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Year: 2017

Autoren des Sturm und Drang. Kaufmann, Christoph

Caflisch-Schnetzler, Ursula

DOI: https://doi.org/10.1515/9783050093239-006

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-138835 Book Section Published Version

Originally published at: Caflisch-Schnetzler, Ursula (2017). Autoren des Sturm und Drang. Kaufmann, Christoph. In: Luserke- Jaqui, Matthias; Geuen, Vanessa; Wille, Lisa. Handbuch Sturm und Drang. Berlin, Boston: De Gruyter, 119-121. DOI: https://doi.org/10.1515/9783050093239-006 III Autoren des Sturm und Drang

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Abel, Jakob Friedrich der Zeit. Es ist A.s ungewöhnliches Talent, * 9. 5. 1751 Vaihingen, † 7. 7. 1829 Schorndorf die bisweilen hochkomplexen epistemologi- schen und psychologischen Theorien in eine Jakob Friedrich Abel stammte aus einer der verständliche Sprache und übersichtliche führenden württembergischen Beamtenfa- Ordnung zu transformieren. Dass A. von den milien, sodass ihm die für hochbegabte Lan- führenden empiristischen Philosophen der deskinder typische Ausbildung ermöglicht Zeit als gewichtige wissenschaftliche Stimme werden konnte: Nach dem Besuch der Latein- wahrgenommen wurde, belegen zwei durch schule in Vaihingen wurde er auf den Klos- Christoph Meiners initiierte Rufe auf Pro- terschulen in Denkendorf und Maulbronn fessuren nach Göttingen, dem Zentrum der für ein Theologiestudium vorbereitet, das er neuen Philosophie in den 1770er Jahren. Für mit dem Grundstudium – Philologie und Phi- die Annahme dieser Rufe verweigert der Her- losophie – am Tübinger Stift 1768 aufnahm. zog allerdings seine Zustimmung. Noch vor Beendigung des 1770 aufgenom- 1790 erhält A. den Ruf auf die Professur menen Studiums der Theologie berief ihn für praktische Philosophie an der Universität Herzog Karl Eugen (1728–1793) 1772 auf eine Tübingen als Nachfolger seines Lehrers und Professur für Philosophie an die neu gegrün- Kritikers Gottfried Ploucquet (1716–1790). dete militärische Pflanzschule (Karlsschule) Doch die Zeit seiner großen Wirkung ist – wie auf der Solitude in Stuttgart. Hier entwickelt die des Empirismus und der Anthropologie A. eine rege Lehrtätigkeit auf der Grundlage überhaupt – vorüber; die kantische Philoso- eigener Unterrichtspläne (vgl. Riedel 1995, phie, mit der sich A. früh auch in Publika- 15 ff.), die für das Fach Philosophie vor allem tionen beschäftigt (Versuch über die Natur popularphilosophische und empirisch-psy- der spekulativen Vernunft, 1787), der er jedoch chologische Themen als Grundlagen vorse- letztlich verständnislos gegenübersteht, be- hen. Trotz wolffianischer Ausbildung erweist grenzt die Kreise seiner Wirksamkeit. 1811 sich A. in Forschung und Lehre als profunder wird A. Leiter des evangelischen Seminars in Vertreter der seit den 1770er Jahren auch in Schöntal und Generalsuperintendent für Ho- der deutschsprachigen Philosophie systema- henlohe. tisch entfalteten empiristischen Philosophie. A. kann deshalb als einer der philosophi- Die durch Autoren wie Johann Georg Feder schen Anreger des SuD bezeichnet werden, (1740–1821), Christoph Meiners (1747–1810), weil er als Anthropologe einen grundlegen- Johann Nikolaus Tetens (1736–1807), vor al- den Einfluss des Körpers auf die seelischen lem aber Ernst Platner (1744–1818) systema- Aktivitäten des Menschen behauptete. „Ge- tisch und populär entwickelte Anthropologie wiße Veränderungen der Seele folgen stets wird von A. früh und umfassend in seinen auf gewiße Veränderungen des Körpers und philosophischen Unterricht integriert. So umgekehrt“ (Abel 1786, 17, § 29). Mit Platner kommen die Schüler dieser ambitionierten stellt er damit nicht allein den Menschen ins Bildungsanstalt – unter ihnen 1773 bis 1780 Zentrum aller philosophischen Bemühun- – schon während dieser gen, sondern am Menschen den Körper und ersten Blüteperiode empiristischer Philoso- damit dessen Empfindungsvermögen und phie in Deutschland in Kontakt mit den inno- Affektleben (vgl. ebd., 13 ff.). In seiner be- vativsten wissenschaftlichen Entwicklungen rühmten Rede über das Genie (1776) bringt er

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die Bemühungen einer philosophischen Be- phie-, ideen- und literarhistorische Aufarbei- stimmung des Genies auf den Begriff, indem tung des A.’schen Werkes steht aus. er auf der Grundlage einer empiristischen Vermögenslehre die Eigentümlichkeiten der Werke ‚großen Geister‘ in deren gefühlsfundierte Abel, Jakob Friedrich: Rede, über die Entstehung und Befähigung zur Überwindung verstandesge- die Kennzeichen grosser Geister [Rede über das Genie]. prägter Regeln verlegt: „Das Genie voll Ge- Stuttgart 1776 [ND hg. v. Walter Müller-Seidel. Marbach 1955; auch in Karlschul-Schriften, 181–218]. – Ueber fühl seiner Kraft, voll edlen Stolzes, wirft die die grausame Tugend, in: Wirtembergisches Reper- entehrenden Fesseln hinweg, höhnend den torium für Litteratur 1 (1782), 1 ff. [ND in: Matthias engen Kerker, in dem der gemeine Sterbliche Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen u. a. 2005, schmachtet, reißt sichs voll Heldenkühnheit 378–394]. – Einleitung in die Seelenlehre. Stuttgart los und fliegt gleich dem königlichen Adler 1786 [ND Hildesheim u. a. 1985]. – Plan einer syste- matischen Metaphysik. Stuttgart 1787. – Versuch über weit über die kleine niedrige Erde hinweg die Natur der speculativen Vernunft. Zur Prüfung des und wandelt in der Sonne.“ (Abel 1955, 31) Kantischen Systems. u. a. 1787. – Sammlung Weil A. das Genie über eine allgemeine Ver- und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem mögenslehre (vgl. Riedel 1995, 432) und dabei menschlichen Leben. 1. Th. Frankfurt u. a. 1784, 2. Th. insbesondere über die Leistungen der Ein- Stuttgart 1787, 3. Th. Stuttgart 1790. – Karlsschul-Schrif- bildungskraft bestimmt, kann er – wie auch ten. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Platner oder Tetens – den Begriff auf Litera- Übersetzung, Kommentar und Bibliographie. Hg. v. ten, Künstler, Wissenschaftler und sogar Po- Wolfgang Riedel. Würzburg 1995 [hier auch eine voll- litiker anwenden. Solche großen Geister wer- ständige Bibliographie der Werke Abels, 652–671]. den als „Nebenbuhler der schaffenden Gott- heit“ (Abel 1955, 10), als Alter deus definiert. Forschung A. lieferte damit im Anschluss an Platner ein Franz, Michael: Eine Anregung für den philosophie- allgemeines Modell produktiver Genialität, theoretischen Ansatz des frühen Schelling: Jakob das die vorherigen Versuche der Autoren des Friedrich Abels Inauguralthesen über Ursprung und SuD, so vor allem Goethes und Herders, bün- Natur der ersten Philosophie (1792), in: Dialektik. Zeit- schrift für Kulturphilosophie 2 (1996), 105–112. delte und zu weiteren Erörterungen anregen Hartmann, Julius: Friedrich Abel (1751–1829), in: ders.: konnte. Schillers Jugendfreunde. Stuttgart u. a. 1904, 95–123. Auch auf dem Felde der praktischen Phi- Jaumann, Herbert: Abel, Jakob Friedrich, in: ders.: losophie lassen sich insofern Affinitäten zum Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1: SuD feststellen, als A. eine Tugendlehre ent- Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin 2004, 3. Killy 4, 5 ff. wickelt, die weitgehend auf der Grundlage Luserke-Jaqui, Matthias: Friedrich Schiller. Tübingen, einer emotionalistischen Neigungslehre ba- Basel 2005. siert, die Elemente der Hume’schen (1711– Mudroch, Vilem: Eklektische Kantrezeption in anthro- 1776) und der Rousseau’schen (1712–1778) pologischer Perspektive. In: Grundriss der Geschichte Ethiken aufnimmt (vgl. Luserke-Jaqui 2005, der Philosophie. Philosophie des 18. Jahrhunderts. 378–394). Unverkennbar aber liegen die Gren- Bd. 5: Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa. Hg. v. Helmut Holzhey zen der Gemeinsamkeiten mit einer Ethik des u. Vilem Mudroch. Basel 2014, 1115–1120. SuD in der Gültigkeit der Tugend für jeden Riedel, Wolfgang: Influxus physicus und Seelenstärke. Menschen – auch für die großen Geister geni- Empirische Psychologie und moralische Erzählung in alischer Couleur. Eine differenzierte philoso- der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich

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Abel, in: Anthropologie und Literatur um 1800. Hg. v. zur Literatur und den schönen Künsten ver- Jürgen Barkhoff u. Eda Sagarra. München 1992, 24–52. führt, andererseits aber ebenso zu einem an- Riedel, Wolfgang: Einleitung: Weltweisheit und Men- stößigen und sittenwidrigen Studentendasein schenlehre. Das philosophische Profil von Schillers (vgl. z. B. Häntzschel 1988, 9; Joost 2015, 904). Lehrer Abel, in: Karlsschul-Schriften. Eine Quellene- dition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter B. entdeckt seine Leidenschaft für beides – Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Übersetzung, über Klotz und seine Schüler erzählt man sich Kommentar und Bibliographie. Hg. v. Wolfgang Rie- fortwährend „wunderbare Dinge“ (Scherer del. Würzburg 1995, 375–450. 1995, 121) – und verliert endgültig das ohne- Zantwijk, Temilo van: Erläuterungen zu Abels In- hin schon dürftige Interesse an der Theologie. auguralthesen zur Metaphysik (1791–1792), in: „… Durch den Tod des Vaters ist er von seinem im Reiche des Wissens cavalieremente?“ Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der strengen und wohlhabenden Großvater ab- Universität Tübingen. Hg. v. Michael Franz. Eggingen hängig, der nach einigen Semestern zwar 2005, 88–99. einsieht, dass sein Enkel das Studium nicht abschließen wird, ihn 1768 aber nach Göttin- Gideon Stiening gen zum Studium der Jurisprudenz zwingt. Doch B. bleibt den schönen Künsten und der „sprunghaften, von häufigen burschikosen Bürger, Gottfried August Exzessen unterbrochenen“ (Schreinert 1955, * 31. 12. 1747 Molmerswende, † 8. 6. 1794 Göt- 744) Lebensweise verhaftet, sodass sein Groß- tingen vater ihm schließlich alle Mittel entzieht. B. muss nun selbst für seinen Lebensunterhalt Zeit seines Lebens ist Gottfried August Bürger aufkommen und verdient sich diesen mit zerrissen zwischen Pflicht und Leidenschaft, Übersetzungen, „Gelegenheitsdichtung und Zeit seines Lebens gerät er – meist durch Korrekturlesen beim Buchdrucker“ (Joost eigenes Verschulden – immer wieder in einen 2015, 905). Gleichzeitig beginnt B. aber doch, „Morast erbärmlicher Verhältnisse, unsäg- seine juristischen Studien ernsthafter fortzu- licher Mühen und auswegloser Situationen“ setzen und freundet sich mit Heinrich Chris- (Häntzschel 1988, 8). Als Sohn des Predigers tian Boie (1744–1806) an, der als Hofmeister Johann Gottfried Bürger beginnt B. 1764 – im in Göttingen lebt und B. stets als „poetische[r] Todesjahr seines Vaters – ein Studium der Berater“ (Häntzschel 1988, 9) zur Seite steht. Theologie in Halle (vgl. Hettner 1876, 595). Boie fördert B.s literarisches Talent ebenso Schon früher hat er es seinem Großvater wie er ihn mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim Jacob Philipp Bauer zu verdanken, aus der (1719–1803) bekannt macht, der ihn sein Tristesse seines Elternhauses, „der Ignoranz Leben lang bewundert (vgl. Hettner 1876, 595) des Vaters und dem Jähzorn seiner Mutter“ und ihm phasenweise aus Not und Schulden (Lauer 2004, 79), befreit worden zu sein. Sein heraushilft (vgl. Häntzschel 1988, 9). Großvater hatte ihn auf die Lateinschule nach 1772 erhält B. als Amtmann die Gerichts- Aschersleben und an das Hallenser Reform- halterstelle zu Altengleichen bei Göttingen, pädagogikum geschickt. An der Universität die zum Gerichtsbezirk der Familie von Uslar in Halle bekommt B. Kontakt zu Christian gehört. Es folgt die Versöhnung mit dem Adolph Klotz (1738–1771), Professor der Phi- Großvater, der seinem Enkel erneut finanziell losophie und Beredsamkeit, der B. einerseits unter die Arme greift, da dessen Gehalt nicht

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ausreicht, um seine Schulden und die Kau- tät, und mit Unterstützung u. a. von Christian tion für den neuen Wohnsitz zu bezahlen (vgl. Gottlob Heyne (1729–1812) und Georg Chris- Hettner 1876, 595). B. erledigt seine Pflichten toph Lichtenberg (1742–1799) wird er 1784 zunächst gewissenhaft und pflegt regen Kon- schließlich zum Magister ernannt. Bis zu sei- takt mit dem Göttinger Dichterbund, u. a. zu nem Tod lehrt er – ohne festes Gehalt – „Äs- Hölty (1748–1776), Miller, Voß (1751–1826) und thetik, Stilistik, deutsche Sprache und Phi- den Stolberg-Brüdern (1748–1821; 1750–1819). losophie“ (Häntzschel 1988, 18). Zwar erhält Zwar leidet B. unter den chaotischen Ver- B. 1787 den Doktorgrad und 1789 die Ernen- hältnissen an seinem Gericht – die z. T. den nung zum außerordentlichen Professor, doch Intrigen innerhalb der Familie von Uslar ge- ändert sich an seiner finanziell und emotio- schuldet sind (vgl. Häntzschel 1988, 10) –, nal prekären Lage nichts – eine Festanstel- doch macht er sich zeitgleich unvergessen lung bleibt ihm verwehrt. Den Münchhausen im literarischen Kreis, als 1773 seine (1786) veröffentlicht er nicht unter seinem erscheint, die ihm „weiten und unvergäng- Namen, um der Verachtung und dem Hohn, lichen Dichterruhm“ (Hettner 1876, 596) be- die ihm als stetigem Außenseiter entgegen- schert. Immer wieder unternimmt B. Ver- schlagen, nicht noch mehr Stoff zu geben suche, sich aus seiner finanziell weiterhin (vgl. ebd., 19). bestehenden Misere und aus der empfunde- 1789 geht B. seine dritte Ehe ein und hei- nen Trostlosigkeit seines Daseins zu befreien, ratet die junge Elise Hahn. Schnell macht in allerdings scheitern diese Unternehmungen ganz Göttingen die Runde, dass das „Schwa- (vgl. Häntzschel 1988, 12). B. klagt Goethe benmädchen“ (Schreinert 1955, 745) ihn be- sein Leid, aber der verweigert Unterstützung, reits in den ersten Wochen ihrer Ehe betrügt – was nicht zuletzt auf seine Enttäuschung über B. wird erneut zum Gespött der Gesellschaft B.s unvollendet gebliebene jambische Homer- und nach kurzer Zeit von Elise geschieden. Übersetzung zurückzuführen sein könnte (vgl. Zwar hat er sich als Dichter einiges Ansehen ebd., 14). errungen, doch bleibt er verschuldet und ein- 1774 heiratet B. die bereits schwangere sam, er verliert zusehends die Hoffnung auf Dorothea Marianne (Dorette) Leonhart, die bessere Zeiten und erkrankt immer wieder. Tochter des Amtmann-Kollegen zu Niedeck. Eine Bitte an die Regierung in Hannover um Doch fühlt er sich weitaus mehr zu deren erst ein Gehalt bleibt unbeantwortet, und durch 16-jähriger Schwester Auguste hingezogen, den Einsatz von Professor Heyne erhält er die er als Molly in seinen erotischen Gedich- lediglich ein einmaliges Geschenk von 50 Ta- ten verehrt. Schlussendlich und zum Leidwe- lern (vgl. Häntzschel 1988, 23). Mit 46 Jahren sen Dorettes gehen sie eine Ménage-á-trois ein stirbt B. am 8. 6. 1794 an der Schwindsucht – (vgl. Lauer 2004, 85). Dorette stirbt zehn Jahre der „seelische Kummer und die materielle Not nach ihrer Hochzeit bei der Geburt des dritten […] beschleunigten den Verfall der körper- Kindes, und ein Jahr darauf, 1785, heiratet B. lichen Kräfte“ (Schreinert 1955, 745). seine Auguste, die ihm bereits 1782 einen Sohn Im Kontext des SuD lässt sich B. nicht geboren hatte. Doch schon nach rund einem zuletzt aufgrund seiner zwischen Prekariat halben Jahr Ehe stirbt auch Auguste. und Genialität zerrissenen Lebenssituation Zu diesem Zeitpunkt arbeitet B. bereits und seiner psychischen Befindlichkeiten ver- als Privatdozent an der Göttinger Universi- orten, wie sich beispielsweise im Sonett Ver-

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lust (1789) und im Gedicht An das Herz (1793) Sein Hang zum Irrationalen in Leben und zeigt, in dem von Erschöpfung und Lebens- Dichtung und seine Überzeugung, beides müdigkeit die Rede ist (vgl. Luserke 2010, in der Kunst zu vereinen, macht einerseits 32 f.). B. sieht sich, wie viele seiner Zeitge- (1767–1845) zu sei- nossen, der Kritik ausgesetzt, der Geniesucht nem berühmtesten Schüler. Andererseits hat und Selbstüberhöhung zu frönen, wehrt sich Schiller diese Haltung B.s scharf kritisiert. In dagegen aber bereits 1778 in der Vorrede zu einer Rezension der Lenore besteht Schiller seinen Gedichten (vgl. ebd., 73). Zu B.s Selbst- auf dem Grundsatz, Kunst und Leben strikt verständnis gehört, das eigene, individuelle voneinander zu trennen; Schiller meint, die Erleben in einer Lyrik zum Sprechen zu brin- Kunst müsse die ästhetische Erziehung der gen, die aller tugendorientierten Funktiona- Menschen befördern, indem sie über alles lisierung zu entheben ist (vgl. Lauer 2004, unmittelbar Erlebte erhaben sei. Nicht zuletzt 91 f.). Er hält leidenschaftliche Plädoyers für diese vernichtende Kritik Schillers wird dafür die „Volkspoesie“ (ebd., 85) beispielsweise in verantwortlich gemacht, dass B. stets Au- Aus Daniel Wunderlichs Buch von 1776, wo er ßenseiter, wenn auch mancherorts als Genie die Volkslieder von „Handwerkern, Bauern, gefeierter, in der SuD-Gesellschaft blieb und Hirten und Jägern […] der Kunstpoesie der ge- sich von dieser Attacke auch seelisch nicht lehrten Poeten“ (ebd., 85) vorzieht und damit mehr erholte (vgl. Hettner 1876, 599; Schrei- ähnliche Anschauungen vertritt wie Herder. nert 1955, 745; Lauer 2004, 99; Luserke 2010, B. „galt immer mehr allein das Gedicht als 87; Joost 2015, 913). der Ort, wo er von sich und seiner ganz unge- sellschaftlichen Liebe reden konnte.“ (Lauer Werke 2004, 93) Bürger, Gottfried August: Aus Daniel Wunderlichs B. wird ein „untrügliche[s] Gefühl für Buch. Göttingen 1776. – Gedichte. Göttingen 1778. – die charakteristischen Werte der metrischen, Macbeth. Göttingen 1783. – Wunderbare Reisen zu rhythmischen und strophischen Gestaltung“ Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Aben- (Schreinert 1955, 745) attestiert ebenso wie die theuer des Freiherrn von Münchhausen. Göttingen 1786. – Gedichte. 2 Bde. Göttingen 1789. – Briefe von Fähigkeit, Emotionen in bewundernswerter und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Lite- Intensität zum Sprechen zu bringen. Neben raturgeschichte seiner Zeit. Hg. v. Adolf Strodtmann. der abgebrochenen Hexameter-Übersetzung 4 Bde. Berlin 1874 (Nachdruck Bern 1970). – Aus dem der Ilias, Übersetzungsversuchen von u. a. Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. Hg. v. und der nicht weiter verfolgten Ab- August Sauer, in: Vierteljahrschrift für Litteraturge- sicht, ein bedeutendes Nationalepos zu schaf- schichte 3 (1890), 62–113. – Sämtliche Werke. Hg. v. Günter u. Hiltrud Häntzschel. München u. a. 1987. – fen, ist B.s „Prosa-Bearbeitung des Macbeth“ Mein scharmantes Geldmännchen. Gottfried August von Erfolg gekrönt. Noch populärer ist seine Bürgers Briefwechsel mit seinem Verleger Dieterich. „erweiterte Rückübersetzung der Wunder- Hg. v. Ulrich Joost. Göttingen 1988. – Hauptmomente baren Reisen … des Freiherrn von Münchhau- der kritischen Philosophie. Hg. u. eingeleitet v. Hans sen aus dem Englischen“ (ebd., 746), in deren Detlef Feger. Berlin 1994. – Lehrbuch der Ästhetik. zweiter Auflage B. die Abenteuer des ‚Lügen- Neu hg., eingeleitet u. kommentiert v. Hans-Jürgen Ketzer. Berlin 1994. barons‘ als „in mancher Hinsicht heilsam und dienlich“ (Werke, 498, zit. nach Lauer 2004, 98) bezeichnet.

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Forschung aus Madrid an Goethe, der einzig interessante Häntzschel, Günter: Gottfried August Bürger. Mün- Mensch, den er in den Pyrenäen getroffen chen 1988. habe, sei C. gewesen, „dessen Sie sich wohl Hettner, Hermann: Bürger, Gottfried August, in: ADB von alter Zeit her aus Straßburg erinnern. 3 (1876), 595–600. Wenigstens sagte er mir, daß er Sie mehrmals Joost, Ulrich: Nachwort, in: Gottfried August Bürger. Briefwechsel. Hg. v. Ulrich Joost u. Udo Wargenau. gesehen habe und Lenzens vertrauter Freund Bd. 1: 1760–1776. Göttingen 2015, 901–943. gewesen sei“ (Goethes Briefwechsel, 107). C. Killy 2, 281–284. hatte sich selbst schon am 9. 6. 1780 brieflich Kosch 2, 296–303. an Goethe gewandt. Das Briefende ist in die- Lauer, Gerhard: Die Poesie beim Wort genommen. Das sem Zusammenhang aufschlussreich: „C’est ganz unwunderbare Leben des Dichters Gottfried Au- en Suisse que j’ai vu M. Lenz pour la derni- gust Bürger, in: 1050 Jahre Göttingen. Streiflichter auf die Göttinger Stadtgeschichte. Hg. v. Klaus Grubmül- ère fois, ses malheurs qui ont suivi ce voyage ler. Göttingen 2004, 78–101. m’ont vivement affecté et j’ai appris dans le Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – temps avec intérêt qu’il rentrait enfin dans le Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. sein de sa famille. Puisse le désordre de son Stuttgart 2010. imagination lui permettre le repos!“ (Goe- Scherer, Helmut: Gottfried August Bürger. Der Dichter des Münchhausen. Eine Biographie. Berlin 1995. thes Briefe. Bd. 1, 68) Zum anderen kannte C. Schreinert, Kurt: Bürger, Gottfried August, in: NDB 2 Goethes Freund Jakob Michael Reinhold Lenz (1955), 744–746. recht gut. Sein Name ist mit dem von Lenz eng Schübler, Walter: Bürger, Gottfried August. Biogra- verknüpft. Im Frühjahr 1771 kam dieser als Be- phie. Nordhausen 2012. gleiter der Barone Friedrich Georg (1751–1800) Vanessa Geuen und Ernst Nikolaus von Kleist (1752–1787) nach Straßburg, wo Goethe und Herder sich schon im Spätsommer 1770 in einer Gruppe um den Aktuar Salzmann (1722–1812) ken- Carbonnières, Ramond de nengelernt hatten. Beide, Lenz und C., waren * 4. 1. 1755 Straßburg, † 14. 5. 1827 Paris aktive Mitglieder der Deutschen Gesellschaft in Straßburg. Lenz hatte in der am 2. 11. 1775 Der Elsässer Ramond de Carbonnières ge- neu gegründeten Gesellschaft, die 1767 als hört zu den wenig bekannten Autoren aus Société de philosophie et de belles lettres dem Umfeld des SuD. C. wird am 4. 1. 1755 in ins Leben gerufen worden war, die Funktion Straßburg geboren. Er studiert dort Jura, doch eines Sekretärs übernommen. Bereits sechs gelten seine Interessen schon früh naturwis- Wochen später, am 21. 12. 1775, wurde C. in die senschaftlichen Themen. Seine ersten litera- Gesellschaft eingeführt. Aus dieser lockeren rischen Versuche fallen in diese Zeit. Ob er Verbindung von Literaten und Literaturinte- engeren Umgang mit Goethe hatte, ist umstrit- ressierten ging die sogenannte Straßburger ten. Ferdinand Heymach meint, Goethe dürfe SuD-Gruppe hervor, zu der neben Lenz auch nicht zu seinen Freunden gerechnet werden Wagner, Lerse (1749–1800) und C. gehörten. (vgl. Heymach 1887, 4). Dagegen spricht aber Lenz war gleichwohl einer der Hauptakteure zum einen, dass Goethe den jungen Elsäs- dieser Gruppe. Schlosser aus Emmendingen ser gekannt haben muss. Denn Wilhelm von und Pfeffel (1736–1809) aus Colmar waren der Humboldt (1767–1835) schreibt am 28. 11. 1799 Gruppe wohlwollend bis kritisch verbunden

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(vgl. die Einträge in Gottlieb Konrad Pfeffel’s pas de rester un quart-d’heure entier dans la Fremdenbuch, 35 f. u. 241). Unter der Rubrik même situation, immobile, &, pour ainsi dire, „Gäste“ und „Fremde“ der 17. Versammlung sans aucun autre sentiment que celui qui lui der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach avoit dicté les seuls mots qu’il prononça.‘ im Jahr 1777 werden „Herr Michael Lenz, aus Note du Traducteur.“ (Lettres de M. William Liefland“ und „Ramond [de Carbonnières] Coxe 1781, 15 f., Anm. 10) von Colmar“ (Verhandlungen 1777, 5) ange- In demselben Jahr 1777, in dem auch Ju- führt. Als Lenz zunehmend eine Belastung piter und Schinznach veröffentlicht wurde, er- für seine Freunde wird (vgl. Dedner, Gersch scheint C.s Die letzten Tage des jungen u. Martin 1999, 4), reist er im Juni 1779 in Be- Olban auf Französisch. Ein Jahr später folgt gleitung seines Bruders nach Riga zurück. anonym der 91 Seiten umfassende Gedicht- Auf dieser Reise zeichnet er mit Bleistift ein band Elégies (Yverdon 1778). 1781 erscheint Selbstporträt und schreibt ein kleines Gedicht in deutscher Übersetzung C.s zweites Drama dazu. Der Adressat ist C., die Widmung trägt Hugo der Siebente, Graf von Egisheim, sein zu- das Datum 12. 7. 1779: „A Ramond. / De vieil gleich letzter belletristischer Text. In der Vor- ami ci voistu la Semblance; / Amour a dit ne rede schreibt er: „Ich werde die Natur getreu le connaitre plus, / Mais de ses traites jadis kopiren, auch da, wo die Fiktion Thatsachen au coeur recus / L‘ami saitmieux Garder la aufhelfen soll, welche die Zeit in die Fins- Souvenance.“ (Erstmals gedruckt in: Musee ternisse der Vergessenheit vergraben hat“ Pyreneen 46 [1953] Nr. 101; vgl. auch Girdles- ([Carbonnières] 1781, XI). In einer Fußnote tone 1968, 64. Die Reproduktion dieses lange beruft sich C. auf die literarischen Vorbilder als verschollen geltenden Selbstporträts er- seines Historiendramas, das im Spätsommer folgte in LJb 10/11 [2000/2001], [2]). Man kann des Jahres 1089 spielt: die Stücke Shakes- daher nicht behaupten, das freundschaftliche peares (1564–1616), die politischen Trauer- Interesse von C. an Lenz und seine Verehrung spiele Bodmers (1698–1783) und Goethes Götz dieses Autors sei taktisch begründet gewesen, von Berlichingen (vgl. [Carbonnières] 1781, er sei einem „eindimensionalen Bild seines XII). Aufführungen des sind nicht Gegenübers“ gefolgt, und Lenz sei „plötzlich belegt. Erich Schmidt nennt es „eine Art dra- verschwunden, und zwar (schon wieder!) matisierter Chronik“ (Schmidt 1879, 120). 1785 ohne Abschied genommen zu haben“. (Os- wird das Drama in der Allgemeinen deutschen borne 1995, 76) Bibliothek ausgesprochen schlecht von Adolph 1777 trifft C. Lenz nochmals auf einer Freiherr von Knigge (1752–1796) rezensiert Schweizreise beim Rheinfall von Schaff- (vgl. Anhang zu dem sieben und dreyßigsten hausen. In seiner Übersetzung der Briefe an bis zwey und funfzigsten Bande der allgemei- William Coxe von 1781 schreibt er gleich zu nen deutschen Bibliothek. In vier Bänden. Beginn in einer Anmerkung: „‚Un jeune Au- Berlin u. a. 1785, 366 f.). Nach einem kurzen teur Allemand, si connu dans sa Patrie par la Aufenthalt in Paris kehrt C. 1781 nach Straß- fougue de son imagination, sa sensibilité & burg zurück. Als Geheimrat steht er nun die ses malheurs, Lentz, descendant avec moi sur nächsten Jahre in den Diensten des Bischofs cet échaffaud, tomba à genoux en s’écriant: Rohan (1734–1803), der durch die sogenannte voilà un enfer d’eau! Le vent qui nous lançoit Halsbandaffäre bekannt geworden ist. In die- l’épaisse vapeur de la cataracte, ne l’empêcha ser Angelegenheit reist C. 1785 nach England.

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1787 bricht er zu einer Expeditionsreise in Geist, man gewinnt dabei noch mehr in bezug die Pyrenäen auf, seine Beobachtungen und auf das Herz. […] was ist denn wirklich meine Erfahrungen veröffentlicht er 1789 in den Ob- Stimme, nach der Stimme von ganz Deutsch- servations faites dans les Pyrénées […], noch land und der aller empfindsamen Herzen?“ im gleichen Jahr erscheint die deutsche Über- (WuB 3, 870) Lenz hat C.s Drama Die letzten setzung in Straßburg. Seine Reisebeschrei- Tage des jungen Olban, von dem in diesem bungen, meteorologischen und geologischen Brief die Rede ist, als ein wichtiges Zeugnis Forschungen machen C. zwar berühmt und der zeitgenössischen modernen Literatur ein- führen zur Benennung einer Pflanze nach gestuft. ihm (Ramondia Pyrenaica), als Literat bleibt C. war ein berühmter Naturforscher und er aber unentdeckt. Am 14. 5. 1827 ist C. ge- ein ebenso unbekannter Literat des 18. Jh.s storben. (eine umfassende Bibliographie der Werke C. zählt neben Lenz selbst zu den pro- von C. bei Reboul [ca. 1910]). Sein Name und duktivsten Mitgliedern der Deutschen Gesell- seine Bedeutung sind mit der Geschichte der schaft in Straßburg. Seine Arbeiten werden Naturwissenschaften in der Aufklärung und von dem literarisch aufgeschlossenen Kreis mit seinen Reiseberichten verknüpft. So no- geschätzt und durchaus im Kontext der SuD- tiert etwa Lavater in seinem Reisetagebuch Literatur gesehen. Schon Anfang Februar 1776 unter dem Datum 31. 7. 1785, er habe viel von schreibt Lenz an Boie (1744–1806): „In Colmar Goethe, Cox (1764–1837) und C. „durchblä- kenne ich einen jungen Franzosen, von dem tert und gelesen“ (Lavater 1997, 70). Dass C. ich etwas in Lausanne werde drucken lassen, auch als Dramatiker hervorgetreten ist, dass das Ihnen die Beschaffenheit des Bodens im er kurze Zeit Anschluss an die Gruppe des Elsaß zur Hervorbringung poetischer Köpfe Straßburger SuD um Lenz und andere hatte näher bezeichnen wird“ (WuB 3, 381). Am und dass er selbst ein Theaterstück im Stil 25. 5. 1776 teilt C. in einem Brief an Lenz mit: des SuD geschrieben hat, ist wenig bekannt. „Meine kleine Eigenliebe fühlt sich, mein teu- Im Katalog zur großen Frankfurter SuD-Aus- rer Freund, viel zu geschmeichelt über die an- stellung von 1988/1989 wird er beiläufig er- genehme Art, in der Sie sich meiner erinnern, wähnt und als „früheste[r] Götz-Nachahmer“ als daß ich nicht sofort Ihrer Bitte nachkäme; und „ein erster französischer Liebhaber der ich mache mich daran, mein Freund, Ihnen jüngsten deutschen Literatur“ bezeichnet. meine Arbeit zuzuschicken; sie gehört Ihnen (Perels 1988, 61 f.) 1960 erscheint von Fran- in mehrfacher Hinsicht, ich schulde Ihnen cesco Orlando eine C.-Monographie und Lektionen, schuldete sie Ihnen sogar, ehe ich Cuthbert Girdlestone hat 1968 ein umfassen- Sie persönlich kennenlernte; vergeben Sie des Werk zu C. veröffentlicht. In literaturge- dem Schüler die Huldigung, die er seinem schichtlicher Hinsicht lassen beide Arbeiten Lehrer entgegenbringt. Wäre ich freier und allerdings viele Fragen unbeantwortet. Ins- glücklicher, wäre ich nicht so unbezwinglich gesamt muss man in dieser Hinsicht immer unterjocht, hätte ich vielleicht den Plan ent- noch auf die wenigen Forschungen und regio- wickelt, sie Ihnen selbst zu bringen; […] man nalgeschichtlichen Erkundungen des 19. Jh.s muß danach streben, die Bekanntschaft von zurückgreifen, um überhaupt etwas über den Genies zu machen, die man bewundert, man Literaten C. in Erfahrung zu bringen. Freilich gewinnt durch den Umgang mit ihnen für den bleiben einige Quellen auch weiterhin un-

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gesichert. In der umfangreichen Einleitung Werke etwa von Desceltes’ Nachdruck des Rheini- [Carbonnières, Ramond de:] Verhandlungen der Hel- schen Most von 1904 erwähnt der Autor eine vetischen Gesellschaft in Schinznach, im Jahr 1777. o.O., o. J. – [Ders.:] Les dernières aventures du jeune unveröffentlichte Autobiographie C.s. Bereits d’Olban; fragment des amours Alsaciennes. Yverdon 1909/1910 hat Max Morris Desceltes’ Ausfüh- 1777. – [Ders.:] Elegies. Yverdon 1778. – Dt. Überset- rungen zu C. und dem jungen Goethe als „eine zung: [ders.:] Die letzten Tage des jungen Olban. dreiste Mystifikation“ (Morris [1909/1910], Sp. Nach Dorat von H. (ungedruckt), in: Olla Potrida 1 1632–1635) und ihren Urheber als einen „Fäl- [April] (1778), 14–56. Nachdruck in: Jakob Michael scher“ (Morris [1910/1911], Sp. 687–689) be- Reinhold Lenz u. a.: Jupiter und Schinznach/Ramond de Carbonnières: Die letzten Tage des jungen Olban. zeichnet, er forderte den Verfasser auf seine Mit einem Nachwort hg. v. Matthias Luserke. Hildes- Identität preiszugeben, Desceltes gestand heim u. a. 2001, 35–79. – [Ders.:] La guerre d’Alsace[,] daraufhin seine Fälschung ein (vgl. ebd., Sp. pendant le grand schisme d’occident terminée par la 687, Anm. 1). Die in jener Einleitung erwähnte mort du vaillant comte Hugues surnommé le soldat Autobiographie von C. ist bis heute nicht de Saint Pierre. Drame historique. Basel 1780. Dt. aufgetaucht. Ein Jahr nach der Publikation unter dem Titel [ders.:] Hugo der Siebente, Graf von Egisheim. Ein historisches Drama. Aus dem Franzö- des Rheinischen Most erschien in Frankreich sischen übersetzt. Regensburg 1781. – Lettres de M. ein Text mit dem Titel Une Autobiographie William Coxe, à M.W. Melmoth, sur l’état politique, du Baron Ramond. Bei dieser Autobiographie civil et naturel de la Suisse; traduites de l’anglois, et handelt es sich aber lediglich um einen Brief augmentées des Observations faites dans le même von C. vom 19. 2. 1827, worin er einen lebens- Pays, par le traducteur [Ramond de Carbonnières]. geschichtlichen Abriss bietet, die Straßbur- Paris 1781. – [Ders.:] Reise nach den höchsten fran- zösischen und spanischen Pyrenäen, oder physikali- ger Jahre streift und beiläufig vom „l’original sche, geologische und moralische Beschreibung der Lenz, l’immortel Goethe“ ([Carbonnières:] Pyrenäen, ihrer Höhe, der Gletscher oder Eisberge auf Une Autobiographie 1905, 123; auszugsweiser denselben u.s.f. ihrer Bewohner, deren Geschichte, Wiederabdruck bei Orlando 1960, 135–141; Sitten, Lebensart etc. nebst einer Vergleichung die- vgl. Girdlestone 1968, 8) spricht. ser Gebirge mit den Alpen etc. von Herrn Ramond de Ferdinand Heymach anerkennt C.s lite- Carbonnieres. Als ein Gegenstük zu dessen Beobach- tungen über die Alpen. Aus dem Französischen unter rarhistorisches Verdienst, „zu den frühesten der Aufsicht des Verfassers übersezt. Mit Landcharten Vertretern der neuen Richtung in Frankreich“ und einem Kupfer. 2 Bde. Strasburg 1789 (dem zweiten (Heymach 1887, 4) zu zählen, womit er die Band dieses Textes ist das folgende Werk beigebun- Literatur des SuD meint, bleibt aber in der den: [ders.:] Reise in die französischen Pyrenäen. Als Gesamtbeurteilung skeptisch. Erich Schmidt ein Anhang zu den Reisen des Hrn. Ramond de Car- bonnieres. Aus dem Französischen. Strasburg 1790). – meint, der Dramatiker C. sei „mit Recht längst [Ders.:] Naturel et légitime. O.O. o. J. [1803/1804]. – Les vergessen“ (Schmidt 1879, 121). Diesen Urtei- dernières aventures du jeune d’Olban fragment des len muss aus heutiger Sicht widersprochen amours Alsaciennes. Précédées d’une notice par M. werden. C.s Olban ist ein „immer noch ver- . Nouvelle Edition. Paris 1829. – [Ders.:] kanntes Drama, es gehört zur Literaturge- Une Autobiographie du Baron Ramond, in: Journal schichte des SuD ebenso wie die enge freund- des savants. Nouvelle séri e 3 (1905), 121– 130. – Lett- res inédites de Ramond de Carbonnières à Sarrazin le schaftliche Verbindung, die zwischen C. und Jeune 1783–1792. Note par Henri Beraldi. Bagnères-de- Jakob Michael Reinhold Lenz bestanden hat“ Bigorre 1927. (Luserke 2001, 81). C. gilt es wiederzuentde- Cuvier, G.: Éloge historique de Ramond, lu le 16 Juin cken. 1828, in: ders.: Recueil des Éloges historiques lus dans

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les séances publiques de l’institut de France. Nouvelle Morris, Max: Gotthold Deile, in: Das Literarische Echo édition, Tome troisiéme. Paris 1861, 53–81. 13 [1910/1911], Sp. 687–689. Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander v. Musee Pyreneen 1755–1827. Exposition L.F.E. Ramond. Humboldt. Hg. v. Ludwig Geiger. Mit einer Gravüre, Ausstellungskatalog. Lourdes 1953. die beiden Standbilder in Berlin darstellend. Berlin Orlando, Francesco: L’ di Louis Ramond. Milano 1909. – Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hambur- 1960. ger Ausgabe. 6 Bde. Bd. 1: Briefe der Jahre 1764–1808. Osborne, John: Sehnsucht nach . Bemerkun- Hg. v. Karl Robert Mandelkow. Hamburg 1962–1969. gen zu den Briefen von Louis-François Ramond de Neuausgabe München 1988. Carbonnières an Jakob Michael Reinhold Lenz, in: LJb Gottlieb Konrad Pfeffel’s Fremdenbuch. Mit biogra- 5 (1995), 67–78. phischen und culturgeschichtlichen Erläuterungen. Perels, Christoph: Die Sturm und Drang-Jahre 1770 bis Hg. v. H. Pfannenschmid. Colmar 1892, 35 f. u. 241. 1776 in Straßburg, in: Sturm und Drang. Hg. v. Chris- Lavater, Johann Kaspar: Reisetagebücher. Hg. v. Horst toph Perels. Frankfurt a.M. 1988, 47–62. Weigelt. Teil 2: Reisetagebuch nach Süddeutschland Reboul, Jacques: Un grand précurseur des Roman- 1778, Reisetagebuch in die Westschweiz 1785, Briefta- tiques Ramond (1755–1827). Nice o. J. [ca. 1910]. gebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793. Göttin- Schmidt, Erich: Heinrich Leopold Wagner. Goethes gen 1997. Jugendgenosse. 2. völlig umgearbeitete Auflage. Jena Lenz, Jakob Michael Reinhold: WuB 3, 381 u. 870. 1879. Spach, Louis: Der Naturforscher Ramond de Car- bonnière [!]. o. J. [ca. 1871]. Französische Forschung Fassung: Louis Spach: Ramond de Carbonnière, in: Atkins, Stuart Pratt: The Testament of Werther in ders.: Œuvres Choisies Tome Cinquième: Biographies and Drama. Cambridge 1949, 137 (vgl. dazu Alsaciennes nouvelle Série, Archéologie, Histoire et die quellendokumentarische Arbeit „Lenzens Verrü- Littérature Alsatiques. Paris u. a. 1871, 129–160. ckung“. Chronik und Dokumente zu J.M.R. Lenz von Stöber, August (Hg.): Der Dichter Lenz und Friederi- Herbst 1777 bis Frühjahr 1778. Hg. v. von Burghard cke von Sesenheim. Aus Briefen und gleichzeitigen Dedner, Hubert Gersch u. Ariane Martin. Tübingen Quellen; nebst Gedichten und Anderm von Lenz und 1999). Göthe. Basel 1842, 10. Girdlestone, Cuthbert: Poésie, politique, Pyrénées, Strasburger, Eduard: Die Central-Pyrenäen, in: Deut- Louis-François Ramond (1755–1827), sa vie, son œuvre sche Rundschau 106 (1901), 264–295. littéraire et politique. Paris 1968. Heymach, Ferdinand: Ramond de Carbonnières. Ein Matthias Luserke-Jaqui Beitrag zur Geschichte der Sturm- und Drangperiode, in: Jahresbericht des Fürstlich Waldeckschen Gymna- siums zu Corbach Mengeringhausen 1887, 3–20. Luserke, Matthias: Louis Ramond de Carbonnières Füssli, Johann Heinrich und sein Sturm-und-Drang-Drama Die letzten Tage (in England genannt ) des jungen Olban, in: LJb 4 (1994), 81–100. * 6. 2. 1741 Zürich, † 16. 4. 1825 Putney Hill Luserke, Matthias: Der Lenz-Freund Ramond de Carbonnières, in: ders.: Lenz-Studien. Literaturge- (London) schichte – Werke – Themen. St. Ingbert 2001, 53–81. Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Sohn des Kunstgelehrten, Malers und Rats- Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. schreibers Johann Caspar Füssli, autodidak- Stuttgart 2010, 311–316. tische Arbeiten als Zeichner, Studium der Monglond, André: La Jeunesse de Ramond, in: Chro- Theologie, ordinierter Prediger, musste auf- nique des Lettres Françaises 4 (1926), Nr. 23–24, 561– 704. grund seines Protests gegen einen korrupten Morris, Max: M. Desceltes, in: Das Literarische Echo 12 Landvogt 1763 Zürich verlassen, Aufenthalt [1909/1910], Sp. 1632–1635. in Barth in Vorpommern bei Propst Spalding

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(1714–1804) und in Berlin bei Sulzer (1720– F. trat erstmals in die Öffentlichkeit mit 1779), endgültige Emigration 1764 nach Lon- einer Ode an Meta (1760) und drei Hermann don, wandte sich unter dem Einfluss von Rey- und Thusnelda (1760) gewidmeten Oden. Das nolds der Malerei zu, 1770 bis 1778 in Rom im durch übersteigerte Anhängerschaft hervor- Freundeskreis von Sergel und Abildgaard (ein gerufene Pathos gerät hier zur parodistischen oft behaupteter Kontakt zu J.-L. David ist nicht Überzeichnung, sodass die mit Klopstocks nachweisbar), wo Michelangelo (1475–1564) Dichtung gleichnamige Ode an Meta als Ori- als künstlerisches erkannt wird. Rück- ginalwerk des Messias-Dichters Aufnahme kehr nach London. 1778/1779 in Zürich große in frühe Ausgaben Klopstocks fand. Um 1770 unerwiderte Liebe zu Anna Landolt. Seit 1787 wurde das Vorbild Klopstock innerlich über- Freundschaft mit (1757–1827), wunden. Mit seinem gemeinsam mit Lavater völlige Hinwendung zur Ölmalerei. 1788 verfassten Pamphlet Der ungerechte Land- Heirat mit Sophia Rawlins, 1789 Begegnung vogd oder Klagen eines Patrioten (1763) wurde mit der Frauenrechtlerin Mary Wollstone- F. einer der Vorläufer der sozial anklagenden craft, seit 1790 Mitglied der Royal Academy, Tendenz des SuD. Mit seinem elegischen Text aufgrund des Erfolges seiner Shakespeare Klagen (1763, Titel nach Edward Young [1683– Gallery für Boydell Beginn der Arbeit an der 1765]) stimmte er eine Abschiedssuada auf selbst gestellten Aufgabe einer Milton Gal- das Verlassen des Vaterlandes an, ein frühes lery (bis 1800). 1798 wird Moses Haughton F.s literarisches Dokument der politischen Emi- kongenialer Kupferstecher, 1800 nennt Goe- gration. Mit seinen Beiträgen zu Sulzers All- the F. „einen genialen Manieristen, der sich gemeiner Theorie der schönen Künste (1771), selbst parodiert“, 1801 Professor of Painting etwa dem Artikel über den Burke’schen Zen- der Royal Academy, 1802 Frankreichreise und traltopos Das Erhabene (geschrieben bereits Beginn seiner Vorlesungen, 1804 Keeper der 1763), trug F. entscheidend zur Fixierung äs- Royal Academy, 1805 Herausgabe von Pil- thetischer Grundbegriffe bei. kingtons Dictionary of Painters, 1808 History Der größte Teil seines lyrischen Werkes of Arts in Schools of England, 1810 Wieder- entstand im Exil, wobei die die Emigration wahl als Professor of Painting, 1816 Canova thematisierende Ode an die zurückgelassenen besucht F., 1820 Redaktion der letzten drei Freunde (1765) die Landschaftssymbolik des Vorlesungen der Lectures, 1825 stirbt F. im jungen Goethe vorwegnimmt, so im dichte- Haus der Countess of Guilford und wird in St. risch meisterhaft durchgeführten Motiv vom Paul’s Cathedral beigesetzt. Quell zum Strom, das auch Mahomets Wech- Füssli […] ist in allem extrem“, „sein selgesang (gemeint ist die Schlusspassage der Blick ist Blitz, sein Wort ist Wetter, – sein dramatischen Skizze Mahomet; 1773) prägt, Scherz Tod und seine Rache Hölle“, schrieb bei Goethe aber noch bis zum Sonett Mäch- Lavater an Herder am 4. 11. 1773 (Düntzer tiges Überraschen von etwa 1807 als Leitmotiv 1856, 68). Er begann mit einem vernichte- fortdauerte. ten Trauerspiel und einer Übersetzung des F.s 1765 in London erschienene Überset- Macbeth (1759), die den Übersetzungen Wie- zung von Winckelmanns (1717–1768) Gedan- lands (1762/1766), H.L. Wagners (1779) und ken über die Nachahmung (Reflections on the Bürgers (1784) voranging, aber leider ver- Painting and Sculpture of the Greeks) wurde schollen ist. zunächst kaum zur Kenntnis genommen,

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kann jedoch als früheste Vermittlung Win- ich hoffe Gutes zu tun“ (Füssli an Lavater am ckelmanns in das Englisch sprechende, den 14. 6. 1770, zit. nach Federmann 1927, 148). Klassizismus als Nationalstil adaptierende Der F. künstlerisch prägende Topos von Weltreich gelten. Haar und Qual, das lockt und fesselt, wurde F.s früher, aber auch hier z. T. schon in Adelaides Locken (1779) auch literarisch leicht skeptischer Rousseauismus kommt in gestaltet, wobei er mit diesem Gedicht in ein der Ode an die Geduld (1766) zum Ausdruck, freilich schon degeneriertes, höchst preziö- dem die Remarks on the Writings and Conduct ses Rokoko zurückkehrte. Die Verse regten of J.J. Rousseau (1767) huldigend gewidmet Gerhard Rühm zu Paraphrase und Zeichnun- wurden. Auf seine eigene Rolle als Advocatus gen an (vgl. Rühm 1979). F.s bedeutendstes, patriae gegen den betrügerischen Landvogt unmittelbar ansprechendes, weil ausnahms- Grebel (1714–1787) spielte F. in der Ode an das weise persönliches Ergriffensein preisgeben- Vaterland (1768) und noch in der [Ersten Ode] des Gedicht ist Nannas Auge (1779), das unter An Lavater (1778) an. Erst im Sommer 1769 dem Eindruck der endgültigen Trennung von hatte er durch Bodmers (1698–1783) Chrem- der Geliebten und direkt nach dem letzten hilden Rache (1757) den Nibelungen-Stoff Züricher Aufenthalt entstand. Diese Ode kann kennengelernt, der neben Homer, Shakes- sich durchaus mit Goethes früher Liebeslyrik peare und Milton (1608–1674) eines seiner messen, ihr liegt das 251. Sonett Petrarcas Lebensthemen werden sollte. F. galten vor (1304–1374) zugrunde, das für F.s Dichtungs- allem die ersten drei Akte des Hamlet (1603) verständnis eine besondere Rolle spielt: „Gli und der zweite Gesang von Miltons Paradise occhi, di ch’io parlai si caldamente.“ Lost (1667) als dichterische Paradigmata. F. hat lebenslang in deutscher Spra- Von seinen eigenen Dichtungen hielt er sein che gedichtet, die Entwicklung der Nach- heute verschollenes Gedicht an die Kunst Klopstock-Zeit aber dichterisch nicht mehr (nach 1775) für die beste Leistung. Die beiden mitvollzogen, obwohl er als Maler auch im erhaltenen Oden, die dasselbe Thema haben hohen Alter sogar noch Werke der Romantik (1768/1770 und 1772/1775), repräsentieren of- (etwa Fouqués Undine, 1811) kongenial umge- fenbar zwei Vorstufen hierzu, die den in Rom setzt hat. Als Versform bevorzugte er die al- einsetzenden Paradigmenwechsel von Win- käische Strophe, die stärkere Abweichungen ckelmann (Absage an Correggio [1489–1534] des Satzes beziehungsweise Versfußes vom und Hinwendung zur „stille[n] Majestät und Metrum ermöglicht als die asklepiadeische, Anmut“) zu Michelangelo („und hieß die oder er verwendete das erste archilochische Götter unter Menschen gehn“) deutlich ma- Distichon. Die Formenstrenge, der er sich un- chen. Das Manuskript einer 1769 verfassten terwirft, ist manchmal gepaart mit einer exo- Geschichte der Poesie in Deutschland, die tischen bis kruden Thematik (Chincona, 1767; möglicherweise aufschlussreiche Stellen zum Colombo, 1778), die stark deutungsbedürftig SuD hätte enthalten können, ist leider ver- ist. F. liebte Formen der Verschlüsselung wie brannt etwa die Metapher oder die Antonomasie 1770 erfolgte die endgültige Entscheidung oder Metonymie wie auch die Personifikation. zugunsten der Malerei als Lebensberuf: „Ich Sein Dichten erfolgte oft ex negativo, also aus will ein Mahler seyn, wenn ich kann, weil es vorangehender mehrfacher Verneinung des das stärkste Mittel in meiner Gewalt ist, wie Darzustellenden heraus, die der danach erst

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ausgeführten Berufung oder Benennung des die Entstehung der jungen Kunstwissenschaft poetischen Gegenstandes vorangeht. bleiben. Als Korrespondenzpartner war F. seit F.s bekanntestes Gemälde und seine am seiner Emigration ein im Freundeskreis um stärksten rezipierte Bilderfindung, die auch Bodmer, Lavater, Herder und Merck (1741– auf Werke der Weltliteratur eingewirkt hat, ist 1791) durch Weitergabe seiner Briefe stark The Nightmare (1781). Von Goethe, der noch rezipierter Vordenker, ja geradezu die Ver- 1831 eine Sammlung Schweizer Zeichnungen körperung des neuen Lebensgefühls, dessen F.s für sich erwarb, über Mary Shelleys (1797– Schreiben als Ereignisse erwartet und als Bot- 1851) Roman Frankenstein (1818) bis hin zu schaften wahrgenommen wurden. Auch in- (1809–1849), der das Bild im haltlich sind sie innovativ. Hier z. B. findet The Fall of the House of Usher (1839) mit dem sich zehn Jahre vor Lichtenberg (1742–1799) dort erwähnten F.-Gemälde gemeint zu haben eine erste Darstellung des Mimen David Gar- scheint, regte das Werk, das in mehreren von- rick in deutscher Sprache und hier werden einander abweichenden Kompositionen exis- Winckelmanns Gedanken früh schon als „fri- tiert, die Geister zu immer neuen Deutungen gid ecstasies of German criticism“ (zit. nach an. Die vom Incubus besessene Liegende wird Knowles 1831, 71) erkannt. als eine Verarbeitung oder auch erotische Su- 1792 übernahm F. die Supervision der eng- blimation von F.s großer Liebe zu Anna Lan- lischen Übersetzung von Lavaters ‚Physiog- dolt gedeutet (vgl. Schiff 1973), deren Bildnis nomik‘. Dass F. 1796 die von Blake illustrierte tatsächlich auf der Rückseite der frühesten Ausgabe von Edward Youngs Night Thoughts heute in Detroit (The Institute of Arts) be- (1742–1744) mit einem Vorwort begleitet hat, findlichen Fassung des Nachtmahr erscheint könnte man als späten Abklang seiner Vor- (vgl. Schiff, Nr. 757/759). Allerdings paraphra- liebe für die Literatur jenes neuen Lebens- siert das Bild auch F.s etwa zeitgleiche Sym- gefühls verstehen, dessen Vorläufer Young plegma-Darstellungen, deren Komposition es gewesen war. Als Übersetzer ist F. lebenslang damit salonfähig machte (vgl. Janson 1963). ein Vermittler gewesen. So übertrug er die Es ist auch als Inkunabel eines neuen Lebens- Briefe der Lady Montagu (1763) ins Deutsche, gefühls zu interpretieren, das die Londonerin Dragonettis ethisch-politischen Traktat Delle der middle-class gerade um diese Zeit erst- Virtù e dei Premi (1769), ein Buch, das Becca- mals betraf: Ohnmachts- und Angstzustände rias Verdikt gegen die Todesstrafe vergleich- sind Ausdruck der damals aufkommenden bar ist, und später Klopstocks Dichtungen Zeit- und Zivilisationskrankheit Stress, sei der (1792 im Analytical Review) ins Englische. La- nun durch allzu intensive Vergnügungen be- vaters Vermischte unphysiognomische Regeln dingt oder durch übergroßes Engagement im modifizierte F. als Aphorisms on Man (1788). Familien- und Freundeskreis. In jedem Fall Auch an Cowpers Homer-Übersetzung (1810) stellt The Nightmare ein Novum in der Male- hat er sich helfend beteiligt. rei um 1780 dar: Ein nicht mehr mythologisch Geistig nicht mehr dem SuD zuzurechnen oder christlich-ikonographisches inneres Er- sind F.s kunsthistorische Veröffentlichun- leben aus tieferen Schichten der Psyche wird gen, so die Lectures on Painting (1801–1820) zum alleinigen Gegenstand eines Kunstwerks. an der Royal Academy, die wissenschaftsge- Jene Fassung des Gemäldes, die sich heute schichtlich von allergrößter Bedeutung für in Frankfurt a.M. befindet (Freies Deutsches

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Hochstift, 1790/1791, Schiff, Nr. 928), prägt Forschung unsere Vorstellung vom Schaffen F.s als des Antal, Frederick: Fuseli Studies. London 1956. frühesten Meisters ‚Phantastischer Malerei‘. Becker, Christoph (Hg.): Johann Heinrich Füssli – Das verlorene Paradies. Katalog zur Ausstellung in der In dem nur scheinbaren Widerspruch, der Staatsgalerie Stuttgart vom 27. September 1997 bis erste phantastische Maler der Kunstgeschichte 11. Januar 1998. Stuttgart 1998. im modernen Sinn gewesen zu sein, zugleich Deuter, Jörg: Gert Schiff. Von Füssli zu Picasso. Bio- aber dem aufkommenden Okkultismus ableh- graphie einer Kunsthistoriker-Generation. Hamburg nend gegenüber gestanden zu haben, wird F.s 2013. Selbstverständnis beispielhaft greifbar. Dieses Herrmann, Sabine: Die natürliche Ursprache in der Kunst um 1800. Praxis und Theorie der Physiognomik äußerte sich auch im Festhalten an metrischer bei Füssli und Lavater. Frankfurt a.M. 1994. Strenge und klassischer Form, als diese längst Hofmann, Werner (Hg.): Johann Heinrich Füssli. 1741– außer Kurs gesetzt worden waren, in denen er 1825. Kunst um 1800. München 1974. gleichwohl höchst aktuelle Themen, zuweilen Janson, Horst Woldemar: Fuesli’s Nightmare, in: Arts sogar eine neue, so im Deutschen bis dahin and Sciences II (1). Spring 1963. nicht gestaltete Gefühlslage (Nannas Auge) Killy 4, 62. Lentzsch, Franziska (Hg.): Füssli. The Wild Swiss. ausdrücken konnte. Zürich 2005. Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Werke Stuttgart 2010, 51 ff. Füssli, Johann Heinrich: The Life and Writings of Schiff, Gert: Johann Heinrich Füssli. Ein Sommer- Henry Fuseli Esq.: M.A. R.A. 3 Bde. Hg. v. Johan Know- nachtstraum. Stuttgart 1961. les. London 1831. – Federmann, Arnold: J.H. Füssli. Schiff, Gert: Johann Heinrich Füsslis Milton-Galerie. Dichter und Maler 1741–1825. Zürich u. a. 1927 [Mit Zürich u. a. 1961. Erstdrucken von Briefen und 17 Gedichten]. – Know- Schiff, Gert: Johann Heinrich Füssli 1741–1825. Œuv- les, John: The Life and Writings of Henry Fuseli. Vol. rekataloge Schweizer Künstler. Hg. vom Schweizeri- II. London 1831. – Heinrich Füssli. Aphorismen über schen Institut für Kunstwissenschaft. 2 Bde. Zürich die Kunst. Hg. v. Eudo C. Mason. Basel 1944. – Hein- u. a. 1973. rich Füssli: Briefe. Hg. v. Walter Muschg. Basel 1942. – Schnorf, Hans: Sturm und Drang in der Schweiz. Zü- The Mind of Henry Fuseli. Hg. v. Eudo C. Mason. Lon- rich 1914. don 1951. – Unveröffentlichte Gedichte von Johann Vogel, Gerd-Helge: Aufklärung in Barth. Zur 250. Wie- Heinrich Füssli. Hg. v. Eudo C. Mason. Zürich 1951. – derkehr des helvetisch-deutschen Dialogs zwischen Sämtliche Gedichte. Hg. v. Martin Bircher u. Karl S. Johann Joachim Spalding, Johann Caspar Lavater, Guthke. Zürich 1973. – The Collected English Letters Johann Heinrich Füßli und Felix Heß in Barth in den of Henry Fuseli. Hg. v. David H. Weinglass. New York Jahren 1763/1764. Kiel 2014. u. a. 1982. – Bungarten, Gisela: Johann Heinrich Füss- Weinglass, David H.: Henry Fuseli. Prints and Engra- lis Lectures on Painting. Das Modell der Antike und ved Illustrations by and after H.F. London 1994. die moderne Nachahmung. 2 Bde. Berlin 2005. Herder, Johann Gottfried: Aus Herder’s Nachlass. Jörg Deuter Ungedruckte Briefe von Herder und dessen Gattin, Goethe, Schiller, Klopstock, Lenz, , Clau- dius, Lavater, Jacobi und anderen bedeutenden Zeit- genossen. Hg. v. Heinrich Düntzer. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1856. Rühm, Gerhard: Adelaides Locken. Illustrationen u. Nachwort zu einem Gedicht von J.H.F. Köln u. a. 1979.

