Von Geschlecht Zu Geschlecht 2. Zweiter Teil: Der Emporkömmling

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Von Geschlecht Zu Geschlecht 2. Zweiter Teil: Der Emporkömmling Brigham Young University BYU ScholarsArchive Prose Fiction Sophie 1871 Von Geschlecht zu Geschlecht 2. Zweiter Teil: Der Emporkömmling Fanny Lewald Follow this and additional works at: https://scholarsarchive.byu.edu/sophiefiction Part of the German Literature Commons BYU ScholarsArchive Citation Lewald, Fanny, "Von Geschlecht zu Geschlecht 2. Zweiter Teil: Der Emporkömmling" (1871). Prose Fiction. 90. https://scholarsarchive.byu.edu/sophiefiction/90 This Article is brought to you for free and open access by the Sophie at BYU ScholarsArchive. It has been accepted for inclusion in Prose Fiction by an authorized administrator of BYU ScholarsArchive. For more information, please contact [email protected], [email protected]. Fanny Lewald Von Geschlecht zu Geschlecht 2 Zweiter Teil: Der Emporkömmling Fanny Lewald: Von Geschlecht zu Geschlecht 2. Zweiter Teil: Der Emporkömmling Erstdruck: Berlin (Otto Janke) 1864. Textgrundlage sind die Ausgaben: Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Neue revidierte Ausgabe, Band 4, Berlin: Verlag von Otto Janke, 1871. Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Neue revidierte Ausgabe, Band 6, Berlin: Verlag von Otto Janke, 1871. Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Neue revidierte Ausgabe, Band 7, Berlin: Verlag von Otto Janke, 1871. Die Paginierung obiger Ausgaben wird hier als Marginalie zeilengenau mitgeführt. Erstes Buch Erstes Capitel Eine Reihe von Jahren war entschwunden, seit man die Leiche der Baronin von Arten in dem Erbbegräbnisse der neuen katholischen Kirche in Rothenfeld zur Ruhe bestattet hatte, und schwere, blutige Zeiten waren seitdem über die Erde hingegangen. Aus dem schöpferi- schen Chaos der französischen Revolution hatte sich die finstere, ge- waltige Gestalt Napoleon’s des Ersten emporgehoben, dessen unersätt- licher Ehrgeiz die Kriegsfackel über Europa schwang, während Zerstö- rung, Blut und Thränen den Weg bezeichneten, den sein Fuß von Sieg zu Sieg, von Eroberung zu Eroberung fortschreitend betrat. Vom fernsten Westen Europa’s bis hin an Deutschlands und Preu- ßens östliche Grenzen waren die Wogen des Krieges, das Bestehende umgestaltend oder verschlingend, über die Länder gerollt. Staaten waren untergegangen, Könige und Fürsten entthront, neue Reiche gebildet und neue Herrscher und Könige ernannt worden. Im Schlosse wie in der Hütte hatte man die überall nachzitternde Kraft der unge- heuren Bewegung empfunden, und wie die Verhältnisse der Länder und ihrer Beherrscher sich geändert, so hatten sich mit diesen Wandlungen auch im Gesammtleben der Menschen wie in den einzel- nen Ständen und in ihren Beziehungen zu einander große Verände- rungen zugetragen. Von jener Freiheit, welche die Franzosen zu erringen gewünscht, 233 als sie den Thron der Bourbonen gestürzt, die Republik erklärt, den König und die Königin hingerichtet und das Blut derjenigen vergossen hatten, welche sie als Feinde der Freiheit betrachteten, war ihnen unter der tyrannischen Herrschaft ihres ersten Kaisers nichts mehr übrig geblieben; aber die in der Revolution zur Geltung gekommene Erkennt- niß der menschlichen und bürgerlichen Gleichheit hatte in den Geistern eine zu tiefe Wurzel geschlagen, um so schnell wie die politische Freiheit vernichtet werden zu können. Der Zauber, welcher die alten adeligen Geschlechter umgeben, war in jener Zeit für das scharfe Auge des Bürgerstandes in Frankreich erloschen, und weder die von Napo- leon ernannten Fürsten und Herzoge, noch jener Theil des alten französischen Adels, der sich an den Thron des neuen Kaisers heran- drängte, weil er im Dienen, gleichviel, wem er diente, seinen Vortheil 3 und seine Ehre fand, waren dazu angethan, die frühere Geltung des Adels wieder zu erzeugen. Von einer abtrennenden Gliederung der Staatsangehörigen in drei Stände konnte ebenfalls nicht wohl die Rede sein, nachdem der sogenannte dritte Stand das Ruder des Staates jah- relang in seinen Händen gehabt hatte und seit der Sohn eines corsica- nischen Advokaten der Welt Gesetze vorschrieb. Die Verehrung des angestammten historischen Adels war in eine Verehrung der Macht übergegangen, und wenn damit der sittliche Gehalt der Menschen und der Zeit auch nicht eigentlich gehoben wurde, so waren der Verehrung doch weitere Grenzen gesteckt, seit dem Verehrenden sich die Aussicht eröffnete, auf den mannigfachsten Wegen sich selbst zu einem Machthaber und damit zu einem Gegenstande der Verehrung zu erhe- ben. Das militärische Genie, der Gelehrte, der Künstler, der Gewerb- treibende fanden dabei gleichmäßig ihre Rechnung, und was für Na- poleon in den Herzen des Volkes, das er unterjochte, dessen Steuer- kräfte er übermäßig in Anspruch nahm und dessen Söhne er unauf- hörlich zur Schlachtbank führte, am