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SWR2 Musikstunde

„Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (5)

Von Thomas Rübenacker

Sendung: Freitag, 15. Juli 2016 9.05 – 10.00 Uhr

Redaktion: Bettina Winkler

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„Musikstunde“ mit Thomas Rübenacker „Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (5) Von Thomas Rübenacker SWR 2, 11. Juli – 15. Juli 2016, 9h05 – 10h00

Signet: SWR2 Musikstunde

… mit Thomas Rübenacker. Heute: „Komponierende Dirigenten und dirigierende Komponisten“, Teil 5.

MUSIK

Diese Woche sprach ich über komponierende Dirigenten und dirigierende Komponisten, also auch über das Verhältnis zwischen Schöpfer und Interpret in einer Person. Heute, in der letzten Sendung zum Thema, will ich mich auf „komponierende Kapellmeister“ kaprizieren, weil es da noch so einiges aufzuarbeiten gibt – vieles wenig bis gar nicht Bekanntes, auch manch Skurriles oder gar Schräges. Wie ich bereits sagte, griffen die Komponisten häufig zum baton, um ihre Werke zu schützen – und um mit der Welt konfrontiert zu werden, nicht nur mit dem häuslichen Schreibtisch. Dirigenten, die komponieren, plagt dagegen häufig ein Komplex: Sie wollen nicht nur Erfüllungsgehilfen sein. Eine Partitur lesen können sie so gut wie der Komponist – warum also sollten sie keine schreiben können?! Nun, was mitunter dabei herauskommt, hören wir heute. Den Anfang machen soll einer der deutschesten und kapellmeistersten der deutschen Kapellmeister: Robert Heger. Seine Verdi-Variationen fußen auf dem beinahe entrückten Thema „È scherzo ed è follia“ aus dem 1. Akt von „Ein Maskenball“; hier Thema und 1. Variation, Moderato marziale e energico.

MUSIK: HEGER, VERDI-VARIATIONEN, TRACKS 13 + 14 (2:00) 1) Robert Heger, Verdi-Variationen op. 23; Lettische Nationalphilharmonie, Leon Botstein; Arabesque Recordings 6752 (KEIN LC!)

Robert Heger, Thema und erste Verwandlung seiner Verdi-Variationen op. 23, gespielt von der Lettischen Nationalphilharmonie, der Dirigent war Leon Botstein.

Robert Heger wurde 1886 in Straßburg geboren, er war zunächst Cellist und Kompositionsschüler von . Seinen ersten Kapellmeisterposten erhielt er 1907 im heimischen Straßburg, danach begab er sich – wie er selber sagte – „auf die Ochsentour“: , Barmen, Hagen, Volksoper Wien, Nürnberg; also viel Provinz und Semi-Provinz, in mählich aufsteigender Linie. Bei Karajan war es nicht viel anders – es ging nur rascher. Hegers große Zeit kam mit dem 3

Nationalsozialismus. Nicht dass er ein überzeugter Nazi gewesen wäre. Zwar trat er 1937 in die NSdAP ein und dirigierte im besetzten Krakau als „Träger des deutschen Kulturwillens im Osten“, auch ließ Hitler ihn 1944 auf die Gottbegnadetenliste setzen. Das war eine Auflistung derjenigen Künstler, die unersetzlich waren für die Reichspropaganda – und die folglich nicht an der Front verheizt werden durften, nicht einmal an der Heimatfront: Sie waren vom Dienst an der Waffe befreit. Ein angesehener Mann also war Robert Heger im Reich. Und doch wurde er nach dem Krieg rasch entnazifiziert, konnte er seine Karriere bruchlos fortführen. Das Wort „Mitläufer“ hatte damals eben noch keinen so ehrenrührigen Klang.

Schon 1945 wurde Heger Chefdirigent an der Städtischen Oper , fünf Jahre später 1. Staatskapellmeister an der Münchener Residenz und Präsident der dortigen Hochschule für Musik und Theater. Schon 1932 hatte er seinen ersten Opernerfolg ebenfalls in München gehabt, am Nationaltheater: „Der Bettler Namenlos“, mit Bühnenstars wie Max Lorenz und Viorica Ursuleac. Seine Opern II und III hob er dann in Berlin aus der Taufe: „Der verlorene Sohn“ und „Lady Hamilton“. Sowohl der namenlose Bettler als auch der verlorene Sohn waren Nazi-kompatible Sujets; dass er mit „Lady Hamilton“ ein Porträt der großen Liebe des englischen Admirals Lord Horatio Nelson zeichnete, kurz nach dem Krieg, zeugt von einer gewissen Geschmeidigkeit des Künstlers. Doch nun zum Finale seiner „Verdi-Variationen“, einem Opus 23 des damals 34-Jährigen. Die siebte Variation ist ein Presto scherzando im bewährten „Sommernachtstraum“-Stil des Felix Mendelssohn; und das darauffolgende Maestoso-Finale ist nicht, wie die Tempovorgabe suggerieren könnte, eine gewaltige Doppelfuge à la Max Reger – sondern ebenfalls ein (zumindest in Teilen) Mendelssohnisches Schließen.