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Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von nicht nur zu Christian Fürchtegott Gellert * 3. 1. 1737 Tondern (dän. Tønder), † 1. 11. 1823 (1715–1769), sondern auch zu Christian Weiße Altona (1726–1804), auf dessen Empfehlung seine erste Gedichtsammlung, die im Stil eines Gerstenberg war ein vielseitiger Autor, der empfindsam angehauchten Rokokos ver- vor allem wegen seiner Versuche, eine an fassten Tändeleyen, erschien. Im gleichen der Genieästhetik und an einer positiven Jahr, 1759, erschienen seine Prosaischen Ge- Shakespeare-Rezeption orientierte antiklas- dichte, die unter dem Einfluss von Gessners sizistische, ‚nordische‘ Kultur aufzubauen, (1730–1788) Idyllen (1756) standen. Sein Jura- als Wegbereiter des SuD im engeren Sinn gilt. Studium brach er früh ab; 1760 trat er in die Seine aktive Beteiligung an verschiedenen li- dänische Armee ein, wo er bald Fähnrich bei terarischen Strömungen in der zweiten Hälfte der Kavallerie wurde. So konnte er neben dem des 18. Jh.s – Rokoko, Empfindsamkeit, Auf- militärischen Dienst, der ihn finanziell absi- klärung – hat es einer epochengeschichtlich cherte, seine Karriere als Schriftsteller und orientierten Literaturgeschichte schwer ge- Kritiker weiterführen. In den folgenden fünf macht, seine Leistung in ihrer zeittypischen Jahren schrieb G. regelmäßig Rezensionen für Individualität zu begreifen und ihn nicht bloß Weißes Neue Bibliothek der schönen Wissen- als Übergangsfigur einzuordnen (vgl. z. B. schaften und freyen Künste (1765–1806) und Wagner 1920–1924). Die neuere Forschung vertiefte sich in das Studium der englischen versucht, seine geschichtliche Bedeutung Sprache und Literatur sowie der nordischen gerade dadurch herauszuarbeiten, dass sie Mythologie. Zusammen mit Schmidt gab er seine Leistung nicht auf geistesgeschichtli- eine moralische Wochenschrift, Der Hypo- che Etikette reduziert (vgl. Guthke 1959; Gerth chondrist (1762), heraus, er übersetzte den 1977; Gerecke 2002). Essai sur les grandes opérations de la guerre G.s Familie gehörte zur Deutsch sprechen- (1763) von d’Espagnac (1713–1783) und schrieb den und an der deutschen Kultur orientierten unter dem Namen Ohle Madsen ein Lehrbuch Oberschicht des dänischen Gesamtstaats. für die Kavallerie, das an alle dänischen Re- Schon auf der Schule in Husum und Altona gimente verteilt wurde. Nach dem Feldzug zeigte G. sein Interesse für Literatur und gegen Russland erschienen 1762 seine Kriegs- Ästhetik sowie für eine nordische (d. h. dä- lieder eines Königlich Dänischen Grenadiers, nisch-deutsch-englisch-schottisch-keltisch- die sich an die Preußischen Kriegslieder (1758) bardische, eben antiabsolutistische) Kultur. Gleims (1719–1803) anlehnten. Eine Ode aus dieser Zeit heißt Von der Freu- 1765 heiratete G. Sophie Trochmann digkeit der alten Celten zu sterben (1754). Ab (1744–1785) und zog nach Kopenhagen, wo er 1757 studierte G. Jura in Jena, aber sein Haupt- am regen kulturellen Leben im musikbegeis- interesse galt der Literatur und er wurde Mit- terten Kreis um Bernstorff (1712–1772) und glied der im Geiste Gottscheds (1700–1766) auch in jenem um Klopstock aktiv teilnahm. gegründeten Deutschen Gesellschaft, wo er Zu seinem Freundes- und weiteren Bekann- die Bekanntschaft von Johann Jakob Dusch tenkreis gehörten außer Klopstock auch J.A. (1725–1787), Matthias Claudius (1740–1815) Cramer (1723–1788), J.E. Schlegel (1719–1749), und Jakob Friedrich Schmidt (1730–1796) die Grafen Stolberg (1748–1821; 1750–1819) machte. Über Schmidt gewann er Kontakt sowie Gellert, Gleim, Lessing (1729–1781),

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Herder, Goethe, Carl Philipp Emanuel Bach vilen Dienst überwechseln, wo er seine wach- (1714–1788) und (1735– sende Familie (fünf Söhne und drei Töchter) 1782). G. schien eine glänzende Karriere vor mit einem Viertel des Einkommens, das er sich zu haben und diese erfolgreich mit sei- hätte erwarten können, versorgen musste. Die ner beträchtlichen Tätigkeit als Mitglied der zweite Hälfte seines Lebens stand im Schat- dänisch-deutschen literarischen Intelligenz ten von ständigen Schulden, und 1783 fand verbinden zu können. Er gab die dänische er sich sogar gezwungen, sein Amt zu ver- Zeitschrift Sorøske Samling heraus, aber von kaufen. Unbekannt ist, inwiefern Probleme größerer literarhistorischer Bedeutung waren psychologischer Natur zu G.s Isolation in der die Herausgabe seiner Übersetzung von The kulturellen Welt und sogar in der eigenen Fa- Maid’s (1765) von Beaumont und milie beigetragen haben (vgl. Duncan 1978; Fletcher, seine Rezensionen für die Hambur- Schmidt 1979). Als er mit Minona oder die gische Neue Zeitung und die in der großen Angelsachsen 1785, fast zwanzig Jahre nach Mehrheit von ihm stammenden Briefe über Ugolino, wieder das literarische Feld betrat, Merkwürdigkeiten der Litteratur (1766/1767– musste dieses bardische Melodram überholt 1770). So entwickelte G. in der zweiten Hälfte erscheinen. Im selben Jahr starb seine Frau, der 1760er Jahre zwar nicht systematisch, und er zog nach Eutin, wo er nahen Kontakt aber eindeutig eine vor allem an Homer, an zu Johann Heinrich Voß (1751–1826) hatte. Shakespeare (1564–1616) und an der nordi- 1789 erhielt er endlich eine Pfründe in der schen Volkskultur orientierte Ästhetik, die Justizdirektion der Altonaischen Zahlenlotte- sich gegen überhistorische, klassizistische rie. Normen wandte, weil sie die Bedeutung vom In seinen späteren Jahren trat G. jedoch historischen Kontext und von der Schöpfer- wieder an die Öffentlichkeit. 1796, als er in kraft des Genies ignorieren würden. In diese zweiter Ehe mit Sophie Ophelia Stemann Zeit fallen auch weitere Gedichte wie etwa das (1761–1852) verheiratet war, hatte er sich der bardische Gedicht eines Skalden und seine Philosophie zugewandt. Er versuchte, die bekannteste literarische Arbeit, die Tragödie Ideen Kants (1724–1804) breiteren Kreisen Ugolino (1768), die in einer Weise, die für G. zugänglich zu machen, und durch Arbeiten typisch ist, einerseits klassizistische Form- wie seine Theorie der Kategorieen (1795) ge- elemente verwendet, sie aber andererseits wann er eine Anerkennung, die über die Ver- so unterwandert, dass man darin „das erste mittlung von F.H. Jacobi 1808 zu seiner Mit- Geniedrama des Sturm und Drang“ hat sehen gliedschaft in der Münchener Akademie der wollen (Stein 1973, 105; dagegen Luserke 2010, Wissenschaften und 1815 zu einem Ehrendok- 50). torat in Kiel führte. Trotzdem war G. als litera- Nach diesen Erfolgen scheint sich G. von rische Präsenz in Vergessenheit geraten, und der Literatur abgewandt zu haben, und zwar die Summierung seines Lebenswerks in den aus Gründen, die nach fast 250 Jahren schwer Vermischten Schriften (1815–1816), die Texte zu rekonstruieren sind. Geldsorgen scheinen aus allen Epochen seines Lebens enthielten, eine Rolle gespielt zu haben und diese hingen hatte kaum Resonanz. wiederum mit einer Änderung im politischen Klima zusammen, die auf den Tod von König Friedrich V. 1766 folgte. 1771 musste G. zum zi-

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Werke Killy 4, 193–195. Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von: Tändeleyen. Kosch 6, 273–274. Leipzig 1759a. – Prosaische Gedichte. Altona 1759b. – Lorenzen, Käte: Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von, Die Braut, eine Tragödie, von Beaumont und Fletcher. in: NDB 6 (1964), 325–326. Kopenhagen u. a. 1765. – Gedicht eines Skalden. Ko- Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – penhagen u. a. 1766. – Briefe über Merkwürdigkeiten Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. der Litteratur. Erste Sammlung, Zweyte Sammlung, Stuttgart 2010. Dritte Sammlung. Leipzig 1766–1767. – Ugolino, eine Schmidt, Henry J.: The Language of Confinement: Tragödie, in fünf Aufzügen. Hamburg u. a. 1768. – Gerstenberg’s Ugolino and Klinger’s Sturm und Drang, Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur. Der Fort- in: Lessing Yearbook 11 (1979), 165–197. setzung erstes Stück. Hamburg u. a. 1770. – Minona Stein, Gerd: Genialität als Resignation bei Gersten- oder die Angelsachsen. Hamburg 1785. – Gerstenbergs berg, in: Literatur der bürgerlichen Emanzipation im vermischte Schriften von ihm selbst gesammelt. 3 18. Jahrhundert. Hg. v. Gert Mattenklott u. Klaus R. Bde. Altona 1815–1816. – H.W. v. Gerstenbergs Rezensi- Scherpe. Kronberg i.Ts. 1973, 105–110. onen in der Hamburgischen neuen Zeitung, 1767–1771. Wagner, Albert Malte: Heinrich Wilhelm von Gers- Hg. v. O. Fischer. Berlin 1904. – Tändeleyen. Hg. v. tenberg und der Sturm und Drang. 2 Bde. Heidelberg Alfred Anger. Stuttgart 1966. – Ugolino, eine Tragödie 1920–1924. in fünf Aufzügen. Hg. v. Christoph Siegrist. Stuttgart 1966. – Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur: David Hill Drei Sammlungen und Fortsetzung in einem Band. Hildesheim u. a. 1971. Goethe, Johann Wolfgang Forschung (seit 1782: von) Anger, Alfred: Nachwort, in: Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Tändeleyen. Hg. v. Alfred Anger. Stutt- * 28. 8. 1749 Frankfurt a.M., † 22. 3. 1832 Wei- gart 1966, 1–19. mar Duncan, Bruce: „Ich platze!“ Gerstenberg’s Ugolino and the Mid-Life Crisis, in: Germanic Review 53 (1978), Alle Goethe-Biografien folgen, ob sie wollen 13–19. oder nicht, den von G. ausgelegten Spuren, Gerecke, Anne-Bitt: Transkulturalität als literarisches der mit einer lückenlosen Dokumentation Programm: Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Poe- tik und Poesie. Göttingen 2002. jeder kleinsten Lebensäußerung und einer Gerth, Klaus: Studien zu Gerstenbergs Poetik: ein mittlerweile mehr als 250-jährigen phänome- Beitrag zur Umschichtung der ästhetischen und poe- nalen Wirkungsgeschichte aufwarten kann. tischen Grundbegriffe im 18. Jahrhundert. Göttingen Sie tappen dabei manchmal in die Falle 1960. einer Selbststilisierung, das eigene Leben Gerth, Klaus: Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, in: als Kunstwerk, als die Geschichte einer in- Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Benno von Wiese. Berlin 1977, 393–411. neren Entwicklung beschreiben zu wollen, Goedeke 4.1, 188–190. gleichsam vom Ende her die lebensweltliche Guthke, Karl S.: Gerstenberg und die Shakespearedeu- Biografie mit der Werkgeschichte unauflös- tung der deutschen Klassik und Romantik, in: Journal bar zu verflechten und sie als „Bruchstücke of English and Germanic Philology 58 (1959), 91–108. einer großen Konfession“ zu interpretieren, Jørgensen, Sven-Aage: „… vom dänischen Ende wie dies G. selbst im 7. Buch von Dichtung und Deutschlands“: Gerstenberg zwischen Klopstock und Herder, in: Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen – Wahrheit (1811–1833) formuliert hat. Dabei Kiel – Altona. Hg. v. Klaus Bohnen u. Sven-Aage Jør- ist nichts ganz so, wie es scheint, wie es G. gensen. Tübingen 1992, 145–160. in seinem monumentalen Autobiografiepro-

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jekt angelegt hat, das schon im Titel mit der in Frankfurt (September 1769 bis März 1770). fragwürdigen Wahrhaftigkeit einer solchen Die in Leipzig gemachten Erfahrungen gehen Selbstdarstellung spielt. Dort hat G. seine Ge- nicht verloren, sondern bleiben gespeichert. burt in anmaßender Bescheidenheit in eine Feindbilder (der Literaturpapst Gottsched hochdramatische Himmelskonstellation ein- [1700–1766] und sein überholtes Poesiever- gerückt, die eine traumatische Situation als ständnis), Lieb- und Freundschaften (Käth- Fast-Totgeburt kaum verschleiert. Der einzige chen Schönkopf, Behrisch) sowie Bildungs- Sohn wird in eine Familienkonstellation ge- begegnungen (Zeichenunterricht bei Oeser) worfen, die zeitrepräsentativ und zugleich grundieren diese tastenden Versuche; die hochgradig problematisch ist. Zunächst wäre die Anakreontik aufnehmende und zugleich von einem Vater (1710–1782) zu sprechen, schon überwindende Lyrik des Anette-Zyklus der vom Sohn als hartherzig, autoritär und (1767), das Schäferspiel Die Laune des Verlieb- zugleich als lebenslang gültiges Richtmaß ten (1767/1768) und die Farce Die Mitschuldi- wahrgenommen wird, der sich ein städti- gen (1768/1769) sind die ersten Früchte. sches Amt (‚Kaiserlicher Rat‘) erkauft hat und Der zweite Anlauf mit dem Studienort durch Einheirat in das Frankfurter Patriziat Straßburg öffnet seit April 1770 die Wege für mit einer Familie verbunden ist, der er sich den G. des SuD. Der Gegensatz der Studien- zeitlebens zu beweisen hat. Da ist die Mutter orte konnte kaum größer sein: Dort das tradi- (1731–1808), durch ihr Herkommen aus einer tionelle, deutsch-biedere, zugleich modisch- Familie mit einem Namen verbunden, der auf galante Leipzig, hier eine zu Frankreich ge- den Beruf des Sohnes als Textfabrikant vor- hörige, jedoch rechtlich halbautonome und auszuweisen scheint (‚Textor‘), die zunächst übernational ausgerichtete Universität mit nach den Erfordernissen der Zeit innerhalb dem Schwerpunkt auf den Naturwissenschaf- des Haushalts ganz zurücktritt und erst nach ten. Hier traf sich ein Kreis von Studenten dem frühen Tod ihres Gatten als „Frau Aja“ in sogenannten Tischgesellschaften, deren und als poetische Matrone ein eigenes Ge- Namen später und in rezeptionsgeschicht- sicht und literaturgeschichtliche Bedeutung licher Verdichtung auf dem Turm des Straß- erhält. Dazu tritt die jüngere Schwester Cor- burger Münsters eingeritzt wurden; sie sollten nelia (1750–1777), zu der G. eine enge Bindung den Kern des Straßburger SuD ausmachen, hat, ihrer Heirat und ihrem Wegzug mit gro- auch wenn einige Namen fehlen: C. u. F. Co- ßer Skepsis begegnet, ihren frühen Tod nur mites de Stolberg, G., Schlosser, Kaufmann, schwer erträgt, diese Verwundung jedoch mit Ziegler, Lenz, Wagner, v. Lindau, Herder, La- aller Macht zu verschleiern versucht. vater, Pfenninger, Haffelin, Blessig, Stolz, Nach seinem Hausunterricht durch den Tobler, Roederer, Bassavant, Kayser, Ehrmann, Vater gerät der Studienbeginn G.s im ange- M.M. Engel 1776. sagten Leipzig zum Debakel (Studienbeginn Besonders prägend für G. war die Be- im Oktober 1765). Der Ausbruch des blasier- kanntschaft Johann Gottfried Herders, der ten Jünglings aus bestem Elternhaus mün- sich von September 1770 bis April 1771 wegen det in die Rolle des Enfant terrible, der alles einer Augenoperation in Straßburg aufhielt. tut, außer Jura zu studieren. Er endet spekta- In ihm fand G. einen an Jahren kaum älteren kulär mit einem körperlichen Zusammen- Freund und Mentor, der schon eine gewisse bruch und der Rückkehr zur Rekonvaleszenz Bekanntheit aufweisen konnte und neue Wel-

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ten eröffnete: die europäische Literatur Ho- einem ‚Friederike-Roman‘ aus, in dem lebens- mers, Shakespeares (1564–1616) und , weltliche Erinnerungen und lyrische Produk- bildende Kunst und Architektur, , tion zu einem unauflösbaren Gespinst zusam- Sprachgeschichte und Philosophie. In Erwin menwuchsen (vgl. Sesenheimer Lieder). In von Steinbach (um 1244–1318), dem (angeb- Dichtung und Wahrheit hat G. diese Episode lichen) Erbauer des Straßburger Münsters, seines Lebens zum Paradigma seines Schaf- erspürte G. einen mittelalterlichen Vorläufer fens während der SuD-Zeit stilisiert. seinesgleichen, der Originalgenie und kern- G.s Straßburger Aufenthalt verdanken, deutsch zugleich gewesen sein sollte; G.s auch wenn sie erst nachträglich verfasst wur- überschwängliche Flugschrift Von deutscher den, zahlreiche Texte ihre Entstehung: die Baukunst (1772) publizierte Herder in sei- Rede Zum Schäkespears Tag, die Geschichte ner Sammlung Von Deutscher Art und Kunst Gottfriedens von Berlichingen dramatisiert (1773). (1771), Von deutscher Baukunst, die Hymne Seit Juni 1771 entwickelte sich zwischen Wandrers Sturmlied (1771) sowie die Farce G. und Jakob Michael Reinhold Lenz eine Götter, Helden und Wieland (1774). Als G. im enge, später problematische Freundschaft. August 1771 sein Studium mit der Promotion Im Zeichen Shakespeares überschnitten sich zum Lizentiaten abschloss und nach Frank- bald ihre Interessen so stark, dass für Au- furt zurückkehrte, hinterließ er mehr als eine ßenstehende die Grenzen zwischen G. (Zum Lücke. blieb lebenslang un- Schäkespears Tag, 1771) und Lenz’ Anmerkun- verheiratet, der sich immer genialischer ge- gen übers Theater (1774) ununterscheidbar bärdende Lenz hatte seinen zentralen Ori- waren, zumal die beiden ihre Schriften ge- entierungspunkt verloren, Herder ergriff die genseitig zum Druck beförderten und sich am Geistlichenlaufbahn in Bückeburg; im Grunde gemeinsamen Feindbild Wieland (1733–1813) fand der SuD-Abschnitt der Straßburger Zeit rieben. Die Spannungen zwischen beiden damit sein Ende. nahmen zu, als Lenz sich immer mehr an G. Seine Zulassung als Rechtsanwalt in als seiner Leitfigur orientierte; als Lenz den Frankfurt Ende August 1771 verstand G. nicht nach Weimar berufenen G. 1776 besuchte, als den Beginn einer geregelten Berufstätig- kam es zum Eklat; „Lenzens Eseley“ (G.s keit, sondern betrachtete dies eher als Deck- Tagebuch vom 26. 11. 1776) besiegelte den mantel für seine literarischen Ambitionen. endgültigen Bruch. In seinen autobiografi- Er legte Wert darauf, dass die Kanzleitätig- schen Rückblicken in Dichtung und Wahrheit keit „wohl in Nebenstunden bestritten wer- charakterisierte G. Lenz als eine pathologi- den kann“, wie er in einem Brief vom 28. 11. sche und moralisch fragwürdige Figur. 1771 an Johann Daniel Salzmann (1722–1812), Bei seinen Ausflügen ins elsässische den Mittelpunkt des alten Straßburger SuD- Dörfchen Sesenheim im Oktober 1770 stieß Kreises, schrieb. Zu diesem Zeitpunkt hatte er G. erstmals auf die Pfarrerstochter Friederike sich schon längst in einen neuen Kreis emp- Brion (1752–1813), für die er eine Reihe Lieder findsamer Geister in Darmstadt eingegliedert: schrieb, die zu seinen bekanntesten zählen, G.s späterer Schwager Johann Georg Schlos- wie Mailied (1775) oder das erst später so be- ser und Herders Braut Caroline Flachsland titelte Willkomm und Abschied (1771). Die sich (1750–1809) gehören dazu, Johann Heinrich anbahnende Liebesgeschichte weitete sich zu Merck (1741–1791) war ihr Mittelpunkt. Von

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Januar 1772 bis 1775 arbeitete G. als Rezensent richtig gedeutet und als Chance genutzt habe. an den von Merck herausgegebenen Frank- Ein Perspektivenwechsel kann dieses Ver- furter gelehrten Anzeigen mit, die sich wegen halten allerdings auch als Rücksichtslosig- ihres unakademisch-frechen Tonfalls schon keit deuten, die nicht selten zum Abbruch bald einen Namen machten. alter und sehr vertrauter Beziehungen geführt Von Mai bis September 1772 war G. dann hat. Es gibt so gut wie keine lebenslangen als Praktikant am Reichskammergericht in Freundschaften G.s, sondern nur solche, die Wetzlar tätig. Die Bekanntschaft mit (der für Etappen mit wechselnden Personenkon- schon verlobten) Charlotte Buff (1753–1828), stellationen gültig sind. G. hat den Abbruch der Selbstmord des dort beschäftigten Ge- solcher Beziehungen, ihr Erkalten oder die sandtschaftssekretärs Karl Wilhelm Entfremdung zu nahestehenden Personen aus Liebeskummer, aber auch eine spätere immer mit seiner inneren Weiterentwicklung romanzenhafte Beziehung mit Maximiliane im Sinn einer fortschreitenden Verbesserung (1756–1793), der (ebenfalls schon verlobten) gerechtfertigt, der die jeweils anderen nicht Tochter Sophie von La Roches (1730–1807) zu folgen vermochten. sind bekanntlich, zusammen mit vielen li- Noch vor dem Werther entstanden neben terarischen Einsprengseln und spiegelnden vielen kleineren Arbeiten das Jahrmarkts- Selbstbezugnahmen, in den sensationellen fest zu Plundersweilern (1773), das Singspiel Erfolgsroman Die Leiden des jungen Werthers Erwin und Elmire (1775), Szenen des Urfaust (1774) eingegangen, ohne dass der Roman (E: 1773/1775, D: 1887) sowie die Hymnen sich eindeutig auf solch autobiografisches (E: vermutlich 1773, D: 1785) und Material reduzieren lässt. G., das übersehen Mahomet (1773). Mit der Überarbeitung der psychologische Deutungsversuche meistens, Geschichte Gottfriedens von Berlichingen zum wandelte dennoch mit seinem Werther auf shakespearisierenden Drama Götz von Ber- einem schmalen Grat zwischen einem Sich- lichingen erregte G. 1773 erstmals größeres fangen und dem Zerschellen. Die Gegenfigur Aufsehen, auch wenn das Stück mit 57 Sze- zu dem sich selbst auffangenden Autor des nenwechseln so nicht aufführbar war. Das Werthers bildete unausgesprochen Lenz, der Trauerspiel Clavigo (1774), das während der in seiner überidentifizierenden Verwischung Arbeit am Werther in kurzer Zeit aufgrund von Wirklichkeit und Textproduktion ge- einer Wette entstand, war von Anfang an ein scheitert war. Bis in die Zeit seines Altersrück- Bühnenerfolg, auch wenn G.s mephistophe- blicks lieferte Werther für G. gleichsam das lischer Freund Merck es als „Quark“ abkan- Rezept, wie offene Wunden im und durch ein zelte: „das können die andern auch“. (DuW, Werk geschlossen werden können. Nicht nur 15. Buch) Der durch Götz und Werther so als Reaktion auf das Werther-Fieber des Ro- schnell zu Ruhm gekommene jugendliche manerfolgs setzte er der zweiten Auflage die Autor wurde schnell zur touristischen Attrak- Ermahnung als Motto voran: „Sei ein Mann tion. Wer immer durch Frankfurt reiste, wollte und folge mir nicht nach“. dem berühmten Dichter seine Aufwartung ma- Im Rückblick auf sein Leben hat sich G. chen, so auch Carl Ludwig von Knebel (1744– immer als Sonnenkind des Schicksals darge- 1834), der im Dezember 1774 den Erbprinzen stellt, weil er an allen Wegmarken der Ent- Karl August von Sachsen-Weimar (1757–1828) scheidung an ihn herankommende Impulse auf dessen Bildungsreise nach Frankreich

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begleitete. Der kurz vor der Volljährigkeit ste- Lili Schönemann umschwärmt, während der hende Prinz und der Erfolgsautor verstanden eifersüchtige G., wie sein selbstironisches sich auf Anhieb; 1775 wird der inzwischen re- Gedicht Lilis Parck (1775) zeigt, sich als Tanz- gierende Herzog G. nach Weimar einladen. Mit bär vorkommt. Die erste Schweizreise, die G. seiner Übersiedelung nach Weimar im Herbst im Sommer 1775 mit den Grafen Stolberg in 1775 wird aus dem SuD-Dichter ein Verwal- Werther-Kostümen unternimmt, um auszu- tungsbeamter und Staatsmann. G. hat diesen probieren, ob er „Lili entbehren könne“ (DuW, Schritt selbst als tiefen Einschnitt empfun- 18. Buch), bindet das Biografische wieder an den, den Bruch mit seiner Vergangenheit und Texte zurück. Denn werkgeschichtlich brin- einer vorhersehbaren Zukunft als bürgerlicher gen sowohl diese Reise als auch die zwischen Berufsschriftsteller lange verzögert und jedes Anziehung und Trennung schwankende Lie- Wenn und Aber gründlich durchdacht; sein besbeziehung die Lili-Lieder hervor, in denen Brief an den Freund Merck vom 22. 1. 1776 ist noch einmal die Spannungen der SuD-Zeit auch deshalb berühmt geworden:„Ich bin nun aufleben, am präzisesten formuliert in dem ganz in alle Hof- und politische Händel verwi- Gedicht Neue Liebe, Neues Leben (1775). Auch ckelt und werde fast nicht wieder weg können. Stella (1776) mit dem Untertitel Schauspiel für Meine Lage ist vortheilhaft genug, und die Liebende darf man nicht nur als ausgekostete Herzogthümer Weimar und Eisenach immer Männerfantasie lesen; die Möglichkeit der ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem Ehe eines Mannes mit zwei Frauen enthält, die Weltrolle zu Gesichte stünde. Ich übereile nur in der Geschlechterordnung umgekehrt mich drum nicht, und Freiheit und Gnüge und gesteigert, dieselbe Spannung eines werden die Hauptconditionen der neuen Ein- Entscheidungskonflikts wie die Lili-Lieder. richtung seyn, ob ich gleich mehr als jemals In Stella wird dieser Konflikt geradezu spie- am Platz bin, das durchaus Scheisige dieser lerisch aufgelöst. In seiner Zweitfassung von zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen. Eben 1806 hat G. daran nicht mehr geglaubt und drum Adieu!“ daraus ein Trauerspiel gemacht. Die Frankfurter Bankierstochter Lili Nach Weimar kommen erst Lenz, dann Schönemann (1758–1817), die G. an der Jahres- Klinger zu Besuch, doch entsteht kein dem wende 1774/1775 kennengelernt hatte, mit der SuD vergleichbarer Freundeskreis mehr. Der er sich im April 1775 verlobte und diese Verlo- Minister G. hat sich in den Augen der Besucher bung im Herbst wieder löste, markiert sowohl drastisch verändert, sie ziehen enttäuscht, ein lebens- als auch ein werkgeschichtliches entmutigt oder verprellt ab. Auch Herder, Intermezzo vor dem Aufbruch nach Weimar. der seine Berufung nach Weimar als Ge- Lebensgeschichtlich zeichnet die Verlobung neralsuperintendent immerhin G. verdankte, G. vor, was er zukünftig zu erwarten hat: eine musste mit Erstaunen vermerken, dass aus der angesehensten Familien Frankfurts zu seinem Straßburger Freund und Schüler ein gründen, später städtische Führungspositio- distanzierter Hofmann geworden war. Für G. nen zu übernehmen, dabei finanziell höchst galt der SuD offenbar als eine überwundene komfortabel abgesichert zu sein. Für G. war Episode, auch wenn diese Epoche noch nicht diese Vorschau offenbar eine Furcht einflö- zu Ende war. ßende Perspektive. In der kurzen Verlobungs- Das Weimarer Jahrzehnt zwischen G.s zeit wird die verwöhnte und oberflächliche Übersiedelung aus Frankfurt und der angeb-

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lich überstürzt angetretenen italienischen Forschung Reise, von der er als Klassiker zurückkehrt, Borchmeyer, Dieter: Goethe. Der Zeitbürger. Darm- wird von der Forschung als literarisch wenig stadt 2008. Boyle, Nicholas: Goethe, der Dichter in seiner Zeit. produktiv bezeichnet. Die Erfahrung dieses Bd. 1: 1749–1790. München 1995. Defizits sei einer der Gründe, vielleicht sogar Conrady, Karl Otto: Goethe. Leben und Werk. 2 Bde. der Hauptgrund für den fluchtartigen Auf- Königstein 1982–1985. bruch nach Italien gewesen. Ein genauerer Hammacher, Bernd: Goethe und kein Ende. Die Bio- Blick auf die Werkchronologie zeigt freilich, graphie in der Literaturwissenschaft, in: DU 64 (2012), dass die ersten Weimarer Jahre durchaus 60–71. Killy 4, 196–256. fruchtbar waren, man denke an die Erstfas- Kosch 6, 479–534. sung von Wilhelm Meister als theatralische Luserke, Matthias: Der junge Goethe. „Ich weis nicht Sendung (1776–1786), die warum ich Narr soviel schreibe“. Göttingen 1999. (1777), die Prosafassung von Iphigenie auf Meier, Albert: Goethe. Dichtung – Kunst – Natur. Tauris (1779) und die ersten Entwürfe zum Stuttgart 2011. Künstlerdrama Torquato Tasso (1790). Erst ab Staiger, Emil: Goethe. 3 Bde. Zürich 1952–1959. Steiger, Robert u. Angelika Reimann: Goethes Leben etwa 1781 zeigt sich mit der immer stärkeren von Tag zu Tag. 8 Bde. Zürich 1982–1996. Einbindung G.s in die Staatsverwaltung und Sturm, Marcel: Goethes Weg nach Weimar. Zur Konti- die Geselligkeit der Weimarer Hofgesellschaft nuität und Diskontinuität des Sturm und Drang in den der Rückgang bzw. das Fehlen literarischer Jahren 1770–1790. Frankfurt a.M. 2007. Arbeiten, sieht man einmal von Gefälligkeits- Valentin, Jean-Marie (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. dichtungen wie Die Fischerin (1782) oder El- L’Un, l’Autre et le Tout. Paris 2000. Wiethölter, Waltraud (Hg.): Der junge Goethe. Genese penor (1781–1783) ab. Jetzt scheinen tatsäch- und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen u. a. lich alle Spuren des SuD gelöscht. 2001. Mit Schillers Erscheinen in Weimar, wäh- Witte, Bernd, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Re- rend G. sich noch in Italien aufhält, scheint gine Otto u. Peter Schmidt (Hg.): Goethe-Handbuch. 4 der SuD mit dem Dichter der Räuber (1781) Bde. Stuttgart u. a. 2004. noch einmal und um mehr als ein Jahrzehnt Zimmermann, Rolf Christian: Das Weltbild des jungen Goethe. 2 Bde. München 1979. verspätet hereinzubrechen. Nach seiner Rückkehr und nach langem Zögern – ein ers- Rolf Selbmann tes Zusammentreffen der beiden ist erst für den September 1788 bezeugt – erkennt G. den Irrtum, wie er 1817 in seiner Schrift Glück- Hahn, Ludwig Philipp liches Ereigniß nachträglich festhält. G. und * 22. 3. 1746 Trippstadt, † 25. 2. 1814 Zwei- Schiller sind keine Dichter des SuD mehr. brücken

Werke Ludwig Philipp Hahn ist einer jener Autoren, FA. – MA. – WA. – Zahlreiche Einzelausgaben. – Der der zu den Vergessenen der deutschen Litera- junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in 5 Bdn. Hg. tur gehört; findet er Erwähnung, verwechselt v. Hanna Fischer-Lamberg. Berlin u. a. 1974. – Goethes man ihn häufig mit dem Hainbündler Johann Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bdn. Hg. v. Robert Mandelkow. München 1988. Friedrich Hahn (1753–1779) (vgl. Nehls 1987, 13). H. wurde als fünftes von neun Kindern des Trippstädter Pfarrers Johann Heinrich Hahn

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und dessen Frau Anna Maria Elisabetha, geb. gleichfalls fünf Akte umfassende Tragödie Rheinwald, geboren. Sein Bildungsweg lässt Graf Karl von Adelsberg. Konzeptionell auf- sich nur lückenhaft nachzeichnen, fest steht, fällig ist, dass dem monologlastigen Stück dass H. über Latein- und Hebräischkennt- an zwei Stellen Notenblätter zu abgedruckten nisse verfügte, was auf eine gymnasiale Aus- Liedtexten beigefügt sind (vgl. Hahn 1776b, bildung schließen lässt. 1766 trat H. in den II/3 u. III/1). Thematisch wird die Problematik herzoglichen Verwaltungsdienst der Resi- des individuellen Freiheitsanspruchs in dem denzstadt Zweibrücken ein, führte ab 1773 die Mikrokosmos Ehe durchgespielt. Der gütige, Marstallamtsgeschäfte und war, nach einem aber labile Karl von Adelsberg leidet unter Zwischenspiel als Kirchenverwalter in Lützel- der Kaltblütigkeit und Häme seiner 30 Jahre stein 1778/1779, dort ab 1780 als Rechnungsre- jüngeren Ehefrau Karoline. Das „rasende visor und Rentkammersekretär bis 1794 tätig. Weib“ (III/3) stellt zudem Reichard, dem Ge- Nach dem Einmarsch der Franzosen diente H. richtsschreiber des Grafen, nach. Dieser kann den Besatzern von 1796 bis 1804 als Maire in sich ihren Avancen mit der Zeit nicht mehr Contwig, anschließend hatte er bis zu seinem erwehren. So schwächt jeder weitere Verrat Tod die Stellung des Büroleiters bei der Stadt- durch die Gräfin den Monarchen körperlich präfektur Zweibrücken inne. Am 30. 1. 1777 mehr und er muss resigniert feststellen: „Nie- heiratete H. in Offenbach die Pfarrerstoch- mand meynts gut mit mir. Ich muß zu Grunde ter Charlotte Christina Wahl (1748–1811). Sie gehen!“ (II/4) Er greift damit den nachfolgen- hatten drei Söhne und drei Töchter, eine wei- den Ereignissen vor: Karoline versucht den tere Tochter starb im Alter von einem Jahr. H. inhaftierten Kriminellen Hänsel zu überre- widmete sich im Laufe seines Lebens neben den, im Austausch für seine Freiheit Karl zu seinen Amtsgeschäften den verschiedensten ermorden. Hänsel schreckt zunächst davor Arbeitsbereichen, agierte als Verleger, errich- zurück. Die Pläne der Gräfin werden unter- tete zusammen mit seinem jüngsten Bruder dessen von einem Mitgefangenen belauscht, Johann Philipp die Druckerei Gebrüder Hahn bei seiner Freilassung offenbart dieser Rei- und initiierte als Herausgeber, Schreiber, Re- chard die Intrige, welcher schockiert ausruft: dakteur sowie Unternehmer in Personalunion „Es ist zu unnatürlich, zu unmenschlich! – die überregionale politische Zweibrücker Zei- Ein Weib, ihren zärtlich liebenden, leidenden tung (1786–1788, möglicherweise bis 1794). Gemahl zu ermorden!“ (III/8) Trotz seiner H.s literarische Laufbahn begann 1776. Bedenken wird Reichard dann zum Kolla- Während eines längeren Aufenthaltes in borateur und überredet gemeinsam mit der Ulm lernte er Schubart kennen, dieser feierte Gräfin den zweifelnden Hänsel zu der Tat. In ihn enthusiastisch als neues Mitglied in der der Nacht setzt man den treuen Bediensteten Riege der SuD-Dramatiker, nachdem er H.s des Grafen mit Hilfe von Wein außer Gefecht erstes Stück Der Aufruhr zu Pisa (1776) ge- und Hänsel ersticht Karl. Reichard, der schon lesen hatte. Als anonymer Herausgeber gilt zuvor von seinem Gewissen geplagt wurde, ebenfalls Schubart. Das Trauerspiel in fünf flieht. Karoline dagegen spielt in vollendeter Akten wurde als Vorgeschichte zu Gersten- Weise die Rolle der bestürzten liebenden Ehe- bergs Ugolino (1768) entworfen, dieses diente frau, sodass die aufrichtig gemeinten Worte H. erklärtermaßen als eines der Vorbilder des Bediensteten Schulz zu blanker Ironie (vgl. Hahn 1776a, 4). Im selben Jahr folgte die geraten: „Wer meynts treuer mit einander, als

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Mann und Frau!“ (V/7) Die Wendung im Stück ner literarischen Produktion, das genieästhe- vollzieht sich, als Karolines Onkel Wallrad tische Ideale verfolgt: Stücke voll von „That die Szene betritt und den geflohenen Hänsel und Kraft“ (ebd.), leidenschaftlich getriebene ausliefert. Der tödlich verwundete Mörder ge- Charaktere, Nationalstolz. Zugleich wird der steht das Komplott. Zudem wird der ebenfalls pfälzischen Heimat des Dichters ein Denkmal verletzte Reichard hereingebracht, dieser hat gesetzt, da er in dem Trauerspiel neben sei- sich aus Verzweiflung von einer Schanze ge- nem Geburtsort Trippstadt zahlreiche weitere stürzt. Reichard gesteht ebenfalls und stirbt. Siedlungen und Plätze in der Umgebung als Die herbeigeeilte Gräfin ist nun wirklich er- Szenerien wählt (eine vollständige Auflistung schüttert, sie bittet den toten Grafen um Ver- liefert Dammbrück 2003, 3 f.). Die zeitgenössi- zeihung und ersticht sich mit dem Messer, mit sche Kritik stellte dieses „Ritterstück“ an die dem Hänsel ihren Gemahl ermordete. Seite von Goethes Götz von Berlichingen (1773) Bemerkenswert ist, dass das Trauerspiel (vgl. Werner 1877, 56 f.; Nehls 1987, 31 f.). Alle die SuD-Ansprüche der individuellen Frei- drei von H. verfassten Dramen gelten auf- heit und Emanzipation der Leidenschaften grund ihrer Thematiken und Charaktere als gerade nicht positiv verhandelt. Am Beispiel zeittypische SuD-Dramen. einer „schlimme[n] Frau, die den Teufel im 1779 erschien Siegfried, ein Singschau- Leib hat“ (III/4), wird gezeigt, wohin solche spiel, 1782 das Singspiel Wallrad und Evchen. Bestrebungen führen. Zunächst scheint die 1786 gab H. die Sammlung Lyrische Gedichte Gräfin eher gelangweilt als liebestoll: „Ein heraus, darin enthalten ist die 1776 entstan- bisgen Liebe, ein bisgen Haß, guten Leute! ist dene Ballade Zill und Marte (Margreth), wel- alles, was mich dazu antreibt!“ (IV/1) Dann che den Stoff des Grafen Karl von Adelsberg jedoch offenbart sie ihren wahren Antrieb: erneut aufgreift (zur diesbezüglichen Prob- „Meiner Freyheit, meines Lebens wegen muß lematik der Gattungsbezeichnung Ballade ich dir [Karl] das Deine nehmen“ (V/5). Die vgl. Laufhütte 1979, 364 f.; Nehls 1987, 130 f.). „männliche Seele“ (V/7) der Gräfin birgt ein Daneben verfasste H. Gelegenheits- und Auf- „Ungeheuer“ (V/8), das ihr eigenes sowie drei tragsdichtung, volkstümliche und moralisie- weitere Leben verschlingt. Folgerichtig ist rende Verse sowie Sach- und Fachbücher, die es dann die moralische Instanz des Stückes, er selbst druckte und verlegte. Das zeitge- Wallrad, der die mahnenden letzten Worte ge- nössische Echo auf H. als Literat war sowohl bühren: „So ist, leider, der Mensch beschaf- vonseiten der Kritik als auch der Schriftstel- fen. Seine Leidenschaften erheben ihn in den lerkollegen überwiegend positiv. Bei einem Himmel, und stossen ihn in die Hölle hinab; breiteren Publikum konnten sich seine Werke machen ihn zum Engel, und zum Thier. Wehe jedoch auf Dauer nicht etablieren. So been- dem, der sich ihnen überlässt! […] Erst töd- dete der Zeit seines Lebens von finanziellen tet der Mensch die Tugend, dann sich selbst“ Sorgen geplagte H. um 1786 seine dichteri- (V/8). Das Drama Robert von Hohenecken – sche Laufbahn. „Schlüsseltext zum Selbstverständnis eines Stürmers und Drängers“ (Nehls 1987, 26) – Werke erschien 1778. In der Vorrede zum Stück Hahn, Ludwig Philipp: Der Aufruhr zu Pisa. Ein Trau- (vollständiger Abdruck bei Nehls 1987, 24 f.) erspiel in fünf Aufzügen. Ulm 1776a. – Graf Karl von entwirft H. ein „ästhetisches Programm“ sei- Adelsberg. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Leipzig

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1776b. – Robert von Hohenecken. Ein Trauerspiel. Hamann, Johann Georg Leipzig 1778. – Siegfried. Ein Singschauspiel. Straß- * 27. 8. 1730 Königsberg, † 21. 6. 1788 Münster burg 1779. – Wallrad und Evchen oder die Parfors- jagd. Ein Singspiel. Mit Musik von J.L.F.C. Maier, dem Johann Georg Hamanns Großvater übte ein Jüngern. Dessau 1782. – Sympathien am 30. Tage des Herbstmonats. Zweibrücken 1785. – Lyrische Gedichte Pfarramt aus; wie viele andere Literaten und von L.Ph. Hahn, Herzoglich-Pfalzzweibrückischen Publizisten des mittleren 18. Jh.s entstammte Kammersekretarius und Rechnungsrevisor. Zweibrü- er dem protestantischen Pfarrhaus: Aufgrund cken 1786a. – Lieder, Oden und Gesänge. Zweibrücken des frühen Todes konnten dessen Söhne, H.s 1786b. – Mühlenpraktika oder Unterricht im Mahlen Vater und Onkel, keine akademische Lauf- der Brodfrüchte: für Polizeibeamte, Gewerbsleute und bahn einschlagen; H.s Vater wurde Bader und Hauswirte. Zweibrücken 1790. Wundarzt in Königsberg; sein Onkel trat als Dichter und Schriftsteller in Erscheinung, so Forschung Dammbrück, Wolfgang: Geboren in Trippstadt: Lud- als Autor eines poetischen Lexikons. wig Philipp Hahn (1746–1814), in: Luftkurort Tripp- H. und sein Bruder werden allerdings stadt im Kranz der Wälder 37 (2003), 3–9. sorgfältig auf ein Studium der Theologie vor- Goedeke 6, 679. bereitet, das H. 1746 an der Universität Kö- Killy 4, 470–471. nigsberg aufnimmt. Nach drei Semestern Kosch 7, 143. wechselt er in die juristische Fakultät, wobei Laufhütte, Hartmut: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg sein tatsächliches Studium den ‚schönen Wis- 1979. senschaften‘ – d. h. der älteren und neueren Nehls, Irene: Pfälzer Sturm und Drang: Ludwig Phil- Poesie, der Philologie und der entstehenden ipp Hahn (1746–1814). St. Ingbert 1987. Ästhetik – gilt, die in der philosophischen Fa- Paulus, Rolf: Zwei Briefe Ludwig Philipp Hahns an kultät gelehrt werden. Hierbei eignet er sich Maler Müller in Mannheim. Versuch zur Klärung der neben den üblichen Kenntnissen in Latein, Verwirrung um sechs Briefe und vier Korresponden- zen, nämlich Friedrich Müller, Friedrich Christian Griechisch und Französisch die englische Exeter, Johann Friedrich Hahn und Ludwig Philipp Sprache an, eine zu diesem Zeitpunkt noch Hahn, in: Literaturgeschichte als Profession. Hg. v. ungewöhnliche Befähigung, die ihm erlaubt, Hartmut Laufhütte. Tübingen 1993, 127–144. britische Literatur und Philosophie im Origi- Schmidt, Erich: Hahn, Ludwig Philipp, in: ADB 10 nal zu rezipieren, so Shakespeare (1564–1616), (1879), 371–372. Schöndorf, Johannes: Zweibrücker Buchdruck zur Young (1683–1765) oder Locke (1632–1704). Zu Fürstenzeit: Das Buch- und Zeitungswesen einer Wit- diesem Zeitpunkt muss er auch auf Immanuel telsbacher Residenz 1488–1794. Zweibrücken 1995, Kant (1724–1804) getroffen sein, mit dem ihn 197–226. seither – trotz unüberwindlicher Unterschiede Werner, Richard Maria: Ludwig Philipp Hahn: Ein Bei- in wissenschaftlichen und weltanschaulichen trag zur Geschichte der Sturm- und Drangzeit. Straß- Fragen – eine bis zu seinem Tode andauernde burg 1877. tiefe Freundschaft verband (vgl. Kühn 2006, Désirée Müller 38 ff.). Ab 1749 gibt er mit einigen Freunden eine moralische Wochenzeitschrift (Daphne) heraus, die sich als ein Projekt der Aufklärung der bürgerlichen Lebenswelt versteht. Ohne Studienabschluss flieht H. 1752 vor den Vorwürfen seines Vaters ob seiner ziel-

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losen Studien auf Hofmeisterstellen nach gerät. Auch sein Versuch, die Tochter seines Livland; hier nutzt er die Zeit neben dem Arbeitgebers, Catharina Berens, zu heiraten, Unterricht zu ausgedehnten Studien philo- scheitert, sodass er – auch auf Wunsch des sophischer, philologischer und theologischer kränkelnden Vaters – nach Königsberg zu- Gegenstände. 1756 erhält H. auf Vermittlung rückkehrt. Hier hat sich seine Wandlung zum seines Studienfreundes Johann Christoph religiösen Eiferer schon herumgesprochen, Berens (1729–1792) eine Stelle im bedeuten- sodass seine Freunde Berens und Kant, die den Rigaer Handelshaus Berens, für das er sich auch aufgrund der beruflich prekären eine handelspolitische Schrift aus dem Eng- Lage H.s Sorgen machen, den Versuch unter- lischen übersetzt, die seine erste Veröffent- nehmen, ihn durch umfassende Auseinan- lichung darstellt. 1758 tritt H. im Auftrag des dersetzungen in Religionsfragen umzustim- Berens’schen Handelshauses eine Reise nach men. Aus diesen langwierigen Kontroversen, London an; aufgrund erheblicher Änderun- die für H. auch eine „Höllenfahrt der Selbst- gen der wirtschaftspolitischen Rahmenbedin- erkänntnis“ (N 2, 164) darstellen, entsteht H.s gungen der englischen Regierung scheitert erste eigenständige Schrift, die Sokratischen H.s Mission jedoch. Er kehrt allerdings nicht Denkwürdigkeiten (1759; N 2, 57–88), in denen sofort nach Riga zurück, sondern scheint sich er seine neue Haltung gegenüber den aufklä- zunächst in das Metropolenleben zu stürzen. rerischen Freunden verteidigt. Denn London ist Mitte des 18. Jh.s neben Paris Schon diese erste, schnell berühmt wer- nicht allein die politische, sondern auch die dende Schrift dokumentiert anschaulich soziokulturelle Hauptstadt der Welt, und so H.s spezifische Kritik an der zuvor auch von liegt es nahe, dass der junge aufgeschlos- ihm vertretenen Aufklärung sowie einige der sene Aufklärer sich dem Treiben der großen Gründe, die ihn zu einem „Wegbereiter des Stadt überlässt. Allerdings macht er schnell Sturm und Drang“ (Luserke 2010, 94) werden erhebliche Schulden, die ihn von weiteren lassen. So liefert die Schrift eine Apologie der Unternehmungen abhalten; ob er tatsächlich Leidenschaften und deren somatische Grund- mehr zufällig oder aus Neigung in Kontakt zur legung gegen die Versuche ihrer rationalis- homosexuellen Szene in London kam, lässt tischen Einhegung. Zudem sucht H. seine sich nicht mehr ermitteln (vgl. Berlin 1995, Abkehr von ‚allen‘ Formen aufklärerischer 36 f.); in seiner Bekehrungsschrift Gedanken Systematik nicht nur der Sache nach, sondern über meinem Lebenslauf (N 2, 9–54) erhebt er auch methodisch und sprachlich gezielt um- dieses Erlebnis jedoch zum Wendepunkt sei- zusetzen. So entwickelt er auf der Grundlage nes Londonaufenthaltes, der in ein visionäres einer historischen, theologischen und litera- Erweckungserlebnis pietistischer Provenienz rischen Bildung eine Darstellungsweise, die mündet. H. findet in der Bibel den einzigen dialogische, epistolare und essayistische Ele- ‚Freund‘ in dieser schweren Stunde und wird mente mit der direkten Leseransprache und fortan der Lektüre des Gotteswortes unüber- dem Postulativen der Predigt und der Bibel- bietbare Bedeutung beimessen. So kehrt 1759 hermeneutik verbindet. H.s nicht nur enorme aus London ein in seiner weltanschaulichen Kenntnis der britischen Schreibtradition seit Ausrichtung grundlegend veränderter H. zu- Shaftesbury (1671–1713) und Locke, sondern rück, der umgehend in Konflikte mit dem auch seine außerordentliche Befähigung zur Handelshaus Berens und seinen Freunden Reproduktion und Fortentwicklung dieser

