Ostavame Bulgarien. Wir bleiben. Eine Liebeserklärung in 12 Geschichten Erinnerungen an das Essen rund um den kommunistischen Alltag Bulgariens.

Ana Iankova Diplomarbeit, schriftlich Sommersemester 2017 Universität für angewandte Kunst Wien Institut für Design, Grafik Design Univ. Prof. Oliver Kartak

Betreuung Univ. Prof. Oliver Kartak Mag. Katharina Uschan Mag. Sabine Dreher Inhalt persönliche Motivation und Hintergrund 3-6

Exkurs über Bulgarien 7-11

Auszug aus dem Buch 12-17

Konzept 18-19

Gestaltung 20-26

Titel 27

Resümee 28 3

Persönliche Motivation und Hintergrund

Ich wurde in Bulgarien geboren. Ich trage einen typisch bulgarischen Nachnamen und werde beim Einreisen ins Land stets auf bulgarisch angesprochen. Leider spreche ich die Sprache nicht einmal ansatzweise. So sind die Grenzposten beim Einreisen ins Land stets verblüfft, wenn ich als in Sofia geborene Iankova, ihnen mit keinem Wort antworten kann. Das war nicht immer so. Mit vier Jahren lebte ich in Bulgarien und konnte die Sprache wunder- bar sprechen. Danach zog ich mit meiner Familie nach Österreich. Innerhalb weniger Monate habe ich perfekt Deutsch gelernt - Bulgarisch aber gänzlich vergessen. Es gibt Kassettenaufzeichungen von mir, in denen ich bulga- rische Gedichte rezitiere und Lieder singe. Ich höre meine Stimme und habe nicht die leiseste Ahnung, was ich da sage. Meine bulgarische Herkunft ist also nur am Papier. Ich fühle mich nicht als Bulgarin. Ich habe auch keine spezifischen Erinnerungen daran. Die einzigen Momen- te, die mich instinktiv an das Land, meine Kindheit und meine Wurzeln denken lassen, sind, wenn ich spezifische Gerüche, meist von einem Lebensmittel oder Gericht stammend, rieche. Diese frühkindlichen Erfahrungen sind so tief in meinem Gedächtnis geprägt, dass sie anders als die Sprache, nicht gelöscht werden konnten.

Aus meiner eigenen Situation ausgehend, habe ich an- dere Menschen, die früher in Bulgarien gelebt haben, gefragt, ob es bestimmte Gerüche gibt, die sie an ihre ursprüngliche Heimat denken lassen. Und siehe da, nicht nur, dass alle von mir angesprochenen solche Gerüche kennen, es sind interessanterweise Gerüche, die gleich- sam als „Spezialitäten“ des Landes gelten bzw. nur in 4

Bulgarien vorkommen. Und das ist vermutlich nicht unge- wöhnlich: Dinge, die überall auf der Welt verfügbar sind, werden sich kaum als Besonderheiten eines Landes ein- prägen.

Bulgarien ist ein kleines, aufgrund seiner Geschichte, für viele Jahre „verschlossenes“ Land gewesen - etwas, das für alle kommunistischen Länder gilt. Das Volk be- saß nichts. Oder das Volk besaß alles. Je nachdem wie man es nimmt. Aber es besaßen jedenfalls alle das Selbe. Was sich für viele nach kommunistischem Klischee anhö- ren mag, es war tatsächlich so: der Müllmann verdiente gleich viel wie die Ärztin. Importware gab es nicht. Man musste im Leben mit den Dingen auskommen, die am hei- mischen Markt angeboten wurden. Das galt für Gegen- stände gleichermaßen wie für Essen. Dieses Essen und diese Gegenstände haben sich als All- tagsmythen tief ins kollektive Gedächntnis aller Generati- onen gebrannt, die im kommunistischen Bulgarien aufge- wachsen sind.

Es gab eine Sorte Brot - Weißbrot, eine Sorte weißen Käse - Schafskäse, eine Sorte gelben Käse - , eine Sorte Trockenwurst - Lukanka. Einflüsse aus dem Ausland gab es kaum. Es war nicht en vogue Pasta, Indisch oder Steak zu essen. Man hatte die heimische Produktion und kochte so zu sagen „im eigenen Saft“. Das änderte sich selbstverständlich mit der Öffnung des eisernen Vorhangs 1989 - nach und nach siedelten sich westliche Geschäfte an, die natürlich die bulgarische Küche nachhhaltig veränderten. 5

Das Land Bulgarien wird in der vorliegende Arbeit an- hand von persönlichen Einzelgeschichten, von Bulgar- innen und Bulgaren, die ihre Heimat verlassen haben, gezeichnet. So individuell diese Geschichten sind, zeich- nen sie dennoch in ihrer Gesamtheit eine kollektive Erin- nerungsform und repräsentieren eine Bevölkerung, die im bulgarischen Kommunismus aufwuchs.

Bulgaren werden die Arbeit anders wahrnehmen, als Menschen, die nicht innerhalb der Landesgrenzen ge- wohnt haben. Bei Bulgaren wird die naturalisierende Wirkung mit Hilfe der Trigger Geruch und Geschmack Alltagsmythen ihrer Vergangenheit hervorkehren. Sie wer- den sich sofort in die erzählte Situation hinein versetzen und mit ihren persönlichen Erfahrungen in Verbindung bringen.

Bei nicht-Bulgaren hingegen ist es ein Heranführen an eine neue Kultur. Durch intime und individuelle Geschich- ten wird man zum „Insider“, man lernt Bulgarien kennen, wie man es als Tourist nie würde. Das Buch ist viel mehr als nur ein Tour Guide, der auf Sehenswürdigkeiten verweist. Es vermittelt Kultur in ihrer puren Form - wie sie ein Ein- heimischer erlebt. Die Geschichten sind bewusst persönlich geschrieben, beinahe wie Tagebucheintragungen zeigen sie intime Ein- blicke einer Jederfrau oder Jedermanns. Dabei behan- deln sie meist alltägliche Situationen, die sich zwischen Nostalgie, Information und Essenzen von subjektiven Erinnerungen bewegen. Es finden sich darin Erzählungen zur bulgarischen Traditionen sowie Essensgewohn- und Eigenheiten. 6

Ich habe alle meine bulgarischen Kontakte, die Bulga- rien verlassen haben, kontaktiert und um ihre persönli- chen Geschichten und Erinnerungen zum Thema Essen gebeten. Gleichzeitig haben sie mich auch an weitere Kontakte verwiesen. So habe ich zahlreiche Geschichten zusammengetragen und die besten für dieses Buch aus- gewählt. Zum Teil führten zahlreiche Treffen und Telefo- nate zu Geschichtsfragmenten, die ich zu einer einheti- lichen Geschichte verbunden habe. Teilweise hatten die von mir angesprochenen Personen aber auch sehr viel Freude daran ihre Geschichte selbst zu schreiben. Man kann beim Lesen nachempfinden, wie sie in Erinnerungen schwelgen. Natürlich wird das Buch für „Exilbulgarinnen und -Bulga- ren“ wohl am interessantesten zu lesen sein. Es ist aber gut möglich, dass ihre Partnerinnen und Partner, Freunde und Bekannte Manches vielleicht durch die Einblicke in dieses Buch besser verstehen.

