer militärischen Ausbildung unterzie- Italiener stellten uns ein paar Wolldek- hen wollten. Während wir in Sizilien auf ken zur Verfügung. Das andere Zim- unsere Mutter warteten, robbte sie un- mer bewohnte Hanna. ter der gleichen heißen südlichen Sonne Es war sehr heiß, und der Strand war bei Schießübungen durch den Sand. nicht wie im Urlaub vor der Tür, son- Die Gruppe, nach der seit der Baa- dern eine Stunde mit dem Auto ent- der-Befreiung intensiv gefahndet wur- fernt, und Hanna hatte kein Auto. de, begann sich neu zu formieren. Horst Stundenlang lagen Regine und ich auf Mahler und Andreas Baader stritten unseren Betten und knobelten darum, kurz um die Führung, die Baader über- welche von uns von unserem Taschen- Bettina, Regine Röhl auf Sylt (1972)*, RAF- nahm und seitdem unangefochten aus- geld – damals 150 Lire – ein Eis holen übte. Neue Überlegungen wurden ange- geht. Abends spielten wir mit den ita- erinnere mich, wie Regine auf einem stellt, wie man von nun an mit Verrätern lienischen Kindern eine Art Räuber- Stuhl vor dem Herd stand und die Spa- und Aussteigern umgehen wollte: In der und-Gendarm-Spiel mit selbstgeschnitz- ghetti in das heiße Wasser warf, während Illegalität wurden sie zu ich mich unten am Tisch bemühte, eine einer Gefahr. Über die Dose mit Tomaten zu öffnen. Besonders Person Peter Homann, schwierig war das Abgießen der Spaghet- den ehemaligen Gelieb- ti. Der Topf war so groß und das Wasser ten meiner Mutter, wurde so heiß. Aber es gelang uns. Wie gerne drastisch diskutiert. Er hätten wir Mammi von diesem Erfolg er- war zwar mitgekommen, zählt. Doch sie war nicht da. hätte sich aber gerne wie- Nach einigen Wochen wurde Hanna der abgesetzt. In einer an abgelöst. Vier Hippies, ein blondes und Hysterie grenzenden neu- ein schwarzhaariges Pärchen, parkten ei- en Härte, die die Gruppe nes Tagesihren blauen VW-Busvorunse- erfaßt hatte, schlug Gud- rer Baracke und sagten, daß sie von nun run Ensslin sogar vor, ihn an für uns sorgen würden. Zu viert zogen zu erschießen. Doch so- siein Hannas altes Zimmer und erklärten weit kam es nicht. uns, daß sie ein Vierer seien. Als Paar zu- Auch das Schicksal der sammenzuleben sei ihnen zu bürgerlich. Kinder Ulrike Meinhofs Sie lagen den ganzen Tag bei abgeschlos- wurde in der Gruppe zur sener Tür im Bett und bestanden auf ab- Sprache gebracht. Daß soluter Ruhe.

die Kinder nicht zu Klaus TIMM Röhl zurückkehren konn- Erschossener Polizist Schmid (1971) * Mit dem Auto des Vaters.

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Sie waren nett, vor allem die Blon- waren und daß sie kein Geld mehr hät- den, aber sie waren uns noch fremder, ten, um dorthin zu kommen. Meine als es Hanna gewesen war. Sie kannten Schwester und ich waren hilflos und ver- unsere Mutter noch nicht einmal. Für unsichert. Wir konnten ihnen das Geld sie waren wir eine Art Job, mit dem sie auch nicht geben. Einen weißen Koffer Endlosferien in Sizilien finanzieren und die Armbanduhr, die beiden letzten konnten. Arbeitgeber: die Baader- Gegenstände, die unserer Mutter gehör- Meinhof-Gruppe. ten, hatten wir bereits dem schwarzhaa- Manchmal stand Regine heimlich an rigen Pärchen bei seiner Abreise über- der Tür und weinte, möglichst so, daß lassen. ich es nicht sehen konnte, aber ich sah Nach fast vier Monaten kam endlich es doch. Oder aber ich rannte mal wie- jemand, um uns abzuholen. Es war der laut heulend im Schlafanzug auf die höchste Zeit. schon morgens glühend heiße Straße, Als ein damals 24jähriger Hamburger weil es wieder kein Frühstück gab Journalist* uns Mitte September auf und sich niemand um uns kümmerte. eigene Faust herausholte, waren wir braungebrannt und konnten hervorra- gend italienische Revolutionslieder sin- gen. Über Hanna und Peter Homann, die ihm ihre Sorgen um die Kinder in Si-