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Schreibweisen lassen ihn im Verbund mit sei- setze? Das Genie ist die einmüthige Antwort.“ nen religiösen und theologischen Interessen (N 2, 75) Andererseits lässt H. keinen Zwei- einen unverwechselbaren Stil entfalten, der fel daran, dass er Gott für das einzig wahre nicht nur auf Herder und Goethe, sondern Genie hält, demgegenüber das menschliche auch auf dezidiert materialistische Philoso- Genie seine Abhängigkeit je schon erkannt phen der 1770er Jahre wie Christoph Meiners hat: „Das wahre Genie kennt nur seine Ab- (1747–1810) und Michael Hißmann (1752–1784) hängigkeit und Schwäche, oder die Schran- nachhaltigen Einfluss ausübt. Hegel wird diese ken seiner Gaben.“ (N 2, 260) Zugleich ist Besonderheit des H.’schen Schreibens in die diese Einsicht Voraussetzung für jene „Frey- berühmte Formel gießen: „Hamanns Schrif- heit des Geistes“, die die Schranken der Ver- ten haben nicht sowohl einen eigentümlichen nunft und Gelehrsamkeit überwindet und so Stil, als daß sie durch und durch Stil sind.“ die Genialität, die nur den Vernünftlern als (Hegel 1986. Bd. 11, 281) Schon in den Sokra- „Thorheit des Genies“ erscheint, kultiviert. tischen Denkwürdigkeiten zeigt sich auch H.s (N 2, 107) Große Anstrengungen, die seine systematische Lektüre der Philosophie David Kenntnisse der medizinischen und philoso- Humes (1711–1776), die ihn zeitlebens grundle- phischen Tradition dokumentieren, verwen- gend prägt (vgl. Brose 2005, passim) und die det H. darauf, die Grenzen des Genies zu „Be- namhaften Einfluss auf die Rezeption und den sessenen, Mondsüchtigen und Paralytischen“ Einfluss dieses bedeutenden Skeptikers haben (N 2, 105) zu ziehen. H. hat sich dabei selbst wird. Hume und Sokrates (470–399 v. Chr.) als ein solch sokratisches Genie verstanden sind in dieser Schrift deshalb Leitfiguren des (vgl. Briefwechsel. Bd. 2, 118). Denkens und Handelns, weil sie skeptische H. hat sich aufgrund von Gehalt und Reserven gegen eine Überbeanspruchung der Stil seiner Schriften nicht nur als ‚Querden- Vernunft begründen und so Platz für einen ker der Aufklärung‘ (vgl. Jørgensen 2013) Glauben schaffen, weil sie eine empiristische stilisiert, sondern auch lebensweltlich eine Fundierung alles Wissens in den sinnlichen ‚Genieexistenz‘ gepflegt, wenigstens aber Vermögen des Menschen propagieren und seine Distanz zu und seine Schwierigkeiten weil sie ihr skeptisches Denken unmittelbar mit einer bürgerlichen Existenz durch jenen mit Handlungsmaximen zu verbinden suchen. Habitus verdeckt. Trotz vielfältiger Angebote Schon in dieser Erstlingsschrift – erwei- und Anregungen seiner Freunde hat er nach tert in den Wolken (1761) – entwickelt H. auch seiner Rückkehr nach Königsberg jahrelang eine Vorstellung vom Genie (vgl. Schmidt ohne feste Anstellung zugebracht und neben 1988. Bd. 1, 96–119), die jene komplexe Ver- dem Schreiben den schwer kranken Vater so- mittlung von Rationalismuskritik und Got- wie den zunehmend psychisch erkrankenden tesverehrung realisiert, für die H. lebt und Bruder gepflegt. Zeitlebens Stotterer ver- schreibt: Denn einerseits ist ihm das Genie wehrt ihm zudem das zeitgenössische Vor- jene poetische Existenz, die in der „Freyheit urteil eine Laufbahn an der Universität oder zu Denken“ tradierte Regeln zu überschreiten im Pfarramt. Erst 1767 kann er durch Kants vermag: „Was ersetzt bey Homer die Unwis- Vermittlung eine Stelle als Übersetzer in der senheit, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, Zollverwaltung Königsbergs übernehmen, und was bey einem Shakespeare die Unwis- die ihm allerdings genug Zeit für seine Stu- senheit oder Uebertretung jener kritischen Ge- dien und Publikationen lässt. Zu diesem

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Zeitpunkt zieht auch die Dienstmagd Anna das Schuldrama betreffend (1763) den Einsatz Regine Schumacher (1736–1789) in sein Haus, der dramatischen Poesie in der Schule zur mit der er seit Jahren ein Verhältnis unterhält; Ausbildung der „Empfindung des Affekts rechtlich legitimieren wird er dieses Verhält- und Geschicklichkeit der Declamation“, weil nis nie, obwohl aus dieser Verbindung vier sie dem „todten Gedächtniswerke der Regeln Kinder hervorgehen. Damit belässt er sowohl und dem mechanischen Tagewerke der Lec- seine ‚Lebenspartnerin‘ als auch seine Kinder tionen“ (N 2, 358) didaktisch und methodisch in einem prekären rechtlichen Status, weil überlegen seien. Zudem greift er im Namen eine bürgerliche Heirat, so schreibt er, „mei- des Bürgerlichen Trauerspiels die „dramati- nen Umständen und meiner Gemütsart nicht sche Monadenlehre“ (ebd., 361) der aristoteli- gemäß sind“ (Briefwechsel. Bd. 2, 186). 1777 schen Einheiten an und bereitet somit Debat- wird er zum Packhofverwalter befördert, was ten vor, die die 1770er Jahren prägen sollten. seine finanzielle Lage allerdings nur wenig Auch mit den Kreuzzügen des Philologen verbessert; stets bleibt H. auf Zuwendungen (1762) und deren Herzstück, der Aesthetica in seiner Freunde, darunter vor allem Kant, an- nuce, trifft H. den Geschmack und das intellek- gewiesen. 1787 wird er auf eigenes Bitten aus tuelle Interesse seiner Zeit, weil er die akade- dem Dienst entlassen und kann eine lange mische Bibelphilologie als Gefährdung des re- geplante Reise zu Förderern um die Fürs- ligiösen Gehaltes der Heiligen Schrift erkennt tin von Gallitzin (1748–1806) nach Münster und bekämpft. Darüber hinaus entwickelt er antreten. Im Zusammenhang dieser Reise die Herder tief prägende Vorstellung von der trifft er auch auf Friedrich Heinrich Jacobi poetischen Formung der Bibelsprache als (1743–1819), mit dem er einen schon lange einer Sprache Gottes: „Poesie ist die Mutter- andauernden Briefwechsel pflegt. Überhaupt sprache des menschlichen Geschlechts“ (N 2, zählt H.s umfangreicher Briefwechsel zu den 197). Deshalb sind es vor allem die sinnlichen bedeutendsten Dokumenten nicht allein der Vermögen des Menschen, die ihm diese Wahr- Epistolarkultur des 18. Jh.s, sondern auch der heiten eröffnen: „Sinne und Leidenschaften allgemeinen Kulturgeschichte Königsbergs reden und verstehen nichts als Bilder. In Bil- während der Spätaufklärung (vgl. Reuter dern besteht der ganze Schatz menschlicher 2005, 130 ff.). Kurz vor der Rückreise stirbt H. Erkenntnis.“ (Ebd.) Es darf im Hinblick auf die in Münster und wird im Garten der Fürstin begrenzte Bedeutung dieser Schrift für den beerdigt. Schon in den 1760er, vermehrt in SuD allerdings nicht übersehen werden, dass den 1770er Jahren gelingen H. Publikationen, es H. um die religiöse Fundierung des mensch- die den Geist der Zeit in Gedanken zu fassen lichen Weltverhältnisses zu tun war, das sich vermögen. Dieser Geist ist vor allem gegen allererst aus den nicht-rationalen Vermögen den Rationalismus und damit gegen die seit erschließen lasse. Deren ‚Sprache‘ eröffne die Jahrzehnten nicht nur an den Universitäten Geschöpflichkeit und Heilsnotwendigkeit des herrschende Wolff-Schule gerichtet; von der Menschen. Es ist dieser theologische Hinter- kritischen Abstoßung von deren Prämissen grund (Twellmann 2007), der H. in den 1770er und Demonstrationen leben die Texte von Jahren an den gewichtigen Sprachursprungs- H. sowohl in epistemologischer als auch in debatten teilnehmen lässt. Seine Auffassung ethischer, ästhetischer und theologischer von der substanziellen Sprachlichkeit der Hinsicht. So postuliert er in Fünf Hirtenbriefe menschlichen Vernunft, die ihn zu seiner be-

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rühmten Metakritik (1784) an der kantischen Goldstein, Jürgen: Die Höllenfahrt der Selbsterkennt- Kritik der reinen Vernunft (1781) veranlassen nis und der Weg zur Vergötterung bei Hamann und wird (vgl. Bayer 2002; Achermann 2004), be- Kant, in: Kant-Studien 101.2 (2010), 189–216. Jørgensen, Sven Aage: . Stutt- deutete auch für Herders theologische Pro- gart 1976. grammschrift des SuD, die Älteste Urkunde Jørgensen, Sven Aage: Querdenker der Aufklärung. (1774), eine entscheidende Voraussetzung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013. Insgesamt müssen H.s Einflüsse auf die Au- Killy 24, 626–629. toren des SuD in ihrer Mittelbarkeit erkannt Kaltbrenner, Anja: Anthropologie und Naturrecht bei werden; es sind seine Darstellungsformen und Hamann. Göttingen 2015. Kühn, Manfred: . Eine Biographie. sein Sprachstil mehr als die theologischen und München 2006. religiösen Inhalte, die die junge Autorengene- Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – ration der 1770er Jahre beeindruckten. Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010. Werke Moustakas, Ulrich: Urkunde und Experiment. Neu- zeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer her- Hamann, Johann Georg: Hamann’s Schriften. 8 Bde. meneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Hg. v. Friedrich von Roth. Berlin 1821–1843. – Sämt- Georg Hamann. Berlin 2003. liche Werke. 6 Bde. Hg. v. Josef Nadler. Wien 1949–1957. Reuter, Christina: Autorschaft als Kondeszendenz. (= N) – Briefwechsel. 7 Bde. Hg. v. Walter Ziesemer u. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität. Berlin Artur Henkel. Wiesbaden. Frankfurt a.M. 1955–1979. 2005. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Hamanns Schriften, Rudolph, Andre: Figuren der Ähnlichkeit. Johann in: ders.: Werke in 20 Bänden. Hg. v. Karl Markus Mi- Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des chel u. Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1986. Bd. 11, 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006. 275–352. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedan- kens in der deutschen Literatur, Philosophie und Poli- Forschung tik 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 21988. Achermann, Eric: Natur und Freiheit. Hamanns Meta- Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Sokrates im Dickicht kritik in naturrechtlicher Hinsicht, in: Neue Zeitschrift der deutschen Aufklärung, in: Der fragende Sokrates. für systematische Theologie 46 (2004), 72–100. Hg. v. Karl Pestalozzi. Stuttgart u. Leipzig 1999, 132–151. Bayer, Oswald: Johann Georg Hamann, in: Deutsche Seils, Martin: Johann Georg Hamann, in: Grundriss der Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Geschichte der Philosophie. Philosophie des 18. Jahr- 8 Bde. Bd. 4: Sturm und Drang, Klassik. Hg. v. Gunter hunderts. Bd. 5: Heiliges Römisches Reich deutscher E. Grimm u. Frank Rainer Max. Stuttgart 1989, 7–19. Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa. Hg. v. Helmut Bayer, Oswald (Hg.): Johann Georg Hamann – „Der Holzhey u. Vilem Mudroch. Basel 2014, 538–547 u. hellste Kopf seiner Zeit“. Tübingen 1998. 621–623. Bayer, Oswald: Vernunft ist Sprache. Hamanns Meta- Twellmann, Markus: Glauben an das Gesetz? Men- kritik Kants. Stuttgart 2002. delssohn, Hamann und die politische Theologie, in: Beetz, Manfred u. Andre Rudolph (Hg.): Johann Georg IASL 31.1 (2007), 1–29. Hamann. Religion und Gesellschaft. Berlin u. a. 2012. Wild, Reiner (Hg.): Johann Georg Hamann. Darmstadt Berlin, Isaiah: Der Magus in Norden. Johann Georg 1978 (= Wege der Forschung 511). Hamann und der Ursprung des modernen Irrationa- Wolff, Jens: Hamanns Beben. Die Überwindung Leib- lismus. Berlin 1995. nizscher Theodizee aus Hiobs Geist, in: Das Erdbe- Brose, Thomas: Johann Georg Hamann und David ben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im Hume: Metaphysikkritik und Glaube im Spannungs- 18. Jahrhundert. Hg. v. Gerhard Lauer u. Thorsten feld der Aufklärung. Frankfurt a.M. u. a. 2005. Unger. Göttingen 2008, 285–308. Forster, Michael N.: After Herder. Philosophy of lan- guage in the German tradition. Oxford u. a. 2010. Gideon Stiening

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Heinse, Wilhelm Cérises von Claude-Joseph Dorat (1734–1780). (eigtl. Heintze, Johann Jacob Wilhelm; Auch wenn die Übersetzungen anonym er- auch bekannt als Rost) schienen waren, trugen sie durchaus einiges * 15. 2. 1746 Langewiesen, † 22. 6. 1803 Aschaf- zur Begründung von H.s Ruf als Enfant terri- fenburg ble der Goethezeit bei. Bereits seit 1772 ist H.s Wunsch, nach Wilhelm Heinse wurde im thüringischen Italien zu reisen, dokumentiert, es sollte je- Städtchen Langewiesen als Sohn des Stadt- doch noch ganze acht Jahre dauern, bis er schreibers und Organisten Johann Nikolaus endlich aufbrechen konnte. Zunächst trat Heintze und dessen Ehefrau Barbara Katha- H. 1772 unter dem Namen ‚Rost‘ eine Haus- rina Heintze, geb. Jahn, geboren. Obwohl der lehrerstelle in Halberstadt an, wo er vom li- Vater später zum Bürgermeister aufstieg, ver- terarischen Kreis um ‚Vater‘ Gleim aufgenom- brachte H. seine Kindheit in ärmlichen Ver- men wurde. Als die Stelle sich ihrem Ende hältnissen. Der Ausbildung an den Gymna- zuneigte, schrieb H. an Wieland und bat um sien in Arnstadt und Schleusingen folgte 1766 Hilfe. Wieland, inzwischen am Weimarer Hof, die Immatrikulation an der Universität Jena. war vom Ton des Briefs und besonders der Statt sich jedoch, wie vom Vater gewünscht, von H. mitgeschickten 40 Stanzen, zutiefst auf sein Hauptfach Jura zu konzentrieren, empört. An Gleim schrieb er über H.: „Der befasste sich H. unter der Anleitung seines Mann […] denckt und schreibt, wie nur ein Lehrers Friedrich Justus Riedel (1742–1785) Mensch schreiben kan, in welchem die Wuth mit Literatur und Ästhetik. H. folgte seinem der ausgelassensten Geilheit alles sittliche Lehrer 1768 nach Erfurt und profitierte von Gefühl erstikt hat. Seine Seele ist mit einem dessen Vernetzung in literarischen Kreisen. unglüklichen Priapismus behaftet, der, wie es Wahrscheinlich noch in Erfurt entstanden die scheint, bereits zum unheilbaren Übel wor- erst 1805 unrechtmäßig gedruckten Musikali- den ist“ (Wieland 1983, 211). H. hielt er hinge- schen Dialogen. Als gen für keiner Antwort würdig. Der Vorwurf (1733–1813) 1769 ebenfalls nach Erfurt berufen des Priapismus, also der ungesunden Fixie- wurde, versuchte H., dessen Gunst zu erwer- rung auf das Erotische, sollte H. fortan ver- ben. Immerhin gelang es ihm, über Vermitt- folgen. lung Wielands die Gönnerschaft von Johann Von Wieland war keine Unterstützung Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) zu ge- zu erwarten, aber auf Gleim war Verlass: 1774 winnen, der ihn lange Zeit künstlerisch und reiste H. nach Düsseldorf, um dort mit Johann finanziell unterstützen sollte. 1771 erschienen Georg Jacobi die neu gegründete Damenzeit- mit Gleims Hilfe H.s Sinngedichte; im selben schrift Iris zu betreuen. In die Düsseldorfer Jahr begab sich H. mit zwei Offizieren auf Rei- Zeit fällt auch die Begegnung mit Goethe und sen durch Deutschland und übersetzte in die- Klinger. Goethe, zu dieser Zeit noch begeis- ser Zeit das Satyricon des Petronius Arbiter. tert von H.s erstem Roman Laidion oder die Die skandalumwitterte Übersetzung erschien Eleusinischen Geheimnisse (1774), sollte sich 1773 anonym unter dem Titel Die Begebenhei- später, aus ähnlichen Gründen wie Wieland, ten des Enkolp. Direkt im Anschluss widmete von H. abwenden. In Düsseldorf entstanden sich H. einer von Gleim in Auftrag gegebe- auch die ersten Kunstbeschreibungen H.s, nen Übersetzung der gleichermaßen pikanten die in Form von Briefen an Gleim abgefasst

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waren und 1776 und 1777 im Teutschen Mer- der Renaissance, aber auch für die Vokalmu- kur erschienen. Schon hier zeigte sich H.s sik, die H. in Italien als ‚höchste‘ Form der besondere Perspektive auf bildende Kunst Musik entdeckte. Die Antike offenbarte sich als Ausdruck der Natur: „O heilige Natur, die H. jedoch nicht nur in den Kunstschätzen. du alle deine Werke hervorbringest in Liebe, Auch die Menschen erschienen ihm einer ur- Leben und Feuer, und nicht mit Zirkel, Lineal, sprünglicheren Lebenssphäre entsprungen: Nachäfferei, dir allein will ich ewig huldi- Auf den Straßen sah er „manche männliche gen!“ (Heinse 1995, 304) In den sogenannten und weibliche antike Gestalt mit heißem Gemäldebriefen vertrat H. zum ersten Mal Blick und warmen Gebehrden in Helden und seine besondere Form der Genieästhetik, die Siegerinnengang“, die in ihm eine „Wunder- er an Rubens exemplifizierte. Dieser habe, als empfindung von einer neuen Natur“ auslös- Mensch „voll Saft und Kraft“ (ebd., 320), aus ten. (Gleim an H., 15. 9. 1781, SW 10, 139) seiner Erfahrung geschöpft, statt die Werke Das Italienerlebnis stellt sich aus mehr der Antike nachzuahmen und sei so zu einer als einer Perspektive als zentrales Ereig- eigenen, seinem Zeitalter und Lebensraum nis von H.s Leben und Schaffen dar. Es war entsprechenden Schönheit gelangt. mehr als nur eine Bildungserfahrung: Viel- Das Interesse für bildende Kunst war es mehr erlebte H. den Italienaufenthalt als ein auch, das H. nach Italien trieb. Das Fernweh, „Durchdringen zum eigenen Leben“ (Kruft das H. bereits 1772 in einem Brief an Gleim 1967, 84), als seine ‚eigentliche‘ Daseinsform. äußerte, konkretisierte sich mehr und mehr An die Verpflichtungen, die mit einem Leben zu einer Italiensehnsucht. Am 8. 12. 1773 in Deutschland einhergingen, konnte er sich schrieb H. an Gleim: „Es ist mir nicht mög- nur schwer wieder gewöhnen. „Ich habe lich, die heftige Leidenschaft, die Schönhei- große Lust wieder nach Rom, […] es ist bey ten Italiens zu empfinden, in dem Herzen uns alles so kalt, so kalt, und kein edler Geist zu ersticken, und sollt’ ich auch bey Wasser findet Unterstützung“ (SW 10, 259), klagte er und Brod, und zu Fuße nach Rom wandern“ nach seiner Rückkehr gegenüber Gleim. H.s (SW 9, 154). Wie Johann Joachim Winckel- Schaffen konzentrierte sich während der Zeit mann (1717–1768) wurde er von dem Bedürf- des Italienaufenthalts primär auf das Füllen nis getrieben, die Kunstschätze der Antike von Notizheften. Diese Hefte sind nicht so und Renaissance selbst zu sehen (vgl. Goer sehr Tagebücher als vielmehr Materialsamm- 2006, 97). 1780 war die Finanzierung der Reise lungen für potenzielle Veröffentlichungen endlich gewährleistet und H. konnte aufbre- und bestehen in erster Linie aus Beschrei- chen. Wie im Brief an Gleim angekündigt, bungen von Skulpturen und Gemälden. Cha- reiste H. tatsächlich größtenteils zu Fuß über rakteristisch für diese Beschreibungen ist H.s die Schweiz und Südfrankreich nach Italien. Fixierung auf die sinnliche Körperlichkeit Erst im September 1781 kam H. endlich in dargestellter Figuren, die teilweise ans Por- Rom, dem eigentlichen Ziel seiner Reise, an. nografische grenzt. Er lebte dort insgesamt fast zwei Jahre und Am 7. 7. 1783 musste H. aus finanziellen nutzte jede Möglichkeit, Kunst in sich auf- Gründen aus Rom in Richtung Deutschland zunehmen. Dies gilt für die antike Skulptur, aufbrechen. Nach seiner Rückkehr kam er zu- die Winckelmann für Deutschland kanoni- nächst wieder bei den Brüdern Jacobi in Pem- siert hatte, für die Malerei und Architektur pelfort unter, wo er begann, an dem Roman

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Ardinghello und die glückseeligen Inseln zu Allerdings plante H. auch ursprünglich eine arbeiten. In großen Teilen aus den italieni- andere Form der Veröffentlichung: Den Tex- schen Aufzeichnungen konstruiert, verbin- ten H.s sollten Partituren aus der Sammlung det der Ardinghello, der 1787 zunächst ano- Jacobis beigegeben werden, auf die H. aber nym erschien, H.s sinnlichkeitsorientierte zur Veröffentlichungszeit nicht mehr zugrei- Philosophie mit seinen in Italien gewonne- fen konnte. nen Erkenntnissen über die Kunst der Antike 1796 musste der Hof erneut seine Resi- und der Renaissance. denz verlassen, da die französischen Truppen Bereits 1786 hatte H. nach Jahren der fi- weiter vorrückten. H. traf in Kassel mit Susette nanziellen Abhängigkeit von Gönnern eine Gontard (1769–1802) und dem Hauslehrer der feste Stelle am Hof des Kurfürsten und Erz- Gontards, dem jungen Friedrich Hölderlin bischofs von Mainz angetreten. Nachdem (1770–1843) zusammen. Auf einer gemeinsa- er zunächst Vorleser gewesen war, wurde er men Reise nach Bad Driburg freundeten sich 1788 zum Bibliothekar und Hofrat ernannt. die beiden Männer an. Die Begegnung schien Die sozialen Kontakte wurden in dieser Zeit auf Hölderlin großen Eindruck gemacht zu spärlicher, einer seiner wenigen Freunde war haben. In einem Brief an Christian Ludwig der Anatom Samuel Thomas Soemmering Neuffer (1769–1839) schrieb er am 16. 2. 1797: (1755–1830), der später auch seinen Nachlass „Er ist ein herrlicher alter Mann. Ich habe verwalten sollte. Zu anderen Angehörigen noch nie so eine grenzenlose Geistesbildung des Mainzer Hofs hatte H. allenfalls ein dis- bei so viel Kindereinfalt gefunden“ (Hölderlin tanziertes Verhältnis. Georg Forster (1754– 1992, 259). Hölderlins Elegienfolge Brod und 1794) z. B. beschreibt ihn als unnahbar, als Wein (1800/1801) ist H. („Heinze“) gewidmet. „misanthrop und gewöhnlich immer miso- Die Notizhefte aus der Aschaffenburger gyn“ (zit. nach Leitzmann 1938, 30 f.). Als 1792 Zeit belegen, dass H. sich mit vielfältigen The- französische Truppen die Stadt besetzten, men auseinandersetzte, gleichzeitig scheint ging H. nach Düsseldorf, während der Hof er am Hof eine gewissermaßen isolierte Exis- nach Aschaffenburg in die Sommerresidenz tenz geführt zu haben, die ihm oft, so schrieb umzog. In Düsseldorf arbeitete er unter Ver- H. am 12. 11. 1799 an Soemmering, „öd und wendung von Jacobis Partiturensammlung freudeleer“ (SW 10, 334) vorgekommen sei. an seinem dritten Roman Hildegard von Ho- Auch die Kontakte zur literarischen Öffent- henthal. lichkeit bestanden nur mehr sporadisch, 1794 erfolgte aufgrund der Zerstörung des da die Dichte von H.s Publikationen im Ver- Mainzer Schlosses der vollständige Umzug hältnis zu den 1770er und 1780er Jahren sehr des Hofes nach Aschaffenburg, inklusive der zurückgegangen war. Am 27. 6. 1802 erlitt H. Bibliothek und des Bibliothekars H. Zwischen einen ersten Schlaganfall, von dem er sich Juni und Dezember 1794 schrieb H. Hildegard allerdings wieder erholte. Sein letzter Roman von Hohenthal nieder; der Roman, der sich Anastasia und das Schachspiel (1803) führte mit der Wirkung der Musik und dem musi- die bereits in Hildegard von Hohenthal abzu- kalischen Schaffensprozess befasst, erschien sehende Tendenz zur unanschaulichen Be- 1795/1796. Das belehrende, theoretisierende lehrung fort (vgl. Hüfler 2002, 76). Es gibt nur Moment, das bereits den Ardinghello gekenn- noch einen „Torso von Rahmenhandlung“ zeichnet hatte, trat hier noch stärker hervor. (Theile 1998, 64); ein Großteil des Romans

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besteht aus Briefen eines Italienreisenden, Werke die sich mit dem Schachspiel im Allgemeinen Heinse, Wilhelm: Sinngedichte. Halberstadt 1771. – und einzelnen Partien im Besonderen befas- Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse. Lemgo 1774. – Über einige Gemälde der Düsseldorfer Galerie, sen. Der Roman wird auch als „Metaroman“ in: Teutscher Merkur 1776/1777. – Ardinghello und die (Gaier 1998, 30) gelesen, der in der Metapher glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus des Spiels über das Leben reflektiert. dem sechszehnten Jahrhundert. 2 Tle. Lemgo 1787. – Der zweite Schlaganfall ereilte H. am Hildegard von Hohenthal. 3 Tle. Berlin 1795. – Anas- 17. 6. 1803, am 22. Juni verstarb er. Einige Tage tasia und das Schachspiel. Briefe aus Rom. 2 Bde. zuvor hatte er noch seinen Freund Soemme- Frankfurt a.M. 1803. – Musikalische Dialogen. Leipzig 1805 (unrechtmäßiger Druck). – Sämmtliche Werke. ring davor gewarnt, Goethes Einladung an 10 in 13 Bdn. Hg. v. Carl Schüddekopf und Albert den Weimarer Hof zu folgen: „Ich bin so nach Leitzmann. Leipzig 1902–1925. Bd. 9. Briefe 1: Bis zur Mainz gegangen, und treibe mich noch in dem italiaenischen Reise. Hg. v. Carl Schüddekopf. Leipzig Labyrinth herum, und werde wild, wenn man 1904 (= SW 9) u. Bd. 10. Briefe 2: Von der italiaeni- einen andern vortrefflichen Menschen auch schen Reise bis zum Tode. Hg. v. Carl Schüddekopf. so hineinführen will; zumal meinen liebsten Leipzig 1910 (= SW 10). – Ueber einige Gemälde der Düsseldorfer Galerie, in: Frühklassizismus: Position Freund“ (H. an Soemmering, 15. 6. 1803, SW und Opposition. Winckelmann, Mengs, Heinse. Hg. v. 10, 346). Aus dem Brief spricht das Bedauern Norbert Miller u. Helmut Pfotenhauer. Frankfurt a.M. über die Entscheidung, der Sicherheit einer 1995, 253–321. – Die Aufzeichnungen. Frankfurter festen Anstellung in der Provinz den Vorzug Nachlass. 5 Bde. Hg. v. Markus Bernauer u. a. Mün- vor einem unsicheren Leben am literarischen chen u. a. 2003–2005. Puls der Zeit gegeben zu haben. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 3: Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente. Hg. Die Rezeption von H.s Werken fand mit v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992. Verzögerung statt. Sein Einfluss auf die Ro- Wieland, Christoph Martin: Briefwechsel. Bd. 5: Briefe mantiker ist nicht zu unterschätzen; auch der Weimarer Zeit. Hg. v. der Akademie der Wissen- vom Jungen Deutschland und später von den schaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturge- Expressionisten wurde er wegen seiner un- schichte, durch Hans Werner Seiffert. Berlin 1983. verblümten Sprache verehrt (vgl. Theile 1998, 8). Dabei wurde H. wiederholt als ein ‚Moder- Übersetzungen ner‘ entdeckt, der nicht in seine Zeit passte. Begebenheiten des Enkolp. Aus dem Satyricon des Pe- Zwar steht besonders das Frühwerk deutlich tron übersetzt. 2 Bde. Lemgo 1773. – Die Kirschen. Ber- lin 1773. – Das befreyte Jerusalem von Torquato Tasso. mit dem Rokoko, aber auch mit dem SuD und 4 Bde. Mannheim 1781. – Roland der Wüthende, ein gar der Klassik „im Dialog“ (Vedder 2011, 22), Heldengedicht von Ludwig Ariost dem Göttlichen. 4 jedoch lässt sich H. nicht ohne Weiteres einer Tle. Hannover 1782/1783. literarischen Strömung zuordnen (vgl. Baeu- mer 1998, 13). Als Stürmer und Dränger – zu- Forschung mindest im Geiste, wenn auch vielleicht nicht Baeumer, Max L.: Das Dionysische in den Werken Wil- der Form nach – präsentiert sich H. besonders helm Heinses. Studie zum dionysischen Phänomen in in den frühen Auseinandersetzungen mit bil- der deutschen Literatur. Bonn 1964. Baeumer, Max L.: Heinse-Studien. Stuttgart 1966. dender Kunst, die von einer gewissen ‚wilden‘ Baeumer, Max L.: Zur neuen Heinse-Forschung, in: Genieästhetik inspiriert sind. Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über- Lebenskunst. Hg. v. Gert Theile. München 1998, 13– 24.

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Bernauer, Markus u. Norbert Miller (Hg.): Wilhelm Herder, Johann Gottfried Heinse. Der andere Klassizismus. Göttingen 2007. * 25. 8. 1744 Mohrungen (Ostpreußen), † 18. 12. Dick, Manfred: Der junge Heinse in seiner Zeit. Zum 1803 Weimar Verhältnis von Aufklärung und Religion im 18. Jahr- hundert. München 1980. Elliott, Rosemarie: Wilhelm Heinse in Relation to Wie- Herders ‚weitstrahlsinniges‘ Denken hat die land, Winckelmann, and Goethe: Heinse’s Sturm und Philosophie, Theologie und Literaturtheorie Drang Aesthetic and New Literary Language. Frank- der zweiten Hälfte des 18. Jh.s nachhaltig furt a.M. u. a. 1996. beeinflusst. Für den SuD prägend sind die Gaier, Ulrich: „Mein ehrlich Meister“. Hölderlin im Fragmente über die neuere deutsche Litera- Gespräch mit Heinse, in: Das Maß des Bacchan- tur (1766/1767), seine an Ossian und Shakes- ten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst. Hg. v. Gert Theile. München 1998, 25–54. peare (1564–1616) entwickelte Genieästhetik Goedeke 4.1/2, 879–890. sowie die Schriften zu lyrisch ‚natürlichen‘ Goer, Charis: Ungleiche Geschwister. Literatur und die Ausdrucksformen wie Volkslied und Ode. Künste bei Wilhelm Heinse. München 2006. Die Aufsatzsammlung Von Deutscher Art und Hüfler, Almut: Wilhelm Heinse (1746–1803), in: Tage- Kunst (1773) und das Journal meiner Reise buch einer Reise nach Italien. Hg. v. Christoph im Jahr 1769 (E: 1769/1770, D: 1846) zählen Schwandt. Frankfurt a.M. 2002. Keller, Otto: Wilhelm Heinses Entwicklung zur Huma- heute zu den Programmschriften des SuD. nität. Bern 1972. Im bildungsbürgerlichen Klassizismus, der Killy 5, 220–222. sich ganz mit dem Weimarer ‚Dioskurenpaar‘ Kosch 2, 775–778. identifizierte, wurde dieser Einfluss freilich Kruft, Hanno-Walter: Wilhelm Heinses italienische marginalisiert. Seinen Verfechtern galt H. Reise, in: DVjs 41 (1967), 82–97. als Misanthrop, der mit Goethe über die Na- Leitzmann, Albert (Hg.): Wilhelm Heinse in Zeugnis- sen seiner Zeitgenossen. Jena 1938. turphilosophie stritt und Schillers Ästhetik Mohr, Heinrich: Wilhelm Heinse. Das erotisch-religi- zudem als Rückfall in den Rationalismus be- öse Weltbild und seine naturphilosophischen Grund- trachtete. Nachteilig auf die Rezeption von lagen. München 1971. H. wirkte sich auch der ideologische Miss- Schipper-Hönicke, Gerold: Im klaren Rausch der brauch aus, den die Nationalsozialisten mit Sinne. Wahrnehmung und Lebensphilosophie in den Schriften und Aufzeichnungen Wilhelm Heinses. H.s Volks- und Nationenbegriff getrieben hat- Würzburg 2003. ten. Ausgeräumt wurden solche Vorbehalte Schramke, Jürgen: Wilhelm Heinse und die Französi- erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, sche Revolution. Tübingen 1986. und es waren vor allem japanische und nord- Terras, Rita: Wilhelm Heinses Ästhetik. München 1972. amerikanische Forscher, die H. als Aufklä- Theile, Gert: Der aristotelische Gott und das Schach- rer der Aufklärung wiederentdeckten. Hierzu- spiel. Wilhelm Heinses neugriechische Utopie, in: Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebens- lande lässt sich seit den 1990er Jahren eine kunst. Hg. v. Gert Theile. München 1998, 55–76. umfassendere, zahlreiche akademische Dis- Vedder, Björn: Wilhelm Heinse und der so genannte ziplinen verbindende Neubewertung H.s be- Sturm und Drang. Künstliche Paradiese der Natur zwi- obachten. Diese Revision steht dabei im Zei- schen Rokoko und Klassik. Würzburg 2011. chen seiner ‚Einziehung der Philosophie auf Juliane Blank Anthropologie‘ und der ‚Philosophie des Le- bens‘. Beiden Perspektiven liegt die Annahme zugrunde, Seinsgewissheit erhalte der Mensch zuerst durch den Gebrauch seiner Sinne, mit

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denen er sich gegen die Objektwelt als dyna- Wie sich H. 1795 in den Briefen zu Beförderung mische Kraft behauptet. Wie vielgestaltig der der Humanität erinnert, war es vor allem der Widerstand sein kann, mit dem das ästheti- ‚angenehme Zwang‘ zum ‚Selbstdenken‘, den sche Subjekt auf solche Herausforderungen Kant auf ihn ausübte und der dem jungen Stu- reagiert, veranschaulicht H. in seinen Schrif- denten imponierte. Dass sich H. entsprechend ten zeitlebens mit argumentativen ‚Sprüngen kritisch in Kants Philosophie einarbeitet, do- und Würfen‘. Gegen jede terminologische kumentiert der 1763 verfasste Versuch über und systemische Erstarrung aufbegehrend das Sein. Mit ihm will er Kants Abhandlung notiert bereits der 22-Jährige: „Leser, der du Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer De- diese hingeworfne Beobachtungen verste- monstration des Daseins Gottes (1763) mit dem hen, brauchen, ergänzen kannst: du hast sie Argument widerlegen, das Sein sei „der erste, erfunden!“ (FA 1, 249) sinnliche Begriff, dessen Gewißheit allem Geboren wird H. als ältester Sohn des zum Grunde liegt“ (FA 1, 19). So schwungvoll Küsters und Elementarschullehrers Gottfried H. seine Beweisführung auch angelegt haben Herder (1706–1763) und dessen zweiter Ehe- mag, so deutlich zeichnet sich in seiner Er- frau Anna Elisabeth (1717–1770). In diesem widerung bereits jener sensualistische Idea- stark pietistisch geprägten Elternhaus nimmt lismus ab, der sein späteres Schaffen charak- H. früh schon am Unterricht seines Vaters terisieren wird. teil. Als später der Diakon und theologische Nicht minder einflussreich ist die Begeg- Schriftsteller Sebastian Friedrich Trescho nung mit Hamann, den H. ebenfalls während (1733–1804) auf den 16-Jährigen aufmerksam seiner Königsberger Studienzeit kennenlernt. wird, nimmt er ihn als Schreiber in sein Haus Hamann nämlich erschließt ihm die philoso- auf und gestattet ihm die Nutzung seiner um- phische und theologische Tragweite seiner fangreichen Bibliothek. Hier lernt H. neben Hypothese, die Poesie sei „die Mutterspra- vielen antiken Autoren auch zeitgenössische che“ (ebd., 31) des menschlichen Geschlechts. Dichter wie Klopstock, Lessing (1729–1781), Weshalb der Mensch nur in Erzählungen oder Hamann oder Rousseau (1712–1778) kennen. Bildern versteht, erschließt der ‚Magus des Mit dem Ziel, in Königsberg Medizin zu stu- Nordens‘ seinem Schützling am Beispiel der dieren, verlässt H. im Sommer 1762 seine Hei- Bibel, die Hamann als poetisches Zeugnis matstadt. Da er jedoch bei der ersten Leichen- einer älteren orientalischen Volkskultur liest. sektion in Ohnmacht fällt, entscheidet sich Gemeinsam diskutiert werden im Verlauf des H. noch im gleichen Jahr für das Studium der Privatunterrichts ferner die Werke Shakes- evangelischen Theologie. Seinen Unterhalt peares, Cervantes’ (1547–1616) und Laurence verdient er in den nächsten zweieinhalb Jah- Sternes (1713–1768). Unwidersprochen bleibt ren erst als Lehrer an einer Elementarschule, allerdings auch Hamanns stupendes Gedan- später unterrichtet H. am Collegium Friderici- kengebäude nicht. Als dieser angelegentlich anum, einer preußischen Privatschule, in der behauptet, seine philologischen Kreuzzüge man polnische und russische Jugendliche auf (1762) blieben in der Gelehrtenwelt wohl un- das Studium vorbereitet. Zweifellos prägend widersprochen, repliziert H. mit dem vermut- für H.s weitere philosophische Entwicklung lich Anfang 1765 entstandenen Aufsatz Di- ist die Begegnung mit Kant (1724–1804), des- thyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie sen Vorlesungen er kostenlos besuchen darf. kabbalistischer Prose. Auf einflussreiche

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Abhandlungen wie die Studien zur Ode, zu und Nordsee führen soll, darüber ist sich H. Ossian, Shakespeare und den Volksliedern zunächst unklar. Gleichwohl schreibt er spä- vorausweisend, distanziert er sich von Ha- ter im Journal meiner Reise im Jahr 1769: „Und manns Behauptung, die ‚Prose‘ des 18. Jh.s so ward ich Philosoph auf dem Schiffe – Philo- verrate Zeichen einer Verfallserscheinung. soph aber, der es noch schlecht gelernt hatte, Gleichzeitig lehnt H. die Nachahmung grie- ohne Bücher und Instrumente aus der Natur chischer Schönheitsideale ab, indem er den zu philosophieren. Hätte ich dies gekonnt, zeitgenössischen Autoren attestiert, ihnen welcher Standpunkt, unter einem Maste auf fehle es sicherlich nicht am „Herzen“, um dem weiten Ocean sitzend […] und die Physik sich weiterhin auf „eine schlafende Dekla- all dessen, aus sich herausfinden zu können. mation und schleichendes Schriftmaß“ ein- Philosoph der Natur, das sollte dein Stand- zulassen. (FA 1, 31) Um den Literaturbetrieb punkt sein“ (FA 9.2, 16). Nachdem H. am 15. 7. wieder mit Leben zu füllen, fordert H. eine 1769 in Frankreich angekommen ist, reist er kulturstiftende Mythologie, ohne deren Bei- über Land bis nach Paris, wo er im November stand kein Dichter gegen den „Ballaste“ an mit bedeutenden Aufklärern, darunter Dide- „Wahrheiten“ und die „künstliche Abstrak- rot (1713–1784) und d’Alembert (1717–1783), tion“ der Vernunftphilosophie aufbegehren zusammentrifft. Im Februar und März des könne. (Ebd., 36 f.) Folgejahres weilt er schließlich in Hamburg, Mit solchen Projektskizzen verlässt H. um sich mit Lessing, Reimarus (1694–1768) Königsberg im November 1764, um die Stelle und Claudius (1740–1815) zu treffen. Während eines Lehrers an der Domschule zu Riga an- dieses Aufenthalts erreicht ihn die Einladung, zutreten. Wenige Monate später wird er dort den Sohn des Fürstbischofs und Herzogs von auch als Prediger ordiniert. In Riga als multi- Eutin auf einer Reise nach Italien zu beglei- kulturellem Zentrum reüssiert H. schließlich ten. Im Verlauf der ersten Wegstationen lernt als Literaturkritiker (Über die neuere deutsche H. in Darmstadt seine spätere Frau Caroline Literatur, 1766/1767), der sich souverän, aber Flachsland (1750–1809) kennen, mit der er in auch polemisch mit Winckelmanns (1717– den nächsten Monaten Liebesbriefe im Stile 1768) Antikenbegeisterung sowie Lessings Ossians tauscht. Wenig später in Straßburg und Baumgartens (1714–1762) Ästhetik (Kri- trennt sich H. dann von seinem adligen Zög- tische Wälder I–III, 1769) auseinandersetzt. ling, um sich einer augenärztlichen Therapie Überdies beginnt er, baltische Volkslieder zu unterziehen. Hier weilt er von September zu sammeln, die den Grundstock seiner spä- 1770 bis April 1771, und zu seinen neuen Be- ter herausgegebenen Volkslieder (1778/1779) kanntschaften gehört Goethe, mit dem über bilden. Wie jedoch Äußerungen Kant und den europäischen Ossian-Kult und das Volks- seinem Verleger Hartknoch (1740–1789) ge- liedprojekt diskutiert wird. Aus dieser Be- genüber zu entnehmen ist, fühlt sich H. trotz gegnung geht 1773 die Programmschrift des der Verehrung, die ihm seine Gemeinde ent- SuD hervor, die von H. herausgegebene Auf- gegenbringt, von verschiedenen ästhetischen satzsammlung Von Deutscher Art und Kunst, Disputen und Amtsquerelen nach kaum fünf darin sein Briefwechsel über Ossian und die Jahren so entkräftet, dass er im Frühjahr 1769 Shakespeare-Studie, Goethes Rede Von deut- um seine Entlassung ersucht. Wohin ihn die scher Baukunst, Mösers Deutsche Geschichte am 5. Juni angetretene Schiffsreise über Ost- und der Versuch über die Gotische Baukunst

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von Paolo Frisi. Weniger ‚deutsch‘ als poly- oder der Ältesten Urkunde des Menschenge- glott wird in Von Deutscher Art und Kunst die schlechts (1774 ff.) an. Beide Abhandlungen vor allem von H. vertretene Einschätzung verfasst er während seiner Zeit als Hofpredi- reflektiert, nicht nur die geoklimatisch be- ger und Generalsuperintendent des Grafen vorzugten Griechen und Römer, auch die „al- Wilhelm von Schaumburg-Lippe (1724–1777), ten, und wilden Völker“ Mittel- und Nordeu- dessen Ruf H. im Mai 1771 gefolgt war. Die ropas hätten „aus unmittelbarer Gegenwart, nächsten fünf Jahre in Bückeburg werden aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne“ gemeinhin als eigentliche SuD-Phase H.s für „die Seele des Volks“ gedichtet. (FA 2, betrachtet, wofür die Aufsätze Ossian und 476 f.) Solche Überlegungen sind in der For- die Lieder alter Völker und Shakespear (1773) schung später als zivilisationskritische An- sowie die erste Fassung der Studie Vom Er- leihen bei Rousseau gelesen worden. Gegen kennen und Empfinden der menschlichen solche Zuschreibungen sprechen indes H.s Seele (Uebers Erkennen und Empfinden in der Geschichtsbegriff, der den Vernunftfortschritt Menschlichen Seele, 1774) sprechen. In ihnen als notwendig und irreversibel ausweist, da- wird das zunehmend vernunftstatische und rüber hinaus seine Charakterisierung des fremdenfeindliche Menschenbild der Aufklä- Genies. Ihr zufolge weist jedes Originalwerk rung für die gesellschaftliche Disziplinierung zwar ein hohes Maß an Wirkungsintensi- unterschiedlichster genialischer Kräfte ver- tät auf. Da H. Kunstwerken jedoch eine zeit- antwortlich gemacht. lose Anziehungskraft abspricht, mag ihm Am 2. 10. 1776 übersiedelt die junge Fa- auch nicht einleuchten, warum sich nachfol- milie nach Weimar, wo H. seine Stelle als gende Generationen an deren zeittypischen Generalsuperintendent und Kirchenrat des Reminiszenzen abarbeiten sollen. Indem H. Herzogtums Weimar antritt – eine Berufung, das Genie in seinem jeweiligen historischen die bekanntlich Goethe in die Wege gelei- Kontext würdigt, empfiehlt er den deutschen tet hatte und die H. auch die Aufsicht über Künstlern des 18. Jh.s folgerichtig, mit der die Predigerausbildung und das Schulwesen aufgeklärten Regelpoetik und ihrer antiki- einträgt. Ästhetiktheoretisch und literatur- sierenden Nachahmungsdoktrin zu brechen. wissenschaftlich entwickelt er in den nächs- Diesem genetisch reflektierten Geniebegriff ten Jahrzehnten das Volksliedprojekt weiter korrespondiert H.s Forderung, jede Form von (Volkslieder), beendet die dritte Fassung Vom Kunst als Beitrag für eine im kulturell Vielge- Erkennen und Empfinden der menschlichen staltigen vereinte Menschheit zu verstehen. Seele und veröffentlicht die Abhandlung über Friedrich Nicolais (1733–1811) Protest gegen die Plastik (beide 1778). Im Rückgriff auf Leib- Von Deutscher Art und Kunst bestätigt ihm niz und seine eigene sensualistische Bestim- demgegenüber, wie vehement sich auch das mung des Menschen als Natur- und Erfah- Zeitalter der Vernunft zum „Nationalhaß“ (FA rungswesen erweitert H. jetzt seine frühere 1, 797) versteigen kann. Bestimmung des Genies und spricht jedem An diese nirgends antiaufklärerisch, wohl sinnlich wahrnehmenden Subjekt das Vermö- aber aufklärungskritisch zu lesende Perspek- gen zu, sich gegen die Wirklichkeit als Kraft tivierung der Menschheitsgeschichte knüpft mit der je eigenen ‚Welt-Anschauung‘ behaup- H. später in Auch eine Philosophie der Ge- ten zu können. Ähnlich wie Diderot in seinem schichte zur Bildung der Menschheit (1774) Blindenbrief (1749) wird in der Plastik darü-

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ber hinaus der Tastsinn als empfindsamstes des Guten und Bösen, des Falschen und Wah- Organ betrachtet, das im Unterschied zu den ren hängt in ihm: er kann forschen, er soll anderen Sinnesvermögen nicht den Radius wählen.“ (FA 6, 145 f.) Auf Konfrontations- des menschlichen Körpers verlässt. Indem es kurs zu Goethe und Schiller begibt sich H. die flüchtigen Reizimpulse des Sehens und mit den Humanitätsbriefen. Indem er beiden Hörens entschleunigt, ermögliche das Tasten vorhält, Menschlichkeit ausschließlich äs- das körperlich-ästhetische Sichgewahrwer- thetisch respektive rekreativ zu definieren, den als Individuum. Einen ähnlichen Ansatz grenzt H. die Weimarer Klassik vom Telos hatte H. bereits 1772 in seiner preisgekrönten einer Menschheit aus, die intellektuelle, ethi- Abhandlung über den Ursprung der Sprache sche und künstlerische Diversität als Grund- am Beispiel des Hörens vorgestellt. Um nun lage einer Emanzipation von kulturmythi- jedoch aufzeigen zu können, wie der Einzelne schen Verabsolutierungen voraussetzt: „Am kraftzentrisch gleichsam ‚bei sich‘ bleibt, wird wenigsten kann also unsre Europäische Kul- der Tastsinn in den Rang eines subjektkonsti- tur das Maß allgemeiner Menschengüte und tutiven und zugleich divinatorischen Vermö- Menschenwertes sein; sie ist kein oder ein fal- gens erhoben. Am prägnantesten formuliert scher Maßstab.“ (FA 7, 700) Die Radikalität, H. das Gemeinte in der 1769 in Paris niederge- mit der H. die Moderne vom ästhetisch han- schriebenen Skizze Zum Sinn des Gefühls, die delnden Subjekt aus begreift und Humanität heute zum Umfeld der Plastik gerechnet wird: als zivilisatorische Setzung durchschaut, ist „Ich fühle mich! Ich bin! […] ich bin ein Gott in nach seinem Tod rasch einem Fortschritts- meiner Welt.“ (FA 4, 236 f.) denken gewichen, das Subjektsein nur als Er- Zwei philosophisch und kulturpolitisch gebnis sozialer Prägungen akzeptiert und H.s einflussreiche Werke der Weimarer Zeit sind Begriff der ‚Menschheitlichkeit‘ durch eine die Ideen zur Philosophie der Geschichte der doktrinäre Menschlichkeit ersetzt. Menschheit (1784–1791) und die Briefe zu Be- förderung der Humanität (1793–1797). Auch Werke diese beiden Schriften entwickeln Gedanken Herder, Johann Gottfried: Sämmtliche Werke. 33 Bde. aus H.s SuD-Zeit weiter. So wird in den Ideen Hg. v. Bernhard Suphan, Carl Redlich u. Reinhold der Versuch unternommen, die Geschichte Steig. Berlin 1877–1913. – Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u. a. Frankfurt a.M. 1985–2000 der seinerzeit bekannten Kulturen aus der (= FA); FA 2, 443–562 [Von Deutscher Art und Kunst]; Natur bzw. Psychologie des Menschen her- FA 4, 233–242 [Zum Sinn des Gefühls]; FA 6, 142–149 aus zu verstehen. Im Unterschied zum Tier [Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit sei dieser nicht von Instinkten geleitet, die organisieret]; FA 7, 698–706 [Briefe zu Beförderung der an eine spezifische Umwelt angepasst sind, Humanität. 10. Sammlung. 116. Brief]; FA 9.2, 9–126 vielmehr stehe ihm die Welt in ihrer Vielge- [Journal meiner Reise]. staltigkeit offen – ein Vorzug, der freilich nur um den Preis einer steten ‚Unruhe‘ zu haben Forschung ist: „Eben weil der Mensch alles lernen muß Goedeke 2.6, 657–662. Greif, Stefan: „Unsere Humanität ist nur Vorübung …“ […]: so lernt er auch nur durch Fallen gehen Herders Widerlegung doktrinärer Menschlichkeit, in: und kömmt oft nur durch Irren zur Wahrheit „Verteufelt human?“ Zum Humanitätsideal der Wei- […]. Der Mensch ist der erste Freigelassene marer Klassik. Hg. v. Volker C. Dörr u. Michael Hof- der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage mann. Berlin 2008, 31–45.