Interessanterweise kamen bei den Erzählungen meiner Interviewparterinnen und Partner immer wieder die glei- chen Dinge vor. Immer öfter habe ich Geschichten über besagte bulgarische „Spezialitäten“ gehört. Dabei waren die Erlebnisse zwar stets auf persönliche Weise beschrie- ben, verwiesen aber letztendlich auf die gleichen Produk- te und Gerichte. Die zehn für dieses Buch ausgewählten Geschichten und ihre glossarartigen Verweise fungieren so als eine Art Lexikon des bulgarischen Geschmacks und Geruchs, der bulgarischen Essenskultur und Tradition. 7

Exkurs über Bulgarien Historisches

Das Territorium des heutigen Bulgarien war bereits in der Steinzeit durch die Thraker besiedelt. Unter Khan Aspa- ruch wurde das erste großbulgarische Reich gegründet, das 681 von Byzanz anerkannt wurde, was de facto Buga- rien zum ältesten Staat Europas macht. Es folgten unzähli- ge Aufstände gegen die byzantinische Herrschaft, die erst 1186 erfolgreich beendet wurden. Das Zweite Bulgarische Reich wurde gegründet, das bis 1393 bestand. Zu dieser Zeit stieg Bulgarien zur stärksten Macht am Balkan auf und es wurden die bis heute bedeutendsten Kirchen und Klöster des Landes errichtet. Mit dem Niedergang von Byzanz während der türkischen Eroberungen wurde allerdings auch Bulgarien Teil des erstarkenden Reichs der osmanischen Türken. Bulgarien geriet unter das Joch der Muselmanen und verlor seine Unabhängigkeit für über 500 Jahre.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Zer- setzung des osmanischen Staatswesens nicht mehr aufzu- halten. Das Reich bedurfte unverzüglicher Reformen, was der christlichen Bevölkerung gewisse Chancen bot. Um 1800 wurde sukzessive ein geistig-nationaler Widerstand mit der Forderung nach Unabhängigkeit eingeleitet.

Eine späte nationale Wiedergeburt (Renaissance) wurde eingeleitet. Diese führte 1870 zur Errichtung einer selbst- ständigen nationalen Kirche und zum Erstarken bulgari- scher Bildung und Kultur. Das Erwachen des bulgarischen Geistes wird heute im Zusammenhang mit dem Erschei- nen der ersten „Slawisch-bulgarischen Geschichte“ von 8

Paisij Hilendarski aus dem Jahr 1762 gesehen. Das neu erstarkte Nationalgefühl spiegelte sich im Aprilaufstand von 1876 wider.

Der Berliner Kongress errichtete das Fürstentum Bulga- rien als konstitutionelle Monarchie, das aber dem Sultan tributpflichtig blieb. Ferdinand von Sachsen-Coburg-Go- tha (bekannt als Ferdinand I.) setzte 1908 die formelle Unabhängigkeit Bulgariens durch und ließ sich zum Zaren krönen. Damit wurde Bulgarien zu einem rechtlich unab- hängigen Staat – zum Königreich Bulgarien.

Nach den beiden Balkankriegen zu Beginn des 20. Jahr- hunderts, geriet das Lad in instabile Lage. Die militä- rischen Misserfolge und die Wirtschaftskrise nach den Niederlagen schufen Voraussetzungen für die Entwicklung linker und kommunistischer Bewegungen.

Dies führte zu Gegenreaktionen, sodass die 20er und 30er Jahre eine Zeit sozialer Zusammenstöße und gesellschaft- licher Spannungen waren. Eine besonders blutige Zeit war die von Staatsstreichen, kommunistischen Erhebun- gen und Attentaten erfüllte Periode zwischen 1923 und 1925, die eine erbitterte Jagd auf alle linksorientierten Kräfte zur Folge hatte. Dies führte 1934 zum Verbot al- ler politischen Parteien und zur Alleinherrschaft von Zar Boris (Sohn von Zar Ferdinand), die in den dreißiger Jah- ren das Land einigermaßen stabilisierte.

Im Zweiten Weltkrieg stand Bulgarien erneut an der Seite von Deutschland, konnte aber eine Beteiligung der bulga- rischen Armee an der Ostfront vermeiden und so die über 50.000 in Bulgarien lebenden Juden vor der Deportation 9

retten. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war Bulga- riens Schicksal unausweichlich besiegelt. Obwohl man mit Großbritannien und den USA Kontakt aufgenommen hatte, marschierte am 9.9.1944 die Rote Armee ins Land ein. In der Hauptstadt Sofia wurde die Regierung gestürzt und Bulgarien wurde zur Volksrepublik. Dieser Tag wurde nicht nur zum Nationalfeiertag erklärt, sondern galt bis zur Wende als der denkwürdigste Meilenstein Bulgariens, der ehrwürdig und respektvoll behandelt wurde und über die Jahre einen mystisch-symbolhaften Klang erhielt – man teilte lange Zeit die Geschichte Bulgariens lediglich in „vor“ und „nach“ dem 9. September 1944.

Der totalitäre Staat hemmte die Entwicklung der Gesell- schaft: Industrie, Banken und Großhandel wurden na- tionalisiert. Die privaten Landwirte wurden in den 50er Jahren gewaltsam in Genossenschaften zusammenge- schlossen.

1956 kam Todor Zhivkov an die Macht, der das Regime ein wenig liberalisierte, ohne jedoch sein Wesen zu verän- dern. Er blieb alleiniger Staatschef bis zum Zusammen- bruch des kommunistischen Systems 1989.

Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes geht seitdem nur sehr langsam voran. Am 29. März 2004 wurde Bulgari- en in die NATO aufgenommen. Seine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union bekam das Land 2007. 10

Einfluss auf die Kultur und Küche

Aufgrund der langjährigen byzantinischen Unterjochung haben zahlreiche bulgarische Traditionen türkischen Ur- sprung - sei es in der Küche oder der Sprache.

