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Ausgabe 3/2010

KULTURREPORT KULTURREPORT Fortschritt Europa Fortschritt Europa Fortschritt Europa

Europa liest – KULTURREPORT • • KULTURREPORT Literatur aus Europa ist weltweit bekannt und Literatur in Europa beliebt. Doch innerhalb Europas hält sich das Interesse untereinander in Grenzen. Über 50 Prozent aller Übersetzungen in andere europäi- sche Sprachen stammen aus dem Englischen oder Amerikanischen. Die dritte Ausgabe des Europa in Literatur – liest Europa Kulturreports beschäftigt sich mit der Literatur in Europa und dem europäischen Buchmarkt. Aus Sicht namhafter europäischer Autoren wie u.a. Umberto Eco, Rafik Schami, Tim Parks, oder Slavenka Drakulic wird die Rolle der Literatur und Kultur in Europa hinterfragt. Kann europäi- sche Literatur eine strategische Rolle überneh- men, um dem Kontinent zu einem noch immer vermissten Gemeinschaftsgefühl zu verhelfen? Welche Fortschritte oder Rückschritte sind in den letzten Jahren auf dem Weg zu einer euro- päischen Kultur zu verzeichnen?

ISBN 978-3-921970-99-7 1 Kulturreport Fortschritt Europa Kulturreport Fortschritt Europa

Von der Liebeserklä- rung bis zum sicheren Weg zum Ruhm Für den einen ist es ein Objekt größter Begierde, für den anderen ein Vehikel für den beruflichen Erfolg: Jeder Autor hat ein ganz persönliches Verhältnis zum Buch. Kann es die europäische Identität stärken? Welche Rolle spielt die Literatur in Europa?

Umberto Eco, Rafik Schami, Ulrike Draesner, Tim Parks, Andrea Grill: Fünf der 33 Autoren aus 18 Ländern, die sich in dieser Ausgabe des Kulturreports mit der Literatur in Europa und dem europäischen Buchmarkt beschäftigten. Sie schreiben über die Liebe zum Buch, untersuchen das Leseverhalten in Eu- ropa, diskutieren die Zukunft des gedruckten Wortes und gehen der Frage nach, ob es eine europäische Literatur gibt. Und: Sie wollen herausfinden, welche Fortschritte in den vergangenen Jahren in den euro- päischen Kulturbeziehungen zu verzeichnen sind.

Vorwort Erlesenes Europa Von Ingrid Hamm 4 Die Kamele Europas Von Sebastian Körber 5

1. europa liest

Welche Bindung schafft das Buch?

Eine Liebeserklärung Von Umberto Eco 10 Jenseits des Politbüros Von Adam Thorpe 18 Angstfreude am Untergang Von Rüdiger ­­­­­­­­Wischenbart 26 Lesefrust und Leselust Von Angus Phillips 34 Warum ich trotzdem übersetze Von Holger Fock 42 „To be translated or not to be“ Von Gabriella Gönczy 50

2 Inha lt

S chranken zu Schnittstellen Von Steve Austen 56 Raus aus der Nische ins Rampenlicht Von Eleftherios Ikonomou 60 Das Schöne und sein Preis Von Hubert Winkels 64 Vernetzte Räume Von Sigrid Bousset 72 Schreiben in der Fremde Von Carmine Chiellino 76 Lernen von den Eidgenossen Von Beat Mazenauer und Francesco Biamonte 82 Sprachliche Supermacht Von Emma House 76 Vom Lesen zur Kommunikation Von Tanya Andrews und Patrick Hart 89 Kleine und große Übersetzernationen Von Josep Bargalló 92 Verspäteter geistiger Systemwechsel Von László L. Simon 96 Der lange Schatten des Sokrates Von Stefano Zangrando 100

2. Fortschritt Europa?

Wie Schriftsteller die Rolle von Kultur in Europa sehen

Mittler zwischen den Kulturen Von Rafik Schami 110 Alt, aber nicht unbedingt klug Von Ulrike Draesner 118 Sicherer Weg zum Ruhm Von Tim Parks 126 Ich glaube nicht an Europa, ich glaube an die Kultur Von Sigitas Parulskis 134 Der gärende Bauch des alten Kontinents Von Antonio Moresco 140 Tanz auf dem Drahtseil Von Alban Lefranc 148 Nützlicher Kit Von Dubravka Ugrešić 154 Wenigstens wie Kollegen Von Andrea Grill 164 Das Anti-Europa Von Slavenka Drakulić 170 Kultur der Angst Von Beqë Cufaj 177 Zwischen den Polen Von Glenn Patterson 186 Geistige Esel der Beladenen Von Eeva Park 194 Wo das Meer endet und das Land beginnt Von Isabel Capeloa Gil 199 So nah und doch so fern Von Immanuel Mifsud 203

3 Vor wort

E rlesenes Europa eher ab. Griff vor acht Jahren noch jeder dritte Deutsche regelmäßig zum Buch, ist es heute nur noch jeder vierte. Eine britische Studie hat ergeben, dass rund ein Viertel aller Briten überhaupt nie ein Buch liest und weitere sieben Prozent nur dann, wenn sie im Urlaub sind. ennen Sie Eeva Park, die estnische Erfolgsautorin? Oder Doch dies ist nur eine Seite der Me- Sigitas Parulskis, das Enfant terrible der lettischen Lite- daille. Es gibt auch positive Entwick- ratur? Auch Slavenka Drakulić, eine der bekanntesten lungen. Immer neue Literaturfestivals, SKchriftstellerinnen Kroatiens, deren Romane und Sachbücher Autorenresidenzen und Literaturhäuser in viele Sprachen übersetzt wurden, dürfte einem großen Teil verändern das literarische Leben in Euro­ des europäischen Publikums unbekannt sein. Selbst der Ruhm pa. Nationale Kulturinstitute schicken des britischen Bestsellerautors Tim Parks beginnt außerhalb Literaten auf Lesereisen. In etlichen eu- der Insel deutlich zu verblassen. Alle vier genannten Schrift- ropäischen Ländern gibt es mittlerwei- steller gehören zu den 33 Autoren aus 18 Ländern, die sich an le Übersetzerstipendien und es werden Ingrid Hamm, dieser dritten Ausgabe des Kulturreports „Fortschritt Europa“ Übersetzungsrichtlinien entwickelt, um Geschäftsführerin der Robert Bosch beteiligt haben. Literatur über Ländergrenzen zu bringen. Stiftung Kann Literatur in Europa zu mehr Wissen über den Nach- Das von der Robert Bosch Stiftung ge- barn beitragen und Brücken zwischen den Menschen bau- förderte Netzwerk HALMA (griechisch en? Ist die Literatur trotz der Zersplitterung des europäischen „Sprung“) verbindet literarische Zentren Buchmarkts in der Lage, die interkulturelle Verständigung in Europa, organisiert interkulturelle Be- zu befördern oder gar dem Kontinent zu einer oft vermissten gegnungen und lässt die Akteure des lite- Identität zu verhelfen? Das sind zwei der Schlüsselfragen dieser rarischen Lebens –Autoren, Übersetzer, Ausgabe des Kulturreports. Die Hürden sind hoch: Ein Großteil Vermittler – die Vielfalt der verschie- aller Übersetzungen in andere europäische Sprachen stammt denen Kulturen erleben. aus dem Englischen. Von einigen Ausnahmen abgesehen sind All dies sorgt dafür, dass Sprachgren- vor allem Autoren aus Mittel- und Osteuropa im Westen nach zen überwunden werden können. Ange- wie vor fast unbekannt. Wer versucht, in einem griechischen sichts der aufkommenden neuen Medien Buchladen einen Roman aus Estland zu finden, wird nicht geht es in Europa vor allem darum, die fündig werden. Einen literarischen Übersetzer etwa vom Por- junge Generation für das Lesen zu begeis­ tugiesischen ins Griechische und umgekehrt gibt es nicht. Und tern. Ob dies nun mit einem konventi- wenn, dann würde sein Einkommen unterhalb der Armuts- onellen Buch geschieht oder mit einem grenze liegen. „Warum ich trotzdem übersetze“, meldet sich E-Book, ist zweitrangig. daher ein Vertreter des leidgeprüften Berufstands hier zu Wort. Allen Lesern des Kulturreports wün- Auch die Literatur Europas, die tatsächlich übersetzt wird, sche ich eine anregende Lektüre und muss nicht unbedingt das gegenseitige Verständnis fördern, Neugier auf bekannte und unbekannte sondern „bestärkt aufgrund der Notwendigkeit guter Verkaufs- Literaten. Mein Dank gilt den Autoren zahlen die alten Klischees: skandinavische Schwermut, pol- und Übersetzern, die die Vielfalt der Li- nisches Trauma, französischer Sex“, stellt Adam Thorpe fest. Er teratur in Europa widerspiegeln. bedauert, dass jene Zeiten vorbei seien, in denen wir einzig und allein Norwegisch lernten, um Ibsen lesen zu können. In der Tat nimmt die Lust am Lesen in vielen europäischen Ländern

4 Vor wort

Die Kamele Europas der Kulturen befördern, für naiv. Dass das Thema Europa einen Antrieb zum Schreiben liefern könnte, lehnt er genau- so ab wie Literaturförderung auf europä- ischer Ebene. Den Gedanken, dass die EU darüber entscheide, welcher Schrift- steller gefördert wird und wer sich selbst er schreibt, der bleibt, sagt ein altes deutsches durchschlagen muss, findet er mehr als Sprichwort. Umberto Eco drückt seine Liebe zur beunruhigend. Literatur etwas gewählter aus und nennt das Buch Nicht zu vergessen die Übersetzer: Hoch eineW „Lebensversicherung, eine kleine Vorwegnahme der Un- gelobt und schlecht bezahlt bilden sie die sterblichkeit“. Trotzig begegnet er den Feinden des Buches – von immer wieder beschworene Brücke zwi- Würmern und Schimmel bis hin zu Zensoren und Bibliotheks- schen ansonsten auch in Europa vonei- verachtern – und lässt sich die Lust am Lesen nicht nehmen. nander abgeschotteten Kulturen und Für den Grandseigneur der zeitgenössischen Literatur in Euro­ Märkten. In diesem Band sind sie das pa bedeutet das Lesen eine sinnliche Erfahrung und Literatur zentrale Element, indem sie die Stim- Sebastian Köber, einen leidenschaftlichen Dialog zwischen Autor und Leser. men aus Malta, Lettland oder Portugal Stellvertretender Generalsekretär, Der dritte Band des Kulturreports „Fortschritt Europa“ fragt verständlich machen, ihre eigenen Be- Institut für Auslands- nach der Rolle der Literatur und des Buchmarkts in Europa, weggründe erzählen und dafür sorgen, beziehungen aber auch danach, wie Schriftsteller die Rolle der Kultur in dass der Kulturreport in fünf Sprachfas- Europa verstehen. Wie definieren sie europäische Kultur und sungen erscheinen kann. Auch wenn es welche Fort- oder Rückschritte sind in den vergangenen Jah- dafür, um es in den Worten von Rafik ren in den europäischen Kulturbeziehungen zu verzeichnen? Schami zu sagen, der Geduld eines Ka- Die Antworten fallen äußerst unterschiedlich aus. Fachleute mels, des Mutes einer Löwin und des lan- wie der Oxford-Wissenschaftler Angus Phillips analysieren gen Atems eines Blauwals bedarf. die europäischen Lesegewohnheiten und gehen auf die Frage Der Kulturreport „Fortschritt Europa“ ein, ob Google dumm macht. Ist jemand, der gewohnt ist, könnte niemals ohne Partner realisiert Twitter-Nachrichten zu versenden, die nicht mehr als 140 Zei- werden. Daher möchte ich mich bei chen umfassen dürfen, noch fähig und willens, umfangreiche der Robert Bosch Stiftung, dem British Texte im Stile von Tolstois „Krieg und Frieden“ zu lesen? Keine Council, der Stiftung für Deutsch-Pol- Angst vor Digitalisierung und Staccato-Denken hat Rüdiger nische Zusammenarbeit, der Schweizer Wischenbart, der hier weniger den Niedergang des geschrie- Kulturstiftung Pro Helvetia und bei der benen Kulturguts wittert als vielmehr die Chance auf neue portugiesischen Calouste Gulbenkian- Zielgruppen und Vertriebsmöglichkeiten. Stiftung sehr herzlich für die vertrau- Und die Schriftsteller? Auch hier ist die Reaktion sehr variabel. ensvolle Zusammenarbeit bedanken. Rafik Schami, der sich selbst – in Damaskus zwischen Palästi- Ich freue mich, dass sich dieses Beispiel nensern, Juden, Armeniern, Kurden, Tscherkessen, Afghanen europäischer Kooperation schon ein we- und Libanesen aufgewachsen und inzwischen äußerst erfolg- nig etabliert hat und in Zukunft weiter reich in deutscher Sprache publizierend – als Vermittler zwi- wachsen wird. schen den Welten versteht, sieht in genau dieser Vermittlerrolle auch eine große Chance für Europa. Tim Parks hingegen, der in englischer Sprache Millionenauflagen publiziert und in Ita- lien lebt, hält die Vorstellung, Schriftsteller könnten den Dialog

5 EUROPA LIEST Nur ein kleiner Prozentsatz der Titelproduktionen der Nachbarländer steht uns als Überset-

zung zur Verfügung. „Wir lesen nacheinander die Bücher aus den Vereinigten Staaten und

dann die jeweiligen nationalen“, klagt der polnische Journalist Adam Krzemiński. Kann man

überhaupt von einer europäischen Literatur sprechen, wenn mangels Übersetzungen kaum

ein Literat europaweit gelesen wird? Welche Rolle spielt die Literatur für die Identität Europas?

Bürden wir ihr zu viel auf, wenn wir sie als „Packesel“ für kulturelle Vielfalt und interkulturellen

Dialog betrachten?

Welche Bindung schafft das Buch ?

6 EUROPA LIEST

Welche Bindung schafft das Buch ?

7 8 9 E ine Liebeserklärung Ein Buch ist unersetzbar. Was in ihm „drinsteht“, kann man vielleicht auch anders mit- teilen, doch jeder wirklich­­­­e Leser weiß, dass ihm sein Lieblingsbuch nur in der Form etwas bedeutet, wie es bei ihm im Schrank steht. Anmerkungen eines Buch- liebhabers. Von Umberto Eco

fragen uns nicht, wer das eingemeißelt oder -geritzt haben mag. Wenn wir aber ein Buch vor uns haben, suchen wir nach einer Person, einer indivi- duellen Sicht der Dinge. Wir versuchen es nicht bloß zu entziffern, sondern suchen auch einen Gedanken zu interpretieren, eine Ab- sicht. Und wenn man nach einer Absicht sucht, befragt man einen Text, von dem es auch mehrere Lesarten geben kann. Die Lesart wird zu einem Dialog, aber zu einem – und dies ist das Paradox des Buches – mit jemandem, der nicht anwe- send ist, der seit Jahrhunderten tot und nur ücher gab es schon vor Erfindung als Schrift präsent ist. Es gibt eine Befragung des Buchdrucks, auch wenn sie zu- der Bücher, die man Hermeneutik nennt, nächst die Form von Rollen hatten und wo es Hermeneutik gibt, da gibt es auch Bund erst allmählich zu dem wurden, was einen Kult des Buches. Die drei großen mo- wir heute kennen. Das Buch, in welcher notheistischen Religionen, das Judentum, Form auch immer, hat der Schrift erlaubt, das Christentum und der Islam, entwickeln sich zu personalisieren: Es erhält eine Porti- sich als permanente Befragung eines heili- on von kollektivem Gedächtnis, die jedoch gen Buches. Das Buch wird in solchem Maß unter einem persönlichen Gesichtspunkt zum Symbol der Wahrheit, die es hütet und ausgewählt worden ist. Wenn wir Obelis- nur demjenigen offenbart, der es zu befragen ken, Stelen, Tafeln oder Grabsteine vor uns weiß, dass man, um eine Diskussion zu be- haben, versuchen wir sie zu entziffern; wir enden, eine These zu bekräftigen oder einen müssen also das verwendete Alphabet ken- Gegner zu vernichten, einfach sagt: „Es steht nen und wissen, welche essenziellen Infor- hier geschrieben!“ mationen es sind, die da überliefert werden Natürlich können die Bücher uns auch sollen – hier liegt der Soundso begraben, dazu bringen, an viele Lügen zu glauben, aber dieses Jahr sind soundso viele Getreidegar- sie haben immerhin die Tugend, sich unter- ben produziert worden, dieses und jenes an- einander zu widersprechen, und sie lehren dere Land hat König Soundso erobert. Wir uns, die Informationen, die sie uns geben,

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kritisch zu bewerten. Lesen hilft auch, den nischer Kritiker einmal gesagt hat, ins Zeit- Büchern nicht zu glauben. Der Analphabet, alter des Decline of Literacy eingetreten. Ich der nicht weiß, wo die anderen im Unrecht weiß nicht, sicher wird heutzutage viel Zeit sind, kennt auch seine eigenen Rechte nicht. vor dem Fernseher verbracht, und es gibt Risikofreaks, die nichts anderes tun als Fern- Vorwegnahme der Unsterblichkeit sehen gucken, so wie es Risikofreaks gibt, de- nen es Spaß macht, sich tödliche Substanzen Das Buch ist eine Lebensversicherung, in die Venen zu spritzen; wahr ist aber auch, eine kleine Vorwegnahme der Unsterblich- dass noch nie soviel gedruckt worden ist wie keit. Mit Blick nach hinten (leider) anstatt in unserer Epoche und dass noch nie zuvor nach vorn, aber man kann nicht alles auf so viele Großbuchhandlungen florierten, einmal haben. Wir wissen nicht, ob wir uns die wie Diskotheken anmuten, voll von Ju- nach unserem individuellen Tod noch an gendlichen, die vielleicht nicht viel kaufen, unsere Erfahrungen erinnern werden. Aber aber stundenlang blättern, betrachten, sich wir wissen mit Sicherheit, dass wir heute Le- informieren. benden uns an die Erfahrungen derer er- Das Problem ist eher, auch für die Bü- innern, die vor uns gelebt haben, und dass cher, der Überfluss, die Schwierigkeit einer andere, die uns folgen werden, sich an un- Wahl, die Gefahr, nicht mehr unterschei- sere Erfahrungen erinnern werden. Auch den zu können. Das ist kein Wunder, die wer nicht Homer ist, könnte im Gedächt- Verbreitung des Buches hat alle Defekte nis der Zukunft als Protagonist eines – was der Demokratie, einer Herrschaftsform, in weiß ich – eines glücklich ausgegangenen der man, damit alle reden können, auch die Unfalls am 14. August auf der Autobahn Dummköpfe reden lassen muss und sogar von Mailand nach Rom bleiben. Sicher, das die Schurken. wäre nicht viel, aber besser als gar nichts. Die Frage ist, wie man sich erzieht, eine Um der Nachwelt im Gedächtnis zu blei- Wahl zu treffen, gewiss, auch weil man, ben, hat Herostratos den Artemistempel in wenn man es nicht lernt, Gefahr läuft, vor Ephesus angezündet, und die Nachwelt hat den Büchern so hilflos zu stehen wie Funes ihn – leider – berühmt gemacht, indem sie vor seinen unendlichen Wahrnehmungen: sich seiner Dummheit entsann. Wo alles erinnerungswert erscheint, ist nichts Manche behaupten, heutzutage werde we- mehr wertvoll, und man möchte am liebsten niger gelesen, die Jüngeren läsen überhaupt alles vergessen. nicht mehr und wir seien, wie ein amerika- Wie erzieht man sich dazu, eine Wahl zu treffen? Beispielsweise indem man sich fragt, ob das Buch, das man gerade in die Hand nehmen will, eines von denen ist, die man Die Verbreitung des Buches hat nach der Lektüre wegwerfen wird. Sie wer- alle Defekte der Demokratie, ei- den sagen, das könne man doch nicht wissen, ner Herrschaftsform, in der man, bevor man es gelesen hat. Aber wenn wir damit alle reden können, auch die nach zwei oder drei gelesenen Büchern mer- ken, dass wir eigentlich keine Lust haben, sie Dummköpfe reden lassen muss zu behalten, sollten wir unsere Auswahlkri- und sogar die Schurken. terien überdenken. Ein Buch wegzuwerfen,

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nachdem man es gelesen hat, ist, wie wenn ein Dichter, mit dem ich mich ab und zu auf man eine Person nicht wiedersehen möchte, die Suche nach alten Ausgaben italienischer mit der man gerade ein sexuelles Verhältnis Dichter mache, sagt immer, dass es ein ganz gehabt hat. Wenn das passiert, hat es sich anderes Gefühl sei, ob man Dante in einer nur um ein körperliches Bedürfnis gehan- modernen Taschenbuchausgabe liest oder delt, nicht um Liebe. auf den schönen Seiten einer edizione aldi- Es sollte jedoch gelingen, ein Liebesver- na. Und viele verspüren, wenn sie die Erst- hältnis zu den Büchern unseres Lebens zu ausgabe eines modernen Klassikers finden, entwickeln. Wo das gelingt, bedeutet es, dass eine besondere Emotion beim Wiederlesen es sich um Bücher handelt, die sich zu einer seiner Verse in der Typografie, in der sie ihre intensiven Befragung anbieten, bei der wir ersten Adressaten gelesen haben. Zu der Er- entdecken, dass sie uns bei jedem Lesen etwas innerung, die das Buch sozusagen bewusst Neues enthüllen. Es handelt sich wirklich um weitergibt, kommt dann noch die Erinne- ein Liebesverhältnis, denn es ist ja das Stadi- rung hinzu, die es als physischer Gegenstand um der Verliebtheit, in dem die Verliebten ausströmt, der Geruch der Geschichte, mit mit Freude entdecken, dass es jedes Mal so der es imprägniert ist. ist, als ob es das erste Mal wäre. Wenn man Man meint gewöhnlich, Bibliophilie sei entdeckt, dass es jedes Mal so ist, als wäre es eine kostspielige Leidenschaft, und sicher das zweite Mal, dann ist man reif zur Schei- müsste, wer ein Exemplar der ersten 42-zei- dung oder, bei Büchern, zum Wegwerfen. ligen Gutenberg-Bibel erwerben wollte, über Ein Buch wegwerfen oder behalten zu mindestens fünf Millionen Dollar verfügen. können heißt, dass es sich bei ihm auch um Ich sage mindestens, weil vor einigen Jah- einen Gegenstand handelt, den man nicht ren eines der letzten noch freien Exemplare nur wegen seines Inhalts lieben kann, son- verkauft worden ist (die anderen befinden dern auch wegen seiner Form. sich in öffentlichen Bibliotheken, wo sie wie Bibliophile sind Leute, die Bücher auch Schätze bewacht werden), und daher würde, wegen der Schönheit ihres typografischen wer es heute hergeben wollte, vielleicht schon Satzes, ihres Papiers, ihres Einbands sam- das Doppelte verlangen. Aber man kann eine meln. Perverse Bibliophile lassen sich von Sammlerliebe auch entwickeln, wenn man der Liebe zu diesen visuellen und taktilen nicht reich ist. Komponenten überwältigen, sodass sie die Vielleicht wissen nicht alle, dass einige Bücher, die sie sammeln, nicht lesen und sie Ausgaben aus dem sechzehnten Jahrhundert sogar, wenn sie noch unaufgeschnitten sind, noch für den Gegenwert von zwei Restau- nicht aufschneiden, um ihren kommerziellen rantessen oder zwei Stangen Zigaretten zu Wert nicht zu mindern. Aber jede Leidenschaft erzeugt ihre eige- nen Formen von Fetischismus. Richtig ist je- doch, dass der Bücherliebhaber den Wunsch E in Buch wegzuwerfen, nachdem haben kann, drei verschiedene Ausgaben des- man es gelesen hat, ist, wie wenn selben Buches zu besitzen, und manchmal man eine Person nicht wiederse- beeinflusst die Verschiedenheit der Ausgaben auch die Art, wie wir an die Lektüre heran- hen möchte, mit der man gerade gehen. Ein Freund von mir, nicht zufällig ein sexuelles Verhältnis gehabt hat

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haben sind. Nicht immer ist es das Alter, Bücher altern. Einige altern gut, ande- das die Bücher teuer macht, es gibt auch re weniger. Gewiss hängt das von den Be- Liebhaberausgaben, die vor zwanzig Jahren dingungen ab, unter denen sie aufbewahrt gedruckt worden sind und ein Vermögen werden, aber auch vom Material, aus dem kosten, aber für den Preis eines Timberland- sie hergestellt worden sind. In jedem Fall Stiefels kann man sich das Vergnügen leisten, wissen wir, dass um die Mitte des neun- einen schönen Folioband im eigenen Bücher- zehnten Jahrhunderts ein tragisches Phäno- regal zu haben, seinen Pergamenteinband men eingetreten ist. Man hörte auf, Papier zu betasten, die Konsistenz seines Papiers aus Lumpen herzustellen, und fing an, es aus zu befühlen, sogar den Verlauf der Zeit und Holz zu machen. Wie sich in jeder Bibliothek das Einwirken äußerer Kräfte zu verfolgen nachprüfen lässt, hält Papier aus Lumpen anhand der Stockflecken, der Feuchtig- jahrhundertelang. keitsspuren, des Treibens der Würmer, die manchmal lange gewundene Gänge durch Würmer und Stockflecken Hunderte von Seiten graben, deren Formen von großer Schönheit sein können, ähnlich E s gibt Bücher aus dem fünfzehnten Jahr- der Schönheit von Schneekristallen. Auch hundert, wie eben erst aus der Druckerei ge- verstümmelte oder beschädigte Exemplare kommen, das Papier ist noch weiß, frisch und können uns oft dramatische Geschichten er- raschelnd unter den Fingern. Doch seit der zählen – der Name des Verlegers getilgt, um zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun- den Härten der Zensur zu entgehen, Stellen derts kann die durchschnittliche Lebensdau- oder ganze Seiten von prüden Lesern oder er eines Buches siebzig Jahre, wie es heißt, Bibliothekaren zensiert, bräunlich verfärbtes nicht überschreiten. Bei einigen Büchern, Papier, weil die Ausgabe im Untergrund mit die inzwischen mehr als hundert Jahre alt billigem Material gedruckt worden ist, Zei- sind, kann man trotz frühzeitigen Vergil- chen einer langen Lagerung womöglich in bens noch sagen, dass sie aus wertvollem und Klosterkellern, Signaturen, Anmerkungen, robustem Material gemacht sind. Aber die Unterstreichungen, die von verschiedenen wissenschaftlichen Fachbücher und die Ro- Besitzern in mehreren Jahrhunderten kün- mane aus den Fünfzigerjahren, besonders den. die französischen, halten bereits viel weniger Das Büchersammeln, auch im kleinen als siebzig Jahre. Schon heute zerbröseln sie Maßstab, auch nur im „Modernen Antiqua- wie Hostien, wenn man sie nur in die Hand riat“, ist häufig ein Akt der pietas im Sinne nimmt. Wir müssen fürchten, dass ein heute der ökologischen Fürsorge, denn wir haben hergestelltes Taschenbuch bloß noch zwan- nicht nur die Wale, die Mönchsrobben und zig bis dreißig Jahre überdauern wird, und die Bären in den Abruzzen zu retten, son- wir brauchen nur in die Buchhandlungen dern auch die Bücher. Wovor müssen wir zu gehen und die vor zehn Jahren produ- die Bücher retten? Nun, die alten vor der zierten Taschenbücher herauszusuchen, um Sorglosigkeit, vor dem Verrotten in feuchten, zu sehen, wie nahe sie schon der vorzeitigen unzulänglichen Kellern, vor Wind und Re- Vergreisung sind. gen auf den Bücherständen. Aber die neueren Es ist ein schreckliches Drama: Produ- auch vor einem bösartigen Übel, dass sich in ziert als Zeugnisse, als Sammlung von Er- ihre Zellen einnistet. innerungen, nach dem Modell der Hand-

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schriften oder der architektonischen Bauten, ligen Entdeckungen. Beim Mikrofilm sucht die die Jahrhunderte herausfordern sollten, man nach etwas, von dem man zumindest können die Bücher ihre Aufgabe nicht mehr schon weiß, dass es existiert. Mit den mo- erfüllen. Jeder Autor, der nicht bloß des dernen elektronischen Techniken kann man Geldes wegen schrieb, sondern aus Liebe Texte per Scanner erfassen, im Computer zum eigenen Werk, wusste, dass er seinem speichern und sich die gewünschten Seiten Buch eine Nachricht anvertraute, die noch in ausdrucken. Das ist sehr gut, um Zeitungs- Jahrhunderten lesbar sein würde. Heute weiß jahrgänge durchzusehen (wenn man be- er, dass sein Buch ihn nur um weniges überle- denkt, dass Zeitungspapier nach etwa zehn ben wird. Natürlich wird die Nachricht dann Jahren zerfällt), aber gewiss nicht, um sich den Neudrucken anvertraut, aber Neudrucke einen vergessenen 800-Seiten-Roman auszu- richten sich nach dem Zeitgeschmack, und drucken. In jedem Fall sind diese Techniken nicht immer hat dieser das beste Urteil über nur für Forscher geeignet, nicht für den ge- den Wert eines Werkes. wöhnlichen neugierigen Leser. Wenn man sagt, dass der Zeitgeschmack Dennoch könnte die Liebe des Sammlers, sich im Wert eines Buches häufig irrt, muss der ein altes Buch vor Staub, Licht, Hitze, man auch die Irrtümer der Weisen in Rech- Feuchtigkeit, vor Würmern, Smog und zu- nung stellen, das heißt die der Kritik. Hätten fälliger Auflösung schützt, auch das Leben wir im achtzehnten Jahrhundert auf Saverio einer billigen Ausgabe aus den Zwanziger- Bettinelli gehört, wäre Dante eingestampft jahren verlängern. Zumindest so lange, bis worden. jemand sie wiederentdeckt, das Werk neu Für die Bücher der Zukunft sind schon bewertet und einen Neudruck veranlasst. umsichtige Verfahren im Gange, zum Bei- Aber die Bücher sterben nicht nur von spiel bei vielen amerikanischen Universitäts- sich aus. Manchmal werden sie auch zer- verlagen die Produktion von Werken auf säu- stört. In den Dreißigerjahren sind Bücher auf refreiem Papier, das dem altersbedingten Scheiterhaufen verbrannt worden, nachdem Zerfall länger standhält. Doch davon ab- sie von den Nazis für „entartet“ erklärt wor- gesehen, dass dies nur wissenschaftlichen den waren. Gewiss war das eine symbolische Werken zugutekommen wird, kaum aber Geste, denn nicht einmal die Nazis hätten dem Debüt eines jungen Dichters, was macht das gesamte Büchererbe ihres Landes zerstö- man dann mit den Millionen von Büchern, ren wollen. Aber symbolische Gesten sind die vom späten neunzehnten Jahrhundert bis das, was zählt. gestern hergestellt worden sind? Fürchtet diejenigen, die Bücher zerstö- Es gibt chemische Mittel, mit denen die ren, zensieren, verbieten: Sie wollen unser Bücher der Bibliotheken imprägniert wer- Gedächtnis zerstören oder zensieren. Wer den können, Seite für Seite. Das ist möglich, meint, die Bücher seien zu zahlreich und zu aber sehr teuer. unkontrollierbar und das pflanzliche Ge- Natürlich gibt es die Möglichkeit, alles dächtnis (Bücher sind ja aus Holz gemacht) auf Mikrofilm zu speichern, aber wir alle bleibe eine Bedrohung, der zerstört am Ende wissen, dass Mikrofilm nur etwas für sehr animalische Gedächtnisse, Gehirne und motivierte Leser ist, die noch dazu sehr gute menschliche Körper. Man fängt immer mit Augen haben müssen. Man kann nicht mehr Büchern an und endet mit Gaskammern. in alten Regalen stöbern, fasziniert von zufäl- Im übrigen ist mir ein anderes Mittel

