"The Reader's Neck Brought Into Danger by A
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
32 3. Zur Genese, Typologie und Funktion narrativer Metalepsen: Versuch ei- ner systematischen Beschreibung 3.1. Narrative Metalepsen und die Erzähltechnik des entrelacement Transgressive Relationierungen von discours und histoire, von erzählender Welt und erzählter Welt, können auch in diskreterer und weniger spektakulärer Weise realisiert sein, als dies in den meisten der bisher vorgestellten Beispiele der Fall war. Dabei ist vor allem an jene mehr oder weniger konventionalisierten narrativer Formeln zu denken, die primär und offensicht- lich im Dienst der diskursiven Organisation der histoire und Integration ihrer verschiedenen Handlungsstränge stehen. Vertraut sind solche Formeln aus auktorialen Erzähltexten des acht- zehnten und vor allem des neunzehnten Jahrhunderts; besonders häufig begegnen sie - aus naheliegenden, später aber noch näher ins Auge zu fassenden Gründen - in den figuren- und episodenreichen, vielsträngigen Genres des historischen und des Abenteuerromans. Sie sind jedoch, wie man sehen wird, schon vorher variantenreich vertreten und später, auch in erzähl- technisch avanzierter Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, keinesfalls verpönt. Ich nenne zunächst einige Beispiele: [7] Leaving the Saxon chiefs to return to their banquet as soon as their ungratified curiosity should permit them to attend to the calls of their half-satiated appetite, we have to look in upon the yet more severe imprisonment of Isaac of York. (Walter Scott, Ivanhoe, Kap. 22; S. 225) [8] Lasciamoli andare, e torniamo un passo indietro a prendere Agnese e Perpetua, che abbiam lasciate in una certa stradetta. (Alessandro Manzoni, I promessi sposi, Kap. 8; S. 249) [9] Nous laisserons, comme eux, Jehan dormir sous le regard bienveillant de la belle étoile, et nous les suivrons aussi, s'il plaît au lecteur. (Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, VII, 7; S. 287) [10] Laissons-le suivre le chemin du camp, protégé par l'écuyer et les deux mousquetaires, et revenons à Athos. (Alexandre Dumas, Les trois mousquetaires, Kap. 45; S. 584) [11] Laissons-le, tandis que le diable amusé le regarde glisser sans bruit la petite clef dans la serrure (...) Il est temps de retrouver Bernard. Voici que dans le lit d'Olivier il s'éveille. (André Gide, Les faux-monnayeurs, I, 5; S. 60) Auch weitgehend konventionell anmutende Erzählformeln wie diese lassen sich als Hybridi- sierung oder als 'Performativierung' einer erzählenden oder berichtenden Sprachhandlung beschreiben. Der Erzähler, oder vielmehr die durch das obligatorische 'wir' ("we have to look"; "lasciamoli"; etc.) beschworene Kommunikationsgemeinschaft von Erzähler und Leser, scheint mit den Figuren der Geschichte in einem homogenen raum-zeitlichen Kontinuum zu interagieren. Auch hier wird also Simultaneität und Kontiguität von erzähltem Geschehen, Erzählakt und Rezeption supponiert. Plausibel (im Sinne von 'real möglich' oder 'mit den Ob- 33 ligationen einer faktualen Erzählung vereinbar') wäre eine solche Relation der Simultaneität und Kontiguität nur unter den Bedingungen einer oralen Berichts- oder Kommunikationssitu- ation.63 Eben eine solche, Augenzeugenschaft voraussetzende Kommunikationssituation soll natürlich in den hier betrachteten Textpassagen zum Zweck einer 'szenischen' Vergegenwärti- gung des erzählten Geschehens simuliert oder beschworen werden - der Erzähler agiert in diesen Passagen gleichsam als teichoskopische Berichtsinstanz.64 Nun ist der Bericht des Tei- choskopen im Drama oder in einem Erzähltext65 zwar in der Tat in eine orale Kommunikati- onssituation eingebettet, allerdings handelt es sich um eine dargestellte oder erzählte orale Kommunikationssituation: Der Bericht ist primär und unmittelbar an histoire-interne Zuhörer adressiert. Dagegen ist der Bericht des 'teichoskopisch' agierenden Erzählers an eine histoire- externe 'Zuhörerschaft' gerichtet. Mit anderen Worten: Die plausibilisierende Bedingung einer oralen Berichtssituation ist in den gegebenen Beispielen natürlich nicht erfüllt; vielmehr sind diese durch ihren pragmatischen Kontext zwingend auf das Medium und den Modus der schriftlichen Erzählung festgelegt, wobei die Literalität der Kommunikation in dem Hugo- Beispiel durch die explizite Anrede des Adressaten als einem lesenden noch besonders mar- kiert ist. In einer Synopse narrativer Metalepsen repräsentieren die zitierten Passagen, wie man sehen wird, eher rudimentäre Varianten. Wohl trifft auf sie das Merkmal modaler Hybridität und damit nomineller Simultaneität und Kontiguität von erzählender und erzählter Welt zu; ver- zichtet wird freilich auf die 'Möblierung' des solchermaßen postulierten paralogischen Raums mit outrierten Effekten, wie dies in den eingangs vorgestellten Metalepsen