Lediglich in der Architektur konnte das Land einen ei- genen Stil behalten: wurde eine Kirche zerstört, durfte sie nur neu erbaut werden, wenn sie tief in die Erde ein- gegraben war - auf keinen Fall durfte eine bulgarische Kirche höher sein als eine türkische Moschee. Das führte zu einer sehr eigentümlichen Bauweise, die für Bulgarien typisch ist.

Vor allem die Küche Bulgariens zeigt die Nähe, die seit Jahrhunderten mit der Türkei besteht. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Balkankriege die Grenzen rund um das nördliche Griechenland und östliche Serbien so oft verschoben, dass ganze Dörfer umgesiedelt wurden. Somit ist die berühmte Balkanküche, speziell die Bulga- riens, eine Ansammlung Serbischer, Griechischer, Türki- scher bzw. nahöstlicher Küchen.

Selbstverständlich haben in all den Ländern die jeweili- gen Speisen über die Jahre eine nachhaltige Individuali- sierung erhalten. So wird jeder Bulgare und jede Bulgarin ganz genau den feinen Unterschied zwischen beispiels- weise einem Börek und einer Banitza erkennen, oder auch zwischen einem türkischen und dem bulga- rischen Airjan. Nicht nur die geschmacklichen Nuancen sind unterschiedlich, sondern auch die jeweils etwas andere Art der Zubereitung. 11

Die Geschichten im Buch zeigen einen guten Überblick der sogenannten bulgarischen Spezialitäten - interessan- terweise musste ich meine Interviewpartner und Partner- innen nicht explizit danach fragen, sie stellten diese ganz von selbst in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen. 12

Die Bulgarin in mir von Ana Iankova

Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, antworte ich immer dasselbe: Ich bin in Bulgarien geboren, aber in Österreich aufgewachsen. Dabei habe ich in Bulgarien nur dreieinhalb Jahren gelebt. Gerade einmal lange ge- nug, um eine Kinderform der Sprache zu lernen und um die ersten wesentlichen Erinnerungen zu formen. Diese Erinnerungen sind allerdings so tief in meinem Unterbe- wussten eingebrannt, dass sie für meinen Alltag viel vor- dergründiger sind, als man vielleicht denken würde.

Interessanterweise handeln die meisten dieser Erinnerun- gen von Essen, Geschmack und Geruch. Während ich die bulgarische Sprache bereits kurz nach dem Eintreffen in Österreich komplett vergessen habe, können bestimmte Gerüche oder Geschmäcker plötzlich bruchstückartige Bilder in meinem Kopf verursachen. Wie in einem Tag- traum können diese Trigger meine frühkindlichen Erinne- rungen hervorrufen, wie dies sonst nichts vermag. Manch- mal suche ich bewusst diese Gerüche und Geschmäcker, um die Vergangenheit erneut erleben zu können. Aber es gelingt nie.

Ein gutes Beispiel ist die Weißkirschenkonfitüre. Diese war schon früher in Bulgarien eine Besonderheit, und nicht wenige versuchen, sie heute wieder aufleben zu lassen. Ich habe in Bulgarien, Österreich und Amerika alle Weißkirschenkonfitüren, die ich zufällig gefunden habe, gekauft und ausprobiert. Keine einzige entspricht dem Mythos, der in meinem Unterbewussten verankert ist. Dabei haben sich vor allem bulgarische Pensionistinnen in touristischen Regionen darauf spezialisiert, eben diese 13

alte Köstlichkeit zu produzieren. Eine andere Spezialität, die erwähnt werden muss, ist die Konfitüre aus grünen Feigen. Wobei echte Bulgaren mich vermutlich rügen würden für die saloppe Übersetzung dafür.

Es ist eben mehr als das. Während wir in der deutschen Sprache nur Marmelade und Konfitüre kennen, kommt im Bulgarischen der Zusatz „Sladko“ hinzu. Diese Form der Sladko, wörtlich über- setzt: „süß“. Es bezeich- Konfitüre sieht nicht nur anders aus, sondern wird auch net Konfitfrüchte der unterschiedlich zubereitet. Der Hauptunterschied besteht Balkanküche. Sie sind fester Bestandteil der darin, dass beim Sladko nur die allerbesten Früchte Ver- Willkommenszeremonie wendung finden. Sie werden zum Teil im Ganzen gelassen als Ausdruck von Gast- freundschaft. Das mit- und auf keinen Fall püriert, so wie es bei der Marmelade gereichte Wasser soll den Geschmackssinn der Fall ist. Wir sprechen hier also wirklich von einer Spe- neutralisieren. zialität. Und als es zu kommunistischen Zeiten noch keine große Auswahl an Schokolade oder Bonbonnieren gab, war es die Pflicht der Hausdame, ihre Gäste mit einem wohl ausgewählten Sladko zu empfangen. Dafür gab es eigens vorge­sehenes Geschirr – winzige Kristallschälchen mit kleinen Löffelchen, eine Kristallkaraffe für das Wasser und kleine, dazupassende Kristallgläser. Man kann sich vorstellen, dass das Sladko, das wörtlich übersetzt auch „süß“ bedeutet, unglaublich süß ist. So reichen auf den kleinen Schälchen zwei bis drei Löffel vom Sladko und man hatte genug. Sehr effizient das Ganze. Dadurch -er gaben sich beim Besuch wie von selbst die Gesprächsthe- men rund um die Herkunft der Früchte, die besondere Art des Einkochens und natürlich der Hinweis auf das selbst- verständlich beste und einzigartige Rezept, auf das jede Familie ihren Anspruch erhob. Sollten sie jemals nach Bul- garien reisen und zu Gast bei einer einheimischen Familie sein, wundern sie sich nicht, wenn ihnen gesagt wird, das 14

ihnen angebotene Sladko sei das beste und einzig wahre Sladko im ganzen Land. Aber auch wenn es noch so gut und einzigartig ist, es kommt niemals an meine Erinnerung heran.

Eine andere Erinnerung betrifft„Popara“ . Bulgaren wird Popara ist ein Gericht, das mit übrigem Brot das nicht wundern. Es gibt wohl niemanden unter den zubereitet wird. Darüber 7,1 Millionen Bulgaren, der oder die nicht mit Popara wird Lindenblüten- oder Schwarz­tee gegossen, aufgewachsen ist. Dieses Essen für Babys, Kleinkinder, es wird mit etwas aber auch für ältere Menschen besteht aus trockenem angereichert und mit Schafskäse bestreut. Weißbrot, das, je nach Alter des Kindes, in Wasser oder Tee aufgeweicht und mit Butter, Zucker sowie Schafskäse verfeinert wird.