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empfohlen worden, um die Würmer fernzu- So wird in Platons „Phaidros“ erzählt, wie halten, ohne sie zu töten: ein großer Wecker der Pharao Thamus reagierte, als der Gott von der Sorte, wie ihn unsere Großmütter in Theut oder Hermes ihm seine neueste Erfin- der Küche hatten, mit einem höllisch lauten dung vorstellte, nämlich die Schrift: „Diese Ticken. Nachts, wenn die Würmer sich an- Erfindung wird eher Vergesslichkeit in den schicken, aus ihren Löchern zu kommen, Seelen derer bewirken, die sie erlernen, weil lässt er das Bücherregal erzittern, auf dem sie dann ihr Gedächtnis nicht mehr üben er steht, und die erschrockenen Würmer werden; im Vertrauen auf die Schrift wer- bleiben drin. Nicht, dass diese Lösung öko- den sie sich nur noch durch diese äußeren logisch schonend wäre: Wenn die Würmer Zeichen erinnern, nicht mehr von sich aus, nicht mehr herauskommen können, müssen durch inneres Bemühen.“ sie verhungern. Aber man hat keine Wahl: entweder sie oder wir. Potenzierung des Gedächtnisses Es gibt noch andere Feinde der Bücher. Nämlich die Leute, die sie verbergen. Man H eute wissen wir, dass Thamus Unrecht kann Bücher auf viele Arten verbergen. Da hatte. Die Schrift hat das Gedächtnis nicht sie schließlich etwas kosten, genügt es, kein nur nicht überflüssig gemacht, sondern sogar ausreichendes Netz von öffentlichen Bibli­ noch potenziert. Es ist eine Schrift des Ge- otheken zu schaffen, um sie vor denen zu dächtnisses und ein Gedächtnis der Schriften verbergen, die sich keine kaufen können. entstanden. Unser Gedächtnis stärkt sich da- Man verbirgt die Bücher auch dadurch, durch, dass es sich an Bücher erinnert und sie dass man unsere großen historischen Bibli- miteinander ins Gespräch bringt. Ein Buch otheken verfallen lässt. Wer Bücher verbirgt, ist nicht eine Maschine zur Blockierung der muss bekämpft werden, denn er ist genauso Gedanken, die es in sich aufnimmt. Es ist gefährlich wie die Würmer. eine Maschine zur Erzeugung von Interpre- Oft wird gesagt, die neuen Informations- tationen, also zur Hervorbringung neuer Ge- medien würden die Bücher umbringen. Man danken. hat auch schon behauptet, das Buch habe Die Architektur, sagt Victor Hugo (der die älteren Informationsmedien umgebracht. viel minderwertige Architektur der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vor Augen hatte), ist zum Niedergang verur- teilt, sie verdorrt, schrumpft zusammen, E in Wecker, wie ihn unsere Groß- wird kahl, die Glasscheibe ersetzt das farbige mütter in der Küche hatten, mit Kirchenfenster. Und derweil greift der Buch- einem höllisch lauten Ticken, hält druck um sich, nimmt mächtig zu, bildet das größte Gebäude der modernen Zeiten, ein die Würmer fern. Nachts, wenn Gewimmel von Intelligenzen schickt sich sie sich anschicken, aus ihren Lö- an, einen Bau zu errichten, der sich in end- chern zu kommen, lässt er das losen Spiralen immer höherschraubt. „Das Bücherregal erzittern, auf dem ist der zweite Turm von Babel des Menschen- geschlechts.“ er steht, und die erschrockenen Ich glaube, dass diejenigen, die heute Würmer bleiben drin. über den Verfall der Lesekultur angesichts

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der neuen visuellen Medien und der elektro- Kopf, man liest mit dem ganzen Körper, und nischen Informationsfülle klagen, eines Ta- deshalb können wir über einem Buch weinen ges so pathetisch klingen werden wie Victor oder lachen, und wenn wir etwas Schreck- Hugo uns heute zu großen Teilen erscheint. liches lesen, stehen uns die Haare zu Berge. Gewiss wird die Presse einige Funktionen Denn auch wenn es nur von Ideen zu spre- verlieren, die sie früher gehabt hat. Schon chen scheint, spricht ein Buch immer auch jetzt sind die Zeitungen im Begriff, etwas an- von anderen Gefühlen und von Erfahrungen deres zu werden als die alten Gazetten, denn anderer Körper. Und wenn es nicht bloß ein was deren Hauptaufgabe war, die neuesten pornografisches Buch ist, bringt es uns, wenn Nachrichten zu verbreiten, das besorgt heute es von Körpern spricht, auf Ideen. Und da- mit zwölf Stunden Vorsprung das Fernse- bei sind wir nicht unempfänglich für die hen. Vielleicht brauchen wir auch bald keine Gefühle unserer Fingerspitzen, wenn wir es Fahrpläne mehr zu drucken, die so schwer berühren, und unangenehme Erfahrungen zu lesen sind, sondern können am Zeitungs- mit Einbänden oder gar mit Seiten aus Plas­ kiosk kleine elektronische Geräte kaufen, in tik zeigen uns, wie sehr das Lesen auch eine die man einfach zwei Ortsnamen eintippt, taktile Erfahrung ist. um auf einen Blick alle Verbindungen zu se- Den Bibliophilen schreckt weder das hen, die es für die gewünschte Strecke gibt. Internet noch die CD-ROM noch das E- Am Computerbildschirm können wir nur Book. Im Internet findet er heute die Anti- kurze Texte für kurze Zeit lesen. Wenn er quariatskataloge, auf CD-ROM die Werke, kurz ist, können wir auch einen Liebesbrief die ein Privatmann nur schwer zu Hause lesen, denn es kommt nicht auf das Medi- haben könnte, wie die 221 Foliobände der um an, sondern auf das, was er sagt, und in Patrologia Latina von Migne, in einem E- welchem Gemütszustand wir es lesen. Aber Book könnte er leicht die gewünschten Bi- wenn der Liebesbrief lang ist, müssen wir ihn bliografien und Kataloge mit sich herum- ausdrucken, um ihn in einer abgeschiedenen tragen, sodass er ein kostbares Repertoire Ecke zu lesen. immer bei sich hätte, besonders wenn er eine Es ist einige tausend Jahre her, dass die Ausstellungsmesse für antiquarische Bücher Menschheit sich an das Lesen gewöhnt hat. besucht. Im übrigen vertraut er darauf, dass Das Auge liest, und der ganze Körper macht selbst wenn die Bücher verschwinden wür- mit. Lesen heißt auch, eine richtige Positi- den, sich der Wert seiner Sammlung verdop- on zu finden, es bezieht den Hals, die Wir- peln, was sage ich, verzehnfachen würde. belsäule, die Gesäßmuskeln mit ein. Und Aber der Bibliophile weiß auch, dass das die Form des Buches, die jahrhundertelang studiert und ergonomisch verbessert wurde, ist die Form, die dieser Gegenstand haben muss, um in die Hand genommen und in Das Auge liest, und der ganze der richtigen Entfernung vom Auge gehalten Körper macht mit. Lesen heißt zu werden. Lesen hat auch etwas mit unserer auch, eine richtige Position zu Physiologie zu tun. finden, es bezieht den Hals, die Der Rhythmus des Lesens folgt dem des Körpers, der Rhythmus des Körpers folgt Wirbelsäule, die Gesäßmuskeln dem des Lesens. Man liest nicht nur mit dem mit ein.

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Buch noch ein langes Leben hat, und das dest bisher – trotz Bill Gates nicht geändert. wird ihm gerade dann klar, wenn er lie- Ich erinnere an die erste Buchmesse in Turin, benden Blickes seine eigenen Regale mus­ auf der man eine große Abteilung für anti- tert. Wären all diese Informationen, die er quarische Bücher reserviert hatte (danach da akkumuliert hat, seit den Zeiten Guten- scheint diese schöne Gewohnheit verloren bergs auf einem Magnetband aufgezeichnet gegangen zu sein). Schulkinder kamen zu worden, hätten sie dann wohl zwei-, drei-, Besuch auf die Messe, und ich habe man- vier-, fünfhundert, fünfhundertfünfzig Jahre che von ihnen an den Vitrinen kleben sehen, überdauern können? Und wären dann mit- wo sie zum ersten Mal entdeckten, was ein Für Umberto Eco be- steht kein Zweifel: „Aus samt den Inhalten der Werke auch die Spuren richtiges Buch ist, nicht so ein Heftchen am Liebe zu einem schö- nen Buch ist man bereit derer überliefert worden, die sie vor unserer Bahnhofskiosk, sondern ein Buch mit allen zu jeder Gemeinheit“, Zeit berührt, aufgeschlagen, mit Anmer- Attributen am richtigen Fleck. Sie erinnerten bekennt der Romancier, Wissenschaftler und kungen versehen, herumgestoßen und oft mich an den Barbaren bei Borges, der zum Geschichtenerzähler aus Italien. Sein Band mit dreckigen Fingern beschmutzt haben? ersten Mal jenes Meisterwerk der mensch- „Die Kunst des Bücher- Und könnte man sich in eine Diskette ver- lichen Kunst sieht, das eine Stadt ist. Er fiel liebens“ ist denn auch eine Huldigung für das lieben, so wie man sich in eine feste weiße vor Ravenna auf die Knie und wurde Römer. Buch schlechthin, für wirkliche Leser, die ihre Buchseite verlieben kann, die unter den Fin- Mir würde es genügen, wenn die Kinder aus Bücher nicht nur lesen, sondern zu Hause ins gern knackt und knistert, als wäre sie gerade Turin wenigstens ein erhebendes Gefühl mit Regal stellen. Ein E- aus der Druckerpresse gekommen? nach Hause nahmen, vielleicht einen wohl- Book? Undenkbar! Was für ein schönes und ein praktisches tätigen Wurmstich. Umberto Eco: „Die Kunst des Bücher- Ding ist ein Buch! Es lässt sich überall in Ach ja, ich vergaß, zur Leidenschaft liebens“. Übersetzt die Hand nehmen, auch im Bett, auch in des Bibliophilen gehören auch die Wurm- aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. einem Boot, auch dort, wo es keine Steckdo- stiche. Nicht alle vermindern den Wert eines München, Carl Hanser sen gibt, auch wenn alle Batterien leer sind, Buches. Einige wirken, wenn sie nicht den Verlag 2009 es erträgt Anstreichungen und Eselsohren, Text affizieren, wie zarte Klöppelspitzen. Ich man kann es auf den Boden fallen oder auf- gestehe hier, ich liebe auch diese. Natürlich geschlagen auf die Brust oder die Knie sinken bekunde ich gegenüber dem Antiquar, der lassen, wenn einen der Schlaf überkommt, mir das Buch verkauft, Missfallen und Ab- es passt in die Jackentasche, es kann ange- scheu, um den Preis zu drücken. Aber ich stoßen werden, es registriert die Intensität, sage es offen, aus Liebe zu einem schönen die Beharrlichkeit oder die Regelmäßigkeit Buch ist man bereit zu jeder Gemeinheit. unserer Lektüre, es erinnert uns daran (wenn Aus dem Italienischen es zu frisch und unberührt aussieht), dass wir von Burkhart Kroeber es noch nicht gelesen haben. Das Format des Buches wird durch unse- Umberto Eco, Jahrgang 1932, lehrt als Profes- re Anatomie bestimmt. Es kann sehr große sor für Semiotik an der Universität Bologna. Sein Bücher geben, aber die haben meist doku- umfassendes Werk reicht von der „Geschichte mentarische oder dekorative Funktion. Das der Schönheit“ bis zum Roman „Der Name der Standardbuch darf nicht kleiner als eine Zi- Rose“, durch den er zu Weltruhm gelangte. Der garettenschachtel und nicht größer als eine vorliegende Beitrag ist anlässlich seines Buches „Die Kunst des Bücherliebens“ entstanden, das Zeitung im Tabloid-Format sein. Seine Grö- 2009 auf Deutsch im Münchner Carl Hanser Ver- ße ist abhängig von den Dimensionen un- lag erschienen und nicht nur für Bibliophile eine serer Hand, und diese haben sich – zumin- lohnenswerte Lektüre ist.

17 Jenseits des Politbüros Literatur ermöglicht uns, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Wir schlüpfen in einen fremden Charakter und können dadurch unsere Empathiefähigkeit erweitern und viel- leicht sogar unsere Toleranz steigern. Welche Rolle spielt das Buch für die Identität Europas? Welche Bindungen kann es bewirken? Von Adam Thorpe

die geschäftigen Messehallen zu senden bzw. der Moral jedes ernsthaften Schriftstellers ins Gesicht zu blasen. Am besten ignoriert man diese Statistiken. Es lässt sich nicht leugnen, dass die hek- tische transnationale Interaktion auf der Buchmesse in gewisser Weise eine Illusion ist. In den Buchläden der Länder Europas stammt die Mehrzahl des Angebots ent- weder aus dem Inland oder wurde aus dem Englischen übersetzt – mit einem deutlichen Schwerpunkt beim amerikanischen Englisch. In den Ländern, in denen Englisch bereits die Muttersprache ist, liegen die Dinge noch edes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse schlechter: Abgesehen von Klassikern wie herrscht ein hektisches Verhandeln und Tolstoi, Mann oder Balzac bietet der durch- Kaufen, in jeder der riesigen Messehallen schnittliche Buchladen in Großbritannien Jein rumorendes Geräusch aus dem Geplau- nur ein verschwindend geringes Angebot zeit- der der Lektoren, Literaturagenten und Ver- genössischer Titel aus dem Ausland. Ausnah- triebsleute – und hin und wieder sieht man men wie beispielsweise der Erfolg eines ge- einen eher verwirrt wirkenden Autor. Es liegt wissen schwedischen Krimis zeigen erst das etwas in der Luft, das die Messeteilnehmer wahre Ausmaß ungenutzten Potenzials. ein klein wenig verrückt macht: Man nennt In Frankreich, wo ich seit zwanzig Jah- es den „Frankfurt-Effekt“. Beispielsweise ren lebe, werden in meinem Freundeskreis verrückt genug zu denken, dass jedes litera- ganz selbstverständlich italienische oder rische Werk entscheidend für die Gestaltung spanische Romane im selben Atemzug mit der modernen Gesellschaft ist. Außerhalb französischen Romanen genannt, es handelt der Messe geht das Leben jedoch seinen ge- sich jedoch meist um bekannte Autoren. Die wohnten Gang, und die Massen der Europäer Masse europäischer Belletristik gelangt nie ziehen bewegte Bilder der äußerst bemühten über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Präsentation des gedruckten Wortes vor. Ein Es ist teuer, einen Übersetzer unter Ver- Blick auf die entsprechenden Statistiken ge- trag zu nehmen (auch wenn diese wenig be- nügt, um einen eisigen Windhauch durch achteten Botschafter notorisch unterbezahlt

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sind), und Verleger müssen davon ausgehen linien, die nichts mit dem Akt des Schreibens können, dass sich die Investition zumindest zu tun haben, mit Argwohn. Schreiben ist langfristig auszahlen wird. schließlich eine sehr persönliche Äußerung Die Publikationen jener mutigen bri- in einer gemeinsamen Sprache, jedoch nicht tischen Verleger wie Serpent’s Tail oder De- eines gemeinsamen Kontinents. Wir erinnern dalus, die diesen Schritt (mit Unterstützung uns an das Verbot der Sowjetunion von na- geringer Subventionen) wagen, werden je- hezu allem bis auf die Literatur ihrer sozialis- doch nicht einmal in den seriösen Zeitungen tischen Republiken. Aber dieser Vergleich ist und (Fach-)Zeitschriften besprochen, deren nicht ganz fair, da die europäische Literatur Literaturteil sich stets mit den üblichen Ver- der Gegenwart theoretisch frei und unzen- dächtigen zu beschäftigen scheint und nur siert ist (obwohl natürlich einige argumentie- äußerst selten wirklich neue Horizonte in ren würden, dass die Buchhalter der Verleger Europa oder anderswo eröffnet. „The Times ihre ganz eigene Form der Zensur ausüben). Literary Supplement“ bildet in diesem Zu- Nichtsdestotrotz müssen wir stets auf der sammenhang eine rühmliche Ausnahme. Hut vor dem zentralisierenden „Politbüro“- Natürlich ist eine Übersetzung stets ein Aspekt der EU sein, der sich nirgendwo so Kompromiss, ein getrübter Blick auf das reine deutlich zeigt wie in der gemeinsamen Agrar- Licht des Originals – ich kenne dieses Ge- politik, die jegliche Alternative zur chemie- fühl durch meinen derzeitigen Kampf mit der lastigen Agrarwirtschaft im Keim erstickt Übersetzung von Flauberts „Madame Bova- sowie die Böden, Gewässer, Flora und Fauna ry“. Jene Zeiten sind vorbei, in denen wir ein- des Kontinents in einen furchtbaren Zustand zig und allein Norwegisch lernten, um Ibsen versetzt hat. lesen zu können. Der neu ins Leben gerufene Gleichzeitig haben Chemieunternehmen Literaturpreis der Europäischen Union für wie Bayer und ICI hervorragend von die- zwölf Schriftsteller aus zwölf ausgewählten ser Politik profitiert. Die Tatsache, dass es Ländern wird nur dann eine echte Wirkung nie eine gemeinsame Literaturpolitik gege- haben, wenn die Werke der Preisträger im ben hat, muss etwas mit dem Recht auf freie Anschluss in andere europäische Sprachen Meinungsäußerung zu tun haben, obwohl übersetzt werden. ich nicht weiß, warum nicht dasselbe Argu- Da jedoch nicht einmal der britische „Gu- ment für den Bereich des Agrarwesens gilt, ardian“ dem Preis bisher auch nur eine ein- dem sehr viel größere Bedeutung beigemes- zige Zeile gewürdigt hat, scheint es eine wei- sen wird. tere EU-Initiative zu sein, die es nicht über Literatur gedeiht durch Unterschiede, die Schwelle des gelangweilten Desinteresses nicht durch Ähnlichkeit. Es ist das größte seiner Mitbürger geschafft hat. Vielleicht be- Geschenk der Literatur, dass man zu einer trachtet man bei Büchern zentralisierte Richt- anderen Person werden kann, die sich zum Teil vollkommen von der eigenen Person un- terscheidet: Deshalb sind Lyrik, Drama und Jene Zeiten sind vorbei, in denen Belletristik stets die ersten Angriffsziele jeg- wir einzig und allein Norwegisch licher Gewaltherrschaft. Literatur ermöglicht uns, die Welt aus einem vollkommen anderen lernten, um Ibsen lesen zu kön- Blickwinkel zu sehen, in einen anderen Cha- nen. rakter zu schlüpfen, dadurch unsere Empa-

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thiefähigkeit zu erweitern und vielleicht sogar fälligerweise Amerikaner, Kameruner oder unsere Toleranz. Chinesen sind? Der große modernistische Lyriker Fernan- Wenn man es genau bedenkt, eignen sich do Pessoa hat mich beispielsweise nicht ein- die Vereinigten Staaten gut für einen interes- fach gelehrt, was es bedeutet, portugiesisch santen Vergleich. Die Unterschiede zwischen zu sein, sondern auch die Bedeutung von den einzelnen Staaten der USA sind genauso Anonymität und Menschlichkeit vermittelt. groß wie zwischen den europäischen Natio- Vielleicht wird der Roman „Os Meus Senti- nen (einschließlich des „Gefälles“ zwischen mentos“ von Dulce Maria Cardoso, der den Norden und Süden bzw. Osten und Wes­ Europäischen Literaturpreis gewonnen hat, ten), aber ein amerikanischer Schriftsteller eine ähnliche Wirkung haben. schreibt in erster Linie über Amerika statt Wenn also europäische Literatur eine beispielsweise über Kalifornien oder Maine mehrsprachige Sammlung von Unterschie- – ganz gleich, wie sehr die Eigenheiten ei- den ist, stellt sich die Schlüsselfrage, ob die ner bestimmten Region sich auf das jeweilige Kennzeichnung „europäisch“, die bei einem Werk auswirken. Fußballpokalspiel von so großer Bedeutung Mein verstorbener guter Freund Frederick ist, eine einigende Wirkung hat, oder ob es Busch war ein amerikanischer Romancier. nur eine Phrase ist, ein praktisches Mittel, Obgleich er sehr gerne „nach Europa“ (zurück um eine Vielzahl bunter Murmeln daran zu zu seinen Wurzeln) reiste und genau wusste, hindern, kreuz und quer über den Boden zu dass ich gleichzeitig über die britische und rollen. Würde man sich dieselbe Frage im Zu- die französische Staatsangehörigkeit verfügte sammenhang mit der Literatur des Common- (ich wurde als Kind britischer Eltern in Paris wealth stellen, die Gegenstand vieler Antho- geboren und lebe in Frankreich), war ich in logien und literaturkritischer Studien ist und seinen Augen kein „europäischer“ sondern ein deren Werke mit vielen Preise ausgezeichnet „englischer“ Romanschriftsteller. werden? Wie würde sich eine solche Definiti- Die Vereinigten Staaten von Amerika ha- on auf die „hispanische“ Literatur auswirken? ben sich ihre Identität mit Hilfe der emoti- onalen und symbolischen Mittel der Patria Zufällig Kameruner aufgebaut – jener Mittel, durch die Einwan- derer aus verschiedenen Nationen ihr Zuge- Der brandneue Literaturpreis Prix hörigkeitsgefühl zu einem riesigen, gerade Cévennes ist ein lobenswerter Versuch, li- eroberten Kontinent schöpften (und nach wie terarische Integration durch Vergabe eines vor schöpfen). Für amerikanische Schriftstel- Preises für den besten europäischen Roman ler ist dies der gemeinsame Resonanzboden, des Jahres zu fördern. Selbstverständlich muss ganz gleich, ob sie eine kritische, unterstüt- dieser Roman jedoch schon in der franzö- zende oder zurückhaltende Haltung gegen- sischen Ausgabe vorliegen: Und da man weiß, über ihren Land einnehmen. Seltsamerwei- wie vorsichtig die meisten französischen Ver- se handelt es sich um ein verhältnismäßig leger sind, wird es wohl nur wenige Über- junges, ein wenig oberflächliches und sogar raschungen geben. Und was ist mit all je- etwas künstliches Gebilde, das jedoch unge- nen außereuropäischen Schriftstellern, die heuer mächtig ist. in Europa leben, dort veröffentlicht werden Fungiert Europa als Resonanzboden für und sogar über Europa schreiben, jedoch zu- die Schriftsteller des Kontinents, so hat dies

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eher etwas Tiefgründiges und Tragisches politische (statt emotionale) Einheit der EU anstatt Triumphales. Es ist jene tragische gleicht zugegebenermaßen der streitsüch- Basston-Resonanz einer langen Geschich- tigen, stets Kompromisse eingehenden Art te außerordentlicher Errungenschaften und einer eher langweiligen Großfamilie. Die katastrophaler Niederlagen, demokratischer eingesetzten Mittel sind bürokratisch, und Feinabstimmungen und brachialer Erobe- es gibt eine Unmenge von Vorschriften und rungen. Die Europäische Union entstand aus Regelungen. In der verbrauchten Luft von der Notwendigkeit, die Wiederholung sol- Gremien ist die empfindliche Blume der Lite- cher Fehlschläge (die sich meist in Kriegen ratur zum Welken verurteilt. Dieser Zustand und Massakern manifestierten) sowie damit ist unglücklich, da die weiter oben erwähnten verbundenen Schmerz, Leid und Erschöp- Unterschiede weiterhin genauso viel Poten- fung künftig zu verhindern: Für die Literatur zial zur Tragödie wie zur Erbauung haben; ist menschliches Versagen jedoch sehr viel aber trotz aller löblichen und notwendigen interessanter als dessen Vermeidung – wir Anstrengungen haben weder Brüssel noch Schriftsteller wandeln alle im Schatten der Straßburg jemals auch nur zu einer großar- „Orestie“ und stöbern immer weitere Wur- tigen Zeile in der Literatur inspiriert – nicht zeln in den philosophischen Debatten der einmal aus Hohn und Spott – trotz der von Agora von Athen und den Abstimmungen mir geteilten Auffassung von John Keats: auf dem Hügel Pnyx auf. „Poetry makes everything interesting“ (Ly- Oftmals, wenn ich mich einen Augenblick rik macht alles interessant). lang wie ein Europäer fühle, geschieht dies Meine eigene Prosa war in jüngster Zeit nicht nur mit einem Gefühl der angenehmen ganz bewusst „europäisch“, was mehr aus Zugehörigkeit und sogar der Zuneigung, son- meinen persönlichen Umständen und dem dern mit dem Schauer und der Furcht eines Wunsch resultiert, die britische postimperi- unterschwelligen Schwindelgefühls; mit alistische Begrenztheit zu erschüttern. Bei- Stolz, der mit einem furchtbaren Schuldge- spielsweise spielt mein fünfter Roman „No fühl vermischt ist. Während sich die Mensch- Telling“, in dem es um einen französischen heit durch den katastrophalen Klimawandel Schuljungen geht, in einem finsteren Pariser mit den Folgen ihrer achtlosen Gier konfron- Vorort der Sechzigerjahre des 20. Jahrhun- tiert sieht, geschieht dies schließlich mit dem derts, und es kommt nicht eine einzige eng- Gefühl, dass dieser seinen schleichenden Ur- lische Figur darin vor. sprung in Europa hatte. Die gegenwärtige Ich nutzte meine doppelte Staatsangehö- rigkeit, um das Buch zu einem Fenster zu machen, durch das man ohne Kompromisse Wir Schriftsteller wandeln alle im auf eine andere Kultur blickt. Das Buch ver- kaufte sich trotz vieler und positiver Bespre- Schatten der „Orestie“ und stö- chungen schlecht, während die Ausgabe in bern immer weitere Wurzeln in holländischer Sprache etwas höhere Verkaufs- den philosophischen Debatten der zahlen erzielte. Mein Lektor war der Auffas- Agora von Athen und den Ab- sung, dass der Roman zu einem Bestseller hätte werden können, wenn er in Irland statt stimmungen auf dem Hügel Pnyx in Frankreich gespielt hätte. Britische Leser auf. möchten Frankreich lieber als malerisch und

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paradiesisch wahrnehmen – als Reiseziel und gefährlich es sein kann, sich über die eigenen Refugium. Grenzen zu wagen. Ich gab ihm zur Antwort, Interessanterweise hat „No Telling“ bisher dass die Bedeutung der Naziherrschaft nur noch keinen französischen Verleger gefun- wenig mit ihrer (kurzen) Dauer zu tun hatte, den. Frankreichs Verlage interessieren sich sondern mit ihren Folgen. In meinem Fall die in der Regel für britische Romane, die eine verheerenden Auswirkungen auf meine eige- vorgefasste französische Meinung über Groß- ne Familie als auch auf die polnischen Ver- britannien entweder bestärken oder wieder- wandten jüdischen Glaubens meiner Frau. holen. Daher ist die Literatur Europas, die Meine leidenschaftliche Verteidigungs- tatsächlich übersetzt wird, nicht unbedingt rede ließ ihn innehalten. Ich glaube, dass an bahnbrechend für das gegenseitige Verständ- jenem Abend ein winziges Stück des Ver- nis oder ein verändertes Bild über die jeweils schweißens – oder wenigstens Verlötens – andere Nation, sondern bestärkt aufgrund stattfand. Zumindest hatten wir beide die der Notwendigkeit guter Verkaufszahlen die Bedeutung interkultureller Sensibilität ver- alten Klischees: skandinavische Schwermut, standen. polnisches Trauma, französischer Sex. Für Und schließlich handelt „Between Each den britischen Durchschnittsleser ist Michel Breath“ (2007) explizit davon, wie das soge- Houellebecq das Summum Bonum zeitge- nannte „Alte Europa“ auf das „Neue Euro- nössischer französischer Belletristik. pa“ des ehemaligen kommunistischen Blocks Über meine deutschen Neffen (Söhne trifft: Ein glücklich verheirateter englischer meines Halbbruders, der einen belgischen El- Komponist mittleren Alters verliebt sich in ternteil hat) und durch die Erlebnisse meines eine estnische Studentin und ist sich der Kon- Vaters als Soldat im letzten Weltkrieg habe sequenzen nicht bewusst. Die Unterschiede ich Verbindungen nach Deutschland. Mein haben in diesem Fall verhängnisvolle, ja sogar Buch „The Rules of Perspective“ (2005) spielt tragische Folgen – teils durch gegenseitiges während eines Bombenangriffs auf eine deut- Unverständnis verursacht, das unter dem sche Stadt im Jahre 1944. Die Handlung teilt schönen Schein wohlmeinender Toleranz sich zwischen den schutzsuchenden Mitar- versteckt wird (zugleich verlieh ich meiner beitern des städtischen Kunstmuseums und satirischen Sicht auf die fetten, selbstzufrie- einem amerikanischen Infanterieoffizier, der denen Jahre unter der Regierung Tony Blairs einen Tag später durch die Ruinen stolpert Ausdruck). und die verbrannten Körper all jener Per- Dieser Roman wurde in die estnische sonen findet, deren Stimmen sich durch den Sprache übersetzt. Die estnischen Leser wa- ganzen Roman ziehen. Während ich an dem Roman schrieb, be- suchte ich Berlin und wurde von einem jun- gen Museumsangestellten heruntergemacht, Die tatsächlich übersetzten Bü- der wütend darüber war, dass sich schon cher bestärken aufgrund der wieder ein Engländer auf die wenigen Jahre Notwendigkeit guter Verkaufs- der Naziherrschaft konzentrierte und dabei zahlen die alten Klischees: skan- vollständig die Jahrhunderte „ganz gewöhn- licher“ deutscher Geschichte ignorierte. Es dinavische Schwermut, polnisches war ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie Trauma, französischer Sex.