MUSIK: HEGER, VERDI-VARIATIONEN, TRACKS 20 + 21 (7:48) 2) Robert Heger, Verdi-Variationen op. 23; Lettische Nationalphilharmonie, Leon Botstein; Arabesque Recordings 6752 (KEIN LC!)

Robert Heger, die 7. Veränderung und das Maestoso-Finale seiner Verdi- Variationen op. 23, fußend auf einer Arie aus dem „Maskenball“. Leon Botstein dirigierte die Lettische Nationalphilharmonie.

Wie Robert Heger war auch der ein Jahr ältere Otto Klemperer Opern- Kapellmeister in Barmen und Straßburg – hier jedoch endet der Vergleich. Der Jude Klemperer, der zum Katholizismus übertrat, sympathisierte natürlich nie mit den Nazis; der (bis 1931) Direktor der Krolloper zu Berlin war vielmehr bekannt wie ein bunter Hund als eine Speerspitze der Avantgarde: An seinem Haus gab es die Uraufführungen fast aller Brecht/Weill-Werke, von Schönbergs „Erwartung“ und „Die glückliche Hand“, Janáceks „Aus einem Totenhaus“, Strawinskys „Oedipus 4

Rex“ oder Hindemiths „Cardillac“. 1940 erschien ein Lexikon der Juden in der Musik, das zu Klemperer Sensationelles berichtete: „Seine Hauptaufgabe sah (er) in der bewussten Entstellung deutscher Meisterwerke.“ Seinen Einsatz für die Neue Musik belohnte das Regime, indem es Klemperer das Etikett „Kulturbolschewist“ anpappte. Darin liegt ein Quantum unfreiwilliger Ironie: Klemperer war sowohl als Dirigent wie als Komponist Schüler von Hans Pfitzner gewesen – und just der hatte das Verdikt vom „Kulturbolschewismus“ geprägt, das die Nazis später so verschwenderisch aufgriffen. Im selben Jahr, 1933, emigrierte Klemperer in die USA und wurde dort Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic Orchestra. Er setzte vornehmlich „deutsche Meisterwerke“ aufs Programm, neben Beethoven und Brahms gerne auch Schumann oder Carl Maria von Weber, und kein Kritiker konstatierte dabei je eine „Entstellung“ derselben. Ganz im Gegenteil.

MUSIK: WEBER, EURYANTHE, TRACK 2 (8:53) 3) C. M. v. Weber, Euryanthe (Ouvertüre); Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer; EMI 7 63917 2 (LC 6646)

Carl Maria von Weber, die Ouvertüre zur Oper „Euryanthe“, hinreißend gespielt vom Klemperer-Orchester Philharmonia , dirigiert vom „Chef“.

Klemperer war auch außerhalb seines Dirigierens und Komponierens ein Phänomen. Der bipolare, also manisch-depressive Mann, der auf dem berühmten Foto alle überragte an Körpergröße: Berlin der 20er Jahre, ständig dort konzertierend Toscanini, Furtwängler, Bruno Walter, Erich Kleiber und eben Klemperer -, dieser Mann war zugleich einer der größten Tollpatsche und Pechvögel. Er stürzte in Orchestergräben und von Flugzeug-Bordtreppen, fiel von Haushaltsleitern und sogar von Toiletten, stets mit Maximalblessuren. Nach einer missglückten Tumoroperation 1939 und einem Schlaganfall blieb er halbseitig gelähmt und konnte gegen Ende seines Lebens auf dem Podium nur noch eine Art von sitzen: auf einem Barhocker mit Rückenlehne. Seine Dirigate bestanden da im wesentlichen noch aus dem Einsatz – und dem Abschlag; dazwischen schien das Orchester dirigentenlos zu spielen. Eine Videoaufnahme allerdings zeigt, dass dieser Eindruck täuscht: Klemperer dirigierte „zwischendurch“ mit seinen schwarzen Riesenaugen, die immer noch glühten wie brennende Kohlen. Mit einem guten Orchester war das möglich, und seit 1959 hatte er eines: Das Londoner Philharmonia Orchestra, das wir gerade hörten, wählte ihn zum „Chefdirigenten auf Lebenszeit“. Das hielt dann auch, als die Gesellschaft des öffentlichen Rechts pleiteging. Man gruppierte sich neu, nannte sich „New Philharmonia Orchestra“ und spielte weiter – für Klemperer und natürlich auch für sich selbst.