zilien anvertraut hatten, hatte er erfah- KEYSTONE ren, wo wir waren, und den Ent- LKA-Parkplatz in München (1972) schluß gefaßt, uns ein Schicksal in einem palästinensischen Waisenlager zu erspa- Kriminelle versah, was meine Schwester ren. und mich verunsicherte, war die erste Auf ein Stichwort – es hieß nach einer Zeit herrlich. Kinderpuppe „Professor Schnase“ – ga- Mein Vater genoß es, gewissermaßen ben die Hippies, die ihn für ein Mitglied den Weihnachtsmann zu spielen. Da wir der Gruppe hielten, uns Kinder heraus. nichts mehr anzuziehen hatten, war es Mit dem Zug fuhren wir nach Rom, wo geradezu ein Fest für ihn, uns zu be- der junge Mann uns Kinder unserem schenken. Er liebte es, mit uns ins Kauf- Vater übergab. haus zu gehen und uns alles zu kaufen, Viel später erfuhr ich, daß auch meine was wir uns wünschten. Mutter auf dem Weg nach Sizilien gewe- Der Bruch zwischen dem Leben in sen war. Sie kam einen Tag später. Eine Berlin und dem neuen Leben in Ham- ehemalige Genossin erzählte mir, daß burg hätte nicht größer sein können. sie zusammengebrochen sei, als sie er- Die übrigen Schulkinder wußten noch fuhr, daß wir bereits auf dem Weg nach nicht einmal, was eine Demonstration Hamburg zu unserem Vater waren. war, geschweige denn, daß sie je auf ei- Schicksal. ner gewesen wären. Wenige Wochen später feierten wir in Die Baader-Meinhof-Bande war je- Deutschland unseren achten Geburtstag doch bald allgegenwärtig. Später erfuhr und wurden in Hamburg-Blankenese ich, daß dieser Name selbst in Sibirien wieder eingeschult. Die Normalität hat- ein Begriff war. Ich erinnere mich, wie Attentate: Die Normalität hatte uns zurück te uns zurück. Abgesehen davon, daß die Kinder in unserer Straße das Spiel unser Vater ständig gegen diese linken „Baader-Meinhof-Bande“ spielten. Sie Dann wurden sie nicht mit uns fertig. Struppies schimpfte und unsere Erzäh- redeten von Andreas Baader und Ulrike Bauch- oder Ohrenschmerzen, Alpträu- lungen aus Berlin oder Sizilien mit höh- Meinhof so, als wären das irgendwelche me oder Verletzungen – deswegen nischen Bemerkungen über ausgerastete wahnsinnigen Gangster, die sich ständig waren sie nicht nach Sizilien gekom- mit Pistolen beschos- men. sen. Nur abends wurde es lustig. Unsere Schon damals hatte Baracke wurde zum Treffpunkt, 20 bis ich das dringende Be- 30 italienische Genossen versammelten dürfnis, ihnen zu er- sich, saßen auf Matratzen und rauchten klären, daß es nicht so dicke Joints. Sie spielten Gitarre und sei; daß Ulrike Mein- sangen Revolutionslieder. hof eine ganz normale Erst nach ein paar Monaten wurden Mutter gewesen war, die Hippies unruhig. Das Geld, das ih- die mit uns Pizza ge- nen von der Gruppe versprochen wor- backen hatte. Aber den war, traf nicht mehr ein, und das das Gefühl war stär- führte zu Streit innerhalb des Vierers, ker, daß es irgendwie der sich nun doch in zwei Paare teilte. zwecklos sei. Die Blonden blieben bei uns. Uli, der Auch meine Mutter Mann, nahm zähneknirschend eine Ar- befand sich, wie ich beit als Kellner in einem Fischrestaurant später erfuhr, im Sep- an. Von nun an aßen wir jeden Tag Ca- tember 1970 wieder lamares. in Deutschland. Wäh-

Ständig erzählten sie uns, daß sie zu ULLSTEIN einer afrikanischen Hochzeit eingeladen Deutsche Botschaft in Stockholm (1975) * Stefan Aust.

DER SPIEGEL 29/1995 99 rend wir unseren Schulalltag wiederauf- nahmen und ihr in Bastelstunden Deck- war, hatte ich schon lange nichts mehr chen häkelten oder Bilder malten, die gefühlt und konnte auch jetzt mit nie- dann über diffuse Kontakte in den Un- mandem reden. Ich habe nicht mal ge- tergrund geschickt wurden – ich weiß bis weint. heute nicht, ob sie unsere Geschenke je- Später erzählten alle immer wieder mals erhalten hat –, nahm meine Mutter nur von den wunderbaren und guten Ei- in Berlin an einer Bankraubserie teil. genschaften unserer Mutter. Wirsollten Etliche Mitglieder, die sich um Horst bloß nicht denken, sie sei so schlimm, Mahler geschart hatten, wurden bald in wie die Presse sie dargestellt hatte. einer Berliner Wohnung gefaßt. Gemäß Überzufällig häufig erklärte dabei auch dem Gruppenversprechen, daß man alle die eine oder der andere, daß sieoder er Gefangenen wieder herausholen würde, uns beinahe großgezogen hätte. Wer da schmiedete ein Teil der Gruppe Befrei- nicht alles in Frage gekommen sein will, ungspläne. das wäre eine richtig große Kommune Ulrike Meinhof ging indessen nach geworden. Westdeutschland, um dort bei linken Meine Mutter hatte sich wohl über- Genossen um Quartier für die Gruppe legt, daß wir am besten bei ihrer Schwe- zu bitten. In dieser Zeit war das noch ster, unserer Tante Wienke, leben kein Problem. Im Winter 1970/71 be- könnten. Offensichtlich wurden aber schäftigte sich die Gruppe vor allem mit bei der Diskussion, wo wir nun hinsoll- Autodiebstählen und der Organisation ten – auf keinen Fall zum Vater –, auch von Banküberfällen. Sie besorgte sich andere Freunde in Erwägung gezogen. Waffen und Papiere. Davon hatten wir natürlich nichts ge- Im April 1971 trat die Gruppe mit ei- wußt. nem Traktat an die Öffentlichkeit, in „25 Jahre Baader-Befreiung“, und dem sie sich zum erstenmal „ Rote Ar- wo stehe ich, mittlerweile 32, heute? Na mee Fraktion“ nannte. Es ist vermutlich wo wohl, natürlich mitten in meinem ei- meine Mutter, die, als Stimme der genen Leben. Ich bin Ärztin geworden, RAF, schrieb: und meine Arbeit macht mir Spaß. Dar- über bin ich aus vielen Gründen sehr Auch viele Genossen verbreiten Un- froh, auch, weil es so in meinem Leben wahrheiten über uns. Sie machen sich einen stabilen Rahmen gibt, und das ha- be ich mir immer gewünscht. Die Pro- bleme, die ich mit dem Leben habe, un- „Der Waffen-Mythos terscheiden sich nicht von denen, mit begann die Bewegung denen sich viele junge Frauen und Män- ner heute herumschlagen. zu lähmen“ Auch sie haben ja ihre spezielle Ge- schichte, haben ihr Schicksal zu tragen, damit fett, daß wir bei ihnen gewohnt welches leichter oder schwerer sein mag hätten, daß sie unsere Reise in den Na- alsmeins.Und dashat sehroft,nicht nur hen Osten organisiert hätten, daß sie bei mir, besonders mit der Mutter zu über Kontakte informiert wären, über tun: ob sie da war oder nicht da war, ob Wohnungen, daß sie was für uns täten, sie krank oder gesund war, Alkoholike- obwohl sie nichts tun. Manche wollen rin oder nicht, glücklich oder unglück- damit nur zeigen, daß sie „in“ sind . . . lich, lebendig oder tot. Anders als bei Wir haben mit diesen Schwätzern, für den allermeisten ist allerdings das er- die sich der antiimperialistische Kampf schlagende Ausmaß an Öffentlichkeit, beim Kaffee-Kränzchen abspielt, nichts an Berühmtheit, an Verklärung, Dämo- zu tun. nisierung und Mythenbildung, dasesfür mich zu bewältigen gilt. Unmerklich wurde der Schweine-Be- Oft schweige ich, wenn es auf das griff auch auf die linken, ehemaligen Thema Eltern kommt, weil ich keine Genossen ausgedehnt. Wie eine morali- Lust auf große geiernde Augen haben, sche Erpressung wirkten die Worte mei- die nicht mehr mich, sondern nur noch ner Mutter. Durch die Logik „Entweder einen Riesenfilm sehen, der den ganzen bist du ein Teil des Systems oder ein Raum ausfüllt. Immer aber, wenn ich Teil seiner Lösung“ gerieten sie zuneh- schweige, verheimliche ich auch einen mend unter Druck. Meine Mutter, die Teil von mir, erstarre. selber dieser Logik gefolgt war, bindet Der Wunsch, in dieser Sache ein an- möglicherweise bis heute mit ihrem fal- gemessenes Gleichgewicht zu finden, ist schen Vorbild das Aktionspotential vie- einer der Gründe, warum ich heute und ler sozial engagierter Menschen. Der hier von mir erzähle; ein Teilmeines Be- Mythos, die Linke könne nichts mehr mühens, mich vorsichtig meiner Ge- verändern, ohne Waffen einzusetzen, schichte zu nähern, mit der verbunden begann, die oppositionelle Bewegung zu es so viel leichter ist zu leben. lähmen. Ulrike Meinhof schrieb auch: „Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung