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ren offensichtlich von dem Gedanken faszi- menschliche Wesen mit ähnlichen Neurosen, niert, ihr Land durch die Augen eines Auslän- Wünschen und Sorgen sind. ders zu sehen. Sie, die Bewohner einer kleinen Wenn auch die derzeitige politische und und bescheidenen Nation, waren verblüfft, bürokratische Einheit für das tiefere Schrift- dass überhaupt jemand über sie schreiben stellerempfinden eines „europäischen Seins“ wollte, und ich war im Gegenzug von ihrer nicht relevant ist, könnte dasselbe einigende Bescheidenheit überrascht, wenn man be- Gebilde mehr dafür tun, eine wahrhaft eu- denkt, dass Estland eines der ältesten und ropäische Literatur zu unterstützen, ohne stolzesten Mitglieder Europas ist, dem man die­se zu einem exklusiven Club zu machen. historisch sehr mitgespielt hat. Auf diese Wei- Ich traf kürzlich eine EU-Übersetzerin, die se lernte ich sehr viel durch diesen Roman von sinnlosen, einschläfernden Einzelheiten – weniger während des Schreibens selbst als endloser Vorträge, Memoranden und Be- durch die interkulturellen Nachwirkungen. richten zur Verzweiflung getrieben wurde, Niemand kann abstreiten, dass uns wahr- für deren Übersetzung vom Englischen ins scheinlich nur ein fragiler Konsens der EU Französische sie bezahlt wurde: Wenn nur ein von den alten Albträumen trennt, wenn man Bruchteil der ungeheuren Summen, die der bedenkt, dass ihre Reißfestigkeit wohl nur aus EU zur Verfügung stehen, der Literatur in der schieren Zahl und Komplexität der einzel- Form großzügiger Subventionen für Publika- nen Fäden resultiert, die in der Gemeinschaft tionen und Stipendien für Übersetzungen in zusammenlaufen. akzeptabler Höhe zuteilwürde, anstatt immer Aber es sind auch genau jene alten Alb- neue Preise ins Leben zu rufen, die es bereits träume, die uns als Europäer definieren: Teil in Hülle und Fülle gibt, hätte jener estnische unseres gemeinsamen Erbes, unserer Schuld. Roman eine größere Chance, in einem grie- Europa kontrolliert seine Grenzen zwar nicht chischen, slowakischen, belgischen (oder so- mehr im herkömmlichen Sinn auf Zölle und gar einem britischen) Buchladen aufzutau- Abgaben, aber die Grenzen existieren nach chen, und Unterschiedlichkeit würde als Teil wie vor. Für die Literatur können Sprachgren- eines gemeinsamen Abenteuers zelebriert. zen schlicht unüberwindbar sein. Versuchen Aus dem Englischen von Angelika Welt Sie einmal, in einem griechischen Buchladen zwischen den Büchern des Amerikaners Dan Brown und der Britin J. K. Rowling einen est- nischen Roman zu finden oder umgekehrt. Eine Nation wird jedoch nicht nur dadurch definiert, wie sie sich selbst wahrnimmt, son- dern auch dadurch, wie sie von außen wahr- Adam Thorpe, 1956 in Paris geboren, ist Dichter, Schriftsteller und Dramatiker. Er wuchs in Indien, genommen wird und wie sie andere sieht. Kamerun und England auf und lebt in Frankreich. Daher wäre mein Vorschlag für die wahr- Nach seinem Studienabschluss in Oxford 1979 hafte Rolle europäischer Literatur innerhalb gründete er ein Tourneetheater und tourte damit Europas (ganz zu schweigen von ihrer Rolle durch Dörfer und Schulen. Er gewann zahlreiche außerhalb einer Europäischen Union) Unter- Preise und Auszeichnungen. Seine letzten Ver- öffentlichungen: die Kurzgeschichten „Is this the schiede zu beleuchten statt Gleichmacherei Way You Said“ (2006), die Gedichtsammlung „Birds zu fördern – während sie auf der tiefgrün- with a Broken Wing“ (2007) sowie die Romane digsten Ebene zeigt, dass wir alle letztendlich „The Standing Pool“ (2008) und „Hodd“ (2009).

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25 A ngstfreude am Untergang Bedruckte Seiten weichen zunehmend digitalen Medienformaten. Kleinere Ver- lage haben es schwer, sich gegen die großen Konzern- verlage zu behaupten. Doch aus diesen Entwicklungen den baldigen Untergang des geschriebenen Kulturguts herauszulesen, ist voreilig. Der Autor hat Hoffnung. Von Rüdiger Wischenbart

letzten überlebenden Zeugen einer unter- gehenden Buch- und Lesekultur zu zäh- len, wird nun seit gut einem Jahrzehnt das Ende einer Ära beklagt. Doch diese Szena- rien werden meist ohne empirische Evidenz vorgetragen. Gewiss, dass Buch- und Lesekultur in- mitten gravierender Veränderungen stehen, ist nicht zu übersehen. Doch muss Verände- rung nicht „Ende“ oder „Untergang“ bedeu- ten. An einigen Kennlinien soll deshalb im Folgenden versucht werden, den Status quo sowie sich abzeichnende Trends der Buch- kultur auf der Basis von empirischen Evi- elche Stellung nimmt das Kul- denzen zu beschreiben. turgut „Buch“ in unserer Ge- „A book is a non-periodical printed pu- sellschaft heute noch ein? Wie blication of at least 49 pages, exclusive of bedeutendW ist das Urheberrecht? Welche the cover pages, published in the country Rolle haben Verlage und Handel in der mo- and made available to the public” lautet die mentanen Entwicklung inne? Standarddefinition der UNESCO vom 19. Fragen wie diese werden in der aktuellen November 1964. Nicht viel anders sieht es Debatte um Trends und Entwicklungen der Meyers Großes Universallexikon in 15 Bän- Buchkultur immer wieder Ausgangspunkt den: „Mehrere zu einem Ganzen zusammen- pessimistischer Thesen. geheftete bedruckte, beschriebene oder leere Es ist etwa die Rede von der Bedrohung Blätter, die in einem Einband eingebunden der Kultur insgesamt durch Digitalisie- sind.“ Diese Betrachtungsweise gilt weitge- rung und Aushöhlung des Urheberrechts, hend seit dem 19. Jahrhundert, ohne große von Homogenisierung und Verflachung Veränderungen. Im Wörterbuch der Brüder des Angebots durch den übermächtigen Grimm heißt es erst einmal „mehrere Blät- Konkurrenzdruck von Bestsellern aus dem ter machen ein buch; ich habe mir ein buch englischsprachigen Raum und von der Vor- geheftet, in das ich alle ausgaben eintrage; macht weniger angelsächsischer Konzerne. schreibe das zum gedechtnis in ein buch.“ In einer wahrhaften „Angstlust“, zu den Das Dictionnaire de la Langue Française

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von Littré von 1869 definiert das Buch als die Globalisierung im heutigen Sinn vor ge- eine „Assemblage d’un assez grand nombre rade einmal einem Jahrzehnt. Im Frühjahr de feuilles portant des signes destinés à être 1998 kündigte der deutsche Bertelsmann lus“, während ein Jahrhundert später der po- Konzern die Übernahme des größten US- puläre Petit Robert in der Ausgabe von 1968 amerikanischen Publikumsverlags, Random über das Buch sagt: „Reunion de plusieurs House, an. Die Vision des damaligen, heute cahiers de pages manuscrites ou imprimées.“ längst geschassten Vorstandsvorsitzenden Was die Definitionen hervorheben am Thomas Middelhoff war es, die Aufführung Buch ist stets die Abgeschlossenheit des der Oper Turandot in Weltklassebesetzung Werks wie auch, dass es einen bestimmten in Peking zu organisieren. Die Musik- wie Mindestumfang haben müsse und dass es auch die TV-Aufnahmen sollten über die eine öffentliche Dimension habe („made konzerneigenen Musik- und Fernsehspar- available to the public“). Auch die Auto- ten global vermarktet und ein begleitender renschaft schimmert mitunter, wenn auch Prachtband sollte über die Konzernverlage nicht immer, durch. in zahlreichen Sprachen vertrieben werden, Keine Erwähnung finden jedoch die während die Hochglanzmagazine des Im- besondere kulturelle Bedeutung des Buchs periums darüber berichten. Der Plan ging etwa als Medienformat, oder jene viel- jedoch nicht auf. fältigen Instrumente, die in vielen euro- Die Verlagslandschaft ist in Deutsch- päischen Ländern zu seinem besonderen land, aber auch, mit einigen Abstrichen, in Schutz eingeführt wurden – ob dies nun Frankreich immer noch durch und durch rechtliche wie das Urheberrecht oder materi- von mittelständigen Unternehmen getra- elle wie der gebundene Ladenpreis sind. Dies gen. Und selbst wenn man einen globalen ist umso bemerkenswerter, als die Autoren Blick riskiert, wird rasch deutlich, dass welt- dieser Definitionen – ob bei der UNESCO weit die Buchindustrie europäisch domi- oder in den Redaktionen der Lexika – wohl niert wird. In den USA rivalisieren das in durchweg Personen waren, denen die Ar- den vergangenen zehn Jahren nun tief in gumentation über die Besonderheiten des den Bertelsmann Konzern integrierte Ran- Medienformates Buch geläufig war. dom House und die zum französischen Lagardère Konzern gehörende Hachette Wichtiger Wissenscontainer Gruppe um die Spitzenposition. Beides sind übrigens von Eigentümerfamilien geführte Zudem könnten alle diese Definitionen Unternehmensgruppen. Ähnliches gilt für ohne große Probleme auch als Beschrei- Mondadori, Bonnier und neuerdings Pla- bungen digitaler Bücher (E-Books) taugen, neta, das sich anschickt, die französische weil sie eben nicht die Details des bishe- Nummer zwei, Editis zu schlucken, so dass rigen Buchformats auf Papier als wesentliche eine neue europäische Gruppe heranwächst, Grundlage für ihre Definitionen benötigen. die schon jetzt ganz klar den internationalen Sie sind, im Gegenteil, weitgehend medi- spanischsprachigen Markt dominiert. enneutral und für Innovationen offen. Ein Jahr vor dem Griff von Bertelsmann Für Bücher, den vielleicht immer noch über den Atlantik gab es den vielleicht viel wichtigsten Wissenscontainer selbst in einer bemerkenswerteren globalen Siegeszug eines zunehmend digitalen Gegenwart, begann an sich unscheinbaren Romans, „The God

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of Small Things“, der aus dem südindischen lianischem Portugiesisch (Paulo Coelho). Kerala stammenden indischen Autorin Außereuropäische oder auch nur zentral- Arundathi Roy. Innerhalb eines Jahres setzte oder osteuropäische Sprachen kamen als sich das Buch, eine pralle Dorfgeschichte, Herkunftssprachen der Romane nicht vor. auf Bestsellerlisten von Deutschland bis Ar- Wenn man die Verlage näher betrachtet, gentinien. Hinter der weltweiten und vor die diese international erfolgreichen Autoren allem auch im Zeitraffer abgelaufenen Er- präsentierten, findet man zweierlei heraus: folgsstory, die völlig neue Dimensionen ei- Dass die globalen Konzernverlage zwar ihre ner globalen Literatur erschloss, standen, als Schwergewichte wie etwa Ken Follett un- Organisatoren und Plattformen, im Kern ter den Autoren haben, deren internationale eine Londoner Agentur sowie das gut geölte Übersetzungsrechte dann auch recht syste- Räderwerk des internationalen Rechtehan- matisch entlang der Konzernfilialen wei- dels mit seinen Börsenplätzen in Frankfurt tergegeben werden, zunehmend öfter auch und London. mit international synchronen Erscheinungs- Auch hier ist eine zwar hoch effiziente terminen. Maschinerie entstanden – die der Agenturen Aber konzernunabhängige Verlage spie- und Scouts – , doch nichts könnte unsin- len unverzagt bei vielen der Spitzenautoren niger sein, als sich deshalb die globale Buch- und ihren Werken die erste Geige. Dies wirtschaft als zentralisierte, von wenigen galt zuletzt etwa für Khaled Hosseini, der Großakteuren und Konzernen getragene Fa- in Großbritannien im Harry-Potter-Verlag brik zur kulturellen Vereinheitlichung vor- Bloomsbury für gute Umsätze sorgte, oder zustellen. Stieg Larsson, der in Südfrankreich bei Actes Für das Jahr 2008 haben wir unlängst Sud verlegt wird. Ein weiteres Beispiel für neun internationale Hauptmärkte auf der die bedeutende Rolle der konzernunabhän- Basis von Top-10-Bestsellerlisten ausge- gigen Verlage ist auch der europäische Über- wertet (USA, Großbritannien, Frankreich, raschungserfolg des Jahres 2008 schlecht- Deutschland, Spanien, Italien, Schweden, hin, der ebenso skurrile wie sperrige Roman Niederlande sowie China) und herausgefun- „L’élégance du hérisson“ von Muriel Barbery den, dass nur fünf Autoren in vier oder mehr bei Gallimard. Ländern ins Spitzensegment der Bestseller Überhaupt ist die Durchschlagskraft der vorstoßen konnten (Khaled Hosseini, Stieg Konzerne eine zwiespältige Angelegenheit. Larssen, Ken Follett und John Grisham). Natürlich hat das letzte Jahrzehnt enorme Für die zwölf Monate zwischen April Umwälzungen gebracht, wie es etwa die 2008 und März 2009 haben wir nach dem Mitarbeiter in den konzernunabhängigen gleichen System die 40 erfolgreichsten bel- Verlagen, bei Hanser oder Suhrkamp in letristischen Autoren untersucht und dabei entdeckt, dass nur 13 von ihnen auf englisch schreiben, unter ihnen der gebürtige Afgha- ne Khaled Hosseini, die Irin Cecelia Ahern S elbst wenn man einen globalen sowie der indische Man-Booker-Preisträger Blick riskiert, wird rasch deutlich, Aravind Adiga. Die 27 anderen Autoren schrieben allerdings ausschließlich in den dass weltweit die Buchindustrie europäischen Hauptsprachen sowie brasi- europäisch dominiert wird.

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Deutschland, bei Gallimard oder Actes Sud satz von rund 3,1 Milliarden Euro (2008). in Frankreich oder gar deren Kollegen in Welchem Anteil am deutschen Gesamt- kleineren Märkten, in Dänemark oder Slo- markt von rund 9,5 Milliarden Euro dies wenien, Schweden oder Österreich, gewürzt entspricht, lässt sich nur sehr grob schät- mit zahllosen Anekdoten oder ausgereiften zen, denn einzuberechnen sind die Rabatte, Fallgeschichten darzulegen vermögen. die die Verlage dem Handel einräumen, bei Die Risiken, die kleinere bis mittelgroße Büchern zumeist um die 50 Prozent. Doch Verlage mit ihren Titelentscheidungen ein- bei Wissenschaft, Bildung und Fachinfor- gehen müssen, sind aufgrund der immer mation gibt es völlig andere, uneinheitliche höheren Vorauszahlungen sowie komple- Verteilungsschlüssel, sie machen rund die xer Veränderungen am Markt enorm an- Hälfte des Umsatzes der zwölf größten Ver- gestiegen. lagsunternehmen aus. Nur fünf der Top-12-Verlage sind primär Ausgereifte Fallgeschichten im Bereich des allgemeinen Buchs auf dem Markt aktiv (also in Belletristik, Sachbuch, Die wenigen wirklichen Spitzentitel – Kinderbuch, Reiseliteratur etc.): Random und deren Autoren – entscheiden mit ihrer House, die Verlage der Holtzbrinckgrup- Performance beim Lesepublikum und bei pe, Weltbild, MairDumont und schließlich den Medien fast durchgängig und Saison die Verlage der Bonniergruppe. Insgesamt für Saison wieder über Erfolg und Misser- machen die Top-Verlagskonzerne in den ge- folg, Gedeih oder Verderben ganzer Ver- nannten Bereichen (auf Englisch unter dem lagsunternehmen. Das solide Mittelfeld ist Begriff „Trade“ versammelt) im gesamten indessen zusehends vom Einsturz bedroht. deutschen Sprachraum gerade einmal eine Die durchschnittlichen Verkaufsauflagen, Milliarde Euro Umsatz pro Jahr. Eine die die vor nicht allzu langer Zeit 10 000 oder Kleinteiligkeit und die Vielfalt der Kulturen 15 000 Exemplare für einen soliden Erst- homogenisierende Industriemaschinerie lingsroman betrugen, sind im Durchschnitt sieht jedenfalls anders aus. drastisch zurückgegangen, auf 3000 oder Das klassische Bild für die Vielfalt der 5000, und dies bei ständig wachsender Zahl Bücher ist jenes der Bibliothek, mit ihrer der Neuerscheinungen und der Remissi- geradezu unüberschaubaren Zahl von ein- onen, also der nach ein paar Monaten vom zelnen Bänden. Jeder für sich scheint ein Buchhandel retournierten, weil nicht rasch abgeschlossenes Ganzes zu sein und doch genug abgesetzten Bücher. Die Konzernver- sind alle verknüpft durch die systematische lage arbeiten hier mit Masse und Volumen, Ordnung der Katalogisierung der Bestände haben eine stärkere Position im zunehmend wie auch, weniger offensichtlich, durch die konzentrierten Handel, oft auch mit besse- unsichtbaren Verbindungen zwischen den ren Rabattkonditionen und prominenterer Büchern über das fein gesponnene Wissens- Platzierung im Laden. netzwerk, das die Benutzer der Bibliothek, Aber im Grunde sind die Riesen viel klei- die Lesenden, knüpfen. ner als ihr Ruf. Für eine nähere Betrachtung Das Bild von der Bibliothek steht aber ist es sinnvoll, sich für Deutschland die zwölf auch für den geschlossenen, hoch speziali- größten Verlagsgruppen eingehender anzu- sierten Raum der Bücher – und der beginnt sehen. Gemeinsam machen sie einen Um- sich tatsächlich vor unseren Augen aufzu-

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lösen. Es ist aber etwas simpel im Ansatz, heute die digital integrierte Verwertungs- wie es zuletzt etwa die Initiatoren des so kette die Regel, und nicht mehr die Nische. genannten „Heidelberger Appells“ getan Konzerne wie Thomson werben bei Inve- haben, auszurufen: „Unsere Kultur ist in storen damit, mehr als 80 Prozent ihrer Um- Gefahr“. sätze und Erlöse aus digitalen Produkten zu Die Digitalisierung nicht nur einzelner erwirtschaften. Mit dem Wechsel vom Buch Titel, sondern, viel stärker noch, des gesam- zum digitalen Produkt geht zumeist auch ten Gestehungs-, Verbreitungs- und Ver- eine ebenso fundamentale Veränderung im wertungszusammenhangs rund ums Buch Geschäftsmodell einher, wenn nämlich statt ist gewiss eine Kraft der Umgestaltung von des einzelnen Titels oder einzelner Reihen e­normer Wucht. Aber ob dies die Autoren möglichst Abonnementmodelle durchge- der absehbaren Zukunft davon abhalten setzt werden, weil diese wesentlich stetigere wird, ihren nächsten Roman, Essay oder und somit besser berechenbare Einnahmen Gedichtband zu schaffen, ist zumindest versprechen. zweifelhaft. Was sich bereits heute aufgelöst hat, un- Schreiben ohne Honorar wiederbringlich, ist der einheitliche Raum des Buchs als Medienformat für die Aufbe- Diese Entwicklung erreicht den viel kon- reitung und Übermittlung komplexer Wis- servativeren wie auch stärker fragmentierten sensbestände. Bereich des „Trade“ erst allmählich. Die Ver- Unter den weltweit größten Verlagskon- lage haben sich auf vielfältige Weise gegen zernen haben sich im vergangenen Jahr- rasche Veränderungen gestemmt. Aber der zehnt, und mit besonderer Dynamik seit Druck wächst. Denn einerseits veränderten etwa fünf Jahren, drei Segmente gegeneinan- sich die Gewohnheiten des Lesepublikums, der ausdifferenziert: Fachinformation (wozu das verschiedene „Screens“ – vom Compu- auch weite Teile der wissenschaftlichen Pu- ter bis zum Mobiltelefon – in immer mehr blikationen zu zählen sind), Bildung (was Bereichen des Alltags als die natürliche nicht nur Lehrunterlagen, sondern vor allem Schnittstelle im Umgang mit Information, auch standardisierte Testverfahren umfasst), Unterhaltung und kulturellem Austausch sowie schließlich „Trade“, also das, was wir nutzt. Zum anderen steigt der Kostendruck, traditionell mit Buchverlagen verbinden. und die aktuelle Wirtschafskrise wird ab- Umstrukturierungen, Verschiebungen sehbar, wie so manche Krise in der Vergan- großer Unternehmenseinheiten, die insbe- genheit, zu einem machtvollen Generator sondere im Bildungsbereich aus gewach- von Veränderung und Umbrüchen werden. senen Verlagskonzernen ausgegliedert wur- Dass die Digitalisierung die Vielfalt der den, sowie der – häufig wenig glückhafte Veröffentlichungen beeinträchtigen wird, ist – Einstieg von Private Equity Funds insbe- jedoch keine zwangsläufige Folge aus diesen sondere bei der als lukrativ geltenden Fach- Entwicklungen. Vielmehr sind es Anpas- information haben innerhalb weniger Jahre sungen im traditionellen Buchhandel, die zu einem Komplettumbau weiter Teile der hier bereits jetzt erhebliche Verschiebungen internationalen Verlagsindustrie geführt. bewirken. Zwei Basistrends verstärken sich In zwei der drei Bereiche – bei Fachinfor- hier wechselseitig: Zum einen öffnet sich die mation und Bildung – ist außerdem schon Schere zwischen der jährlich weiter anwach-

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senden Zahl von Neuerscheinungen und den hat sich schon heute in diesen Bereichen der sinkenden durchschnittlichen Verkaufsauf- Musikproduktion angenähert, wo die Ver- lagen immer weiter. Zum anderen bilden öffentlichung eines Tonträgers ebenfalls für Vertriebswege und Rabattentwicklungen viele Musiker ein Promotions-, und nicht für Titel und Verlage mit geringer Markt- primär ein Einkommensträger ist. macht – und diese sind die Hauptträger der Was sich demgegenüber jedoch wenig Vielfalt – immer höhere Schwellen für den verändert, ist die Tatsache, dass Bücher Marktzugang. verfasst und zur Veröffentlichung gebracht Literarische Übersetzungen aus weniger werden, in sowohl inhaltlicher Vielfalt wie präsenten Sprachen, kulturelle und geistes- auch, durch die digitalen Optionen wesent- wissenschaftliche Aufsätze und Dokumen- lich erweitert, in unterschiedlichsten Medi- tationen, lokale Bildungstitel und Kinder- enformaten. Das Buch als „das universellste bücher, künstlerische Arbeiten jenseits des und gebräuchlichste Format für den Aus- Mainstream werden schon jetzt, selbst in tausch von Ideen und von komplexem Wis- professionellen Verlagen, zunehmend ab- sen“ scheint auch in Zukunft unverzichtbar seits der Kriterien einer marktwirtschaftlich und effizient. orientierten Kulturproduktion publiziert. Was sich abzeichnet, ist indessen eine Stattdessen gestehen viele hoch angesehene weitere Fragmentierung des einstmals ge- Verlage längst freimütig ein, bestimmte schlossenen Raums der Bibliothek. Nach Übersetzungen von wenig gängiger Lite- der Abgrenzung der herkömmlichen Bü- ratur nur noch ins Programm zu nehmen, cher gegenüber den schon jetzt digital in- wenn zumindest die Übersetzungskosten tegrierten Spezialwissensbeständen deutet durch Fördermittel gedeckt sind. vieles darauf hin, dass sich nun als nächstes Mit wenigen Ausnahmen schreiben und unter der weiten Klammer des traditionellen publizieren Autoren in den Geisteswissen- Buchs kommerziell verwertbare Segmente schaften ohne Autorenhonorar. In weiten von den kulturell zwar überaus wichtigen, Wissensbereichen wird sogar darüber hinaus jedoch zunehmend in nicht auf Profit und von den Autoren erwartet, dass sie selbst, ne- auf Autoreneinkommen ausgerichteten Mo- ben dem Verzicht aufs Honorar, Mittel für dellen abgrenzen. Herstellung und Verbreitung ihrer Werke Die Erschließung dieser – inhaltlichen herbeischaffen. Die Rentabilität für die Au- wie medialen – Vielfalt ist der vielleicht toren stellt sich da meist erst auf Umwegen, wichtigste Schlüssel für die künftige Nutz- durch Reputationszugewinn, Profilierung barmachung der Bücher unter solch kom- und Selbstvermarktung ein. Die Buchkultur plexen wie unübersichtlichen Verhältnis- sen. Deshalb ist die öffentliche Kontroverse rund um das Katalogisierungsmonopol von Google und um eine rechtliche Absicherung Mit Angstappellen wird hier nur über Zugänge und Verfügungsgewalt über ein verrückter Popanz aufgebaut, die Vielfalt der Inhalte gewiss der richtige der weder für Autoren noch für Streit zum richtigen Zeitpunkt. Aber Google einfach als alle Freiheit von Buch und Kul- deren Verlage eine Perspektive er- tur verschlingenden Moloch zu stilisieren, öffnet. ist Unsinn, so lange es nicht alternative Mo-

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delle gibt, in einer digitalen und fragmen- tierten Welt der unterschiedlichsten Bücher Zugang und Überblick, Ordnung und Ver- breitung zu organisieren. Mit Angstappellen wird hier nur ein verrückter Popanz aufge- baut, der weder für Autoren noch für deren Verlage eine Perspektive eröffnet. Zugleich wird auch zunehmend klar, dass eine bestehende und universelle Re- gulierung, die allein die Autorenschaft zur Grundlage nimmt, zu kurz greift. Nicht die Aushöhlung des Urheberrechts, nicht Pira- terie, Monopolbildungen oder umgekehrt eine räuberische Freibier-Mentalität erwei- sen sich bei den aktuellen Entwicklungen als die treibenden Kräfte, sondern ein kom- plizierter Mix aus neuen Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten, veränderten kul- turellen Gewohnheiten und Ungleichge- wichten zwischen kommerziell überaus er- folgreichen Autoren und Werken gegenüber solchen, die Erfolg im Umweg über andere Anreize und Anerkennungen suchen. Aus dem einen geschlossenen Raum der Bibliothek ist ein nach vielen Seiten offenes, oft auch unübersichtliches Gelände entstan- den, in dem die alten geschlossenen Gebäude wichtige, jedoch bald nicht mehr die allein bestimmenden Orientierungsmarken sein werden. Die Vielfalt des Buchs spiegelt sich in einer Vielfalt der Lesenden und ihren unterschiedlichen Nutzungsweisen. Geht man darüber zurück auf die schlanken De- finitionen des Buchs, befreit es vom Ballast Rüdiger Wischenbart, geboren 1956 in Graz, ar- der Überhöhung und symbolischen Überla- beitet als Berater und Inhaber von Content and Con- sulting in Wien mit den Tätigkeitsschwerpunkten denheit, dann kommt rasch wieder seine er- internationale Kultur, Medien und Buch. Er erstellt probte Zweckmäßigkeit zum Vorschein, und das jährlich aktualisierte „Global Ranking of the Pu- damit die Kontur für eine gute Zukunft. blishing Industry“, untersucht internationale Bestsel- ler für ein Netzwerk aus Fachmagazinen und berät internationale Buchmessen. Zuletzt veröffentlich- te er den „Diversity Report 2008“ über Trends und Entwicklungen bei Übersetzungen in Europa. Mehr unter www.wischenbart.com sowie auf seinem Blog www.booklab.info