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Haym, Rudolf: Herder nach seinem Leben und seinen und Drang verlieh K. 1776 der Epoche ihren Werken vorgestellt. Berlin 1877–1885. Namen. Irmscher, Hans Dietrich: . Die biographischen Daten von K. sind nur Stuttgart 2001. bedingt bekannt, da er selbst in seine Lebens- Killy 5, 232–238. Kosch 7, 941–950. zeugnisse Ungenauigkeiten einfließen ließ, Martinson, Steven D.: Herder’s Life and Works, in: A welche auch seine Frau Lisette Kaufmann, Companion to the Works of Johann Gottfried Herder. geb. Ziegler (1750–1826) in ihre Darstellung Hg. v. Hans Adler u. Wulf Koepke. Rochester 2009, aufnahm. Als gesichert gilt, dass K. am 15–41. 14. 8. 1753 in Winterthur als vierter Sohn von Proß, Wolfgang (Hg.): Herder und die Anthropologie Christoph Adrian Kaufmann (1707, Sterbe- der Aufklärung. München u. a. 1987. Schöne, Albrecht: Herder als Hamann-Rezensent. jahr unbekannt) und Anna Barbara Wein- Kommentar zur Dithyrambischen Rhapsodie, in: Eu- mann (1708–1776) in gutbürgerlichen Verhält- phorion 54 (1960), 195–201. nissen zur Welt kam. Sein Vater bekleidete Zaremba, Michael: Johann Gottfried Herder. Prediger in der kleinen Stadt an der Eulach die Ämter der Humanität. Köln u. a. 2002. des Spitalschreibers, Klein- und Großrats und Stefan Greif Statthalters und war von Beruf Gerbermeister. K. scheint keinen Schulabschluss gemacht zu haben und beginnt mit seiner nur oberfläch- lich gebliebenen Schulbildung 1767 eine Apo- Kaufmann, Christoph thekerlehre in Bern. Danach verlieren sich * 14. 8. 1753 Winterthur, † 21. 3. 1795 Berthels- seine Spuren (gewisse Quellen sprechen von dorf b. Herrnhut verschiedenen Anstellungen als Apotheker- gehilfe in Tübingen und Freiburg i.Br., vgl. Christoph Kaufmann war wohl einer der Minor 1882; andere von Lausanne, vgl. Men- unruhigsten Geister in dem von Empfind- ges 1977), bis er 1774 nach seinen Wanderjah- samkeit und Gefühl geprägten letzten Vier- ren eine Anstellung als Apothekergehilfe in tel des 18. Jh.s. Er prägte die Epoche des Straßburg bekam und daneben medizinische SuD nicht durch ein selbstverfasstes Werk, Vorlesungen besuchte. K. machte Bekannt- sondern durch seine emphatische Art, mit schaft mit Iselin, welcher er sich auf den verschiedensten und Johann Caspar Lavater, welche sich für Gebieten einzubringen wusste. So war er ihn einzusetzen begannen und besonders mit den größten Geistern der Zeit bekannt seine von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und befreundet, mischte sich in die Dis- und Basedow angeregten philanthropischen kussion um eine neue Pädagogik ein und Ideen förderten. 1774/1775 gründete K. mit reiste als selbsternannter Prophet quer durch Jakob Mochel, Johann Schweighäuser, Jo- Deutschland. Schlosser, Klinger, Goethe, Her- hann Friedrich Simon und mit seinem späte- der, Isaak Iselin (1728–1782) und Johann Bern- ren Jünger, ständigen Begleiter und Schreiber hard Basedow (1724–1790) waren für eine be- Johann Christian Ehrmann (1749–1827) einen grenzte Zeit seine Verehrer; Lavater widmete ‚Bruderbund‘ und verfasste mit den drei ihm in seinen Physiognomischen Fragmenten Letztgenannten 1775 die Philanthropischen (1775–1778) ein Denkmal. Mit der Umbenen- Aussichten redlicher Jünglinge, welche vom nung von Klingers Drama Wirrwarr in Sturm Basler Magistraten und Pädagogen Iselin

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ihren denkenden und fühlenden Mitmenschen sich außerhalb des kleinen Fürstentums mit zur Erwegung übergeben wurden. Nach sei- Gleichgesinnten wie Goethe, Matthias Clau- ner Rückkehr in die Schweiz nahm K. kein ge- dius, Johann Heinrich Voß, Heinrich Leopold ordnetes Leben auf und bildete sich auch Wagner, Maler Müller und Johann Martin nicht im Sinne der Aufklärung weiter, son- Miller. K. kehrte 1777 nach Dessau zurück, dern erklärte sich nun zum Naturgenie. Er wo jedoch am 27. März nach einem heftigen lehnte sich gegen das „elende Raisonnement“ Zwist „die Entfernung Kaufmanns“ (Der All- (Minor 1882, 469) von Kunst und Wissen- tag der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau, 43) schaft auf, aß zumeist nur noch vegetarisch, erfolgte. folgte jedoch vorerst nicht dem Ruf Basedows Zumeist bewundert und mit Begriffen ans Philanthropin in Dessau, wie es drei sei- wie „Apostel des 18. Jahrhunderts“ (Menges ner Verbündeten getan hatten, sondern ließ 1977) versehen und zum schwärmerischen sich von Lavater als genialer Kraftmensch Kraftgenie hochstilisiert, erschien 1776 in „in den innersten Kreis“ (Physiognomische Frankfurt und Leipzig ‚von einem Reisenden‘ Fragmente. Bd. 3, 158) seiner Geliebten auf- unter der Abbreviatur E.U.K. herausgegeben nehmen. Auf Basedows erneutes Drängen die Publikation Allerley gesammelt aus Reden und mit Empfehlungen von Lavater versehen und Handschriften großer und kleiner Män- reiste K. in imposantem Gehabe über verschie- ner. Hinter E.U.K. versteckten sich die Namen dene Stationen nach Dessau. Seine „apostoli- Ehrmann und K., welche mit ihrer Schrift die sche Reise durch ganz Deutschland“ (Minor Werte der Aufklärung und deren Vertreter 1882, 470) führte ihn an die verschiedenen verspotteten. Die Reaktion folgte 1778 mit den Höfe in Karlsruhe, Mannheim, Darmstadt Brelocken an’s Allerley der Groß- und Klein- und Weimar. Dort fand er vorerst freundli- männer, in welchen nun vor allem Johann che Aufnahme bei Herzog Karl August (1757– Jacob Hottinger (1750–1819) und Johann Ru- 1828) und dessen Gattin Louise (1757–1830), dolf Sulzer (1749–1828) die junge Generation bei Goethe, Wieland und Lenz. Klinger hatte der „Enthusiasten, Genieruffer, Gefühlelek- er bereits in Weimar getroffen und ihm emp- trisirer, Physiognomisten und Moderefor- fohlen, sein Drama Wirrwarr in Sturm und matoren“ (Brelocken, 21) in ihre Schranken Drang (1777) umzubenennen (vgl. Luserke wiesen. Die Reaktion aus der Limmatstadt 2010, 26). Besondere Begeisterung schlug K. war umso schärfer, weil 1777 der dritte Band in Weimar von dem eben dorthin berufenen von Lavaters vierbändigem Werk Physiogno- Herder entgegen, der in einem Brief vom Ok- mische Fragmente, zur Beförderung der Men- tober 1776 an Lavater von dem „großen, star- schenkenntniß und Menschenliebe erschienen ken, lieben, holden Mensch“ K. schrieb, wel- war, in welchem Lavater K. auf mehreren cher ihn „wie ein Engel Gottes umfangen und Seiten und Bildtafeln zum Genieapostel hoch- empfangen“ habe: „Meine Seele klebt fest an stilisierte und ihm „innere tiefe, ungelernte der seinen, und nichts auf der Welt soll sie Größe und Urfestigkeit“, ein Gesicht „voll trennen.“ (Herders Briefe, 177) Im November Blick, voll Drang und Kraft“, auf der Stirne 1776 traf K. bei Fürst Franz und Fürstin Lou- „ehernen Muth“ und in den Lippen „wahre ise in Anhalt-Dessau ein, interessierte sich Freundschaft und feste Treue“ zuschrieb. Mit jedoch weniger für die pädagogische Arbeit dem Leitsatz „Man kann, was man will; Man Basedows am Philanthropin, sondern traf will, was man kann!“ vertrat K. für Lavater

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das Ideal des SuD. (Physiognomische Frag- Ehrmann:] Allerley gesammelt aus Reden und Hand- mente. Bd. 3, 161) schriften großer und kleiner Männer. Herausgegeben Durch K.s Prahl- und Geltungssucht, von Einem Reisenden E.U.K. Frankfurt a.M. u. a. 1776. Der Alltag der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau. Ihre seine Lügengeschichten und Phantasterei Tagebuchaufzeichnungen 1756–1805, zusammenge- sowie seine Uneinsichtigkeit und Streitsucht fasst von Friedrich Matthisson. Hg. v. der Kulturstif- wurde er jedoch schon bald nicht mehr nur tung Dessau Wörlitz. Mit einem einleitenden Essay v. von den Vertretern der Aufklärung angegrif- Ursula Bode. München 2010. fen, sondern auch aus den eigenen Reihen. Herder, Johann Gottfried: Herders Briefe. Ausgewählt, So verspottete ihn Maler Müller, der ihn 1776 eingeleitet und erläutert von Wilhelm Dobbek, Wei- mar 1959. noch als „Gottes Spürhund“ (Luserke 2010, [Hottinger, Johann Jacob u. Johann Rudolf Sulzer:] 194) bezeichnet hatte, 1778 in Fausts Leben Brelocken an’s Allerley der Groß- und Kleinmänner. dramatisiert als windigen Aufschneider, und Leipzig 1778. auch Klinger und Lavater (und Jakob Sarasin Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, [1742–1802]) wandten sich in Plimplamplasko, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Men- der hohe Geist (heut Genie) (1780) wie Schlos- schenliebe. 4 Bände. Leipzig u. Winterthur 1775–1778. ser und andere von K. ab. Goethe stieß mit seinem Spottgedicht Christoph Kaufmann Forschung Arburg, Hans Georg von: Kaufmann, Christoph, in: (E: 1779, D: 1836) diesen dann endgültig vom Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. v. der Stiftung Sockel des Ur- und Naturgenies: „Als Gottes Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Bd. 7. Basel Spürhund hat er frei / Manch Schelmenstück 2008, 140. getrieben, / Die Gottesspur ist nun vorbei, / Dünzer, Heinrich: Christoph Kaufmann: Der Apostel Der Hund ist ihm geblieben.“ (MA 2.1, 50) der Geniezeit und der herrnhutische Arzt. Ein Lebens- 1778 heiratete K. die gutbürgerliche Li- bild. Leipzig 1882. Goedeke 2.6, 739. sette Ziegler, Tochter des Obervogts Adrian Killy 6, 322–324. Ziegler, welcher auf Schloss Hegi nahe Win- Kosch 2, 1233. terthur amtete, wohin sich K. für eine Weile Lindinger, Stefan: Kaufmann, Christoph, in: Biogra- als Bauer zurückzog. Er schloss sich danach phisch-Bibliographisches Lexikon. Bd. 17. Herzberg der Herrnhuter Brüdergemeine an und reiste 2000, Sp. 771–776. 1781 auf Anraten seines Mäzens Baron Kurt Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. von Haugwitz auf dessen Gut Straduna, bil- Stuttgart 2010. dete sich danach in Breslau medizinisch wei- Menges, Franz: Kaufmann, Christoph, in: NDB 11 ter und arbeitete bis zu seinem Tod als Arzt (1977), 347–349. in den Herrnhuter Gemeinden Gnadenfeld, Milch, Werner: Christoph Kaufmann. Frauenfeld 1932. Neusalz und ab 1786 im sächsischen Herrn- Minor, Jakob: Kaufmann, Christoph, in: ADB 15 (1882/ 1969), 469–473. hut, wo er am 21. 3. 1795 in Berthelsdorf bei Herrnhut starb. Ursula Caflisch-Schnetzler

Werke [Kaufmann, Christoph:] Philanthropische Aussichten redlicher Jünglinge, ihren denkenden und fühlenden Mitmenschen zur Erwegung übergeben durch Isaak Iselin. Basel 1775. – [zusammen mit Johann Christian

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Klinger, Friedrich Maximilian Schwestern in der Unterschicht des reich- * 17. 2. 1752 Frankfurt a.M., † 25. 2. 1831 Dorpat städtischen Bürgertums auf; ein Umstand, (Estland) der literarisch in seinem Werk nicht verar- beitet wird. Seine Mutter, Cornelia Margareta Friedrich Maximilian Klinger gehört zur Dorothea, geb. Fuchs, muss die Familie als Kerngruppe der SuD-Autoren. Sein umfang- Krämerin und Wäscherin ernähren. K. steuert reiches Werk umfasst 23 Dramen, von de- schon während der Schulzeit Geld hinzu, das nen die Hälfte in die Jahre vor 1790 datieren, er mit Nachhilfestunden, als Kurrendesänger hinzu kommen 14 Romane. Sein Name fällt und Ofenheizer der Schule verdient. Von der in Bezug auf den SuD stets mit den großen schwierigen Situation der Jugendzeit handelt Vorbildern Rousseau (1712–1778) und Shake- ein Brief an Lenz, der in der zweibändigen speare (1564–1616). Er liefert mit Sturm und Biographie von Max Rieger (1880/1896) nicht Drang das Drama, dessen Titel der Zeit als abgedruckt ist und mit der Formulierung plakative Parole dient und der Epoche zu anhebt: „Hier haben Sie meine Geschichte.“ ihrem Namen verhilft, auch wenn das Stück (Schmidt 1888, 10 f.) K. wird es durch einen selbst formal wie inhaltlich weit weniger als Gönner aus der Nachbarschaft, den Gymna- Modelldrama der Periode herhalten kann. In sialprofessor Zink, ermöglicht, das Gymna- der Forschung sind K.s Werke wenig bespro- sium zu besuchen. Wohl gegen Ende seiner chen, Hering bezeichnet ihn 1966 als „unbe- Schulzeit findet er Anschluss an die Dichter, kannten Klassiker“ (Hering 1966, 3), Segeberg die sich um den jungen Goethe scharen, unter konstatiert noch 2001 seine marginale Rolle ihnen Heinrich Leopold Wagner und Johann gegenüber dem rezeptionsmächtigen Freund Georg Schlosser. In K.s Wohnung in der Rit- Goethe (vgl. Segeberg 2001, 179). Weniger als tergasse versammelt man sich sonnabendlich 20 Forschungsbeiträge sind zwischen 2000 zu ersten konspirativen Treffen, darunter der und 2012 erschienen. Die 2012 vorgelegte Musiker Philipp Christoph Kayser (1755–1823), Dissertation von Anna Poeplau ist auf weite den K. 1778 in Zürich wiedertreffen wird, sein Sicht die erste monographische Einzelstudie, späterer Brieffreund Ernst Schleiermacher die sich der Dramen K.s und damit der zent- (1755–1844), Lenz, Wagner und Goethe, die ralen Werke der SuD-Periode annimmt, und sich ganz oder zeitweilig in Frankfurt auf- darf als willkommener Versuch gelten, dem halten. Werk des Autors im Wissenschaftsdiskurs der Goethe unterstützt den Jugendfreund fi- Autorengeneration um 1800 mehr Gewicht zu nanziell, sodass dieser 1774 ein Jurastudium verleihen. in Gießen beginnen kann und durch dessen K. wird am 17. 2. 1752 als mittleres von Vermittlung bei dem Juristen Ludwig Julius drei Kindern in ärmlichen Verhältnissen in Höpfner (1743–1797) unterkommt. Von der Frankfurt a.M. geboren. Bereits mit acht Jah- Wertschätzung Goethes gegenüber K. zeugt ren wird er Halbwaise, denn 1760 stirbt sein dessen positive Darstellung in Dichtung und Vater, Johannes Klinger, der aus bäuerlichen Wahrheit (1811–1833), ein in vielen Punkten Verhältnissen stammte und sich als Konsta- auch literarisches Porträt, das die Bewertung bler und Büchsenmeister bei der städtischen K.s und seiner Werke nachhaltig beeinflusst Artillerie in Frankfurt seinen Lebensunter- hat. Das Studium bricht K. jedoch nach zwei halt verdiente. K. wächst mit seinen beiden Jahren ab. K.s Biograf Rieger bezeugt dessen

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Leseeifer und meint damit literarische vor fentlichkeit auch namentlich bekannt wird, juristischen Werken. Das finanzielle Engage- da seine ersten Werke anonym erscheinen. ment Goethes geht soweit, dass er K. das Ma- K.s Stück wird aufgrund motivischer Überein- nuskript seiner Fastnachtsspiele überlässt, stimmungen der Vorzug gegenüber Johann damit er dieses an einen Verleger verkaufen Anton Leisewitz’ Julius von Tarent (1776) für und den Gewinn zur Lebenshaltung einbe- den angekündigten Druck von Originalstü- halten kann (vgl. Rieger 1880. Bd. 1, 26). cken gewährt; es handelt sich dabei jedoch Mit 23 Jahren reüssiert K. als Drama - weder um einen Wettbewerb noch ein Preis- tiker. Seine ersten Stücke erscheinen in ausschreiben, sondern um eine vom Direktor kurzer Folge. Nach Otto (1775), einem Ritter- der Ackermannschen Theatertruppe, Fried- drama mit stofflichen und formalen Paralle- rich Ludwig Schröder (1744–1816), initiierte len zu Goethes Götz von Berlichingen (1773) Fördermaßnahme. und Shakespeares King Lear (1607/1608), Noch als Gießener Student eingeschrie- folgt noch im selben Jahr Das leidende Weib ben, verfasst K. im Winter 1775/1776 Die neue (1775), eine zeitgenössische Tragödie über Arria. In diese Zeit fällt wohl auch die Be- den Ehebruch. Die bei K. mitunter recht ex- schäftigung mit Petrarca (1304–1374), von dem plizit durchscheinenden Prätexte werden er mehrere Kanzonen übersetzt und die der dabei jedoch weniger nachahmend – wie ihm Nebenhandlung um die Malerstochter Laura dies von der zeitgenössischen Literaturkritik in Analogie zu Petrarcas gleichnamiger Muse vorgeworfen wird – als vielmehr produktiv im Kontur verleiht. Ein Pyrrhus-Drama, mit dem Sinne eines intertextuellen Spiels in die Texte sich K. 1775 beschäftigt und das sich dem eingearbeitet. Eine mit neueren Forschungs- militärischen Wirken des griechischen Feld- methoden und -fragen operierende Aufarbei- herrn unter Berücksichtigung von Plutarchs tung dieser Bezugnahmen und ihrer Funk- (ca. 45–120 n. Chr.) Lebensbeschreibungen tionen in den Dramentexten ist bislang nur in widmet, bleibt Fragment. Ansätzen geleistet (vgl. Poeplau 2012, 11 ff.). 1776 arbeitet er an Die Zwillinge, an Pyr- 1776 legt K. gleich drei weitere dramati- rhus und schließlich Simsone Grisaldo, wel- sche Arbeiten vor: das mit Exotismen ausstaf- ches er kurz nach seiner Ankunft in Weimar fierte Schauspiel Simsone Grisaldo, das im Ita- fertigstellt (vgl. Brief von Wieland an Merck, lien der Renaissance angesiedelte Schauspiel zit. bei Rieger 1880. Bd. 1, 177). K. entwirft Die neue Arria sowie das von der Forschung damit in kurzer Folge – mit Ausnahme des vielfach gewürdigte Drama Die Zwillinge, das zeitkritischen, gegenwartsnahen Stücks Das vor allem in der besonderen Behandlung des leidende Weib – eine Reihe von Dramen mit Bruderzwists, der Zuspitzung auf das frag- historisch wie topographisch weit gespreiz- würdige Erstgeburtsrecht der Zwillinge, her- ten Themen und ständisch hochgestellten vorsticht. Protagonisten. Diese werden in der Forschung Auf das Szenario der vermeintlichen durchgängig als polternde, genialische Kraft- Preisverleihung und den mit der ‚Auszeich- stücke im Sinne des SuD eingeschätzt (vgl. nung‘ einhergehenden Ruhm für Die Zwil- Ueding 1981, 9 f.). Das Unvermögen, sprach- linge wird immer wieder verwiesen (zuletzt liche Gefasstheit und kompositionelle Ord- Poeplau 2012, 21). Außer Frage steht, dass K. nung einzuhalten, kann allerdings auch als durch die Veröffentlichung einer breiten Öf- ein Abtasten dramatischer Grenzbereiche

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im Sinne einer brüchig gewordenen Formen- tischer Sinnhaftigkeit durch Überzeichnung strenge und bewussten Abgrenzung gegen- zu unterlaufen. über überkommenen Dramentypen bewertet Gedrängt durch seine anhaltend prekäre werden. Die Kraftmenschen K.s wirken dabei finanzielle Situation verfolgt K. in Weimar merklich hilflos in den dramatischen Ver- mehrere Pläne. So will er zum einen eine mili- suchsanordnungen, in denen sie vorgeführt tärische Laufbahn einschlagen und sich unter werden. Mitunter verlieren sie, wie Otto in englischer Flagge nach Amerika zum Unab- dem gleichnamigen Ritterdrama, ganz die hängigkeitskrieg einschiffen lassen. Zum an- Führung über die dramatische Handlung. Die deren lernt er in Gotha Christoph Kaufmann theatrale Lösung der Konflikte liegt in den kennen, den selbsternannten Genieapostel meisten Fällen im tödlichen Abgang, was im des SuD, der ihn nachhaltig beeinflusst. Aus Hinblick auf Die Zwillinge oder Otto als Schei- einem Brief ist zu erfahren, dass er vorhat, tern an den Bedingungen der Welt angesehen mit diesem nach Dessau zu gehen und sich werden muss. Der eigentliche Konflikt des als Lehrer im Philanthropinum, einem von Dramas hat dabei als Problemstellung über Basedow (1724–1790) gegründeten, reforme- den Text hinaus Bestand. Versöhnliche Aus- rischen Gymnasium, anstellen zu lassen (vgl. gänge bietet K. in den Schauspielen Simsone Rieger 1880. Bd. 1, 401, Brief XXV). Nach ei- Grisaldo und Sturm und Drang an. Hier jedoch nigen Spannungen, die vielleicht auf dem unterliegt die harmonisch angesetzte Lösung enthusiastischen Verhältnis zu Kaufmann fu- der Ironie und der Verschiebung ins Karika- ßen, kommt es im Herbst 1776 zu einem Bruch turhafte. mit Goethe, dessen Ursachen bis heute nicht Nach seinen ersten Erfolgen als Drama- geklärt sind. Goethe schreibt sowohl an Merck tiker bricht K. 1776 das Studium ab, das er (1741–1791) als auch an Lavater im September ohnehin nicht sehr forciert vorangetrieben mit fast gleichem Wortlaut, K. sei ihm „wie ein zu haben scheint, und folgt unaufgefordert Splitter im Fleisch, er schwürt, und wird sich seinem Mentor Goethe nach Weimar. An Boie herausschwüren leider“ (Goethe an Lavater, (1744–1806) schreibt er bereits am 13. 1. 1776: zit. nach Rieger 1880. Bd. 1, 164). Im Brief an „Mir ist alles academische Leben verhaßt. Merck fügt er alliterativ eine „harte Hetero- Nach Göttingen mag ich gar nicht. Was soll geneität“ (Goethe an Merck, zit. nach ebd.) ich dort?“ (zit. nach Rieger 1880. Bd. 1, 380, hinzu, die keine weitere Explikation erfährt. Brief VIII) Das Drama Sturm und Drang, zu- Von Goethes mehrere Seiten umfassen- nächst mit dem Titel Wirrwarr versehen, er- den Bemerkungen über K. im 14. Buch von scheint 1777 und wird wohl während seines Dichtung und Wahrheit zehren die biogra- Aufenthalts in Weimar verfasst. In seinem phischen Beschreibungen. Goethe baut K. Abstraktionsbestreben – die Handlung spielt hier – nach dem Bruch 1776 war es um 1800 durchweg in einem Gasthaus irgendwo in zu einer erneuten Annäherung aus der fernen Amerika – und einem wenig glaubhaften Zu- Distanz zwischen St. Petersburg und Weimar sammentreffen der über die Welt verstreuten, gekommen – zum Idealtypus eines bürger- zu Teilen totgeglaubten Protagonisten ist die- lichen ‚Selfmademan‘ auf, der mit seinen ses Stück sicherlich der experimentellste Ver- Fähigkeiten, „leichte Fassungskraft, vortreff- such K.s, dramatische Kontingenz zur Dispo- liches Gedächtnis, Sprachengabe“ (MA 16, sition zu stellen und gängige Muster drama- 639) sowie „Festigkeit und Beharrlichkeit“

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(ebd.), über alle Maßen geeignet scheint, als Trotz der hohen Arbeitsbelastung arbei- Freund neben ihm zu bestehen. So erfährt der tet K. an Stilpo und seine Kinder, einem Stück, harte Bruch mit dem drei Jahre jüngeren Ju- das wie Otto, Simsone Grisaldo oder Die Zwil- gendfreund eine späte Kommentierung und linge Kritik an korrupten Staatssystemen und prägt das Bild vom Gruppengefüge des SuD. Machtmissbrauch vorführt, in das der fami- Vielzitiert ist auch Goethes Einschätzung, liäre Konflikt um Stilpo eingebettet wird. Im K. sei im höchsten Grade Rousseau-Adept und Sommer 1777 entsteht das dramatische Frag- daher einer „der reinsten Jünger jenes Natu- ment Der verbannte Göttersohn, eine Satire, revangeliums“ (MA 16, 640). Dass allerdings die sicherlich nicht zur Aufführung gebracht Rousseaus Erziehungsroman Emile (1762) werden sollte. sein „Haupt- und Grundbuch“ (ebd., 639) Im Herbst des Jahres 1777 beginnt K. – jener frühen Jahre gewesen sei, fußt sicher- immer noch mit finanziellen Problemen be- lich auf der späten Korrespondenz der beiden lastet – einen Unterhaltungsroman zu schrei- Jugendfreunde, die K. als Aktivist im Sinne ben; so entsteht Orpheus, ein heiter-ironi- Rousseaus in reformpädagogischen Diensten scher Roman in der Tradition der Contes des Russlands ausweist. Prägend für den jungen fées, in dessen Mittelpunkt der schöne Jüng- K. – so lassen es die Dramentexte erkennen – ling Bambino und seine mehr oder minder ist vor allem die Lektüre der Julie (1761). erotischen Abenteuer auf der Suche nach K. reist 1776 von Weimar ab und fährt zur seinem abhandengekommenen Männlich- Buchmesse nach Leipzig. Dort trifft er auf keitsausweis stehen. Die ersten beiden Teile Abel Seyler (1730–1800), den Leiter der be- dieses auf Fortsetzung angelegten Werks er- kannten Schauspieltruppe. Von diesem wird scheinen im Folgejahr 1778. Aus nicht geklär- er kurze Zeit später als Theaterdichter ver- ten Ursachen verlässt K. im selben Jahr die pflichtet, was ihm ein festes Gehalt einbringt. Seylersche Truppe. Er reist zu Schlosser nach K. nimmt die Stellung auch mangels fehlen- Emmendingen, dem inzwischen verwitweten der Alternativen dankbar an und hofft, Mutter Schwager Goethes, und sieht Lenz wieder, und Schwestern nun finanziell unterstützen der dort bereits untergekommen ist, physisch zu können. Er begleitet die Truppe ins Winter- und psychisch angeschlagen. K. hofft erneut, quartier nach Dresden und ist im Frühjahr zur eine militärische Karriere in Angriff nehmen Messe wieder in Leipzig, wo Sturm und Drang zu können. Die Bemühungen von Schlosser zur Saisoneröffnung aufgeführt wird. K. ver- und Gottlieb Konrad Pfeffel (1736–1809), K. bringt die nächsten anderthalb Jahre bei Sey- über Kontaktaufnahme zu Benjamin Frank- ler. Durch die Theaterarbeit und wechselnde lin (1706–1790) in das amerikanische Heer Spielorte knüpft er neue Kontakte, trifft u. a. aufnehmen zu lassen, scheitern jedoch. Im Wilhelm Heinse und Lessing (1729–1781). Die Mai 1778 lässt er sich für den Bayerischen Zeit des Herumfahrens hemmt jedoch die Erbfolgekrieg anwerben und ist als Leutnant eigene literarische Produktion, denn K. ist im österreichischen Dienst in Böhmen im nun hauptsächlich damit beschäftigt, Büh- Einsatz. 1780 schreibt er an Schleiermacher, nenfassungen für Stücke zu schreiben und dass er etliche seiner Manuskripte dem Feuer als Dramaturg tätig zu sein. Stationen seiner überantwortet habe, glücklich, dem Schrift- Aufenthalte sind Dresden, Mannheim, Köln, stellerdasein entronnen zu sein (vgl. Rieger Frankfurt und Mainz. 1880. Bd. 1, 427, Brief LV).

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Nach dem Ende des Krieges – der Frie- weitschweifigen Titel Plimplamplasko, der densschluss im Mai 1779 trifft K. hart, da er hohe Geist (heut Genie). Eine Handschrift aus erneut um seine militärische Karriere ban- den Zeiten Knipperdollings und Doctor Martin gen muss – kehrt K. nach Emmendingen zu Luthers (1780) veröffentlicht. Ab September Schlosser zurück. Ein kurzes Intermezzo stellt ist K. beim russischen Thronfolger, Großfürst der Besuch bei seinem Jugendfreund, dem Paul (1754–1801), in Petersburg als Leutnant Komponisten Kayser, in Zürich dar. Hier tritt des Marinebataillons angestellt und erhält er einer freimaurerischen Loge bei. damit den Adelstitel. Zugleich ist er als Vorle- K. schreibt das Lustspiel Der Derwisch, ser für dessen Frau Maria Fjodorowna (1759– das sich in seiner Anlage und komplexen 1828), vormals Sophie Dorothee Prinzessin Szenengestaltung nicht um Aufführbarkeit von Württemberg, tätig, die seit 1776 die schert. Im Winter 1779 erweitert er den Or- zweite Frau des Fürsten ist und 1797 an des- pheus-Roman auf sieben Teile. Er hatte kon- sen Seite Kaiserin von Russland wird. K. ist tinuierlich daran weitergearbeitet und zwi- im Gefolge des Fürstenpaares, das 1781/1782 schenzeitlich zwei weitere Teile publiziert. unter dem Pseudonym der Grafen zu Severny Unter dem Titel Prinz Formosos Fiedelbogen durch Europa reist. Diese Reise führt über und der Prinzeßin Sanaclara Geige, oder Ge- Wien, Italien und Paris auch nach Deutsch- schichte des großen Königs erscheinen weitere land. Unterwegs trifft K. erneut Friedrich Lud- Teile als eigenständiges Buch. K. integriert wig Schröder, der zu diesem Zeitpunkt Leiter sogar ein ganzes Drama in diese Romanhand- des Wiener Hof- und Nationaltheaters ist, und lung: Prinz Seiden-Wurm der Reformator oder überlässt ihm ein Lustspiel mit dem Titel Die die Kron-Kompetenten, ein moralisches Drama falschen Spieler, das Anleihen an Schillers aus dem fünften Theil des Orpheus. Diese sa- Die Räuber (1781) enthält. Noch während der tirische Harlekinade wurde 1780 auch als Europareise vollendet K. das Drama Elfride Einzeldruck veröffentlicht. Der Derwisch und (1783). Nach seiner Rückkehr hat er Russland Prinz Seidenwurm stehen in der Tradition der bis zu seinem Tod 1831 nicht mehr verlassen. politischen Satire. Bis 1790 lassen sich noch dramatische Tätig- Durch erneute Vermittlung von Schlosser keiten nachweisen, so entsteht 1782 das Lust- gelangt K. über den späteren württembergi- spiel Der Schwur, 1785 folgt Der Günstling, das schen Herzog Friedrich Eugen (1732–1797) an Ostern 1786 in Hamburg uraufgeführt wird. den Petersburger Hof. Zuvor aber begibt er K. widmet sich zusehends der Prosa und ent- sich ein weiteres Mal in die Schweiz. Dort trifft wirft einen Romanzyklus (vgl. Hering 1966, er Lavater und den Basler Kaufmann Jakob 258 ff.). Sarasin (1742–1802). Zusammen verfassen Der von der Forschung konstatierte Wan- sie den Beginn eines Romans als Satire auf del im Schaffen K.s und die Abkehr von The- Christoph Kaufmann, eine kritische Abrech- men und Vermittlungsstrategien des SuD nung mit dem selbsternannten Genieapostel, lässt sich sowohl auf formaler wie dramatur- womit auch in Hinsicht auf das zeitweilige gischer Ebene in den Dramen der Zeit able- Vorbild für K. ein Schlussstrich gezogen zu sen. Wichtiges Zeugnis stellt hierfür die Vor- sein scheint. Dieser Roman, dessen Autor- rede seiner Sammlung von Theaterstücken schaft zu weiten Teilen auf K. zurückzuführen von 1786 und überhaupt die Auswahl von ist (vgl. Osterwalder 1979, 56), wird unter dem Stücken dar, die K. hier vornimmt, zumal für

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die ersten Jahrzehnte seines Schaffens keine schen Ämtern vollzieht sich dabei im Zuge der theoretischen oder poetologischen Äußerun- Liberalisierung nach der Thronbesteigung gen vorliegen. „Was sich in dieser Sammlung von Zar Alexander I. (1777–1825). Ab 1803 ist befindet, erkenn’ ich an“, so hebt die Vorrede er zudem Kurator des Schulbezirks und der im ersten Band an (F.M. Klinger’s Theater Universität Dorpat. Durch seine Einbindung 1786. Bd. 1, unpag.). Entsprechend finden die in das Bildungsministerium hat K. großen Frühwerke Otto und Das leidende Weib in der Einfluss auf die Reform des Schulwesens in Ausgabe keine Berücksichtigung, andere, wie Russland. Simsone Grisaldo, erscheinen erst im vierten Das letzte Jahrzehnt von K.s schriftstel- Teil und wirken durch die Außerkraftsetzung lerischer Tätigkeit ist ausschließlich Roman- der Werkchronologie zurückgesetzt. Rück- werken gewidmet. Das umfangreiche Korpus blickend wertet K. seine Frühwerke in dieser bleibt jedoch Fragment. 1816 bittet K. um Sammlung ab und sucht sich als bürgerlich seine Entlassung und Entbindung vom Kura- gesetzter Autor zu konsolidieren. Diese Posi- torenamt, fünf Jahre später legt er auch seine tionierung zu seinen Dramen, die der späten restlichen Ämter nieder. Er zieht sich danach Einschätzung Goethes in Dichtung und Wahr- aus dem öffentlichen Leben zurück. K. stirbt heit entspricht, hat der ohnehin wenig posi- am 25. 2. 1831 in Dorpat. Seine Privatbiblio- tiv gesinnten frühen Forschung einen Grund thek ist als Schenkung der Witwe 1844 in die mehr gegeben, hier in das vom Autor selbst Bestände der Universität Dorpat übergegan- forcierte Bild, das freilich unter dem Eindruck gen. der neuen Lebensbestimmung als hochrangi- K. ist von der literaturwissenschaftlichen ger Militär in Russland steht, mit einzustim- Forschung im Vergleich zu anderen Haupt- men (vgl. Hering 1966, 108 ff.; Osterwalder autoren des SuD wie Goethe oder Lenz merk- 1979, 37 ff.). lich vernachlässigt worden. In der älteren 1788 heiratet K. in St. Petersburg Elisa- Literaturgeschichte findet er zwar als Persön- beth Alexejewa (1761–1844), eine illegitime lichkeit eine durchaus positive Würdigung, Tochter des Fürsten Grigorij Orlov und der seine Werke werden aber zumeist einer bio- Fürstin Helena Stepanowa Kurakin. Von sei- graphischen Lesart unterstellt, die gerade den nen drei Söhnen sterben zwei früh. frühen Dramen eine abwertende Auslegung Die 1780er Jahre sind von der militäri- beschert. Max Riegers zweibändige Biogra- schen Karriere K.s geprägt. Von 1783 bis 1785 phie (1880. Bd. 1; 1896. Bd. 2) bleibt auf weite nimmt er als Oberleutnant im Infanterieregi- Sicht die einzige Arbeit, die sich um eine Auf- ment an den Operationen gegen die Türkei im arbeitung bemüht. Rieger, ein Großneffe K.s, Moldaugebiet teil. Anschließend wird er als zeichnet in seiner umfassenden Studie in po- Kadettenoffizier in das Petersburger Land- sitivistischer Manier zahlreiche Lebensstatio- kadettenkorps aufgenommen, wo er als Mili- nen und Entwicklungslinien des Autors nach tärpädagoge Ruhm erlangt. 1801 wird er zum und legt auch Beschreibungen der einzelnen Generalmajor und Leiter des Kadettenkorps Werke sowie eine rezeptionsgeschichtliche ernannt. So obliegt ihm nach der Jahrhun- Einordnung vor. Der beigestellte Apparat lie- dertwende die Neuordnung der Ausbildung fert eine Auswahl von Briefen K.s, die noch des Offiziersnachwuchses. K.s Aufstieg zu der jüngsten Forschung als alleinige Bezugs- leitenden militärischen und bildungspoliti- quelle dienen. Weitere seien – so überliefert

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Rieger – verbrannt. Fundierte Grundlagen- die kanonische Fixierung auf bestimmte forschung zum Werk K.s in neuerer Zeit fehlt. Werke aus seinem Œuvre begünstigt. Zum Die Sichtung von Beständen in St. Petersburg anderen trägt die wirkungsstarke Historio- oder im estnischen Tartu (vormals Dorpat) hat graphie des 19. Jh.s dazu bei, das Bild K.s und der Teilherausgeber der Historisch-kritischen die Einschätzung seiner Werke nachhaltig zu Ausgabe, Thomas Salumets, anscheinend zu prägen (vgl. Pott 2000, 388). Einen kritischen Teilen vorgenommen, deren Dokumentation Überblick über den Forschungsstand bietet ist jedoch nur für die bislang erschienenen Poeplau (vgl. 2012, 10 ff.). Die Forschung der Bände einzusehen. Noch 2000 konstatiert ersten Jahrhunderthälfte ist bei Hering (vgl. Pott, dass die K.-Forschung stagniert (vgl. 1966, 6 ff.) dargelegt. Dessen Versuch einer Pott 2000, 237). Neuerdings hat Poeplau in ausführlichen Bewertung des Gesamtwerks ihrer Dissertation den Versuch unternom- von 1966 steht jedoch noch unter dem Diktat men, den Dramatiker K. in seinem ganzen der These von K.s Läuterung zum Klassiker, Schaffen monographisch zu würdigen (vgl. weshalb die Jugendwerke abgewertet werden. Poeplau 2012). Daneben bleibt es jedoch als Manche Aussagen sind noch ganz vom Duk- Manko zu verzeichnen, dass die Historisch- tus älterer Literaturgeschichtsschreibung be- kritische Werkausgabe, die seit 1978 im Nie- stimmt und führen zu einer fortgesetzten Ver- meyer Verlag erscheint und allein in der Lage zerrung in der Bewertung der Frühwerke, die wäre, den komplexen Werkbestand und die Hering als Zeugnisse von „Angespanntheit unterschiedlichen Textfassungen umfassend und Verkrampfung“ (ebd.) liest. aufzuarbeiten, nur schleppend vorangeht Die jüngere Forschung diskutiert in Ein- und Grundlagentexte wie abseits liegende zelstudien die Frage der Einordnung von ne- Dramen (die anvisierten Bände 3 und 4) sowie gativen oder gar pathologischen Zügen von die erhaltenen Briefe der Zeit damit bislang K.s Helden, insbesondere am Beispiel Die editorisch nicht gesichert erschlossen sind. Zwillinge. Strittig erscheint dabei die Frage, Poeplau und Pott sehen die Abwertung ob die Modellierung seiner Charaktere als von K.s Schaffen gegenüber anderen SuD- Abkehr vom SuD oder als integraler Bestand- Autoren denn auch vor allem in der Zersplit- teil der Bewegung begriffen werden kann terung des Werkkorpus und dem Fehlen der (vgl. Poeplau 2012, 11). Neuerdings finden die Gesamtausgabe begründet (vgl. Poeplau 2012, Medea-Dramen K.s im Rahmen komparatisti- 9; Pott 2000, 388). Die Entstehungs- und Edi- scher Studien gesondert Beachtung (vgl. Gla- tionsgeschichten der einzelnen Werke K.s er- ser 2001; Luserke-Jaqui 2002; Stephan 2006; scheinen hinsichtlich rascher Publikations- Lü 2009). Biographisch orientierte Neuan- folgen, verschleierter Autorschaften und des sätze zur Bewertung K.s zeigen Ueding (1986) Wechsels von Verlegern komplex. Auswahl- und Segeberg (2001). Vereinzelt finden sich ausgaben, die K. selbst vorgenommen hat Aufsätze zu einer Konturierung spezifischer und denen er zu Teilen redigierte Textfassun- Fragestellungen wie der Darstellung kultu- gen zugrunde legt, verunklären die Textsiche- reller Differenzen in Simsone Grisaldo (vgl. rung. Hermes 2009). In den letzten Jahren wurden vor allem Als Vertreter des SuD muss K. als eine Forschungen zu K.s erzählerischem Spät- zentrale Gestalt angesehen werden. Er ver- werk vorgelegt. Teilausgaben haben zudem kehrt mit den meisten Mitstreitern der Bewe-

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gung freundschaftlich und gehört sicherlich [Basel] 1780. – Die falschen Spieler. Ein Lustspiel in zu den produktivsten Kräften der Gruppe. fünf Aufzügen. Wien 1782. – Der Schwur [in der 2. Die Ausrichtung auf die dramatische Kunst Fassung: Der Schwur gegen die Ehe], in: Friedrich Maximilian Klinger’s Theater. Riga 1786 [2. Fassung in den frühen Jahren seines Schaffens bürgt 1797]. – Elfride. Eine Tragödie. Basel 1783. – Die Ge- für die politische und öffentlichkeitswirksam- schichte vom Goldenen Hahn. [Gotha] 1785. – Kon- gesellschaftskritische Stoßrichtung, der sich radin. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen; von 1784, die SuD-Autoren verschrieben haben. Eine in: Friedrich Maximilian Klinger’s Theater. Riga Neubewertung seiner Dramen muss sich 1786. – Der Günstling. Ein Trauerspiel in fünf Aufzü- vom Ballast der Historiographie des 19. Jh.s gen, in: Friedrich Maximilian Klinger’s Theater. Riga 1787. – Medea [in der 2. Fassung: Medea in Korinth], befreien und von kanonischen Fixierungen in: Friedrich Maximilian Klinger’s Theater. Riga 1787 lösen. Ein unverstellter Blick auf die frühen [2. Fassung St. Petersburg u. Leipzig 1791]. – Aristo- dramatischen Werke kann Ansätze zu einer dymos. Ein Trauerspiel in fünf Akten, in: Friedrich modernen Dramaturgie freilegen, die sich Maximilian Klinger’s neues Theater. Bd. 1, St. Peters- Strukturwillen, Ordnung und Kohärenz durch burg u. Leipzig 1790. – Roderico. Ein Trauerspiel in absichtsvolle Überzeichnung und Außer- fünf Akten, in: Friedrich Maximilian Klinger’s neues Theater. Bd. 1, St. Petersburg u. Leipzig 1790. – Damo- kraftsetzung unter Einsatz jugendlicher Mut- kles. Ein Trauerspiel in fünf Akten, in: Friedrich Ma- willigkeit entgegenstellt. ximilian Klinger’s neues Theater. Bd. 2, St. Petersburg u. Leipzig 1790. – Die zwo Freundinnen. Ein Lustspiel in fünf Akten. Ein Trauerspiel in fünf Akten, in: Werke Friedrich Maximilian Klinger’s neues Theater. Bd. 2, [Klinger, Friedrich Maximilian:] Otto. Ein Trauerspiel. St. Petersburg u. Leipzig 1790. – Bambino’s sentimen- Leipzig 1775. – [Ders.:] Das leidende Weib. Ein Trau- talisch-politische, comisch-tragische Geschichte. 4 erspiel. Leipzig 1775. – Die Zwillinge. Ein Trauerspiel, Bde., St. Petersburg u. Leipzig 1791. – Medea auf dem in: Hamburgisches Theater, Erster Band, Hamburg Kaukasus. Ein Trauerspiel. St. Petersburg u. Leipzig 1776. – [Ders.:] Die neue Arria. Ein Schauspiel. Berlin 1791. – Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. In fünf 1776. – [Ders.:] Simsone Grisaldo. Schauspiel in fünf Büchern. St. Petersburg 1791. – Geschichte Giafars Akten. Berlin 1776. – Sturm und Drang. Ein Schau- des Barmeciden in fünf Büchern. Ein Seitenstück zu spiel. Berlin 1777 [mit Erscheinungsvermerk o.O. Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt. St. Petersburg 1776]. – Scenen aus Pyrrhus Leben und Tod, einem 1792–1794. – Geschichte Raphaels de Aquillas in fünf Schauspiel, in: Deutsches Museum 1776. Bd. 1, St. 3 Büchern. Ein Seitenstück zu Fausts Leben, Thaten (März), 236–253. – [Ders.:] Der verbannte Göttersohn. und Höllenfahrt. St. Petersburg u. Leipzig 1793. – Rei- Erste Unterhaltungen. Gotha 1777. – Orpheus, eine sen vor der Sündfluth. Bagdad [Riga] 1795. – Der Faust Tragisch-Komische Geschichte. Genf 1778–1780. – der Morgenländer, oder Wanderungen Ben Hafis, Er- [Ders.:] Stilpo und seine Kinder. Ein Trauerspiel zählers der Reisen vor der Sündfluth. Bagdad [Leip- in fünf Akten. Basel 1780. – Prinz Seidenwurm der zig] 1797. – Geschichte eines Teutschen der neuesten Reformator oder die Kron-Komponenten. Ein mora- Zeit. Leipzig 1798. – Sahir, Eva’s Erstgeborener im lisches Drama, aus dem 5. Theil des Orpheus. Genf Paradiese. Tiflis [Riga] 1798. – Der Weltmann und der 1780. – [Ders.:] Der Derwisch. Eine Komödie in fünf Dichter. Leipzig 1798. – Das zu frühe Erwachen des Aufzügen. Ormus 1780. – Prinz Formosos Fiedelbo- Genius der Menschheit. Köln 1803. – Betrachtungen gen und der Prinzeßin Sanaclara Geige, oder Ge- und Gedanken über verschiedene Gegenstände der schichte des großen Königs. Vom Verfaßer des Or- Welt und der Literatur. 3 Bde. Köln 1803–1805. pheus. Genf 1780. – Plimplamplasko, der hohe Geist Goethe, Johann Wolfgang: MA 16, 639–640. (heut Genie). Eine Handschrift aus Zeiten Knipper- dollings und Doctor Martin Luthers. Zum Druck be- fördert von einem Dilettanten der Wahrheit; und mit Kupfern geziert von einem Dilettanten der Kunst.

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Forschung Schmidt, Erich: Klinger, Friedrich Maximilian, in: Elschenbroich, Adalbert: Klinger, Friedrich Maximi- ADB 16 (1882), 190 ff. lian, in: NDB 12 (1979), 83–89. Segeberg, Harro: Friedrich Maximilian Klinger: Ein Glaser, Horst Albert: Medea. Frauenehre – Kinds- Beitrag zur Geschichte der Gegen-Klassik, in: Klas- mord – Emanzipation. Frankfurt a.M. 2001. sik und Anti-Klassik: Goethe und seine Epoche. Hg. Goedeke 4.1, 800–811. v. Ortrud Gutjahr u. Harro Segeberg. Würzburg 2001, Hering, Christoph: Friedrich Maximilian Klinger. Der 279–293. Weltmann als Dichter. Berlin 1966. Smoljan, Olga: Friedrich Maximilian Klinger. Leben Hermes, Stefan: Zivilisierte Barbaren. Figurationen und Werk. Weimar 1962. kultureller Differenz in Lenz’ Der neue Menoza und Stephan, Inge: Medea. Multimediale Karriere einer Klingers Simsone Grisaldo, in: Wirkendes Wort 59.3 mythologischen Figur. Köln 2006. (2009), 359–382. Ueding, Gert: Friedrich Maximilian Klinger. Ein ver- Hettner, Hermann: Geschichte der deutschen Litera- bannter Göttersohn. Lebensspuren 1752–1831. Eine tur im achtzehnten Jahrhundert. Drittes Buch: Das Auswahl aus dem Werk. Hg. v. Gert Ueding. Stuttgart klassische Zeitalter der deutschen Literatur. Erste 1981. Ab thei lung: Die Sturm- und Drangperiode. Erste Auf- lage. Braunschweig 1869/1870. Constanze Baum Killy 6, 387–389. Kosch 8, 1335–1338. Luserke-Jaqui, Matthias: Medea. Studien zur Kulturge- schichte der Literatur. Tübingen u. Basel. 2002. Klopstock, Friedrich Gottlieb Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – * 2. 7. 1724 Quedlinburg, † 14. 3. 1803 Hamburg Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010. Friedrich Gottlieb Klopstock war in der Lü, Yixu: Medea unter den Deutschen. Wandlungen Empfindsamkeit und im SuD Kult, ein „Ab- einer literarischen Figur. Freiburg 2009. Müller, Michael: Philosophie und Anthropologie der gott der Jugend“ (NA 20, 457), wie Schil- Spätaufklärung. Der Romanzyklus Friedrich Maximi- ler 1795 in kritischer Rückschau schrieb. In lian Klingers. Passau 1992. Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Osterwalder, Fritz: Die Überwindung des Sturm und Werthers (1774) wird „Klopstock!“ für Lotte Drang im Werk Friedrich Maximilian Klingers. Die und Werther zur „Losung“, die einen ganzen Entwicklung der republikanischen Dichtung in der Zeit der Französischen Revolution. Berlin 1979. „Strom von Empfindungen“ auslöst. (WA 19, Poeplau, Anna: Selbstbehauptung und Tugendhero- 36) Und die Geniekonzepte des SuD wurden ismus. Das dramatische Werk Friedrich Maximilian durch K.s Selbststilisierung zum gottgleichen Klingers zwischen Sturm und Drang und Spätaufklä- Künstler bestätigt (vgl. Goedeke 4.1, 153; Alt rung. Würzburg 2012. 1996, 153 f.). Die Losung ‚Klopstock‘ stand Pott, Sandra: Imbecillitas und Genius. Überlegungen für das neue Selbstbewusstsein der bürger- für eine Interpretation der „philosophische[n] Ro- mane“ Friedrich Maximilian Klingers vor dem Hin- lichen Intellektuellen, für die Einzigartig- tergrund differenzierender Wertungen in der Litera- keit des Einzelnen und die Gleichheit in der turhistoriographie des 19. (und 20.) Jahrhunderts, Gemeinschaft und für die Aufwertung des in: Kunst und Wissenschaft um 1800. Hg. v. Thomas Gefühls. Um das zu erreichen, hatte K. auch Lange u. Harald Neumeyer. Würzburg 2000, 237–258. poetologisch neue Wege eröffnet: Der antiken Rieger, Max: Friedrich Maximilian Klinger. Sein Leben Dichtkunst mit ihrer strengen Regelhaftigkeit und Werke. 2 Bde. Darmstadt 1880/1896. Schmidt, Erich: Auszug einer Stelle aus einem Briefe stellte er eine vermeintlich urdeutsche Tra- des Herrn Klinger aus Giessen, eines gebohrnen Frank- dition an die Seite, die Bardenliteratur. Ähn- furters an Lenzen, in: GJb 9 (1888), 10–11. lich wie bei ‚Ossian‘ handelte es sich dabei

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um eine Projektionsfläche für Konzepte von Alt 1996, 152). Der Messias ist von K. durchaus Natürlichkeit und Ursprünglichkeit. Aus der als Erbauungsliteratur konzipiert worden (vgl. Sehnsucht nach einer geschichtlichen Iden- Auerochs 2006, 207 f.) und als solche auch, tität entsprang ein Vaterlandspathos, das sogar bis ins 19. Jh. hinein, gelesen worden, durchaus offen für Chauvinismus war (vgl. wodurch er eine große, vor allem weibliche Blitz 1996, 82–97). Besonders in der Lyrik eta- Leserschaft erreicht hat. Aber der religiöse blierte K. einen ganz neuen Formenkanon, Gegenstand markiert keinen Rückfall in vor- indem er sich die antike Metrik aneignete, aufklärerisches Denken, lediglich einen Af- sie modifizierte und auch eigene Strophen front gegen den Rationalismus der Frühauf- erfand, wobei er alternierende Metren und klärung, wie ihn allen voran Johann Christoph Reime mied. K. trieb die Individualisierung Gottsched (1700–1766) vertrat. K.s Darstellung von Versgruppen schließlich so weit, dass sie unterwirft die biblischen Vorlagen einer ganz in kein Strophenschema mehr passten und eigenen Perspektivierung, berücksichtigt schrieb damit die ersten freien Rhythmen. den aktuellen Stand naturwissenschaftlicher Die Grundlagen seiner Bildung, profunde Kenntnisse und räumt der Einbildungskraft Kenntnisse der griechischen und lateinischen hohen Stellenwert ein. In den Vordergrund Literatur und Geschichte sowie der Bibel, treten subjektive Eindrücke und Erfahrungen, erwarb K. auf der Fürstenschule Pforta. 1745 hinter denen die Ereignisse gelegentlich bei- nahm er das Studium der Theologie und Phi- nahe verschwinden. Weil es nicht mehr um losophie auf, zunächst in Jena, dann in Leip- die Wiedergabe eines als objektiv verstan- zig. Dort veröffentlichte er 1748 die ersten drei denen Geschehens geht, öffnet sich hier ein Gesänge des Messias, die ihn sofort bekannt Raum, der als Gegenwelt zur gesellschaftli- machten. Nach einem halben Jahr bei Johann chen Realität inszeniert werden kann. Dazu Jakob Bodmer (1698–1783) in Zürich reiste er trägt entscheidend die Sprache bei: K. setzte 1751 nach Kopenhagen. Friedrich V. von Dä- das frühaufklärerische Gebot der Knappheit nemark (1723–1766) zahlte ihm eine jährliche und Klarheit außer Kraft und prägte einen Pension unter der Bedingung, dass er den hochartifiziellen Stil (eigenwillige Syntax Messias vollende. In Kopenhagen war K. bald durch Inversionen, gehäuft Partizipialkon- umgeben von einem politisch und literarisch struktionen und zahlreiche Hyperbeln), der interessierten Freundeskreis, zu dem auch von seinen Gegnern als barocker Schwulst ab- Christian und Friedrich Leopold Graf zu Stol- getan wurde (vgl. Alt 1996, 153 ff.). berg-Stolberg (1748–1821; 1750–1819) gehörten. K.s Oden, die erste Ausgabe erschien Mit einigen Unterbrechungen blieb K. bis 1770 1750 in Zürich, orientieren sich an Pindars in Dänemark, dann zog er für den Rest seines (5. Jh. v. Chr.) pathetischem Ton, nicht länger Lebens nach Hamburg, wo er schnell zu einer an Horaz (65 v. Chr.–8 v. Chr.), der der frühen zentralen Figur des geistigen Lebens wurde. Aufklärung ein wichtiges Vorbild war. Auch An seinem Messias-Epos, das Passion in Goethes SuD-Lyrik finden sich dann freie und Auferstehung Christi in 20 Gesängen be- Rhythmen und ein Pindar verpflichteter Stil schreibt, arbeitete K. von 1748 bis 1773. Es ist (vgl. ebd., 153). Einzelne Texte K.s sind ge- das letzte bedeutende Beispiel dieser Gattung radezu kanonisch geworden, etwa das Lie- in der deutschen Literaturgeschichte, in der besgedicht An Fanny (1748), die Freund- sich etwa zeitgleich der Roman etablierte (vgl. schaftsode Der Zürchersee (1750) oder, als Bei-

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spiel einer spätaufklärerischen Naturdich- dann in der Bezeichnung ‚Hainbund‘ in die tung, Das Landleben/Die Frühlingsfeyer (1771; Literaturgeschichte eingegangen ist, stammt in einer frühen Fassung schon 1759), jener aus K.s Ode Der Hügel, und der Hain (1767), Text, auf den sich Lotte im Werther bezieht der Wahlspruch der Göttinger („Der Bund (vgl. Ketelsen 1983, 245 f.). ist ewig“) ist ein Zitat aus dem Messias (vgl. Für seine Dramen Hermanns Schlacht Lüchow 1995, 152 f.). Bei den wöchentlichen (1769), Hermann und die Fürsten (1784) und Versammlungen des Bundes lagen neben Hermanns Tod (1787) wählte K. die Bezeich- dem Bundesbuch, in das ausgewählte Werke nung ‚Bardiet‘ in Anlehnung an ‚Barditus‘. So der Mitglieder eingetragen wurden, die Ge- heißt bei Tacitus der germanische Schlachtge- dichte von Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) sang, den K. als Bardengesang auffasste. K.s und K.s Oden auf dem Tisch. Zu Beginn jedes Bardiet besteht aus Prosadialogen und frei- Treffens wurde eine Ode von K. oder Ramler rhythmischen Chorgesängen, verzichtet auf deklamiert (vgl. Kelletat 1967, 350 f.). Man eine Akteinteilung, behält aber die Einheit feierte K.s Geburtstag so, „wie ein deutscher von Ort, Zeit und Handlung bei und thema- Bund das Fest eines der größten Deutschen, tisiert Heldentaten aus altgermanischer Zeit. mit Hermann, Luther und Leibniz, feiern Neben den Freundschaftsgedichten (An muß“ (Voß an Brückner, zit. nach ebd., 355). Ebert [1748], An Bodmer [1750], Der Zürcher- 1773 hieß das, dass man einen Lehnstuhl mit see) war es diese Bardenliteratur, die die Au- K.s Werken an den Kopf der Tafel rückte und toren des Göttinger Hain an K. faszinierte. mit Blumen schmückte, unter diesem Stuhl Das „Codewort Klopstock“ (Leuschner 2002, Christoph Martin Wielands (1733–1813) Vers- 47) garantierte einen unanfechtbaren Kon- roman Idris und Zenide (1768) in Fetzen aus- sens in poetologischen, politischen und so- breitete, sich die Pfeifen mit Blättern aus zialen Fragen und trug damit entscheidend Wielands Schriften anzündete und am Ende zur Einheit der in sich heterogenen Gruppe gar die Idris und ein Bild von Wieland ver- bei. Den Kontakt zu K. stellten neben Hein- brannte (vgl. ebd., 359). „Wieländchen“ (zit. rich Christian Boie (1744–1806), dem ersten nach ebd., 358), wie Friedrich Leopold Stol- Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, berg despektierlich schrieb, war K.s Anti- die Brüder Christian und Friedrich Leopold pode, den man der Galanterie beschuldigte. Stolberg her. K. gehörte zu den engsten Ver- Auch Frankreich und die französische Kultur trauten ihrer Mutter und war in der gemein- mussten als Feindbilder herhalten, in dieser samen Zeit in Dänemark an der Erziehung der Hinsicht gingen die jungen Hainbündler sogar jungen Grafen beteiligt. Diese überreichten K. weiter als ihr väterliches Vorbild (vgl. Blitz im April 1773 eine handgeschriebene Antho- 1996, 96 u. 119 f.). An K. begeisterte sie vor logie aus 91 Gedichten der Göttinger unter allem „Patriotismus und Tugendrigorismus“ dem Titel Für Klopstock. K. bekundete seine (Kemper 2002, 146). K.s literarischer Einfluss Freude und versprach ausführliche schriftli- auf die Lyrik des Göttinger Hain ist immens, che Anmerkungen zu allen Gedichten, die er in zahlreichen Gedichten wird er zudem beim jedoch bis auf wenige Ausnahmen schuldig Namen genannt, in der Widmung, als Angere- blieb (vgl. Kelletat 1967, 356 ff.; Lüchow 1995, deter oder Vorbild (vgl. etwa Friedrich Müllers 161, 163 f. u. 167 ff.). Der Name ‚Hain‘, den sich Gedicht Nach Hahns Abschied, 1775). Ande- der Dichterkreis im Sommer 1773 gab und der rerseits boten die Göttinger Musenalmanache

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K. eine willkommene Gelegenheit für Veröf- setzen, und kündigte dazu weitere Hinweise fentlichungen. Der herausragende Musenal- und Erläuterungen an. Doch der Plan konkre- manach auf das Jahr 1774 beginnt und endet tisierte sich nicht, der Hainbund löste sich mit einem Beitrag von K., dazwischen finden auf, K. hielt nur noch mit einzelnen der sich noch drei seiner Gedichte. Die Forschung ehemaligen Mitglieder Kontakt und die Ge- schreibt den Paradigmenwechsel des Bundes lehrtenrepublik blieb ein Fragment (vgl. ebd., von empfindsamer Liebeslyrik hin zu kämp- 185–192). ferischer Vaterlandsliteratur unter anderem Schiller fasste K.s Wirkung in seiner Ab- K.s Weissagung (1773) zu, jener Friedrich Le- handlung Über naive und sentimentalische opold Stolberg gewidmeten Freiheitsode, die Dichtung (1795/1796) so zusammen: „Die Ju- den Almanach auf 1774 beschloss: „Frey, o gend, die immer über das Leben hinausstrebt, Deutschland, / Wirst du dereinst!“ (Göttin- die alle Form fliehet, und jede Grenze zu enge ger Musenalmanach, 233; vgl. Lüchow 1995, findet, ergeht sich mit Liebe und Lust in den 169 f.) Auch wenn K. 1774 dem Hainbund endlosen Räumen, die ihr von diesem Dichter beitrat, blieb sein Interesse an der Literatur, aufgethan werden. Wenn dann der Jüngling die in diesem Kreis produziert wurde, gering. Mann wird, und aus dem Reiche der Ideen in Einen Dialog auf Augenhöhe gab es wohl nie die Grenzen der Erfahrung zurückkehrt, so (vgl. Lüchow 1995, 176 u. 185). verliert sich vieles, sehr vieles von jener en- Für K. hatte die Verehrung, die ihm entge- thusiastischen Liebe, aber nichts von der Ach- gengebracht wurde, auch einen materiellen tung, die man einer so einzigen Erscheinung, Aspekt: Er widmete sich ganz seinen Werken einem so außerordentlichen Genius, einem so und musste von ihnen und den Zuwendungen sehr veredelten Gefühl, die der Deutsche be- seiner Mäzene leben. Seine Gelehrtenrepu- sonders einem so hohen Verdienste schuldig blik hatte K. 1774 im Selbstverlag herausge- ist“ (NA 20, 457 f.). bracht. Interessierte waren aufgerufen, sich in Subskriptionslisten einzutragen und den Werke Buchpreis vor dem Erscheinen zu entrichten Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1774. Faksi- (Pränumeration). Solche Strategien sollten mile-Nachdruck des Exemplars der Niedersächsi- dem Autor Unabhängigkeit von den Verle- schen Staats- und Universitäts-Bibliothek Göttingen. gern und Buchhändlern bringen, außerdem Mit einem Nachwort v. Albrecht Schöne. Göttingen eine persönliche Verbindung zwischen Autor 1962, 1–11 (Drey Bardengesänge aus Herrmann und die und Leserschaft stiften. K. schwebte ein Netz- Fürsten), 14 (Schlachtgesang), 101–102 (Vaterlands- lied), 117 (Cidli), 231 ff. (Weissagung. An die Grafen werk vor, das die Position der Schriftsteller Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg). – Der stärken sollte. Von den 3.500 Subskribenten Göttinger Hain. Hg. v. Alfred Kelletat. Stuttgart 1967. – der Gelehrtenrepublik sammelte Boie 414, zu- Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Gesang sätzlich erweiterte er durch seine zahlreichen I–III. Text des Erstdrucks von 1748. Studienausgabe. Kontakte den Kreis der Kollekteure (vgl. ebd., Hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 1986. – 164–167). In der Gelehrtenrepublik gestaltete Oden. Auswahl u. Nachwort v. Karl Ludwig Schneider. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1999. K. eine ‚heilige Cohorte‘ nach dem Vorbild des Goethe, Johann Wolfgang: WA I/19, 1–191 (Die Leiden Göttinger Hain als Kern eines fiktiven Staats. des jungen Werther [!]). Immer wieder bedeutete er den Bundesge- Schiller, Friedrich: NA 20, 413–503 (Über naive und nossen, sie sollten diese Vision in die Tat um- sentimentalische Dichtung).