Ja, mit Schafskäse. Bulgaren essen Schafskäse zu allem. Sie können problemlos zu ihrer Suppe, ihrem Hauptgang oder ihrer Nachspeise im Restaurant Schafskäse dazube- stellen, und niemand wird Sie eigenartig ansehen. Es scheiden sich die Geister darüber, welcher Tee zum Popara-Machen der richtige ist. Während die einen auf Lindenblütentee schwören, würden andere nie Popara ohne Schwarztee essen. Die Frage, ob Schafskäse hinzu- gegeben wird, stellt sich allerdings nicht. Ebenso finden sich auch Verfechter, die„“ mit Banitsa bezeichnet ein Blätterteig-Gebäck, das Staubzucker essen, sowie solche, die Joghurt zur Beilage mit Börek oder ver- wählen. wandt ist. Das Gebäck kann verschiedene Füll- ungen enthalten, jedoch Das sind die Feinheiten einer einfachen, aber der besten ist die verbreitetste aus Schafkäse. Gebacken Küche der Welt. wird sie meist in einer runden Form. Dazu wird Joghurt bzw. manchmal auch Zucker gereicht. 15

Grüne Feigen von Rumjana K.

Wenn die warme Jahreszeit beginnt und sich im Juni bereits der Sommer ankündigt, wenn die Luft einen nicht zu beschreibenden, wohligen und ein Kribbeln im Bauch aus­lösenden Geruch trägt, dann muss ich immer an grüne Feigen denken. Dieser Geruch, der Sommer, Freizeit, Sand und Meer prophezeit, ist für mich stets mit dieser unge- wöhnlichen Frucht verbunden.

Meine Familie machte zwei Mal im Sommer Urlaub – ein- mal im Juni, zu Beginn der Ferien, und dann noch ein- mal im August, wenn die Nächte nicht mehr ganz so heiß waren und man abends am Meer eine angenehme Brise spürten konnte.

Der Juniurlaub fand traditionell in Sozopol statt. Dorthin Sozopol ist zusammen mit „Nessebar“ die älteste fuhr ich immer mit meiner Mutter. Als Kind habe ich mich Stadt der Schwarzmeer- stets geschämt, dass wir an diesen Ort reisten. Kinder sind küste und liegt an der Südseite der Bucht von leicht zu beeinflussen, und nachdem alle anderen zu an- Burgas. Die Stadt ging gesagten Stränden nach Varna oder an den Goldstrand aus der griechischen Ko- lonie Apollonia hervor fuhren, dachte ich, Sozopol sei eigentümlich und eher für und war von der Antike an bis ins 17. Jahrhundert einfache Leute. eine florierende Handels- stadt, die den Ruf einer Winzer- und Fischerstadt Dazu muss man sagen, Sozopol ist eine über 2.100 Jah- hatte. Zudem war sie ein wichtiger Hafen für den re alte Stadt. Sie wurde bewusst in ihrer Ursprungsform Umschlag von Getreide erhalten, und schon deshalb war sie nie modernen Strö- aus Thrakien. Ab der Spätantike entwickelte mungen oder Veränderungen ausgesetzt. Während an- sich die Stadt zu einem dere Strände ausgebaut wurden und sie Gäste aus der Bischofssitz, dem im Mittel- alter mehrere Klöster DDR willkommen hießen, war Sozopol ein verschlafenes in der Stadt und in der Umgebung unterstanden. Nestchen. Wegen seiner Strände und seiner kulturhisto- risch wertvollen Bauten ist Sozopol ein überregi- onal bekannter Touristen- ort. Die Altstadt mit ihren Festungsmauern und Bauten wurde zum Freilichtmuseum erklärt. 16

Heutzutage kann sich die kleine Stadt vor Tagestouristen nicht mehr retten. Der Tourismus hat dabei leider auch seine Schattenseiten mitgebracht.

Wir lebten damals in Sofia und mussten den Nachtzug dorthin nehmen. So kamen wir stets in den Morgenstun- den an und brauchten immer ein Taxi, das uns vom Bahn- hof zu dem Haus, das wir jedes Jahr aufs Neue mieteten, beförderte. Sozopol ist übersät mit Feigenbäumen. Ihr Geruch durchdringt einfach alles. Und das war immer das Erste, was ich gerochen habe, wenn wir in den Morgen- stunden mit offenen Fenstern durch das Städtchen fuhren. Zur Zeit des Kommunismus war es selbstverständlich, dass sich jeder mit Früchten von den Bäumen ganz einfach be- dienen konnte. Wenn es Zeit war, nach Sofia zurückzufah- ren, haben wir auch so viele Feigen vom Baum gepflückt, wie wir nur konnten. Dafür haben wir streng die letzten Stunden vor der Abreise reserviert und sind mit duftenden Säcken in den Zug gestiegen. Das hat uns einerseits sehr glücklich gemacht, andererseits wussten wir auch, welche Arbeit auf uns zukommt, wenn wir einmal zu Hause waren. Das Ziel war natürlich, aus den grünen Feigen „Sladko“ zu machen – das ist wohl die feinste Spezialität, die sich aus Früchten machen lässt, gleichzeitig gehört es zu den auf- wändigsten Vorgängen, die ich kenne. Die mitgebrachten Feigen legten wir zunächst für zwei bis drei Tage in ein mit Kupfersulfat versetztes Wasser. Danach stachen wir mit ei- ner Nadel die Frucht rundherum ein. So konnte die weiße, giftige Flüssigkeit entfernt werden, die sich in der Schale befindet, solange die Frucht noch grün ist. Danach kom- men die Früchte erneut ins Wasser, das insgesamt drei Mal gewechselt werden muss, bevor man sie einkochen kann. 17

Der Große Unterscheid von Sladko zur Marmelade ist, dass für Sladko ganze Früchte verwendet werden, es wur- de also nichts zugeschnitten. Die ganzen Früchte wurden in ein Gemisch aus Wasser und Zucker eingelegt, wobei man sehr darauf achten muss, dass der Zucker nicht ka- ramellisiert oder gar anbrennt. Die Hände meiner Mutter wurden bei der Prozedur total schwarz. Als Kind dachte ich, das sei einer der schrecklichsten Tätigkeiten über- haupt und dass ich gewiss nie in meinem Leben so etwas freiwillig machen würde, wenn ich einmal groß bin. Der Geruch, der beim Kochen entweicht, ist allerdings einmalig. Der Geschmack ist auch grandios, aber nichts kommt an diesen Geruch heran, der noch Tage nach dem Einkochen unser Haus durchströmte.