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33 L esefrust und Leselust Griff vor acht Jahren noch jeder dritte Deutsche regelmäßig zum Buch, ist es heute nur noch jeder Vierte. 2005 ergab eine britische Studie, dass 27 Prozent aller Briten überhaupt nie ein Buch und weitere 7 Prozent nur dann ein Buch lesen, wenn sie im Urlaub sind. Wie verändern sich die Lesegewohn- heiten in Europa? Von Angus Phillips

bevorzugten Quelle der Information gewor- den. Die heutige Alltagshektik verwehrt vie- len die Ruhepause, die man braucht, um ein Buch in die Hand zu nehmen und mit Genuss zu lesen. Für Henry Perowne, den erfolgreichen Neurochirurgen in dem Roman „Satur- day“ des britischen Autors Ian McEwan ist das Lesen von Erzählliteratur harte Arbeit: „Nicht nur irgendwelche Besorgungen, fa- miliäre Verpflichtungen und der Sport be- anspruchen seine Freizeit, er wird auch von jener Unrast getrieben, die so typischerweise auf diesen wöchentlichen Inseln der Sorglo- ür den Apple-Gründer Steve Jobs ist sigkeit aufkommt. Er hat keine Lust, seine die Sache eindeutig. Zum Thema freien Tage im Liegen oder auch nur im Sit- Buch sagt er: „Es ist eine Tatsache, zen zu verbringen. (…) Auch liegt ihm nicht dassF die Menschen keine Bücher mehr le- viel daran, Bücher zu Ende zu lesen. Nur bei sen“. Trifft das zu? Unterscheiden sich die der Arbeit ist er zielstrebig, in der Freizeit Lesegewohnheiten der einzelnen Länder ist er ungeduldig. Es überrascht ihn, wenn und Regionen Europas? Wenn ja, wie las- er hört, was manche Leute am Feierabend sen sich diese erklären? Verändert sich auch schaffen, wie sie vier, fünf Stunden am Tag unser Lesestoff? damit zubringen, den landesweiten Durch- Die Statistiken sprechen eine klare Spra- schnitt im Fernsehen zu heben.“ (McEwan, che: Es werden immer weniger Bücher ge- 2005, S. 93) lesen. Dies überrascht wenig angesichts der So manche Untersuchung über die Lese- Konkurrenz, der das Buch seitens anderer gewohnheit in einzelnen Ländern ist wirk- Medien vom Fernsehen über Computerspie- lich alarmierend. 2005 ergab eine britische le bis hin zum Internet ausgesetzt ist. Studie, dass 27 Prozent aller Briten über- Doch auch der Stellenwert des Buches haupt nie ein Buch und weitere 7 Prozent in der Gesellschaft hat sich verändert. Viele nur dann ein Buch lesen, wenn sie im Ur- Menschen entspannen sich bei Film und laub sind (BML, 2005). Nach einer Un- Fernsehen. Das Internet ist mittlerweile zur tersuchung von 2008 lesen 25 Prozent der

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Deutschen keine Bücher. (Stiftung Lesen, tigkeit handeln musste. Sowohl in Frank­ 2008). Die Entwicklung in Deutschland reich als auch in Großbritannien fielen die geht dahin, dass pro Jahr weniger Bücher Ergebnisse anders aus als in den Niederlan- gelesen werden: Die Zahl derer, die ein den. In diesen beiden Ländern war bei Be- bis fünf Bücher pro Jahr lesen, nimmt zu rücksichtigung aller Druckerzeugnisse eine (44 Prozent gegenüber 38 Prozent im Jahr Zunahme der mit Lesen verbrachten Zeit zu 2000), während die Zahl derjenigen, die 11 verzeichnen, und auch die Zahl der Buchle- oder mehr Bücher im Jahr lesen, abnimmt ser hatte zugenommen. Insgesamt allerdings (28 Prozent im Vergleich zu den 34 Prozent war die Lesebeteiligung, wenn alle Formen des Jahres 2000). des Lesens berücksichtigt wurden, ebenso Statistiken über Lesegewohnheiten ist wie in den Niederlanden zurückgegangen: mit einer gewissen Vorsicht zu begegnen. In Frankreich von 44 Prozent (1975) auf 35 So ergeben allgemeine Fragen zum Lesen Prozent (1998) und in Großbritannien von nicht unbedingt ein vollständiges Bild. In 66 Prozent (1975) auf 58 Prozent (2000). den Niederlanden wurde bei zwei Umfragen Wo gezielt nach dem Lesen von Büchern in den Jahren 1975 und 2000 festgestellt, gefragt wurde, kam die Studie zu dem Er- dass in diesen beiden Jahren jeweils gleich gebnis, dass je nach Bildungsstand und Ge- viele Menschen im Vormonat der Umfrage schlecht (Frauen lasen mehr als Männer) zum eigenen Vergnügen Bücher gelesen hat- unterschiedlich viel Zeit mit Lesen verbracht ten. Eine Tagebuchstudie hingegen ergab, wird. In Frankreich etwa wird in Single- dass im gleichen Zeitraum der prozentua- Haushalten mehr als in anderen Haushal- le Anteil derer, die innerhalb einer Woche ten gelesen, und wer kleine Kinder hat, liest mindestens eine Viertelstunde lesen, von 49 dort weniger. auf 31 Prozent zurückging (Knulst und van den Broeck, 2003). Nationale Unterschiede Eine internationale Zeitverwendungsstu- die, in der Daten aus fünf Ländern mitei- Der Anteil denjenigen, die Bücher lesen, nander verglichen wurden (Southern et al., ist in Europa je nach Land und Region un- 2007), hat bestätigt, dass in den Nieder- terschiedlich hoch. Bei einer Untersuchung landen tatsächlich immer weniger Zeit mit der Buchlektüre, die nicht Arbeits- oder Stu- Lesen verbracht wird, dass aber die Lesebe- dienzwecken dient (Skaliotis, 2002), ergab teiligung nach wie vor hoch ist (90 Prozent). sich im Jahr 2001 für die EU ein Gesamt- Die Studie erfasste sämtliche Drucker- durchschnitt von 45 Prozent – wobei die zeugnisse – also nicht nur Bücher, sondern höchsten Prozentzahlen in Schweden (72 auch Zeitungen und Zeitschriften – und Prozent), Finnland (66 Prozent) und Groß- ging von der Voraussetzung aus, dass es sich britannien (63 Prozent) festzustellen waren. beim Lesen um die jeweils primäre (also Die niedrigsten Durchschnittswerte hinge- nicht der Arbeit oder Bildung dienende) Tä- gen waren in Portugal (15 Prozent) und Bel- gien (23 Prozent) zu verzeichnen. In fünf der damals fünfzehn Mitglied- staaten lasen 50 oder mehr Prozent der Be- Das Lesen von Erzählliteratur völkerung überhaupt keine Bücher – weder ist harte Arbeit. für Arbeit oder Studium noch zum Vergnü-

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gen. Die jüngste Eurobarometer-Umfrage Nord- und Südeuropa unterscheiden sich (2007) bietet keine direkte Vergleichsmög- hinsichtlich des Bildungsniveaus ihrer Be- lichkeit, da darin verschiedenartige Fra- völkerungen und offensichtlich besteht zwi- gen gestellt wurden, die alle Formen des schen Buchlektüre und Bildungsstand ein Bücherlesens umfassten. Der prozentuale enger Zusammenhang. Anteil an Menschen, die in den zwölf der Welche anderen Möglichkeiten gibt es, Umfrage vorausgehenden Monaten mehr als das Lesen zu messen? Eine Messgröße ist fünf Bücher gelesen hatten, war in Schwe- der Buchabsatz, der sich für jedes Land an- den (60 Prozent), Dänemark (56 Prozent) hand der pro Kopf verkauften Bücher ermit- und Großbritannien (56 Prozent) am höch- teln lässt. Dabei sind allerdings auch andere sten. Aus der Umfrage ging auch hervor, wie Faktoren wie Bibliotheksnutzung, Second- viele Menschen im Jahr vor der Umfrage gar Hand-Käufe und das Weiterreichen von Bü- keine Bücher gelesen hatten: Die höchsten chern (im Freundes- und Familienkreis) zu Durchschnittswerte waren in Malta (54 Pro- berücksichtigen. zent), Portugal (49 Prozent) und auf Zypern Mit zunehmendem Alter, Einkommen (43 Prozent) festzustellen (Eurobarometer, und längerer Bildungsdauer nimmt auch der 2007). Bücherkauf zu. Sinkende Buchpreise und die Dass die Lesegewohnheiten in Europa breitere Verfügbarkeit von Taschenbüchern unterschiedlich sind, hat verschiedenste sind mitverantwortlich für höhere Verkaufs- Gründe wie Lesekultur, Verfügbarkeit von zahlen. Aber ist vor dem Hintergrund, dass Büchern, Büchereibestand und Bildungs- bei vielen von uns eine ganze Reihe ungele- möglichkeiten, Bildungsniveau, Urbanisie- sener Bücher im Regal steht, der Buchkauf rungsgrad und Volkseinkommen. Es beste- ein geeigneter Gradmesser? Die in Großbri- hen klare Unterschiede zwischen Nord- und tannien so weit verbreiteten 3-für-2-Ange- Südeuropa, wobei in den Mittelmeerländern bote dürften dazu führen, dass die Anzahl weniger gelesen wird. Wie lassen sich diese ungelesener oder in Charity-Shops angebo- Unterschiede erklären? tener Bücher noch weiter steigt. „Wie die Menschen ihren Tagesablauf Das Kaufverhalten für Bücher fällt je und ihre Zeit strukturieren, ist von Land nach Buchpreisgestaltung und Verfügbar- zu Land ähnlich, auch wenn manche Un- keit verschieden aus. Die Marktdurchdrin- terschiede festzustellen sind. In den Mit- gung mit Buchhandlungen ist von Land zu telmeerländern und insbesondere in Fran- Land unterschiedlich, und in manchen gibt kreich sind die Mittagspausen länger und die Mußestunden somit in der Summe kürzer als anderswo. Die Finnen verfügen über eine Die Lesegewohnheiten in Eu- Stunde mehr Freizeit als die Franzosen und Italiener.“ (Eurostat Pocketbook, S. 149) ropa hängen von Lesekultur, Dass in Griechenland relativ wenig Bü- Verfügbarkeit von Büchern, cher und Zeitungen gelesen werden, hat ver- Büchereibestand und Bildungs- schiedene Gründe: mediterranes Klima, ein möglichkeiten, Bildungsniveau, verhältnismäßig spät erfolgter Bildungsauf- schwung und ein unterentwickeltes Biblio­ Urbanisierungsgrad und Volks- thekswesen (Banou und Phillips, 2008). einkommen ab.

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es größere Sortimente preiswerter Taschen- S chreiben verstärkt zur Freizeitgewohnheit bücher. Einige Staaten wie Deutschland und junger Menschen avancieren (auch wenn Frankreich halten an der Buchpreisbindung dadurch weniger Bücher gelesen werden) fest, während andere, insbesondere Großbri- (FNBE, 2009). Für den gegenwärtigen Auf- tannien, einen erbitterten Discount-Preis- lagenschwund der Zeitungen in vielen Län- kampf zulassen. Dort sind verbilligte Bücher dern wird oftmals die zunehmende Nutzung nicht nur in Buchhandlungen, sondern auch des Internets verantwortlich gemacht. Bei in Supermärkten und im Internet erhältlich. einer EU-weiten Umfrage im Jahr 2007 ga- Ein hoher Anteil an Lesern von Büchern ben 35 Prozent aller Befragten an, dass sie ist indes in Skandinavien festzustellen. In online auf Nachrichten und Zeitschriften- Finnland werden pro Kopf ausgesprochen artikel zugreifen – 49 Prozent hatten einen viele Neuerscheinungen veröffentlicht und Internetzugang zu Hause (Eurostat Pocket Bücher verkauft. Die Schulkinder in Finn- Book, 2007, S. 142 und 144). land sind für ihre Leseleistung bekannt. Zahlen aus Großbritannien deuten da- Beim PISA-Lesetest im Jahr 2000 belegte rauf hin, dass die Nutzung des Internets sich Finnland den ersten Platz. (OECD, 2002). auch auf andere Medien, darunter Bücher, Auch die Entleihzahlen der finnischen Bi- auswirkt. Eine Untersuchung aus dem Jahr bliotheken sind hoch: „Die Finnen sind die 2007 hat gezeigt, dass rund 26 Prozent der eifrigsten Bibliotheksnutzer Europas. 2004 Internetnutzer nach eigener Aussage weniger wurden 109,8 Millionen Medien ausgelie- fernsehen und 17 Prozent weniger Zeit mit hen, davon 79,5 Millionen Bücher. Dies er- dem Lesen von Büchern verbringen (Dut- gibt 30 Bücher pro Entleiher bzw. 15 Bü- ton and Helsper, 2007, S. 65). Auch wenn cher für jede einzelne Person in Finnland.“ das Bücherlesen abnimmt, muss man den- (Stockmann et al., 2005, S. 35) noch vorsichtig sein mit der Aussage, das Lesen ginge zurück. Die Zeit, die wir on- Finnische Bücherwürmer line verbringen, wird zum Teil auf das Lesen von Zeitungen, Blogs und anderen Texten Dem finnischen Zentralamt für Unter- verwendet. Mit der Frage, wie sich dies auf richtswesen zufolge sind für die ausgeprägten unser Gehirn auswirkt, beschäftigt sich der Lesegewohnheiten im Land verschiedene bekannte amerikanische Autor und Techno- Faktoren verantwortlich. Dazu gehören die logiekritiker Nicholas Carr in seinem Artikel hohe Wertschätzung, die das Lesen in der „Is Google making us stupid?“ Carr zitiert finnischen Kultur genießt (man abonniert darin einen Internetnutzer: Zeitungen, Eltern lesen ihren Kindern vor), „Sein Denken … wird zu einem das dichte Netz öffentlicher Bibliotheken, ‚Staccato´-Denken, das genau die Art und der gesellschaftliche Status der Mütter als Weise widerspiegelt, wie er aus vielen On- Vorbilder für Mädchen (Frauen lesen mehr line-Quellen kurze Textpassagen abscannt. als Männer), die zahlreichen ausländischen ‚Krieg und Frieden kann ich nicht mehr le- Filme im Fernsehen, die nicht synchroni- sen’, gab er zu. ‚Ich bin dazu nicht mehr in siert, sondern mit finnischen Untertiteln ge- der Lage. Schon ein Blog-Eintrag mit mehr sendet werden (die Kinder lesen also, wenn als drei oder vier Absätzen übersteigt mein sie fernsehen), sowie das Internetsurfen und Aufnahmevermögen. So etwas überfliege der Austausch per SMS, durch die Lesen und ich nur.’“ (Carr, 2008)

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Gibt es in Europa gemeinsame Stoffe einzelnen Ländern unterscheiden sich nach und Lesethemen? Manifestiert sich in Autoren, Genres und sogar noch nach der dem, was wir lesen, und in den von uns ge- Erscheinungsform des Buches (Größe, Bin- lesenen Büchern ein uns allen gemeinsamer dung und Herstellungswert). Geschmack? Eine der Entwicklungen der Im Februar 2009 wiesen die Bestsellerlis­ letzten Zeit ist der steigende Verkauf und ten indes manche Gemeinsamkeit auf – etwa Konsum englischsprachiger Bücher außer- die Erfolge der amerikanischen Jugendbuch- halb Großbritanniens. Bücher auf Englisch autorin Stephenie Meyer in Deutschland, zu lesen, ist cool – und eine Notwendigkeit, Spanien und Großbritannien, oder des wenn nämlich die Übersetzungen des einen schwedischen Kriminalschriftstellers Stieg oder anderen Beststellers erst mit mehrmo- Larsson in Frankreich und Spanien – doch natiger Verspätung auf den Markt kommen. insgesamt war dort eine große Bandbreite Dadurch geraten Verlage inzwischen unter an Autoren vertreten (Wischenbart, 2009). Druck, ihre Übersetzungen schneller he- Eine Analyse der Bestsellerlisten in Europa, rauszubringen. die 2008 von den Buchexperten Rüdiger Über ihr eigenes Land Schweden schreibt Wischenbart und Miha Kovač durchgeführt Literaturwissenschaftlerin Ann Steiner: wurde, förderte eine vielfältige Lesekultur „Englischsprachige Bücher werden mehr zutage, die von den Autoren der Analyse als früher in der Originalsprache gelesen. als „überwältigende, von einer wohl unver- Übersetzungen aus dem Englischen kön- gleichlichen inneren kulturellen Vielfalt nen im Vergleich zu vor zehn Jahren kaum zeugende Landschaft“ beschrieben wurde ihre Stellung behaupten. Schwedische Ver- (Wischenbart und Kovač, 2009). Der Erfolg lage sind angesichts der Verkaufszahlen schwedischer Krimiautoren wie Larsson war originalsprachlicher Bücher besorgt. Dass einer Zunahme der Übersetzungen aus dem in Schweden bis September 2005 bereits Schwedischen in andere Sprachen förderlich. 115 000 Exemplare der englischen Fassung Angesichts der Zeitknappheit vieler Men- von ‚Harry Potter und der Halbblutprinz’ schen, der Dominanz anderer Medien, und (2005) verkauft wurden, wird für künftige der vielen inzwischen online verfügbaren Übersetzungen englischer Bücher nicht fol- Inhalte überrascht es wenig, dass in Euro- genlos bleiben.“ (Steiner, 2006, S. 140) pa immer weniger Bücher gelesen werden. In Osteuropa sind im Zuge der Öffnung Doch wie soll man hierauf reagieren? Ist der Buchmärkte die Zahl der veröffentlich- es überhaupt von Bedeutung? Ja, und zwar ten Titel und der Umsatz mit ausländischer aus verschiedenen Gründen, etwa wegen des Literatur gestiegen. In Estland beispielsweise Zusammenhangs zwischen dem Leseverhal- wurde Russisch als die wichtigste übersetzte ten und dem Bildungsstand eines Landes. Sprache vom Englischen abgelöst, auf das Die staatliche Stiftung der USA zur Förde- mittlerweile die Hälfte aller Übersetzungen rung von Kunst und Kultur, das National und die Mehrheit der übersetzten belletri- stischen Titel entfallen (Järve, 2002). Insgesamt bleiben einige wohltuende I n Estland wurde Russisch Unterschiede zwischen den Bestsellerlisten der einzelnen europäischen Länder beste- als die wichtigste übersetzte Spra- hen. Die geschmacklichen Vorlieben in den che vom Englischen abgelöst.

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Endowment of Arts, hat nachgewiesen, dass und die gegenseitige Befruchtung von Li- lesende Menschen bestimmte Verhaltens- teraturen verschiedener Länder. weisen eher an den Tag legen als Nichtle- 2007 hat die Tschechische Republik eine ser: „Wer Literatur liest, beteiligt sich mit vom früheren Staatspräsidenten Václav Ha- größerer Wahrscheinlichkeit an kulturellen, vel unterstützte Initiative gestartet, die El- sportlichen und ehrenamtlichen Aktivitäten tern ermuntern soll, ihren Kindern zwanzig als Nichtleser. So besucht etwa ein Litera- Minuten pro Tag etwas vorzulesen (John- turleser mit dreimal höherer Wahrschein- ston, 2007). lichkeit eine Theateraufführung und mit Über die „Lesekultur in Deutschland“ beinahe dreimal höherer Wahrscheinlichkeit schreibt der Frankfurter Journalist Eugen ein Kunstmuseum, übernimmt zweieinhalb- Emmerling: „Woher kommt dann dieser mal häufiger eine ehrenamtliche oder wohl- Widerspruch zwischen realer Lesedichte in tätige Arbeit und nimmt mit anderthalbmal Deutschland und dem von vielen ‚gefühlten’ höherer Wahrscheinlichkeit an Sportaktivi- Rückgang der Lesekultur? Wahrscheinlich täten teil.“ (NEA, 2004) daher, dass die empirischen Daten ein an- deres Lesen als ausschließlich das doch vor Eine Stadt liest ein Buch allem von ästhetischem Interesse geleitete ‚literarische Lesen’ beschreiben. Es ist rich- Wer das Lesen literarischer Bücher för- tig – Lesen in der Freizeit verliert auch in dern will, kann vom finnischen Beispiel ler- Deutschland weitgehend sein aus der bil- nen: Dass es darauf ankommt die Lesekul- dungsbürgerlichen Tradition hergeleitetes tur insgesamt zu stärken. Die Einstellungen Sozialprestige. Dagegen gewinnt operati- müssen sich sowohl familienintern als auch onales Lesen an Bedeutung, also Lesen als in der Gesellschaft zugunsten des Lesens zielgerichteter Wissenserwerb für die Ori- verändern. In dem Roman „Der Schatten entierung in einer immer schneller sich än- des Windes“ des spanischen Bestsellerau- dernden Welt.“ (Emmerling, 2006) tors Carlos Ruiz Zafón sagt ein Besucher im Es wäre zu begrüßen, wenn neben ein- Buchladen des Helden Daniel in Barcelona fachereren Textformen auch Werke der ho- seine Meinung: „Was ich immer sage. Le- hen Literatur gelesen würden. Mancher sen ist für Leute, die viel Zeit und nichts zu möchte mit dem Lesen von Erzähllitera- tun haben. Wie die Frauen. Wer zu tun hat, tur das menschliche Dasein verstehen oder hat keine Zeit für Märchen. Im Leben gilt einfach in eine andere Welt verschwinden; es hart zu schuften.“ (Zafón, 2003, S. 156) andere möchten Nachrichten im Internet Initiativen zur Förderung des Lesens un- lesen oder Blogs durchstöbern; wieder ande- ter Einbindung von Schulen, Bibliotheken re greifen zu Sachbüchern, und die jüngste und anderen Institutionen stehen in vielen Finanzkrise hat bei vielen das Interesse an Ländern weiterhin auf der Agenda. Neben Büchern über Wirtschaftsthemen genährt. Buchmessen und Literaturfestivals werden 2007 haben EU-weit 71 Prozent der Be- Aktionen wie der UNESCO-„Welttag des fragten in den 12 Monaten zuvor mindestens Buches“ und so genannte „City Reads“ ab- ein Buch und 37 Prozent mindestens fünf gehalten: Eine ganze Stadt liest das gleiche Bücher gelesen – nur 28 Prozent hatten noch Buch. Stipendien, Literatur- und Überset- mehr gelesen (Eurobarometer, 2007). Wie zerpreise fördern den Schriftstellerberuf sorgen wir dafür, dass jede neue Generati-

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on Lesen cool findet? Manche meinen, dies Seminar, 11. bis 13. April 2002, Jyväskylä, Finnland. könnte mit neuen elektronischen Lesegerä- Rosie Johnston, „Czechs: Europe’s biggest bookworms and poorest readers?“ http://www. ten gelingen. Andere sind davon überzeugt, radio.cz/en/article/97230. Zugriff am 7. Mai 2009. dass sich das gedruckte Buch zu Hause und Wim Knulst und Andries van den Broeck (2003), auf dem täglichen Weg zur Arbeit als Objekt „The Readership of Books in Times of De-Rea- der Begierde behaupten wird. ding“. Poetics, 31, S. 213-33. Verschiedene Anreize können Menschen Ian McEwan (2005), „Saturday.“ Aus dem Eng- lischen von Bernhard Robben. Diogenes dazu bewegen, zum Buch zu greifen – Lite- National Endowment of Arts (2004), Pressemit- raturfestivals, Buchverfilmungen oder Emp- teilung zur Veröffentlichung des Berichts „Reading fehlungen von Freunden. In einigen Län- at Risk“. Abrufbar unter http://www.nea.gov/news/ dern haben Lesegruppen Erfolg und führen news04/ReadingAtRisk.Html. Zugriff am 4. Mai 2009. den sozialen Aspekt des Lesens vor Augen. OECD (2002), „Reading for Change: Perfor- mance and engagement across countries - re- Eines scheint klar: Wenn sich nur die sults from PISA 2000.“ passenden Gelegenheiten ergeben, werden Michail Skaliotis (2002), „Key Figures on Cul- Bücher von selbst neue Leser anlocken. tural Participation in the European Union“. Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld Vortrag, gehalten auf dem International Symposium on Culture Statistics, Québec, Oktober. Angus Phillips ist Direktor des International Centre Dale Southerton, Alan Warde, Shu-Li Cheng und for Publishing Studies der Oxford Brookes University. Wendy Olsen (2007), „Trajectories of Time Spent Reading as a Primary Activity: A comparison of the Netherlands, Norway, France, UK and USA since the 1970s“. CRESC Working Paper Se- Literaturnachweis ries, Working Paper No. 39. Christina Banou und Angus Phillips (2008), „The Ann Steiner (2006), „Diversity, or is it all the Greek Publishing Industry and Professional same? Book consumption on the Internet in Development“. Publishing Research Quarterly, 24, Sweden“. In: Bill Cope und Angus Phillips (Hg.), The S. 98-110. Future of the Book in the Digital Age. Chandos. BML (2005), „Expanding the Book Market“, Stiftung Lesen (2008), „Lesen in Deutschland Book Marketing Ltd 2008“. Nicholas Carr (2008), „Is Google Making us Doris Stockmann, Niklas Bengtsson und Yrjö Stupid?“ The Atlantic, Juli/August. Repo (2005), „The Book Trade in Finland: From William H. Dutton und Ellen J. Helsper (2007), author to reader - support measures and „The Internet in Britain: 2007“. Oxford Internet development in the book trade“. Finnisches Bil- Institute. dungsministerium, aktualisierter Bericht 2005. Eugen Emmerling (2006), „Lesekultur in Rüdiger Wischenbart, „Everything Changes“. Deutschland“. Goethe Institut, www.goethe.de, The Bookseller, 6. März 2009. Zugriff am 4. Mai 2009. Rüdiger Wischenbart und Miha Kovač (2009), Eurobarometer (2007), „Eurobarometer-Um- „End of the English (British) Empire? Or some- frage über die kulturellen Werte in Europa“. thing else?“ Publishing Research Quarterly, 2, Juni. Europäische Kommission. Carlos Ruiz Zafón (2003), „Der Schatten des Eurostat Pocketbook: „Cultural Statistics“ Windes“. Übersetzt von Peter Schwaar. Suhrkamp (2007), Europäische Kommission. FNBE (2009), „Literacy in Finland“. Finnish Na- tional Board of Education, www.ophi.fi (Zugriff am 4. Mai 2009). Malle Järve (2002), „Changes in Reading Cul- ture in Estonia in the 1990s“. Vortrag, gehalten im Rahmen des International Writing and Reading

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41 Warum ich trotzdem übersetze In den meisten Län- dern der EU liegen die Einkommen von anerkannten, professionellen Literaturübersetzern an oder unter der jeweiligen Armutsgrenze. Viele Übersetzer betreiben ihren Beruf aus schierer Passion. Der Literaturbetrieb aus Sicht eines Überlebenskünstlers. Von Holger Fock

während meiner fünfjährigen Berufstätig- keit als Werbetexter widmete ich mich die- sem „Hobby“. Daraus einen Beruf zu ma- chen, kam erst in Frage, als ich mir sicher war, gut genug zu sein, um in diesem Beruf zu bestehen. Das Literaturübersetzen – dazu zählt auch das Übersetzen von wissenschaftlichen Tex- ten und Sachbüchern – ist einerseits eine stille, zurückgezogene Tätigkeit. Man muss sich aber intensiv mit der eigenen Sprache be- schäftigen, viel recherchieren und sich häufig in unbekannte Sachgebiete einarbeiten, kurz: es ist auch eine spannende Arbeit. Sie ist oft iteraturübersetzen ist, auch wenn es ein großes Vergnügen, und, wenn sie aner- mittlerweile an einigen Universitäten kannt wird, im Verhältnis zu vielen anderen gelehrt wird, kein geschützter Beruf Berufen mit großer Befriedigung verbunden. Lmit einem festen Ausbildungsweg. Es gilt viel- Ich verstehe meine Arbeit aber auch als mehr: Viele Wege führen nach Rom. Man Beitrag zum kulturellen Dialog und zur mag sich zurecht fragen, warum jemand unter deutsch-französischen Freundschaft: Ich so schwierigen Bedingungen Literatur über- bin in Ludwigsburg geboren und habe dort setzt, und vor allem, warum hauptberuflich. mein Abitur gemacht – also im Südwesten Eine Frage, die kaum zu verallgemeinern ist Deutschlands nicht allzu weit von der fran- ­– sieht man davon ab, dass die internationa- zösischen Grenze. Aber erst sechs Jahre nach len Literaturmärkte seit den sechziger Jahren Ende meines Studiums und zu Beginn meiner immer mehr professionelle Literaturüberset- freiberuflichen Tätigkeit erfuhr ich von der zer benötigen. Rede an die deutsche Jugend, die Charles de Ich versuche es daher mit einer persön- Gaulles im September 1962 hielt. Zweifellos lichen Antwort: Mich verbindet seit der ist sie eine der großen Reden zum Thema Ver- Schulzeit eine heftige Leidenschaft mit der söhnung, Verständigung und Europa, man französischen Literatur. Noch während des sollte sie zur Pflichtlektüre in der Oberstu- Studiums führten einige Gelegenheitsrezen- fe machen. Am Ende dieser Rede betont de sionen zu den ersten Übersetzungen. Auch Gaulle – der Zweite Weltkrieg liegt noch kei-