allermeisten sprach, das war die 234 Erinnerung, wie er selber aus den Reihen des Bürgerstandes hervorge- gangen, Kinder des Volkes zu Königen und Fürsten erhoben hatte, und wie er in seiner Person die Verkörperung dessen darstellte, was der Ehrgeiz des Genies zu erreichen wünschen mußte und jetzt zu erreichen hoffen konnte. Eben so groß als der Wechsel der Zustände, der sich in Frankreich innerlich und äußerlich ereignet, war die Wandlung gewesen, welche sich in Deutschland durch die Nachwirkung jener ungeheuren franzö- sischen Revolution im Bewußtsein und in der Empfindungsweise der Menschen vollzogen hatte. Seit mehr als anderthalb hundert Jahren blind der Bewunderung des französischen Geistes, knechtisch der Nachahmung französischer Sitte und Mode unterthan, war schon vor dem Beginne der französischen Revolution mit dem Auftreten Lessing’s, Goethe’s und Schiller’s der Mahnruf an die Deutschen ergangen, sich ihrer eigenen Macht und Bedeutung, sich ihrer eigenen Abstammung und Größe zu erinnern; und was die Kraft, was die befreiende Erha- benheit dieser Heroen begonnen, das vollendete die napoleonische Tyrannei, deren eiserne Schwere sich stärker und stärker auf Deutschland herabsenkte. In Blut und Thränen, unter dem Drucke der Fremdherrschaft, in der willkürlich über ihm verhängten Zersplit- terung, in der Knechtschaft und in den Banden Napoleon’s war 4 Deutschland frei geworden von jener französischen Sclaverei, zu wel- cher es sich so lange selbst verdammt hatte. Französische Sprache, französische Mode und französische Sitten waren dem vor der Revo- lution flüchtig gewordenen Adel entgegen gekommen, wo immer er sich in Deutschland hingewendet. Eine Begeisterung für die in Frankreich durchgesetzte Neugestaltung der Staatsverhältnisse hatte von vielen Seiten die ersten republikanischen Siege der Neu- Franzosen diesseit des Rheines begrüßt; aber auch diese Zeiten waren vorüberge- gangen. Der deutsche Geist war zum Selbstgefühl erwacht; an dem 235 Hasse gegen den Uebermuth der fremden Vergewaltiger hatte sich die lange niedergehaltene Liebe für die Muttersprache und für das gemein- same Vaterland entzündet. Ueberall, wo deutsche Herzen schlugen, wo deutsche Hände die Saat auf den Feldern des Landes ausstreuten und deutscher Fleiß sich in Gewerb und Handel bewegte, hatte man das Unheil der französi- schen Herrschaft zu tragen. Die Kriegszüge, welche sich vom fernen Westen und vom Süden Europa’s bis an die östlichsten und nördlich- sten Grenzen Deutschlands ausdehnten, sie hatten überall Noth und Elend im Gefolge gehabt, aber eben die gemeinsame Noth hatte die Menschen näher zusammengeführt. Die Vernichtung, die Entbehrung äußerer Güter hatte erkennen gelehrt, was Jeder in sich selbst besitze und welche Quellen der Erhebung und des tröstenden Genusses dem Menschen aus der Beschäftigung mit dem Gedanken erwachsen kön- nen; und wie es bei solch völliger Umgestaltung der Verhältnisse nicht anders zu erwarten war, hatte eine neue Vertheilung des allgemeinen Vermögens sich vorbereitet und war theilweise schon ausgeführt. Das Geld war selten geworden und im Werthe gestiegen. Wer Geld besaß, konnte viel damit erwerben, wer Geld bedurfte, mußte es un- verhältnißmäßig hoch bezahlen; während also das Vermögen des Kaufmannes in den Städten mitunter in überraschenden Verhältnissen emporstieg, ward der Wohlstand des Landmannes, des Gutsbesitzers eben so oft verringert oder gar vernichtet, wo die großen Heeresmassen des Eroberers sich über die Länder wälzten. Preußen vor allen anderen Ländern hatte die Gewalt der Ereignisse fühlen müssen. Erst nach mehrjährigem Aufenthalte in den fernen Ostsee-Provinzen war der flüchtig gewordene König wieder mit seiner Familie in seine Hauptstadt zurückgekehrt; aber die ganz zerstückelte Monarchie stand nichts desto weniger thatsächlich noch völlig in Na- 5 poleon’s Gewalt. Die ungeheure Kriegsschuld, die von Napoleon ver- 236 hängte Continentalsperre, wie die durch ganz Europa, so weit es ihm gehorchte, angeordneten großen Rüstungen brachten Noth und Drangsale aller Art hervor, indeß sie hinderten die Völker nicht, zur Selbsterkenntniß zu erwachen. Der König wie jener bessere Theil des Adels, der das Unglück der Jahre achtzehnhundert und sechs und achtzehnhundert und sieben nicht mit herbeigeführt und sich fern gehalten hatte von der Erniedrigung vor dem Eroberer, vor Allen aber der gebildete Bürgerstand hatten begreifen gelernt, was Jedem im Einzelnen fehle, was Allen gemeinsam Noth thue, und die Besten des Landes, Männer so wie Frauen, hatten sich vereinigt, um durch Selbsterziehung und Selbsterhebung jene allgemeine Auferbauung zu beginnen, deren Unerläßlichkeit Jedweder ahnte oder empfand. Eben in jener Zeit, im Herbste des Jahres achtzehnhundert und elf, saßen in Berlin in dem Gartensaale eines großen Hauses zwei Frauen- zimmer bei einander. Die Thüren des Gemaches standen offen,
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