Und so, immer wenn der Juni den Sommer ankündigt, denke ich an meine Mutter, an unser gemeinsames Ritual und an den unvergesslichen Geruch von grünen Feigen. 18

Buchkonzept

Mein erster Ursprungsgedanke zu diesem Projekt war es ein bulgarisches Kochbuch zu machen. Als ich jedoch begonnen habe, meine bulgarischen Kontakte mit dem Thema zu konfrontieren, sie mich wiederum an weitere Kontakte verwiesen und der Kreis so immer größer wurde, habe ich schnell gemerkt, dass die Leute über viel mehr als nur über Speisen erzählten. So haben sich in die Ge- schichten zahlreiche Verweise auf das allgemeine Leben, Traditionen und bulgarische Eigenheiten eingefunden. In der Auseinandersetzung mit der Arbeit kristallisierte sich zusehends heraus, dass trotz der individuellen Ein- zelgeschichten das Buch eine kollektive Erinnerungsform an die Jahre des kommunistischen Alltags repräsentiert. Aus dem heraus ergab sich automatisch die glossarartige Form in den Marginalien des Buchs.

Die 12 vorliegenden Geschichten sind eine Auswahl die ich als repräsentativ für die Arbeit gewählt habe - meine Interview­partner sind die Autoren und Autorinnen der Geschichten. Ich fungiere in der Rolle der Lektorin, der Gestalterin und der Herausgeberin. Zusätzlich habe ich meine eigene Geschichte als erste ins Buch eingereiht, da man dadurch meine persönliche Intention besser nach- vollziehen kann. Die Leserinnen und Leser werden bemer- ken, dass sich meine Geschichte von den anderen unter- scheidet. Das hat natürlich damit zu tun, das ich nur einen sehr geringen Teil meines Lebens dort verbracht habe und meine Erinnerungen eher aus dem Unterbewusstsein kommen als aus einem tatsächlichen Wissen. Dies war der ursprüngliche Grund mich in erster Linie mit dem Thema des Buches auseinander zu setzen. 19

Das Buch als Ganzes weist einen feinfühligen, liebevollen und emotionalen Charakter auf. Es ist eine feine Arbeit, die nicht auf plakative Mittel setzt, sondern der Ästhetik ihren Raum gibt. Die sinnlichen Eindrücke der Rezipienten werden zusätz- lich zu den Erzählungen durch Fotografie , Illustration und den Einsatz von Farbe unterstützt. 20

Aufbau des Buchs

Jede Erzählung hat einen eigenen Titelseite. Diese führt 16 den Titel, der beschreibend für den jeweiligen Inhalt steht, sowie den Autor der Geschichte. Darüber hinaus ist die Titelseite in eine für die Geschichte repräsentative Farbe gehalten.

Die Geschichten-Titelblätter sind mit deskriptiven Illustra- Die Bulgarin in mir tion versehen, links davon ist jeweils ein szenenhaftes Foto, von Ana Iankova gleichsam als Intro auf den Inhalt, platziert.

Die Begriffe, die in den Marginalien erklärt werden, sind 16 17

Wenn mich jemand fragt, woher ich kom­ Sladko, wörtlich über- gefunden habe, gekauft und ausprobiert. Keine me, antworte ich immer dasselbe: Ich bin in setzt: „süß“. Es bezeich- einzige entspricht dem Mythos, der in meinem net Konfitfrüchte der Bulgarien geboren, aber in Österreich auf­ Unterbewussten verankert ist. Dabei haben bei ihrer ersten Erwähnung im Text unterstrichen hervor- Balkanküche. Sie sind gewachsen. Dabei habe ich in Bulgarien nur fester Bestandteil der sich vor allem bulgarische Pensionistinnen in dreieinhalb Jahren gelebt. Gerade einmal Willkommenszeremonie touristischen Regionen darauf spezialisiert, als Ausdruck von Gast- lange genug, um eine Kinderform der Sprache freundschaft. Das mit- eben diese alte Köstlichkeit zu produzieren. zu lernen und um die ersten wesentlichen Er­ gereichte Wasser soll Eine andere Spezialität, die erwähnt wer­ innerungen zu formen. Diese Erinnerungen den Geschmackssinn den muss, ist die Konfitüre aus grünen Feigen. gehoben. Bei allen weiteren Aufkommen wird nicht mehr neutralisieren. sind allerdings so tief in meinem Unterbe­ Wobei echte Bulgaren mich vermutlich rügen wussten eingebrannt, dass sie für meinen All­ würden für die saloppe Übersetzung dafür. Es tag viel vordergründiger sind, als man viel­ ist eben mehr als das. Während wir in der leicht denken würde. deutschen Sprache nur Marmelade und Kon­ explizit darauf verwiesen. Begriffe bulgarischer Sprache Interessanterweise handeln die meisten fitüre kennen, kommt im Bulgarischen der Zu­ dieser Erinnerungen von Essen, Geschmack satz „Sladko“ hinzu. Diese Form der Konfitüre und Geruch. Während ich die bulgarische sieht nicht nur anders aus, sondern wird auch Sprache bereits kurz nach dem Eintreffen in unterschiedlich zubereitet. Der Hauptunter­ Österreich komplett vergessen habe, können schied besteht darin, dass beim Sladko nur bestimmte Gerüche oder Geschmäcker die allerbesten Früchte Verwendung finden. sind in kursiv gesetzt. plötzlich bruchstückartige Bilder in meinem Sie werden zum Teil im Ganzen gelassen und Kopf verursachen. Wie in einem Tagtraum auf keinen Fall püriert, so wie es bei der Mar­ können diese Trigger meine frühkindlichen melade der Fall ist. Wir sprechen hier also Erinnerungen hervorrufen, wie dies sonst wirklich von einer Spezialität. Und als es zu nichts vermag. Manchmal suche ich bewusst kommunistischen Zeiten noch keine große Unterbrochen wird der Text durch eine weitere Illustrati- diese Gerüche und Geschmäcker, um die Auswahl an Schokolade oder Bonbonnieren Vergangenheit erneut erleben zu können. gab, war es die Pflicht der Hausdame, ihre Aber es gelingt nie. Gäste mit einem wohl ausgewählten Sladko Ein gutes Beispiel ist die Weißkirschenkon­ zu empfangen. Dafür gab es eigens vorge­ fitüre. Diese war schon früher in Bulgarien sehenes Geschirr – winzige Kristallschälchen onsseite, wo jeweils ein zentrales Zitat aus der Geschichte eine Besonderheit, und nicht wenige versu­ mit kleinen Löffelchen, eine Kristallkaraffe für chen, sie heute wieder aufleben zu lassen. Ich das Wasser und kleine, dazupassende Kris­ habe in Bulgarien, Österreich und Amerika tallgläser. Man kann sich vorstellen, dass das angeführt ist. Dabei stehen das Zitat und die Illustration alle Weißkirschenkonfitüren, die ich zufällig Sladko, das wörtlich übersetzt auch „süß“ be­ in direkter Verbindung. Der Abschluss der Geschichte ist