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ne Generation zurück –, dass gegenseitige sierung zwar der Verständigung, aber nicht Achtung, Vertrauen und Freundschaft zwi- dem Verständnis dient. Dazu bedarf es einer schen Deutschen und Franzosen die Grund- kulturellen Durchdringung, für die es kein lage für die Einheit Europas sind. größeres und besser geeignetes Feld gibt als Beste Voraussetzung dafür ist die Kennt- Literaturübersetzungen. Dennoch wird kei- nis des Anderen, seiner Geschichte und der ne Kultursparte so wenig gefördert wie die Geschichten, in denen das kulturelle Erbe Literatur, ganz besonders in Übersetzung, weitergegeben wird, in denen seine Eigen- und am allerwenigsten im Rahmen der EU. arten und Mentalitäten zum Ausdruck kom- Die Literatur Europas ist ... die Über- men. Ohne die Übersetzung in die eigene setzung. Vor allem in kleinen Ländern, in Sprache ist das nicht möglich. Übersetzen Süd-, Ost- und Nordeuropa liegt der Anteil nicht als Aneignung, sondern als Anerken- von Übersetzungen an der gesamten Buch- nung des Anderen im Sinne des französischen produktion zwischen 30 Prozent und 60 Pro- Philosophen Emmanuel Lévinas. Damit ver- zent *, nimmt man nur die Belletristik, liegt bunden ist eine weitere spannende Aufgabe, er sogar zwischen 40 Prozent und 80 Pro- die ich mir als Übersetzer französischer Li- zent. Nur in Deutschland, Österreich, der teratur stelle: Verlagen Autoren nahezubrin- Schweiz, Frankreich und Italien wird anteils- gen, die ich ungeachtet ihrer kommerziellen mäßig weniger übersetzt, am allerwenigsten Perspektive für wichtig halte. Denn so er- in Großbritannien, wo nur drei Prozent aller staunlich es klingen mag, ein beträchtlicher Neuerscheinungen Übersetzungen sind (Sur- Teil bedeutender französischer Gegenwarts- vey Ceatl, S. 10, graph 3). literatur ist bislang wenig oder überhaupt In absoluten Zahlen sieht das Bild zwar nicht übersetzt, etwa von Autoren wie Pierre etwas anders aus – hier liegen die großen Bergounioux, Florence Delay, Pierre Michon Länder Deutschland, Frankreich, Spanien oder Régis Jauffret. und Italien an der Spitze. Aber der Mythos Insofern ist die Lust an der Arbeit mit der von Deutschland als Weltmeister im Lite- Sprache, an schönen Texten und mit guten raturübersetzen, mit dem sich hierzulande Autoren, in Verbindung mit dem Bewusstsein Feuilleton und Verleger gerne schmücken, des Brückenbauens zwischen zwei Kulturen ist nur schöner Schein: In Spanien erschei- noch größer als der Frust über die prekäre nen rund dreimal so viele Übersetzungen, in materielle Lage. Aber zumindest in Deutsch- Italien noch doppelt so viele, Frankreich ist land ist Sozialhilfe immer eine Alternative, dabei, Deutschland zu überholen, und selbst die bei gleichen Nettoeinkünften täglich zehn im kleinen Tschechien erscheinen fast eben- bis zwölf Stunden mehr Zeit geben würde. so viele Übersetzungen wie in Deutschland. Die Sprache Europas sei die Übersetzung, Erschreckend ist die geringe Anzahl an Über- postulierte Umberto Eco vor einigen Jah- setzungen in Großbritannien (Survey Ceatl, ren, um darauf hinzuweisen, dass das Pid- S. 9, graph 2). gin-English als lingua franca der Globali- Bei allen Schwankungen in den einzelnen Ländern ist die Menge der übersetzten Lite- ratur in Europa in den letzten Jahrzehnten insgesamt aber kontinuierlich und beträcht- Die Sprache Europas lich gestiegen. Die strukturellen Unterschiede ist die Übersetzung. sind allerdings enorm: Bei der übersetzten

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Literatur gibt es in fast allen Ländern ein pa hochzurechnen, sind bei der Studie des riesiges Übergewicht an Übersetzungen aus Rats der Europäischen Literaturübersetzer- dem Englischen – in Deutschland sind es verbände (CEATL) nicht nur die Honorare seit vielen Jahren stets mehr als 70 Prozent, verglichen, sondern auch andere Einkünf- in osteuropäischen Ländern wie Slowenien te von Literaturübersetzern mit einbezogen oder Tschechien mehr als 80 Prozent (Di- worden wie Förderungen, Stipendien, Aus- versity Report, S. 5 f. u. S. 16, Diagram 1). schüttungen von Verwertungsgesellschaften Literaturübersetzungen aus kleinen Ländern sowie Verwertungen von Nebenrechten und in andere, insbesondere kleine Sprachen sind Erfolgsbeteiligungen. Dabei muss man je- Raritäten. doch festhalten: In etlichen Ländern gibt es Mit der geringen Zahl von Literaturüber- nichts dergleichen, und die Einkünfte aus setzungen in Großbritannien korrespondiert den letzten drei Kategorien übersteigen nir- ein überproportional hoher Anteil an Über- gendwo fünf Prozent der durchschnittlichen setzungen aus dem Englischen. Das liegt nur Gesamteinkünfte von Literaturübersetzern. zu einem geringen Teil daran, dass auf Eng- Auf dieser Basis wurden in der Studie lisch (zählt man den ganzen Commonwealth unter Abzug der berufsbedingten Ausgaben und Nordamerika dazu) mehr gute, bedeu- sowie der jeweiligen Sozialversicherungsbei- tende Literatur publiziert wird – es liegt viel- träge und Steuern die durchschnittlichen mehr daran, dass aus dem Englischen mehr Brutto- und Nettoeinkommen von Litera- Nackenbeißer, leichte Unterhaltung, Lebens- turübersetzern aus 21 Ländern errechnet und berichte etc. übersetzt werden, und die Ver- verglichen (Survey Ceatl, S. 61-66, Tabelle 14 lage bei dieser Art von Literatur zudem nicht und Graph 14 bis 17). Ergebnis: In sechs Län- auf die Qualität der Übersetzungen achten. dern, darunter auch in Deutschland, liegen Insbesondere in süd- und osteuropäischen die mittleren Bruttoeinkommen von Litera- Ländern sind daher sehr viele stilistisch und turübersetzern bei 50 Prozent oder weniger sprachlich mangelhafte Übersetzungen auf der Durchschnittseinkommen in der Indus- dem Markt. Außerdem mangelt es an pro- trie oder bei Dienstleistungen, in weiteren fessionellen Literaturübersetzern aus „klei- sechs Ländern sind es weniger als zwei Drit- nen“ Sprachen, und an Honoraren, die es den tel, und nur in drei Ländern erreichen sie 80 Spezialisten (Literaturkritikern, Philologen, Prozent oder mehr. Übersetzern etc.) erlauben würden, an Lite- Noch düsterer ist der Blick auf die Net- raturübersetzungen zu arbeiten und damit toeinkommen. Im Vergleich mit der durch- ihren Lebensunterhalt oder einen Teil davon schnittlichen Kaufkraft pro Kopf (KKS) in zu bestreiten. In etlichen Ländern existieren jedem Land erreichen die Nettoeinkommen praktisch keine professionellen Literaturüber- der Literaturübersetzer in zwei Ländern nicht setzer – entweder weil es unmöglich ist, selbst einmal 30 Prozent (Tschechien 19 Prozent, auf unterster Stufe seinen Lebensunterhalt Griechenland 29 Prozent), in weiteren drei damit sicherzustellen, wie in Griechenland, Ländern weniger als 40 Prozent (Slowakei 36 Portugal oder den osteuropäischen Ländern, Prozent, Italien 36 Prozent, Finnland 39 Pro- oder weil nicht genügend Literatur übersetzt zent), in weiteren sieben Ländern weniger als wird, wie in Irland, Großbritannien oder der 50 Prozent (Spanien 41 Prozent, Slowenien Schweiz. Um die Einkommensverhältnisse 44 Prozent, Österreich 45 Prozent, Portugal professioneller Literaturübersetzer in Euro- 46 Prozent, Litauen 47 Prozent, Deutschland

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49 Prozent und Niederlande 50 Prozent), in literarische Qualität der Übersetzungen, ins- sechs Ländern zwischen 50 Prozent und 60 besondere bei der anspruchsvollen Literatur. Prozent (Dänemark 52 Prozent, Belgien 53 Während das Niveau in den Niederlanden Prozent, Norwegen 55 Prozent, Kroatien 57 und in den skandinavischen Ländern allge- Prozent, Schweiz 57 Prozent, Schweden 59 mein als sehr hoch beschrieben wird, gibt es Prozent) (Survey Ceatl, S. 61-66, Tabelle 14 aus den osteuropäischen Ländern, aber auch und Graph 14 bis 17). Lässt man Irland und aus Spanien viele Klagen über die mangelnde Großbritannien beiseite – die dort errechne- Qualität von Literaturübersetzungen. ten Werte sind fiktiv, da es in beiden Ländern In den meisten Ländern würden Buch- kaum professionelle Literaturübersetzer gibt markt und wirtschaftliche Lage höhere Ver- – ist Frankreich mit 66 Prozent das einzige gütungen durchaus erlauben. Die Spielräume Land, in dem die durchschnittlichen Netto- dafür sind allerdings eng in einem Markt, einkommen der Literaturübersetzer ein wenig der im Buchhandel durch Überproduktion über der Armutsgrenze liegen. und einen harten Verdrängungswettbewerb Auch dieses Bild bedarf der weiteren Dif- geprägt ist. Wollte man professionellen, an- ferenzierung: In den meisten Ländern kom- erkannten Literaturübersetzern materiell men professionelle Literaturübersetzer – bei dieselbe Grundlage geben wie beispielswei- einer Mischung aus leichter und anspruchs- se einem Grundschullehrer oder Handwerks- voller Literatur und ständiger Beschäftigung meister, müssten sich ihre Einkünfte je nach – durchschnittlich auf eine Leistung von Land verdoppeln bis verdreifachen. Das aber 1000 bis 1200 Manuskriptseiten à 1800 Zei- können die Verlage nicht leisten, der Buch- chen pro Jahr. Zwei Extreme stechen davon markt gibt es nicht her. ab: Spanien und die Niederlande. Während Verlage könnten allerdings Übersetzer in Literaturübersetzer in Spanien mit niedrigen ihren Buchkalkulationen als Urheber füh- Honoraren bei vergleichsweise hohen Lebens- ren statt als Dienstleister und sie angemessen haltungskosten 1800 Seiten im Jahr überset- an der Verwertung ihrer Werke beteiligen. zen müssen, um über die Runden zu kommen Wobei die Angemessenheit sich auch nach (viele spanische Kollegen insbesondere in den der Schöpfungshöhe zu richten hat: Bei an- großen Zentren Barcelona und Madrid über- spruchsvoller und schwieriger Literatur ge- setzen oft jahrelang 2500 Seiten jährlich), bührten dem Übersetzer eigentlich dieselben überleben die Kollegen in den Niederlanden Tantiemen, die der Autor aus der Verwertung dank eines staatlich finanzierten Fonds auch seiner Übersetzung bezieht. Schließlich ver- noch mit 600 bis 700 Seiten pro Jahr. Diese dankt es der Autor dem Übersetzer, dass er Differenz hat freilich großen Einfluss auf die überhaupt in einer anderen Sprache gelesen werden kann und aus der Verwertung der Übersetzung Tantiemen bezieht. Hier geht es nicht darum, die Wirtschaftskraft der Ver- I n den meisten Ländern der EU lage anzugreifen, sondern um eine gerechtere liegen die Einkommen von aner- Verteilung der Tantiemen. kannten, professionellen Litera- Ein zusätzliches Einkommen für Über- setzer ließe sich damit freilich nur in den be- turübersetzern an oder unter der völkerungsreichen Ländern erzielen, in den jeweiligen Armutsgrenze. kleinen Ländern sind die erzielbaren Auf-

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lagen zu gering. Aber auch in den gro­ßen S ubventionshöhe Flatrates gemäß den in den Ländern würde dies allein nicht zu einer jeweiligen Ländern bezahlten Übersetzerho- grundlegenden Verbesserung der Einkom- noraren eingeführt. Diese Flatrates sind bis- men von Literaturübersetzern führen. Mit her nach den Angaben aus den Anträgen der anderen Worten: Es geht nicht ohne eine wir- Verlage in den vergangenen Jahren errechnet kungsvolle Übersetzerförderung, ob staatlich worden, die teils weit von der Realität entfernt oder anders finanziert. sind – hier wäre eine Revision gemäß den in Zuerst muss man unterscheiden zwischen der CEATL-Studie (Survey Ceatl, S. 20, Ta- Übersetzungsförderung und Übersetzerför- belle 4) erhobenen Zahlen dringend geboten. derung. Übersetzungsförderung wird inzwi- Sollen auch Literaturübersetzer von der schen von vielen Ländern betrieben, sie ist ein Übersetzungsförderung profitieren, müssen etabliertes Mittel Auswärtiger Kulturpolitik die fördernden Institutionen, ob vom Staat und wird als solches eingesetzt, um der ein- finanziert oder von privaten Stiftungen, den heimischen Literatur im Ausland Geltung Übersetzern einen festen Anteil der Subven- zu verschaffen. Diese Art der Literaturför- tionen zusprechen, dafür sorgen, dass dieser derung, im Rahmen des Programms „Kultur Anteil nicht zu Lasten des üblichen Über- 2007 – 2013“ auch von der EU betrieben, setzerhonorars geht und den Betrag direkt kommt in der Regel aber nur Verlagen und an die Übersetzer auszahlen. über die Tantiemen ein wenig auch Autoren Am meisten hilft Literaturübersetzern je- zugute. Es sind im Wesentlichen wirtschaft- doch die Übersetzerförderung: In den Nie- liche Subventionen der Verlage. derlanden sorgt ein vom Staat finanzierter Allerdings behaupten Institutionen, wie Übersetzerfonds dafür, dass die Überset- beispielsweise die Europäische Kommission zer anspruchsvoller Literatur ihr jeweiliges oder der niederländische Literair Produc- Grundhonorar im Durchschnitt verdoppeln, tie- en Vertalingenfonds, nahezu unisono, bei besonders schwierigen Übersetzungen die Übersetzer seien auch Nutznießer ihrer können sie noch mehr bekommen. In Schwe- Übersetzungsförderung. Davon kann in den den und Norwegen gibt es nationale Stipen- meisten Ländern nicht die Rede sein. Nur in diensysteme, die professionellen Literaturü- Spanien, Dänemark, Finnland, Großbritan- bersetzer durch umfangreiche und manchmal nien, der Schweiz und Österreich erhalten mehrjährige Arbeitsstipendien, teils staatlich Übersetzer (aber nicht immer) zusätzlich zu finanziert, teils durch Bibliothekstantiemen ihren marktüblichen Honoraren einen nen- oder andere Einnahmen, fördert. In Däne- nenswerten Anteil (50 Prozent) an den Sub- mark und insbesondere in Finnland ermög- ventionen. In den meisten Ländern hingegen lichen auch private Stiftungen ein gesichertes werden nicht einmal die mageren Seitenho- und sorgloses Arbeiten. In Norwegen und norare aufgestockt. Dagegen sind dem CE- ATL etliche Fälle aus verschiedenen Ländern bekannt, wo Übersetzer gezwungen waren, Keine Kultursparte wird so wenig „Scheinverträge“ zu unterschreiben, in denen gefördert wie die Literatur, ganz sie versichern, höhere Honorare erhalten zu besonders in Übersetzung, und haben, als sie tatsächlich von ihrem Verlag bekamen. Um Subventionsbetrug dieser Art am allerwenigsten im Rahmen vorzubeugen, hat die EU zur Berechnung der der EU.

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Dänemark profitieren die Literaturübersetzer L and, wie ernst man es mit dem kulturellen auch von relativ hohen Bibliothekstantiemen, Austausch meint. In den meisten Ländern in Dänemark kommen diese den Übersetzern kommt die Kulturförderung in erster Linie direkt zu und können bis zu 50 Prozent ihrer einer prestigeträchtigen und imagebildenden Einkünfte ausmachen. Hochkultur zugute. Die Frage des Kulturaus- Ansätze zu einer solchen Übersetzerförde- tauschs steht dabei nicht im Vordergrund. rung gibt es auch in Deutschland, Frankreich, Hier wäre eine Veränderung der Prioritä- Österreich, dem Baskenland und Slowenien, ten wünschenswert. Deutschland könnte in sehr geringem Maße noch in Litauen, der ein gutes Beispiel geben, denn obwohl bei Slowakei und Großbritannien. Hier sind der Kulturförderung zurzeit kräftig gespart alle Länder aufgefordert, sich an Norwegen, wird, profitiert der Deutsche Übersetzungs- Schweden und insbesondere den Niederlan- fonds (noch) von jährlich steigenden Zuwen- den ein Beispiel zu nehmen. dungen. Diese Art der Förderung des kulturellen In den wenigen Ländern, in denen bis- Austauschs wäre nicht einmal mit außerge- her Übersetzerfonds eingerichtet wurden, ha- wöhnlich hohen Kosten verbunden. In den ben sich diese als höchst segensreich für die Niederlanden, einem Land mit rund 16 Mil- Übersetzer wie für die Literatur entpuppt. lionen Einwohnern, verfügt der Übersetzer- Ein wesentliches Ziel der Kulturpolitik auf fonds über etwas mehr als zwei Millionen nationaler wie europäischer Ebene sollte des- Euro jährlich. Das genügt, um die Grundho- halb die Einrichtung von Übersetzerfonds norare von rund 200 bis 250 professionellen sein. Neben staatlichen Mitteln könnte die Übersetzern zu verdoppeln. Der Deutsche Finanzierung solcher Fonds auch auf anderen Übersetzerfonds verfügt über derzeit 400 000 Wegen geleistet werden, zum Beispiel durch Euro jährlich. Um deutsche Literaturüberset- Mittel aus den kollektiven Verwertungsge- zer annähernd so gut zu fördern, wie es die sellschaften oder durch einen Aufschlag auf Niederländer tun, wären allerdings minde- den Buchpreis von beispielsweise einem Euro stens zehn Millionen Euro notwendig. Das für jedes übersetzte Buch, der direkt in den mag viel erscheinen, aber man vergleiche diese Fonds fließt. Summe mit den vielfach höheren Etats, die In Europa ist Kulturpolitik Ländersache. beispielsweise jedem der drei Berliner Opern- Die EU kann nur Institutionen, Initiativen häuser oder den Bayreuther Festspielen aus und Projekte fördern, die länderübergreifend öffentlichen Mitteln zur Verfügung gestellt sind, dem europäischen Gedanken dienen werden, von den riesigen Summen für die und die kulturelle Identität Europas stärken. Filmförderung ganz zu schweigen! Schön und gut, aber im Übrigen funktioniert Das literarische Übersetzen bildet die Ba- die Kulturförderung bei der EU nicht anders sis des kulturellen Austauschs: Es umfasst als auf nationaler Ebene: Der Etat für die nicht nur Belletristik und Wissenschaft, son- Filmförderung im Programm „Media 2007- dern auch Texte in Ausstellungskatalogen von 2013“ ist um mehr als 30 Prozent höher als Museen, Theaterstücke und -inszenierungen, der Etat für die gesamte übrige Kultur. Und Untertitel und Filmdialoge. Letztlich zeigt während in den früheren Kulturprogrammen sich an der Übersetzungs- und Übersetzer- für Literatur und Übersetzung wenigstens förderung im Vergleich zur Förderung von noch ein fester Anteil von 13 Prozent reser- Kunst, Musik, Film und Medien in jedem viert war, müssen diese jetzt mit den übrigen

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Künsten konkurrieren. Kein Wunder, dass Die meisten Literaturübersetzer verdienen die europäischen Übersetzerzentren, die bis zu wenig, um regelmäßig in die Länder reisen 2006 noch mehr oder weniger regelmäßig zu können, aus deren Literaturen sie über- Fördergelder erhielten, seither leer ausgehen. setzen, oder um an Fortbildungsseminaren, Die Antragstellung ist hoch kompliziert, Kolloquien etc. teilzunehmen. Auch das wäre das Procedere äußerst bürokratisch und ein wichtiger Beitrag zum Kulturaustausch durch die Einrichtung der „ExecutiveAgen- in der Literatur, auch das wäre eine Aufgabe cy“ nicht transparenter geworden. Sie ist so für die EU: Förderung und Finanzierung von schwierig, dass der Cultural Contact Point Aufenthalts- und Reisestipendien für Über- Germany (CCP) extra Kurse für potenzielle setzer, von Tutorenprogrammen, Seminaren, Antragsteller anbietet. So verwundert es Workshops, Begegnungen von Autoren mit nicht, dass meistens Projekte und Instituti- ihren Übersetzern etc. – direkt oder durch onen gefördert werden, bei denen angestellte Institutionen, die solche Stipendien und Pro- und bezahlte Kulturmanager genügend Zeit gramme anbieten. haben, sich mit der komplizierten Antragstel- Wie auf nationaler Ebene, so könnte auf lung zu befassen. europäischer Ebene die Einrichtung eines Die wenigen Projekte und Institutionen Übersetzerfonds ein wichtiges, vielleicht der Literaturübersetzer arbeiten allerdings entscheidendes Instrument zur Verbesse- meistens auf der Grundlage ehrenamtlichen rung der Lage von Literaturübersetzern und Engagements – und das von Übersetzern, der Qualität von Literaturübersetzungen die häufig 60 Stunden und mehr pro Woche sein: Ein Europäischer Übersetzerfonds, der arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt die genannten Formen des kulturellen Aus- auf niedrigstem Niveau zu sichern. tauschs finanziert und organisiert, wäre von Wenn der EU an der Förderung von Lite- unschätzbarem Wert. Zur Finanzierung eines ratur auf europäischer Ebene gelegen ist, und solchen Fonds könnten oder sollten neben der das heißt immer Literatur in Übersetzungen, EU aber auch einzelne Länder und private dann sollte sie im Rahmen ihrer Kulturpolitik Stiftungen einen Beitrag leisten. schnellstens, spätestens beim nächsten Pro- Letztlich zeigt sich am Umgang mit den gramm „Kultur 2014-20XX“, einen eigenen Literaturübersetzern, ob es die Kulturpolitik Etat für Literatur, Literaturübersetzung und mit dem Kulturaustausch ernst meint oder Literaturübersetzer festlegen und am besten, es auf diesem Gebiet bei Lippenbekenntnis- ähnlich wie für die Filmförderung, ein eige- sen bleibt. nes Programm für Literatur auflegen. Nichts nützt dem Kulturaustausch mehr Holger Fock ist Literaturübersetzer und Vorsit- als Literaturübersetzungen. Wenn es die EU zender des Rats der Europäischen Literaturüber- setzerverbände (CEATL, Conseil Européen des ernst damit meint, müsste sie es sich zur Auf- Associations de Traducteurs Littéraires) gabe machen, die bestehenden europäischen Übersetzerzentren zu fördern, in denen dieser *Zahlen und Angaben des Artikels stammen vor- Austausch tagtäglich stattfindet, die Grün- wiegend aus der im Herbst 2008 veröffentlichten dung weiterer Zentren besonders in kleineren Studie des Rats der Europäischen Literaturüberset- zerverbände, CEATL, „Compared Income of Lite- und osteuropäischen Ländern unterstützen, rary Translators in Europe“ und aus „The Diversity und dabei helfen, ein Netzwerk dieser Zen- Report 2008“ des Buchmarkt-Experten Rüdiger tren aufzubauen. Wischenbart.

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49 „ To be translated or not to be“ Wenn ein wichtiger Autor aus Osteuropa nicht auf Deutsch, Englisch oder Fran- zösisch vorliegt, dann wird er vielleicht nie im Nach- barland gelesen. Wir brauchen eine paneuropäische literarische Öffentlichkeit und eine adäquate Überset- zungsförderung, damit wir Literatur über Sprach- und Ländergrenzen genießen können. Von Gabriella Gönczy

idiome. Das Deutsche, in Europa immer- hin eine der vielgesprochenen Sprachen, ist auf globaler Ebene zum „Altgriechisch der Gegenwart“ geworden, wie der Kultur- journalist Thierry Chervel in der letzten Ausgabe des Kulturreports formulierte. Die Mehrheit literarischer Werke Europas wird jedoch in kleinen Sprachen geschrieben. Außerhalb der Sprachgrenzen werden diese Werke oft kaum wahrgenommen. Von eini- gen Ausnahmen abgesehen sind vor allem Autoren aus Mittel- und Osteuropa im We- sten nach wie vor praktisch unbekannt. Ein Problem besteht darin, dass es im- erzeit findet eine radikale Konti- mer weniger Multiplikatoren, Journalisten, nentalverschiebung der Sprach- Verleger und Literaturübersetzer gibt, die räume statt: Länder, die die wich- die Sprachen der Nachbarländer verstehen. Dtigste lingua franca der Globalisierung, das Wenn man also in einem der kleineren Englische, sprechen, isolieren sich zuneh- Sprachräume Mittel- oder Osteuropas ge- mend vom Rest der Welt. Recherchen der boren ist, hat man nicht nur das Problem, renommierten amerikanischen Sprachwis- dass man mit seinen Landsleuten global senschaftlerin und Übersetzerin Esther Al- kaum wahrgenommen wird, sondern auch, len haben ergeben, dass die ins Englische dass es im Zuge der Globalisierung immer übersetzte Belletristik in den Vereinigten schwieriger wird, die Literaturen und Kul- Staaten nur einen verschwindend geringen turen seiner Nachbarn kennenzulernen. Anteil aller publizierten Titel bildet. In der In Ungarn etwa muss man heute sehr arabischen Welt werden wesentlich mehr gute Englisch-, Deutsch- und Franzö- Bücher aus anderen Sprachen übersetzt als sischkenntnisse haben, um auf dem Ar- in den USA, obwohl sich Amerika gerne als beitsmarkt wettbewerbsfähig zu sein. Es weltoffen, kosmopolitisch und der kultu- rellen Vielfalt verpflichtet darstellt. Weltweit sind neben dem Englischen das Spanische und das Chinesische Haupt­

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gibt kaum noch ungarische Intellektuelle, gar in seinem Heimatland Jahrzehnte lang die Slowakisch, Ukrainisch, Kroatisch oder unbekannt. Erst nach seinem plötzlichen Rumänisch sprechen. Die ungarische Lite- Erfolg in Deutschland wurde die breite Öf- raturszene nimmt die Literatur und Kultur fentlichkeit in Ungarn auf ihn aufmerksam. der Nachbarländer vor allem über den Um- Wenn der „Roman eines Schicksallosen“ weg über die Hauptsprachen Westeuropas nicht einen großen Erfolg in Deutschland wahr. Wenn ein kroatischer, tschechischer gehabt hätte, wäre das Buch nie ins Eng- oder ukrainischer Schriftsteller in Deutsch- lische übersetzt worden und Kertész hätte land oder Frankreich Erfolg hat, dann be- nie den Literaturnobelpreis bekommen. richten auch die ungarischen Feuilletons Vor zehn Jahren hat sich kaum ein deut- darüber und die Verlage besorgen die ersten scher Verleger für ungarische Autoren in- Probeübersetzungen. Wenn ein wichtiger teressiert. Inzwischen sind nicht nur Imre Autor aus Osteuropa aus irgendwelchen Kertész, sondern fast alle wichtigen unga- Gründen nicht in Deutsch, Englisch oder rischen Autoren in Deutschland bekannt Französisch zugänglich ist, dann wird er und beliebt. Nachdem insgesamt über vielleicht nie im Nachbarland gelesen. zwanzig ungarische Schriftsteller vom Ber- Aus diesen Gründen spielen die westeu- liner Künstlerprogramm des DAAD ein- ropäischen Verlage eine wesentliche Rolle: geladen wurden, ein Jahr lang in Berlin zu Sie haben das Potenzial (und natürlich das arbeiten, nach dem Ungarn-Schwerpunkt Risiko), unbekannte Autoren aus Mittel- der Frankfurter Buchmesse 1999 und dem und Osteuropa zu entdecken. Dadurch Literaturnobelpreis für Imre Kertész 2002, können sie Brücken zwischen den Sprach- wurden in Deutschland immer mehr un- und Kulturräumen Ost- und Westeuropas garische Autoren entdeckt und übersetzt. schlagen und zur europäischen Verständi- Die Renaissance der ungarischen Litera- gung beitragen. Sie können im besten Fall tur begann mit Klassikern der 1920er und sogar Sprungbrett in die globalen, englisch- 1930er Jahre Sándor Márai, Dezső Kosz- sprachigen Buchmärkte sein. tolányi und Antal Szerb. Fast alle Neuü- bersetzungen aus Ungarn wurden in den Unbekannte Osteuropäer deutschen Feuilletons gefeiert, die Ver- kaufszahlen der Verleger haben in den mei- Wenn Arundhati Roy ihren Roman sten Fällen alle Erwartungen übertroffen. „The God of Small Things“ nicht in Eng- Viele wichtige literarische Preise wurden lisch, sondern in Kerala geschrieben hätte, an ungarische Schriftsteller verliehen, etwa wäre sie nicht weltweit bekannt geworden. der Literaturnobelpreis an Imre Kertész Imre Kertész schrieb den „Roman eines (2002), der Friedenspreis des Deutschen Schicksallosen“ in Ungarisch und blieb so- Buchhandels an Péter Esterházy (2004), der Franz-Kafka-Preis (2003) und der Leip- ziger Buchpreis zur Europäischen Verstän- E s gibt kaum noch digung an Péter Nádas (1995). ungarische Intellektuelle, die Slo- wakisch, Ukrainisch, Kroatisch oder Rumänisch sprechen.