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Forschung Kraus, Joseph Martin Alt, Peter-André: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. * 20. 6. 1756 Miltenberg am Main, † 15. 12. 1792 Stuttgart u. a. 1996. Stockholm Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. Blitz, Hans-Martin: „Gieb, Vater, mir ein Schwert!“ Sohn von Joseph Bernhard Kraus (Stadt- Identitätskonzepte und Feindbilder in der ‚patrio- schreiber in Amorbach) und Anna Dorothea, tischen‘ Lyrik Klopstocks und des Göttinger „Hain“, geb. Schmitt; zweitältestes von sieben Ge- in: ders., Hans Peter Herrmann u. Susanna Moßmann: schwistern. Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männ- Als Komponist entwickelte K. zwischen lichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deut- Mannheimer Schule und Wiener Klassik scher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1996, 80–122. einen eigenen, hochexpressiven Stil; seit Goedeke 4.1, 153–178. seiner schwedischen Wirkungszeit gilt er als Hurlebusch, Klaus: Klopstock und Goethe oder die bedeutendster der ‚gustavianischen‘ Kompo- „Erweckung des Genies“. Eine Revision ihres geisti- nisten. Trotz seiner Beziehungen zu einigen gen Verhältnisses. Halle 2000. Hainbündlern scheint die Zuordnung zu Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neu- einem ‚musikalischen SuD‘ terminologisch zeit. Bd. 6.3: Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger. Tübingen 2002. problematisch. Ketelsen, Uwe-K.: Poetische Emotion und universale Nach der Lateinschule in Buchen bezog Harmonie. Zu Klopstocks Ode Das Landleben / Die K. 1768 in Mannheim das Jesuitengymnasium Frühlingsfeyer, in: Gedichte und Interpretationen. und Musikseminar; möglicherweise kurze Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Hg. v. Karl Zeit als Schüler von Georg Joseph (Abbé) Richter. Stuttgart 1983, 245–256. Vogler (1749–1814). Erste Kompositionen ent- Killy 6, 493–502. Kosch 8, 1355–1361. standen mit ca. 13 bis 16 Jahren. An den Uni- Leuschner, Ulrike: Stolberg im ‚Göttinger Hain‘, in: versitäten Mainz, Erfurt (1773) und nach Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Bei- einer knapp einjährigen Unterbrechung ab träge zum Eutiner Symposium im September 1997. Hg. 1776 in Göttingen studierte K. Philosophie, v. Frank Baudach, Jürgen Behrens u. Ute Pott. Eutin später Jura. In Thüringen, wo er Komposi- 2002, 35–56. Lüchow, Annette: ‚Die heilige Cohorte‘. Klopstock und tionen u. a. von Carl Philipp Emanuel Bach der Göttinger Hainbund, in: Klopstock an der Grenze (1714–1788) kennenlernte, sowie in Buchen der Epochen. Hg. v. Kevin Hilliard u. Katrin Kohl, mit entstanden erste Kirchenmusikwerke. In Göt- Klopstock-Bibliographie 1972–1992 v. Helmut Riege. tingen begegnete er den Hainbündlern Graf Berlin u. a. 1995, 152–220. Friedrich Leopold von Stolberg (1750–1819) Sauder, Gerhard: Die „Freude“ der „Freundschaft“: und Johann Friedrich Hahn (1753–1779). Sein Klopstocks Ode Der Zürchersee, in: Gedichte und Interpretationen. Bd. 2: Aufklärung und Sturm und dramatischer Versuch Tolon. Ein Trauerspiel Drang. Hg. v. Karl Richter. Stuttgart 1983, 228–239. in drei Aufzügen erschien 1776 in Frankfurt a.M. Als musikalisch-literarische Doppelbe- Grit Dommes gabung entschied sich K. für die Musik. Die liedästhetischen Postulate seiner Göttinger kritisch-polemischen Schrift Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777 (1778) sind vermut- lich von seinem dortigen literarischen Um- gang beeinflusst.

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Wohl auf Anregung seines Studienkolle- Klassik. Als Opernkomponist vor allem sze- gen Carl Stridsberg (1755–1819) ging er 1778 – nisch begabt, beherrschte er auch den kon- ohne Examen – nach Stockholm, wurde als trapunktischen Stil der ausgehenden Bach- Dirigent u. a. von Glucks Iphigenie in Aulis zeit. Seine Klavierlieder – u. a. nach Matthias (1774) Mitglied der Königlichen Musikalischen Claudius (1740–1815) sowie Ludwig Hölty Akademie und 1781, nach dem Erfolg seines (1748–1776), Hahn und Stolberg – zeichnen ersten Opernauftrags Proserpin, zweiter Ka- sich durch Chromatik, Mannheimer Kontrast- pellmeister am Hofe Gustav III. (1746–1792). Ab dynamik und fugatoähnliche Partien aus und 1782 arbeitete er an der großen Oper Aeneas in antizipieren in manchem das romantische Carthago (UA posthum 1799). In königlichem Kunstlied (vgl. Bungardt 1973, 188). Auftrag ging K. 1782 bis 1786 auf eine Informa- Nach einigen Beiträgen vor allem der tions- und Bildungsreise durch Deutschland, 1920er Jahre erfolgte seit den 1970er und Österreich, Italien und Frankreich (mit einem 1980er Jahren eine wissenschaftliche Wieder- Abstecher nach London), während der zahl- entdeckung von K., wohl auch angeregt durch reiche Kompositionen entstanden (u. a. Sin- die Faksimile-Edition von Etwas von und über fonien in c, cis, D, Es, e). In Wien begegnete Musik fürs Jahr 1777 (1977). Desiderate sind K. seinem Vorbild Gluck (1714–1787), ferner eine Datierung u. a. der Lieder, eine Disko- (1732–1809), Johann Georg Al- graphie und die Suche nach verschollenen brechtsberger (1736–1809) und Johann Fried- Kompositionen. Artaria Editions, Wellington rich Reichardt (1752–1814) sowie möglicher- und die Internationale Joseph-Martin-Kraus- weise auch Mozart (1756–1791). 1784 in Paris Gesellschaft bereiten Gesamtausgaben vor, entstanden u. a. seine Zwischenspiele zu Mo- der Musikverlag Naxos eine Gesamteinspie- lières (1622–1673) Amphitryon; auch arbeitete lung. Eine Gedenkstätte befindet sich im Be- er dort weiter an Aeneas und setzte sich mit zirksmuseum Buchen. Opern von Niccolò Piccinni (1728–1800) und André-Ernest-Modeste Grétry (1741–1813) aus- Werke einander. Im Sinne der Gluck’schen Opernre- Kraus, Joseph Martin: Versuch von Schäfergedichten. form wollte er die zum Formalismus erstarrte Mainz 1773 [Drucker unbekannt; kein Exemplar be- Opera seria zugunsten eines natürlichen Af- kannt]. – Requiem d-moll. 1775 (?). – Quaestio juridico- fektausdrucks überwinden. theologico-medico-philosophico-theoretico Ob der in Seine Rückkehr nach Stockholm war von den letzten Zügen allbereit liegenden sogenannten Konflikten um seine Stellung überschattet; mainzer Universität noch aufzuhelfen sey, und wie? [1776], in: Der Wartturm 3 (2001), 13–18. – Der Tod 1788 wurde K. jedoch zum wirklichen Hofka- Jesu. Oratorium. 1776. – Sechs Streichquartette. Ber- pellmeister ernannt. Zu seinen bedeutends- lin 1784. – Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777. ten späten Werken zählen Trauermusik und Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Frankfurt 1778. Begräbniskantate für Gustav III. (1792). – Die Mit Kommentar u. Register hg. v. Friedrich W. Riedel. Grabstätte von K. befindet sich in Bergshamra München u. a. 1977. – Soliman den Andra [oder] De tre auf dem Tivoliudden bei Stockholm. Sultaninnorna. Singspiel. 1788. – Fiskarena. Ballett. 1789. – 14 Lieder in Musikaliskt Tidsfördrif. Stockholm Noch 1943 als „outsider“ (Engländer 1943, 1789–1793. – Air à grand orchestra. Stockholm u. Leip- 204) der Musikgeschichte bezeichnet, gilt K. zig 1796 (?). – 20 Airs et Chansons. Stockholm u. Leip- inzwischen als eigenständige Komponisten- zig 1797. – Quintett D-Dur für Flöte u. Streichquartett. persönlichkeit im Kontext der frühen Wiener Paris 1799. – Weitere Bühnen- und Ballettmusiken,

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weltliche Kantaten (u. a. auf Texte von Carl Michael ken ging er an die Grenzen der Vernunft und Bellman), Kirchensinfonien, Instrumentalkonzerte, des Erklärbaren und löste damit heftige Dis- Konzertarien, Klavier- und Violinsonaten. kussionen um die Bedeutung des Menschen innerhalb der göttlichen Schöpfung aus. Sein Forschung von Freunden und Feinden gleichermaßen Åstrand, Hans: . Den mest bety- betontes Charisma und seine Individualität dande gustavianska musikpersonligheten. Stockholm 2011. und Genialität in seinen Werken machten L. Boer Jr., Bertil H. van: Joseph Martin Kraus (1756– und seine Heimatstadt Zürich zu einem Kno- 1792). A Systematic-Thematic Catalogue of His Musical tenpunkt des geistigen Austausches. Trotz L.s Works and Source Study. Stuyvesant 1998. Umtriebigkeit und seiner mit der Zeit immer Bungardt, Volker: Josef [!] Martin Kraus (1756–1792). stärker einsetzenden Berühmtheit zentrierte Ein Meister des Klassischen Klavierliedes. Regensburg sich dessen Streben in seinen Werken auf die 1973. Engländer, Richard: Joseph-Martin Kraus und die gus- Nachfolge Christi, die L. in der Imitatio Christi tavianische Oper. Uppsala u. a. 1943. oder Gottebenbildlichkeit zu finden glaubte. Krombach, Gabriela: Kraus-Bibliographie I, in: Mittei- Die in vier Bänden erschienenen Physiogno- lungen der internationalen Joseph Martin-Kraus-Ge- mischen Fragmente, zur Beförderung der Men- sellschaft 2 (1984), 7–9; 5/6 (1986), 36–53; 8 (1987), 12– schenkenntniß und Menschenliebe (1775–1778) 18. prägten mit ihrer sprachlich und stilistisch Leux-Henschen, Irmgard: Joseph Martin Kraus in sei- nen Briefen. Stockholm 1978. neu gestalteten Werkform den anthropologi- Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – schen Geniediskurs des SuD wesentlich. Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. L. wurde am 15. 11. 1741 als zwölftes Stuttgart 2010, 66. Kind des Arztes und Pflegers des Stiftes Menges, Franz: Kraus, Joseph Martin, in: NDB 12 zum Großmünster Johann Heinrich Lavater (1979), 690–691. (1698–1774) und dessen Gemahlin Regula, Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. v. Friedrich Blume. Bd. 7. geb. Escher vom Glas (1706–1773), im Haus Kassel u. a. 1958 [u. ö.], 1711–1712. ‚Zum Waldries‘ in Zürich geboren. Als Kind Sadie, Stanley (Hg.): The New Grove Dictionary of aus gutbürgerlichem Haus besuchte L. nach Music and Musicians. Bd. 10. London u. a. 1980 [u. ö.], der Deutschen Schule die Lateinschule und 242–243. das Collegium Humanitatis. Während seines Schreiber, Karl Friedrich: Joseph Martin Kraus (1756– 1792). Biographie. Buchen 2006 [1928]. Studiums der Theologie am Collegium Caro- Silverstolpe, Fredrik Samuel: Biographie af Kraus. linum in Zürich traf er auf das Gedankengut Stockholm 1833. der Aufklärung, vermittelt durch die Profes- soren Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Martin Maurach Johann Jakob Breitinger (1701–1776). 1762 be- endete er sein Theologiestudium als Verbi Divini Minister. Noch im gleichen Jahr setzte Lavater, Johann Caspar L. mit seinem Kommilitonen Johann Heinrich * 15. 11. 1741 Zürich, † 2. 1. 1801 Zürich Füssli den von Bodmer und Breitinger ge- lehrten Tugendbegriff in seiner Klageschrift Johann Caspar Lavater ist wohl einer der be- gegen den korrupten Landvogt Felix Grebel rühmtesten, jedoch auch einer der umstrit- (1714–1787) um. In der als ‚Grebelhandel‘ in tensten Autoren des 18. Jh.s. Mit seinem Den- die Geschichte eingegangenen Affäre forder-

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ten die zwei jungen Zürcher Grebel in einem Pfarrer der Waisenhauskirche in Zürich ge- anonymen Schreiben auf, seine Vergehen wählt. 1778 bekam er einen Ruf als Diakon an gegen die Landbevölkerung wiedergutzuma- die Stadtkirche St. Peter, wo er nun erstmals chen. Da Grebel als Schwiegersohn des am- eine eigene Amtswohnung bezog (zuerst die tierenden Bürgermeisters Johann Jacob Leu ‚Reblaube‘, ab 1784 die ‚Neue Helferei‘, das (1689–1768) sich seiner Stellung sicher fühlte, ‚Lavaterhaus‘) und ab 1786 als erster Pfarrer ging er auf das anonyme Schreiben nicht ein. amtete. Im gleichen Jahr erreichte ihn ein Ruf Die jungen Theologen verfassten daher Ende nach Bremen, den L. ablehnte. Dennoch trat November 1762 anonym das Traktat Der unge- er die bereits geplante Reise in die Hansestadt rechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten an, wo er mit allen Ehren empfangen wurde. und bewirkten damit, dass die Zürcher Re- Während seiner Amtszeit in Zürich schrieb L. gierung die Vorkommnisse in der Vogtei Grü- mehr als 400 Werke, reiste viel und pflegte ningen untersuchen musste. Grebel wurde Freundschaften mit den wichtigsten Expo- daraufhin verurteilt, doch auch die Ankläger nenten aus Kultur, Politik und Gesellschaft; hatten wegen ihres unrechtmäßigen Vorge- zudem unterhielt er einen auch für das 18. Jh. hens vor den Stadtvätern Abbitte zu leisten. immens umfangreichen Briefwechsel mit Kor- Deren Familien und ehemalige Lehrer ver- respondenten aus ganz Europa und war einer anlassten daraufhin, dass die jungen Theo- der beliebtesten Prediger seiner Zeit. Als die logen zusammen mit ihrem Freund Felix Franzosen 1798 in die Schweiz einmarschier- Hess (1742–1768) eine Bildungsreise nach ten, wandte sich L. mit seinem Ein Wort eines Deutschland antraten, auf welcher sie mit be- freyen Schweizers an die große Nation und mit deutenden Gelehrten Deutschlands bekannt einem kritischen Schreiben An das helveti- gemacht und während ihres fast neunmo- sche Vollziehungs-Direktorium (1799). Wegen natigen Aufenthalts in Barth in Schwedisch- seiner politischen Schriften und Haltung ver- Pommern auch in die europäische Literatur haftete man ihn und deportierte ihn 1799 nach und Predigttätigkeit durch den aufgeklär- Basel. Wieder nach Zürich zurückgekehrt, ten Reformtheologen Johann Joachim Spal- wurde er während der Zweiten Schlacht um ding (1714–1804) eingeführt wurden. Im März Zürich am 26. 9. 1799 vor seinem Haus von der 1764 kehrten L. und Hess nach Zürich zurück Kugel eines französischen Soldaten getroffen. (Füssli reiste weiter nach England), wo L. im L. starb am 2. 1. 1801 in seiner Heimatstadt Zü- elterlichen Haus wohnen blieb und seine be- rich an den Folgen dieser Schussverletzung. reits begonnenen ersten schriftstellerischen 1765 gab L. erste schriftstellerische Werke Versuche weiterführte. 1764/1765 gründete er anonym heraus, so den ersten Teil seiner die Moralische Gesellschaft in Zürich und trat Auserlesenen Psalmen Davids (1765/1768) der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach und zusammen mit dem späteren Obmann bei. Am 3. 6. 1766 heiratete L. die um ein Jahr Johann Heinrich Füssli die moralische Wo- jüngere Zürcherin Anna Schinz (1742–1815). chenschrift Der Erinnerer (1765–1767). Diese Zusammen hatten sie acht Kinder, wovon aber im Bodmer’schen Sinne gehaltene Wochen- nur der Sohn Heinrich (1768–1819) und die schrift sollte die moralische Verbesserung beiden Töchter Anna ‚Nette‘ (1771–1852) und der Bevölkerung erwirken, wurde jedoch Louise (1780–1854) das Erwachsenenalter er- schon zwei Jahre später auf Druck der Zür- reichten. L. wurde 1769 zum Diakon, 1775 zum cher Regierung eingestellt, da die politischen

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Aussagen zu brisant waren. 1767 verfasste L. Menschen mit Christus nun aber einen gött- als Mitglied der Helvetischen Gesellschaft lichen Kern, ein Urbild ein, das mit der Inkar- die Schweizerlieder im Tone der Gesellschaft nation auch zum sichtbaren Vorbild wird. Der zu Schinznach. Seine eigentliche literarische Mensch wird damit veranlasst, durch die Imi- Laufbahn begann 1768 mit der Veröffentli- tatio Christi sein eigenes tugendhaftes Stre- chung seines dreibändigen Werks Aussichten ben zu aktivieren und damit selbst an seiner in die Ewigkeit (1768–1773; 1778 folgte noch Erlösung mitzuarbeiten. Ziel des Menschen ein Revisionsband). In 25 Briefen an den in muss es nach L. sein, durch Glauben und Hannover tätigen Arzt und Freund Johann Gebet mit der ersten Auferstehung am Reich Georg Zimmermann (1728–1795) beschrieb L. Christi teilzunehmen und „dieser vorzügli- in den Aussichten in die Ewigkeit seine Vorstel- chen Seligkeit zulieb […] manche für sehr lung vom postmortalen Leben. Indem L. sein erlaubt gehaltene Neigung mit geheimer An- Werk in einen philosophisch-theologischen strengung des christlichen moralischen Sin- Kontext stellte, mischte er sich mit in die Dis- nes [zu] unterdrüken […] und denn wirklich kussion um die Unsterblichkeit der Seele und und aufrichtig diese armselige Krüken der der damit verbundenen Palingenesie ein. Die Tugend mit Verachtung weg[zu]werfen […] so Seelenwanderung und die Unsterblichkeits- daß Christus in mir lebe, und ich seinem Tode thematik prägten mit zahlreichen Werken gleichförmig werde“ (JCLW 2, 117). Im utopi- das von Vernunft und Eudämonie bestimmte schen Werk Aussichten in die Ewigkeit fokus- Zeitalter der Aufklärung. Leibnizens Monado- sierte L. seine Christologie auf das eigene logie und Mendelssohns Phaedon oder über Denken und Streben des Menschen hin zur die Unsterblichkeit der Seele (1767) zeigen als moralischen Vollkommenheit innerhalb der zentrale Werke dieses Streben des Menschen göttlichen Schöpfung. Damit richtete er den nach der inneren Vollkommenheit der Seele Menschen als Individuum auf die Ebenbild- über den Tod hinaus. L. übernahm in seinen lichkeit Christi und dessen Einmaligkeit aus. Aussichten in die Ewigkeit das Gedankengut 1771 erschien in Leipzig bei Weidmanns von Leibniz und Mendelssohn, lässt sich aber Erben und Reich anonym L.s Geheimes Tage- besonders von der Philosophie in Charles buch. Von einem Beobachter seiner Selbst. An- Bonnets (1720–1793) Werken Contemplation geblich von einem Freund ohne L.s Wissen an de la Nature (1764) und La Palingénésie Phi- den Leipziger Theologen Georg Joachim Zolli- losophique (1769) beeinflussen. Der Genfer kofer (1730–1788) zur Publikation geschickt, Naturwissenschaftler und Philosoph geht in beobachtet und ergründet L. in dem auf den seiner Theorie von einem organischen Gan- Januar 1769 datierten Tagebuch die tiefsten zen aus, das die göttliche Vorsehung als prä- Regungen seiner Seele. Mit der Suche nach existenten Keim enthält. In der von der Vorse- der Bedeutung seiner Subjektivität inner- hung her bestimmten Manier entwickelt sich halb der göttlichen Schöpfung und der damit der Mensch über diesen Keim in Analogiestu- verbundenen moralischen Verbesserung fen auch über die Grenzen des Todes hinaus mischte sich L. mit seinem fiktiv geschrie- auf das Vollkommene hin. Der Zürcher Pfarrer benen Geheimen Tagebuch in die Diskussion und Autor L. übernahm in seiner philosophi- um die von Spalding bereits 1748 angeregte schen Utopie die Keimtheorie Bonnets und Frage nach der Bestimmung des Menschen dessen Entwicklungsgedanken, setzte dem ein. Ins Zentrum seiner Beobachtungen stellt

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L. dabei die Kenntnis und Kontrolle seiner Christenthum“ (ebd., 734) der Neologen und Selbst: „Wer nicht sein eigner Vertrauter ist, Deisten und damit von der „kalte[n] Vernünf- der kann nie ein Freund Gottes und der Tu- teley so mancher Lichtköpfe“ (ebd., 734). Die gend werden“ (JCLW 4, 79). Die Heilige Schrift Einträge in den Unveränderten Fragmenten als Gottestext wird im Geheimen Tagebuch emanzipieren sich von moralischen Vorgaben zum Vorbild für den eigenen, im Tagebuch und folgen dem vorgegebenen Tagesablauf geoffenbarten Lebenstext, der nicht mehr die des Autors. Als selbstbewusstes Individuum eigentliche Realität spiegelt, sondern über und bekannter Autor und Pfarrer mischte Vernunft und Gefühl zu einer dichterisch sich L. in diesem Werk nun nicht mehr einzig überhöhten Erinnerung und Reflexion der über seinen Text, sondern mit seiner Person eigenen Identität und damit zur neuen Form in die Diskussion um die eigentliche Bestim- des literarischen Tagebuchs führt. Mit dem mung des Menschen ein. Dessen Glückselig- Geheimen Tagebuch. Von einem Beobachter keit wird zwar nach wie vor in der Nachfolge seiner Selbst schuf L. ein Tagebuch, das über Christi gesehen, doch schaut L. nun auch den Zeitraum von einem Monat die Vita eines über die menschliche Existenz hinaus in die Christen exemplarisch darlegt. Als fiktives Ta- von Gott geschaffene Natur. Diese öffnet ihm gebuch zeigt es die Suche des Menschen nach die Sinne und „macht das Herz noch wärmer“ seiner Bestimmung. Moralische Grundsätze, (JCLW 4, 739), Gott ganz zu empfinden. L. ein ständiges Beobachten der eigenen Seele wird daher auch „unwillig über das Bücher- sowie das Lesen in der Heiligen Schrift füh- lesen“ während seiner Jugend, das ihm und ren den einzelnen Menschen in die Nachfolge seinen Freunden das Auge für die Natur ver- Christi. Dabei hält sich L. weder an die eigene schlossen habe, jener Natur, „die doch eigent- Biographie noch an die Ereigniszeit, sondern lich das Buch der Bücher, der Text zur Bibel“ formuliert ein allgemeingültiges literarisches sei. (Ebd.) Gott zeigt sich in L.s Unveränder- Werk, in welchem sich der Autor als Indivi- ten Fragmenten folglich nicht mehr einzig nur duum selbst erfährt und zu begreifen sucht. im Menschen, sondern auch in der von Gott L. schreibt mit dem Geheimen Tagebuch nicht weise eingerichteten Natur. Damit bewegt ein Buch, sondern sein Buch des Lebens (vgl. sich L.s Gottesbild hin zu einer pantheis- JCLW 4, 738). tischen Naturreligion, wie sie Goethe vertre- Das Geheime Tagebuch stieß beim Lese- ten hat, den er als Mitarbeiter seiner Physio- publikum auf großes Interesse. So beschlos- gnomischen Fragmente zu schätzen wusste. sen der Verleger Philipp Erasmus Reich Am 3. 12. 1770 hielt L. vor der Naturfor- (1717–1787), der Herausgeber Zollikofer und schenden Gesellschaft in Zürich einen Vortrag der Autor L. 1773, ein zweites Tagebuch unter über die Lehre Von der Physiognomik, in wel- dem Titel Unveränderte Fragmente aus dem chem er erstmals öffentlich seine Gedanken Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst zur Physiognomik zusammenfasste. Das Ma- unter L.s Namen herauszugeben. L. stellt sich nuskript gelangte über den 1771 in Zürich bei in diesen nun bewusst authentisch gehalte- L. weilenden hannoverischen Staatsbeamten nen Tagebuch- und Briefeinträgen einerseits Friedrich Arnold Klockenbring (1742–1795) gegen die ihm vorgeworfenen pietistischen nach Hannover zu Zimmermann, welcher L.s Tendenzen und die Schwärmerei und distan- Vortrag 1772 im Hannoverischen Magazin in ziert sich andererseits vom „Christusleere[n] mehreren Teilen drucken ließ. Den zweiten

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Teil seiner Abhandlung, ein „Skelet zu einem zu erreichen, braucht es genaue Beobach- Entwurf einer Physiognomik“ (JCLW 4, 607), tungen, eine präzis formulierte Sprache und trug L. am 6. 5. 1771 ebenfalls vor der Natur- einen guten Verstand, der die Beobachtungen forschenden Gesellschaft in Zürich vor und aufnehmen und daraus die richtigen Schlüsse ließ nun selbst beide Teile bei Reich in Leip- ziehen kann. zig unter dem Titel J.C. Lavater von der Physi- L. versuchte, aufgrund seiner empirischen ognomik (1772) drucken. Im Erscheinungsjahr Erfahrung mit der Physiognomik eine neue dieser Schrift verfasste L. auch den 16. Brief Wissenschaft zu etablieren, welche auf na- der Aussichten in die Ewigkeit, worin er auf turwissenschaftlicher Präzision beruhen und die Sprache im Himmel zu sprechen kommt. theologisch abgestützt sein sollte. In dieser Diese wird als „allgemeine Sprache“ (JCLW Tendenz wurde er von zahlreichen Gelehrten, 2, 449), als „Natursprache des ganzen Men- Dichtern und Denkern unterstützt und auch schen“ (ebd., 450) bezeichnet, die mit Hilfe ermuntert, seine Lehre weiter auszuführen, der Lehre von der Physiognomik entschlüsselt stieß aber auch auf heftige Kritik von Gegnern werden kann. In seiner von Bonnet übernom- wie Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), menen Analogietheorie geht L. davon aus, Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811), Jo- dass das Innere des Menschen in seinem Äu- hann Jakob Hottinger (1750–1819) und Alb- ßern erkennbar sei, denn jede Frucht, jedes recht von Haller (1708–1777), welche die Phy- Blatt, jedes beseelte Wesen auf Erden und siognomik zwar nicht grundsätzlich, jedoch damit auch „der Mensch, das Meisterstück in dem von L. gewählten Ansatz ablehnten. des Schöpfers“ (JCLW 4, 564), hat seine ganz Von 1775 bis 1778 erschienen in Leipzig bei eigene Physiognomie, die den spezifischen Weidmanns Erben und Reich und in Winter- Charakter ausdrückt. Die Physiognomik wird thur bei Heinrich Steiner (1747–1827) in Folio damit für L. zur Quelle der feinsten und erha- die vier Bände der Physiognomischen Frag- bensten Empfindungen, sie wird „ein neues mente, zur Beförderung der Menschenkenntniß Auge, die tausendfältigen Ausdrücke der gött- und Menschenliebe. Im zweiten Fragment des lichen Weisheit und Güte zu bemerken“ (ebd., ersten Bandes verdeutlicht L. unter dem Titel 571). L. wehrt sich gegen die Auffassung, Phy- Von der Physiognomik nochmals die Begriffe siognomik nur als eingebildete Wissenschaft Physiognomik und Physiognomie. In dem we- zu sehen, da man Physiognomik an der Natur sentlich umfangreicheren Werk versucht er, ablesen und über den Verstand einordnen über zahlreiche Tafeln die Physiognomik in könne. Er geht in seiner Lehre von der Phy- ihrer ganzen Bandbreite zu veranschaulichen siognomik wie in seinen früheren Werken und die einzigartige Individualität des Men- von einem göttlichen Kern im Menschen aus schen und dessen Ausrichtung auf die gött- und von den bei Leibniz und Bonnet gefun- liche Ebenbildlichkeit in der Imitatio Christi denen Analogien, die die Gesetze der Natur zu zeigen. In L.s Theorie ist Physiognomik bestimmen. Die Physiognomik wird damit zur die „Fertigkeit durch das Aeusserliche eines „Natursprache des ganzen Menschen“ (JCLW Menschen sein Innres zu erkennen“, aus der 2, 450), mit deren Hilfe der „Charakter (nicht „sichtbaren Oberfläche“ auf den „unsichtba- die zufälligen Schicksale) des Menschen im ren Innhalt“ und von der „sichtbaren Wir- weitläufigsten Verstande aus seinem Aeußer- kung“ auf die „unsichtbare Kraft“ zu schlie- lichen“ (JCLW 4, 554) erkannt wird. Um das ßen. (Physiognomische Fragmente. Bd. 1, 13)

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Der Zürcher Autor setzt sich mit diesem Werk Werke zwar erneut einem geistigen Wagnis aus und Lavater, Johann Caspar [zusammen mit Johann Hein- geht mit der neuen Empfindsamkeit auch an rich Füssli]: Der ungerechte Landvogd oder Klagen eines Patrioten. [Zürich 1762]. – Auserlesene Psal- die Grenzen von Vernunft und Verstand. Er men Davids zum allgemeinen Gebrauche in Reimen bewirkt in der Zusammenarbeit mit Goethe gebracht, Zürich 1765. – Der Erinnerer. 2 Bde. Zürich und Herder nun aber jene Binnenkritik an 1765–1767. – Schweizerlieder. Von einem Mitgliede den strengen Formen der Aufklärung, die der der helvetischen Gesellschaft zu Schinznach. Bern Geist des SuD mit seiner Dynamisierung in 1767. – Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Herrn Begriff und Sprache neu fordert. Individuali- Joh. Georg Zimmermann, königl. Großbrittannischen Leibarzt in Hannover. 4 Bde. Zürich 1768–1773. – Ge- tät, Gefühl, Herz und Liebe sind die zentralen heimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Begriffe der neuen Empfindsamkeit, die sich Selbst. Leipzig 1771. – Von der Physiognomik. Leipzig im SuD mit den Exponenten Goethe, Herder, 1772. – Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche Kaufmann, Lenz, Klinger, L. u.a.m. manifes- eines Beobachters seiner Selbst; oder des Tagebuches tieren. Diese schaffen mit ihrer Produktivität Zweyter Theil, nebst einem Schreiben an den Heraus- neue Ausdrucksformen und prägen durch geber desselben. Leipzig 1773. – Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß ihren Freundschaftskult und Geniediskurs und Menschenliebe, von Johann Caspar Lavater. 4 diese Epoche entscheidend mit. „Genie, gan- Bde. Leipzig 1775–1778. – Denkschrift zur hunderts- zes, wahres Genie“ wird zwar weiterhin über ten Wiederkehr seines Todestages. Hg. v. der Stiftung „hohen Verstand“ und „Imagination“ defi- von Schnyder von Wartensee. Zürich 1902. – Johann niert, ist jedoch nicht ohne Herz und Liebe Caspar Lavaters ausgewählte Werke. Hg. v. Ernst Stae- zu denken. (Ebd. Bd. 3, 223) Im zehnten Frag- helin. 4 Bde. Zürich 1943. – Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe (= JCLW). Bd. 1.1 und ment des letzten Bandes fokussiert L. den 1.2: Jugendschriften. Hg. v. Bettina Volz-Tobler. Zürich Geniebegriff auf das „Propior Deus“, auf die 2008/2009; Bd. 2: Aussichten in die Ewigkeit 1768– „Urkraft“ und den „Quellgeist“ im Menschen, 1773/1778. Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich welcher als „Ahndung des Unsichtbaren im 2001; Bd. 3: Werke 1769–1771. Hg. v. Martin Ernst Hir- Sichtbaren, des Zukünftigen im Gegenwärti- zel. Zürich 2002; Bd. 4: Werke 1771–1773. Hg. v. Ursula gen“ erkennbar wird. (Ebd. Bd. 4, 81) Caflisch-Schnetzler. Zürich 2009; Ergänzungsband: Bibliographie der Werke Lavaters. Verzeichnis der zu L. partizipierte nahezu an allen theologi- seinen Lebzeiten im Druck erschienenen Schriften. schen und geistigen Strömungen der Zeit und Hg. v. Horst Weigelt. Zürich 2001; Ergänzungsband: war mit den bedeutendsten Persönlichkeiten Johann Caspar Lavater (1741–1801), Verzeichnisse der seines Jh.s bekannt (vgl. Weigelt, 5). Obwohl Korrespondenz und des Nachlasses in der Zentralbib- seine Person und seine Werke zahlreiche, liothek Zürich. Hg. v. Christoph Eggenberger u. Marlis Stähli. Zürich 2007; Ergänzungsband: Anekdoten aus auch heftige Kritiken auslösten, prägte er mit Lavaters Leben von Anna Barbara von Muralt (1727– der Diskussion um die Bedeutung des Men- 1805). Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler u. Conrad Ul- schen innerhalb der göttlichen Schöpfung, rich. Zürich 2011. mit seinem christlich zentrierten Glauben und mit seinem durch die Physiognomischen Fragmente ausgelösten Geniediskurs beson- Forschung Caflisch-Schnetzler, Ursula: Johann Caspar Lavater. ders die von Empfindsamkeit und pantheis- Die Sprache im Himmel, in: Johann Caspar Lavater tischer Naturreligion geprägte Epoche des Studien. Bd. 1: Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. SuD. Todestag. Hg. von Ulrich Stadler und Karl Pestalozzi. Zürich 2003, 89–101.

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Gessner, Georg: Johann Caspar Lavaters Lebensbe- friedigung fand er in dieser Stellung [jedoch] schreibung von seinem Tochtermann Georg Gessner. nicht“ (ebd.). Im selben Jahr erschienen seine 3 Bde. Winterthur 1802. dramatischen Skizzen Der Besuch um Mitter- Goedeke 2.6, 607–608. nacht und Die Pfandung im Göttinger Musenal- Killy 7, 279–282. Kosch 2, 1478–1479. manach auf das Jahr 1775, die zu „den wenigen Johann Caspar Lavater. Denkschrift zur hundertsten feudalismuskritischen Texten des Sturm und Wiederkehr seines Todestages. Hg. v. der Stiftung von Drang“ (Luserke 2010, 210) zählen. Mit dem Schnyder von Wartensee. Zürich 1902. Drama Julius von Tarent (1776) steigerte sich Pestalozzi, Karl u. Horst Weigelt (Hg.): Das Antlitz der Bekanntheitsgrad von L. (vgl. ebd.). Die Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Unzufriedenheit über seine Anwaltstätigkeit Kaspar Lavater. Göttingen 1994. Sauer, Klaus Martin: Die Predigttätigkeit Johann Kas- und Geldnot waren vermutlich Anlass dazu, par Lavaters. Zürich 1988. mit dem Trauerspiel am Dramenwettbewerb Stadler, Ulrich und Karl Pestalozzi (Hg.): Johann Cas- von Sophie Charlotte Ackermann (1714–1792) par Lavater Studien. Bd. 1: Im Lichte Lavaters. Lektü- und deren Sohn Friedrich Ludwig Schröder ren zum 200. Todestag. Zürich 2003. (1744–1816) teilzunehmen. Das Preisgeld ging Weigelt, Horst: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk jedoch an Klinger, der ebenfalls das Motiv und Wirkung. Göttingen 1991. Weigelt, Horst: Lavater, Johann Kaspar, in: Theologi- des Brüdermordes mit seinem Trauerspiel Die sche Realenzyklopädie. Bd. 20, 506–511. Zwillinge (1776) einreichte. 1776 erschien L.’ Wysling, Hans (Hg.): Johann Caspar Lavater, in: Zü- satirische Rede eines Gelehrten an eine Gesell- rich im 18. Jahrhundert. Zürich 1983, 170–188. schaft Gelehrter. www.lavater.com Im Winter 1777 wurde L. Angestellter Ursula Caflisch-Schnetzler einer braunschweigischen Kreditanstalt. Die Anstellung kann als Grund dafür gesehen werden, dass er sich nicht weiter um eine Ge- schichtsprofessur in Halle bemühte. Die Be- Leisewitz, Johann Anton schäftigung mit der Geschichte gab L. jedoch * 9. 5. 1752 Hannover, † 10. 9. 1806 Braun- nicht ganz auf, da er zeitgleich hauptsächlich schweig Texte mit historischem Inhalt übersetzte (Ge- schichte der Entdeckung und Eroberung der Der gebürtige Hannoveraner Leisewitz be- Kanarischen Inseln, 1777). Die Suche nach gann 1770 sein Studium der Rechtswissen- einer besser bezahlten Stelle an Höfen in Mei- schaft in Göttingen, wo er Bekanntschaft mit ningen, Gotha und Weimar blieb erfolglos. Mitgliedern des Göttinger Hain machte (u. a. Ebenfalls wurde ihm die Nachfolge Lessings Gottfried August Bürger und Ludwig Chris- (Nachricht von Lessing’s Tod, 1781) als Wolfen- toph Heinrich Hölty ([1748–1776]). Am 2. 7. bütteler Bibliothekar verwehrt. Trotz finanzi- 1774 – Klopstocks 50. Geburtstag – wurde L. in eller Nöte konnte L. am 13. 9. 1781, vier Jahre den Göttinger Hainbund aufgenommen (vgl. nach der Verlobung, Sophie Marie Catherine Keller 1995, 77) und war dessen einziger Dra- Seyler (1762–1833) heiraten. Die Ehe mit der matiker. Noch im Herbst 1774 kehrte L. nach Tochter des Direktors der Seylerischen Schau- dem Examen in seine Geburtsstadt zurück spielergesellschaft blieb kinderlos. und war dort als Anwalt tätig. 1775 erfolgte Erst zehn Jahre später wurde L. 1786 mit die Niederlassung in Braunschweig, „eine Be- der Erziehung des braunschweigischen Erb-

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prinzen beauftragt und machte dadurch Kar- Herz, Andreas: „… ward ich doch mit der ganzen Ge- riere. Zu dieser Zeit arbeitete L. am Lustspiel sellschaft zuletzt ziemlich lustig“. Leisewitz’ erste Der Sylvesterabend, von dem nur eine Szene Jahre in Braunschweig, in: Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820. Hg. v. Peter Alb- überliefert ist. Dass weitere Dramen ebenfalls recht. Tübingen 2003, 211–259. Fragment blieben, erscheint symptomatisch Keller, Werner: Nachwort, in: J.A. Leisewitz: Julius von (Konradin sowie Alexander und Hephaestion). Tarent. Ein Trauerspiel. Hg. v. Werner Keller. Durchge- Die Briefe und Tagebücher von L. geben Auf- sehene u. bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart schluss über seine dafür verantwortliche Hy- 1995, 77–117. pochondrie und einen krankhaften Perfektio- Killy 7, 317 ff. Kosch 9, 1178–1179. nismus. 1790 wurde L. Hofrat, 1801 Geheimer Kutschera von Aichbergen, Gregor: Johann Anton Lei- Justizrat und ein Jahr vor seinem Tod Präsi- sewitz. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Lite- dent des Obersanitätskollegiums in Braun- ratur im 18. Jahrhundert. Wien 1876. schweig. Er wollte sich nunmehr lieber als Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Sozialreformer sehen. In dieser Zeit entstan- Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe den sozialpolitische Schriften zum braun- 2010. Mattenklott, Gert: Melancholie in der Dramatik des schweigischen Armenwesen. Sturm und Drang. Stuttgart 1968. Oellers, Norbert: Johann Anton Leisewitz, in: Deut- Werke sche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Leisewitz, Johann Anton: Julius von Tarent. Leipzig Werk. Hg. v. Benno von Wiese. Berlin 1977, 843–861. 1776. – Geschichte der Entdeckung und Eroberung Oellers, Norbert: Johann Anton Leisewitz, in: Deut- der Kanarischen Inseln. Aus einer in der Insel Palma sche Dichter. Bd. 4: Sturm und Drang, Klassik. Hg. v. gefundenen Spanischen Handschrift übersezt. Nebst Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Stuttgart 1992, einer Beschreibung der Kanarischen Inseln, von 209–214. George Glas. Aus dem Englischen. Leipzig 1777. – Oestmann, Axel-René: Johann Anton Leisewitz: „Wor- Sämmtliche Schriften. Zum erstenmale vollständig aus ein ganz kleiner Schwindel ward“, in: Von Dichter- gesammelt und mit einer Lebensbeschreibung des fürsten und anderen Poeten. 32 Portraits. Bd. 1. Hg. v. Autors eingeleitet v. Franz Ludwig Anton Schweiger. Jürgen Peters. Hannover 1993, 109–115. Nebst Leisewitz’ Portrait und einem Facsimile. Einzig Warren, Paul: The life and works of Johann Anton Lei- rechtmässige Gesammtausgabe. Braunschweig 1838. sewitz. Madison 1976. Nachdruck Hildesheim 1970. – Julius von Tarent und Wuthenow, Ralph-Rainer: Die stehenden Gewässer die dramatischen Fragmente. Hg. v. Richard Maria der Hypochondrie. Zu den Tagebüchern von Johann Werner. Heilbronn 1889. Nachdruck Nendeln 1968 u. Anton Leisewitz, in: LJb 3 (1993), 116–131. Darmstadt 1969. – Briefe an seine Braut. Nach den Eva Mengler Handschriften hg. v. Heinrich Mack. Weimar 1906. – Johann Anton Leisewitzens Tagebücher. Nach den Handschriften. Hg. v. Heinrich Mack u. Johannes Lochner. 2 Bde. Weimar 1916–1920. Kliess, Werner: Sturm und Drang. Gerstenberg, Lenz, Lenz, Jakob Michael Reinhold Klinger, Leisewitz, Wagner, Maler Müller. Velber b. * 12. 1. (a.St.: 23. 1.) 1751 Seßwegen (Cesvaine)/ Hannover 1966. Livland, † 23./24. 5. (a.St.: 3./4. 6.) 1792 Moskau

Jakob (oder: Jacob) Michael Reinhold Lenz Forschung Elschenbroich, Adalbert: Leisewitz, Johann Anton, in: wuchs als zweiter Sohn des evangelischen NDB 14 (1985), 157–158. Pfarrers Christian David Lenz (1720–1798) Goedeke 2.6, 705–706. im politisch zum Russischen Reich gehören-

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den Livland auf. 1759 zog die Familie nach vorgezeichneten Bahn bestand darin, dass L. Dorpat (Tartu), wo der Vater eine Stelle als schon bald die theologischen Veranstaltun- Oberpastor antrat und L. die Lateinschule be- gen nicht mehr interessierten und er lieber die suchte. Seine Erziehung und Bildung waren Vorlesungen von Immanuel Kant (1724–1804) allgemein vom spezifischen Klima der nord- hörte. Als dieser im August 1770 eine Pro- östlichen Peripherie der Aufklärungszent- fessur in Königsberg erhielt, verfasste L. aus ren bestimmt: einerseits Dorpat, wo der vom diesem Anlass eine Preisode „[i]m Namen der Hallensischen Pietismus geprägte Vater der sämtlichen in Königsberg studierenden Cur- Gemeinde vorstand und ein regional ein- und Liefländer“. Schon ein Jahr zuvor, 1769, flussreicher theologischer Schriftsteller war, waren Die Landplagen als erste eigenständige und andererseits Riga, wo der junge Herder Publikation erschienen. Durch die Gattungs- mit seinen Schriften erstes Aufsehen erregte. wahl (Versepos), Widmung (an Katharina II.) Christian David Lenz’ Ablehnung aufkläre- und den Gegenstand (endzeitliche Tableaus rischen Denkens im Allgemeinen und der der Zerstörung menschlicher, gottgefälliger schöngeistigen ‚Schwärmerei‘ im Besonde- Gemeinschaften und harmonisch-natürlicher ren bildete die Grundlage für einen lebens- Ordnungen) meldeten sie den höchsten An- langen Vater-Sohn-Konflikt. Die Spannung spruch auf ein religiös-empfindsames und zwischen einem der religiösen Erbauung und patriotisches Verdienst des angehenden dem patriotischen Verdienst untergeordneten Dichters an. In einem angehängten Gedicht, Literaturbegriff und einer sich emanzipieren- dem ‚weltlichen‘ Bildgedicht Gemählde eines den empfindsamen Dichtung ist bereits in der Erschlagenen, lässt sich bereits das Modell ersten Vorstellung des ‚Jünglings‘ und seines eines literarischen Soziogramms der Entstel- in Klopstock’scher Manier geschriebenen lung von Gemeinschaftsformen erkennen. Gedichtes Der Versöhnungstod Jesu Christi Es folgte der entscheidende Schritt in in den Gelehrten Beyträgen zu den Rigischen Richtung einer ‚freien‘ Schriftstellerexistenz: Anzeigen aufs Jahr 1766 zu bemerken. Das 1771 entschloss sich L., sein Theologiestu- anlässlich der Hochzeit des Baron Igelström dium abzubrechen und als Gesellschafter geschriebene erste Drama Der verwundete zweier adliger Kommilitonen, den livländi- Bräutigam (E: 1766, D: 1845) weist einen ex- schen Baronen Friedrich Georg und Ernst Ni- emplarischen Grundzug auf: die literarische kolaus von Kleist, nach Straßburg zu gehen. Darstellung einer empfindsamen (Liebes-)Ge- Im deutsch-französischen Grenzraum Straß- meinschaft und zugleich ihrer äußeren (spä- burgs entstanden die wichtigsten Impulse für ter auch inneren) Bedrohung durch Gewalt, den SuD, die sich zunächst in der Etablierung woraus sich zunehmend ein sozialkritischer neuer literarisch-patriotischer Geselligkeits- Blick entwickeln wird. formen zeigte. So begann man, außerhalb Da sich die Hoffnungen, die man auf L.’ akademisch-gelehrter Kreise über geistige ‚seltenes Genie‘ – so sein erster Fürsprecher, und ästhetische Gegenstände ‚genialisch‘ zu der Pastor Oldekop – setzte, innerhalb einer diskutieren, so auch in der Tischgesellschaft theologischen Laufbahn verwirklichen soll- und in der Société de philosophie et de bel- ten, finanzierten ihm der Vater und einige les lettres rund um Johann Daniel Salzmann Dorpater Förderer das Studium in Königsberg (1722–1812), wo L. aufgrund seines starken (ab 1768). Eine erste Abweichung von dieser Engagements zum Ehrenmitglied ernannt

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wurde. Schon bald lernte L. Johann Wolfgang deutscher Krafft und Natur“ (Chr.Fr.D. Schu- Goethe kennen, woraus sich eine enge und für bart in der Deutschen Chronik, August 1774, die Laufbahn von L. entscheidende Freund- zit. nach Müller 1995. Bd. 1, 64). Diese Ein- schaft entwickelte. In Sesenheim verliebte ordnung reagierte auf die ‚unerhört neue‘ sich L. in die von Goethe verlassene Friede- Öffnung der dramatischen Form- und Stilvor- rike Brion (1752–1813). Seine zu den Sesen- gaben, verkannte aber die spezifischen Un- heimer Liedern gehörenden Gedichte Wo bist terschiede zum Götz von Berlichingen (1773). du itzt, mein unvergesslich Mädchen und Ach Denn der Hofmeister Läuffer, seine Kastra- bist du fort? (E: 1772, D: 1837) zeugen zum tion und die grotesk-absurden Familienzu- einen von einer kongenialen Schreibweise, sammenführungen am Schluss verweisen zum anderen sind sie durch die radikaler keineswegs auf starke Charakterhelden, die gefasste Abwesenheit der Geliebten eine Ent- in der ‚Gesellschaftsmaschine‘ ihren „Platz gegnung auf Goethes Gedichte. Zum engen zu handeln“ (WuB 2, 638) selbst schaffen, wie Austausch mit Salzmann und Goethe kamen es L. in seiner Schrift Über Götz von Berlichin- vielfältige Briefkontakte, so mit Johann Cas- gen (E: zw. Ende 1773 u. Anfang 1775, D: 1901) par Lavater in Zürich (ab Frühjahr 1774) oder programmatisch einforderte. Vielmehr sind mit Johann Gottfried Herder in Bückeburg (ab die Personen im Stück von einer aus Sequen- 1775). Aus der Straßburger Zeit von L. (1771 bis zen und konstellativen Situationen geformten Anfang 1776) datieren schließlich die für die dramatischen Handlungsökonomie geprägt, SuD-Bewegung wichtigsten Werke. Die meis- die eine nicht widerspruchsfrei aufzulösende ten von ihnen, vor allem die theoretischen soziale Problematik zur Darstellung bringt. Schriften, entstanden im Kontext der Société Diese zielt bei L. weniger auf den Stände- und wurden hier auch vorgetragen. Den Zeit- konflikt als vielmehr ins Innere der bürger- genossen galten sie als Positionierungen im lichen Ordnung selbst: hier auf das weit in Umfeld der im Namen Shakespeares (1564– die bürgerliche Moderne vorausweisende, so- 1616) und einer neuen Genieästhetik auftre- wohl den Staat als auch die Familie prägende tenden Gruppe rund um Goethe und Herder. Zusammenspiel zwischen Erziehung, Auf- 1774 drängte L. mit einer ganzen Reihe klärung und Freiheitsstreben einerseits und von Werken in die literarische Öffentlichkeit, Subjektdisziplinierung, Libido-Kontrolle und jedoch ohne Angabe des Verfassernamens: Gewaltausübungen andererseits. In Der neue Die von Lessings Übersetzungen inspirierten Menoza (1774) wird die Auflösung geschlos- Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche sener Form- und Stileinheiten und die dis- Theater stehen programmatisch für die Auf- kontinuierliche dramatische Rhythmisierung nahme einer volkstümlich-republikanischen (hier vor allem durch plötzliche ‚Ohnmachts- Komödientradition, die bis auf Aristophanes anfälle‘ und Wiederbelebungen der Figuren, (5. Jh. v. Chr.) zurückgeht und über Shake- wodurch symbolisch ein ‚Püppelspiel‘ und speare führt. Die ‚Komödie‘ Der Hofmeister die Inkonsistenz des bürgerlichen Subjekts oder Vortheile der Privaterziehung erregte bei vorgeführt wird) im Zusammenhang mit ei- den Zeitgenossen die größte Aufmerksamkeit ner Inzest- und abendländischen Zivilisa- und galt als eine „neue ganz eigentümliche tionsproblematik radikalisiert. Die Soldaten Schöpfung unsres Shakespeares, des unsterb- (1776) schließlich problematisieren ständi- lichen Dr. Goethe“ und als ein „Werk voll sche und geschlechtsspezifische Machtver-

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hältnisse und einmal mehr die inneren Wi- ner Arbeit und in der Ausrichtung auf einen dersprüche der bürgerlichen Ordnungsmus- eingeschränkten Rezipientenkreis bestehen. ter. Sie zeigen sich hier in der Überlagerung Die sich in der Folge abzeichnende Krise des einer familiären, sexuellen, ökonomischen ‚freien‘ Dichters bestand zum einen in einer und empfindsam-ideellen ‚Verwertung‘ der Sackgasse der Überbietungsstrategien des in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen SuD, die Goethe nach der Niederschrift der als Tochter und angehenden Frau ‚zirkulie- Leiden des jungen Werthers (1774) von der Ge- renden Gabe‘ Marie. Am Ende schlägt der nieästhetik abbrachte. Mit der Rezension des tragische Verlauf in eine Farce um. Zugleich Neuen Menoza vom Verfasser selbst aufgesetzt beinhaltet das Stück eine Reflexion über (1775) musste L. bereits auf ausbleibende Auf- die gesellschaftliche Funktion der Komödie. merksamkeit und Anerkennung selbst bei Die theoretische Bestimmung dieser auf die Freunden reagieren und um Rechtfertigung soziale Gegenwart gerichteten, realistisch- des poetischen Anliegens kämpfen. Zum grotesken und formal offenen Mischform des anderen zeigte sich die Krise im Verkennen Dramas entwickelte L. in einer polemischen der aufkommenden Marktzwänge, die etwa poetologischen Auseinandersetzung mit Wieland (1733–1813) schon Ende der 1760er Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) und dem klassizis- Jahre erkannte und auf die er mit einem ver- tischen französischen Theater in seinen An- änderten Selbstverständnis als Dichter und merkungen übers Theater nebst angehängten Publizist reagierte. So drehte sich die Ausei- übersetzten Stück Shakespears (1774). Der nandersetzung mit Wieland in der Vertheidi- aristotelischen Vorgabe der schicksalhaften gung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Handlungsverkettung wollte L. nicht länger Verfasser der Wolken (1775) vordergründig folgen in einem Zeitalter, das sich das frei um die moralische Verantwortung des Dich- handelnde Individuum auf die Fahnen ge- ters, untergründig aber um das Problem des schrieben hatte. Daher kehrte er die aristote- legitimen materiellen und symbolischen Ver- lische Bestimmung von Tragödie und Komö- dienstes. Dem ‚Schreiben ums Brot‘ und der die um und verstand die von den ‚Begeben- Monopolstellung in der literarischen Kritik, heiten‘ (den sozialen Zwängen) bestimmte die er Wieland und seinem Teutschen Mer- Komödie als ‚Vorschule‘ für eine neue, bür- kur vorhielt, setzte L. nach dem Vorbild der gerliche Tragödie, in der der aus freiem Wil- Klopstock’schen Gelehrtenrepublik (1774) len und innerer geistiger Kraft handelnde ein Schreiben mit moralischem und patrio- Held nach seiner höheren Bestimmung strebt tischem Verdienst innerhalb eines von den und sich nach dem Vorbild Christi opfert. Zwängen des Marktes befreiten Raumes ent- Nach diesen Publikationen quittierte L. gegen. In dieser meritokratischen Konzeption sein demütigendes Dienstverhältnis bei den sollten die symbolische Würdigung durch ein Baronen von Kleist und ab Herbst 1774 ver- Expertenvotum und die materielle Versor- suchte er als ‚freier‘ Schriftsteller zu leben, gung durch den patriotisch verpflichteten worin sich eine Verkennung der zeitgenös- Fürsten erfolgen. sischen Möglichkeiten zeigt. Dazu lassen Da so gut wie alle Werke zu Lebzeiten an- sich bei ihm Relikte des Habitus eines stän- onym veröffentlicht wurden, galt L. besten- dischen Dichters feststellen, die vor allem in falls als der talentierteste Nachahmer Goe- der Ablehnung der direkten Entlohnung sei- thes, wodurch der Dichter ohne ‚Autorschaft‘