DER SPIEGEL 29/1995 101 TITEL auch dann gemacht worden wäre, wenn 1933 hatte es die Weimarer Re- wir gewußt hätten, daß ein Linker dabei publik versäumt, einen Adolf angeschossen wird . . . kann nur mit Hitler und die aufsteigende Nein beantwortet werden.“ Doch das NSDAP zu bekämpfen, ihn zum Eingestehen dieses Fehlers blieb ohne Staatsfeind Nr. 1 zu erklären und Folgen. Die logische Konsequenz, mit ihm den Vorkommnissen ent- dem bewaffneten Widerstand aufzuhö- sprechend zu begegnen. ren, der notgedrungen weitere „Linkes“ Diesmal, so scheint es mir, treffen mußte, blieb aus. wollte sich die junge Demokratie 1971 kamen beim Kampf zwischen nicht noch einmal die Macht von der Polizei und der RAF immer mehr einer Terrorbande aus der Hand Menschen zu Tode. Am 15. Juli starb nehmen lassen. Deshalb be- die 20jährige Petra Schelm bei einem kämpfte sie die Baader-Meinhof- Schußwechsel mit der Polizei; sie war Bande mit dem schlechten Ge- die erste Tote der RAF. Wenige Mona- wissen ihrer Vorväter, die einen te später wurde der 32jährige Polizeibe- Hitler zugelassen hatten. Zu der amte Norbert Schmid bei einer Kontrol- Verfolgung von NS-Verbrechern le von BM-Mitgliedern erschossen, im hätten die drastischen Verteufe- Dezember der Baader-Meinhof-nahe lungskampagnen, die zerstöreri- Georg von Rauch in West-Berlin von ei- sche Isolationshaft, die Ände- nem Polizeibeamten getötet. Tage spä- rung der Gesetze und die Errich- RAF-Gefängnis Stuttgart-Stammheim: Seit sie ter starb in Kaiserslautern der Polizei- tung eines eigenen Prozeßgebäu- obermeister Herbert Schoner, 32, er des gepaßt. Für den kleinen wurde von Bankräubern, die zur Baa- Haufen der RAF waren und sind der-Meinhof-Gruppe gehörten, erschos- diese Methoden bis heute unan- sen. Im März 1972 trafen Augsburger gemessen brutal. Polizisten den Anarchisten Thomas Aber auch die RAF kämpfte Weisbecker, 23, tödlich. Am gleichen gegen einen Phantomgegner. In Tag starb in Hamburg der Polizist Hans der demokratischen Bundesre- Eckhardt, 50. publik meinte sie den wieder- Auch bei uns in Hamburg-Blankenese aufstrebenden Faschismus zu er- war die Stimmung zu spüren. Mein Va- kennen. Terrormaßnahmen, die ter hatte immer wieder Angst, daß seine möglicherweise für die Beendi- Kinder noch einmal von der Gruppe gung der NS-Diktatur notwendig gewesen wären, wie der bewaff- nete Untergrundkampf, Spreng- Auf dem Weg in die stoffattentate, später Entführun- Schule vom gen, waren in der Demokratie weder angemessen noch wirk- Polizeiwagen begleitet sam. Schuldgefühle gegenüber dem entführt würden. Er ließ unser Haus be- jüdischen Volk führten dazu, daß wachen. Regine und ich wurden auf un- sich die Aufmerksamkeit einer Verhaftetes RAF-Mitglied Ensslin (1972), RAF- serem Weg in die Schule von einem zivi- zum Widerstand bereiten Gene- len Polizeiwagen begleitet. ration auf das nächste Volk richtete, das Am 1. Juni 1972 wurden Jan-Carl Den Ernst der Lage hatten wir Kinder vor den Augen der Öffentlichkeit syste- Raspe, Holger Meins und Andreas Baa- jedoch nicht begriffen. Um den Polizi- matisch vernichtet wurde: auf Vietnam. der von einer Polizeieinheit in Frankfurt sten, die auf uns aufpassen sollten, ei- Um politische Führungskreise zur aufgespürt und verhaftet. Am 7. Juni nen Streich zu spielen, teilten wir uns Vernunft zu zwingen, glaubten sie Men- 1972 stellte die Polizei Gudrun Ensslin und gingen auf getrennten Wegen zur schenleben im eigenen Land opfern zu in einer Hamburger Boutique, am 14. Schule. Oder wir nahmen eine Abkür- dürfen. Juni folgte die Verhaftung von Ulrike zung durch den Bahnhof, so daß der Zwischen dem 11. und dem 24. Mai Meinhof bei Hannover. Wagen uns nicht folgen konnte. 1972 erschütterten sechs Sprengstoffat- Der Staat hatte gesiegt. Die RAF hat- Zum erstenmal rief die Polizei zu ei- tentate die Republik. Getroffen wurde te es nicht geschafft, für ihre Ziele eine ner Großfahndung auf. Die Baader- das Hauptquartier des V. US-Corps in breite Anhängerschaft in der Bevölke- Meinhof-Bande wurde zum Staatsfeind Frankfurt am Main; ein Mann wurde ge- rung zu gewinnen. Jetzt erinnerte nichts Nr. 1 erklärt, meine Mutter zur meistge- tötet. Bei der Explosion in der Augsbur- mehr an die Fröhlichkeit und den Spaß, suchten Bandenchefin der Nachkriegs- ger Polizeidirektion wurden fünf Beam- den die Kaufhausattentäter 1968 noch zeit und, wie die Stuttgarter Zeitung te verletzt. Eine Bombe ging auf dem ausgestrahlt hatten. Baader war vom schrieb, zur „negativen Symbolfigur der Parkplatz des Münchner Landeskrimi- Streß und Drogenkonsum, hauptsäch- Bundesrepublik“. Bis heute frage ich nalamtes in die Luft. In Karlsruhe ex- lich Speed-Tabletten, gezeichnet, Gud- mich, wie diese Ausdrücke in die Köpfe plodierte das Auto des Bundesrichters run Ensslin zeigte ihr Gesicht nicht der Zeitungsreporter und Politiker kom- Buddenberg. Am Steuer saß seine Frau, mehr offen, sondern versteckte sich vor men konnten. Was die RAF auch ange- die schwerverletzt überlebte. Im Ver- den Fotografen. Meine Mutter sah bei richtet hatte – ging das nicht zu weit? lagshaus Axel Springer in Hamburg de- ihrer Verhaftung aus wie ein Gespenst. Ich habe den Eindruck, daß die Bun- tonierten zwei Sprengsätze, Verletzte Abgemagert, vom Leben im Unter- desregierung ebenso wie die RAF, ohne blieben zurück. Bei dem Anschlag auf grund verhärtet. daß es ihr vielleicht bewußt war, einen das Europa-Hauptquartier der US-Ar- Ich erinnere mich, wie ich nach der ganz anderen Gegner vor sich sah als mee in Heidelberg wurden drei Soldaten Schule bei meiner Oma in einer Zeit- den, den sie wirklich vor sich hatte. Vor getötet. schrift die große Story über die Verhaf-