jeweils eine Kurzbiografie des Autors oder der Autorin, be- 19 „Ich habe in Bulgarien, deutet, unglaublich süß ist. So reichen auf den Popara ist ein Gericht, kleinen Schälchen zwei bis drei Löffel vom das mit übrigem Brot zubereitet wird. Darüber Sladko und man hatte genug. Sehr effizient gleitet von einem Portraitfoto, teils szenenhaft inszeniert. Österreich und Amerika wird Lindenblüten- oder das Ganze. Schwarz tee gegossen, Dadurch ergaben sich beim Besuch wie es wird mit etwas Butter angereichert und mit von selbst die Gesprächsthemen rund um die alle Weißkirschenkon- Schafskäse bestreut. Herkunft der Früchte, die besondere Art des Einkochens und natürlich der Hinweis auf fitüren, die ich zufällig das selbstverständlich beste und einzigartige Rezept, auf das jede Familie ihren Anspruch erhob. Sollten sie jemals nach Bulgarien reisen gefunden habe, gekauft und zu Gast bei einer einheimischen Familie sein, wundern sie sich nicht, wenn ihnen ge- sagt wird, das ihnen angebotene Sladko sei und ausprobiert“ das beste und einzig wahre Sladko im ganzen Land. Aber auch wenn es noch so gut und ein- zigartig ist, es kommt niemals an meine Erin- nerung heran. Eine andere Erinnerung betrifft „Popara“. Bulgaren wird das nicht wundern. Es gibt wohl niemanden unter den 7,1 Millionen Bulgaren, der oder die nicht mit Popara aufgewachsen ist. Dieses Essen für Babys, Kleinkinder, aber auch für ältere Menschen besteht aus trocke- nem Weißbrot, das, je nach Alter des Kindes, in Wasser oder Tee aufgeweicht und mit But- ter, Zucker sowie Schafskäse verfeinert wird. Ja, mit Schafskäse. Bulgaren essen Schafskäse zu allem. Sie können problemlos zu ihrer Sup- pe, ihrem Hauptgang oder ihrer Nachspeise im Restaurant Schafskäse dazubestellen, und niemand wird Sie eigenartig ansehen.

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Ana Iankova wurde 1986 in Bulgarien in Sofia geboren. Vier Jahre später zieht sie mit ihrer Mutter nach Österreich. Nach zwei Jahren Studium der Anglistik und Theaterwissenschaften entschloss sie sich dazu, Grafikdesign zu studieren. 21

Illustrationen

Als ich mit vier Jahren meine Muttersprache verlernte, konnte ich für ca. 13 Jahre nicht mehr direkt mit meinem Vater kommunizieren. Ständig musste jemand dabei sein, der für uns übersetzte. So unterhielten wir uns eher an der Oberfläche. Dabei sahen wir uns nur einmal im Jahr und es gab viel zu erzählen. Hätten meine Großeltern nicht darauf bestanden, dass er Arzt wird, hätte er sicher einen künstlerischen Beruf gewählt, denn er ist ein ausgesprochen guter Zeichner, mit einem ausgesprochen feinfühligen Sinn für Ästhetik. So kommunizierten wir in der Zeit, in der wir nicht mitein- ander sprechen konnten, oft über Gezeichnetes. Fuhren wir beispielsweise, wie jeden Sommer, mit dem Zug quer durch Bulgarien, hatten wir ein Skizzenheft in dem wir eine Art Zeichen-Ping-Pong spielten. Er zeichnete etwas für mich, ich antworte mit einer Zeichnung zurück. Zurück zuhause, ich in Wien, mein Vater in Amerika, bekam ich regelmäßig Briefumschläge mit Zeichnungen von ihm. Sie konnte ich, anders als das Geschriebene, für mich selbst deuten. In den nächsten Jahren wies meine Art zu zeichnen und zu schreiben den identen Stil meines Vaters auf. Ich war bei weitem nicht so gut wie er, doch die künstlerische Bega- bung die ich habe, habe ich definitiv von ihm geerbt. Und sie ist es, die mich oft motiviert daran zu arbeiten. So entschloss ich mich, für dieses Projekt die Zeichnun- gen, die neben der Fotografie die Geschichten erzählen, selbst zu illustrieren.

In jeder Geschichte sind zwei Illustrationen zu finden. 35 Gemeinsam mit der - zu Beginn jeder Geschichte stehenden Fotografie- leitet eine Zeichnung in die Geschichte ein.

A Hundred Kilos of Mushrooms by Iglika Petrova 22

Sie befindet sich stets auf der rechten Seite und weist ein „Icon“ auf. Dieses soll für das Grundelement, die Essenz, der Geschichte stehen.

Die zweite Illustration, die in jeder Geschichte zu finden 29 „Morgens, wenn er den Trocknen aufgehängt. Abends war es meine Aufgabe, die Fische abzunehmen, damit sie ist, erzählt hingegen einen konkreten Moment aus der Er- mitgebrachten Fisch vom Morgentau keine Feuchtigkeit aufnehmen. Müde von der Nacht schlief er vormittags, während wir an den Strand gingen. Am späten ausgenommen hat, war- Nachmittag ging er erneut los, dieses Mal, um mit seinem Kescher im seichten Wasser rund um die Klippen Garnelen zu fischen. Diese zählung, und baut aus wenigen Strichen einen Raum auf. teten schon alle Katzen waren nicht zum Essen gedacht, sondern fun- gierten als Köder. Garnelenköder waren wichtig, denn nur damit ließen sich auch die der Umgebung auf beliebten Palamiden (Palamut) oder Grundeln (Poptscheta) fangen. Manchmal kam mein Vater mit uns zum die Fischinnereien.“ Strand. Dann passte er auf meine kleine Schwester auf, während meine Mutter und ich in den Damen-FKK-Bereich (der im Bulgari- schen liebevoll „Strand der Eva“ genannt Die Illustrationen sind mit Tusche gemalt, da der Pin- wird) oder ins Wasser gingen. Übernächtig schlief er fast immer ein und holte sich einen schlimmen Sonnenbrand. Einmal war während so eines solchen Strandnickerchens meine damals vierjährige Schwester verschwunden, sel und die Farbe für mich etwas sehr Sinnliches haben was verständlicherweise für große Aufregung sorgte. Glücklicherweise wurde sie bald spie- lend im seichten Wasser wiedergefunden. Die Sommerurlaube in Achtopol waren fern von jedem Luxus, es fehlten sogar die und so zur emotionalen Stimmung des Buchs passen. Sie elementarsten Bequemlichkeiten. Unser Quartier, immer zur Untermiete bei der glei- chen Familie, bestand aus einem einzigen verkörpern das sinnliche Erlebnis der Vergangenheit, das Zimmer. Das war nicht weiter schlimm, da einem Tagtraum gleich, in die Gegenwart Einzug hält.