mehr oder weniger drastisch der Fall war. Der systematische Ort solcher Formeln und die für sie zu veranschla- gende Relation von Struktur und Funktion wird später noch ausführlich erörtert. Der folgende Versuch einer systematischen Beschreibung soll mit einer These verknüpft wer- den, die sich auf die historische Genese metaleptischer Konfigurierungen in Erzähltexten be- zieht und die sich, wie ich glaube, angesichts der histoire-integrativen Funktion der meisten Metalepsen, wie aufwendig diese auch immer gestaltet sein mögen, geradezu aufdrängt. Die These lautet, daß auch komplexere und spektakuläre narrative Transgressionen als Strukturen beschreibbar sind, die sich über eine Reihe von Transformationsschritten aus elementaren und nicht-transgressiven narrativen Integrationsformeln generieren lassen, als deren originärer historischer Ort die mittelalterliche Narrativik und namentlich die arturische Epik des 13. Jahrhunderts gelten darf. Der genaue Status und die Reichweite dieser These sollen in Kapitel 3.7 eingehend diskutiert werden; sie wird dort einige modifizierende Einschränkungen bzw. Erweiterungen erfahren. 63 Streng genommen gibt es auch in diesem Fall keine echte, d.h. 'instantane' Simultaneität von Bericht und Berichtetem, äußerstenfalls, wie bereits festgestellt wurde, die asymptotische Annäherung des anterioren Zeitzu- stands des berichteten Geschehens an den seiner Versprachlichung. 64 Dabei beansprucht er freilich eine Omnipräsenz ermöglichende Mobilität, die für den Teichoskopen in einer dramatischen oder narrativen Fiktion schwerlich in Frage käme. Tatsächlich nominieren (oder antizipieren, wenn man so will) die hier zitierten narratorialen Einlassungen eine Kommunikationssituation, die erst unter den Bedingungen telekommunikativer Techniken - etwa des Telephons oder des Radios - zumindest partiell reali- sierbar ist. So wären Formeln wie die hier zitierten in der radiophonen Live-Reportage eines Sportereignisses oder eines Karnevalsumzuges durchaus denkbar. Da es sich indessen bei den zitierten Texten um 'Berichte' ver- gangener, abgeschlossener Ereignisse handelt, setzte ihre extraliterarische Realisierbarkeit, nach der die Welt - R ä u m e als syntopen Erfahrungsraum konstituierenden Telekommunikation, wohl auch noch die Erfindung einer Wellschen Zeitmaschine zur Synchronisierung der Welt - Z e i t e n voraus. 65 Scotts Ivanhoe enthält eine Szene, die die 'klassische' (d.h. homerische) Konfiguration der 'Mauerschau' recht genau und dies offenbar ganz bewusst wiederholt: Rebecca berichtet dem schwerverletzt darniederliegenden Ivanhoe (und damit indirekt auch dem Leser) von dem Kampfgeschehen vor den Toren der belagerten Burg, das Ivanhoe, präsent, aber ans Krankenlager gefesselt, selbst nicht beobachten kann. Vgl. Ivanhoe, Kap. 29, S. 311f. 34 Es wird sich jedoch zeigen, daß, wenn nicht das gesamte, so doch ein großer Teil der hier interessierenden metaleptischen Phänomene unter der Perspektive dieser These sinnvoll sys- tematisierbar ist. Nicht zuletzt wird mit ihr die Genese metaleptischer Erzählweisen als spezi- fischer transgressiver und paradoxer pragmatischer Strukturen in einen Erklärungszusam- menhang mit der historischen Herausbildung komplexer mehrsträngiger und polyzentrischer Handlungsstrukturen und deren erzähltechnischer Bewältigung gestellt. Von der Forschung wird ein solches Novum für den Perceval Chrétiens und den anonymen Prosa-Lancelot gel- tend gemacht oder zumindest im Umkreis dieser Texte situiert.66 Die diskursive Verwaltung polyzentrischer und gleichsam fugierter Erzählwelten dieser Art wird seit Lot mit dem Ter- minus des entrelacement belegt67; gemeint ist mit der textilen Metapher die Parallelführung zweier oder mehrerer Handlungsstränge in einem Text und deren additive Verknüpfung - oder eben Verflechtung - durch eine Erzählinstanz, die den jeweiligen Wechsel des Erzählstranges in mehr oder weniger formelhaften Wendungen begründet oder motiviert.68 Die Herausbildung der entrelacement-Technik im Umkreis des höfischen Romans hat in der Forschung teils divergierende, teils komplementäre Deutungen erfahren; u.a. ist diese Technik als Symptom gesteigerter Komplexität des epochalen Handlungs- und Geschehensbegriffs und als Ausdruck einer gegenüber den chansons de geste grundlegend veränderten, nämlich literalisierten Kommunikationssituation interpretiert worden69; die Entfaltung dieser Technik wurde als das zentrale Moment eines Prozesses der "Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit" (Stierle) gesehen. Auf jeden Fall wird man sie Tendenzen einer 'Subjek- tivierung' des Erzählens zuordnen können, d.h. einer Exponierung des Subjekts der Erzählung bzw. des Erzählakts selbst gegenüber der erzählten Geschichte.70 Indem nun, in Verfolgung der oben formulierten These, metaleptisches Erzählen auf die entrelacement-Technik zurück-