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Das Handwerk des Komponierens hatte er, wie gesagt, ebenfalls von Pfitzner gelernt. Allerdings war ihm das Deutschtümeln seines Lehrers fremd, er hielt es mehr mit Kurt Weill und mit Expressionisten wie Schreker. Sechs Symphonien gibt es von Otto Klemperer, eine Messe, neun Streichquartette, rund 100 Lieder – und eine Oper mit dem Titel „Das Ziel“. Daraus stammt der nun folgende „Merry Waltz“, zu deutsch: Lustiger Walzer, der in etwa so lustig ist wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Dass er die Dekadenz der untergehenden Donaumonarchie abbilde à la Ravels „La valse“, ist noch untertrieben; hier wird auf dem Vulkan getanzt, wie's wenige Jahre später dann die Nationalsozialisten nachmachten. 1961 nahm Otto Klemperer das rabenschwarze Stück selber auf, mit „seinem“ Orchester, dem Philharmonia.

MUSIK: KLEMPERER, MERRY WALTZ, TRACK 4 (7:29) 4) Klemperer, Merry Waltz; WEITER SIEHE 3)!

Wie ging noch der Witz mit Brahms? „Wenn Brahms einmal recht lustig ist, dann singt er 'Das Grab ist meine Freude'.“ Nun, wenn Otto Klemperer einen „Lustigen Walzer“ komponieren wollte wie den soeben gehörten, ging er zum Zahnarzt zwecks Wurzelbehandlung und sang „Ah, heit is zünftig!“. Das Philharmonia Orchestra spielte.

Weit mehr als ein „englischer Kapellmeister“ war Sir Charles Mackerras. Zuerst einmal war er Australier, dann aber (und das besonders) einer der bedeutendsten Musikforscher des 20. Jahrhunderts. Noch bevor Harnoncourt oder Gardiner die Darmsaiten aufzogen, erforschte er die Werke des Barocks und der Klassik in originaler Klanggestalt – machte also period style, ohne dieses Etikett für sich in Anspruch zu nehmen. Von Hause aus Oboist, studierte er später mit einem Stipendium der Krone in Prag, bei dem Dirigenten Václav Talich, den er einen „Musikphilosophen“ nannte. So kamen die Opern Janáceks, die hierzulande kein Mensch kannte, nach Resteuropa. Mackerras war einer der ersten, die Beethovens Symphonien in den Original-Metronomisierungen spielen ließen, und berühmt wurde seine Aufnahme von Händels „Messias“: Da besetzte er, wie's der Komponist selbst es getan hatte, 23 (!) Oboen, was nicht ganz leicht gewesen sein kann, auch in London nicht. Einerseits einen Furor, andererseits Furore machte sein Mozart-Dirigat „Die Hochzeit des Figaro“ anno 1965 an der Sadler's Wells, heute: English National Opera. Wo heute noch grundsätzlich auf englisch gesungen wird, rekonstruierte er das komplexe Geflecht von Appoggiaturen aus der Mozartzeit – und andere Ornamentik, wie er sie anhand von Mozartfassungen für Aloysia Weber und an dessen Bach-Bearbeitungen studiert hatte. Überhaupt, Mozart: Wenn man den eines deutschen „Mozartspezialisten“ wie Karl Böhm gegen späte Aufnahmen von Mackerras hält, kann man den Unterschied zwischen Holzschuhtanz und dem auf Spitze hören. 6

MUSIK: MOZART, NASE DES FIGARO, CD 1, TRACK 16 (4.21) 5) Mozart, Le nozze di Figaro; Focile, Corbelli, Davies, Scottish Chamber Orchestra, Sir Charles Mackerras; Telarc CD-80388 (LC IN-AKUSTIK!)