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Die Literatur- und Kulturbeziehungen funktion der Stadt zwischen den östlichen zwischen Berlin und Budapest bekamen und westlichen Literaturen. Im Gegensatz auch dadurch Auftrieb, weil einige unga- dazu würden sich andere westeuropäische rische Literaten wichtige Ämter in deut- Kulturen, etwa die französische oder die schen Kulturinstitutionen bekleiden oder englische, eher mit sich selbst begnügen, innehatten: beispielsweise war György so Kertész. Péter Esterházy misst dem Ber- Konrád langjähriger Präsident und Péter liner Künstlerprogramm des DAAD eine Esterházy ist Mitglied der Berliner Aka- große Bedeutung zu: „Das Berlin-Jahr ver- demie der Künste, Imre Kertész bei der änderte nicht nur unser Leben und unsere Deutschen Akademie für Sprache und Schriften, sondern auch die gesamte zeit- Dichtung. genössische Literatur Ungarns“, schreibt Nicht nur die Ungarn, sondern auch der Schriftsteller andere osteuropäische Autoren haben in- Die ausgezeichneten Literaturbezie- zwischen einen gewissen Erfolg auf dem hungen zwischen Berlin und Budapest ha- deutschen Buchmarkt: die Ukrainer Juri ben auch indirekt zu einem realistischeren Andruchowytsch und Alexievich, und positiveren Deutschlandbild in Un- die Kroatin Dubravka Ugrešić, die Polen garn beigetragen. Berlin gehört zu den Andrzej Stasiuk, Ryszard Kapuściński, wichtigsten Bezugspunkten und Spiel- Paweł Huelle und Dorota Masłowska oder stätten vieler zeitgenössischer ungarischer der Rumäne Mircea Cărtărescu. Romane, Novellen und Essays. In Deutschland ist es irgendwie gelun- Hatte Berlin in Ungarn vor kurzem gen, den Literaturaustausch mit Mittel- noch ein ähnliches Image wie Helsinki und Osteuropa in beide Richtungen inten- oder Oslo – sympathisch, aber weit weg siver und lebendiger zu gestalten, während und außerdem verregnet –, gehört es heute die Literaturbeziehungen Osteuropas mit zu den attraktivsten Reisezielen vor allem dem Rest Westeuropas eher einseitig sind: der gut ausgebildeten und gut verdienen- Die Peripherie übersetzt viel daraus, was den Ungarn. Unter ihnen hat es sich inzwi- aus dem Zentrum kommt, kleine Sprachen schen herumgesprochen, dass Berlin eine übersetzen viel mehr aus großen Sprachen der spannendsten und innovativsten Kul- als umgekehrt. Ist das ein Zufall, oder ha- turmetropolen der Welt ist. ben deutsche Verleger, Übersetzer, Feuille- tonisten und Leser vielleicht eine besondere Schaffung von Öffentlichkeit Antenne für die Literatur ihrer östlichen Nachbarn? Wie könnte der Literaturaustausch zwi- „Der Weg osteuropäischer Schriftsteller schen den großen und kleinen sowie unter führt meistens über Berlin in andere Spra- den kleinen Sprachräumen Europas wieder- chen, in die Weltliteratur weiter“ schreibt Imre Kertész in seinem Essay „Warum ge- rade Berlin?“. Er betont darin die Brücken- Berlin gehört zu den wichtigsten Bezugspunkten und Spielstätten vieler zeitgenössischer ungarischer Romane, Novellen und Essays.

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belebt werden? Wo sind die Ansätze einer nach wie vor wichtig, den Reichtum und neuen paneuropäischen Öffentlichkeit der die Vielfalt der literarischen Infrastruktur europäischen Literaturen? Europas zu erhalten, weiter auszubauen und Auf eine Polemik des französischen Phi- transeuropäisch zu vernetzen. Neben einer losophen Pascal Bruckner über den Islam adäquaten Übersetzungsförderung kommt in Europa, publiziert Anfang 2007 im In- es darauf an, die Institutionen und Projekte ternetmagazin „signandsight“, reagierten außerhalb des Internets mit entsprechenden umgehend der anglo-niederländische Jour- Mitteln zu fördern. nalist und Schriftsteller Ian Buruma und Bereits im Zeitalter der Aufklärung der britische Historiker Timothy Garton haben die Gelehrten davon geträumt, Ash. Viele hochkarätige Intellektuelle aus dass literarische Werke bald in ganz Eu- ganz Europa diskutierten mit und eine eu- ropa gelesen werden können, dass Ideen ropaweite Mediendebatte kam ins Rollen. und Gedanken über Sprachgrenzen hin- Der Suhrkamp Verlag fand die Qualität der weg zugänglich werden. Am Anfang des Texte so gut, dass er die ganze Debatte auch 21. Jahrhunderts könnte es bald gelingen, in Buchform zugänglich machte. über das Internet eine paneuropäische lite- Was braucht man dazu, damit dieses rarische Öffentlichkeit zu schaffen und die Beispiel nicht die Ausnahme, sondern die Europäisierung der bestehenden „Offline- Regel wird? Wie kann man das literarische Infrastruktur“ voranzutreiben. Wir sind Leben und die intellektuelle Debatte Euro- vielleicht nur noch wenige Schritte von pas transnational vernetzen? Man braucht diesem Traum entfernt. nicht viel: das Internet, die englische Spra- che und einen Förderer, der ergebnisoffen und prozessorientiert arbeitet, wie die deut- sche Kulturstiftung des Bundes, deren Ini- tiativprojekt „signandsight“ ist. Bei der oben erwähnten Debatte hat es mit der Europäisierung und Transnatio- nalisierung nur deshalb funktioniert, weil Pascal Bruckner seinen Text nicht in Fran- zösisch in „Le Monde“, sondern im Internet in englischer Sprache veröffentlichte. „Signandsight“ ist nur ein Beispiel un- ter vielen: „Eurozine“, „Eurotopics“ oder „Lyrikline“ sind weitere Plattformen für Gabriella Gönczy ist Journalistin und leitet das Robert-Gragger-Institut am Collegium Hun- Debatte und Literaturaustausch in Euro- garicum in Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der pa. Es bleibt aber unumstritten, dass kein Anthologie „’Berlin, meine Liebe. Schließen Sie Webprojekt das persönliche Erleben der bitte die Augen.’ Ungarische Autoren schrei- Kunst und Kultur ersetzen kann. Es ist ben über Berlin“ und Mitglied der Internatio- nalen Jury von TWINS 2010, einem Projekt der Kulturhauptstadt Europas. Zudem ist sie Leiterin der Arbeitsgruppe Kommunikation der zivil- gesellschaftlichen Initiative „Europa eine Seele geben“.

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55 S chranken zu Schnittstellen Sämtliche Maßnahmen, den EU-Binnenmarkt zu vereinheitlichen, betreffen auch die Kulturen der Mitgliedstaaten. Was bedeutet die marktgesteuerte Philosophie der EU für ein starkes und vielfältiges kulturelles Leben in Europa? Kann eine europäische Kultur überhaupt ohne eine europäische Kulturpolitik gedeihen? Von Steve Austen

implizit die Kulturen genau jener Mitglied- staaten. Entstehen also durch die marktge- steuerte Philosophie der EU immer mehr ne- gative Rahmenbedingungen für ein starkes und vielfältiges kulturelles Leben oder ist etwa das Gegenteil der Fall? Die finanzielle Unterstützung der Künste durch Städte, Regionen und verschiedene Wirtschaftszweige sowie durch private Spender hat grenzüberschreitende Auswir- kungen, die man nicht einfach ignorieren kann. Ist also eine vielfältige Kultur in Eu- ropa ohne eine europäische Kulturpolitik möglich und wie hängt sie, mit oder ohne er Diskurs über die Rolle der Kul- öffentliche Unterstützung, von den Markt- tur in Europa, über die kulturelle gegebenheiten ab? Dimension des Einigungspro- Gewiss, es gäbe Kunst – beispielsweise zessesD und die kulturelle Identität des Kon- die Literatur – auch ohne öffentliche Zuwen- tinents steckt voller Fallstricke und Miss- dungen. Und bestimmt würde es Kunst und verständnisse. Kunstproduktionen geben. Aber man muss Kunst- und Kulturpolitik – in entschei- gleichzeitig ins Feld führen, dass ohne die dendem Maß in der Hand der einzelnen Zuwendung aus einer Vielfalt von Quellen Mitgliedstaaten – kann aufgrund des Ver- die Welt nicht so reich, vielfältig und über- trags von Maastricht (1992) nicht der Brüs- voll an kulturellen Ausdrucksformen wäre, seler Regulierungsmaschinerie unterworfen wie sie derzeit ist. werden. Sowohl im ehemaligen kommunistischen Man könnte also argumentieren, dass als auch im kapitalistischen Europa wurden es aus diesem Grund, abgesehen von den öffentliche Ausgaben für die Künste gesamt- jeweiligen politischen Richtlinien der Mit- gesellschaftlich nie in Frage gestellt und eine gliedstaaten, keine „europäische“ Kultur- Welt ohne Subventionen hätte als Anomalie politik geben wird. Dennoch beeinflussen gegolten. Die öffentlichen Ausgaben finden sämtliche Maßnahmen im Hinblick auf die ihren Ursprung und ihre Rechtfertigung in Homogenisierung des EU-Binnenmarktes modernen Auffassungen der jeweiligen ein-

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zelstaatlichen Wirtschaftspolitik. Um es un- Man kann sehr leicht Festivals, Musicals verblümt und geradeheraus zu formulieren: und Populärliteratur ausmachen, die, ob- Eine Subvention gilt als Ausgleich für einen wohl sie sich auch ohne jegliche Zuschüsse Mangel an Kaufkraft auf der Nachfrageseite tragen würden, solche erhalten, um die Prei- des Marktes. se unnötig niedrig zu halten. Würden sich Ein einfaches Beispiel kann dies belegen. das Musical, der Roman oder das Festival Wenn die Berliner Philharmoniker an jedem bei einer marktgerechten Preisgestaltung möglichen Spieltag in den größten Konzert- behaupten? Sogar bei recht hohen Preisen? häusern Deutschlands spielten und sämt- Man könnte argumentieren, dass die Prei- liche Konzerte ausverkauft wären, läge der se nicht zu hoch sind, so lange es genügend Preis pro Platz für ein Konzert bei 600 Euro Konsumenten gibt, die bereit sind, diese (ich habe diesen Betrag nicht verifiziert, Preise zu bezahlen. möglicherweise läge der Preis viel höher). Die Berliner Philharmoniker haben bis- Je mehr Sprachen, desto mehr Englisch her für ihre Konzerte noch keine Form der Serienproduktion – geschweige denn eine Bei der Literatur mag zwar ein Markt andere Art der Massenproduktion – erfun- für Übersetzungen beispielsweise aus dem den. Es ist leicht zu erkennen, dass dies auch Portugiesischen ins Griechische existieren, für die meisten kulturellen Bedürfnisse nicht aber er ist wahrscheinlich sogar bei äußerst sehr hilfreich wäre, ganz im Gegenteil. Bei idealistischen Marktbedingungen zu klein, den Künsten und bei Kulturerzeugnissen um Bestand zu haben. handelt es sich nicht nur um Unikate, die Die Nachfrage kann nur in begrenztem sich von Tag zu Tag und von Aufführung zu Umfang durch Ausgleich des Preisgestal- Aufführung voneinander unterscheiden – sie tungsmechanismus stimuliert werden. Ins- sind zudem ausgesprochen arbeitsintensiv. besondere für direkte Übersetzungen von Im Laufe der Jahre haben immer mehr einer Sprache in eine andere lässt sich nur Politiker den Ursprung für die Begründung schwer ein treffendes Argument für jegliche von Subventionen aus den Augen verloren Form struktureller Subventionen finden. und fanden sich in einer Sackgasse, in der Für Buchmärkte gilt daher ähnlich wie sie nach Publikumsvorlieben handelten. Die bei Theaterproduktionen und zu einem be- zerstörerischen Folgen dieser postmodernen achtlichen Teil auch bei Filmproduktionen, und „aufgeklärten“ Subventionspolitik unter- dass es sich hauptsächlich um inländische graben die Akzeptanz öffentlicher Ausgaben Märkte handelt. für die Künste in unvorhersehbarem Maße. Zur Internationalisierung der inlän- dischen literarischen Produkte wird eine Schnittstelle benötigt – ein System, dass Die Berliner Philharmoniker ha- ausländische Märkte für unbekannte Ar- ben bisher für ihre Konzerte noch beiten öffnet. Diese Schnittstelle kann nur keine Form der Kleinserienpro- funktionieren, wenn sich so viele Akteure duktion – geschweige denn eine des jeweiligen Landes wie möglich beteili- gen. Auch dies hängt von den Marktgege- andere Art der Massenproduktion benheiten ab. Je mehr inländische literarische – erfunden. Produkte nach internationaler Anerkennung

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streben, desto stärker wird der Wunsch nach mehr wollen sich die Menschen voneinander einer solchen Schnittstelle. Die zunehmende unterscheiden. Es finden nämlich neue Iden- Mobilität der Ideen und die Verbreitung kul- tifikationsprozesse statt. Die einzige Mög- tureller Arbeiten wird mehr und mehr von lichkeit, diese Aufgabe zu bestehen, ohne der Funktionalität dieses Mechanismus ab- dem eigenen Nachbarn Gewalt anzutun, hängen. ist die Unterstützung, Neudefinition oder Der Amsterdamer Essayist und Soziologe Konstruktion von so etwas wie einer „nati- Abram de Swaan umschreibt dies wie folgt: onalen Kultur“, was immer das sein mag . „Je mehr Sprachen, desto mehr Englisch.” Dieser Prozess offenbart dieTendenz zur Einige Autoren betrachten dieses Phä- Neudefinition einer nationalen Kulturpo- nomen als Bedrohung für das Gedeihen litik und ist überall in Europa erkennbar. des kulturellen Reichtums. Denen möch- Gleichzeitig verhalten sich all jene, die aus- te ich folgende Frage stellen: Wie soll die ländische Einflüsse aus dem kulturellen Le- internationale kulturelle Interaktion zwi- ben ihres jeweiligen Landes heraushalten schen Staatsbürgern verschiedener Länder wollen, auf widersprüchliche Weise, wenn Europas stattfinden, wenn wir uns alle mit sie gleichzeitig die Verbreitung ihrer eigenen unserer eigenen Sprache und der Sprache Kultur im Ausland unterstützen. nur einer weiteren (kleinen) Sprachregion Es ist vollkommen klar, dass ein Riesen- in Europa begnügen? Hätte sich diese recht projekt wie der europäischen Einigungspro- puritanische Haltung in meinem Land, den zess nur erfolgreich sein kann, wenn die Niederlanden, durchgesetzt, gäbe es dort seit Staatsbürger dieser geografischen Einheit dem Mittelalter keinerlei Fortschritte in der gleiche Rechte, einschließlich kultureller Naturwissenschaft oder in der Kunst. Rechte, erhalten, die nicht durch die Kul- Sprachenvielfalt ohne Lingua Franca turpolitik ihrer jeweiligen Länder einge- wäre notwendigerweise ein elitäres Spiel: schränkt sind. ohne Lingua Franca würde die europäische Die Grundvoraussetzung hierfür ist Öffentlichkeit nur beschränkt bedient wer- die freie Verbreitung von Informationen, den. Ideen, kulturellen Ausdrucksformen und Man kann nicht leugnen, dass angelsäch- Produkten innerhalb des Gebiets der Euro- sische Werke und Meinungen durch Eng- päischen Union. lisch, als Lingua Franca unserer Zeit, einen Den begleitenden gesetzlichen Rahmen Vorteil bei der Durchdringung der Märkte liefert der Europäische Gerichtshof für für Bücher und andere Güter in den Be- Menschenrechte. Durch die dort gefällten reichen Kultur und Sprache haben. Die Erweiterung der EU von im früheren Stadium sechs auf siebenundzwanzig Mit- glieder führt zu einundzwanzig weiteren Der Erfolg des Beitrittsprozesses Identitätsdebatten. Die Erfolge des Beitritts­ hat auch seine unangenehme prozesses – Währungsunion, gemeinsamer Kehrseite: Je mehr Homogenisie- Arbeitsmarkt sowie ein größeres Angebot an rung, desto mehr wollen sich die Lebensentwürfen und verbesserte Lebensbe- dingungen – hat auch eine unangenehme Menschen voneinander unter- Kehrseite: Je mehr Homogenisierung, desto scheiden.

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E ntscheidungen stärkt der Gerichtshof die Bisher sind die Möglichkeiten der neu- Freiheit des Individuums und unterstützt esten Kanäle zur Kommunikation und In- europäische Staatsbürger in der Ausübung formationsverbreitung noch kaum erforscht. ihrer kulturellen Rechte, auch wenn diese Der Erfolg sozialer Netzwerke im Internet Rechte durch die jeweilige nationale Ge- zeigt uns, dass die Schaffung eines die setzgebung oder einzelstaatliche Regelungen Staatsgrenzen übergreifenden Bewusstseins behindert werden. bereits auf den Weg gebracht wurde. Daraus lässt sich erkennen, dass es ein wachsendes EU-Integration als kultureller Prozess Bedürfnis nach Foren zum Austausch mit anderen Staatsbürgern gibt. Die beiden an dieser Stelle genannten In diesen Bereich sollten Kunst und Kul- Bedingungen führen zu der notwendigen tur vordringen. Ihre Besucher, ihr Publikum Schlussfolgerung, dass im Europa der Ge- und ihre Leser sind bereits anwesend. Der meinschaftswährung, des freien Austauschs Dialog über die kulturelle Komponente Eu- von Arbeitskraft und des Marktes, eine Par- ropas, die Rolle des Staatsbürgers und die allelwelt existiert – die der kulturellen Rah- Verbindungen zur jeweiligen inländischen menbedingungen. Realität – all das wartet darauf, in die Pro- Man könnte sogar argumentieren, dass grammgestaltung von Verlegern, Organisa- der europäische Einigungsprozess selbst in toren von Festivals, Theatern und Orche- erster Linie als kultureller Prozess begriffen stern aufgenommen zu werden. werden muss. Politische, wirtschaftliche und Natürlich nur für all jene, die eine breitere monetäre Entscheidungen werden nicht von Akzeptanz suchen als die treuen Anhänger Bestand sein, wenn es keine garantierte Ak- der Monokultur des einheimischen Marktes. zeptanz durch die Staatsbürger gibt. Letztere sollten in ihrer selbst gewählten Kaum jemand wird widersprechen, wenn splendid isolation verbleiben. Dieses kultu- ich Akzeptanz als eine kulturelle Gegeben- relle Recht steht ihnen laut den Gesetzen heit bezeichne. Eine, die vor allem sehr eng und Verträgen der Europäischen Union zu. mit jener Ebene aktiver Staatsbürgerschaft Und sie finden sogar öffentliche finanzielle verknüpft ist, die in den jeweiligen Mitglied- Unterstützung, da sich Nationalstolz in im- staaten erreicht wurde. mer mehr Mitgliedstaaten zu einer kultu- Zur Förderung und Entwicklung einer rellen Priorität zu entwickeln scheint. europäischen Staatsbürgerschaft können Aus dem Englischen von Angelika Welt Kultur und Kunst in bedeutendem Maße beitragen. Das geschieht bereits indirekt: Die transnationale Dimension von Kunst und Kultur liefert ein Bindeglied, einen Bezugspunkt für all jene Einheimischen und nationalen Staatsbürger, die durch die Steve Austen ist Kulturunternehmer, Publizist und Schnittstelle der englischen Sprache und die Gründungsmitglied der Initiative „Europa eine Seele Informationsverbreitung durch das Internet geben“. Er engagiert sich seit 1966 für das Kulturle- ben in den Niederlanden und in Europa. Seit 1987 ist an der Erweiterung der gegenseitigen kul- er Präsident der Amsterdam-Maastricht Sommeruni- turellen Kapazität und des Bewusstseins als versität und Gastprofessor an verschiedenen euro- Staatsbürger teilhaben. päischen Universitäten.

59 R aus aus der Nische ins Rampenlicht Machen Buch- messen im Zeitalter des Internets noch Sinn? Welche Bedeutung haben sie für die Verbreitung der europä- ischen Literatur? Wie kann Interesse für die Literaturen der Nachbarn geweckt werden? Eines ist klar: Das Buch braucht professionelle Botschafter. Von Eleftherios Ikonomou

sentieren, und als Auftakt oder Verstärker der jeweiligen Produktion gilt die jeweilige Buchmesse; anders verhält es sich in meinem Heimatland Griechenland, wo die Verlage fast täglich ein neues Buch auf den Markt bringen und nicht an solche Termine gebun- den sind. Es ist schon eine Weile her, dass Griechen- land als Schwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert wurde: Dies war im Jahr 2001. Schon etwa zwei Jahre zuvor war das Interesse an Literatur aus Griechenland gewachsen, doch in jenem Jahr wurden um die 50 Titel vom Griechischen ins Deutsche er einmal auf den zwei großen übersetzt. Einige von diesen freilich in klei- Buchmessen in Deutschland ge- nen, unscheinbaren Verlagen, deren Vernet- wesen ist, um dort ein Buch zu zung in der Presselandschaft und im Vertrieb präsentierenW oder die Rechte zu verkaufen, keine große Verbreitung erlaubt. um Kontakte zu knüpfen oder um zu erfah- Doch auch namhafte Verlage aus Deutsch- ren, welche Neuheiten die Kollegen oder die land, Österreich und der Schweiz haben ihr Konkurrenz auf den Buchmarkt bringen, Interesse durch die Publikation einer Reihe weiß: Die Buchmessen markieren Buchjahre, von Romanen manifestiert, die in Griechen- wie die großen Feste das Kalenderjahr. Die land Erfolg hatten. Zur Frankfurter Messe, zwei wichtigsten internationalen Buchmes- aber auch für Lesereisen in ganz Deutsch- sen sind Frankfurt und Leipzig. Sie sind die land, waren dann auch mehr als 50 Autoren beste Schaubühne des Literaturbetriebs und angereist. Die Presse hierzulande berichtete -austauschs in allen seinen Facetten. einiges, oft Positives, manchmal Negatives, Die Buchmessen in Deutschland sind wie die Presse in Griechenland war gar hingeris- Weihnachten oder Ostern für diejenigen, die sen. Das Messepublikum erschien zahlreich ihren Beruf oder ihr Interesse mit Büchern zu den Lesungen, so dass man fast immer verbinden. Dies ist wohl eine deutsche Be- von erfolgreichen Veranstaltungen sprechen sonderheit und liegt daran, dass die Verlage konnte. Doch das Lesepublikum zeigte sich das Frühjahrs- und Herbstprogramm prä- dann doch nicht so begeistert, dies war zu-

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mindest der Tenor der Lektoren, die nur sehr die Autorenvernetzungen nahmen zu. Und zögerlich Autoren aus Griechenland weiter schließlich: Politik und Medien wurde klar, publizieren wollten. Die einzigen Autoren, dass das Buch ebenso seine professionellen deren Bücher nach 2001 weiterhin übersetzt Botschafter braucht wie die Politik. und verlegt wurden, waren Petros Markaris Die Griechische Kulturstiftung in Berlin (Krimi), Ioanna Karystiani (Roman), Nikos bemüht sich, ihre Aktivitäten dieser Tatsache Panagiotopoulos (Science Fiction, Satire) und anzupassen, und die zwei Buchmessen spielen Soti Triantafillou (Familienchronik). selbstverständlich eine wichtige Rolle. Eines ist klar: Die Euphorie, die die Viel- Die Erfahrung zeigt, dass das Interesse zahl der Übersetzungen im Rahmen des Mes- von Publikum, Lektoren und Agenten in Eu- seschwerpunkts mit sich brachte, hielt nicht ropa jenseits der eigenen Nationalliteraturen dauerhaft an. Doch dies ist bei der Literatur eher gering ist. Nur wenige interessieren sich der meisten Länder der Fall, die in Frankfurt für den internationalen Literaturdialog, nur als Gastländer der Buchmesse ausgewählt wa- wenige lesen Literatur, die die Vielfalt der ver- ren: Weder Korea, die arabische Welt, Katalo- schiedensten Länder und Regionen in Europa nien noch die Türkei – und diese kleine Liste zeigt. Berührungspunkte, Erfahrungen und lässt sich leicht erweitern – konnten am Ende der gemeinsame Umgang mit Konflikten die Frankfurter Buchmesse als Sprungbrett in der postmodernen, postindustriellen und nutzen, um ein größeres Interesse der deut- postkolonialen Welt bleiben aus. Dabei sollte schen Leserschaft auf sich zu ziehen. dies doch eine Welt sein, die in Europa nicht Im Falle Griechenlands kam hinzu, dass von einer Kultur dominiert wird, sondern die für die Realisierung von Literaturüberset- von der multikulturellen Vielfalt der euro- zungen nun einmal notwendigen Finanzie- päischen Kultur. rungen allmählich schwanden und im Zuge Doch diese Vielfalt spiegelt die Buchmesse der aktuellen Wirtschaftskrise gar gänzlich in Leipzig wider. Anlässlich der griechischen ausfielen. Bei dieser zunächst enttäuschenden EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälf- Feststellung zu bleiben, wäre jedoch kleinlich te des Jahres 2003 wurde auf Initiative der und eindimensional. Den Nutzen eines solch Griechischen Kulturstiftung Berlin die Ver- enormen Aufwands sollte man nicht nur an- anstaltungsreihe „Kleine Sprachen – Große hand der Anzahl durchgesetzter Autorinnen Literaturen“ auf der Leipziger Buchmesse ins und Autoren messen. Leben gerufen. Seitdem findet sie jährlich – seit 2005 in einem eigenen, gleichnamigen Doch kein Sprungbrett Forum – in Leipzig sowie mit einer „Nach- lese“ in der Literaturwerkstatt Berlin statt. U m beim Beispiel Griechenland zu blei- Ziel des Projekts ist es, das Interesse an den ben: Die Messe hat viel bewegt. Die Jahre Literaturen kleiner Sprachräume zu stärken. danach waren für jeden, der am Literaturbe- Eingeladen werden zeitgenössische Schrift- trieb teilnimmt, ob Autoren, Verleger, Jour- steller aus Ländern Europas, deren Sprach- nalisten, Kulturschaffende oder Politiker, von und Kulturräume – oft als exotisch betrach- Veränderung geprägt. Autoren haben andere tet und vom Literaturmarkt als risikoreich Perspektiven wahrgenommen, die nicht nur gemieden – eine Hürde für ihre Durchset- mit den griechischen Realitäten zu tun hat- zung im deutschsprachigen Raum darstellen. ten. Die Anträge für Stipendien und auch Die erste Veranstaltungsreihe lief noch

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unter dem Titel „Neues Europa – alte Iden- tungsreihe ist es, das Interesse von Verlagen, titäten“. Ausgangspunkt waren das Eini- Presse und Publikum zu wecken und die Auf- gungsprojekt der EU, die Veränderung des merksamkeit vom Zentrum des deutschen, Selbstverständnisses europäischer Identität angelsächsischen und romanischen Litera- und die damit zusammenhängenden regio- turkanons auf die Peripherie zu lenken, um nalen Ängste, tradierte individuelle und kol- Fragen nach der aktuellen Kulturidentität lektive Identitäten zu verlieren. Europas vollständiger und gerechter beant- Thematisiert wurden damals Konflikte worten zu können. in den Ländern Ost- und Südosteuropas, wie Ein weiteres, mittelfristiges Ziel ist es, ein etwa dem zwischen Tradition einerseits und Netz aus Kontakten zwischen den Autoren Moderne mit individuellen Lebensentwürfen kleiner Sprachräume sowie einen Pool an andererseits. Oder dem zwischen verschie- Übersetzungen unter den Literaturen dieser denen nationalen Interpretationen der euro- kleineren Sprachräume entstehen zu lassen. päischen Geschichte. Auch Verunsicherungen, Ohne Zweifel wirkt es sich positiv auf die die durch Veränderungen politischer, sozialer Wahrnehmung Europas als dem Kontinent und ökonomischer Strukturen vor und nach der Vielfalt und Mehrsprachigkeit aus, wenn dem Zusammenbruch des Kommunismus die kleineren Sprachräume zusätzlich mit- auftraten, wurden behandelt. Dazu fanden einander vernetzt sind und in den dortigen sich die Kulturvertretungen Griechenlands so- Ländern Literatur gelesen wird, die nicht nur wie der EU-Beitrittsländer Polen, Tschechien, von den dominanten Kulturräumen kommt. Ungarn und Zypern zusammen und luden Au- Geplant ist auch, das Programm um inter- torinnen und Autoren aus ihren Ländern ein. nationale Übersetzerseminare zu erweitern, In den folgenden Jahren kamen weitere etwa in Zusammenarbeit mit dem „Litera- Partner dazu, sodass 2008 an diesem trans- rischen Colloquium Berlin“, das die nötige nationalen Literaturprogramm Schriftstel- Erfahrung mitbringt und eine eindrucksvolle ler aus Bulgarien, Estland, Griechenland, Übersetzerdatenbank errichtet hat – aller- Irland (Keltisch), Kroatien, Lettland, Litau- dings nur für Übersetzerinnen und Überset- en, Luxemburg, Malta, Polen, Rumänien, zer deutscher Literatur in die Weltsprachen. Serbien, der Slowakei, Slowenien, Spanien Übersetzungsförderung ist ein erster wich- (Andalusisch, Katalanisch oder Baskisch), tiger Ansatzpunkt; Vertrieb und Marketing Tschechien, Ungarn und Zypern teilgenom- literarischer Werke sind weitere zentrale men haben. Grundpfeiler. Zu prüfen wäre die Etablierung Die Schriftsteller werden von den ver- eines EU-weiten Förderungssystems, das in schiedenen Landesinstitutionen ausgewählt einer konzertierten Aktion sozusagen im und von den Projektleitern nach Gattungs- Sinne einer „europäischer Literatur“ die für und inhaltlichen Kriterien paarweise grup- die Verbreitung von Literatur genauso wich- piert. Das Programm besteht dann aus tigen Elemente wenigstens teilweise fördert. moderierten Tandem-Lesungen mit anschlie- ßenden Podiumsdiskussionen im Forum so- wie aus Gruppenlesungen an anderen Orten Leipzigs, wie etwa im Haus des Buches, aber auch in kleineren Szeneorten. Anliegen dieser Eleftherios Ikonomou ist Leiter der mittlerweile institutionalisierten Veranstal- Griechischen Kulturstiftung in Berlin.