Während die Fotografien zu Beginn der Geschichten die Leser vor allem auf rationale Weise einleiten, haben die Illustration die Möglichkeit das sinnenhafte Hineinverset- zen auszulösen und bieten so eine Ebene, die über die Realistische hinaus geht. 23

Farbe

Im Buch herrscht ein Kontrast zwischen schwarz-weiß und Farbe: in den einleitenden Doppelseiten der Geschichten wird, neben den meist schwarz-weißen Fotos, stets eine Farbfläche gezeigt. Diese spiegelt die in den Geschichten malerisch gezeichneten Farben wieder und steht gemein- sam mit der iconhaften Illustration repräsentativ für den Inhalt der Geschichte. Die Farbe dient zudem als Erken- nungsmerkmal, formt die Geschichte zu einer Einheit und stellt diese im Buch individuell dar. So sind auch die Bio- grafien, in den jeweils letzten Seiten der Geschichten, in der gleichen Farbe gesetzt und zeigen so die Zugehörig- keit der Biografie zur Geschichte. Auf diese Weise entsteht für jede Geschichte eine eigene „Geschichtsfarbe“.

In diesem Sinne ist auch die Farbfläche der zweiten Il- lustration, über die jede Geschichte verfügt, in der „Ge- schichtsfarbe“ gehalten. Um die Vielseitigkeit des Inhalts der einzelnen Geschichten zu zeigen, ist allerdings die „Geschichtsfarbe“ in den unterschiedlichen Anwendun- gen leicht adaptiert – konkret wurde die Deckkraft vom Hauptton jeweils prozentuell verringert.

Die Farben der Illustrationen selbst sind pro Geschichte 95 ident, wirken aber durch den leicht veränderten Hauptton darunter als wären es andere Nuancen der Farbe.

Baba und Djado von Marina Delcheva

99 „... sie riechen, wenn und ich lagen noch im Bett und konnten rie­ chen, was langsam zum Frühstück aufgetischt man schon in ihre Nähe wurde. Das Kinderzimmer, in dem wir schliefen, war das klassisch kommunistische Kinder­ kommt und sind zimmer. Wir schliefen in Gußeisenbetten, und der Rest des Zimmers war in den klassischen dunklen Holzmöbeln eingerichtet. Auch die total süß, sodass man Wohnzimmergarnitur entsprach diesem Stil – besonders wichtig war das „Buffet“, der Wohn­ zimmerschrank, der oben verglast und unten nichts anderes dazu mit Türen zu öffnen war. Darin wurden Prali­ nen für besondere Gelegenheiten, die schö­ nen Services, Likör und Schnaps aufbewahrt. braucht. Außer vielleicht Aus der Küche drang der Geruch von fetti­ gem, leicht süßem Essen in unser Kinder­ zimmer, und ich wusste, es gab Mekitzi. Das ist Schafskäse.“ eine ganz besondere Erinnerung für mich, da ich seit dem Tod meiner Großmutter es nicht ansatzweise schaffe, sie so hinzubekommen, wie sie damals geschmeckt haben. Sie hatte ein ganz eigenes Rezept, welches sie uns auch hinterlassen hat. Weder ich noch meine Kusi­ nen jedoch bekommen es so hin, wie es da­ mals geschmeckt hat. Auch ihre Marmeladen hat sie alle selbst gemacht – mit Himbeeren, die sie selbst im Garten angebaut hatte. Manchmal gab es auch Hagebuttenmarme­ lade, auch sie hat meine Großmutter in einer langwierigen und aufwändigen Arbeit aus Trocknen, Stampfen, Kochen und Sieben zu­ bereitet. Mein Großvater hielt einige Bienen­ 24

Fotografie

Jeder Autor und jede Autorin hat mir zahlreiche Foto- grafien zur Verfügung gestellt, aus denen ich zwei pro Geschichte ausgewählt habe. Das erste Bild steht für eine Szene rund um die erzählte Geschichte. Sie geht auf den Ort des Geschehens bzw. auf Personen die Teil der Ge- schichte sind ein.

Diese Fotografie wird einleitend neben dem Titel und dem Autor gezeigt. Das zweite Bild steht am Ende der Erzäh- lung und zeigt ein Portrait des Autors, welches auch aus der Zeit der Erzählung stammt.

Beim Lesen der Geschichte werden Bilder im Kopf er- zeugt. Man fragt sich wie wohl die beschriebene Person aussieht und wie sie wohl im echten Leben war. Auf der letzten Seite - bewusst mit Abstand zum Text - zeigt sich diese Person nun. Wie das oft als Stilmittel eingesetzt wird, bei fiktionalen Verfilmungen über das Leben realer Men- schen, wo häufig im Abspann ein Foto der realen Person gezeigt wird. Hier wird mit einem simplen meist veralteten Bild dem Betrachter die Realität verdeutlicht.

Viele der Fotos sind ihrer Zeit entsprechend in schwarz- weiß und weisen eine typische Körnung und andere Merkmale auf. Das unterstützt den zum Teil nostalgischen Charakter des Buchs auf der Bildebene. 25

Typografie Im Buch werden zwei Schriftarten verwendet. Der Fließtext Wigrum light ist in der Schrift „Wigrum“ light gesetzt. Sie wurde 2011 von Emmanel Besse und Jean-Baptiste Levée, die Studio Feed angehören, gestaltet. Bei der Gestaltung der Schrift war das Ziel humane Züge zu Geometrie zu fügen. So weist sie gerade, rationale Formen auf, die aber mit Hilfe optischer Korrekturen optimal für angenehmes Lesen gestaltet wurde. Obwohl man „Wigrum“ als „rationale Schrift“ betrachten kann, verfügt sie dennoch über genü- gend Persönlichkeit, die sich vor allem in den ungewöhnli- chen Details des „W“, „g“, „R“ und „S“ zeigt.

Die Schrift wurde für das Buch aufgrund ihres bequemen Lesecharakters für den Fließtext ausgewählt. Sie ist einer- seits neutral genug für ein Lesebuch, passt aber mit ihren ausgefallenen Formen gut zum individuellen Charakter jeder Geschichte.

Die zweite im Buch verwendete Schrift ist „Larish Alte“, in der alle Zitate gesetzt wurden. Sie verfügt über interes- Larish Alte sante Details, die vor allen in einer größeren Ansicht gut zur Geltung kommen.