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tung meiner Mutter las. Die Fotos, die ich dort von ihr sah, konnte ich mit dem Bild, das ich innerlich von ihr behalten hatte, nicht mehr zusammenbringen. Daß solche Bilder von meiner Mutter in aller Öffentlichkeit gezeigt wurden, er- füllte mich mit unaussprechlichem Ent- setzen. Es wäre Zeit gewesen für ein Resü- mee, ein Nachdenken über die Nieder- lage. Man hätte über die Möglichkeit, aufzugeben, reden müssen. Aber die Gefangenen, die in unterschiedlichen Gefängnissen einsaßen, hatten nicht den Raum und die Zeit für Gefühle und Ge- danken. Das Wort „Konsequenz“ ersetzte das Nachdenken über die Niederlage. Wer die eingeschworene Gemeinschaft jetzt

DPA verlassen hätte, wäre als Verräter abge- dort war, hatte sie den Kontakt abgebrochen stempelt worden. Doch die Inhaftierten

Häftlinge Baader, Meinhof (1975): Der Staat hatte gesiegt

waren auf der Position von Verlierern, die jetzt um sich herum ein falsches Hel- dentum aufbauten. Dieses Heldentum ähnelte dem Heroismus der Soldaten im Krieg, die bis zum Todesstoß für ihr Va- terland kämpfen sollten. Diese „Ehre des Todes“, die jetzt endgültig verherrlicht wurde, verhinderte eine realistische Ein- schätzung der Lage, und sie verstellte die Möglichkeit zum Ausstieg. Die Einsicht, daß Gewalt nicht der richtige Weg gewesen war, um an das Ziel zu kommen, wurde als Verrat gewertet. Die Tatsache, daß einer psychisch und physisch nicht mehr konnte, wurde grup- penhierarchisch als Ausstiegsgrund nicht mehr zugelassen. Wem sein Leben lieber war als die Revolution, war ein Schwein. Justiz und Regierung verstärkten mit ihren rigiden Haftbedingungen die Kampfbereitschaft der Inhaftierten. Bald hatten sie sich mit einem schweren Vorwurf auseinanderzusetzen: Isolati- onsfolter. Tatsache war, daß zum Beispiel die Meinhof-Tochter Bettina (1976): „Nun sind wir 13, und es ist wieder Weihnachten“ Zelle, in der meine Mutter die ersten Mo-

