Endstation Ungewiss Eine Lange Nacht Über Die „Kindertransporte“ 1938/39
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Endstation Ungewiss Eine Lange Nacht über die „Kindertransporte“ 1938/39 Autor: Jochanan Shelliem Regie: Nikolai von Koslowski Redaktion: Dr. Monika Künzel SprecherIn: Matthias Ponnier Bruno Cathomas Sigrid Burkholder Jochen Nix Sendetermine: 28. August 2021 Deutschlandfunk Kultur 28./29. August 2021 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik Floating Points, Pharoah Sanders, London Symphony Orchestra, Movement 1 / 14“ Filmton Nicholas Winton: I have a motto that if something isn’t bluntly impossible, there must be some way doing it. i Atmo Dielen knarzen, bedeutungsschwangere Musik Erzähler 1988 geht eine alte Frau im englischen Maidenhead auf ihren Dachboden, drei alte Bücher in der Hand, sucht einen Staubfreien Platz, um sie zu verstauen. Nicholas Winton Wenn etwas nicht völlig unmöglich ist, muss man einen Weg finden, es zu tun. Erzähler Sie öffnet eine Truhe und stößt auf Briefe ihres Mannes, die sie nicht kennt. Sie findet Stempel, Ordner voller Daten, Namen und Adressen. Von dieser Zeit hatte Nicholas Winton ihr nie etwas erzählt. Filmton Joe Schlesinger Mann Dieser alte Mann hat mir das Leben gerettet und das Leben Hunderter anderer Menschen während des Zweiten Weltkrieges auch. ii Atmo ruhigere Musik – Schreibmaschine Nicholas Winton Ich sah diese Menschen, die in Schwierigkeiten waren, in Gefahr gewesen sind, Menschen, mit denen Hitler etwas vorhatte. Winton I saw these people, who were in difficulties, in danger, people on Hitlers backlist iii Mann We tried to get to America, we tried to get to England, we tried to get to Palestine, but all the governments said O, o, borders are now closed. iv Endstation Ungewiss Eine Lange Nacht über die „Kindertransporte“ 1938/39 Seite 2 Winton And there was no way out v Mann / OV Wir hatten versucht nach England zu gehen, wir wollten nach Palästina, aber alle Regierungen haben gesagt: Oh, oh, die Grenzen sind jetzt dicht. Winton We had organized eight transports from Prague vi Nicholas Winton Wir hatten acht Transporte aus Prag organisiert. Film Atmo Eisenbahnlok stampft und pfeift Filmton There were thousands of children on the lists who wanted to get out vii Nicholas Winton Wir hatten Tausende von Kindern auf der Liste, die raus wollten. Tochter The last thing, my dad said to me was, I should always be his brave cheerful little girl and I think have been viii Tochter / OV Das letzte was mein Vater zu mir sagte war: Ich sollte immer sein mutiges, fröhliches kleines Mädchen bleiben. Ich bin es glaub ich geblieben. Winton Our greatest regret was that our biggest transport, which was 250 children, that was cancelled, because war started and almost none of these children survived. ix Nicholas Winton Am meisten tat uns leid das unser größter Transport mit 250 Kindern gestrichen wurde, weil der Krieg begann. Erzähler 250 Kinder mussten aussteigen. Film My Family, none of these people survived x Joe Schlesinger Weder meine Familie, noch eines dieser Kinder hat überlebt. Musik Endstation Ungewiss Eine Lange Nacht über die „Kindertransporte“ 1938/39 Seite 3 Erzähler Mehr als 15 500 jüdische Säuglinge, Kinder und Jugendliche haben dank der Kindertransporte von Nicholas Winton zwischen dem 30. November 1938 und dem 1. September 1939 überlebt. xi Wenn etwas unmöglich ist, muss man einen Weg finden, es zu tun, das war sein Motto. Nicholas Winton ist diese Langen Nacht gewidmet. Wir hätten diese Sendung über die stille Initiative des Londoner Börsenmaklers auch anders nennen können – Wie einer, der das Elend der Flüchtlingskinder in Prag nicht ausgehalten hat, 15.000 Menschen zum Leben verhalt. In der ersten Stunde dieser Langen Nacht berichtet der als Kind vor den Gaskammern gerettete Nürnberger Henry Wuga, von anderen Geretteten ergänzt, wie ihre Kindheit abrupt beendet worden ist und wie sie nach Groß Britannien kamen. Nicholas Winton kommt zu Wort, dank der Fechner Filmproduktion, die den vielfach ausgezeichneten Film über Sir Nicky von Matej Mináč produzierte. 2015 verstarb Nicholas Winton geachtet und geadelt im Alter von 106 Jahren. 