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und ‚Werkherrschaft‘ auf dem neu sich bil- Moralität der Leiden des jungen Werthers (E: denden literarischen Markt zunehmend in 1775, D: 1918) heißt, Zeit seines Lebens, d. h. eine Zwangslage geriet. Hinzu kamen wach- bis in seine Moskauer Zeit, von zentraler Be- sende interne Spannungen innerhalb des deutung. In den Briefen, mit denen er sich an SuD, insbesondere zwischen L. und Goethe, der zeitgenössischen Werther-Debatte beteili- der ab 1774/1775 bestrebt war, sich mit dem gen wollte, deren Publikation aber ebenfalls ‚Antipoden‘ Wieland zu versöhnen und auf verhindert wurde, wandte er sich gegen mo- Einladung des Fürsten Karl August (1757– ralisierende Werturteile und trat ein für eine 1828) nach Weimar zu gehen. Die sich ab- autonome Kunst, die gleichwohl in sich eine zeichnende Bruchlinie und die eigene pre- spezifische Moralität trägt. käre Autorposition im literarischen Feld re- Die Verbindung von religiöser Moralität flektierte L. in der Literatursatire Pandämo- und Literatur ist auch Gegenstand in L.’ nium Germanikum (E: 1775, D: 1819), die sich moralphilosophischen und populärtheolo- durch ihren selbstreflexiven und konzeptu- gischen Schriften, die im Umfeld der Straß- ellen Charakter von den anderen Satiren des burger Société zwischen 1772 und 1775 ent- SuD abhob. Sie blieb aber nach dem Willen standen sind. Die meisten von ihnen wurden Goethes unveröffentlicht. Deutlich wird hier später unter dem Titel Philosophische Vorle- L.’ ambivalente Position zwischen einer- sungen für empfindsame Seelen (1780) ano- seits einer nochmaligen Beschwörung der nym veröffentlicht. In Übereinstimmung mit geistigen Einheit mit Goethe in Abgrenzung aufklärungstheologischen Positionen lehnte von den Rezensenten und Nachahmern der L. das Dogma von der Erbsünde ab. Das erste ‚Genie‘-Bewegung und andererseits der Ver- Verbot Gottes, nicht vom Baum der Erkennt- arbeitung einer im Scheitern begriffenen, ‚im nis des Guten und Bösen zu essen, deutete Winkel‘ situierten Autorposition. Die Not – die er als Bedingung der Möglichkeit eines frei ausbleibende Anerkennung zu Lebzeiten – handelnden Menschen. Den sexuellen Trieb wird hier erstmals umgedeutet zur Tugend legte er ebenfalls positiv als eine potenzielle der ahnenden Größe in einer unbestimmten Energie zum Handeln aus, jedoch nur, wenn Zukunft. Die sich um 1775 deutlich abzeich- sie empfindsam sublimiert und in den Ban- nenden internen Spannungen des SuD lassen den der Ehe ausgelebt wird. Diese Enttabui- sich schließlich auch an der unterschiedli- sierung der Sexualität und Emanzipation der chen Bedeutung ablesen, die der Werther- Leidenschaften lassen sich als Indiz für einen Problematik zugemessen wurde: Während Übergang von der Empfindsamkeit zum SuD Goethe mit der Niederschrift die Problematik deuten. In seiner theologisierenden Haupt- des nach freier Selbstbestimmung, nach Ver- schrift Meynungen eines Layen den Geist - söhnung von Natur und gesellschaftlicher lichen zugeeignet (1775) legt L. schließlich über Arbeit strebenden Individuums, das jedoch die literarisierte Sprecherrolle eines Laien seinen ‚Platz zu handeln‘ in der gegenwär- seine Deutung der göttlichen Offenbarungs- tigen bürgerlichen Gesellschaft nicht findet, geschichte als Geschichte zur Bildung des literarisch sublimierte und damit als ein Ado- Menschen dar. In unsystematischer, eigenwil- leszenzproblem ‚verabschiedete‘, blieb für L. liger Art verbindet er hier die historische Bi- das Leiden des „gekreuzigte[n] Prometheus“ belauslegung Herders, aufklärerische Erzie- (WuB 2, 685), wie es in seinen Briefen über die hungsideale und einen pietistisch geprägten

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Glauben an die oberste, patriarchische Auto- Seine intensiven Studien zur Reform des Sol- rität des göttlichen Heilsplans. Gott zeige sich datenwesens, die er dem Weimarer Fürsten, dem Menschen jeweils in einer seinem geis- dem französischen Kriegsminister Saint-Ger- tigen Entwicklungsstand angemessenen An- main und schließlich dem mächtigen Comte schaulichkeit und lenke ihn, damit sich sein de Maurepas vorlegen wollte, belegen das Geist entwickeln könne und er im Sinne der Bestreben, an staatlichen Reformen mitzu- Empfindsamkeit die göttliche ‚Haushaltung‘ wirken und zugleich seine Unabhängigkeit erkenne. Diese führe ihn zu einem Leben in zu bewahren. In Über die Soldatenehen und Glückseligkeit, wenn denn der Mensch seine den verschiedenen, in Berka, einem Dorf in eigenen geistigen, emotionalen und sozia- der Nähe von Weimar, ausgearbeiteten Schrif- len Verhältnisse dazu in Einklang bringe. ten zur Sozialreform (1773–1776) setzte sich Umgekehrt bedürfe auch Gott der Empfin- L. mit zeitgenössischen physiokratischen dungsfähigkeit, damit er den Menschen ganz Ideen und aufklärerischen Positionen zur durchdringen und ihm nachfühlen könne. Staats- und Heeresreform auseinander. Hier In Jesus Christus habe sich dieser ‚Heilsplan versuchte er einmal mehr, empfindsame Ge- zur Bildung des Herzens‘ erfüllt. L.’ ‚emp- meinschaftsideale und das Interesse des sich findsame‘ Theologie ist vom Postulat des frei modernisierenden Staates an der Disziplinie- handelnden Menschen getragen. Zugleich rung seiner Untertanen in Einklang zu brin- lässt sie auch eine Legitimationsfunktion für gen. Dabei entstanden auch Konzepte, die seine eigene, ‚niedrige‘ und in ihrer höheren repressive Maßnahmen implizierten, deren Bedeutung ‚verkannte‘ Dichtung erkennen. Spannung zum Konzept freiheitlicher Indi- Ein anderer Versuch, sein Wirken als Dichter viduen L. offenbar selbst nicht sah. Ähnlich zu legitimieren, war patriotisch ausgerichtet: wie schon bei Rousseau (1712–1778) verband Unzufrieden mit der Entwicklung der Société, sich bei ihm mit seiner Bemühung um eine die ihn zunehmend ein gleichgesinntes ‚geni- gesellschaftlich gerechtfertigte Existenz als ales‘ Denken vermissen ließ, unternahm L. im patriotischer Aufklärer ein Rückzug aus der Herbst 1775 Anstrengungen, nach dem Vor- (höfischen) Gesellschaft aufs Land (nach bild Klopstocks in Mannheim eine Deutsche Berka). Neben den Entwurf von Sozialpro- Gesellschaft zu gründen. Ein Schwerpunkt jekten, die von einer eigentümlichen Verken- richtete sich hier auf die Entwicklung der nung seiner gesellschaftlichen Position als deutschen Sprache als Kultursprache, worin Schriftsteller und ‚Projektemacher‘ zeugen, im Grenzraum eine Brisanz lag, die schon traten literarisierte Selbstreflexionen, die bald zu einem internen Streit führte. zunehmend das Ideal einer empfindsamen In Straßburg sah L. für sich keine Mög- (Liebes-)Gemeinschaft als eine in sich pre- lichkeiten mehr und sein Schritt nach Wei- käre Phantasie entlarven. Die fiktionalisierte mar Ende März 1776 war mit der Hoffnung Reflexion von Treueversprechen und deren verbunden, unter der Protektion Karl Augusts Bruch begann schon zu Straßburger Zei- in einer Art „Gelehrtenrepublik“ als freier ten in dem relativ eng an realen Vorkomm- Schriftsteller und zugleich patriotisch ver- nissen – der Affäre eines der Kleist-Barone dienstvoller Berater der aufgeklärten Herr- mit der Straßburger Juwelierstochter Cleophe scher zu leben (vgl. den drastischen Brief von Fibich (1754–1820) – orientierten Tagebuch L. an Zimmermann, 15. 3. 1776; WuB 3, 407). (1774). Das Ringen um das Konzept der emp-

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findsamen Liebe als Sublimation nicht ge- ‚mirakulös‘-groteske Möglichkeit der Um- lingender intimer und sozialer Beziehungen kehr und Rettung der von gesellschaftlichen in der Realität und die zunehmende Entlar- Prägungen ‚entstellten‘ Menschennatur wird vung vorgeblich ‚empfindsamer‘ Beziehun- aufgegeben und der Held Robert Hot in den gen als Maskierung von Gewalt, Intrigen, Selbstmord getrieben. Eitelkeiten und Lügen führen die Moralische Die von Goethe veranlasste oder zumin- Bekehrung eines Poeten (E: 1775, D: 1889) in dest gebilligte Ausweisung aus Weimar Ende Form von ‚Selbstunterhaltungen‘ und der November 1776 ist nicht nur auf eine persön- Briefroman Der Waldbruder ein Pendant zu liche ‚Eseley‘ von L. (Tagebucheintrag Goe- Werthers Leiden (1776) durch sich wechsel- thes) zurückzuführen, sondern auch auf die seitig spiegelnde und relativierende Perspek- allgemeine Schwierigkeit eines sich als ‚frei‘ tiven fort. Das Gelingen der ‚moralischen Be- verstehenden Schriftstellers, den rechten kehrung des Poeten‘ von falschen Fiktionen Abstand zum höfischen Feld und allgemein und Leidenschaften steht aber in Frage, da L. den rechten Platz in der bürgerlichen Gesell- letztlich weiterhin an einer Liebeskonzeption schaft zu finden. Die Ausweisung machte L.’ und einem literarisiert-idealisierten, uner- persönliche und literarische Krise endgültig reichbaren Frauenbild nach dem Vorbild Pe- manifest. Die Jahre zwischen Ende 1776 und trarcas (1304–1374) festhielt (vgl. das Gedicht Sommer 1779 waren durch unruhige Orts- Petrarch, 1776). Literarisch sublimiert wer- wechsel, durch Aufenthalte bei Freunden den hier die leidenschaftlich imaginierten, u. a. in Emmendingen (bei Johann Georg aber nicht realitätsfähigen Beziehungen zur und Cornelia Schlosser), Basel und Zürich Adligen Henriette von Waldner-Freundstein (u. a. bei Johann Caspar Lavater und Jakob (1754–1803) und zu Goethes Schwester Cor- Sarasin [1742–1802]) geprägt. In der Erzäh- nelia (1750–1777), die mit dem angesehenen lung Der Landprediger (1777) entwickelte L. Amtmann Johann Georg Schlosser verheiratet mit dem tatkräftigen Pfarrer Mannheim eine war und 1777 früh verstarb. Ähnliche Versu- neue Figur der aufklärerischen und philan- che einer literarisierten ‚Desillusionierung‘ thropischen Sozialreform. Die sich als Me- des Dichters lassen sich auch bereits in Dra- moirenschrift gebende Erzählung zeigt aller- men beobachten, die bereits in der Straßbur- dings auch den disziplinierenden Charakter ger Krisenzeit entstanden sind. Die Freunde Mannheims gegenüber seiner Frau, der Dorf- machen den Philosophen und Zerbin oder die bevölkerung und seinen eigenen poetischen neuere Philosophie (beide 1776 erschienen) re- Leidenschaften auf. Das auf tätige Solidarität flektieren die Destruktion moralischer Ideale ausgerichtete Vermächtnis des Vaters erfährt durch die zeitgenössischen philosophischen schließlich eine symbolische Tötung und Ver- Denksysteme (französischer Materialismus, einnahmung in Form einer vom Sohn höfisch Sensualismus und Empfindsamkeit), die inszenierten monumentalen Gedächtnisfeier. sich vom Menschen, seiner Natur und gött- Mit Johann Friedrich Oberlin (1740–1826) lich inspirierten geistigen Bestimmung weit in Waldersbach (Steintal/Vogesen) lernte entfernt haben. In Der Engländer (1777) rückt L. einen aufklärerisch und philanthropisch die Psychodynamik des melancholischen gesinnten Reformpfarrer kennen. In seine Protagonisten ins Zentrum der Darstellung. Obhut begab er sich Anfang 1778 für ein paar Selbst die sonst L.’ Dramen kennzeichnende Wochen, nachdem bei ihm eine massive psy-

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chische Erkrankung aufgetreten war, die die bei Katharina II. (1729–1796) im Verlauf der Forschung meist als Schizophrenie deutete. 1780er Jahre deutlich abnahm, da die Zarin In dem vermutlich schon 1777 entstandenen einen allgemeinen Politikwechsel verfolgte. Gedicht An den Geist hat L. das Kippmoment Eine andere Hoffnung verband sich mit dem zwischen einem zerstörerischen Dämon und Bibliothekar und Berater des Thronfolgers einem schöpferischen Genius in einer be- Großfürst Paul (1754–1801), Ludwig Heinrich eindruckenden Form gefasst. Der Aufenthalt von Nicolay (1737–1820), der ihm die Aussicht bei Oberlin wurde zur Grundlage für Georg auf eine mögliche Anstellung am ‚kleinen Büchners (1813–1837) berühmte Lenz-Novelle Hof‘, vermutlich an der Großfürstlichen Bib- (1835). Noch in seiner Moskauer Zeit erinnerte liothek oder als Vorleser des Großfürsten er- sich L. an das Steintal im Zusammenhang mit öffnete. Der ebenfalls in St. Petersburg eine neuen Reformprojekten. Er spricht retrospek- Anstellung suchende Friedrich Maximilian tiv von einem „hitzigen Fieber“ (Lenz 2007a. Klinger erhielt jedoch den Vorzug. Angesichts Bd. 1, 232), das ihn in dieser Zeit befallen habe dieser Misserfolge brach L. zunächst seine Be- (Vergleichung der Gegend um das Landhaus mühungen ab und kehrte im September 1780 des Grafen mit dem berühmten Steinthal, zw. nach Livland zurück. Er fand eine Anstellung 1787 u. 1789). als Hofmeister beim Kammerjunker Hans Wegen der sich verschlechternden psy- Heinrich von Liphart (1735–1806) auf dessen chischen und materiellen Situation kehrte L. Gut in Aya in der Nähe von Dorpat, wo er bis schließlich in Begleitung eines Bruders im Juli Januar 1781 blieb. Wegen einer unklaren Lie- 1779 zurück nach Riga. Hier stand der Vater besgeschichte mit der in der Nähe wohnenden gerade im Begriff, das hohe Amt des Gene- Julie von Albedyll, die er später in einer Abge- ralsuperintendenten von Livland anzutreten. zwungenen Selbstvertheidigung (ca. 1790) im Nach einer zunehmenden Stabilisierung des Zusammenhang mit verworrenen Ängsten vor psychischen Zustandes schon während der einer Verfolgung durch livländische Personen Reise bewarb sich L. in Riga um das Amt als und einer allgemeinen Rechtfertigung seines Rektor der Domschule, jedoch – gerade auf Verhaltens darstellte, verließ er überstürzt das Negativ-Votum von Herder hin – ohne Er- das Gut und damit auch endgültig Livland folg. Er machte sich dann im Januar 1780 auf Ende Januar/Anfang Februar 1781 in Richtung den Weg nach St. Petersburg, wo er sich um St. Petersburg. Dieser Schritt war vermutlich Kontakte zum kaiserlichen Hof bemühte. Dort noch getragen von der Hoffnung, er könne erhielt er sogar eine Audienz, anlässlich derer über Nicolay am Hofe Pauls reüssieren (vgl. er – zusammen mit den Baronen Igelström – das Huldigungsgedicht Empfindungen eines für die Wiedereröffnung der Dorpater Univer- jungen Russen, 1780), aber schon bald musste sität eintrat. Schließlich wollte man ihn beim sich L. eingestehen, dass es für ihn in St. Pe- Geheimrat Beckoj (1704–1795) empfehlen, der tersburg kaum mehr Perspektiven gab. Im Juli zu dieser Zeit noch der Leiter des Landkadet- 1781 begegnete er dann dem charismatischen tenkorps und die entscheidende Person für Johann Georg Schwarz (1751–1784). Schwarz alle erziehungspolitischen Maßnahmen in war seit 1779 Professor für deutsche Sprache Russland war. L. erhoffte sich eine Anstellung an der Moskauer Universität und der füh- als Lehrer am Kadettenkorps. Ihm entging rende Kopf der Moskauer Freimaurer. Neben jedoch, dass Beckojs Ansehen und Einfluss Schwarz wurden insbesondere der (ehema-

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lige) Staatsmann Graf Panin (1718–1783) und L., der sich nun demonstrativ als russischer der russische Verleger, Publizist und Frei- Staatsuntertan verstand, stand in direktem maurer Nikolaj Ivanovič Novikov (1744–1818), Kontakt zu Novikov wie auch zum jungen die in Moskau lebten, für L. bedeutsam. Mit Dichter Karamzin, für den er zeitweilig eine diesen neuen Perspektiven und Hoffnungen wichtige Mentorfunktion übernahm. Obwohl reiste er im September/Oktober 1781 in die er als bürgerlicher, in Russland unbekannter alte russische Zarenstadt. und verarmter Schriftsteller vermutlich ein In Moskau fand L. zunächst bei dem auch sozialer Außenseiter blieb, konnte L. in die- dem Vater bekannten Historiker Gerhard sen Kreisen seine Kenntnisse der deutschen, Friedrich Müller (1705–1783) eine Unterkunft. französischen und englischen Literatur ver- Durch dessen Vermittlung arbeitete er ab mitteln. Ferner waren seine Erfahrungen im Ende 1781 bis Ende 1785/Anfang 1786 als ‚Auf- Bereich der Organisation der ‚Privatleute‘ und seher‘ am adligen Erziehungspensionat der ihrer literarisch-intellektuellen Auseinander- Mme Exter. Nach Müllers Tod im Oktober 1783 setzung in Vereinen von Bedeutung. Zudem erhielt er hier offenbar auch Kost und Logis. überschnitten sich viele seiner gesellschaft- Nachdem das private Erziehungspensionat lichen Reformvorstellungen mit denen des geschlossen wurde, fand L. ab 1786 Unter- Novikov-Kreises. kunft und Arbeit im Novikov-Haus der Gesell- In den gut zehn Jahren des Moskauer Auf- schaft der gelehrten Freunde bzw. der Typo- enthaltes ist eine beachtliche Anzahl an graphischen Gesellschaft. Bis 1789 wohnte Schriften entstanden, sodass von einer Mos- er dort zusammen mit dem Dichter Nikolaj kauer Werkphase gesprochen werden kann. Michajlovič Karamzin (1766–1826) und ab Die Moskauer Schriften und Briefe zeugen 1789 mit dem Fürsten Engalyčev, einem letz- insbesondere von L.’ gesellschaftspolitischem ten Gönner von L. Wie zuvor in Königsberg, Engagement in den Bereichen Erziehung, Straßburg, Weimar, Riga und St. Petersburg Handel und Geschichtsstudien. Die im Zusam- konnte L. auch in Moskau Kontakte zu wich- menhang mit seiner Anstellung als ‚Aufseher‘ tigen Persönlichkeiten und zu zentralen kul- am Pensionat der Mme Exter entstandene turellen und politischen Kreisen knüpfen. Schrift Rechenschafft von dem gegenwärtigen Diese Kreise erstreckten sich von der deut- Zustande des Fortschritts in den Wissenschaf- schen Gemeinde der Reformierten Kirche ten in der [!] von dem Käiserlichen Findelhause in Moskau über die Moskauer Universität zu Moskau veranstalteten Adelichen Pensions- und andere Erziehungseinrichtungen bis hin institut (Ende 1785/Anfang 1786) stellt einen zu verschiedenen Freimaurerlogen und den Höhepunkt seines aufklärerisch gesinnten kulturell und verlegerisch aktiven Zirkeln Erziehungsengagements dar, das bis etwa gebildeter Adliger rund um die Gesellschaft 1786 vorrangig war. Die Beendigung der gelehrter Freunde und die Typographische Anstellung und der Wechsel der Unter- Gesellschaft, bei der Novikov die zentrale kunft stehen eventuell im Zusammenhang Figur war. Allgemein fiel der Aufenthalt von mit der Einführung der staatlichen ‚Normal- L. in Moskau in eine wichtige Phase der Ent- schule‘ im Russischen Reich, gegen die L. stehung eines Raums privater Initiativen von später polemisierte (vgl. Der Stundenplan Adligen, die sich in Freimaurerlogen und phi- eine Farse und Roman, 1789). 1786 bis 1789 lanthropischen Gesellschaften organisierten. unterhielt L. intensive Kontakte zur Typo-

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graphischen Gesellschaft rund um Novikov. Reise bildet aber nur den Rahmen für eine Diese Zeit war geprägt von Übersetzungen komplexe, literarisierte Reflexion der Delika- (so die Uebersicht des Russischen Reichs von tesse der Empfindung, d. h. des Sinns für den Plešceev, die als einzige Moskauer Schrift von rechten Abstand von den untersten-irdischen L. 1787 beim Verleger Rüdiger erschien, oder bis zu den obersten-göttlichen Sphären. L. die Übersetzung von Auszügen aus der Han- knüpft hier an die Aufklärungsdiskussionen delsgeschichte Michail Čulkovs) und inten- über den richtigen ‚Geschmack‘ an, zieht aber siven Geschichtsstudien (Studie über Peter darüber hinaus eine Art Summa seines gesam- I. [1787], Aus Nowikoffs alter diplomatischer ten Werkes. Andere Texte greifen die Werther- Bibliothek, 1788). Den aufklärerischen, pat- und die Hofmeister-Debatten auf, deren riotischen und philanthropischen Ambitio- Kernfragen für L. weiterhin zentral sind. Im nen standen aber zunehmend Widerstände Brief vom Erziehungswesen an einen Hofmeis- der realen Entwicklung der autokratischen ter! (1789/1790) rechtfertigt er sich nochmals Herrschaft im Russischen Reich entgegen, und verteidigt die Freiheit der literarischen die innenpolitisch auf Machterhalt und au- Darstellung gegenüber einer moralischen ßenpolitisch auf eine militärische Expansion Verurteilung des Dichters. Zunehmend tritt gerichtet war. Die Reaktion von L. auf diese eine Kritik der Sprache des (klassizistischen) Entwicklung äußerte sich in wütenden und Scheins der Adligen und ‚Kunstvirtuosen‘ hermetischen Schriften der letzten Jahre auf, begleitet von einem ‚unsinnigen‘, sich (1789–1792), die sich gegen den Missbrauch dem direkten Verständnis verweigernden symbolisch-geistiger Arbeit (der Literatur ‚rotwelschen‘ Sprachgebrauch, insbesondere und Geschichtsschreibung) durch gesell- in Gedicht-Fragmenten (vgl. Auf das kleine schaftliche Mächte wenden und sich zum Teil Kraut Reinefarth an die Rosengesellschaft oder sehr selbstbewusst und kritisch von diesen Epitre de Sancho Pajass à son Maitre en Küt- abgrenzen. So wird ab 1788/1789 im hand- telversen, beide ca. 1789/1790). Insbesondere schriftlichen Nachlass zunehmend erneut von diesen Texten rührt der Eindruck her, bei eine Kritik der ‚Entstellung‘ der menschlichen den Moskauer Schriften handle es sich um Natur und Gemeinschaftsformen thematisch, pathologische Dokumente. Programmatisch verbunden mit einer neuen Hinwendung zur für die Neuausrichtung und Radikalisierung Farce und Satire. Revolutionäre Gedanken, der literarischen Position ist schließlich das die in einem direkten Zusammenhang mit Gedicht Was ist Satyre? (1788). Hier wird die den Vorgängen in Frankreich stünden, finden Satire als Instrument des Dichters („Klinge“; sich jedoch nicht. Lenz 2007a. Bd. 1, 99) zur Verteidigung des Überliefert sind mehrere Dramen- und Menschen angesichts seiner tagtäglichen Prosafragmente. Einer der wichtigsten lite- Erniedrigung bestimmt. Indem sie auf die rarischen Texte der Moskauer Zeit ist Ueber allseitige ‚Entstellung‘ der menschlichen Ge- Delikatesse der Empfindung (1789/1790), eine sellschaft mit den Mitteln der ‚vorsätzlichen satirische Mischform zwischen Drama und Lüge‘ und Verzerrung (Stilmittel der Groteske, Roman, in der nach dem Vorbild satirischer Satire und Verrätselung) reagiert, verteidigt Reiseromane eine fantastische Reise Gulli- sie das Eigenrecht der Dichtung gegenüber vers zusammen mit seinem Luftgeist auf einer äußeren Vereinnahmungen. So prägt die halben Kanonenkugel geschildert wird. Diese Spannung zwischen dem Glauben an einen

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aufgeklärten Absolutismus, dem Bestreben, hingewiesen (vgl. Scherpe 1977). Neben dem am symbolischen Aufbau des Staates zu par- sozialkritischen Potenzial ließen sich auch tizipieren, und der Verweigerung wie auch sozialdisziplinierende und staatsrepressive Behauptung des Eigenrechts und Eigensinns Elemente bemerken (vgl. Müller 1984; Wil- der Dichtung, schließlich auch der Rechtfer- son 1994; Pautler 1999). Andererseits konn- tigung des Dichters als Sprachrohr der ver- ten durch den Rückgriff auf neue theoreti- letzten ‚menschlichen Natur‘ auch die letzte, sche Zugänge wie die Diskursanalyse Michel die Moskauer Phase der Laufbahn des ‚freien‘ Foucaults (1926–1984) die bei L. zur Darstel- Schriftstellers L. Gezeichnet von verschiede- lung kommenden komplexen Wechselwir- nen Erkrankungen, Geldsorgen und wech- kungen zwischen Aufklärungs-, Sexualitäts- selnden Unterkünften, steht sein Tod am 23. und Disziplinierungsdiskursen differenzierter oder 24. 5. 1792 eventuell in einem direkten herausgearbeitet werden (vgl. Luserke 2001). Zusammenhang mit Polizeiaktionen im April Eine andere, dekonstruktivistische Lesart er- und Mai gegen Novikov und seinen Freimau- kannte in L.’ Werk Elemente einer postmoder- rerkreis. nen Ästhetik avant la lettre (vgl. Wurst 1993). Die zeitgenössische Wahrnehmung von L. Andere Arbeiten verorteten mit Rückgriff auf als Nachahmer des jungen Goethe in Shakes- Bourdieus Feldanalysemodell L.’ Laufbahn peare- und Werther-Manier, der schließlich und Werke innerhalb eines sich in der zwei- kläglich scheiterte – eine Wahrnehmung, ten Hälfte des 18. Jh.s konstituierenden lite- für die Goethe später das rezeptionsbestim- rarischen Feldes (vgl. Herboth 2002; Tommek mende Bild vom „vorübergehende[n] Me- 2003). Die neuere Forschung ab den 1990er teor“ im 14. Buch in Dichtung und Wahrheit Jahren, die auch anfing, die desolate editions- (1811–1833) prägte, wurde schließlich über philologische Situation zu verbessern, sieht Georg Büchner, die Naturalisten und Ex- sich heute kaum mehr genötigt, L. gegenüber pressionisten zu einer an den Verhältnissen Goethe zu verteidigen oder gar auszuspielen. seiner Zeit leidenden und damit den Erfah- Stattdessen sind die historischen Kontextua- rungen der Moderne entsprechenden geni- lisierungen und ästhetischen Deutungen sehr alischen Autorfigur umgedeutet (vgl. Martin viel differenzierter geworden. Insbesondere 2002). Im Zuge der Reform der Germanistik die von L. in Berka verfassten Schriften zur in den 1960er und 1970er Jahren sah man in Soldatenreform und die Moskauer Schriften, L. – unterstützt durch Brechts (1898–1956) die seit 2007 in Editionen vorliegen (vgl. Lenz Adaption des Hofmeisters (1950) – den Vor- 2007b, hg. v. Griffith u. Hill; Lenz 2007a, hg. reiter einer realistischen und sozialkritischen v. Tommek), harren noch einer genaueren Un- Traditionslinie, die die Dialektik der Aufklä- tersuchung. rung (Horkheimer/Adorno) nicht nur theore- tisch reflektierte, sondern auch existenziell Werke durchlitt und eine Poetik des ästhetischen Lenz, Jakob Michael Reinhold: Gesammelte Schriften. Bruchs entwickelte (vgl. auch Paul Celans Hg. v. Franz Blei. 5 Bde. München, Leipzig 1909–1913. Reprint: Hildesheim 2002. – Briefe von und an J.M.R. [1920–1970] Büchnerpreisrede Der Meridian, Lenz. Hg. v. Karl Freye u. Wolfgang Stammler. 2 Bde. 1961). Früh wurde allerdings auch auf ei- Leipzig 1918. – WuB 1–3. – Der Hofmeister. Synop- nen Widerspruch zwischen der ästhetischen tische Ausgabe von Handschrift und Erstdruck. Hg. Weltsicht von L. und seinen Sozialprojekten v. Michael Kohlenbach. Basel u. a. 1986. – Belinde

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und der Tod. Carrikatur einer Prosepopee. Mit einem Herboth, Franziska: Satiren des Sturm und Drang. Nachwort v. Verena Tammann-Bertholet u. Adolf See- Innenansichten des literarischen Feldes zwischen baß. Basel 1988. – Pandämonium Germanikum. Eine 1770 und 1780. Hannover 2002, zu Lenz bes. 142–146, Skizze. Synoptische Ausgabe beider Handschriften. 210–221, 240–271. Mit einem Nachwort hg. v. Matthias Luserke u. Chris- Hill, David (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Stu- toph Weiß. St. Ingbert 1993. – Philosophische Vorle- dien zum Gesamtwerk. Opladen 1994. sungen für empfindsame Seelen. Faksimiledruck der Killy 7, 225–228. Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780. Mit einem Nach- Kosch 9, 1226–1231. wort hg. v. Christoph Weiß. St. Ingbert 1994. – Werke LJb. Sturm-und-Drang-Studien. Hg. v. Matthias Lu- in zwölf Bänden. Faksimiles der Erstausgaben seiner serke u. Christoph Weiß in Verbindung mit Gerhard zu Lebzeiten selbständig erschienenen Texte. Hg. Sauder. Bde. 1–15 (1991 ff.); ab Bd. 16 (2009) hg. v. v. Christoph Weiß. St. Ingbert 2001. Bd. 1: Die Land- Nikola Roßbach, Ariane Martin u. Matthias Luserke- plagen; Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus; Bd. 3: Jaqui. Der Hofmeister; Bd. 4: Der neue Menoza; Bd. 5: An- Luserke, Matthias (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz merkungen übers Theater; Bd. 6: Meynungen eines im Spiegel der Forschung. Hildesheim u. a. 1995. Layen; Bd. 7: Menalk und Mopsus / Eloge de feu Mon- Luserke, Matthias: Lenz-Studien. Literaturgeschichte, sieur **nd / Vertheidigung des Herrn W. gegen die Werke, Themen. St. Ingbert 2001. Wolken / Petrarch; Bd. 8: Die Freunde machen den Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Philosophen; Bd. 9: Die Soldaten; Bd. 10: Flüchtige Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Aufsäzze; Bd. 11: Der Englänger; Bd. 12: Philosophi- Stuttgart 2010. sche Vorlesungen für empfindsame Seelen. – Jupiter Martin, Ariane: Die kranke Jugend. J.M.R. Lenz und und Schinznach. Jakob Michael Reinhold Lenz u. a. Goethes Werther in der Rezeption des Sturm und (zusammen mit Ramond de Carbonnières: Die letzten Drang bis zum Naturalismus. Würzburg 2002. Tage des jungen Olban) Berlin 1778. Mit einem Nach- Müller, Maria E.: Die Wunschwelt des Tantalus. Kri- wort v. Matthias Luserke. Reprint der Ausgabe von tische Bemerkungen zu sozialutopischen Entwürfen 1777: Hildesheim u. a. 2001. – Als Sr. Hochedelgebohr- im Werk von J.M.R. Lenz, in: literatur für leser (1984) nen der Herr Professor Kant den 21sten August 1770 H. 3, 148–161. für die Professor-Würde disputierte. Faksimile des Müller, Peter (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz Erstdrucks Königsberg 1770. Hg. v. Christoph Weiß. im Urteil dreier Jahrhunderte. Texte der Rezeption Laatzen 2003. – Moskauer Schriften und Briefe. Hg. u. von Werk und Persönlichkeit. 18.–20. Jahrhun- kommentiert v. Heribert Tommek. 2 Bde. Berlin 2007a. dert. Gesammelt u. hg. v. Peter Müller unter Mitar- Bd. 1: Textband; Bd. 2: Kommentarband. – Schriften beit v. Jürgen Stötzer. Bd. 1–3 u. 4. Bern u. a. 1995 u. zur Sozialreform. Das Berkaer Projekt. Hg. v. Elystan 2005. Griffiths u. David Hill, unter Mitwirkung v. Heribert Pautler, Stefan: Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietis- Tommek. 2 Bde. Frankfurt a.M. u. a. 2007b. tische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Übersetzung: Pleschtschejew, Sergei: Übersicht Sturm und Drang. Gütersloh 1999. des Russischen Reichs nach seiner gegenwärtigen Rosanow, M.N.: Jakob M.R. Lenz, der Dichter der neu eingerichteten Verfassung. Aus dem Russischen Sturm- und Drangperiode. Sein Leben und seine übersetzt von J.M.R. Lenz. [Moskau 1787]. Mit einem Werke. Übersetzt v. C. v. Gütschow. Leipzig 1909. Nachwort v. Matthias Luserke u. Christoph Weiß. Hil- Nachdruck: Leipzig 1972 sowie Hildesheim u. a. 2001 desheim u. a. 1992. (zuerst russ. Moskau 1901). Roßbach, Nikola: Jakob Michael Reinhold Lenz. Bib- liographie 2005–2010, in: LJb 17 (2010), 135–148. Forschung Scherpe, Klaus R.: Dichterische Erkenntnis und „Pro- Dedner, Burghard, Hubert Gersch u. Ariane Martin jektemacherei“. Widersprüche im Werk von J.M.R. (Hg.): „Lenzens Verrückung“. Chronik und Doku- Lenz, in: GJb 94 (1977), 206–235. mente zu J.M.R. Lenz von Herbst 1777 bis Frühjahr Stephan, Inge u. Hans-Gerd Winter (Hg.): „Unaufhör- 1778. Tübingen 1999. lich Lenz gelesen …“. Studien zu Leben und Werk von Goedeke 4.1, 774–799. J.M.R. Lenz. Stuttgart u. a. 1994.

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Stephan, Inge u. Hans-Gerd Winter (Hg.): Zwischen des Kühehütens den Stellenwert einer Ur- Kunst und Wissenschaft. Jakob Michael Reinhold sache späterer künstlerischer Ausformungen Lenz. Bern u. a. 2006. erhält, ist Vorsicht geboten“ (Thös-Kössel Tommek, Heribert: J.M.R. Lenz. Sozioanalyse einer li- 1993, 28). Mit 15 Jahren kam M. durch Vermitt- terarischen Laufbahn. Heidelberg 2003. Wilson, Daniel W.: Zwischen Kritik und Affirmation. lung des Kaufmanns Schmerz an den Hof des Militärphantasien und Geschlechterdisziplinierung Herzogs Christian IV. von Pfalz-Zweibrücken bei J.M.R. Lenz, in: „Unaufhörlich Lenz gelesen …“. (1722–1775) (vgl. vom Hofe 1982, [12]) und be- Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz. Hg. v. gann eine Ausbildung zum Maler unter Da- Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter. Stuttgart u. a. niel Hien (1724–1773). Zusammen mit seinem 1994, 52–85. Lehrmeister sowie den weiteren Hofkünstlern Winter, Hans-Gerd: Jakob Michael Reinhold Lenz. 2. überarbeitete u. aktualisierte Aufl. Stuttgart 2000 (mit Georg Friedrich Meyer (1733–1779) und Jo- Bibliographie). hann Christian Mannlich (1741–1822) bildete Winter, Hans-Gerd: „Recht beschwerliche Gedächt- M. eine Künstlergruppe in Zweibrücken (vgl. nisarbeit“. Über die Widersprüche zwischen den Thös-Kössel 1993, 36). M. kam am Hofe trotz Lenz-Bildern in der Wissenschaft der letzten dreißig seiner gesellschaftlich niedrigen Herkunft gut Jahre, in: Zwischen Kunst und Wissenschaft. Jakob zurecht, diese wurde aber zum Problem, als Michael Reinhold Lenz. Hg. v. Inge Stephan u. Hans- Gerd Winter. Bern u. a. 2006, 85–118. er um die Hand der Oberkonsistorialratstoch- Wurst, Karin A.: A Shattered Mirror. Lenz’s Concept of ter Charlotte Kaerner anhielt. Ihr Vater wies Mimesis, in: Space to Act. The Theater of J.M.R. Lenz. den Antrag ab, obwohl Charlotte ein Kind von Hg. v. Helga Stipa Madland u. Alan C. Leidner. Colum- M. erwartete (vgl. ebd., 43 f.). Wann genau bia/SC 1993, 106–120. M. begann, sich ernsthaft mit Literatur und Heribert Tommek Dichtung auseinanderzusetzen, ist unklar, vom Hofe meint, erste dichterische Unterneh- mungen fielen noch in die Zweibrücker Zeit (vgl. vom Hofe 1982, [12]). 1775 übersiedelte Maler Müller (i.e. Friedrich Müller) M. nach der ‚dimißionʻ durch den Herzog ins * 13. 1. 1749 Bad Kreuznach, † 23. 4. 1825 Rom benachbarte Mannheim, wo er seit 1769 regel- mäßig zu Gast an der dortigen Zeichenakade- Friedrich Müller wurde am 13. 1. 1749 in Bad mie war (vgl. Thös-Kössel 1993, 46 f.). Unter Kreuznach als Sohn des Bäckers und Winzers dem Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz Johannes Friedrich Müller (1727–1760) und (1724–1799) bildete sich der junge Maler bei dessen Frau Katharina Margaretha Müller, Peter Anton Verschaffelt (1710–1793) fort (vgl. geb. Roos (1730–1796) geboren. Der frühe Tod ebd., 51 f.) und wurde pfälzischer Kabinetts- des Vaters zwang M., bereits nach vier Jahren maler (vgl. vom Hofe 1982, [14]). M.s Kunst das Kreuznacher Gymnasium zu verlassen fand ihre Bewunderer (vgl. Thös-Kössel 1993, und in der elterlichen Land- und Gastwirt- 51), gleichzeitig wagte er erste literarische schaft auszuhelfen (vgl. Leuschner 1997, 373). Gehversuche: Vermittelt durch Johann Fried- M. war dort u. a. als Hirte tätig. Thös-Kössel rich Hahn (1753–1779), erschien M.s Lied eines warnt im Hinblick darauf vor einer Überstra- bluttrunknen Wodanadlers – überarbeitet von pazierung des Zusammenhangs von Leben Klopstock – im Göttinger Musenalmanach und Werk in der Forschungsgeschichte: „Wenn 1774 und M. gehörte „über Nacht zur literari- jedoch in der Biographie das Jugenderlebnis schen Avantgarde“ (Killy 8, 264). Der Verleger

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Christian Friedrich Schwan (1733–1815) eröff- [18]). M. sollte für den Rest seines Lebens in nete dem „pfälzischen Genie“ zudem mit der Rom bleiben, er starb nach langer Krankheit Zeitschrift Die Schreibtafel ein Forum, „das am 23. 4. 1825. der junge Dichtermaler fleißig nutzte“. (ebd.) Von seiner Kunst, die zwar vom Können Die Gedichte und Idyllen waren zunächst des Malers zeugt, an der aber der „Makel des noch mit der anonymen Autorangabe „von Vorläufigen“ (Thös-Kössel 1993, 8) kritisiert einem jungen Mahler“ erschienen, die 1775 wird, ist bis auf einige Zeichnungen und Radie- veröffentlichte pfälzische Idylle Die Schaaf- rungen wenig erhalten geblieben (vgl. ebd.). Schur nennt erstmals den „Mahler Mül- M.s Dichtungen behalten ihn im Gedächtnis, ler“ als Verfasser (vgl. vom Hofe 1982, [3]). insbesondere seine Idyllen revolutionierten Der selbstgewählte Namenszusatz „Mahler“ die Gattung maßgeblich (vgl. Schmidt 1885, sollte sein professionelles Künstlertum un- 535; Böschenstein 1990, 10; Thös-Kössel 1993, terstreichen (vgl. Leuschner 1997, 373; über 11). die Problematik dieser Selbsteinschätzung sowie des in diesem Zusammenhang häufig Werke verwendeten Begriffs ‚Doppelbegabung‘ vgl. Müller, Friedrich (genannt Maler Müller): Bacchidon vom Hofe 1982, [3 f.]; Thös-Kössel 1993, 14–17). und Milon, eine Idylle, nebst einem Gesang auf die In der Mannheimer Zeit entstanden die Pfäl- Geburt des Bacchus. Mannheim 1775. – Der Faun, eine Idylle. Mannheim 1775. – Das Nuß-Kernen, eine Pfälzi- zer Idyllen, Balladen, viele Gedichte und die sche Idylle. Mannheim 1775. – Der Satyr Mopsus, eine wichtigen Entwürfe zu Genovefa (1776) sowie Idylle in drey Gesängen. Mannheim 1775. – Die Schaaf- zu den zwei fragmentarischen Faust-Stücken Schur, eine Pfälzische Idylle. Mannheim 1775. – Situ- (1776/1778) (vgl. Weinold 1874, 500, dieser ation aus Fausts Leben. Mannheim 1776. – Adams liefert einen Abdruck der beiden Fragmente, erstes Erwachen und erste seelige Nächte. Mannheim vgl. ebd., 505–512; vom Hofe 1982, [15]), M. 1778. – Fausts Leben dramatisirt. Erster Theil. Mann- heim 1778. – Niobe, ein lyrisches Drama. Mannheim bearbeitete als Erster aus dem Kreis der SuD- 1778. – Mahler Müller’s Werke. Hg. v. Anton Georg Autoren den Stoff des Teufelsbündlers (vgl. Batt, J.P. Le Pique u. . 3 Bde. Heidelberg Leuschner 1997, 374). Im Haus seines Verle- 1811. – Mahler Müllers Werke. [Hg. v. Anton Georg gers Schwan begegnete M. u. a. Goethe, Wie- Batt, J.P. Le Pique und Ludwig Tieck]. Faksimiledruck land (1733–1813), H.L. Wagner, Lenz, Klinger nach der Ausgabe von 1811. 3 Bde. Mit einem Nach- und Lessing (1729–1781), mit Letzterem ver- wort hg. v. Gerhard vom Hofe. Heidelberg 1982. – Idyllen. Friedrich Müller genannt Maler Müller. Voll- band ihn eine bleibende Freundschaft (vgl. ständige Ausgabe in drei Bänden unter Benutzung vom Hofe 1982, [15]). Seit August 1777 wuchs des handschriftlichen Nachlasses. Hg. v. Otto Heuer. M.s Plan von einer Kunstreise, die er schließ- Leipzig 1914. – Maler Müllers Werke. Mit neuer Wür- lich 1778 verwirklichen konnte. Mit finanziel- digung des Dichters und Malers hg. von Max Oeser. ler Unterstützung durch Kurfürst Karl Theo- Mannheim u. a. 1918. – Werke und Briefe. Friedrich dor sowie Theodor von Dalberg (1744–1817) Müller, genannt Maler Müller. Hg. v. Rolf Paulus u. Gerhard Sauder. Heidelberg 1993–2000. und den Weimarer Kreis um Goethe reiste M. nach Rom (vgl. ebd., [16]; Leuschner 1997, Forschung 374). Während einer schweren Krankheit Böschenstein, Renate: Grotte und Kosmos. Überlegun- konvertierte M. dort im Jahr 1780 zum Katho- gen zu Maler Müllers Idyllen-Mythologie, in: Maler lizismus, was in der Heimat „Befremden“ und Müller in neuer Sicht. Studien zum Werk des Schrift- „Enttäuschung“ auslöste (vgl. vom Hofe 1982, stellers und Malers Friedrich Müller (1749–1825). Hg.

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v. Gerhard Sauder, Rolf Paulus u. Christoph Weiß. St. Heinrich Christian Boie (1744–1806), dieser Ingbert 1990, 9–29. machte M. im Anschluss mit weiteren jungen Goedeke 2.6, 677 ff. Göttinger Dichtern bekannt. Aus diesem Zu- Hofe, Gerhard vom: Nachwort, in: Mahler Müllers sammentreffen resultierte am 12. 9. 1772 die Werke. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1811. 3 Bde. Mit einem Nachwort hg. v. Gerhard vom Hofe. Gründung des Dichter- und Freundschafts- Heidelberg 1982, Bd. 3. [3–40]. bundes ‚Der Hain‘. Neben M. zählen sein Ver- Killy 8, 263–266. wandter Gottlob Dietrich Miller (1753–1822), Kosch 10, 1457 ff. Johann Heinrich Voß (1751–1826), Johann Leuschner, Ulrike: Maler Müller, in: NDB 18 (1997), Friedrich Hahn (1753–1779), Ludwig Hölty 373–375. (1748–1776) und Johann Thomas Ludwig Maler-Müller-Almanach. Bad Kreuznach 1980 ff. Schmidt, Erich: Müller, Friedrich, in: ADB 22 (1885), Wehrs (1751–1811) zu den Initiatoren (vgl. El- 530–535. schenbroich 1994, 514). Im Göttinger Hain Thös-Kössel, Siegmund: Ansichten des Malers Fried- führte M. als Sekretär das Bundesjournal und rich Müller (1749–1825). Zur Kunst des Scheiterns vor zeichnete sich vor allem durch seine Lieder 1800. St. Ingbert 1993. aus (vgl. ebd., 515; Moering 2003, 159). Dem Weinold, Karl: Beiträge zu Maler Müllers Leben und Ideal Klopstock’scher Dichtkunst folgend, Schriften, in: Archiv für Litteraturgeschichte 3 (1874), 495–523. waren M.s Beiträge geprägt von den The- mengebieten Natur, Freundschaft und Liebe Désirée Müller (vgl. Elschenbroich 1994, 515). Darüber hi- naus beschäftigte er sich mit Sonderkatego- rien der Liederdichtung, es erschienen Bau- Miller, Johann Martin ern- und Nonnenlieder, besonders bemüht * 3. 12. 1750 Ulm, † 21. 6. 1814 Ulm war M. jedoch um die Wiederbelebung des Minnesangs (vgl. ebd.), was ihm den Bun- Johann Martin Miller wurde am 3. 12. 1750 in desnamen „Minnehold“ eintrug (vgl. ebd.; Ulm als Sohn des Pfarrers Johann Michael Luserke 2010, 253). Nach dem Tod des Vaters Miller (1722–1774) und dessen Frau Doro- 1774 musste M. auf Druck der Familie nach thea Sibylla (1726–1804) geboren. Die ersten Leipzig gehen, um dort sein Studium abzu- zehn Jahre seines Lebens verbrachte M. in schließen, er kam aber bereits zu Ostern 1775 Leipheim, 1763 folgte der Umzug nach Ulm, wieder nach Göttingen, besuchte im Folgen- wohin sein Vater als Münsterprediger beru- den Klopstock in Hamburg und beendete fen wurde. Nach der Ulmer Gymnasialzeit die Universität im Juni 1775. Danach folgten nahm man M. mit 16 Jahren in der der Schule Reisen nach Gießen, Wetzlar und Darmstadt angeschlossenen Akademie auf, er studierte zu Klinger, Wagner, Merck (1741–1791) sowie Theologie und Philosophie. Im Herbst 1770 Philipp Christoph Kayser (1755–1823). In Zü- immatrikulierte er sich an der Göttinger Uni- rich verkehrte er mit den Brüdern Stolberg versität, um das Theologiestudium fortzufüh- und Lavater. Schließlich kehrte M. nach Ulm ren. Ab 1777 wohnte M. dort bei seinem Onkel, zurück und übernahm 1777 die Redaktion von dem Theologieprofessor Johann Peter Miller Schubarts Teutscher Chronik. Bis 1780 war er (1725–1789). zudem Vikar in Ulm, im selben Jahr heiratete M.s Klagelied eines Bauren erschien erst- er nach mehreren Liebschaften und gelösten mals im Göttinger Musenalmanach 1773 von Verlobungen (vgl. Schmidt 1885, 750 f.) die

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Gastwirtstochter Anna Magdalena Spranger des angesehen wird, da der Schwerpunkt der (1758–1805), die Ehe blieb kinderlos. M. wurde Brieftexte auf die Jahre 1774–1778 fällt (vgl. schließlich Pfarrer in Jungingen und 1781 von Stosch 2012, 687). In gleichem Maße zudem Professor für Naturrecht, griechische beschränkt sich die Majorität seiner literari- Sprache und Theologie am Ulmer Gymna- schen Produktion vorwiegend auf die SuD- sium. 1783 ernannte man ihn, wie zuvor sei- Jahre, danach widmet sich M. bis zu seinem nen Vater, zum Ulmer Münsterprediger, die- Tod 1814 den diversen kirchlichen Ämtern ses Amt führte er bis zu seinem Tod mit nur und lehrenden Tätigkeiten. kurzer Unterbrechung aus. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1805 heiratete M. noch im Werke selben Jahr sein Dienstmädchen Magdalene Miller, Johann Martin: Siegwart. Eine Klosterge- Kröner (1770–1812), mit der er zwei Kinder schichte. 2 Teile. Leipzig 1776. 21777 (überarbeitet, in hatte. Auch Magdalene starb vor ihm, und so drei Teilen). Faksimile-Druck der Ausgabe Leipzig 1776. 2 Bde. Mit einem Nachwort v. Alain Faure. Stuttgart ging M. 1812 die dritte Ehe mit der Pfarrers- 1971. – Beytrag zur Geschichte der Zärtlichkeit. Aus witwe Sibylle Juliane (*1778) ein. den Briefen zweier Liebenden. Leipzig 1776. – Predig- Die Qualität von M.s dichterischem Kön- ten für das Landvolk. Leipzig 1776/1784. – Geschichte nen wird in der Forschung übereinstimmend Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau. In als mangelhaft und oberflächlich bewertet Briefen. 4 Bde. Hamburg 1778–1780. – Briefwechsel dreyer akademischer Freunde. Ulm 1776. 21779. – Ge- (vgl. u. a. Schmidt 1885; Sauer [1892] 1966; dichte. Ulm 1783. – Für Klopstock. Ein Gedichtband Müller 1989; Elschenbroich 1994), die zeit- des Göttinger „Hains“, 1773. Nach der Handschrift im genössische Reaktion der Leserschaft fiel je- Hamburger Klopstock-Nachlass. Tübingen 1957. – Der doch durchaus positiv aus (vgl. Müller 1989, Briefwechsel zwischen Johann Martin Miller und Jo- 38; Heinze 1992, 54). So wird insbesondere die hann Heinrich Voß. Unter Verwendung von Vorarbei- 1776 erschienene Wertheriade Siegwart. Eine ten von Alain Faure. Hg. v. Manfred von Stosch. Berlin u. a. 2012. Klostergeschichte in ihrer Breitenwirkung als „wichtiges Dokument empfindsamer Kultur“ Forschung (Müller 1989, 38) anerkannt, der „Trivialro- Elschenbroich, Adalbert: Miller, Johann Martin, in: man“ (Heinze 1992) popularisiert das litera- NDB 17 (1994), 514–516. rische Motiv vom auf dem Grabhügel der Ge- Faure, Alain: Johann Martin Miller, romancier senti- liebten Sterbenden (vgl. Luserke 2010, 186). mental. Paris 1977. M. veröffentlicht in den folgenden Jahren Heinze, Diethard: Johann Martin Millers Siegwart. noch einzelne Werke, so z. B. den Beytrag zur Eine Klostergeschichte. Der „Trivialroman“ und seine Leser, in: ZfG 2.1 (1992), 51–62. Geschichte der Zärtlichkeit (1776), den Brief- Killy 8, 164 ff. wechsel dreyer akademischer Freunde (1776) Kosch 10, 1089–1090. und die Geschichte Karls von Burgheim und Kraeger, Heinrich: Johann Martin Miller. Ein Beitrag Emiliens von Rosenau (1778). Bemerkenswert zur Geschichte der Empfindsamkeit. Bremen 1893. bleibt neben seiner Dichtung für den Göttin- Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – ger Hain jedoch der hinterlassene umfang- Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010. reiche Briefwechsel, darunter vor allem die Moering, Renate: Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs 36 Jahre dauernde Korrespondenz mit Voß, Gedicht An Johann Martin Miller. Freundschaftsdich- welche als eines der wichtigsten Dokumente tung des Göttinger Hains, in: Goethezeit – Zeit für für die Geschichte des Freundschaftsbun- Goethe. Auf den Spuren deutscher Lyriküberlieferung