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nate in Untersuchungshaft saß, in einem wie es in Sizilien war? Liebte sie uns „toten Trakt“ lag. Sie war, wie der An- noch? staltsleiter seiner vorgesetzten Behörde Dann kam meine Mutter. Zwei Be- darlegte, auch akustisch isoliert. Neon- amte führten sie herein. Ihre Haare wa- licht brannte Tag und Nacht. Den Hof- ren wieder schulterlang. Sie trug eine gang mußte sie allein absolvieren. braune Cordhose und einen blauen Pull- Die Zeilen, die meine Mutter über ih- over. Sie war ganz aufgeregt, und sie re Isolation schrieb, rüttelten die Sym- freute sich wie verrückt. pathisantenszene auf: Etwas unsicher fragte sie: „Darf ich euch in den Arm nehmen? Wollt ihr das Das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht überhaupt?“ Ich kam nicht dazu, mich auf, macht die Augen auf: die Zelle selber zu fühlen. Ich versuchte eher, sie fährt, nachmittags, wenn die Sonne zu beruhigen. Meine Schwester sagte so- reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. wieso kaum ein Wort. Auch wenn mei- ne Mutter sie ansprach, konnte sie ir- gendwie nichts sagen. „Ich hatte Angst, mich So erzählte ich von der Schule, vom vor meiner Klavierunterricht und von Omi und Pappi, bei dem wir ja jetzt lebten. Nach Mutter zu erschrecken“ kurzer Zeit war es schon wieder vertraut zwischen uns, auch wenn mich ihre poli- Man kann das Gefühl des Fahrens tische Art verunsicherte, vielleicht weil nicht absetzen . . . Rasende Aggressi- ich meine Mutter inzwischen mehr von vität, für die es kein Ventil gibt. Das außen kannte, aus den gefärbten Erzäh- ist das Schlimmste. lungen meines Vaters und der Presse. Sie fand es einen Skandal, daß wir so Im August 1972 bekamen wir den wenig Taschengeld bekamen. 50 Pfen- ersten Brief von ihr. Sie schrieb: nig in der Woche! Sie wollte, daß wir He Mäuse! Und beißt die Zähne zu- monatlich 100 Mark bekämen, damit sammen. Und denkt nicht, daß Ihr wir unabhängiger seien. Es gelang mir traurig sein müßt, daß Ihr eine Mami nicht, ihr zu erklären, daß unser Vater habt, die im Gefängnis ist. Es ist uns, wenn er mit uns unterwegs war, al- überhaupt besser, wütend zu werden, les kaufte, daß wir nichts vermißten. als traurig zu sein. Au warte – ich Ein anderes Mal sagte sie, wir sollten werd¯ mich freuen, wenn Ihr kommt. gegen die Eltern eines Mädchens aus Verdammt ja. unserer Klasse einen Kinderaufstand or- ganisieren, weil diese dem Mädchen so Im Oktober 1972, zweieinhalb Jahre viel verboten. Es war zwecklos, ihr zu nach der Baader-Befreiung, sahen wir sagen, daß das absolut nicht im Sinne sie in einer Besucherzelle des Gefäng- des Mädchens war, daß es völlig absurd nisses Köln-Ossendorf wieder. Wir wa- war, daß ich so etwas nicht tun wollte. ren inzwischen zehn Jahre alt und gin- Mein Vater erzählte uns später, daß gen in die vierte Klasse. meine Schwester und ich nach diesen Mein Vater brachte uns zum Ge- Besuchen immer besonders unruhig wa- fängnis, wo wir uns in einer trüben Eingangshalle anmelden mußten. Wäh- rend mein Vater dort wartete, folgten „Die tote Atmosphäre, meine Schwester und ich der Beamtin, während draußen die uns, mit einem riesigen Schlüssel- bund ausgerüstet, durch die Gänge die Sonne schien“ führte. Für jeden Gang gab es eine Ei- sengittertür. Endlich kamen wir in das ren und bei jeder Kleinigkeit anfingen Besucherzimmer, einen weißen Raum zu heulen. Natürlich ging es immer um mit einem Fenster, das so hoch ange- ganz andere Dinge. Denn sobald wir aus bracht war, daß man nicht hinaus- dem Gefängnis wieder draußen waren, schauen konnte. Auf einem Holzstuhl versuchten wir so schnell wie möglich zu nahm die Beamtin Platz. Regine und verdrängen, was wir dort gespürt hat- ich standen aufgeregt um einen Tisch ten. Die tote Atmosphäre in den Gän- herum. gen, die brutale Kahlheit des Besucher- Wie würde unsere Mutter aussehen? raumes, die Bemühtheit und Gequält- Hoffentlich nicht mehr ganz so heit unserer eingesperrten Mutter, die schlimm wie auf den Fahndungsfotos. dauernd von politischem Kampf redete, Ich hatte Angst, mich vor meiner Mut- während draußen die Sonne schien. Die ter zu erschrecken. Vielleicht hatte ich Neugier der Beamten auf eine Meinhof, auch nur Angst davor, ein Gefühl zu die plötzlich Gefühle zeigte. haben. Zum Beispiel Freude oder Sie schrieb uns: „Neulich, im Okto- Trauer. Im Grunde immer noch die ber, standen bunte Drachen über dem Erwartung: Ist jetzt alles wieder gut? Knast. Also da mußten irgendwo Kin- Können wir zusammen nach Hause ge- der sein, die sie steigen ließen. Unheim- hen? Kann ich ihr endlich erzählen, lich hoch, grün und rot. Das war richtig