2013 wurde der kleine zarte Mann im Rollstuhl noch von seinen gealterten Kindertransportkinder in London umringt. Dank seiner Initiative leben heute mehr als fünfzehntausend Kinder, Jugendlichen und Säuglinge. Sein Handeln im Flüchtlingselend von Prag hielt Nicholas Winton für derart selbstverständlich, das er vierzig Jahre lang darüber schwieg, bis seine Frau auf dem Dachboden ihres Hauses einen Koffer fand. Musik Erzähler Glasgow, 28. November 2017. Raureif liegt in der Luft. Am Stadtrand eine in die Jahre gekommene Reihenhaussiedlung. Henry Wuga ist ein kleiner stattlicher Mann. Henry Wuga Ich bin geboren in Nürnberg in 1924. Mein Name war Heinz Martin Wuga. Erzähler Sein Alter sieht man ihm nicht an. Auch Ingrid Wuga kam mit einem Kindertransport. xii Seine Frau ist bettlägerig. Der 93jährige pflegt sie mit ruhiger Gelassenheit. Endstation Ungewiss Eine Lange Nacht über die „Kindertransporte“ 1938/39 Seite 4 Henry Wuga Meine Mutter kommt aus Heilbronn, ihr Name war Würzburger. Sie hatten eine Brauerei und verschiedene Restaurants. Mein Vater kam aus Graz und war ein Prokurist in Nürnberg bei einer Firma. Erzähler Selbstbewusst empfängt er mich mit kraftvollem Händedruck. Das Interview führen wir am fein gedeckten Wohnzimmertisch mit Tee und Mürbegebäck. Das Deutsch von Henry Wuga ist wundervoll – achtundsiebzig Jahre nach seiner Flucht nach Schottland. Henry Wuga Mein Vater war von einer katholischen Familie. Meine Mutter war von einer jüdischen Familie. Mein Vater hat sich nicht gekümmert um Religion. In einem Familienbuch von 1890 hat mein Vater sich eingeschrieben als Dissident. Er wollte.. das war sehr häretische, hat Courage gehabt, von einer katholischen Familie mit fünf Schwestern und Brüder - er wollte nichts mit der Religion zu tun haben. Ich bin aufgewachsen in meiner Familie mit meinem Vater und meiner Mutter, aber aufgewachsen im jüdischen Glauben. Er war dafür, dass ich Barmitzwa war und <> jüdisch erzogen war. Er hat sich nicht um Religion gekümmert. Man fragt die Eltern nicht genug – dann sind sie leider nicht mehr da. Ich glaube, die haben sich zufällig getroffen in Blankenberge. Ferien gehabt in Blankenberge, an einem Strand. Ist in Belgien. Vor dem Krieg, vor dem Weltkrieg, mein Vater war natürlich in der Armee in Österreich und haben dann geheiratet nach dem Krieg. Geboren worden in Nürnberg, in einer Vorstadt und später sind wir umgezogen in die Fürther Strasse, hat mein Vater sein eigenes Geschäft gehabt. Bürobedarf Carl Wuga Bürobedarf. Mein Vater hat die ganze Woche gearbeitet, am Wochenende sind wir natürlich spazieren gegangen in die Wälder und irgendwo eingekehrt, ein ganz gewöhnliches Erwachsen bis 1933 dann hat sich das natürlich umgestellt. Wir hatten jüdische Freunde und nicht-jüdische Freunde, aber nach 1933, nach der Machtergreifung von den Nazis, hat sich das natürlich geändert, man hat dann nur in jüdischen Kreisen verkehrt, besonders nach den Nürnberger Gesetzen von 1935, das war furchtbar. Ich kann mich erinnern, in der Schule, in der Volksschule, da waren Endstation Ungewiss Eine Lange Nacht über die „Kindertransporte“ 1938/39 Seite 5 drei jüdische Jungens in meiner Klasse. Wir wurden hinten hingesetzt und niemand hat mit uns gesprochen, weder die Kinder noch die Lehrer. Warum? Die haben Angst gehabt: man hat nichts zu tun mit Juden. Remember wir kommen aus Nürnberg. Wir hatten Julius Streicher und den Stürmer, eine unglaubliche Zeitung, furchtbar, der Hass war furchtbar. Die Leute haben Angst gehabt: Hab nichts mit Juden zu tun, sonst bekommst du keine bessere Stelle. Und dann natürlich nach den Nürnberger Gesetzten, man durfte ja nur mit Juden verkehren: Ein jüdischer Geschäftsmann, ein Laden, der hat nur dann noch jüdische Kunden gehabt, das hat sich eingeschränkt Doktor der Rechtsanwalt durfte nur jüdische Leute. Zahnärzte, genau dasselbe. Wir mussten dann alles Silber abgeben. Man durfte dann nicht mehr ins Kino gehen. Man durfte nicht in eine Vorstellung gehen, das hat sich natürlich, war sehr deprimierend. Natürlich Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage, die sind in der Fürther Strasse marschiert, 15 breit, das Horst-Wessel-Lied, ja – ich kann mich gut daran erinnern, es war schlimm, man wurde eingeschränkt nur auf jüdische Leute. Ich erinnere mich als Zehnjähriger, als Kind. Man sitzt in der Klasse und sie singen „Alles vergebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert, sie war nicht eingeschmiert.“ Lustig. Dann kommt es aber: „Zwei Juden baden in einem Fluss, weil sich ne Sau mal waschen muss. Der eine ist ersoffen, vom andern wollen wir’s hoffen.“ Man sitzt da als Kind und das singen die in unser Gesicht. Das werde ich nie vergessen. Musik Henry Wuga Wir wussten genau was passiert ist. Wir wussten, hier können wir nicht bleiben, schon als Kinder, das war kein gewöhnliches Aufwachsen. Gott sei Dank hatten wir Nürnberg-Fürth, die kleine Stadt Fürth neben uns, hatte eine jüdische Schule gehabt, die Israelitische Realschule Fürth und das sind wir natürlich hingegangen. Wir durften natürlich nicht mehr in die anderen Schulen gehen. Großes Glück gehabt, das war eine,