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in die Moderne. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt. Tübingen des Gymnasiums in Hannover und einem 2003, 153–160. Theologiestudium in Erfurt. M. entwickelte Müller, Ruth E.: Johann Martin Millers Siegwart. Emp- Kontakte zu den Herrnhutern, den Dessauer findsames Erzählen und Musik, in: dies.: Erzählte Philanthropen um Basedow (1724–1790) und Töne. Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahr- hundert. Stuttgart 1989, 37–56. zum Kreis der Berliner Aufklärung um Men- Sauer, August (Hg.): Der Göttinger Dichterbund. 2. u. delssohn (1729–1786). Als Lehrer am renom- 3. Teil. Unveränderter reprografischer Nachdruck der mierten Gymnasium zum Grauen Kloster in Ausgabe 1892/1893. Darmstadt 1966. Berlin 1784 hatte er die erste Stufe des sozi- Schmidt, Erich: Miller, Johann Martin, in: ADB 21 alen Aufstiegs erreicht. Die Schullaufbahn (1885), 750–755. beendete der publizistische Erfolg seiner Rei- Désirée Müller sen eines Deutschen in England im Jahre 1782; seine Italienreise 1786–1788 zeitparallel zu derjenigen Goethes betrachtete M. selbst als Höhepunkt seines Lebens. Nach seiner Rück- Moritz, Karl Philipp kehr nach Berlin wurde er Professor der The- * 15. 9. 1756 Hameln, † 26. 6. 1793 Berlin orie der schönen Künste und Altertumskunde an der Akademie der Künste, 1791 Mitglied der Folgt man den herkömmlichen literaturge- Preußischen Akademie der Wissenschaften schichtlichen Einordnungen, dann gehören und Hofrat. und sein Werk in die Vor- Begonnen hatte M. als Lyriker. Seine Sechs geschichte der Weimarer Klassik. M. taucht deutschen Gedichte, dem Könige von Preußen zuerst im Scheinwerferkegel von Goethes ita- gewidmet (1781) blieben im zeitgenössischen lienischer Reise als Dichtergenosse auf, der Literaturbetrieb nicht unbeachtet, hatte doch „wie ein jüngerer Bruder“ erschien, „von der- Friedrich der Große (1712–1786) die Widmung selben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost mit einem freundlichen Dankschreiben be- und beschädigt, wo ich begünstigt und vor- antwortet und damit den jungen Dichter ins gezogen bin“. (An Charlotte von Stein, 14. 12. politisch-literarische Rampenlicht gerückt. 1786) Doch die Differenz zwischen Goethe, Ein Jahr zuvor (zweite Fassung 1781) war das der seine Selbstverortung zwischen Bürger- später fast vergessene und unterschätzte tum und Hof suchte, und M., der im sozialen Drama Blunt oder der Gast erschienen. Was Aufstieg seine psychischen Defekte verarbei- hier ziemlich zeitgleich mit Schillers Räubern ten musste, reicht tiefer. (1781) in die Öffentlichkeit kam, ist erst in Tatsächlich entstammte M. ärmlichsten jüngerer Zeit gleichsam wiederentdeckt und Verhältnissen, geprägt von den religiösen in eine Reihe mit den bekannten Dramen des Streitereien der Eltern um den Vorrang von SuD gestellt worden (vgl. Luserke 1993), auch quietistischem Separatismus oder orthodox- wenn es in dieser Zuschreibung so nicht un- pietistischem Luthertum. Körperliche und bedingt aufgehen muss. Doch verblassen das psychische Quälereien während Erziehung Drama und die Vielzahl von Veröffentlichun- und Lehre prägten das Kind und trieben es gen im beruflichen Umkreis vor dem ‚psycho- an den Rand des Selbstmords. Als von ei- logischen Roman‘ Anton Reiser (1785–1790), nem Pfarrer seine Begabung erkannt wurde, der zugleich als autobiografischer Roman begann der soziale Aufstieg mit dem Besuch angelegt war. Vor Goethes Wilhelm Meisters

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Lehrjahre (1795/1796) hatte M. damit die Gat- Besuch bei Goethe in Weimar legte M. mit tungsgeschichte des Theaterromans und des seinen Schriften zur Ästhetik, etwa Über die Bildungsromans grundgelegt. Als Roman, der bildende Nachahmung des Schönen (1788), die die geradezu zu einer Zeitmode aufgestiegene Grundlagen der klassischen Vorstellungen Theatromanie (vgl. Catholy 1962) themati- zur Autonomie und Eigengesetzlichkeit des sierte, hatte Anton Reiser erstmals einem Kunstwerks. zentralen Aspekt des SuD mit hohem Anste- ckungspotenzial eine deutliche Stimme und Werke einen verstehend nachvollziehbaren Lebens- Moritz, Karl Philipp: Beiträge zur Philosophie des Le- lauf gegeben. Der Schauspieler Iffland (1759– bens aus dem Tagebuche eines Freimäurers. Berlin 1780. – Unterhaltungen mit meinen Schülern. Erstes 1814), ein Schulfreund von M. und selbst Bändchen. Berlin 1780. – Aussichten zu einer Expe- nicht unempfänglich für diese Verlockung rimentalseelenlehre an Herrn Direktor Gerike. (Bei der bürgerlichen Jugend der Epoche, hat diese der Jubelfeier des Herderschen Gymnasiums.) Berlin Krankheit in einem Aufsatz Ueber den Hang, 1782. – Deutsche Sprachlehre für die Damen. Berlin Schauspieler zu werden (1808) nachträglich 1782. – Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. Berlin 1786 auf den Begriff gebracht: „Junge Leute von (tatsächlich 1785). – Denkwürdigkeiten, aufgezeich- net zur Beförderung des Edlen und Schönen. Berlin angegriffener, kränkelnder Imagination, die 1786. – Fragmente aus dem Tagebuche eines Geister- sich als Schriftsteller oder Dichter ohne Erfolg sehers. Von dem Verfasser des Anton Reiser. Berlin versucht, in der Liebe Unglück gehabt haben, 1787. – Götterlehre oder mythologische Dichtungen gerathen dahin, in einer dumpfen Schwer- der Alten. Mit fünf und sechzig in Kupfer gestochenen muth zu verkehren. Sie brüten ihr Leben so Abbildungen. Berlin 1791. – Mythologischer Almanach dahin, und gefallen sich indem sie an allem, für Damen. Berlin 1792. – Mythologisches Wörterbuch zum Gebrauch für Schulen. Berlin 1793. – Allgemeiner was um sie her vorgeht, keinen Antheil neh- deutscher Briefsteller, welcher eine kleine deutsche men. […] Wenn diese auf den Gedanken gerat- Sprachlehre, die Hauptlehre des Styls und eine voll- hen, Schauspieler zu werden, so ist das Uebel ständige Beispielsammlung von Briefen enthält. Ber- fast unheilbar.“ (Iffland 1808, 8). lin 1793. – Grammatisches Wörterbuch der deutschen Kritik und Forschung haben in Fortschrei- Sprache. Bd. 1. Berlin 1793. – Die große Loge oder der bung solcher Gedanken eine bis zur Identität Freimaurer mit Wage und Senkblei. Von dem Verfas- ser der Beiträge zur Philosophie des Lebens. Berlin reichende Verbindung zwischen dem Autor 1793. – Vorlesungen über den Styl oder praktische An- des Anton Reiser und seiner Titelfigur her- weisung zu einer guten Schreibart in Beispielen aus stellen wollen. Dabei ist übersehen worden, den vorzüglichsten Schriftstellern. Erster Theil: Berlin dass der Autor des psychologischen Romans 1793. Zweiter Theil: Berlin 1794. – Die neue Cecilia. Anton Reiser, der zugleich Herausgeber eines Letzte Blätter. Berlin 1794. – Launen und Phantasien. Magazins zur Erfahrungsseelenkunde war (10 Hg. v. Carl Friedrich Klischnig. Berlin 1796. – Werke in zwei Bänden. Ausgewählt u. eingeleitet v. Jürgen Bde., 1783–1793), sehr wohl zwischen einem Jahn. 3. Aufl. Berlin u. a. 1981. – Werke. Hg. v. Horst reflektiert schreibenden Subjekt und einem Günther. 3 Bde. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1993. – Werke Ich, das als Textfigur auftritt, zu unterschei- in zwei Bänden. Hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier. den wusste. Die Identifikationssucht des von Frankfurt a.M. 1997 ff. der Theatromanie angesteckten Titelhelden Iffland, August Wilhelm: Ueber den Hang, Schauspie- ler zu werden, in: Almanach fürs Theater. Hg. v. Au- ist Programm des Romans; sein Autor hat gust Wilhelm Iffland. Berlin (1808), Jg. 2, 1–33. sich daraus befreit. Nach seinem Italienauf- enthalt und einem zwei Monate dauernden

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Forschung Möser, Justus Allkemper, Alo: Der Schein der Rettung oder die * 14. 12. 1720 Osnabrück, † 8. 1. 1794 Osna- Phantasie vom guten Zufall. Zu Karl Philipp Moritz’ brück Drama Blunt oder der Gast, in: Lessing Yearbook 21 (1989), 123–139. Baumann, Steffi: Geschichten, die helfen, die Seele zu Justus Möser entstammte einer angesehe- erkunden. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser und das nen Osnabrücker Bürgerfamilie, sein Vater Jo- Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Berlin 2009. hann Zacharias Möser (1690–1768) war Kanz- Berghahn, Cord-Friedrich: Das Wagnis der Autono- lei- und Konsistorialdirektor. Auch M. fand mie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von nach einem Jurastudium in Jena und Göttin- Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Lud- gen (1740–1742) zurück in die westfälische wig Tieck. Heidelberg 2012. Boulby, Mark: Karl Philipp Moritz. At the Fringe of Provinz, um dort eine zentrale Stellung in der Genius. Toronto u. a. 1979. bürgerlichen Gesellschaft des Fürstbistums Catholy, Eckehard: Karl Philipp Moritz und die Ur- Osnabrück einzunehmen. sprünge der deutschen Theaterleidenschaft. Tübin- Schon während seines Studiums wurde gen 1962. M. durch väterliche Empfehlung zum Se- Costazza, Alessandro: Genie und tragische Kunst. kretär der Osnabrücker Ritterschaft gewählt Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhun- derts. Bern u. a. 1999. (1741) und nahm diese Funktion ab 1744 aktiv Hollmer, Heide: Karl Philipp Moritz’ Blunt oder der wahr (1756 Beförderung zum Syndicus der Gast – ein umstrittenes Nebenwerk, in: Moritz zu Ritterschaft). Zugleich arbeitete er als Anwalt Ehren. Beiträge zum Eutiner Symposium im Juni 1993. und heiratete 1746 standesgemäß die gebil- Hg. v. Wolfgang Griep. Eutin 1996, 53–63. dete Bürgerstochter Regina Juliana Elisabeth Killy 8, 225 ff. Brouning (1716–1787). Mit ihr hatte M. zwei Kim, Hee-Ju: Ich-Theater. Zur Identitätsrecherche in Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Heidelberg 2004. Kinder, Johanna Wilhelmina Juliana (‚Jennyʻ, Kosch 10, 1328–1335. 1749–1814) und Johann Ernst Justus (1751– Košenina, Alexander (Hg.): Karl Philipp Moritz. Lite- 1773). Der frühe Tod des Sohnes, der offenbar rarische Experimente auf dem Weg zum psychologi- an den Masern verstarb, war sicherlich der schen Roman. Göttingen 2006. Tiefpunkt in einem ansonsten privat und be- Krupp, Anthony: Karl Philipp Moritz’s Life and Walks, in: ders. (Hg.): Karl Philipp Moritz: Signaturen des ruflich gelungenen Leben – so jedenfalls hat Denkens. Amsterdam u. a. 2010, 11–18. M., der wenig von seinen Gefühlen preisgab, Luserke, Matthias: Der Abgesang auf den Sturm und es stets dargestellt. Drang. Plädoyer für eine neue Lektüre von Moritz’ In dem kleinen Fürstbistum Osnabrück Drama Blunt oder der Gast, in: Karl Philipp Moritz. nahm M. jahrzehntelang eine Schlüsselstel- Text + Kritik 118/119. München 1993, 67–75. lung ein. Zunächst zum Advocatus Patriae Schrimpf, Hans Joachim: Karl Philipp Moritz. Stutt- gart 1980. ernannt (1747), der Osnabrück in rechtlichen Wingertszahn, Christof (Hg.): „Das Dort ist nun Hier Fragen vertreten sollte, diente er seinem geworden“. Karl Philipp Moritz heute. Hannover-Laat- bedrängten Heimatstaat im Siebenjährigen zen 2010. Krieg (1756–1763) als geschickter Diplomat, Winkler, Willi: Karl Philipp Moritz. Reinbek 2006. dem es gelang, die Kontributionsforderungen Rolf Selbmann der Besatzungsmächte – zunächst Frankreich (1757), dann die englisch-preußische Allianz – zu mildern. Bekannt geworden ist M.s origi- neller und humorvoller Harlekin-Auftritt auf

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der Geburtstagsfeier des Heerführers Herzog Impulse: als einer „der ersten deutschen pro- Ferdinand von Braunschweig (1721–1792) am saischen Schriftsteller“ (Nicolai 1978, 500) 12. 1. 1760, wo M. eine Reduktion der Zah- und Publizist, als Dichtungstheoretiker, His- lungsforderungen erwirken konnte. Die je- toriograph und Popularphilosoph. nes Ereignis reflektierende Schrift Harlekin, Seine schriftstellerische Laufbahn be- oder die Verteidigung des Groteske-Komischen gann mit zwei von ihm gegründeten Wochen- (1760) erregte breite Aufmerksamkeit und blättern: zum einen Ein Wochenblatt, dessen wurde als markante Stellungnahme in der vom 5. 1. bis 28. 12. 1746 erschienene Beiträge theaterästhetischen Debatte über die Komö- 1747 unter dem Titel Versuch einiger Gemälde die rezipiert. von den Sitten unserer Zeit. Vormals zu Han- Nach dem Tod des Fürstbischofs Clemens nover als ein Wochenblatt ausgeteilt in Buch- August (1700–1761) waren die Regierungs- form erschienen, zum anderen ab 1747 Die verhältnisse in Osnabrück zunächst unge- Zuschauerin/Die Deutsche Zuschauerin, 1749 klärt. 1764 wurde der halbjährige Sohn des unter dem Titel Die Deutsche Zuschauerin. Ein englischen Königs Georg III. (1738–1820), Wochenblatt, in Buchform erschienen. Und es Friedrich von York (1763–1827), zum Fürst- war auch weiterhin das periodische Medium bischof gewählt und zwei extern berufene der Zeitschrift bzw. des Intelligenzblattes, das Regierungsräte bestellt. Bis zum Amtsantritt M.s Erfolg und Popularität weit über die Gren- Friedrichs von York im Jahr 1783 prägte M. als zen Westfalens hinaus sicherte: In etwa 450 einflussreicher und hochangesehener Regie- Aufsätzen, , Erzählungen und Anek- rungsberater die politischen Geschicke seines doten meldete er sich zu vielfältigen Themen Landes (so wurde M. 1762 Rat und Justitiarius zu Wort, meist abgedruckt in dem von ihm beim Kriminalgericht, 1764 Konsulent ohne selbst redigierten Intelligenzblatt Wöchent- Stimmrecht, 1768 Regierungsreferendar, 1776 liche Osnabrückische Anzeigen (ab 1766) bzw. Konsulent mit bedingtem Stimmrecht, 1783 in dessen Beilage, die ab 1768 als Nützliche Geheimer Referendar, Geheimer Justizrat). Beylagen zum Osnabrückischen Intelligenz- Die Forschung ist sich einig, dass M. das Blate, ab 1773 als Westphälische Beyträge zum Fürstbistum Osnabrück zwar nicht de jure, Nutzen und Vergnügen erschien. jedoch de facto jahrzehntelang führte – im 287 Aufsätze M.s wurden in überarbei- Sinne einer pragmatisch-realistischen, stets teter Form als Patriotische Phantasien (1774– auf das ‚Gemeine Besteʻ bedachten, aufge- 1786) von Friedrich Nicolai (1733–1811) neu ge- klärten und dennoch ständehierarchisch aus- druckt. Vielen galt und gilt diese Sammlung gerichteten Regierungskunst. geistreicher, stilsicherer, thematisch und for- Für M. stellte „das edelste Kunstwerk mal wandlungsreicher Prosastücke als M.s unter allen […] die Staatsverfassung“ (Patrio- Hauptwerk. tische Phantasien 2, AA-O 5, 23) dar. Doch Außer dem frühen Trauerspiel Arminius auch wenn angesichts der notwendigen und (1749), in dem M. an einem idealisierten Ger- nützlichen Politik die Literatur für den Staats- manenmythos „im Dienste kultureller und mann nur schmückendes Beiwerk, nur „Putz“ nationaler Selbstfindung bzw. Selbstverge- (Über die deutsche Sprache und Literatur, wisserung“ (Stauf 1995, 310) weiterdichtet, AA-O 3, 72) des gesellschaftlichen Lebens war, ist lediglich eine weitere größere Schrift im gab M. der Literatur seiner Zeit entscheidende eher ‚dezentralʻ (vgl. Nemoianu 1983, 25) or-

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ganisierten Werk M.s zu nennen: die Osna- zur Französischen Revolution. M., der eine brückische Geschichte allgemeine Einleitung Harmonie, keine Abschaffung der Ständege- (1768). Hier entwirft M. einen Plan zur deut- sellschaft erstrebte, stand der revolutionären schen Reichsgeschichte, welcher „die Unter- Egalitätsbewegung in Frankreich ablehnend suchung des Grundbesitzes und der bäuer- gegenüber. Damit enttäuschte er in seinen lichen Verhältnisse in den Mittelpunkt rückt, letzten Lebensjahren viele, die ihn als auf- also die Frage nach der Ökonomie stellt und geschlossenen und innovativen Impulsgeber so von einer Geschichte ‚der Haupt- und und Förderer der jungen SuD-Rebellen kann- Staatsaktionenʻ zu einer lebendigen Ge- ten. schichte des Landes und Volkes gelangt“ Am 20. 2. 1775 hatte M. an Nicolai über (Huth 2008, 171). Viele Zeitgenossen werteten sein eigenes Sterben geschrieben: „Ich denke, diesen innovativen Versuch, die deutsche es bis zu Ende dieses Jahrhunderts zu ver- Geschichte ganz anders zu schreiben, als M.s schieben.“ (Briefwechsel 1992, 498) Er über- bedeutendstes, in jedem Fall als sein spekta- lebte seine acht Geschwister und seine Frau kulärstes Werk. Herder druckte die Vorrede und starb 1794 nach einem erfüllten Leben. der Osnabrückischen Geschichte in seiner M. war eine eigenwillige, ebenso grad- SuD-Programmschrift Von Deutscher Art und linige wie widersprüchliche Persönlichkeit, Kunst, einige fliegende Blätter (1773) ab; Goe- die sich der Klassifizierung verweigert. Die thes Mittelalterbild, wie er es im Götz von Ber- M.-Forschung, die zwar mit einer historisch- lichingen (1773) zeichnet, wurde nicht nur von kritischen Werkausgabe und einer Briefedi- M.s Idealisierung des Faustrechts in Der hohe tion arbeiten kann, jedoch unübersehbares Stil der Kunst unter den Deutschen (Patrio- Aktenmaterial zu und von M. noch nicht tische Phantasien 1, Nr. 54, AA-O 4, 263–268) gesichtet hat (vgl. Wagner 1994, 12), ist sich beeinflusst, sondern auch von dessen allge- weiterhin uneinig, wie er einzuordnen ist: Mit meiner Perspektive auf die deutsche Vergan- seinem ökonomisch-rechtlichen Reformwil- genheit in der Osnabrückischen Geschichte. len, seinem Geschichtsoptimismus und sei- 1781 machte M. durch ein mutiges Be- ner moraldidaktischen Literaturästhetik steht kenntnis zur jungen deutschen Literatur, spe- er der Aufklärung nahe; wie der SuD lehnt er ziell zum SuD, auf sich aufmerksam, das auf den despotischen Absolutismus entschieden die berühmte kulturkritische Schrift Fried- ab. Dabei bewegt M. sich jedoch – als ‚Auf- richs II., De la littérature allemande (1780), re- klärer in der Ständegesellschaft‘ – immer im agierte: Über die deutsche Sprache und Litera- Rahmen einer inegalitären Ständehierarchie tur. Schreiben an einen Freund. Nachdem sich und spricht sich für die Beibehaltung des M. – unter Beibehaltung seiner Ämter – ab Leibeigentums aus. M. also ein „ 1783 aus der aktiven Staatspolitik zurückge- der konservativen politischen Aufklärung in zogen hatte, verfasste er weiterhin Zeitschrif- Deutschland“ (Rudersdorf 1995, 18), ein Reak- tenbeiträge, nun vermehrt für die Berlinische tionärer, ein Vater der Romantik oder gar ein Monatsschrift. Er nahm Stellung zu aktuel- völkisch-nationalistischer Vorläufer der Na- len politischen, ökonomischen, philosophi- tionalsozialisten (vgl. Überblick bei Schmidt schen, religiösen und ästhetischen Fragen – 1991, 10 f.)? Die neuere Forschung (vgl. z. B. so zur Kolonialisierung (Über die allgemeine Stauf 1991, bes. 267–271) konnte dieses ver- Toleranz. Briefe aus Virginien, 1787/1788) und zerrte M.-Bild zurechtrücken. Sie betont das

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Uneindeutige, das Ambivalente, das Dialekti- Nicolai, Friedrich: Leben Justus Mösers [1797/1798], in: sche der Person und des Werks, das M. selbst Justus Möser. Anwalt des Vaterlands. Wochenschrif- im Maskenspiel der Patriotischen Phantasien ten, Patriotische Phantasien, Aufsätze, Fragmente. Ausgewählt u. hg. v. Friedemann Berger. Leipzig u. a. und ihrer verschiedenen Erzählerfiguren an- 1978, 497–556. gelegt hat. Ein einliniges Phasenmodell der Geistesentwicklung von M. – aufgeteilt in universal-moralische (1720–1747), national- Forschung historische (1747–1762) und lokal-politische Brandt, Reinhard: Kant und Möser, in: Aufklärung. (1762–1794) Phasen (vgl. Sheldon 1970) – kann Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 3.2 die aktuellere Forschung nicht mehr überzeu- (1988), 89–104. gen (vgl. z. B. Stauf 1991, 29; Wagner 1994, 16). Huth, Hella: Sprachverständnis und Sprachgebrauch Der humorvoll-kluge Publizist, der wen- bei Justus Möser (1720–1794), in: Europa in der Frü- dige Denker, der glänzende Stilist, der un- hen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Hg. v. bestechliche Gesellschaftsbeobachter, der Erich Donnert. Bd. 7: Unbekannte Quellen. Aufsätze. realistische Politstratege – oder, mit Goethes Personenregister der Bände 1–7. Köln u. a. 2008, 169– 186. bekannten Worten, der unvergleichliche Killy 8, 191–193. „herrliche Justus Möser“, der „vor allen an- Kosch 10, 1225–1239. dern“ zu „den bewährtesten Männern des Nemoianu, Virgil: Textual and political decentralisa- Vaterlands“ (FA 14, 647 f.) gehörte: Er fand tion in Möser and Rivarol, in: Studies on Voltaire and lange Zeit nicht den ihm zustehenden Platz the Eighteenth Century 216 (1983), 23–25. in der Literaturgeschichte. Trotz verstärkter Patriotische Phantasien. Justus Möser 1720–1794. Auf- klärer in der Ständegesellschaft. Ausstellung anläß- Forschungsbemühungen in den letzten Jahr- lich des 200. Todesjahres Justus Mösers. Bramsche zehnten ist die reale Bedeutung M.s für die 1994. Kultur und Literatur des 18. Jh.s noch nicht Rudersdorf, Manfred: Das Glück der Bettler. Justus vermessen worden. Möser und die Welt der Armen. Mentalität und soziale Frage im Fürstbistum Osnabrück zwischen Aufklä- rung und Säkularisation. Münster 1995. Werke Schmidt, Wolff A. von: Justus Möser, Advokat eines Möser, Justus: Arminius. Hannover u. a. 1749. – Harle- historisch-organischen und partikularistischen Kul- kin, oder die Verteidigung des Groteske-Komischen. Os- turbewußtseins, in: Autoren damals und heute. Lite- nabrück 1761. – Osnabrückische Geschichte allgemeine raturgeschichtliche Beispiele veränderter Wirkungs- Einleitung. Osnabrück 1768. – Patriotische Phantasien. horizonte. Hg. v. Gerhard P. Knapp. Amsterdam u. a. 4 Bde. Berlin 1774–1786. – Über die deutsche Sprache 1991, 7–28. und Literatur, in: Westphälische Beyträge zum Nutzen Sheldon, William F.: The Intellectual Development of und Vergnügen (März/April 1781), 9., 11., 12., 13., 17. Justus Möser: The Growth of a German Patriot. Osna- Stck. – Über die allgemeine Toleranz. Briefe aus Virgi- brück 1970. nien, in: Berlinische Monatsschrift (1787/1788). – Justus Sheldon, William F.: Möser, Justus, in: NDB 17 (1994), Mösers Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe 687–689. in 14 Bänden. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften Stauf, Renate: Justus Mösers Konzept einer deutschen zu Göttingen. Oldenburg u. a. 1943–1990 (= AA-O). – Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe. Tü- Briefwechsel. Neu bearbeitet v. William F. Sheldon in bingen 1991. Zusammenarbeit m. Horst-Rüdiger Jarck, Theodor Pen- Stauf, Renate: „… und die kleinen städtischen Repu- ners u. Gisela Wagner. Hannover 1992. bliken der Griechen waren gewiß nur Puppenwerke Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dich- gegen die nordischen Staaten …“. Germanenmythos tung und Wahrheit, in: FA 14. und Griechenmythos als nationale Identitätsmythen

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bei Möser und Winckelmann, in: Arminius und die Stuttgart. Schon während der Schulzeit üben Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur. Hg. erst Klopstock mit seinen Oden und seinem v. Rainer Wiegels, Winfried Woesler. Paderborn 1995, Messias, später Lessing (1729–1781) als Dra- 309–322. matiker und Kritiker und Wieland (1733–1813) Wagner, Gisela: Justus Möser. Beiträge zu seiner Bio- graphie, in: Osnabrücker Mitteilungen 99 (1994), 11–86. als Erzähler und Shakespeare-Übersetzer einen großen Einfluss auf ihn aus. Von den Nikola Roßbach jüngeren Autoren fesseln ihn Goethe mit dem Werther (1774), des Weiteren Gerstenberg (Ugolino, 1768), Leisewitz (Julius von Tarent, 1776) und Klinger (Die Zwillinge, 1776). Schiller, Johann Christoph Wohl von 1779 an beschäftigt S. sich in- Friedrich tensiv mit den Räubern, die 1781 anonym im * 10. 11. 1759 Marbach a.N., † 9. 5. 1805 Weimar Selbstverlag erscheinen und das Motiv der feindlichen Brüder aufnehmen, das bereits in Schiller entstammt einem frommen Eltern- den eben erwähnten Dramen von Leisewitz haus, er besucht zunächst die Lateinschule und Klinger behandelt worden ist, das aber in Ludwigsburg und will mit Zustimmung auch später – jenseits des SuD – in S.s Braut seines Vaters, eines Wundarztes, dann Offi- von Messina (1803) wiederkehren wird. Am ziers, dann Leiters der Herzoglichen Hofgärt- Ende des Stücks scheitern beide Brüder, der nerei, Geistlicher werden. Indessen muss er pathetische Rebell Karl Moor, der sich – in auf Geheiß des württembergischen Herzogs der ‚kraftgenialischen‘ Manier eines ‚Selbst- Karl Eugen (1728–1793) 1773 in dessen ‚Mili- helfers‘ – nicht in die gegebene soziale Ord- tär-Pflanzschule‘, die (1781 zur Universität nung einfügen will, und der materialistisch erhobene) Karlsschule, eintreten; er erlebt gesinnte, kalte Konformist Franz Moor, der dort ein streng diszipliniertes Kasernenleben, mit Hilfe von Intrigen die Privilegien zu errei- erfährt zugleich aber einen fortschrittlich- chen sucht, die die Natur ihm als dem – auch aufgeklärten Unterricht und erlangt ein rei- noch äußerlich hässlichen – Zweitgeborenen ches Bildungswissen in den verschiedensten verweigert hat. Wenn der alte Moor, ein Bild Fächern. Er soll zuerst zum Juristen ausgebil- der Schwäche, am Ende wortlos seinen Geist det werden, muss 1775 aber zu dem ihm eher aufgibt, dann signalisiert das, in welcher pro- zusagenden Studium der Medizin wechseln. blematischen Verfassung sich die – scheinbar Seinem Philosophielehrer Jakob Friedrich siegende – soziale Ordnung befindet. Abel (1751–1829) verdankt er viele Anregun- In einer Bühnenbearbeitung wird das gen, insbesondere auch die Bekanntschaft Stück 1782 in Mannheim erfolgreich urauf- mit den Werken Shakespeares (1564–1616). geführt. Ein vielzitierter Bericht eines Au- 1779 legt er eine (nicht akzeptierte) Disserta- genzeugen beginnt mit den Worten: „Das tion vor und reicht 1780 erst eine rein medi- Theater glich einem Irrenhause, rollende zinisch argumentierende und dann eine eher Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, anthropologisch orientierte zweite Arbeit heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde ein: Versuch über den Zusammenhang der tie- Menschen fielen einander schluchzend in die rischen Natur des Menschen mit seiner geisti- Arme“ (FA 2, 965 f.). S., der ohne Erlaubnis gen. Daraufhin wird er ‚Regimentsmedikus‘ in an der Uraufführung teilgenommen hat, un-

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ternimmt dann noch eine zweite unerlaubte sondere Rolle. Daher kann S. nach der Buch- Reise nach Mannheim, was ihm seitens des fassung für die Aufführung in Mannheim eine Herzogs einen vierzehntägigen Arrest ein- Bühnenfassung mit gänzlich verändertem trägt und hernach auch das Verbot, ‚Komö- Schluss liefern: Der ehedem machthungrige dien‘ (d. h. dramatische Texte) zu schreiben. und erfolgreiche Verschwörer Fiesko wird am Daraufhin flieht S. mit der (auch finanziellen) Ende nicht ermordet, er verzichtet auf die so- Unterstützung des Musikers Andreas Strei- eben errungene Herzogswürde, reiht sich in cher im September 1782 aus Württemberg. die Genueser Bürgerschaft ein und überlebt. Nach einigen (zum Teil auch veröffent- Kabale und Liebe (1784), ein Bürgerliches lichten) Gedichten in den vorausgehenden Trauerspiel, dessen Titel auf einen Vorschlag Jahren sind bereits 1781 die Laura-Oden ent- A.W. Ifflands (1759–1814) zurückgeht, führt standen – der Name ‚Laura‘ verweist zurück eine Liebe über Standesgrenzen hinweg zwi- auf den italienischen Lyriker Petrarca (1304– schen dem adligen Schwärmer und Phantas- 1374) und auf die von diesem ausgehende ly- ten Ferdinand und der frommen bürgerlichen rische Tradition des Petrarkismus. Noch vor Luise vor. Die Liebe scheitert an den Wider- der Flucht aus Württemberg ist auch die von ständen, die ihr von adliger wie von bürger- S. herausgegebene Gedichtsammlung Antho- licher Seite entgegengesetzt werden, aber logie auf das Jahr 1782 erschienen, die außer auch an den (gesellschaftlich mitbedingten) Gedichten auch das kürzere Drama Semele Einstellungen der Liebenden selbst, an Fer- enthält, eine „lyrische Operette“ (FA 2, 787) – dinands Absolutheitsanspruch und an Luises so die von S. gewählte Gattungsbezeichnung. frommer Entsagungsbereitschaft. Unverhoh- Mehr als die Hälfte der Gedichte stammt von len kritisch ist eine Szene, in der der fürst- S., der Rest von Freunden. S.s Gedichte, in liche Verkauf von Landeskindern als Solda- denen Einflüsse der Aufklärung wie des SuD ten angeprangert wird. zu erkennen sind, besitzen thematisch einige Unterstützung erfährt S. vom Spätsom- Vielfalt: Natur, Liebe (Laura), auch Zeitkri- mer 1785 bis 1787 durch den jungen Dresdener tik (Die Kindsmörderin). Während Gedichte Oberkonsistorialrat Christian Gottfried Kör- fehlen, die man früher der sogenannten Er- ner (1756–1831), in dessen Freundeskreis das lebnislyrik zugeordnet hätte, begegnen man- berühmt gewordene Lied An die Freude (1786) cherlei satirische Züge. Die Widmung („Mei- entsteht. Das Lied, das auch Züge eines Trink- nem Prinzipal / dem Tod / zugeschrieben“, FA liedes hat, feiert die Freude als eine dem Him- 1, 495) mutet reichlich jugendlich an. mel entstammende unwiderstehliche Trieb- Der Erfolg der Räuber trägt S. von 1783 bis kraft, die die Natur, ja den gesamten Kosmos 1784 eine einjährige Anstellung als Theater- mit Harmonie durchwirkt, die mit der Kraft dichter am Mannheimer Nationaltheater ein. der Sympathie alle Trennungen überwindet, Er arbeitet an der Verschwörung des Fiesko die schließlich sogar die ganze Menschheit zu Genua (1783) und liefert darin psycholo- eint und die Menschen nicht nur unterein- gisch differenziert gezeichnete Charaktere; ander, sondern auch mit Gott verbindet. Das bei der Titelfigur insbesondere geht es um die Lied ist über hundertmal vertont worden, Frage nach den Kräften, die in einem außer- bekannt geworden ist es aber nicht zuletzt gewöhnlichen Menschen angelegt sind. Die durch Beethovens (1770–1827) Vertonung, Historizität des Stoffs spielt dabei keine be- die ihrerseits – freilich ohne den Text – 1986

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zur Hymne der Europäischen Union erklärt auch seinen früheren Enthusiasmus wieder wird. entfachen. Bereits 1782 hat S. zusammen mit anderen Nochmals die Thalia ist 1786 Erschei- die kurzlebige Zeitschrift Wirtembergisches nungsort auch der Erzählung Der Verbrecher Repertorium herausgegeben, in der auch aus Infamie (später: Der Verbrecher aus ver- Texte von ihm erschienen sind, darunter die lorener Ehre). Erzählt wird (nach einem his- Schrift Ueber das gegenwärtige teutsche The- torischen Fall) der Lebensweg eines jungen ater (1782). Darin wird, der SuD-Tendenz fol- Mannes, der, äußerlich unansehnlich, in sei- gend, das französische Theater kritisiert und ner Umwelt auf Ablehnung und Spott trifft, Natürlichkeit zum Leitbild für die Autoren der sich angesichts der Ausgrenzung die ge- wie für die Schauspieler erhoben. Eine zweite sellschaftliche Anerkennung um jeden Preis Theaterschrift, eine Rede aus dem Jahr 1784, und schließlich auch mit kriminellen Mitteln erscheint 1785 unter dem Titel Was kann eine erkämpfen will, der sich immer schwerere gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? Verbrechen bis hin zum Mord zuschulden in der von S. selbst herausgegebenen Zeit- kommen lässt und am Ende nach mehreren schrift Thalia (1785–1791; 1792–1795 als Neue Haftstrafen seiner Hinrichtung entgegen- Thalia) und erhält später den Titel Die Schau- sieht. Die Erzählung legt Wert auf die psy- bühne als moralische Anstalt betrachtet. Darin chologische Folgerichtigkeit der Entwicklung werden die Verdienste des Theaters im Sinne des Verbrechers; sie übt aber auch Kritik an einer ästhetisch-moralischen Erziehung her- einem gnadenlosen System, das keinerlei ausgestrichen: Das Theater spricht den gan- Möglichkeit einer Resozialisierung vorsieht zen Menschen an, Verstand und Herz, es be- und keine Gnade kennt und das es im Straf- lebt und entspannt, es vermittelt Einsichten, vollzug zulässt, dass auf die schiefe Bahn Ge- insbesondere Menschenkenntnis, und fördert ratene vollends korrumpiert werden. die innere Festigkeit gegenüber möglichen Ein ganz anders gearteter erzählender Schicksalsschlägen. Text ist Der Geisterseher, ein Roman, der Frag- Nicht um das Theater, sondern um all- ment geblieben ist und dessen erster Teil 1787 gemeinere weltanschauliche Fragen – um in der Thalia erscheint. S. reagiert hier – um das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, eine vermehrte Leserschaft für die Thalia zu zu Gott und zur Welt – geht es in den Philo- gewinnen – auf das im späteren 18. Jh. weit- sophischen Briefen, deren Entstehung bis in verbreitete Interesse an Geheimgesellschaf- die Karlsschulzeit zurückreicht und die 1786 ten, an Okkultem, Hellseherei und para- in der Thalia veröffentlicht werden. Julius, religiösen Phänomenen. Im Hintergrund der ein junger Mann, erzählt darin vom Glau- erzählten Geschichte stehen auch politisch- ben seiner Jugendzeit, der (unter der Über- konfessionelle Spannungen in Württemberg schrift Theosophie des Julius) in Gestalt einer im Hinblick auf das Herzogshaus und dessen schwärmerisch-spekulativen Liebesmetaphy- schwankende Religionszugehörigkeit. In dem sik ausgebreitet wird. Problematisch ist ihm Text hält sich ein deutscher Prinz, Protestant dieser Glaube geworden, nachdem ihm sein und ohne nähere Aussicht auf die Thronfolge, Freund Raphael Vernunft und Aufklärung na- zur Zeit des Karnevals in Venedig auf. Ihm nä- hegebracht und ihn „denken gelehrt“ (FA 8, hert sich ein rätselhafter Armenier, Mitglied 211) hat, sodass er jetzt hofft, Raphael könne eines Geheimordens, der den Prinzen zur

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Konversion zum Katholizismus lenken will. ist das spanische Königshaus, und es geht in Zu den seltsamen Dingen, die der Prinz in dem Stück um das spanische Imperium und der Folge erlebt, gehört auch eine Séance mit die Spanischen Niederlande im 16. Jh. Das einem sizilianischen Magier. Das erinnert an Stück verbindet nationale (Spanien/Nieder- Cagliostro, einen Abenteurer und Betrüger, lande) und konfessionelle Differenzen (Ka- der auf seinen Reisen in Europa als Alchimist tholizismus/Protestantismus) mit dem inner- und Geisterbeschwörer Aufsehen erregte und familiären Konflikt zwischen König Philipp II. in Paris in die sogenannte ‚Halsbandaffäre‘, und dem Thronfolger Karlos. Verschärft wird eine Skandalaffäre am französischen Hof, der Konflikt dadurch, dass Karlos die gleich- verwickelt war. Der wenig rational denkende altrige Elisabeth von Valois liebt, die ehedem und seelisch nicht sehr gefestigte Prinz erliegt als seine Braut vorgesehen war, die dann schließlich den Manipulationen des Armeni- aber von seinem Vater in dritter Ehe geheira- ers und lässt sich dem Katholizismus zufüh- tet worden ist. Dass S. zwei Akte und fast den ren. Der Schluss des Romans bleibt offen; ganzen dritten Akt vorab in seiner Zeitschrift einigen Andeutungen zufolge wird ein Ver- Thalia veröffentlicht, während die Konzep- brechen am Ende stehen. Erst 1788, andert- tion sich noch ändert, das hat eine gewisse halb Jahre nach der Beschäftigung mit dem Uneinheitlichkeit des Stücks zur Folge. Unter ersten Teil, nimmt S. eine Fortsetzung in An- anderem wird Marquis Posa nachgerade zu griff, und zwar auf Wunsch des Verlegers der einer zweiten Hauptperson; er erweist sich als Thalia, da der erste Teil eine enorme Publi- ein Politiker mit weitreichenden, ja die ganze kumsresonanz gefunden hat. Diese Fortset- Menschheit ins Auge fassenden Plänen, der – zung erscheint dann 1789. S. selbst freilich ein Verfechter aufklärerischer Ideen („Gedan- kann dem Text nicht viel abgewinnen und kenfreiheit“) – schließlich um seiner Pläne bezeichnet ihn sogar als „Schmiererei“ (S. an willen zum Mittel der Manipulation und Int- Körner, 17. 3. 1788, FA 7, 1027). rige greift und damit scheitert. Um der Würde Schon von 1783 an beschäftigt S. sich und der weltgeschichtlichen Bedeutung des mit Don Karlos, also mit dem Drama, in dem Stoffs willen schreibt S. das Stück in Blank- sich sein Übergang zu demjenigen Denk- und versen; es erscheint 1787 – bezeichnender- Sprachstil vollzieht, der dann seinen Beitrag weise im selben Jahr, in dem Goethe in Italien zur Weimarer Klassik im Bereich des Dramas die Prosafassung seiner Iphigenie (1779) ver- kennzeichnen wird. Wenn S. das Stück (in sifiziert. einem Brief aus dem Jahr 1784) als „ein Fa- Dass S. abermals im selben Jahr 1787 sich miliengemählde in einem fürstlichen Hauße“ erst einmal einem ganz anderen schriftstelle- (FA 3, 1075) charakterisiert, so bezeichnet das rischen Bereich zuwendet, nämlich der Ge- einerseits den Ausgangspunkt: die Familie schichtsschreibung, mag im Nachhinein wie (wie in etlichen Dramen des SuD und insbe- eine Absage an die Jugendschriften erschei- sondere in den zeitgleichen Familien- und nen, es ist jedenfalls ein Bemühen um Er- Rührstücken); und es signalisiert anderer- neuerung und den Gewinn von Neuland. Das seits zugleich den Übergang zur großen welt- Werk, mit dem er sich jetzt beschäftigt und geschichtlichen Szene, die charakteristisch das stofflich an den Don Karlos anknüpft, er- für das „klassische“ Drama S.’scher Prägung scheint dann 1788 unter dem Titel Geschichte ist. Denn das erwähnte „fürstliche[ ] Hauß[ ]“ des Abfalls der vereinigten Niederlande von

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der Spanischen Regierung. Bezeichnend im Forschung hervorgehoben worden ebenso Sinne einer Neuorientierung mutet auch an, wie andererseits petrarkistische und anakre- dass S. im Juli 1787 nach Weimar reist – Goe- ontische Elemente und Bezüge zum Barock the freilich befindet sich noch in Italien, und (etwa in Bezug auf die Emblematik) sowie zur der Herzog Karl August (1757–1828), der 1784 Aufklärung. bei seinem Besuch des Darmstädter Hofs S. den Titel eines ‚Weimarischen Rats‘ verliehen Werke hat, weilt in Potsdam am preußischen Hof. In- [Schiller, Friedrich:] Die Räuber, ein Schauspiel. dessen lernt S. in Weimar Wieland und Her- Frankfurt u. Leipzig [recte: Stuttgart] 1781. – Antholo- der kennen und findet einen weniger engen gie auf das Jahr 1782. o.O. [Stuttgart] 1782. – Antholo- Kontakt zu Herder, einen engeren dagegen gie auf das Jahr 1782. Reprint. Mit einem Nachwort hg. zu Wieland, der ihn – nicht vergeblich – auf v. Matthias Luserke-Jaqui. Saarbrücken 2009. – Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republika- den Weg zur ‚Klassizität‘ zu lenken versucht. nisches Trauerspiel. Mannheim 1783. – Kabale und S. bleibt erst einmal bis Mai 1788 in Weimar. Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen. S.s Jugendwerk ist in der älteren For- Mannheim 1784. – Don Karlos. Infant von Spanien. schung nicht selten pauschal dem SuD zuge- Leipzig 1787. – FA 2, 965 f. – FA 3, 1075. – FA 7, 1027. schlagen worden, dessen Ende dann entspre- chend später angesetzt wurde. Das bezog sich Forschung vor allem auf die frühen Dramen, die freilich Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Bd. 1. erst erscheinen, nachdem Goethe in der Pro- München 2000. safassung seiner Iphigenie hinsichtlich der Aufenanger, Jörg: Friedrich Schiller. Biographie. Düs- Gedankenwelt und des Stils bereits ‚klassi- seldorf u. a. 2004. Dieckmann, Friedrich: „Diesen Kuß der ganzen Welt!“ schen‘ Boden betreten hat. In der jüngeren Der junge Mann Schiller. Frankfurt a.M. 2005. Forschung ist auf die vielfältigen Bezugnah- Goedeke 5.2, 15–237 u. 553–554. men der S.’schen Dramen auf die der älteren Hinderer, Walter (Hg.): Schillers Dramen. Stuttgart Stürmer und Dränger hingewiesen worden 1992. (u. a. auf Dramen von Goethe, Leisewitz, Klin- Hofmann, Michael: Schiller. Epoche – Werk – Wir- ger und Wagner). In diesem Sinne ist zu kons- kung. München 2003. Koopmann, Helmut (Hg.): Schiller-Handbuch. Stutt- tatieren, dass S.s Jugenddramen zwar „im Stil gart 1998. und im Geist der Sturm-und-Drang-Dramen Leidner, Alan: Schiller and the End of the Sturm und geschrieben“ (Luserke-Jaqui 2005a, 42) sind, Drang, in: The Camden House History of German Lite- dass es aber die Dramen eines Nachzüglers rature. Bd. 6: Literature of the Sturm und Drang. Hg. v. des SuD sind, die zudem auch an barocke David Hill. Rochester u. a. 2003, 275–287. Theatertraditionen anknüpfen und Bezüge Luserke-Jaqui, Matthias (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a. 2005a. zur Aufklärung enthalten, dies freilich ver- Luserke-Jaqui, Matthias: Friedrich Schiller. Tübingen mehrt in der Theatertheorie des jungen S. u. Basel. 2005b. Auch die Lyrik des jungen S. ergibt in Oellers, Norbert: Schiller. Elend der Geschichte, Glanz Bezug auf den SuD kein einhelliges Bild. Denn der Kunst. Stuttgart 2005. es gibt hier zwar keine ‚Erlebnisgedichte‘ in Pilling, Claudia, Diana Schilling u. Mirjam Springer: Goethes Manier, aber kritische politische Ak- Friedrich Schiller. Reinbek 2002. Wölfel, Kurt: Friedrich Schiller. München 2004. zente durchaus (Die schlimmen Monarchen, 1782). Diese sind denn auch in der jüngeren Georg-Michael Schulz

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Schlosser, Johann Georg klärung“ (Riedel 1963, 278) und „wichtiger * 7. 12. 1739 Frankfurt a.M., † 17. 10. 1799 Frank- Diskutant aufgeklärter Literatur“ (Luserke furt a.M. 1992, 27), war einer der schärfsten Kritiker seiner Zeit. Van der Zande charakterisiert ihn Johann Georg Schlosser wurde am 7. 12. 1739 als „Prototyp des Popularphilosophen“ (van in Frankfurt a.M. geboren. Seine Mutter Su- der Zande 1986, VII), welcher mit der Verbrei- sanna Maria (1703–1789) stammte aus der tung seiner Ideen richtungsweisend bei der angesehenen Frankfurter Kaufmannsfami- Bildung der öffentlichen Meinung gewesen lie Orth. Der Vater Carl Erasmus (1696–1773) sei (vgl. ebd.). Sein literarisches, philosophi- brach mit seiner Familientradition und stu- sches sowie politisches Schreiben richtete S. dierte Jura anstelle von Theologie (vgl. van an den Kategorien des Glücks, der Tugend der Zande 1986, 10 f.). S. absolvierte das Gym- und der Moral aus (vgl. ebd., VIII; Maisak nasium in Frankfurt und widmete sich eben- 1992, 11). Indem er Erfahrung und Empfin- falls dem Studium der Rechtswissenschaften dung als Orientierungspunkte setzte sowie in Jena und Altdorf, wo er 1762 promoviert Poesie über Vernunft stellte, besaß S. trotz hö- wurde. Danach ließ er sich in seiner Heimat- heren Lebensalters eine unbestreitbare Geis- stadt nieder und arbeitete als Advokat, jedoch tesverwandtschaft mit den Autoren des SuD bereitete ihm diese Tätigkeit, wie zuvor das (vgl. van der Zande 1986, VII; Maisak 1992, Studium, wenig Freude (vgl. ebd., 15; Kraus 16). 1772 redigierte er zusammen mit Goethe, 2007, 101), sodass er 1766 als Geheimsekretär Herder und Merck (1741–1791) den für den SuD und Prinzenerzieher an den Hof des späteren bedeutsamen Jahrgangsband der Frankfurter Herzogs Friedrich Eugen von Württemberg gelehrten Anzeigen, S. übernahm Ende Juli (1732–1797) kam (vgl. Kraus 2007, 101). Doch die Redaktionsgeschäfte und scheint insge- auch diese Anstellung enttäuschte S. und er samt 55 Rezensionen geschrieben zu haben kehrte 1769 erneut nach Frankfurt zurück, (vgl. Luserke 1992, 27 f.; ders. 2010, 173 f.). wo er die Arbeit in der Advokatur wieder Der Frankfurter Kreis führte einen neuen, äu- aufnahm (vgl. van der Zande 1986, 16; Kraus ßerst kritischen Ton in die Frankfurter gelehr- 2007, 101). In diese Zeit fallen die ersten lite- ten Anzeigen ein, der S.s Individualitäts- und rarischen Texte S.s sowie diesbezügliche Kor- Freiheitsanspruch entsprach: „Die Bewer- respondenzen mit Dichtern wie Nicolai (1733– tungsmaßstäbe und ästhetischen Kategorien 1811), Ramler (1725–1798), Gleim (1719–1803) zentrierten sich bei den Autoren um die Be- und Johann Benjamin Michaelis (1746–1772) griffe des Genies und des Gefühls, hier do- (vgl. van der Zande 1986, 16). 1771 veröffent- kumentiert sich schon die Unantastbarkeit lichte S. seinen Katechismus der Sittenlehre der Individualität“ (Luserke 2010, 175). 1773 für das Landvolk, der großes Interesse hervor- trat S. in die Dienste des Markgrafen Karl rief, jedoch Ärgernis bei der kirchlichen und Friedrich von Baden (1728–1811) und war ab weltlichen Obrigkeit erregte, da er diesen die 1774 als Oberamtsverweser der Markgraf- Fähigkeit absprach, ihre Untertanen gemäß schaft Hochberg in Emmendingen tätig, was seinem Ideal des ‚natürlichen‘ Menschen für einen Bürgerlichen „faktisch die Gleich- zu erziehen und zu leiten (vgl. ebd., 18). S., stellung mit einem adligen Landvogt“ (Lu- „einer der juristisch und politisch kenntnis- serke 1992, 28) bedeutete. Nach Emmendingen reichsten Männer der deutschen Spätauf- begleitete S. seine Frau Cornelia (1750–1777),

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Goethes Schwester, die S. am 1. 11. 1773 gehei- politischen Reformvorhaben konnte er nur ratet hatte. In der Emmendinger Zeit entstand bedingt durchsetzen, zudem geriet er immer ein Großteil der wenigen literarischen Arbei- wieder in Konflikt mit der Zentralregierung ten S.s, so etwa der Prinz Tandi an den Ver- in Karlsruhe sowie mit der Geistlichkeit (vgl. fasser des neuen Menoza (1775), eine empfind- van der Zande 1986, 15 u. 21; Kraus 2007, 102). same Antwort auf den SuD-Menoza (1774) von Trotzdem blieb die Markgrafschaft bis 1787 Lenz (vgl. Luserke 1992, 29), sowie der Anti- sein Wohnsitz. S. starb am 17. 10. 1799 in sei- Pope (1776). Darüber hinaus war S. als versier- ner Heimatstadt Frankfurt a.M., wo er zuletzt ter Übersetzer vor allem von griechischer und als Syndikus tätig war. Sein Leben und sein englischer Literatur tätig. Zudem initiierte er literarisches Schaffen waren bestimmt von eine Ringkorrespondenz zur „Pflege geistig der Frage nach dem menschlichen Glück, der anregender Beziehungen“ (Maisak 1992, 11), ‚Glückseligkeit‘ (vgl. Masaik 1992, 11). die dem Freundschaftskult des SuD huldigte. Er führte einen regen Briefwechsel u. a. mit Werke Merck, Lenz, Klinger, Maler Müller und Kauf- Schlosser, Johann Georg: Hero und Leander. Aus mann (vgl. ebd.), auch stand S. in engem Aus- dem Griechischen. Frankfurt a.M. 1771. – Katechis- tausch mit den Schweizer Vertretern des SuD mus der Sittenlehre für das Landvolk. Frankfurt a.M. wie Lavater und Sarasin (1742–1802), Letzte- 1771. – Prinz Tandi an den Verfasser des neuen Me- noza. Leipzig 1775. Nachdruck: Prinz Tandi an den rer besuchte ihn mehrfach mit seiner Frau Verfasser des neuen Menoza. Mit einem Nachwort in Emmendingen (vgl. ebd.). Im Gegenzug hg. v. Matthias Luserke. Heidelberg 1993. – Kate- gehörte S. zu den regelmäßigen Gästen der chismus der christlichen Religion für das Landvolk, Jahresversammlungen der Helvetischen Ge- als zweyter Theil des Katechismus der Sittenlehre sellschaft in Schinznach (vgl. van der Zande für das Landvolk. Leipzig 1776. – Vorschlag und Versuch einer Verbesserung des deutschen bürger- 1986, 25). Lenz suchte nach seinem Weggang lichen Rechts ohne Abschaffung des römischen Ge- aus Weimar 1776 Zuflucht bei S. und sollte setzbuchs. Leipzig 1777. Neudruck: Glashütten i.Ts. dort zwei weitere Male in für ihn psychisch 1973. – Das Nußbraune Mädchen, nebst dem Engli- schweren Zeiten verweilen (vgl. Maisak 1992, schen Original. Nach Chaucer (1778). Basel 1783. – Das 12 f.). Goethe besuchte seine Schwester auf verödete Dorf. Aus dem Englischen des Goldschmiths dem Weg seiner ersten Schweizer Reise im 1778 (Basel 1780). – Über die Seelen-Wanderung. Erstes Gespräch. Basel 1781. – Longin. Vom Erhabe- Mai/Juni 1775, hier sah er sie zum letzten Mal nen, mit Anmerkungen und einem Anhang. An Herrn (vgl. ebd., 7). Cornelia, seit ihrer Ankunft in Hofrath Pfeffel und Herrn Hofrath Leerse in Colmar. Emmendingen kränklich und melancholisch 1781. – Kleine Schriften. 6 Bde. Basel u. a. 1780–1794. (vgl. Jung 1890, 545; Beutler 1980, 100; Ma- Reprint: New York 1972. saik 1992, 6), starb am 8. 6. 1777 nach der Ge- burt der zweiten Tochter im Wochenbett. Bei Forschung Goethes erneutem Besuch im Oktober 1779 Beutler, Ernst: Johann Georg Schlosser, in: Essays um war S. bereits mit Johanna Fahlmer (1743– Goethe. Hg. v. Ernst Beutler. 7., vermehrte Aufl. Zürich 1821) verheiratet, die Hochzeit fand am 24. 9. u. a. 1980, 99–108. Goedeke 4.1, 513. 1778 statt, aus dieser Ehe gingen ein Sohn Jung, Rudolf: Schlosser, Johann Georg, in: ADB 31 und eine Tochter hervor. S. selbst war in Em- (1890), 544–547. mendingen ebenfalls nicht glücklich, seine Killy 10, 293–294. sozialen, wirtschaftlichen und verwaltungs- Kosch 15, 213–214.