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63 Das Schöne und sein Preis Das Publikum erwartet von den Autoren keine Welterklärungen und ethischen Auf- bauhilfen mehr. Eine neue Generation junger Schrift- steller bekennt sich offensiv zum schönen Schein der Marktwirtschaft. Entwickelt sich der Literaturbetrieb zu einer Sparte der Lifestyle-Industrie? Welche Rolle spielt die Literaturkritik dabei? Soll sie lediglich Ori- entierung im Überangebot bieten? Wohin entwickelt sie sich? Von Hubert Winkels

literarischen Betrieb durch. Zeigen kann man dies am Beispiel der Literaturkritik, meinem wesentlichen Arbeitsfeld seit über 30 Jahren – und zwar in Zeitung und Zeitschrift ebenso wie im Fernsehen und im Radio. Mir geht es hier zunächst um die Litera- turkritik in ihrer historisch überkommenen, und sagen wir mit entsprechendem histo- risch grundiertem Pathos: in ihrer reinen Form. Und diese, so meine These, ist nicht bedroht durch die Vervielfältigung der Me- dien an sich, sondern durch den Wegfall der bürgerlichen Öffentlichkeit und damit auch der aus ihr hervorgegangenen Form der Kri- er Import englischsprachiger schö- tik des kulturell Gegebenen in Disput und ner Literatur nach Deutschland auch Streit. Diese Entwicklung ist verursacht ist hoch. Der Export deutscher durch das Zusammenspiel zweier Tendenzen: DLiteratur in angelsächsische Länder ist ver- dem Vertriebsimperativ, der die Kritikkul- schwindend gering. Der Austausch von Li- tur (und mit ihr die Kulturkritik) hinter sich teratur in Übersetzungen mit anderen euro- lässt, und zweitens einem Unterhaltungsver- päischen Staaten ist ungleichmäßig und von ständnis als emphatischer Teilhabe am kul- historisch-kulturellen Beziehungen und auch turellen Ereignis – weg von seiner kritischen von Moden abhängig. In Deutschland hat das Durchdringung. Eines ist klar: Wir haben es Interesse an osteuropäischer Literatur zuge- mit einem historisch-gesellschaftlichen Pro- nommen, aus naheliegenden geopolitischen blem zu tun, einem viel allgemeineren sozi- Gründen – aber auch, weil es hier geschichts- alen und kulturellen Wandel. trächtigen Stoff, Aufbruch und viel wildes Ich beginne mit einer nicht besonders Genie gibt, glauben die Deutschen. Doch originellen, aber zunehmend beargwöhnten auch hier ist die Situation von Grund auf These: Die Literaturkritik, eingeschlossen der asymmetrisch. Es wird mehr ein- als ausge- Essay zur Literatur, bildet die Königsdiszi- führt. Diese ökonomischen Termini scheinen plin des Kulturjournalismus. Warum? Zum unpassend. Sie sind es auch im Kern. Doch einen ist die Kritik die sprachlich dichteste das Ökonomische schlägt nun einmal auf den journalistische Form, weil sie anknüpft an

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die Formendichte ihres Gegenstandes. Sie Standard im Westen zu orientieren. Mit der arbeitet mit einem sehr komplexen, vorwie- ironischen Folge, dass die einen tendenziell gend historischen Referenzsystem und leistet dorthin wollen, von wo die anderen im sel- deshalb eine weit gespannte Vermittlungsar- ben Zeitraum vertrieben zu werden drohen. beit zwischen Geschichte und Gegenwart. Wie sieht die gegenwärtige Kritikpraxis Zweitens werden mittels der Literaturkri- aus? Welche Verschiebungen gibt es? Die er- tik gesellschaftlich notwendige, nicht selten folgreichsten zeitgenössischen Kritiker be- politisch-historische Selbstverständigungs- stimmen ihre Tätigkeit vom Publikum her. dispute ausgetragen. Der Anstoß geht oft vom Sie rücken den Leser an die wichtigste Stel- literarischen Werk aus, die Kritik nimmt hier le im Koordinatensystem ihrer Arbeit. Den die Rolle des Verstärkers, des Katalysators Leser für ein Buch zu interessieren, ist ihre und des Forums für Kontroversen ein. vornehmste Aufgabe. Sie vermitteln zwischen Die großen von Günter Grass oder Sal- literarischem Werk und Publikum. Sie ar- man Rushdie, von Alexander Solschenizyn beiten, wie andere Kritiker auch: auswählend, oder Christa Wolf, von Max Frisch, Harold analytisch, introspektiv, urteilend nach Re- Pinter, Botho Strauß, , Martin geln und nach Geschmack. Walser oder W. G. Sebald initiierten Debat- Aber die Unterhaltsamkeit ihrer eigenen ten bedürfen zunächst der ästhetisch-poli- Hervorbringungen ist ihnen ähnlich wichtig tischen Argumentationszone der Kritik. Drit- wie die gelingende Überzeugung des Adres- tens: Tatsächlich zeugt auch die publizistische saten, als dessen Anwalt sie sich verstehen. Praxis von der herausragenden Bedeutung Wenn es sein muss, als Anwalt seines bes- der Literaturkritik. Die großen intellektuell seren Ich. Dazu gehört die probeweise Stell- anspruchsvollen Zeitungen in Deutschland vertreterschaft: Die eigenen intellektuellen haben in oder neben dem allgemeinen Kul- Reflexe und gut ausgebildeten Affekte testen turressort relativ selbständige Literaturredak- zunächst das in Frage stehende Kunstpro- tionen eingerichtet. dukt. Die Protagonisten einer publikums- Eigene Literaturzeitungen wie in den USA bezogenen Kritik richten sich tendenziell an und Großbritannien, professionell gemach- das große Publikum, die immer noch recht te Zeitschriften wie in Frankreich spielen in große Gruppe der Gebildeten und darüber Deutschland kaum eine Rolle. Hier haben hinaus alle medienalphabetisierten Teilneh- wir Aufholbedarf, wie eine internationale mer von institutionalisierter Kultur und Un- Kritikkonferenz im Münchner Literaturhaus terhaltung. 2008 gezeigt hat, und es werden erste Bemü- Und sie vermeiden damit allzu große Nähe hungen erkennbar, sich am publizistischen zum kunstinternen Diskurs und nicht selten auch zum speziellen innovativen Anspruch des Kunstwerks. Das ist gerade dort der Fall, wo als Kritiker häufig Universitätsdozenten Die Literaturkritik ist nicht be- und auch andere Schriftsteller in Erscheinung droht durch die Vervielfältigung treten, wie in Großbritannien zum Beispiel. der Medien an sich, sondern Doch hier wie dort ist eine Neigung zu em- phatischen, vor allen zu emphatisch beja- durch den Wegfall der bürger- henden Urteilen feststellbar. Warum, so die lichen Öffentlichkeit. implizite Leitfrage, sich die Mühe machen,

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ein nicht gelungenes Werk zu analysieren. Es die Entwicklung eines sogenannten postmo- versteht sich, dass der so beschriebene Kriti- dernen Kunstverständnisses dafür gesorgt, kertypus, trete er bärbeißig oder charmierend dass, zumindest idealtypisch, alle gegebenen in Erscheinung, dem Publikum besonders Formen gleichrangig nebeneinander stehen teuer ist. Er gibt ihm auf einfachem Wege und für die verschiedensten Kombinationen Unterhaltung und Belehrung und, was zu- benutzbar sind. Im Zusammenhang damit nehmend wichtiger wird, Orientierung auf haben politische Entpolarisierungen in Eu­ einem sich immer stärker ausdifferenzie- ropa ganz allgemein zu einer Entkrampfung renden ästhetischen Feld und einem immer geführt, im gesellschaftlichen Umfeld der Li- unübersichtlicheren Buchmarkt. Den publi- teratur und bei ihr selbst. So konnte sich die kumsnahen Kritiker erfolgreich zu nennen, konventionelle Erzählhaltung durch formale hat etwas Tautologisches, wenn Bekanntheit Selbstironisierung neuen Spielraum verschaf- und entsprechender Einfluss auf den Verkauf fen und hat sich tatsächlich wieder belebt. von Büchern den Maßstab bilden. Die formspielerische Tendenz anderer- Ein Gegengewicht zu dieser Publikums­ seits, wenngleich die im Ergebnis schwä- orientierung bildet die Werkorientierung. chere Seite des schönen Ganzen, konnte die Hier kann man noch einmal unterscheiden: kämpferische Attitude ablegen und sich mit zwischen Kritikern, die sich eher in einer Dis- ihren Reizen offener anbieten als zuvor. Ein kursgemeinschaft mit literarischen Autoren Zug ins Spielerische, ins Heitere, ins witzig sehen, und solchen, die an der Entwicklung Verblüffende wurde wieder stärker sichtbar einer autonomen Logik der Kunst interes- und zudem genießbar. Auch in der Kritik hat siert sind. Letztere stehen in Deutschland sich die Polarisierung, die Anfang der Neun- spätestens seit Anfang der neunziger Jahre ziger mit einer Generaloffensive der Unterhal- in verstärktem Verdacht, eine ästhetische Ge- tungsverteidiger einen Höhepunkt erreichte, heimbündelei zu betreiben. Sie unterstützten, wieder entschärft. Doch ist hier die Orien- so der gängige Vorwurf, die gesellschaftliche tierung an den Forderungen des literarischen Abspaltung der anspruchsvollen Kunst zu Marktes indirekter wirksam. Sie kennt keinen einem Bereich quasi religiöser Geheimhal- unmittelbaren Publikumskoeffizienten. Man tung, in dem ganz eigene Machtverhältnisse zahlt für sie nicht in direkter Abhängigkeit herrschten. von der Zahl der Mediennutzer. Zudem ist Diese Vorwürfe sind häufig gekoppelt an ihre Rezeption nur schwer messbar. Doch ist eine Skepsis gegenüber den innovativen for- die Kritik der literarischen Entwicklung der- malen Entwicklungen in der Kunst selbst, wie art koordiniert, dass deren Probleme in spezi- sie vor allem die österreichischen Autoren lan- eller Zeitverzögerung auch zu ihren werden. ge gepflegt hatten. Die Avantgardisten um- Eher graduell unterscheiden sich von gekehrt bezichtigten die sogenannten Kon- den Beschwörern der autonomen Kunstent- servativen eines eingeschränkten realistischen Literaturbegriffs und verwiesen nicht selten auf den sozialistischen Realismus als politisch Die erfolgreichsten Kritiker rü- verpöntes Modell oder auf die Literatur des cken den Leser an die wichtigste 19. Jahrhunderts als anachronistische Bezugs- größe. Doch hat sich diese starre Gegenüber- Stelle im Koordinatensystem ihrer stellung weitgehend aufgelöst. Zum einen hat Arbeit.

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wicklung solche Kritiker, die in ihrer Arbeit politischer Systeme in Abhängigkeit vonei- an den Autoren orientiert sind. Sie arbeiten nander. Natürlich sind solche politisch-äs- hypothetisch aus demselben intellektuellen thetischen Ableitungen heikel, zumal aus und imaginativen Fundus wie jene. Doch geringem historischem Abstand, doch passt betonen sie stärker das Ingeniöse des Autors. die Überwindung einer hartnäckigen und Und auch wenn sie nicht die biographische kämpferischen Fortschrittsemphase in poli- Nähe suchen, teilen sie seine grundlegenden tisch-gesellschaftlichen Fragen nur allzu gut ästhetischen, philosophischen und nicht sel- zum postmodernen Pluralismus im Ästhe- ten auch politischen Voraussetzungen. tischen. Ein, wenn nicht kausaler, so doch Das hat häufig, aber nicht zwingend, mit tiefenstruktureller Zusammenhang, ist nicht der Zugehörigkeit zur selben Generation zu zu übersehen. tun. Die bewusste Generationsidentität hat sich übrigens nicht erst nach dem weitgehen- Hinein in die Orientierungskrise den Abbau der politischen Ideologien in Eu­ ropa durchgesetzt, weil so ein gewisser Entzug Diese Entwicklung hat sicher einen Abbau an Gemeinschaftsgefühl kompensiert werden von normativem Druck mit sich gebracht: konnte. Sie war in Deutschland auch schon eine Befreiung von der sozialistischen Re- vorher stark ausgeprägt, weil die Abgrenzung gelpoetik im Osten und auch vom Zwang, von einer Vorgängergeneration, die zur Zeit sich dieser radikal zu entziehen. Im Westen des Nationalsozialismus und des Weltkrieges war die Lösung von Zwängen, sei es der po- sozialisiert wurde, lange nachwirkende tiefe litisch-moralischen Korrektheit, sei es der Risse erzeugt hatte. kämpferisch-emanzipativen Avantgardehal- Das Generationsparadigma wird zudem tung, schon längst im Gange. Sie führte jetzt, verstärkt durch die ungewöhnliche Nähe kurzgeschlossen mit dem politischen Bereich, zwischen Autoren, Kritikern und anderen zu einer Art Orientierungskrise. Doch Kri- Agenten des Literaturbetriebs im dicht in- sen bedeuten im Kapitalismus Antriebskraft. stitutionalisierten Alltag. Das ist im deutsch- Überwiegend wurde die tastende Bewegung sprachigen Raum mit seinen permanenten in einer unübersichtlichen Situation als Be- Lesungen in Literaturhäusern und Buch- freiung empfunden. Auch dann, wenn das handlungen, auf Festivals und bei Lesewett- Statement oder die Arbeit des Künstlers nicht bewerben besonders deutlich. Auch wenn das mehr dieselbe Bedeutsamkeit zu haben schie- größte Lesefestival Europas in Hay on Wye nen wie zuvor. Man konnte jetzt, zumindest in England stattfindet, und nicht, wie gerne dem Selbstverständnis nach, alles machen, behauptet mit der Lit.Cologne in Köln. man konnte sich neu sortieren, und der Kri- Den stärksten Grund für die Aufhebung tiker konnte in diesem Prozess seine Unter- der strikten Polaritäten im literarischen Feld scheidungen und Zuordnungen neu treffen. und einem nachfolgenden deutlichen Über- Diese Differenzierung des Feldes brach- gewicht der formal traditionellen Erzähl- te aber auch eine Erfahrung der Marginali- haltung kann man in den welthistorischen sierung mit sich: So viele gelungene Kunst- Ereignissen zwischen 1989 und 1991 sehen: werke, so viel fachliche Anerkennung, und im Fal­l des Eisernen Vorhangs, der Europa die Gesellschaft schaut gar nicht richtig hin! geteilt hatte, und im Ende der ideologischen Dies ist eine Beschreibung der zeitweiligen Selbststilisierung zweier weltanschaulich- Selbstdeutung der literarischen Kultur, nicht

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ihres tatsächlichen Zustandes. Man fühlte Die literarische Kritik blieb weitgehend sich aus dem Zentrum gerückt, war aber nüchtern und skeptisch. Sie hatte das Ausein- tatsächlich nur Teil einer allgemeinen De- andertreten von politischer und ästhetischer zentrierung, oder mit einem populären sozi- Sphäre ebenfalls schwer zu verarbeiten, blieb ologischen Begriff ausgedrückt: Ausdifferen- aber im Großen und Ganzen an der relativen zierung aller Gesellschaftsbereiche. Autonomie des Ästhetischen orientiert. Zwei auf den ersten Blick einander wider- Diesem Befund steht nun ein anderer ge- sprechende Entwicklungen waren die Fol- genüber, der besagt: Literatur sei mehr denn ge: Starke Interventionen der Schriftsteller je ein Konsumgegenstand wie andere Kultur- in den politisch-historischen Raum, als gel- angebote auch. Und Bücher, auch die schönen te es verlorenes Terrain erneut zu besetzen. und guten, seien in erster Linie Waren, und Und zum anderen eine deutlich verstärkte erst in zweiter Linie möglicherweise Güter Bedeutung des Buchmarktes für das gesamte der besonders schutzwürdigen, weil kulturell literarische Feld. wertvollen Art. Zunächst fällt im scheinbaren Gegensatz Hier, bei dieser Argumentation, die sich zu einer Marktorientierung der literarischen vor allem auf die tatsächliche Situation in den Kultur auf, in welchem Maße Schriftstellern fusionierten Verlagshäusern und den großen zugemutet wurde, die historisch neue Situ- jeweils nationalen Buchhandlungsketten be- ation zu deuten. Der Ruf der Literaturkri- rufen kann, berühren wir wieder die Typolo- tik nach dem sogenannten Wenderoman in gie der Kritiker. Denn als eines haben wir sie Deutschland wurde sprichwörtlich. Doch wie noch nicht in den Blick gefasst: als Agenten angemaßt und manchmal albern, als stelle des Marktes. In einer ökonomisch geprägten man legitime Forderungen an einen Zögling, Konstellation mit Produzent, Vertrieb und solche Ansprüche auch waren, es bewegte sich Kundschaft wäre der Literaturkritiker in er- einiges, wenn auch nicht das Gewünschte. ster Linie ein Vertriebsagent, dessen über- So hat zum Beispiel Günter Grass seit der kommene Aufgabe der Geschmacks- und Wende heftiger in die zeitgeschichtlichen auch Meinungsbildung sich auf eine Art Debatten eingegriffen als in den zwei Jahr- Warentestfunktion reduzierte. Nur rand- zehnten zuvor. Was ihm mit seinen ökolo- ständige Mitspieler des literarischen Lebens gisch und feministisch befeuerten Großro- würden dies begrüßen oder gar fordern. Sol- manen „Der Butt“ und „Die Rättin“ nicht che kunstfromme Scheu hat auch mit der gelungen war, nämlich die Gemüter ästhe- bereits angesprochenen einstigen Funktion tisch und politisch zu bewegen, das gelang der literarischen Öffentlichkeit als Vorläufer ihm unter anderem mit seiner vehementen einer jeden, also auch der politischen Öffent- Ablehnung der deutschen Wiederverei- lichkeit in Deutschland zu tun. nigung, mit seiner Kritik an ihrem recht- Und lange noch, bis tief ins 19. Jahrhun- lichen Vollzug, mit seiner Darstellung des historischen Gesamtprozesses der deutschen Nationalstaatsbildung im Roman „Ein weites S o viele gelungene Kunstwerke, Feld“, und nicht zuletzt mit seinem literatur- so viel fachliche Anerkennung, förmigen Hinweis auf das Leiden des deut- schen Flüchtlinge am Ende des Zweiten Welt- und die Gesellschaft schaut gar kriegs in der Novelle „Im Krebsgang“. nicht richtig hin!

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dert, mussten zumindest im Westen Euro- nicht tatsächlich die immer wieder von In- pas Philosophie und Literatur die Hauptlast tellektuellen eingeklagte Nähe zu den Vie- der bürgerlichen Emanzipation überhaupt len differenziert und zwanglos herstellt, wie tragen. Dennoch wächst die Bedeutung des die Befürworter sagen. Oder erzeugt er eine Marktes auch für den Kritiker. Art swingender Öffentlichkeit neuen Typs, Diese ökonomische Orientierung am die vertriebs-, also betriebswirtschaftlich ge- Markt führt zu einer Diffusion des gesam- trieben, eine demokratische operative kul- ten Feldes der Kritik. In diesem Fall haben turelle Praxis, nämlich die argumentierende wir es mit einem Kritiker zu tun, der über analytische Kritik als Öffentlichkeitsmodus die Standards der Literaturkritik durchaus ersetzt? verfügt, sich aber immer stärker leiten lässt Von diesem die Literaturkritik betref- vom erwarteten Erfolg eines Buches. Er kennt fenden Befund scheint es ein weiter Weg bis die Kalkulationen der Buchverlage, weiß bei zur Frage, wie sich der Austausch der Nati- übersetzten Büchern um deren Erfolge in an- onalliteraturen in Europa entwickeln wird. deren Ländern. Er bringt in Erfahrung, wie Aber soviel ist klar: dass Eigensinn und Ei- hoch die Vorschüsse der Literaturagenten und genlogik des ästhetischen und literaturkri- Verleger waren, und er schließt daraus, wel- tischen Diskurses ein Navigationsmittel che Anstrengungen der Verlag unternehmen zwischen den Kulturen sind, dass sie unab- wird, das Buch auf dem Markt zu platzieren hängiger machen von der Logik des Markter- und durchzusetzen. Sicher wird er keine Zu- folgs. Sie können gewährleisten, dass die Lite- wendungen vom Verlag erhalten und er wird ratur kleiner Sprachen, dass die Literatur aus auch nicht darauf spekulieren, aber er lässt kleineren Verlagen, dass die schwierig und sich mittragen von einer Welle des Bucher- also aufwändig zu übersetzende Literatur folgs, die ja auch bedeutet, dass eine Vielzahl überhaupt eine Chance bekommen. Das ist von Menschen eben jene Urteile und eupho- zur Belebung des gesamten Feldes so wich- rischen Gefühle, jene Erkenntnisse oder Le- tig, dass selbst die zentralen Marktagenten bensklugheiten, die der Kritiker herausgear- Interesse an dieser ästhetisch-kritischen, ei- beitet hat, teilen. genständigen und gleichwohl mit dem Ge- Die Helden des Marktes, die Autoren, und meinwesen eng koordinierten literarischen die Helden ihrer Romane sind auch die des Kultur haben müssen. Kritikers, sie sind es für ihn schon ein we- nig früher als für andere. Ja, hat er an ihrer Popularität nicht mitgearbeitet und gehört ihm nicht ein wenig von jenem kollektiven seelischen Aufschwung, den ein anspruchs- Hubert Winkels, Jahrgang 1955, ist Literaturre- voller und unterhaltsamer Bestseller auslöst? dakteur beim „Deutschlandfunk“. 1988 erschien Und ist er nicht tatsächlich näher an den vom ihm im Rowohlt Verlag der Erzählband „Aus- Menschen als seine bitter tüftelnden Kolle- nahmezustand“. Er veröffentlicht regelmäßig Li- gen? Hat er nicht mehr verstanden, wenn teraturkritiken in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Er schon nicht vom Kunstwerk, dann von sei- war Gastprofessor für Literatur und Medien in Es- sen (1998) und Gastprofessor für Literaturkritik an ner gesellschaftlichen Umwelt? Von solchen der Universität Göttingen (1999/2000). 2007 wurde internen Orientierungen eines Kritikers ist es Winkels mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik nicht mehr weit bis zur Frage, ob der Markt ausgezeichnet.

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71 Vernetzte Räume Es verbindet literarische Zentren in Europa, organisiert interkulturelle Begegnungen und lässt die Akteure des literarischen Lebens – Autoren, Übersetzer, Vermittler - die Vielfalt der verschiedenen Kulturen erleben: HALMA, das Netzwerk Literarischer Zentren in Europa. Von Sigrid Bousset

zu werben und Bemühungen unternommen, literarische Werke im In- und Ausland zu ver- breiten. In ganz Europa schießen Literaturfe- stivals, Autorenresidenzen, Literaturhäuser und -veranstaltungen jeglicher Art wie Pilze aus dem Boden. International agierende li- terarische Mediatoren nutzen verstärkt Orte wie Buchmessen und Festivals, um sich über die Grenzen der eigenen Sprache und Litera- tur hinaus zu begegnen, Absprachen zu tref- fen, Austausche zu Stande zu bringen, ge- meinsame Programme zu besprechen. Im Jahr 2004 gründete die Brüsseler Li- teraturorganisation Het Beschrijf das in- ie Literaturlandschaft in Euro- ternationale Literaturhaus Passa Porta und pa hat sich im letzten Jahrzehnt startete ein Residenzprogramm für interna- tiefgreifend verändert. Einerseits tionale Autoren. Passa Porta hat es sich zur Dist eine wachsende Kommerzialisierung des Aufgabe gemacht, in Europas Hauptstadt Buchmarktes festzustellen, andererseits gibt Türen zu öffnen zwischen Sprachen, Litera- es in allen Teilen Europas immer mehr li- turen und Kulturen. Die komplexe, hybride terarische Vermittler, die immer professi- und polyglotte Stadt Brüssel spielt bei allen oneller agieren. Mit Literaturhäusern und Initiativen von Passa Porta die Hauptrolle. Autorenresidenzen, Literaturagenturen und Mit der international ausgerichteten Stadt -festivals etablieren sich Strukturen, die auf Brüssel als Biotop und Arbeitsfeld wuchs bei unterschiedliche Weise das literarische Le- uns schon bald das Bedürfnis, mit anderen ben verändern. Der Ausbau von Literatur- Literaturhäusern im Ausland in Kontakt zu fonds in verschiedenen europäischen Län- treten. Dann kamen wir mit dem neu gegrün- dern sorgt für eine Unterstützung des Autors deten HALMA-Projekt in Kontakt: einem und seiner Texte: in vielen Ländern werden Netzwerk europäischer Literarturinstitu- Autoren und Übersetzer über Stipendien in tionen, das der Verknüpfung europäischer ihrem kreativen Prozess gefördert, es werden Kultur- und Literaturszenen dient. Als eine Übersetzungsrichtlinien entwickelt, um für Austauschplattform zwischen europäischen die Literatur über die Landesgrenzen hinaus Schriftstellern, Übersetzern und Literatur-

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vermittlern gedacht, schien es zu diesem beitsmethoden, der Vorgehensweise, der kul- Zeitpunkt vornehmlich in Osteuropa ver- turpolitischen Einbettung unserer Projekte, ankert zu sein. Wir hielten es für wichtig, und vor allem herrscht ein unstillbares Ver- dieses hervorragende Projekt auf West- und langen, neue Literaturen kennenzulernen und Südeuropa auszuweiten, um auf diese Wei- Möglichkeiten für grenzüberschreitende und se zu einem wahren Informations-, Ideen-, wechselseitige Zusammenarbeit zu suchen. Autoren- und Übersetzeraustausch in ganz Die konkrete Basis für die Zusammen- Europa zu gelangen. arbeit zwischen den verschiedenen Autoren- Mein erstes Treffen mit den Mitgliedern und Literaturhäusern besteht aus einem des Netzwerkes fand im Frühjahr 2007 in der Writers-in-Residence-Programm zur Förde- serbischen Kleinstadt Sremski Karlovci statt. rung der Mobilität zeitgenössischer Autoren Ich lauschte einem Schriftsteller wie László und darin, Übersetzungsmöglichkeiten für Végel und seinem wehmütigen Bericht über ihr Werk zu schaffen. Schriftsteller sind nur das Verschwinden der Mehrsprachigkeit und allzu oft dazu verurteilt, auf ihren eigenen Multikulturalität in Novi Sad, besuchte einen Sprachraum beschränkt zu bleiben, sie be- Herausgeber für ausgezeichnete internationa- kommen zu wenig Gelegenheit, ihren Ho- le Literatur in kyrillischem und lateinischem rizont zu erweitern, ihrem Werk durch eine Alphabet, vernahm mehr über das Identi- veränderte Umgebung neue Impulse zuzu- tätsproblem der ex-jugoslawischen Literatur, führen oder ihren Kreationsprozess durch hörte dem HALMA-Vorsitzenden Krzysztof die Bekanntschaft mit einer anderen Sprache, Czyżewski mit seiner jahrelangen Erfahrung Literatur und Kultur befruchten zu lassen. Im und seinem Borderland House an der Grenze Jahr 2010 erfährt dieses Residenzprogramm zu Polen, Litauen und zu, oder auch eine Steigerung: dank europäischen Förder- anderen Kollegen, die alle aus derselben Ge- geldern kann das Literaturnetzwerk über triebenheit, oft unter schwierigen Umstän- 20 Schriftstellern ein Stipendium anbieten. den, in ihrer täglichen Praxis fortwährend Eine konkrete Zusammenarbeit, die sämt- daran arbeiten, Begegnungen zwischen Li- liche HALMA-Häuser miteinbezieht, nimmt teraturen aus ganz Europa zu schaffen und damit Form an. Jede Institution schlägt ei- so etwas wie ein europäisches Bürgertum zu nen Autor vor, der die Chance erhält, für ei- entwickeln, genährt durch europäische Texte nen jeweils einmonatigen Aufenthalt zu zwei und Geschichten. Häusern in zwei verschiedenen Ländern zu Von diesem Moment an verpasste ich kein reisen. Die betreffenden Institutionen stel- einziges Treffen mehr. Mich hatte der „HAL- len Kontakte her zwischen Autor und Lite- MA-Spirit”, wie wir ihn nennen, gepackt. raturszene, sie initiieren Kooperationen mit Das Literaturnetzwerk breitete sich mit ei- Übersetzern und vermitteln Kontakte zu po- ner Anzahl neuer Partner, in erster Linie aus tenziellen Verlegern. Westeuropa, weiter aus und nahm konkretere Es zeigt sich immer wieder, dass Stipendia- Form an: 26 literarische Zentren treffen sich tenresidenzen Autoren in Bewegung bringen, zwei Mal pro Jahr zur Umsetzung gemein- in einen Strom der Kreativität. Die Präsenz samer Initiativen. Der Prozess ist dabei fast des intellektuellen und künstlerischen Po- ebenso wichtig wie das Produkt. Wir entwi- tenzials ausländischer Autoren ist für das li- ckeln eine Zuhörbereitschaft, wir stoßen auf terarische und kulturelle Leben, an dem sie Ähnlichkeiten und Unterschiede bei den Ar- eine zeitlang teilnehmen, außergewöhnlich

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bereichernd. Als „Gegenleistung” für die Autoren, die dazu ermuntert werden, in Eu- Gastfreundschaft bieten sich die residieren- ropa mobil zu sein, die Möglichkeiten zu den Autoren oft spontan als Mittler an. Sie nutzen, sich außerhalb der sprachlichen und lesen Literatur aus dem Land ihres Aufent- kulturellen Grenzen der eigenen Region zu halts, sie nehmen das Wissen darum mit und bewegen, nachzudenken darüber, was es be- helfen beim Zustandebringen von Kontak- deutet, Schriftsteller in Europa zu sein und ten mit literarischen Mediatoren im eigenen diese Reflexion auch in ihren Texten sichtbar Land: literarischen Podien, Zeitschriften und zu machen. Verlagen. Mit Hilfe von Stipendien für Autoren Im April 2009 stand das Treffen des Netz- und Übersetzer, die Organisation öffent- werks im Übersetzerhaus im ungarischen licher Veranstaltungen rund um diese Auto- Balatonfüred im Zeichen von „Translating ren und die entstehende Übersetzung ihres Europe”. Es ging um Möglichkeiten, den li- Werkes erschafft HALMA transnationale terarischen Schöpfungen der ausgewählten Bewegungen, in denen europäische Lite- HALMA-Autoren die besten Übersetzungs- ratur Chancen erhält. Dank des Literatur- und Publikationsmöglichkeiten zu verschaf- netzwerks gibt es nun eine Struktur, die es fen. Dementsprechend sollen zukünftig auch möglich macht, diese transnationale Zusam- Reisestipendien für Übersetzer angeboten menarbeit in Angriff zu nehmen. Die Part- werden. ner, die sich dank der nicht nachlassenden Auf diese Weise will das Literaturnetz- Unterstützung der Robert Bosch Stiftung werk mit der Zeit eine regelrechte mehrspra- zwei Mal pro Jahr treffen, lernen die Ein- chige HALMA-Bibliothek erschaffen, unter schränkungen und Möglichkeiten der ande- dem Motto „What‘s new in European lite- ren besser kennen. Neue Initiativen können rature?”. Es versteht sich von selbst, dass in innerhalb dieser soliden Struktur angestoßen dieser Bibliothek andere Kriterien zum Tra- und entwickelt werden. gen kommen werden als in der Auswahl, die Wir arbeiten an einer Zukunft, in der sich der europäische Leser grosso modo durch Autoren in Europa ganz selbstverständlich die marktorientierte Verlagswelt angeboten in einen breiteren internationalen Kontext bekommt. Schließlich trifft das Netzwerk einfügen, präsent sein können in großen wie keine marktbestätigenden Entscheidungen, kleinen Sprachgebieten, in bereits bestehen- sondern bietet eine marktkorrigierende Alter- den und neuen internationalen literarischen native in einem europäischen Literaturraum, Foren. Damit kommen wir der Grundmis- in dem der literarische Übersetzungsverkehr sion aller Stipendiatenhäuser des Netzwerkes allzu sehr durch Literaturagenten und Verle- entgegen: dem Öffnen von Türen zwischen gerinteressen bestimmt wird, die sich weni- Sprachen, Literaturen und Kulturen. ger von Innovation, literarischem Wagemut Aus dem Flämischen von Annalena Heber und Qualität leiten lassen als durch Argu- mente wie Verkaufszahlen, Nominierungen für kommerzielle Preise und dadurch, wie bequem sich die Geschichten konsumieren lassen. Die Literatur, die das Netzwerk in den Sigrid Bousset leitet die Literaturorganisation Vordergrund rücken möchte, entsteht durch Het Beschrijf in Brüssel.