Mozart, „Le nozze di Figaro“, dirigiert von Sir Charles Mackerras: das Terzetto aus dem 1. Akt, worin Don Basilios zufälliges Auftauchen eine Vernaschung der Susanna durch den Grafen Almaviva verhindert. Nuccia Focile, Alessandro Corbelli und Ryland Davies sangen, das Scottish Chamber Orchestra spielte.

Als Komponist kaprizierte sich der große Musikforscher allerdings wirklich auf kapellmeisterliches Arrangieren. Zum Beispiel komponierte er Torsi zu Ende, instrumentierte sie oder schuf Ballette aus Melodien „leichter“ Musik – z. B. „Pineapple Poll“, worin er rund 40 Hits seines Idols Sir Arthur Sullivan miteinander verknüpfte. Überhaupt war Sir Charles einer der besten Gilbert-&-Sullivan- Interpreten: Deren so archetypisch britische Operetten lagen ihm ebenso am Herzen wie Mozart oder Verdi. „Pineapple Poll“ folgt oberflächlich betrachtet einer Dramaturgie, wie sie auch Manuel Rosenthal umsetzte, als er aus Offenbach-Melodien das Ballett „Gaité Parisienne“ schuf. Aber während die „Gaité“ Offenbach vom Sockel holt und ihn in Richtung Wunschkonzert trivialisiert, wahrt Mackerras in „Pineapple Poll“ den Witz Sullivans – ja steigert ihn bisweilen sogar noch.

MUSIK: MACKERRAS, PINEAPPLE POLL, ... 320 3824 001, 3’35 6) Sir Arthur Sullivan (arr. Mackerras), Pinapple Poll, 320 3824 001

Charles Mackerras, sein hochvergnügliches Ballett „Pineapple Poll“, ein noch witzgesteigertes Potpourri diverser Melodien aus den Operetten von William Schwenck Gilberts und Sir Arthur Sullivans; hierzulande kennt man davon nur den „Mikado“. Das … spielte, Mackerras dirigierte.

Einer der größten Dirigenten und Pianisten des 19. Jahrhunderts, privat aber ein armer Tropf war Hans von Bülow, dem Richard Wagner die Frau ausspannte – Liszts Tochter Cosima -, der sich dann aber mit dem Ehebrecher keineswegs duellierte, sondern ihn weiterhin als „Meister“ verehrte und ihm zu Diensten stand – geradezu „hündisch“, wie's einem Zeitgenossen vermeinte. Auf der anderen Seite war Bülow einer der ersten echten Stardirigenten, ein Mann, der nie nur das Orchester dirigierte, sondern immer auch „für die Galerie“. Kleinwüchsig wie er war, benutzte er einen fast spazierstockgroßen baton, um Zeichen zu geben – und kein Zuschauer konnte denken, das Orchester würde ohne diese großen Zeichen genauso klingen. Auch war Bülow im 19. Jahrhundert etwas, was im 20. George Szell oder Fritz Reiner waren: ein Orchestererzieher, der Ensembles wie 7 das Meininger Hoforchester oder, von 1887 bis '93, die Berliner Philharmoniker zur Weltspitze hochtrimmte. Die Berliner sind es immer noch, und die höchste Auszeichnung, die sie zu vergeben haben, heißt denn auch immer noch Hans- von-Bülow-Medaille.

Ein Jugendwerk des Komponisten Hans von Bülow ist „Nirwana“, eigentlich eine sinfonische Dichtung im Stil seines Schwiegervaters Franz Liszt, vom Komponisten aber abwechselnd Ouvertüre, Sinfonisches Stimmungsbild oder Orchester- Fantasie-Ouvertüre genannt. 1854, also mit 24 Jahren, begann Bülow mit der Niederschrift, bis 1866 brauchte er, um das Werk zu vollenden – 12 Jahre und damit fast so lange wie Brahms für seine erste Symphonie. Ein postpubertärer Weltschmerz durchzieht das Stück, von dem Bülow sich später distanzierte; auch der eigentliche Titel durchlief diverse Stadien, von Sinfonischer Prolog auf Lord Byrons „Kain“ über „Thanatos“ (das altgriechische Wort für Tod) bis hin eben zu „Nirwana“, dem Nichtszustand in der Heilslehre des Sanskrit. Seinem Freund Felix Dräseke schrieb Bülow: „Dieser Selbstmordversuch in Musik (…) wurde zur Gänze geschrieben in natürlicher roter Tinte“ - und das heißt: in Blut …

MUSIK: BÜLOW, NIRWANA, TRACK 22 , 4‘54 7) Hans von Bülow, Nirwana; WEITER SIEHE 1 + 2)!