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Kraus, Hans-Christof: Schlosser, Johann Georg, in: Brief an S.s Vater. Ohne Examen bekommt S. NDB 23 (2007), 101–102. kein Pfarramt, wohl aber 1763 eine Stelle als Luserke, Matthias: Nachwort, in: Johann Georg Knabenschulmeister und Musikdirektor in der Schlosser: Prinz Tandi an den Verfasser des neuen etwa 1.500 Einwohner zählenden Gemeinde Menoza. Mit einem Nachwort hg. v. Matthias Luserke. Heidelberg 1993, 27–32. Geislingen auf der Schwäbischen Alb. S. ist zu Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – dieser Zeit 24 und wird für sechs Jahre in die- Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. sem Amt bleiben, das ihm als Sklavendienst Stuttgart 2010. erscheint, ihm aber andererseits erlaubt, um Maisak, Petra: „Sein Haus, ein Sammelplatz für die Hand von Helena Bühler (1744–1819), der Deutschland’s Edle“. Johann Georg Schlosser, Goe- Tochter eines Geislinger Finanzbeamten, an- thes Schwester Cornelia und ihre Freunde in Emmen- dingen. Marbach 1992. zuhalten. Sie heiraten 1764 und bekommen Riedel, Manfred: Aristoteles-Tradition am Ausgang zwei Kinder, Ludwig und Julie. S. leidet unter des 18. Jahrhunderts. Zur ersten deutschen Überset- der Kulturlosigkeit des abgelegenen Ört- zung der Politik durch Johann Georg Schlosser, in: chens, unter fehlenden Gesprächspartnern Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Hg. v. Histo- und seinen lernunwilligen, wilden Schülern. rischen Seminar der Universität Hamburg. Göttingen Um sie zu motivieren, entwirft er komische, 1963, 278–315. Zande, Johan van der: Bürger und Beamter: Johann subversive Schuldiktate – etwa 100 sind über- Georg Schlosser. 1739–1799. Stuttgart 1986. liefert –, mit denen er seine Zöglinge zu selb- ständigem kritischen Denken erziehen will. Désirée Müller Seine zwei frühesten Gedichtsammlungen werden in der Geislinger Zeit gedruckt: 1766 die Zaubereien, eine Sammlung klassisch in- spirierter Gedichte, und im nächsten Jahr die Schubart, Christian Friedrich Todesgesänge, eine Zusammenstellung von Daniel Gebrauchslyrik, Gebeten und Kirchenliedern. * 24. 3. 1739 Obersontheim, † 10. 10. 1791 Durch Vermittlung des befreundeten Stuttgart Schriftstellers Balthasar Haug (1731–1792) wird S. 1769 als Musikdirektor und Organist Der Dichter, Journalist, Musiker und Volks- nach Ludwigsburg berufen, zu dieser Zeit lehrer Schubart wird 1739 in Obersontheim Residenzstadt des despotischen und ver- geboren, sein Vater ist Pfarrvikar in der frän- schwenderischen Herzogs Karl Eugen (1728– kischen Ortschaft. 1740, im Jahr nach S.s 1793). Das opulente Hofleben, die herzogli- Geburt, zieht die Familie in die schwäbische che Prachtentfaltung und die genusssüchtige Reichsstadt Aalen, wo der Vater eine Stelle als Atmosphäre der württembergischen Resi- Stadtpfarrer bekommen hat. Christian Fried- denz beeindrucken den Dichter, der in den rich Daniel besucht Schulen in Nördlingen Ludwigsburger Jahren das Leben eines Hof- und Nürnberg; er ist vielfältig begabt und be- mannes führt und sich mit Verve in die Ver- schäftigt sich früh mit Musik und Dichtung. gnügungen wirft – ein starker Kontrast zur Ein Theologiestudium in Erlangen bricht er Dorfschullehrerexistenz auf der Alb. Karl ab, weil ihn „Ausschweifungen“ (Schubart Eugen liebt die Musik und fördert in seiner 1839. Bd. 1, 112) mehr interessieren als die Vor- Residenz eine hochkarätige Musikkultur. In lesungen, so der Universitätsrektor in einem Ludwigsburg brilliert S. als virtuoser Orgel-

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und Cembalospieler; er erteilt den höfischen Heinrich Stage (1728–1796) im März 1774 das Damen Musikunterricht und leitet gleichzei- erste Heft der Deutschen Chronik (1774–1777) tig auch die städtische Kirchenmusik, sonn- veröffentlicht. Weil darin die englische Pres- tags spielt er in der Stadtkirche die Orgel. In sefreiheit gelobt wird, verbietet der Augsbur- dieser Zeit entwirft er seine erst 1806 posthum ger Rat weitere Ausgaben und die Zeitschrift von seinem Sohn veröffentlichte musiktheo- erscheint fortan in Ulm. Eine Zeitlang lebt retische Abhandlung Ideen zu einer Ästhetik und arbeitet S. – als Musiker, Deklamator der Tonkunst. S.s originärer Entwurf einer Mu- und Lehrer – weiter in Augsburg, doch als er sikästhetik ordnet den Tonarten und Tönen öffentlich die Jesuiten kritisiert, weist man Stimmungen zu und stellt dabei – in Oppo- ihn aus. Zusammen mit seiner Familie zieht sition zu bürgerlichen Gefühlszwängen – die er nach Ulm. Dort produziert er bis zu seiner Leidenschaften ins Zentrum. Damit spricht Verhaftung im Jahr 1777 zweimal wöchentlich S. auch von sich selbst, seinem enthusiasti- die Deutsche Chronik auf acht Oktavseiten, ein schen Wesen, seinem impulsiven geniehaften Mittelding zwischen Zeitung und moralischer Künstlertum. In Ludwigsburg macht er erst- Wochenschrift mit Nachrichten aus Politik, mals als Deklamator und Rezitator von sich Wirtschaft und Kultur, mit belehrenden und reden. Er trägt in unnachahmlich lebendiger literarischen Texten der unterschiedlichsten Weise die Epen von Milton (1608–1674), Dante Gattungen: Gedicht, Epigramm, Fabel, Anek- (1265–1321) und Klopstock vor, singt dazu und dote, Rezension. Viele seiner Gedichte publi- begleitet sich stellenweise auf dem Klavier. ziert S. zuerst in der Deutschen Chronik. Sie Seine Zuhörer sind begeistert und ergriffen. zählt zu den meistgelesenen deutschen Jour- Er glänzt als Stegreifdichter und -komponist, nalen der Zeit, hat eine breite, auch unterbür- weshalb ein Teil seiner poetischen und mu- gerliche Kreise einschließende Leserschaft sikalischen Werke nicht überliefert ist. Das und eine durchschnittliche Auflage von exzessive Residenzleben hat ein Ende, als 1.000 Exemplaren. In seinem Blatt engagiert der Ludwigsburger Superintendent Zilling S.s sich S. als politisch denkender Aufklärer: Er Exkommunikation betreibt und der Herzog setzt sich für die Rebellen im Amerikanischen ihn aus dem Hofdienst entlässt. Die Gründe Unabhängigkeitskrieg ein, prangert den Sol- sind für beide Herren dieselben: S.s Aufleh- datenhandel an, die Tyrannei und die fehlen- nung gegen seinen Vorgesetzten Zilling, sein den Bürgerrechte. Er fordert Respekt für die öffentlicher Spott über den Geistlichen und Unterschichten, aber nicht die Aufhebung der auch die erotischen Eskapaden des Eheman- Ständeordnung. S.s Aussagen zur Politik sind nes S., dessen Frau und Familie in Geislingen nicht ohne Widersprüche, seine Meldungen geblieben sind. und Artikel zur Religion dagegen – wenn er S. verlässt die Stadt ohne Aussicht auf Jesuiten, Exorzisten und Wunderheiler gei- eine neue Anstellung und auf Einkommen. ßelt – unzweideutig und entschieden. Die nun folgende Vagantenzeit, in der er Am 23. 1. 1777 lockt man S. auf Befehl eineinhalb Jahre lang in verschiedenen Karl Eugens aus der Reichsstadt Ulm ins Städten – Heilbronn, Heidelberg, Mannheim, württembergische Blaubeuren; dort wird er München – Arbeit oder Mäzenatentum sucht, gefangen genommen und ins Gefängnis auf führt ihn schließlich nach Augsburg, wo er den Hohenasperg gebracht. Zehn Jahre bleibt zusammen mit dem Buchhändler Konrad der Dichter in Haft – für die zeitgenössischen

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Verhältnisse eine lange Strafzeit –, vier Jahre herstellen lässt. Die Autobiographie Leben nach seiner Freilassung stirbt er. Seine Gefan- und Gesinnungen trägt deutliche Spuren des genschaft wurde vom Herzog nie begründet pietistischen Erziehungsprogramms, das Karl und es kam auch nie zu einer Anklage; daher Eugen seinem Häftling angedeihen lässt; die diskutiert die Forschung bis heute über die Erzählung von S.s Leben ist geprägt von Sün- Ursachen für seine Inhaftierung. Unbestrit- denbewusstsein, Todessehnsucht und der ten ist aber, dass S.s in der Chronik formu- Zerrissenheit zwischen Frömmigkeit und lierte politische Kritik, insbesondere am Sol- Glaubenszweifeln. Seine Haft erscheint ihm datenhandel, und seine Auslassungen über zunehmend als Gottes Strafe für seine sün- die Geistlichkeit eine zentrale Rolle gespielt dige Lebensführung. haben. Zunächst untersteht er einem strikten Zu Beginn der 1780er Jahre mehren sich Schreibverbot; nach einem Jahr darf er sein die Eingaben zur Begnadigung von Deutsch- feuchtes Verlies verlassen und bekommt ein lands berühmtestem Häftling. Unter den Pe- besseres, helleres Zimmer, in dem er dem Zel- tenten sind Fürsten und Persönlichkeiten von lennachbarn seine Lebensgeschichte diktiert, Einfluss, einige von ihnen besuchen S. sogar die 1791 und 1793 in zwei Teilen von seinem auf dem Hohenasperg. In Preußen entsteht Sohn unter dem Titel Schubart’s Leben und eine Art Amnestiebewegung zugunsten des Gesinnungen veröffentlicht wird. Dichters, denn sein Hymnus Friedrich der Nach über zwei Jahren gestattet man Große (1786) erscheint zufällig zeitgleich mit dem Häftling zum ersten Mal, aus seiner Zelle dem Tod des Königs und findet als lyrischer ins Freie zu gehen. Er erhält die Aufgabe, Nachruf großen Anklang. Friedrich Wilhelm mit einigen Festungssoldaten zur Unterhal- II. (1744–1797), der Nachfolger des Verstor- tung der Garnison Theaterstücke aufzufüh- benen, engagiert sich für S. und übt Druck ren – auch Karl Eugen und seine Mätresse auf den württembergischen Herzog aus. Dies Franziska von Hohenheim (1748–1811) sind trägt maßgeblich dazu bei, dass S. am 11. 5. gelegentlich unter den Zuschauern. Nach 1787 freikommt; er ist zu diesem Zeitpunkt ein einer Erleichterung der Haftbedingungen ist müder und gebrochener Mann. Karl Eugen S. in der Lage, intensiv zu komponieren und bietet ihm die Direktion des Stuttgarter Hof- zu schreiben; 221 Texte entstehen in dieser theaters an, S. willigt ein, erarbeitet ein po- Zeit, viele davon Gedichte, darunter auch Die puläres Theaterprogramm, modernisiert und Fürstengruft (1780). S. diktiert sie Ende 1779, professionalisiert den Theaterbetrieb. In sei- Anfang 1780 einem Fourier, als sich die er- nen letzten Lebensjahren schreibt er noch hoffte Begnadigung durch Karl Eugen wieder über 200 Gedichte, darunter auch etliche Hul- einmal zerschlagen hat. Auch das berühmte digungsgedichte auf Karl Eugen. S. demonst- Kaplied schreibt S. auf dem Hohenasperg, es riert nun Loyalität gegenüber seinem Herzog, soll die 1787 von Karl Eugen an die Ostindi- die scharfe Fürstenkritik der frühen Jahre sche Kompanie verkauften Söldnertruppen unterbleibt. Auch in der Vaterländischen begleiten. Zu den zeittypischen Widersprü- Chronik (1787; von 1788–1789 Vaterlands - chen im Verhältnis zwischen dem Souverän chronik, danach schlicht Chronik), mit der er und seinem Gefangenen gehört es, dass Karl nach der Gefängniszeit die Deutsche Chronik Eugen 1785/1786 eine zweibändige Gedicht- fortsetzt, fehlen die radikalen Positionen. Das ausgabe S.s in seiner herzoglichen Druckerei Blatt tritt für Reformen ein, auch für die Redu-

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zierung fürstlicher Rechte und Privilegien. Im Künstlern und Klerikern gleichermaßen ver- Revolutionsjahr ist die Berichterstattung der bunden; als Revolutionär hat er sich nie ver- Vaterländischen Chronik dabei schwankend: standen. Obwohl er die Französische Revo- S. warnt vor Anarchie und Gewalt – auch in lution begrüßte, wollte er für Deutschland Deutschland –, bringt aber gleichzeitig seine keinen politischen Umsturz. Er dachte – wie Zustimmung zum politischen Aufbruch in die meisten deutschen Intellektuellen der Frankreich zum Ausdruck. Er stirbt zwei Jahre Zeit – nicht an eine radikale Entmachtung nach Ausbruch der Revolution mit 52 Jahren der regierenden Fürsten, sondern an eine am 10. 10. 1791. Beschränkung ihrer Rechte, an die politische Es ist ein Topos der Aufklärungsfor- Stärkung des dritten Standes und die Verbes- schung, dass der Zugang zu S.s Werk durch serung der sozialen Lage des Volkes. S.s Aus- seine Biographie verstellt ist. Die wissen- sagen zu Deutschland sind Ausdruck einer schaftliche Auseinandersetzung mit S. steht Emphase, in der sich religiöse Hoffnungen bis heute unter dem Eindruck des Lebens- mit taktischen Bestrebungen, Aufklärungs- geschichtlichen; nach wie vor überwiegen optimismus und politischer Verzweiflung die biographischen Forschungen die Ana- verbinden. Am 7. 9. 1790 notiert er in der Va- lysen seiner Schriften und Zeugnisse. Eine terländischen Chronik: „Kein Land in der Welt Gesamtausgabe von S.s Werken existiert bis hat bessere Fürsten, mildere Obrigkeiten, dato nicht. Hinzu kommt, dass das Skanda- (ich sagʼ es mit Ueberzeugung, und nicht als lon von S.s zehnjähriger Inhaftierung die kriechender Schmeichler) als Deutschland. Wahrnehmung seiner vielfältigen Arbeiten Sie werden also eure Klagen hören, wenn sie auf deren politische Aspekte verengt. Dass gerecht sind.“ (Schubart 1790. Bd. 4, 613) Das S. nicht nur Lyriker und Journalist, sondern Huldigungsgedicht auf Friedrich II., das ent- auch Komponist und Musiktheoretiker, Päd- scheidend zu seiner Haftentlassung beitragen agoge, Theaterintendant, Ästhetiker und His- sollte, schrieb S. im selben Jahr wie Die Fürs- toriker war, geriet bisher kaum in den Blick. tengruft, die selbst schon durch die Ambiva- Erst in den letzten Jahren ist ein wachsendes lenz von Lobeshymne und Strafgericht, von Interesse auch an diesen Teilen seines Wer- frommer Demut und kämpferischem Zorn kes zu erkennen. Zugleich wird deutlich, dass bestimmt ist. die Vorstellung vom rebellischen Dichter und S.s Werke wollen weniger polarisieren, umstürzlerischen Intellektuellen, welche die denn vermitteln – zwischen Weltlichkeit und Forschung nach 1968 bis weit in die 1980er Religiosität, zwischen Intellektuellen und Jahre bestimmt hatte, den historischen Rea- Ungebildeten, zwischen den verschiedenen litäten kaum gerecht wird. Charakteristisch Kunst- und Wissensformen. In seinen Vorle- für S.s Haltung ist vielmehr eine Unsicherheit sungen über die schöne Wissenschaften für über die politische Praxis, fluktuierend zwi- Unstudierte (1777) schreibt er: „Man ist heu- schen Republikanertum und konstitutionel- tiges Tags von dem Vorurtheile zurück ge- lem Monarchismus, ein im SuD verbreitetes kommen, als wenn die Wissenschaften blos Schwanken zwischen resignativer Anpas- für eigene Gelehrte und nicht auch für andere sung, Unterwerfung und Aufbegehren. Bürger des Staats wären. Daher ließ man alle S., der bei Hofe wie auch mit dem Volk Wissenschaften im Schnürleibe des Systems lebte und arbeitete, fühlte sich Bürgern, auftreten, und die Musen sprachen im steifs-

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ten Cathedertone.“ (Schubart 1777, [Bl. 1]) Ansätzen einer Notenschrift für das gespro- Dabei geht es ihm nicht nur – im Sinne einer chene Wort. Zentral für den Effekt seiner Re- pragmatischen Aufklärung – um die Teilhabe zitationen ist der Wechsel der Stimmungen; des ungebildeten Volkes an Geist und Kultur „Thränen, Schauer, Staunen, Entzückungen, und um dessen Erziehung zu Kritik und poli- feurige Entschlüsse, Bewunderung, Ehr- tischem Selbstbewusstsein, sondern auch um furcht, Andacht, Liebe wechselten mit ein- die Bindung der Gebildeten an die Formen ander in den Herzen der Zuhörer, flammten einer ‚volkshaften‘ Kultur, von der man sich im Auge“ (Schubart 1975. Bd. 3, 664), notierte im 18. Jh. zunehmend entfernt hat. Es ist S.s er am 17. 10. 1776 in der Deutschen Chronik. immer wieder als unverwechselbar bezeich- Die Emotionen und Stimmungen ergriffen neter Ton, der – volkstümlich, phantasievoll, das Publikum und führten es an die Texte leidenschaftlich-atemlos – alle seine Arbei- heran: Aus den Zuhörern wurden Leser. Das ten bestimmt und das Grundelement seiner größte Hindernis der Aufklärung, die geringe vermittelnden Ästhetik und Redehaltung ist. Lesefähigkeit und Lesebereitschaft im Volk: Für S.s journalistisches Werk ist dieser Ton S. überwand es durch seine Deklamationen, ebenso bestimmend wie für seine Arbeit als die bewiesen, dass die Wirkung literarischer Lehrer, Dichter, Rezitator, Prediger und Theo- Werke nicht von Bildung oder Intellektualität loge. abhing, ja nicht einmal von Lesekompetenz. Dass für S.s vermittelnde Denk- und Kunstformen das Performative elementar Werke ist, wurde bisher kaum beachtet. Er war ein Schubart, Christian Friedrich Daniel: Zaubereien. Meister der Improvisation und des Stegreifs Ulm 1766. – Todesgesänge. Ulm 1767. – Teutsche als Poet und Komponist, aber auch als The- Chronik. Ulm 1776 u. 1777. – Vorlesungen über die atermacher auf dem Hohenasperg und am schöne Wissenschaften für Unstudierte von Herrn Stuttgarter Hoftheater, als Lehrer und als Professor Schubart. Augsburg 1777. [Bl. 1]. – Vorle- Dozent der Geschichte, Musik und Literatur. sungen über Mahlerey, Kupferstecherkunst, Bild- hauerkunst, Steinschneidekunst und Tanzkunst. Einen „Sklave[n] des Augenblicks“ (Schubart Augsburg 1777. – Sämtliche Gedichte. 2 Bde. Stuttgart 1839. Bd. 1, 294) hat er sich selbst genannt. 1785/1786. – Friedrich der Einzige. Ein Obelisk. Stutt- Ein wesentlicher Teil seines Werkes ist ent- gart 1786. – Schubarts Vaterländische Chronik. Stutt- sprechend nur unzureichend dokumentiert – gart 1787 [52 St. ab Juli]. – Vaterlandschronik. Stutt- wie etwa die Vorlesungen über die schöne gart 1788–1789. – Chronik. Ebd. 1790–1791. – Ideen zu Wissenschaften für Unstudierte. Herausgege- einer Ästhetik der Tonkunst. Hg. v. Ludwig Schubart. Wien 1806. – Schubart’s Leben und Gesinnungen. ben von einem seiner ehmaligen Zuhörer. Bei Von ihm selbst im Kerker aufgesetzt. Erster Theil seinen ‚Lesekonzerten‘ vor einem Publikum, 1791, in: C.F.D. Schubartʼs, des Patrioten, gesammelte in dem sich das Spektrum der zeitgenössi- Schriften und Schicksale. Bd. 1. Stuttgart 1839, 112, schen Gesellschaft spiegelte, sang S. auch 294. – Deutsche Chronik. Jahrgang 1774 – Jahrgang und begleitete seine Deklamationen am Kla- 1777. 4 Bde. Hg. v. C.F.D. Schubart. Heidelberg 1975. vier. Diese Kunstform aus Text, Stimme, Ge- Bd. 3: Deutsche Chronik auf das Jahr 1776, 664. – Geis- linger Schuldiktate. Hg. v. Günther Currle. Geislingen bärde und musikalischem Klang reflektierte [ca. 1991]. – Sämtliche Lieder. Hg. v. Hartmut Schick. er, Kenner der klassischen Rhetorik und pro- München u. a. 2000. – Briefwechsel. Kommentierte testantischen Homiletik, in verschiedenen Gesamtausgabe in drei Bänden. Hg. v. Bernd Breiten- seiner ästhetischen Schriften – bis hin zu bruch. Konstanz 2006.

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Forschung Sprickmann, Anton Mathias Bausinger, Hermann: Tanzende Donnerworte. Zur (auch: Matthias) Sprache Christian Friedrich Daniel Schubarts, in: ders.: Ein bisschen unsterblich. Schwäbische Profile. * 7. 9. 1749 Münster, † 22. 11. 1833 Münster Gerlingen 1999, 13–22. Cledière, Jean: C.F.D. Schubart et la Révolution Fran- Anton Mathias Sprickmann, Sohn eines Arz- çaise, in: Revolution und Gegenrevolution 1789–1830. tes, studierte zwischen 1766 und 1768 Rechts- Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland. Hg. v. Roger Dufraisse unter Mitarbeit v. wissenschaft in Göttingen. 1769 erfolgte die Elisabeth Müller-Luckner. München 1991, 11–31. Promotion in den Niederlanden, ein Jahr Goedeke 4.1, 849–878. später die Niederlassung als Jurist in seiner Honolka, Kurt: Schubart. Dichter und Musiker, Jour- Geburtsstadt. Durch den fürstbischöflichen nalist und Rebell. Sein Leben, sein Werk. Stuttgart Minister Franz von Fürstenberg (1729–1810) 1985. erhielt S. einen Posten in der reformierten Ver- Killy 10, 408–410. Kosch 16, 401–406. waltung. Die Beförderung zum Regierungsrat Krauß, Rudolf: Schubart als Stuttgarter Theaterdirek- erfolgte 1774. Der SuD übte großen Einfluss auf tor, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Lan- S.s Werk aus, das hauptsächlich in nur einem desgeschichte Neue Folge 10 (1901), 252–279. Jahrzehnt entstand: Als 20-Jähriger verfasste Müller, Hartmut: Postgaul und Flügelroß. Der Journa- er Bühnenstücke, die im Fürstenberg’schen list Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791). ‚Comödienhaus‘ aufgeführt wurden; zehn Frankfurt a.M. u. a. 1985. Myers, Michael: Für den Bürger. The Role of Christian Jahre später beendete er sein literarisches Schubart’s Deutsche Chronik in the Development of a Schaffen schlagartig. In diesen Zeitraum fällt Political Public Sphere. Frankfurt a.M. u. a. 1990. seine Gründung der ersten Vereinigung von Schneider, Johann Nikolaus: Zwischen Lyra und Let- Dichtern im Raum Westfalen (Literarische tern. Schubarts Lieder in einer Grenzsituation der Ly- Gesellschaft, 1773). Aus der 1771 mit Mari- rikgeschichte, in: Christian Friedrich Daniel Schubart anne Kerckerinck (1743–1791) geschlossenen (1739–1791). Sämtliche Lieder. Hg. v. Hartmut Schick. München u. a. 2000. XXXIII–XLIV. Ehe ging fünf Jahre später ein Sohn hervor. Im Schoeller, Wilfried F.: Schubart. Leben und Meinun- selben Jahr hielt sich S. erneut in seinem Stu- gen eines schwäbischen Rebellen, den die Rache sei- dienort Göttingen auf. Der Aufenthalt diente nes Fürsten auf den Asperg brachte. Berlin 1979. zur Vorbereitung auf die von Fürstenberg für Schwarzbauer, Franz: Schubart und die Deutsche ihn vorgesehene Tätigkeit als Universitäts- Chronik. Der Versuch, eine Legende zu revidieren, dozent. Zu dieser Zeit entstand u. a. durch in: Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1000–1800. Hg. v. Ulrich Gaier, Monika die Freundschaft mit Bürger und Klopstock Küble u. Wolfgang Schürle. Bd. 2: Aufsätze. Ulm 2003, die Verbindung zum Göttinger Hain, die als 577–587. ausschlaggebend für S.s ehrgeizigeres Verfol- Warneken, Bernd Jürgen: Schubart. Der unbürgerli- gen seiner Tätigkeit als Schriftsteller betrach- che Bürger. Frankfurt a.M. 2009. tet werden kann. Mit der Publikation seiner Wertheim, Ursula u. Hans Böhm: Einleitung, in: Schu- Werke in bedeutenden Musenalmanachen barts Werke in einem Band. Ausgewählt und eingelei- tet v. Ursula Wertheim u. Hans Böhm. Weimar 1959, und dem von Heinrich Christian Boie (1744– 5–41. 1806) herausgegebenen Deutschen Museum erhöhte sich sein Bekanntheitsgrad. Das Barbara Potthast Drama Eulalia (1777) wurde im Erscheinungs- jahr als eines der besten Stücke betrachtet.

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Im selben Jahr erschien die das Thema des Im späteren Leben hatte S. erneut Berüh- Kindsmordes aufgreifende Ballade Ida (1777) rung mit der Literatur, indem er junge talen- (vgl. dazu Luserke 2010, 226 ff.). Die Gunst tierte (überwiegend westfälische) Schriftstel- Fürstenbergs war S. auch durch seine 1777 in ler förderte (darunter Franz von Sonnenberg Wetzlar ausgeübte juristische Tätigkeit in der [1779–1805] und Annette von Droste-Hülshoff Regierung und der Funktion des Sekretärs [1797–1848]). Von S. stammt eines der wohl am Reichskammergericht sicher. Er war in originellsten Selbstzeugnisse des SuD: seine den beiden darauffolgenden Jahren Professor Autobiographie Meine Geschichte. für deutsche Reichsgeschichte und deutsches Staats- und Lehnsrecht an der Universität Werke Münster. 1778 erfolgte mit der Erzählung Ma- Sprickmann, Anton Mathias (auch: Matthias): Ode riens Rede bei ihrer Trauung eine erneute The- an den Kurfürsten bei seiner Zurückkunft 1774. – Die matisierung des Kindsmordes (vgl. ebd.). In Wilddiebe. Operette in einem Aufzug (gemeinschaft- Wien wurde sein Lustspiel Der Schmuck (1779) lich mit dem Advokaten Stühle in Osnabrück, später noch im Erscheinungsjahr preisgekrönt; 1800 Richter in Melle). Münster i. Westphalen 1774. – Die natürliche Tochter. Ein rührendes Lustspiel in fünf folgte eine Inszenierung Goethes in Weimar. Aufzügen. Münster i. Westphalen 1774. – Der Geburts- Nach dem strikten Rückzug aus seinem lite- tag. Den Haag 1775. – Der Tempel der Dankbarkeit; ein rarischen Umfeld schloss sich S. 1780 dem Vorspiel mit Arie bey Eröffnung der Münsterischen religiös geprägten Kreis um Fürstin Amalie Bühne. Münster 1775. – Eulalia. Trauerspiel in 5 Auf- von Gallitzin (1748–1806) an und widmete zügen. Leipzig 1777 (Neudruck Hildburghausen u. a. sich fortan ausschließlich seinen beruflichen 1854); s. DLD 32 (Jul. v. Tarent), s. III. – Der Schmuck. Lustspiel in 5 Aufzügen. Wien 1779 [recte: 1780]. – Ge- Pflichten. Zuvor erlitt S. mehrere Krisen, da dichte im Almanach der deutschen Musen 1775 und sein Familien- und Berufsleben sowie seine 1776. – Gedichte im Göttinger Musenalmanach 1775; literarischen Ambitionen schwer miteinander in Vossens Musenalmanach 1776/1778. – Im Deut- vereinbar waren. Im Jahr 1791 wurde S. Hof- schen Museum 1776/1778 a: Das Neujahrsgeschenk. rat. Der Witwer heiratete zwei Jahre nach dem Eine Klosteranekdote. b: Nachrichten aus Amerika. Tod seiner ersten Ehefrau 1793 erneut. Maria c: Etwas über das Nachahmen allgemein und über das Goethisieren insbesondere. d: Das Strumpfband. Antoinetta Oistendorf (1756–1829) brachte Eine Klosterscene. e: Die Untreue aus Zärtlichkeit. 1795 den gemeinsamen Sohn Hermann zur Eine Konversation und ein Brief. f: Ida. g: Das Intel- Welt. S.s juristische Laufbahn fand ihren ligenzblatt. Eine Erzählung. h. Lina. i: Das Wort zur Höhepunkt in dem Posten des preußischen rechten Zeit. Eine Erzählung. k: Liebe. l: Das Miss- Regierungsrates (1803) und des Tribunalrich- verständnis (Dramatisches Spiel in einem Aufzug). – Aufgeführt im k.k. Nationaltheater. Wien 1778. m: ters (1811) in Münster. Ab 1814 konzentrierte Mariens Rede bei ihrer Trauung. Ein Fragment. n: er sich aus Gründen der finanziellen Absi- Auszug eines Briefes an den Herausgeber. – Über die cherung auf seine akademische Karriere: Er deutsche Geschichte und ihre Behandlung in öffent- erhielt einen Ruf an die Universität Breslau lichen Vorlesungen. 1785. Beiträge im Westfäl. Anzei- auf den Lehrstuhl für Jurisprudenz und wech- ger 1811, Nr. 45: im Westf. Archiv 1812. – Über die geis- selte von dort 1817 an die Universität Berlin. tige Wiedergeburt. Münster 1835. – Ich, wie ich bin, und wie ich war: meine Geschichte und mein Charak- S. kehrte 1829 schwer erkrankt abermals in ter (= Meine Geschichte). Teildruck in: Empfindsam- seine Geburtsstadt zurück, wo er vier Jahre keit, Sturm und Drang. Hg. v. Marianne Beyer. Darm- später kurz nach seinem 84. Geburtstag ver- stadt 1970. Unveränderter reprografischer Nachdruck starb. der Ausgabe Leipzig 1936, 254–284; vollst. Druck in:

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Anton Matthias Sprickmann: Erzählungen und auto- Wagner, Heinrich Leopold biographische Prosa. Hg. u. kommentiert v. Jörg Löff- * 19. 2. 1747 Straßburg, † 4. 3. 1779 Frankfurt ler. Bielefeld 2005, 60–120. a.M.

Forschung Lange Zeit gehörte Heinrich Leopold Wag- Bell, Erpho (Hg.): Anton Matthias Sprickmann (1749– ner erst zu den Vergessenen der Literaturge- 1833). „Dank Gott und Fürstenberg, daß sie mich auf den Weg brachten“ – Ausstellung zum 250. Geburts- schichte, dann zu den Geschmähten. Mitt- tag in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster lerweile zählt sein Bürgerliches Trauerspiel vom 5. 11. bis zum 23. 12. 1999. Münster 1999. Die Kindermörderin (1776) neben Goethes Götz Domke, Britta: Anton Mathias Sprickmann als Dra- von Berlichingen (1773) und Lenzens Der Hof- matiker. Studien zur Interpretation seiner Werke und meister (1774) sowie Die Soldaten (1776) zu zum literarhistorischen Kontext. Bielefeld 1999. den wichtigsten Dramen des SuD (vgl. Lu- Goedeke 4.1, 663. Goedeke 7.2, 315. serke 2010, 230) und W. unstrittig zu dessen Gödden, Walter: Der Schwärmer. Die verschollene Le- Vertretern. bensgeschichte des westfälischen Sturm-und-Drang- Am 19. 2. 1747 wird W. als erstes von sie- Dichters Anton Mathias Sprickmann. Paderborn u. a. ben Kindern des unter prekären Verhältnis- 1994. sen lebenden Kaufmanns Heinrich Leopold Gödden, Walter: Sprickmann, Anton Mathias, in: NDB Wagner und seiner Frau Catherine Salomé, 24 (2010), 754–755. Gödden, Walter: „Poetische Wuth“, „rasende Poeten“ geb. Steinbach, im elsässischen Straßburg und das „Gegengift“ der Aufklärung. Johann Moritz geboren. Mit vier Schwestern (die fünfte Schwager und Anton Mathias Sprickmann, in: „Er war Schwester stirbt gleich nach der Geburt) und ein Licht in Westphalen“: Johann Moritz Schwager einem Bruder verlebt W. Kindheit und Jugend (1738–1804). Ein westfälischer Aufklärer. Hg. v. Walter in seiner Heimatstadt. Ab 1764 nimmt er zu- Gödden u. a. Bielefeld 2013, 339–370. nächst das Studium der Theologie in Halle Killy 11, 145. Kosch 19, 41 ff. auf, bricht dieses wieder ab und wechselt 1767 Košenina, Alexander: Anton Mathias Sprickmann. Ein zurück nach Straßburg, wo er das Studium vernachlässigter Bruder Anton Reisers, in: Blitzlichter der Rechtswissenschaft beginnt. In dieser der Aufklärung: Köpfe, Kritiken, Konstellationen. Hg. Zeit tritt er der Tischgesellschaft um Johann v. Alexander Košenina. Hannover 2010, 160–161. Daniel Salzmann (1722–1812) bei, lernt hier Lammers, Wolf: Anton Matthias Sprickmann. Ein Ju- ristenleben. Münster u. a. 2005. Goethe und Lenz kennen und wird später Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Mitarbeiter der von Salzmann und Blessing Texte – Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. begründeten Wochenschrift Der Bürgerfreund Stuttgart 2010. (vgl. Fechner 1997, 163). Es entstehen erste Übersetzungen wie 1770 die von Montesqui- Eva Mengler eus (1689–1755) Der Tempel zu Gnidus sowie kleinere literarische Arbeiten. 1771 bricht W. das Jurastudium aufgrund von Geldnöten der Eltern und eigener feh- lender Motivation vorzeitig ab und nimmt 1773 eine Anstellung als Hofmeister des Kam- merpräsidenten Hieronymus Maximilian von Günderode (1730–1777) in Saarbrücken an,

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wo er neben seiner Tätigkeit auch an seiner (1775) oder Maximilian Joseph Graf von Lam- Schriftstellerkarriere arbeitet, was sich der bergs (1729–1792) Tagebuch eines Weltmanns Briefkorrespondenz mit seinem Förderer, dem (1775). Karlsruher Hofrat Friedrich Dominicus Ring In Frankfurt gehört W. zum Kreis um (1726–1809), entnehmen lässt (vgl. Sauder Goethe, lernt dort Wieland, Heinrich Chris- 1979, 59). In dieser Zeit entsteht die Romanze tian Boie (1744–1806), Johann Heinrich Merck Phaeton (1774), die dem Fürsten Ludwig von (1741–1791), flüchtig sogar Klopstock kennen Nassau-Saarbrücken (1745–1794) zu Neujahr (vgl. ebd., 17). Auch zu Goethes Mutter, Catha- 1774 gewidmet ist und herrschaftskritische rina Elisabeth Goethe (1731–1808), bekannt als Implikationen in sich trägt (vgl. Hansen 2012, ‚Frau Rat‘ oder ‚Mama Aja‘, in deren Hause er 134). Im Hinblick auf W.s literarische Ent- oft verkehrt, unterhält W. eine freundschaft- wicklung dominiert in der Saarbrücker Zeit liche Beziehung. Eine tiefer gehende Freund- noch Christoph Martin Wieland (1733–1813) schaft verbindet ihn vor allem mit Klinger, in als großes Vorbild, der u. a. durch seine Ko- dessen Haus W. ebenfalls ein gern gesehener mischen Erzählungen (1765) bekannt gewor- Gast ist. Auch Christoph Kaufmann, Philipp den war (vgl. Sauder 1979, 60). Auch die als Christoph Kayser (1755–1823), Gustav Fried- anekdotische Verserzählungen konzipierten rich Wilhelm Großmann (1746–1796) und Confiskablen Erzählungen (1774) orientieren Johann Martin Miller zählen zu W.s engeren sich in ihrer Art an Wieland und sind als li- Bekanntschaften. terarische Anfänge eher konventionell (vgl. In den Jahren 1775 und 1776 entstehen Luserke 2010, 230). die wohl wichtigsten Werke W.s: Neben dem Jedoch erweist sich auch diese Phase in Einakter Der wohlthätige Unbekannte, eine W.s Leben als unstet: Als sein Arbeitgeber am Familien-Scene (1775) reüssiert W. mit dem Hof in Ungnade fällt, tritt der Hofmeister W. Bürgerlichen Trauerspiel Die Reue nach der mit solchem Eifer bei dem Fürsten für seinen That (1775), daneben veröffentlicht er ano- Herrn ein, dass er auf höchsten Befehl des nym die mit mehreren fingierten Druckorten Landes verwiesen wird (vgl. Sauder 1979, 58; versehene Literatursatire Prometheus, Deuka- Fechner 1997, 163 f.). Von Saarbrücken flüch- lion und seine Recensenten (1775), die im Kon- tet W. zunächst nach Gießen, wo er bei dem text der zeitgenössischen Werther-Rezeption Regierungssekretär Wiessner wohnt (vgl. für Furore sorgt. Diese als Freundschafts- Schmidt 1879, 15); ab Frühjahr 1775 lebt er dienst für Goethe gemeinte Farce zieht jedoch in Frankfurt a.M. Als Privatlehrer sowie als dessen Unwillen auf sich, da dieser selbst für Verfasser verschiedener literarischer Arbei- den Verfasser gehalten wird und daraufhin ten (Gedichte, Tagesschriftstellerei, Rezen- am 21. 4. 1775 in den Frankfurter gelehrten sionen) für den Herausgeber der Frankfurter Anzeigen sowie als Einzeldruck den wahren gelehrten Anzeigen, Johann Conrad Deinet Verfasser öffentlich bekannt gibt. Im Winter (1735–1797), versucht W. seinen Lebensun- 1775/1776 schreibt W. an seinem Fragment ge- terhalt zu bestreiten (vgl. ebd., 16), hinzu bliebenen Roman Leben und Tod Sebastian kommen lyrische Beiträge für den Almanach Silligs (der erste und einzige Teil erscheint der deutschen Musen, die an den Stil Bürgers 1776), der dem Vorbild von Laurence Sternes erinnern, sowie Übersetzungen ins Deutsche Tristram Shandy (1759–1767) folgt, aufgrund wie Merciers Der Schubkarn des Eßighändlers seiner ausschweifenden Darstellung jedoch

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auf Ablehnung stößt. Ebenfalls 1776 erscheint spielergesellschaft und Ihre Vorstellungen zu die Übersetzung der antiklassizistischen Dra- Frankfurt am Mayn betreffend (1777), welche mentheorie Merciers Du Théâtre ou nouvel eine positiv rezensierte, wenn meist auch nur essai sur l’Art Dramatique (1773) unter dem auf den Inhalt referierende Besprechung der Titel Neuer Versuch über die Schauspielkunst, in Frankfurt aufgeführten Stücke darstellen. von der W. selbst stark beeinflusst wird und Ebenfalls für die Seylerische Truppe übersetzt durch die sich sein Bekanntheitsgrad weiter W. Shakespeares (1564–1616) Macbeth (1779). steigert. Von Goethe wird er zur Übersetzung 1778 veröffentlicht er mit Voltaire am Abend der Schrift animiert; dieser steuert mehrere seiner Apotheose eine weitere für den SuD Beiträge zum Anhang aus Goethes Brieftasche typische Spottdichtung. Am 12. 5. 1778 stirbt bei. Gleichzeitig entsteht das soziale Drama W.s Frau; von da an führt seine Schwester Die Kindermörderin, bei dem sich der Einfluss Christine den Haushalt und pflegt den Kran- von Merciers Dramentheorie unschwer erken- ken, der am 4. 3. 1779 mit nur 32 Jahren an Tu- nen lässt. berkulose stirbt; zwei Tage später wird W. in Wegen der schwierigen finanziellen Ver- Frankfurt begraben (vgl. Fechner 1997, 164). hältnisse ist W. 1776 gezwungen, Frankfurt W. hinterlässt trotz seines kurzen Le- zu verlassen und nach Straßburg zurückzu- bens ein vielfältiges Werk. Als Dramatiker, gehen, um dort das Jurastudium zu beenden. Erzähler, Übersetzer, Lyriker, Satiriker und Auf der Reise dorthin macht er im Frühjahr Rezensent ist er gleich auf mehreren Gebie- 1776 Station in Mannheim, wo er eine enge ten tätig und setzt dabei die aufkommenden Freundschaft mit dem jungen Maler Müller Tendenzen seiner Zeit um, die er im Kreis des schließt. In Straßburg tritt er erneut in Kontakt SuD-Zirkels aufnimmt. Vor allem die Arbei- mit dem Salzmann’schen Kreis, dem er am ten W.s, die nach der Saarbrücker Zeit entste- 18. 7. 1776 seine Kindermörderin vorliest, die hen, können zum SuD gezählt werden (vgl. daraufhin eifrig bejubelt wird. Am 28. 8. 1776 Sauder 1979, 62). So verarbeitet er in Leben besteht W. das Doktorexamen der Rechte mit und Tod Sebastian Silligs, seinem einzigen einer Arbeit über die Goldene Bulle, Q.D.B.V. größeren erzählerischen Werk, die in Saar- Dissertatio Inauguralis. Historico Juridica brücken gewonnenen Erfahrungen mit der De Aurea Bulla […] (1776), und leistet knapp Regierungspraxis des Fürsten, die stellvertre- einen Monat später, am 21. 9. 1776, in Frank- tend für zahlreiche weitere deutsche Fürsten- furt den Advokateneid. Am 7. 10. 1776 heiratet tümer steht, indem er scharfe Kritik an den er die 17 Jahre ältere Witwe Theodora Magda- gesellschaftlichen Verhältnissen im absolu- lena, geb. Frieß, verw. Müller (1729–1778). Auf tistischen Deutschland und der Mätressen- einer erneuten Reise nach Straßburg kehrt wirtschaft übt. In seiner Darstellung verfolgt W. im Mai 1777 in Emmendingen als Gast bei er milieurealistische Züge und entwirft ein Goethes Schwager, Johann Georg Schlosser, detailliertes wie äußerst lebensnahes Bild und dessen Frau Cornelia (1750–1777) ein. Zu- der bäuerlich-kleinbürgerlichen Alltagswelt, rück in Frankfurt ist er als Gelegenheitsdich- wobei „kein Stürmer und Dränger […] die Welt ter, Dramaturg, Dramatiker und juristischer und Mentalität der kleinen Leute in ihrer Dif- Beistand für die Seylerische Truppe tätig (vgl. ferenziertheit facettenreicher porträtiert [hat] Schmidt 1879, 21) und begleitet deren Gast- als Wagner“ (Voit 1990, 14). In dem Schau- spiel mit den Briefen die Seylerische Schau- spiel Die Reue nach der That wird bereits

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vieles vorbereitet, was später in der Kinder- Die Kindermörderin im Juli 1777 in der Origi- mörderin gipfelt; den Stoff des Stücks bildet nalfassung aufgeführt werden. Aufgrund von vor allem die Standesproblematik, wobei das Lessings Umarbeitung sieht W. sich zur Paro- Tragische in die bürgerliche Privatsphäre ver- die Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter merkts lagert wird. Anders als in der Kindermörderin Euch! (1779) veranlasst, der Umarbeitung der stehen hier jedoch noch mehr als die soziale Kindermörderin zu einem bürgerlich-sen- Situation die Charaktereigenschaften der timentalen Lehrstück. Als Satiriker karikiert Figuren im Zentrum der Kritik (vgl. Scheuer W. in seiner Farce Prometheus, Deukalion 1989, 72). und seine Recensenten die Werther-Kritiker, Im Kontext des SuD, für den als ein we- allen voran Wieland und Friedrich Heinrich sentlicher Aspekt die aufkommende Sensi- Jacobi (1743–1819), und verteidigt dabei ener- bilisierung für gesellschaftliche Missstände gisch die neuen Literaturformen wie Goethes gilt, zählt W. zu jenen Autoren, die am schärfs- Werther, für die die jungen SuD-Autoren ein- ten diese Missstände kritisieren. Mit der Kin- stehen. Auch mit seinem satirischen Einakter dermörderin bringt er als Erster ganz unver- Voltaire am Abend seiner Apotheose holt er blümt Themen wie sexualisierte Gewalt, zum Schlag aus und richtet seinen Angriff ungewollte Schwangerschaft, familiale und gegen einen der wichtigsten intellektuellen soziale Zwänge sowie die missliche Lage der Gegner der jungen Autorengruppe und dabei Frau und deren Veranlassung zum Kinds- auch gegen die überhöhte Lobpreisung der mord auf die Bühne. Den Kindsmord als Schriftsteller sowie die daraus resultierenden zeitgenössischen Diskurs behandelt W. auf Folgen für weniger bekannte Literaten (vgl. mehrfache Weise gesellschaftskritisch mit Herboth 2002b, 272). Als ein wichtiger Bei- realistischen Mitteln, welche im Drama prin- trag zur programmatischen Ausrichtung des zipiell eine wichtige Rolle spielen: Indem er SuD erhält die Übersetzung von Merciers Nou- den Fausthämmern, die die unterste Schicht vel essai im Kontext des SuD wie auch in W.s repräsentieren, ihre spracheigentümliche Werk einen bedeutenden Stellenwert, indem Ausdrucksweise zugesteht und sie in derbem Merciers Dramentheorie „die noch unklaren elsässischem Dialekt sprechen lässt, wird ein Vorstellungen der Stürmer und Dränger kon- Soziolekt als Literatursprache verwendet, turierte: Er unterstützte ihre Shakespeare-Be- was erst wieder bei Georg Büchner (1813– geisterung, verstärkte ihr Plädoyer für Gefühl 1837) und den Dramen des Naturalismus zu und Mitleid und lenkte die Aufmerksamkeit finden ist. Darüber hinaus stellt W. im Drama auf die bürgerliche Privatsphäre“ (Scheuer wirklichkeitsnahe Bezüge zu seiner Heimat- 1989, 71). stadt Straßburg her; u. a. deshalb wird das Von der Forschung wird W. lange Zeit Stück als überaus skandalös wahrgenom- stiefmütterlich behandelt: Nach seinem frü- men – es wird von der zeitgenössischen Kritik hen Tod 1779 wird er zunächst vergessen, der verrissen und von der Zensur verboten; auch Fokus der Literaturgeschichte liegt seit Mitte eine Umarbeitung von Lessings (1729–1781) des 19. Jh.s auf Goethe und Schiller, die als Bruder Karl Gotthelf Lessing (1740–1812) ‚große Klassiker‘ gefeiert werden. Es etabliert ohne W.s Zustimmung für die Döbbelin’sche sich ein negatives W.-Bild, das vor allem auf Truppe in Berlin darf nicht aufgeführt wer- Goethes Plagiatsvorwurf gegenüber W. im den. Lediglich in Preßburg und Pest kann 14. Buch von Dichtung und Wahrheit (1811–

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1833) fußt. Dieser bezichtigt W. darin, ihm und die Übersetzung Neuer Versuch über die das Sujet des Kindsmords seiner Gretchen- Schauspielkunst, dies jedoch überwiegend Tragödie gestohlen zu haben (vgl. MA 16, im Zusammenhang mit der Analyse der Kin- 636). Heute gilt dieser Verdacht im Kontext dermörderin. Zu anderen Werken W.s ist im des Kindsmord-Diskurses als überholt. 1875 Einzelnen nur gering bis keine Forschungs- erscheint die erste W.-Monografie von Erich literatur vorhanden, was nicht zuletzt auch Schmidt, der in W. einen Autor „dritten und auf das Fehlen einer W.-Gesamtausgabe zu- vierten Ranges“ (Schmidt 1879, VI) sieht und rückzuführen ist. Auch erinnerungskulturell dessen Verdikt über W. die Forschungsmei- wird dem Autor W. wenig gedacht, da weder nung in der ersten Hälfte des 20. Jh.s domi- Dichterhäuser, Gedenkstätten noch eine W.- niert. Bemühungen um W.s Rehabilitation Gesellschaft existieren; einzig 1997, zu W.s gehen einher mit den politisch orientierten 250. Geburtstag, erinnerte man im LJb an ihn Bearbeitungen der Kindermörderin durch mit dem Abdruck der Confiskablen Erzählun- Peter Hacks (1957/1963) zu einem kommunis- gen und einem Hörspiel von Ludwig Harig, tischen Lust- und Trauerspiel, der die sozial- das W. und dessen Phaeton zum Inhalt hat kritischen Aspekte im Drama fokussiert und (vgl. LJb 1997, 7–49). aktualisiert. Mit der materialreichen Heraus- Insgesamt lassen sich in der Forschung gabe der Kindermörderin in der Originalfas- Tendenzen und Bemühungen verzeichnen, sung von Jörg-Ulrich Fechner (1969) wird eine den Fokus über Die Kindermörderin hinaus Wende in der W.-Forschung eingeleitet, was zu öffnen, wodurch, wenn auch sukzessiv, in den 1970er und 1980er Jahren mit dem zeit- ein zunehmend größerer Teil des Werks gleichen Aufblühen der sozialgeschichtlichen erschlossen und W. nachhaltig ein fester Orientierung in den Geisteswissenschaften Platz in der Literaturgeschichte zugeschrie- zu einem regelrechten Boom der Kindermör- ben wird. derin-Rezeption führt, sodass das Drama Ein- zug in den Kanon hält. Einen wesentlichen Werke Beitrag in der W.-Forschung stellt bis heute Wagner, Heinrich Leopold: Der Tempel zu Gnidus. Aus die auf umfassenden Quellenstudien basie- dem Französischen des Herrn Montesquieu übersetzt rende Arbeit von Elisabeth Genton (1981) dar. von H.L.W. Straßburg [1770]. – [Anonym:] Confiskable Im Gegensatz zur Kindermörderin-Rezeption Erzählungen. Wien [recte: Gießen] [1774]. – [Anonym:] können für das restliche Werk W.s nur ver- Prometheus, Deukalion und seine Recensenten. einzelte Untersuchungen konstatiert werden. Voran ein Prologus und zulezt ein Epilogus. [Frank- furt a.M.] 1775. – Der wohlthätige Unbekannte. Eine Im Zusammenhang mit der Satireproduktion Familien-Scene von Heinrich Leopold Wagner. Je er- und der Werther-Rezeption erfährt vermehrt habener, je simpler! Frankfurt a.M. 1775. – [Anonym:] Prometheus, Deukalion und seine Recensen- Die Reue nach der That, ein Schauspiel. Frankfurt ten Aufmerksamkeit in der Forschung (vgl. a.M. 1775. – Der Schubkarn des Eßighändlers. Ein Schmidt 1875; Genton 1971; Herboth 2002a Lustspiel in drei Aufzügen. Aus dem Französischen u. 2002b; Dörr 2011; Braese 2013), vereinzelt des Herrn Mercier. Frankfurt a.M. 1775. – [Anonym:] Briefe die Seylerische Schauspielergesellschaft und auch W.s Roman Leben und Tod Sebastian Sil- Ihre Vorstellungen zu Frankfurt am Mayn betreffend. ligs (vgl. Schmidt 1879; Friedrich 1959; Sauder Frankfurt a.M. 1777. – [Anonym:] Voltaire am Abend 1979; Genton 1981; Voit 1990; Sauder u. Weiß seiner Apotheose. Frankfurt a.M. u. Leipzig 1778. – 1991) sowie das Drama Die Reue nach der That [Anonym:] Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter merkts

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Euch! Ein Schauspiel in fünf Aufzügen. Frankfurt und das Recht der Seele, in: ders.: Das soziale Drama. a.M. 1779. – Macbeth, ein Trauerspiel in fünf Aufzü- Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart 2004, 69–87. gen nach Schakespear von Heinrich Leopold Wag- Fechner, Jörg-Ulrich: Nachwort, in: Heinrich Leopold ner. Frankfurt a.M. 1779. – [Mercier, Louis-Sébastien/ Wagner: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel. Im An- Wagner, Heinrich Leopold]: Neuer Versuch über die hang: Auszüge aus der Bearbeitung von K.G. Lessing Schauspielkunst. Aus dem Französischen. Mit einem (1777) und der Umarbeitung von H.L. Wagner (1779) Anhang aus Goethes Brieftasche. Faksimiledruck sowie Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Hg. v. nach der Ausgabe v. 1776. Mit einem Nachwort v. Peter Jörg-Ulrich Fechner. Stuttgart 1969; bibliographisch Pfaff. Heidelberg 1967. – Phaeton. Eine Romanze. Dem ergänzte Ausgabe 1997, 163–174. durchlauchtigsten Fürsten und Herrn Ludwig, Fürsten Friedrich, Wolfgang: Ein vergessener Roman der zu Nassau/Grafen zu Saarbrücken und Saarwerden, Sturm-und-Drang-Zeit, in: Weimarer Beiträge 5.1 (1959), Herrn zu Lahr, Wisbaden und Idstein etc. etc. etc. in 562–567. tiefster Ehrfurcht erzehlet von Heinrich Leopold Wag- Froitzheim, Johann: Goethe und Heinrich Leopold ner. Nachdruck der Ausgabe Saarbrücken 1774. Hg. v. Wagner. Ein Wort der Kritik an unsere Goethe-For- Christoph Weiß mit einem umfassenden Nachwort. scher, in: Beiträge zur Landes- und Volkeskunde von St. Ingbert 1990. – Leben und Tod Sebastian Silligs. Elsaß-Lothringen. Heft 10 (1889). Erster Theil. Ein Roman für allerley Leser zur War- Genton, Elisabeth: Prometheus, Deukalion und seine nung nicht zur Nachfolge. Frankfurt u. Leipzig 1776. Rezensenten. Eine umstrittene Literatursatire der Ge- Neudruck mit einem Nachwort hg. v. Gerhard Sauder niezeit. In: Revue d’Allemagne 3.1 (1971), 236–254. u. Christoph Weiß. St. Ingbert 1991. – Die Kindermör- Genton, Elisabeth: La vie et les opinions de Hein- derin. Ein Trauerspiel. Im Anhang: Auszüge aus der rich Leopold Wagner (1747–1779). Frankfurt a.M. Bearbeitung von K.G. Lessing (1777) und der Umar- 1981. beitung von H.L. Wagner (1779) sowie Dokumente zur Goedecke 4.1, 766–773. Wirkungsgeschichte. Hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. Bib- Hansen, Christiane: Phaeton in der Mythenrezeption liographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1997. der Aufklärung, in: dies.: Transformationen des Pha- Goethe, Johann Wolfgang: MA 16, 636 [Dichtung und eton-Mythos in der deutschen Literatur. Berlin 2012, Wahrheit]. 131–136. Hacks, Peter: Wagners Kindermörderin, in: Junge Herboth, Franziska: Wagner: Prometheus, Deukalion Kunst. Monatsschrift für Literatur, Kritik, Bildende und seine Recensenten (1775), in: dies.: Satiren des Kunst und Theater (1957), Heft 2, 2 ff. – Die Kinder- Sturm und Drang. Innenansichten eines literarischen mörderin, ein Lust- und Trauerspiel nach Heinrich Le- Feldes zwischen 1770 und 1780. Hannover 2002a, opold Wagner, in: Hacks, Peter: Zwei Bearbeitungen. 221–238. Frankfurt a.M. 1963, 71 ff. Herboth, Franziska: Wagner: Voltaire am Abend sei- Harig, Ludwig: Ein Fest für den Rattenkönig. Erst- ner Apotheose (1778), in: dies.: Satiren des Sturm und druck, in: Hörspiele saarländischer Autoren. Hg. v. Drang. Innenansichten eines literarischen Feldes zwi- Werner Klippert. Dillingen 1982, 7–35. schen 1770 und 1780. Hannover 2002b, 272–280. Karthaus, Ulrich: Heinrich Leopold Wagner: Die Kin- dermörderin, in: ders.: Sturm und Drang. Epoche – Forschung Werk – Wirkung. München 2000, 113–123. Braese, Stephan: Hanswurst und Geniekultur. Die Killy 12, 74–76. Idee vom Ende der Kritik in Heinrich Leopold Wagners Kosch 27, 40–45. Prometheus, Deukalion und seine Recensenten, in: Les- Künzel, Christine: Johann [!] Heinrich Leopold Wag- sing Yearbook 40 (2013), 123–135. ners Die Kindermörderin. Geschlechterkodierung und Dörr, Volker C.: „Wie die Kerls mit dem guten W** um- Geschlechtskritik im Sturm und Drang, in: Sturm gehn“. Heinrich Leopold Wagners Prometheus Deuka- und Drang: Epoche – Autoren – Werke. Hg. v. Mat- lion und seine Recensenten im Kontext der Werther- thias Buschmeier u. Kai Kauffmann. Darmstadt 2013, Kontroverse, in: Neophilologus (2011), 463–476. 203–219. Elm, Theo: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermör- Lee, Hyunseon: Vor Gericht. Kindsmord im Sturm und derin. Ein Trauerspiel (1776). Die Strafe des Körpers Drang und Heinrich Leopold Wagners Drama Die Kin-

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