104 DER SPIEGEL 29/1995 schön.“ Und auch: „Ich mach’ mir jetzt ziemlich viele Gedanken über Euch . . . Und besucht mich! Und schreibt – los! Oder malt mir was, ja? Ich finde, ich brauche mal wieder ein neues Bild. Die ich hab’, kenn’ ich jetzt auswendig.“ Während des Hungerstreiks, den sie 1973 führte, um aus der Isolation her- auszukommen, schrieb sie uns: „Haltet die Daumen, daß wir mit unserem Hun- gerstreik was erreichen. Mehr als Dau- menhalten könnt Ihr ja wohl noch nicht tun. Laßt wieder von Euch hören. Tschüs, Mami. Mal zusammen Fußball spielen? Hätt’ ich natürlich Lust.“ Doch das Verfassungsgericht lehnte eine Beschwerde der RAF-Verteidiger gegen die strengen Haftbedingungen ab. 1974 wurden die Gefangenen nach Stuttgart-Stammheim verlegt. Eigens für diesen Prozeß war dort ein Prozeß- gebäude errichtet worden. Im Septem- ber begann der härteste Hungerstreik, den die Gruppe bisher gemacht hatte; die vorigen hatten keine Haftverbesse- rungen gebracht. Er dauerte 140 Tage. Im November starb Holger Meins an den Folgen der Unterernährung. Drei Tage vor seinem Tod hatte er noch ge- „Unsere Briefe wurden nicht mehr beantwortet“

schrieben: „Entweder Schwein oder Mensch. Entweder Überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod. Entwe- der Problem oder Lösung. Dazwischen gibt es nichts.“ Seine Worte wurden innerhalb der linken Sympathisantenszene zum Mani- fest. Tausende kamen an sein Grab nach Hamburg. Die RAF draußen begann wieder zu wachsen. Anfang der Siebzi- ger hatte die Polizei nur 30 bis 40 Perso- nen gesucht. Jetzt standen 300 auf der Fahndungsliste. Die Diskrepanz zwischen dem Leben, das unsere Mutter führte, und dem Le- ben, das wir in Hamburg lebten, wurde unüberbrückbar groß. Mit zwölf Jahren gingen wir auf unsere ersten Partys, hat- ten beste Freundinnen, besuchten den ersten James-Bond-Film, saßen bei den Großeltern zum Kaffeeklatsch und spielten im Garten Federball. Doch im Hintergrund immer dieses Wissen: Unsere Mutter sitzt da irgend- wo in Stuttgart in einem extra für sie und die RAF eingerichteten Hochsi- cherheitstrakt und kämpft verbissen ei- nen Kampf, den wir als Kinder noch nicht verstehen, der uns aber mit einer dumpfen Trauer, vielleicht sogar mit schlechtem Gewissen erfüllt. Uns geht es so gut, und sie leidet so. Seitdem sie nach Stammheim verlegt worden war, hatte meine Mutter jeden

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Kontakt zu uns Kindern ab- gebrochen. Unsere Briefe wurden nicht mehr beant- wortet. Bis heute weiß ich nicht, ob es ihr nicht erlaubt war, Besuche zu empfan- gen, weil sie sich so oft im Hungerstreik befand, oder ob sie uns wirklich nicht se- hen wollte. 1975 wurden auch die Terroristen draußen wieder aktiv. Der Berliner CDU- Politiker Peter Lorenz wur- de von der Bewegung 2. Ju- ni entführt. Der Coup ge- lang. Im Austausch wurden mehrere Gefangene frei- gelassen. Meine Mutter war nicht darunter. Horst Mahler, der RAF-Gründer, lehnte es ab, ausgetauscht zu werden; er war der einzi- ge der Anführer, der mit der Gruppe brach und über- lebte. Kurz darauf erschütterte die Geiselnahme in der Stockholmer Botschaft die Menschen. Es gab wieder vier Tote. Weihnachten 1975, fünf Monate vor ihrem Tod, ver- suchte ich noch einmal, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Ich schrieb:

Liebe Mami! Nun sind wir 13, und es ist wieder Weihnachten . . . Wir ha- ben Dir kein Weihnachts- geschenk gemacht, weil wir ja gar nicht wissen, was Dein Geschmack ist,

ob Du es überhaupt an- NPS nehmen und ob Du es Inhaftierte Meinhof (1973): „Das Gefühl, die Zelle fährt“ überhaupt bekommen wür- dest . . . Wenn Du etwas gerne von uns über ihre Gemeinheit und Hinterhältig- Am 41. Verhandlungstag stellte mei- hättest, schreibe uns . . . Deine Bettina keit. ne Mutter dem Gericht eine entschei- und Deine Regine. dende Frage, die in diese Richtung In der Enge der Haft hatten Gudrun ging: Doch sie antwortete mir nicht mehr. Ensslin und Ulrike Meinhof angefan- Sieben Monate vorher hatte der Pro- gen, sich gegenseitig auf das erbittertste Wie kann ein isolierter Gefangener zeß in Stammheim gegen den harten zu bekämpfen. den Justizbehörden zu erkennen ge- Kern der RAF begonnen. Jetzt ging es Gudrun Ensslin schrieb an Baader: ben, angenommen, daß er es wollte, um das Bekenntnis zu den begangenen daß er sein Verhalten geändert hat? Taten. Dann bin ich geplatzt und habe ihr ge- Wie? Wie kann er das in einer Situati- Ich denke heute, daß damals ein Aus- sagt, daß sie das lassen soll, mich an- on, in der bereits jede, absolut jede stieg meiner Mutter nicht nur möglich, zufallen, elitär zu sein . . . Da stand sie Lebensäußerung unterbunden ist? sondern für ihr Überleben richtig gewe- kochend auf und ging zur Tür, und ich Dem Gefangenen in der Isolation sen wäre. Nicht, weil es an der Zeit ge- hatte wirklich gebrüllt vor Wut. Gesagt, bleibt, um zu signalisieren, daß sich wesen wäre, andere zu verraten, son- ob sie denn nicht merken würde, daß sein Verhalten geändert hat, über- dern weil sie nicht mehr konnte. Sie sie will, daß ich kippe – mit dieser Me- haupt nur eine Möglichkeit, und das schrieb: thode: Hammer, um dann die Unschuld zu spielen. ist der Verrat. Eine andere Möglich- Das ist nicht mystisch, wenn ich sage, keit, sein Verhalten zu ändern, hat der ich halte das nicht mehr aus. Was ich Hätte meine Mutter ab und zu andere isolierte Gefangene nicht. Das heißt, nicht aushalte, ist, daß ich mich nicht Menschen gesehen, hätte sie weniger es gibt in der Isolation exakt zwei Mög- wehren kann. Also, es laufen einfach strenge Haftbedingungen gehabt, hätte lichkeiten: Entweder Sie bringen einen ein Haufen Sachen durch, ich sage sie einen sanften Ausstieg ohne Verrat Gefangenen zum Schweigen, das nichts, aber ich knalle an die Decke, möglicherweise geschafft. heißt, man stirbt daran, oder Sie brin-