Die Namen der Geschichten und der Autoren wurden in „Larish Neue“ gesetzt, die weniger Details zeigt und in der Larish Neue benötigten Schriftgröße 9 besser funktioniert.

Hervorhebungen im Text sind unterstrichen, sie verweisen auf die Erklärungen in den Marginalien. Auch dort ist das betreffende Wort durch Unterstreichung hervorgehoben. Um bulgarische Begriffe sofort als solche zu identifizieren, sind sie kursiv gesetzt. 26

Gestaltung Buchcover und Einband

Format: 130x190mm Verarbeitung: geleimte, offene Fadenheftung, offener Rücken mit sichtbarem Zwirn Cover: Leineneinband in Elfenbein

Die Größe des Formats, der Leineneinband und die da- zugehörige Titelprägung wurden gewählt, um instinktiv an einen Roman zu erinnern. Dies unterstreicht das Erzäh- lerische der Geschichten, und fordert dazu auf das Buch mehr in Form eines Romans zu genießen in dem es in seiner Gesamtheit von vorne bis hinten gelesen und nicht als touristisches Nachschlagewerk verwendet wird.

Die helle Farbe des Einbands ist bewusst neutral gestal- tet, um den jeweiligen „Geschichtsfarben“ ihren Raum zu geben. Die Tatsache, dass der helle Einband schnell verschmutzen kann, ist dabei positiv zu werten - es ist ein Buch, das leben soll, das man gerne mehrmals liest und es vielleicht gerne mit in die Tasche nimmt. Der Titel des Buchs ist nicht selbsterklärend - ganz im Ge- genteil wurde er so gewählt, dass er möglichst Spannung aufbaut, da man nicht weiß, was er bedeutet. Aufgrund dessen ist es zwingend notwendig in einem Untertitel den Inhalt des Buchs möglichst gut zu erklären Dies geschieht auf der Banderole, die zusätzlich zu ihrem funktionalen Einsatz, auch einen spannenden haptischen Kontrast zum Leinen bietet. 27

Titel Ostavame. Wir bleiben.

Das bulgarische Wort ostavame, übersetzt „wir bleiben“, das als Titel eingesetzt wurde, baut Spannung auf, da man es nicht versteht und nicht automatisch weiß worum es geht. Der Untertitel löst die Spannung auf und führt de- skriptiv den Inhalt des Buchs an.

Ostavame bezieht sich auf das Abschlusslied in dem berühmtesten bulgarischen Film namens „Band ohne Namen“ aus dem Jahr 1981, von Ljudmil Kirkov. In dieser Komödie sind nicht nur die berühmtesten Schauspieler des Landes zu sehen, er zeigt vor allem ein Spiegelbild des damaligen Lebens.

Im Mittelpunkte der Geschichte steht eine Band, die eine Saison lang an der Schwarzmeerküste auftreten soll. Die behördlichen Schwierigkeiten, das Leben mit den ost- deutschen Touristen und Situationshumor mit angetrun- kenen Hotelgästen zählen zu den witzigsten Ereignissen des Films. Zum Ende des Films, der Herbst hat bereits ein- gesetzt, blickt die Band auf einen ereignisreichen Sommer zurück. Nostalgisch, beschließen sie „zu bleiben“. Man sieht die Protagonisten am bereits tristen Strand ste- hen. Während man das Lied „ostavame“ aus dem Off hört, steigt die Gruppe ins Auto ein und fährt davon. Das Meer bleibt im Fokus - so lässt der Schluss offen, ob sie tatsäch- lich geblieben sind. Was aber klar ist: im Herzen werden sie immer dort sein. Ähnlich wie im Film, sind alle Personen die im Buch ihre Geschichten erzählen, nicht in Bulgarien geblieben, im Herzen sind sie aber mit dem Land stets verbunden.

Bei Bulgaren wird der Titel zusätzlich eine Erinnerung auslösen – es ist sozusagen ein „Insider“. 28

Resümee

Durch die vielen detaillierten und persönlichen Geschich- ten, die ich für das Buch gesammelt habe, hat sich mein Bewusstsein und mein Gefühl dem Land gegenüber ver- ändert. Nicht nur, dass ich nun besseren Einblick in man- chen Traditionen habe, die Geschichten haben in mir die Lust geweckt wieder nach Bulgarien zu reisen und ich bin überzeugt, dass ich diese Reise nun ganz anders als frü- her wahrnehmen werde.

Die Arbeit am Buch wurde durch zahlreiche Familien- abende begleitet, wo ich meine Mutter und meine älteren Schwester mit Fragen durchlöchert habe, um manche Details in den Geschichten besser verstehen zu können. So hat eine Interviewpartnerin beispielsweise stets von einem blauen Stein gesprochen, der ins Wasser zur Marmela- denherstellung beigegeben wird. Zunächst dachte ich die Dame hätte einen esoterischen Zugang, bis mich meine Mutter aufklärte, dass das nichts anderes als Kupfersul- fat bedeutet. Der Inhalt der Geschichten hat auch immer großen Guster in uns geweckt und nicht selten sind diese Abende mit und Schopska Salata verklungen.

Ein sehr positives Erlebnis hatte ich als mir der Lektor das korrigierte Buch übermittelte. Er hat mit seiner beiläufi- gen Bemerkung genau mein Ziel des Buchs erfasst und mir quasi unabsichtlich gezeigt, dass mein Konzept aufge- gangen ist. Er meinte, dass es bereichernd und interessant war die Geschichten zu lesen, dass sie zum Teil lebhafte Vorstellungen in ihm geweckt haben und nicht zuletzt, dass ihm als Österreicher zahlreiche der Inhalte geläufig waren, da er vor Jahren mit einer Bulgarin zusammen war. 29

Literaturverzeichnis

BARTHES, Roland. Mythen des Alltags, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2010

HRISTOVA, Jonka. Bulgarien. Eine Entdeckungsreise durch 2500 Jahre Geschichte und Kultur. Verl. Bulgarska Knijnitza, Sofia, 2002

NJAGULOV, Blagovest. Geschichte der Bulgaren. Lehrbuch für ausländische Bürger, für Aufnahmeprüfungen an Höher Bilden- den Schulen in Republik Bulgarien. Verlg. Damjan Jakov Sofia, 2004

GEIER, Wolfgang: Bulgarien zwischen West und Ost vom 7. bis 20. Jahrhundert: sozial und kulturhistorisch bedeutsame Epo- chen, Ereignisse und Gestalten. Harrassowitz; Wiesbaden 2001

Online Quellen http://de.wikipedia.org/wiki/Bulgarien (aufgerufen am 1. Juni 2017) http://www.imdb.com/title/tt0205306/ (aufgerufen am 1. Juni 2017)