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gen einen zum Reden. Und das ist das fürchterlichen desorientierten Schwei- Geständnis und der Verrat. Das ist Fol- ne, die Ihr seid, inzwischen eine Bela- ter, exakt Folter . . . stung geworden seid . . . Ihr seid es, die uns fertigmachen – was die Justiz Doch ich glaube, daß letztlich nicht nie könnte . . . Also halt die Fresse, bis der Staat allein meine Mutter in den Du was verändert hast, oder geh end- Selbstmord hätte treiben können. Aus- lich zum Teufel. schlaggebend waren ihre Kämpfe mit den anderen Gefangenen und mit sich Ich bin sicher, daß meine Mutter in selbst. Gudrun Ensslin hatte an Baader dieser Zeit sehr ernsthaft nach einem geschrieben: „Warum mache ich das? Ausweg gesucht hat, bei dem sie hätte Der Zweck . . . Ulrike zu quälen, indem überleben können. Andreas Baader ver- ich ihr Quälerei zurückgebe. Auge um suchte, ihren Ausstieg zu verhindern, da Auge.“ sie der RAF nach außen hin immer noch Auch Andreas Baader schrieb meiner politisches Gewicht verlieh. Bei Gudrun Mutter: Ensslin habe ich fast den Eindruck, als Also Haß – mach Dir doch nichts vor: wollte sie meiner Mutter indirekt sagen, Du haßt uns – dafür gibt es einen Sack daß sie doch endlich verschwinden soll- Signale, der dann natürlich einfach so te, daß sie den Verrat doch endlich be- lässig in bestimmenden Momenten gehen soll. Passivität, Sich-Entziehen, ¯ne kaputte In diesem Kampf der drei Führungs- Grammatik, kaputte Inhalte, Zerstö- kader der RAF ging es scheinbar dar- rung, Mißverständnisse produziert usw. um, wer den Verrat zuerst begeht und Das Problem ist, daß Du/Ihr als die damit dem anderen den Todesstoß ver- setzt. Es siegte die Partei Baa- der/Ensslin, so kommt es mir heute vor, gegen meine Mutter. Ensslin hatte schon viel früher Ulrike Meinhof als das „Messer im Rücken der RAF“ bezeich- Meinhof-Beerdigung in Berlin 1976, private net. Am 4. Mai 1976 wurde sie selber zum Messer. Allerdings die Arme liefen. Weder mit der Presse im Rücken meiner Mutter. noch mit der Sympathisantenszene soll- An diesem 4. Mai kündigte ten wir in Berührung kommen. Gudrun Ensslin in aller Öffent- Wir gingen nicht zu der Beerdigung, lichkeit ihre Solidarität mit mei- zu der 4000 Menschen kamen, ein paar ner Mutter auf. Sie erklärte sich, Wochen später wurde nicht mehr über im Namen der RAF, für die An- den Tod meiner Mutter geredet. schlagserie im Mai 1972 verant- Stundenlang saß ich zu Hause vor wortlich. Nur von dem Springer- dem großen Fenster, wo unser Platten- Attentat, das vermutlich von spieler stand, und hörte Uriah Heep, meiner Mutter organisiert wor- Pink Floyd und vor allem Deep Purple. den war, distanzierte sie sich. Musik, die meinen Vater an den Rand Fünf Tage später war meine des Nervenzusammenbruchs brachte. Mutter tot. Sie hatte sich in ihrer Doch es war mehr als eine pubertäre Zelle an einem zerrissenen Krise. Damals setzte diese merkwürdige Handtuch aufgehängt. eiserne Treue ein. Eine Treue, die, Ich war 13 Jahre alt, als ich am glaube ich, damit zu tun hat, daß man Sonntag, den 9. Mai 1976, im sich vornimmt, eine Wiedergutmachung Radio hörte, daß sich die Terro- zu leisten. ristin Ulrike Meinhof das Leben Das Schlimmste war, daß sie uns kei- genommen hat. Wenige Minuten nen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. später verkündete mein Vater Dieses „kein Wort“, mit dem sie uns meiner Schwester und mir den nun zum zweitenmal und diesmal end- Tod unserer Mutter. Auch er re- gültig verlassen hatte, ließ so viele Fra- dete mehr wie ein Journalist, der gen offen. Hatte sie uns denn nicht ge- von einer Mediensensation liebt? spricht. Erst viel später begriff ich, daß auch Wie sollte es nun weitergehen? ihre Anhänger und Genossen über die- Meine Schwester und ich hatten ses „kein Wort“ nicht hinweggekommen seit Sizilien nicht mehr über un- sind. Jan-Carl Raspe war sich sicher, sere Mutter geredet. „Mammi“ daß Ulrike Meinhof der Gruppe mitge- war ein Tabu-Thema zwischen teilt hätte, wenn sie sich hätte umbrin- uns. Meine Oma war froh, daß gen wollen. Er nahm diese Tatsache, wir Zwillinge von dem Tod unse- daß Ulrike nichts gesagt hatte, als Zei- rer Mutter fast nichts gemerkt chen dafür, daß sie ermordet wurde. hatten, und mein Vater holte uns Mein Gefühl deutet eher auf Selbst- eine Woche lang jeden Tag von mord hin. Sie hatte über alles, über je- der Schule ab, um zu verhindern, den Schritt ihres Lebens, Worte verlo- daß wir einem Bild-Reporter in ren. Ihre aktuelle Qual hatte jedoch ge- Ich engagierte mich weder inder linken teams und Fotografen bedrängt wurde. Schülerzeitung noch im Schulkollektiv. Ich habe Irmgard Möller nicht gekannt, Fürmichwar diesesganze moralische Ge- trotzdem berührte esmich sehr, siein Lü- rede von Politik und Revolution mit ei- beck aus dem Gefängnis kommen zu se- nem traumatischen Grauen verbunden. hen. Wenn meine Mutter überlebt hätte, Diese 17jährigen Freaks, die mit unge- wäre sie vermutlich schon vor Jahren in kämmten Haaren in ihren Nepaljacken die Freiheit entlassen worden. Längst von der Revolution redeten, kamen mir hätten wir über alles reden können. Sie damals naiv, ja dumm vor. hätte die Zeit gehabt, die widerstreiten- Ich war wütend: Reichte das Grauen, den Gegensätze von Gut und Böse, links das die RAF angerichtet hatte, etwa noch und rechts, Schwein oder Mensch in sich nicht?Reichte esnicht,daß meineMutter auszusöhnen. Über die tieferen Beweg- daran zerbrochen war, sollte ich mich et- gründe zur Entstehung und Geschichte wa auch noch opfern? Und überhaupt, der RAF hätte sie sich selber äußern kön- was hatten die gegen Cowboystiefel?! nen. Den Mord am Vorstandssprecher der Im Märchen brechen die Bande erst Dresdner Bank, Jürgen Ponto, im Juli zum Schluß vom Herzen des eisernen 1977 bekamen wir nur noch am Rande Heinrich. Es heißt da: „Noch einmal und mit. Alles, wasjetzt folgte, ging uns nichts noch einmal krachte es auf dem Weg, und mehr an. 1977, die Schleyer-Entführung, der Königssohn meinte immer, der Wa- der nächste Versuch, Andreas Baader gen bräche, und es waren doch nur die und viele andere aus dem Gefängnis zu Bande, die vom Herzen des treuen Hein- befreien, mißlang. Hanns Martin Schley- rich absprangen, weil sein Herr erlöstund er mußte sterben. glücklich war.“ Y Mit dem darauffolgenden Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe schien eine Etappe der RAF zu Ende zu gehen. Die einzige, die Filmaufnahmen: Wir konnten nicht weinen das gemeinsame Sterben der Ge- fangenen in Stammheim in diesen rade darin bestanden, daß jedes Wort, Tagen überlebt hatte, war die da- das sie jetzt ausgesprochen hätte, ihr als mals 30 Jahre alte Irmgard Möl- Verrat ausgelegt worden wäre. Offen- ler, die mit vier Messerstichen da- sichtlich hatte sie nach der zermürben- vongekommen war. Bisheute hält den Gefängniszeit nicht mehr die innere sie an der Behauptung fest, daß Kraft, die Entscheidung zu verantwor- sie wie die anderen umgebracht ten, daß der Weg der Gewalt ein Irrtum werden sollte – daß ihr die Mes- gewesen sei. Doch ebensowenig konnte serstiche von einem Fremden bei- sie verantworten, den Weg der Gewalt gebracht wurden. weiterhin zu befürworten. Im Dezember 1994 wurde Irm- Damals war es so, als hätte sich der gard Möller nach mehr als 22 Jah- Schatten dieser Verantwortung, der ren Haft aus der Strafanstalt Lü- schon über meiner ganzen Kindheit ge- beck-Lauerhof entlassen. Aus hangen hatte, durch den Tod meiner diesem Anlaß traf ich mich mit Mutter vollständig auf mich gelegt. Der Monika Berberich. Ich war jetzt schwarze Schatten der RAF. Ein Berg 32 Jahre alt und sah sie zum er- von Ideologie, Haß, Mord, Gewalt, stenmal, seit sie uns in Sizilien zu- Trauer, negativer Gedanken, Toter und rückgelassen hatte. Sie hatte für ungelöster Probleme – das war für mich die Banküberfälle 1970 in Berlin das Erbe meiner Mutter. und ihren späteren Gefängnisaus- Ich wollte mit all diesem Schreckli- bruch 18 Jahre abgesessen. Herz- chen nichts zu tun haben. Ich haßte mei- lich war sie immer noch, wie da- ne Mutter. Ich haßte die RAF. Aber ich mals. konnte nicht weglaufen. Daß sie uns entführt hat, davon Mit 14, als ich gewissermaßen ins re- wollte Monika Berberich nichts voluzzerfähige Alter kam, erhielt ich ei- wissen. Wieso, fragte sie erstaunt ne Menge Aufmerksamkeit. Doch die zurück, es war doch euer Vater, Leute schienen nicht mehr mich persön- der euch aus Sizilien zurückent- lich zu meinen, sondern mich als Toch- führen ließ. Verkehrte Welt. ter. Linke in meiner Schule sprachen Klar, von der Perspektive der mich entrüstet an, warum ich mich nicht RAF aus gesehen hat uns unser politisch engagieren würde. Sie reichten Vater, nicht unsere Mutter ent- mir Flugblätter, wo irgend etwas über führen lassen. Im Moment war den Schweinestaat und bewaffneten Wi- das egal. derstand stand, und verurteilten mich, Gemeinsam begrüßten wirIrm- weil ich Cowboystiefel trug. gard Möller, die wachsbleich, Sollte sich die Tochter von Ulrike aber lachend, mit vorsichtigen Meinhof womöglich auf die Schweine- Schritten aus dem Gefängnis kam seite schlagen? und von Dutzenden von Kamera-