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Fern von Zuhause im Strom der Kreativität

Viele Schriftsteller reisen und schreiben an einem anderen Ort, um etwas Ver- schwundenes wiederzu- finden. In den Stipendia- tenresidenzen hinterlassen sie Eindrücke über ihren Aufenthalt, sie lichten ei- nen Zipfel des Schleiers auf ihre innere Welt, über das Schreiben fern von Zuhau- se, über die Kombination von Isolation und dem Reiz des Neuen. Es bedeutet

auch erkunden, umher- streifen, sich den Geheim- nissen eines neues Ortes schamlos auszuliefern, Vor- urteile zu korrigieren oder bestätigt zu sehen.

Oben: Literarisches Collo- quium Berlin Unten: Gästewohnung von Passa Porta in Brüssel

75 S chreiben in der Fremde Die Migration hat nicht nur die Gesellschaften Europas verändert, sie hat auch in der europäischen Gegenwartsliteratur Spuren hinterlas- sen. Was macht die sogenannte Migrantenliteratur aus? Welche Rolle spielt die interkulturelle Literatur heute? Von Carmine Chiellino

des Zweiten Weltkriegs sind die aggressivste Form des Eindringens in fremde Sprachkul- turen und schlimme Zäsuren in den Natio- nalgeschichten der betroffenen Länder. Fa- schismus und Stalinismus gingen auch gegen „fremde“ Sprach- und Kulturgemeinschaften innerhalb der eigenen Staatsgrenzen vor, wie etwa gegen die Südtiroler in Italien oder ge- gen die zahlreichen ethno-kulturellen Min- derheiten innerhalb der Sowjetunion. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu bilateral geregelten friedlichen Einwan- derungen aus Süd- und Osteuropa, aus der Türkei und Nordafrika in die Länder Nord- urch die Wahl des Florentinischen europas. Aus den ehemaligen Kolonien Asi- und nicht des Lateinischen für die ens und Afrikas wanderten Migranten in die „Göttliche Komödie“ hat Dante vormaligen Kolonialländer, nach Großbri- DAlighieri die italienische Literatur auf den tannien, Frankreich, Portugal, Spanien oder Weg gebracht. Und zwar mit einer ästhe- die Niederlande ein. Es besteht kein Zweifel: tischen Leistung, die bis heute innerhalb der Wirtschaftliche, politische und gesellschaft- italienischen Literatur unerreichbar bleibt. liche Umwälzungen tragen zur Entstehung Für das 20. Jahrhundert braucht man nur von Kunst und Literatur bei. Für einen Le- auf die Werke von Klassikern wie Franz Kaf- ser ist es gewinnbringend, Autoren in ihrem ka, Italo Svevo, und Samuel Be- Umfeld und deren Werke in ihren Entste- ckett blicken, um festzustellen: Sie haben aus hungskontexten wie Aus- und Einwande- freien Stücken und ohne wirtschaftliche oder rung, politisches Exil, kolonialistische Ge- politische Zwänge die Sprache ihrer Kunst walt, Postkolonialismus und Repatriierung, ausgewählt. Das vergangene Jahrhundert war kennenzulernen. das der Invasionen, aber auch der friedlichen Jeder Autor, der nicht in seiner Mutter- Ein- und Auswanderungen. Die Aggressi- sprache schreibt, hat unverwechselbare Er- onen europäischer Armeen in den Kolonien fahrungen und persönliche Gründe für die Asiens und Afrikas sowie die Bewegungen Wahl seiner Schriftstellersprache. Nicht we- nationaler Heere im Verlauf des Ersten und nige Schriftsteller konnten sich indes gar

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nicht entscheiden, weil sie in der Schule in die Jorge Semprún und seine in französischer neue Sprache hineinwuchsen. Etwa der fran- Sprache verfassten Werke über sein Engage- zösischsprachige Autor Albert Memmi, der ment im Widerstandskampf gegen die Fran- in einer jüdisch-arabischen Familie in Tunis co-Diktatur und über seine Deportation in geboren wurde. Oder Salman Rushdie, der das Konzentrationslager Buchenwald; Héc- in Bombay zweisprachig aufgewachsen ist. tor Bianciotti, Sohn piemontesischer Argen- Um die eigene Sprachentscheidung zu ver- tinieneinwanderer, der Argentinien verlässt mitteln, lassen sich interkulturelle Autoren um in die französische Sprache mit autobi- immer wieder besondere Erklärungen ein- ografischen Romanen einzuwandern; Fran- fallen. Eine stammt von Joseph Conrad. In çois Cheng mit seinen französischsprachigen seinem Buch „A personal Record, Some Re- Werken über das China des 20. Jahrhunderts; miniscences“ (1912) teilt er seinem Leser mit: Salman Rushdie, der für Englisch optiert hat „Man möge mir Glauben schenken, wenn ich und das Leben der asiatischen Einwanderer sage, dass ich, wo nicht in englischer Spra- in London als Thema seiner Hauptromane che, dann überhaupt nicht geschrieben ha- aufgreift; die Romanautorin Agota Kristof, ben würde.“ Andere Autoren schildern den die aus dem Ungarischen ins Französische Sprachwechsel ins Idiom der Mehrheitsgesell- gewechselt ist; Fleur Jaeggy mit ihren italie- schaft als unvermeidbare Lebensnotwendig- nischsprachigen Romanen über die Schweiz keit, um in der Fremde kreativ zu sein. Der ihrer Kindheit und Internatszeit; der franzö- aus Polen stammende Conrad indes scheint sischsprachige Tahar Ben Jelloun und sein von der neuen Sprache Englisch „verführt“ Opus über das Leben in Marokko; der schwe- worden zu sein, mit allen Risiken, die für ei- dischsprachige Romancier Theodor Kallifa- nen Nichtmuttersprachler damit verbunden tides aus Griechenland mit Romanen über sind. Dennoch ist unter den Einwanderern das Leben eines politischen Exilierten in Europas das Schreiben in den Herkunftsspra- Schweden und über seine Vergangenheit in chen genau so häufig, wenn nicht häufiger. Griechenland zur Zeit einer besonders bru- Auch wenn die interkulturelle Literatur talen Diktatur; Agustín Gómez Arcos ist aus Europas kaum erforscht ist, kann man eine dem Spanischen ins Französische geflüchtet, Kerngruppe aus folgenden Autoren bilden: um die eigene literarische Kreativität vor der der russischsprachige Tschingis Aitmatow spanischen Zensur zu retten; der Romancier und seine zahlreichen Romane über sein Ge- Andreï Makine mit seinen französischspra- burtsland Kirgisien; der deutsche Flüchtling chigen Romanen über Russland und die Rus- Fred Uhlman, der autobiografische Kurzro- sen in Frankreich; Moses Isegawa aus Ugan­ mane über die Zeit des Nationalsozialismus da, der englischsprachige Romane in den in Deutschland auf Englisch verfasst hat; der Niederlanden verfasst sowie Gëzim Hajdari schon erwähnte Albert Memmi, Verfasser mit seinen zweisprachigen Gedichtbänden von autobiographischen Romanen und wo- auf Albanisch und Italienisch. möglich der Gründer der interkulturellen Es wird deutlich, dass Französisch und Literatur in französischer Sprache; der No- Englisch die größte Anziehungskraft auf die belpreisträger V. S. Naipaul aus der Karibik Sprachwechsler ausüben (und nicht etwa mit seinen englischsprachigen Werken über Spanisch, Portugiesisch oder Russisch). Die das soziale Leben in Großbritannien und in Gründe dafür sind allzu bekannt. Sie sind Ländern Afrikas und Asiens; der Spanier Staatssprachen in Kanada, den Vereinigten

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Staaten und Australien und waren die Spra- turen Protagonisten mit Lebensläufen, die chen der Kolonialmächte in Afrika und innerhalb der Grenze des kultur-historischen Asien. Auch hängt die Popularität des Eng- Gedächtnisses der geschriebenen Sprachen lischen und Französischen mit ihrer Stellung heranreifen. Dagegen gehen interkulturelle auf dem Weltmarkt der Literatur zusammen. Autoren von einer alternativen Standardsi- Beim Sprachwechsel spielt zudem das Ver- tuation aus. Sie versehen ihre Protagonisten hältnis des nationalen Literatur- und Kul- mit Lebensläufen, die sich durch verschiedene turbetriebs gegenüber Fremden eine Rolle. Sprachen und durch verschiedene kulturhi- Etwa ob es eine Akzeptanz oder erfolgreiche storische Gedächtnisse entwickeln. Vorbilder dafür gibt, dass Autoren aus der Eine derartige Standardsituation ist des- Fremde Literatur in der Landessprache ver- wegen als ästhetische Grundlage interkultu- fassen. Und hier gehen Frankreich und Groß- reller Kreativität zu verstehen, weil es in den britannien offener und interessierter mit in- interkulturellen Werken darum geht, die Le- terkulturellen Autoren um als andere Länder bensläufe der Protagonisten über Sprachen, in Europa. Dies lässt sich an der Zahl der ein- Kulturen, Landschaften und Generationen gewanderten Autoren, die in den wichtigsten hinweg in sich zu integrieren. Auf diese Weise Literaturinstitutionen im Lande aufgenom- wird interkulturelle Kreativität vor ihrer Auf- men worden sind und an der Häufigkeit, mit lösung durch irgendwelche Fragen nach nati- der interkulturelle Autoren mit bedeutenden onaler Zugehörigkeit in Schutz genommen. Preisen bedacht werden, haltmachen. Zwangsläufig passiert es, dass die Selbst­ So unterschiedlich die Ausgangsposi- integration des Protagonisten durch ein ein- tionen in den verschiedenen Ländern sein ziges Idiom sich am leichtesten jenen Lesern mögen: In ihren Romanen, Gedichten, Er- offenbart, die sich in den Sprachen und Kul- zählungen und Theaterstücken lassen sich turen auskennen, die den Lebenslauf des Pro- gemeinsame ästhetische Komponenten und tagonisten ausmachen. Einem einsprachigem Erzählstrategien herausarbeiten, und zwar Leser wird etwas mehr abverlangt, jedoch jenseits der Sprachen und Kulturen, in denen kann er anhand des Werkaufbaus den Weg sie verfasst und verortet sind. erkennen, den er gehen muss, um zu einem Ihre markanteste Übereinstimmung liegt interlingualen, interkulturellen Leser zu wer- in der Umgestaltung des Beziehungssystems den. zwischen geschriebener Sprache, Protago- In diesen Werken stößt der Leser früher nisten und Leser. Diese beruht auf der Tat- oder später auf Stellen, an denen er ablesen sache, dass Werk und Leser auf eine einzige kann, wie die Sprachen der Protagonisten gemeinsame Sprache angewiesen sind, um sich untereinander verhalten. Anders gesagt, in Kontakt treten zu können. Daher sind ihm wird im Werk Gelegenheit gegeben, zu Schriftsteller selbst darauf angewiesen, die erkennen, wie die Sprachen der interkultu- sprachunterschiedlichen Abschnitte der Le- rellen Protagonisten im Kopf des Schriftstel- bensläufe ihrer Protagonisten in einer ein- lers sich gegenseitig den Zugang zu jedem zigen Sprache zu fassen. Sie müssen dies tun, Lebensabschnitt der Protagonisten gewähren, obwohl im Lauf eines Romans oder einer Er- unabhängig davon, in welcher Sprache sie die- zählung der Protagonist sein Leben in unter- sen Abschnitt ihres Lebens ausgelebt haben. schiedlichen Sprachen auslebt. Im Regelfall Sprachen sind damit fähig, sich zueinander entwerfen Schriftsteller nationaler Litera- dialogisch zu verhalten, noch bevor eine von

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ihnen gesprochen oder geschrieben wird.Um A rbeitsmigranten, wie etwa ihre Situation in auf Deutschland zu sprechen zu kommen: den deutschen Betrieben in den fünfziger und Dass die Bundesrepublik ihren Beitrag zur sechziger Jahren. Es geht um die Schwierig- interkulturellen Literatur in Europa etwas keiten, sich als Einwanderer im neuen Gesell- später, jedoch nicht verspätet, leistet, hat schaftssystem zurechtzufinden, um die unsi- damit zu tun, dass die Einwanderung nach chere Zukunft in einem Land, das von sich Deutschland in der Nachkriegszeit anders als behauptete, kein Einwanderungsland zu sein. die gleichzeitige Immigration in die ehema- In denselben Werken fehlten jedoch nicht ligen Kolonialländer Europas verlaufen ist. erste Annäherungsversuche zwischen Ein- Sie war durch bilaterale Länderabkommen wanderern und Einheimischen, sei es als gesteuert und vor allem auf Zeit geplant. So Liebesgeschichten oder als gemeinsamer gesehen ist die interkulturelle Literatur in Widerstand gegen die schwierigen Arbeits- Deutschland in engstem Zusammenhang bedingungen. Dabei wird die solidarische Be- mit der Arbeitsmigration entstanden sowie teiligung am gewerkschaftlichen, politischen unter dem starken Einfluss der politischen und sozialen Leben der Bundesrepublik als und engagierten Literatur der sechziger Jahre. der Weg beschrieben, den die Einwanderer Im Geist jener Zeiten wurde sie sofort gehen müssen, um sich von reinen Arbeits- als Minderheitsliteratur verstanden und mit kräften zu Staatsbürgern zu emanzipieren. Zweckdefinitionen belegt. In sprachlicher Aus heutiger Sicht ist zu erkennen, dass Anlehnung an die Arbeiter- oder Frauenli- die Pioniere der interkulturellen Literatur in teratur wurde die interkulturelle Literatur Deutschland sich eng an den Modellen der sofort als Gastarbeiter- oder Ausländerlite- damals florierenden Minderheitsliteraturen ratur etikettiert. orientiert hatten. Sie riskierten damit, sich in In der Tat waren die Debütwerke von Au- eine thematische und ästhetische Sackgasse toren wie Aras Ören, Franco Biondi, Güney zu verlaufen. Dal, Luisa Costa Hölzl, Zvonko Plepelić, Ay- Erst gegen Ende der achtziger Jahre ge- sel Özakin, Eleni Torossi, Yüksel Pazarka- lang es den „Gastarbeiterautoren“ mit neuen ya, Lisa Mazzi-Spiegelberg, Şinasi Dikmen, Werken, sich den Themen und ästhetischen Emine Sevgi Özdamar und vieler anderer Fragestellungen der interkulturellen Litera- im Lebensbereich der sich herausbildenden tur Europas anzunähern. Der Übergang von Einwanderergemeinden angesiedelt. Minderheitsliteratur zu interkultureller Lite- Im Mittelpunkt ihrer Romane, Erzäh- ratur wurde durch die Begegnung mit den lungen, Gedichte, Kurzprosa und Kinder- Werken anderer interkultureller Autoren in erzählungen standen klassische Themen der Europa unterstützt, zum Teil aber aus der heranreifenden Gewissheit abgeleitet, dass die gesellschaftliche und kulturelle Kom- plexität jedes Einwanderungsprozesses sich Frankreich und Großbritannien nicht auf den Alltag in den Betrieben oder sind offener und haben mehr In- auf den Kampf für die Gleichberechtigung teresse als andere Länder in Eur- als Staatsbürger reduzieren lässt. Ferner ist zu erkennen, dass im Lauf der Achtziger- und opa für interkulturellen Autoren Neunzigerjahre die Typologie der interkul- haben. turellen Schriftsteller in Deutschland sich

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durch neue Zugänge ausdifferenzieren konn- bracht worden, die erst bei ihrer Ankunft als te. Dabei handelte es sich um Autoren, die Einwanderer oder als Flüchtlinge entschieden sich für das Deutsche als Sprache ihrer Lite- haben, Schriftsteller zu werden. Dies unter- ratur im Kontext ihres politischen Exils ent- scheidet sie von der interkulturellen Litera- schieden haben, darunter Cyrus Atabay und tur in englischer oder französischer Sprache: Said (Iran), Adel Karasholi (Syrien), Ota Filip Die interkulturelle Literatur im Deutschen und Libuše Moníková (Tschechoslowakei) konnte auf keine koloniale Sprachpolitik zu- und György Dalos (Ungarn). Persönliche rückgreifen. Hintergründe und Ziele waren dagegen aus- Die interkulturelle Literatur ist in schlaggebend für Autoren wie Galsan Tschi- Deutschland anders positioniert. Sie ist we- nag aus dem Volk der Tuwa in der Mongolei, der einer postkolonialen noch einer deutschen für die Japanerin Yoko Tawada, den Äthio- historischen Bewältigung von Schuld ver- pier Asfa-Wossen Asserate und für Eleonora pflichtet. Sie ist nach vorn ausgerichtet. Sie Hummel aus Kasachstan. hat als Ziel die interkulturelle Zukunft in Parallel dazu meldete sich eine Genera- Deutschland als Beitrag zur interkulturellen tion angehender Schriftsteller zu Wort, die Zukunft der Europäischen Union. woanders geboren war, aber in Deutschland Natürlich ist ein solches Ziel nirgendwo sprachlich heranwuchs. Darunter befinden als Programm der interkulturellen Literatur sich Zafer Şenocak und Feridun Zaimoglu in Deutschland formuliert worden, aber wer aus der Türkei, Ilija Trojanow aus Bulgarien, Prosa, Theaterstücke oder Gedichte mit in- Terézia Mora aus Ungarn, Sudabeh Mohafez terkulturellen Protagonisten entwirft, der ist aus dem Iran, Que Du Luu aus Vietnam (je- auf die Gestaltung von Lebens- und Hand- doch mit chinesischen Eltern) und Luo Lin- lungsräumen angewiesen, die ohne Sprach- gyuan aus China. Aus der Generation, die im und Kulturgrenzen auskommen. Deshalb Lande von eingewanderten Eltern stammte, müssen interkulturelle Autoren über anati- hatten sich Autoren wie José F. A. Oliver, onale Erzählstrukturen nachdenken. Es sei Natascha Wodin und Selim Özdogan sehr denn sie vertrauen sich den lockenden Rufen früh hervorgetan. der Monokulturalität an, um eine Fotokopie Untern den „italienischen“ Autoren stellen der erfolgreichsten Autoren im Lande werden muttersprachige Autoren sogar die Mehrheit. zu können. Zu ihnen gehören die Dichter Salvatore A. Sanna, Giuseppe Giambusso, Franco Sepe, Marcella Continanza, Cristina Alziati; die Romanautoren Marisa Fenoglio, Silvia di Carmine Chiellino (geboren 1946 in Carlopo- Natale und Cesare de Marchi. Auf Deutsch li, Italien) ist ein deutschsprachiger Dichter und Literaturwissenschaftler. Er kam 1970 nach dem schreiben der Romancier und Dichter Fran- Studium der Italianistik und Soziologie in Rom co Biondi, die Prosaautorin und Lyrikerin nach Deutschland. Für sein lyrisches Werk ist er Lisa Mazzi-Spiegelberg und der Aktionkünst- unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamis- ler und Lyriker Fruttuoso Piccolo. Auch ich so-Preis 1987 geehrt worden. Er ist Herausgeber schreibe unter dem Namen Gino Chiellino des Buches „Interkulturelle Literatur in Deutsch- land. Ein Handbuch“ (Metzler Verlag 2000). 2003 Gedichte und Essays auf Deutsch. übernahm er die Chamisso-Poetikdozentur an der Die interkulturelle Literatur ist in Technischen Universität Dresden. Deutschland von Autoren auf den Weg ge-

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81 L ernen von den Eidgenossen Viele Sprachen auf kleinstem Raum: Die Schweiz macht vor, dass eine gemeinsame Kultur nicht an den Sprachgrenzen Halt machen muss. Wie fördert man mehrsprachige Literatur am besten? Von Beat Mazenauer und Francesco Biamonte

nem Sonderstatus profitiert, den ihm die kulturellen Eliten über lange Zeit hinweg eingeräumt haben. Vielmehr sehen sich Bü- cher in Konkurrenz zu vielfältigen Kultur- angeboten, die durchaus höheren Ansprü- chen genügen. Die Folge: Verlage und Kulturschaf- fende suchen nach neuen Strategien. Sie machen Hörbucher populär, entwickeln neue Festivalformate und richten Litera- turhäuser ein. Sie laden Autoren und Bü- cher aus dem eigenen Land wie aus anderen Sprachregionen ein, um so die Literatur einem möglichst zahlreichen Publikum ufmerksamkeit ist in der Medien- nahezubringen. gesellschaft ein wertvolles Gut. Die Was den Export von literarischen Wer- Informationsangebote werden im- ken betrifft, drängen sich zwei Möglich- Amer zahlreicher, aber ihre Empfänger kön- keiten auf: Zum einen die mehrsprachige nen nicht mehr als das Menschenmögliche Förderung und zum anderen das Internet aufnehmen. Im Kräftespiel einer „Ökono- als Medium dafür. mie der Aufmerksamkeit“ haben es grel- le Sensationen und einfache Botschaften Labor Schweiz oft leichter. Dies gilt auch für die Lite- ratur. Insbesondere ihre anspruchsvollen L iteratur über Sprachgrenzen hinweg Spielarten scheitern bereits an der eigenen zu fördern ist ein schwieriges Unterfangen, Komplexität. Literatur möchte sich einer- weil sie fundamental an eine Sprache ge- seits den allzu simplen Werbebotschaften bunden ist, die sich im täglichen wie auch entziehen, und andererseits wird ihr Be- im künstlerischen Gebrauch von anderen kanntheitsradius durch die Vielsprachig- Sprachen abgrenzt. Am Beispiel der mehr- keit begrenzt. sprachigen Schweiz lässt sich ablesen, wie Hinzu kommt, dass das literarische diese Mechanismen spielen, aber auch wie Werk, das noch immer über symbolhaftes sie sich überwinden lassen. Die europäische Prestige verfügt, nur mehr bedingt von je- Union besteht heute aus 27 Staaten, einem

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verbindenden institutionellen Rahmen und chigen Schweiz gestärkt wird, bleiben die einem gemeinsamen Etat. Kulturell jedoch konkreten Probleme beim sprachlichen ist Europa ein nach wie vor ein zersplittertes Austausch natürlich stark. Literarisch ste- Gefüge, das noch keine gemeinsame Iden- hen die Landessprachen Rücken an Rü- tität gefunden hat. Die 23 Amtssprachen cken zusammen, jeweils ausgerichtet auf erfüllen im Wesentlichen gesetzgeberische die Zentren außerhalb des Landes in Paris, und administrative Funktionen. Mailand oder Berlin. Selbst in diesem Be- Demgegenüber kennt die Schweiz bloß reich ist trotzdem ein einigender kulturpo- vier Landessprachen, doch sie zeichnet sich litischer Wille zu spüren. dadurch aus, dass die Mehrsprachigkeit ein Nationale Institutionen wie die Pro Hel- Kernelement der schweizerischen „Kultur- vetia sowie private Stiftungen und Vereine nation“ darstellt. Was hielte sie zusammen, setzen sich ausdrücklich zum Ziel, über die wenn nicht der Wille, mehrsprachig zu- Sprachgrenzen hinweg Brücken zu bauen. sammenzugehören? Drei der vier Sprachen Es werden Bücher übersetzt, gemeinsame teilt die Schweiz mit ihren größeren Nach- Lesungen veranstaltet, Festivals organi- barn Deutschland, Frankreich und Italien, siert. Das Schweizer Literaturinstitut in deshalb besitzen alle ihre Bürger, wie der Biel bietet seine Kurse zweisprachig deutsch Schweizer Schriftsteller und Literaturwis- und französisch an. Zudem gibt es mehrere senschaftler Adolf Muschg 1990 schrieb, Literaturprojekte, die sich der Mehrspra- eine „Doppelbürgerschaft“, die „konstitutiv chigkeit annehmen. (ist) für die ‚Eigenart’“. In diesem Sinn kann die Schweiz durch- Mag es oft auch nur widerwillig ge- aus als ein europäisches Labor betrachtet schehen, so stellen sich die Schweizer werden, in dem eine gemeinsame Kultur doch vergleichsweise bereitwillig auf ein nicht an den Sprachgrenzen Halt macht. anderes Idiom ein. Die internen Sprach- Poetische Performances bringen die Li- barrieren sind zwar hoch, aber nicht unü- teratur lebhaft auf die Bühne, Literaturfe- berwindlich. Es besteht diesbezüglich ein stivals stiften direkte persönliche Begeg- minimaler Konsens, wie jüngst mehrere nungen. Vor allem aber bietet sich heute das kantonale Volksabstimmungen über den Internet als äußerst bewegliches, effizientes Sprachunterricht in der Schule gezeigt ha- und obendrein kostengünstiges Instrument ben. Selbst wo es kaum erwartet wurde, der Förderung von Literatur an. bekräftigte die Bevölkerung erneut, dass Während Musik keine Übersetzung be- die nationalen Sprachen den Vorzug ge- nötigt, sträubt sich bei der Literatur die genüber dem Englischen erhalten müssen. Sprache gegen die weltweite Verbreitung. Auch wenn so die Identität der mehrspra- Dies erklärt, weshalb es im weiten globalen Netz nur wenige Literaturwebseiten gibt, die mehr als zwei bis drei Sprachen um- Die Eidgenossenschaft zeichnet fassen. Dennoch verfügt das Internet über sich dadurch aus, dass die Mehr- immenses Potenzial, das es geradezu für sprachigkeit ein Kernelement der die literarische Förderung prädestinieren: Es ist weltweit abrufbar, es ist flexibel, es schweizerischen „Kulturnation“ verknüpft Inhalte direkt miteinander und darstellt. kann in Text, Ton oder Video genutzt wer-

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den. So lassen sich literarische Werke auf Neugier von neuen Nutzern geweckt wer- vielfältigste und doch eng verknüpfte Weise den soll, benötigt ein derartiger Service präsentieren. zusätzlich eine sinnlich-ästhetische, spie- Die Frage der Übersetzung bleibt jedoch lerische Ergänzung in Form von Bildern, virulent. Um ein Mindestmaß an Infor- Hörproben und Videos. mation zu gewährleisten, ist es sinnvoll, Nicht minder wichtig ist die flexible, sprachliche Inhalte zusammenzufassen und intelligente Verknüpfung von Inhalten, diese auch in andere Sprachen zu überset- damit nicht nur strukturierte Suchanfra- zen. Größere Texte dagegen bleiben in der gen erlaubt sind, sondern auch unverhoffte, Originalsprache, um eine „fremdsprach- glückliche Zufallsfunde erzeugt werden. liche“ Lektüre anzuregen. Serendipity-Effekte steigern den Spaß am Man könnte einwenden, dass eine Buch- Stöbern. Diesbezüglich gibt das Internet kritik unnütz sei, wenn das entsprechende mehr Anreiz als Bücher, die sich für ruhige Buch nicht bereits in einer Übersetzung Lektüren anbieten. vorliegt. Um diesen Einwand zu entkräf- ten, sollten zwei Zielgruppen voneinander Lesen tun alle unterschieden werden. Auf der einen Seite stehen die Verleger und die Förderer litera- L iteratur ist weder eine Angelegenheit rischer Veranstaltungen, denen qualitativ für Eliten noch ein Tummelfeld für Laien. hochstehende Informationen im Netz zur Lesen tun alle, deshalb sollen alle an ei- Verfügung gestellt werden. Gerade abseits ner literarischen Webseite aktiv mitwirken der internationalen „Bestseller“ kann ein können: sei es als Rezensenten oder als Dis- derartiger Service das bestehende infor- kutierende in einem Forum. Die Kernpro- melle Netz großzügig erweitern. blematik liegt darin, die Eintrittsschwelle Wie aber lässt sich auf der anderen Seite so zu legen, dass trotz Offenheit ein qualita- beim Lesepublikum Neugier auf Bücher tiver Mindeststandard gewährleistet bleibt. wecken, deren Sprache sie (noch) nicht le- Viele internationale Literaturwebseiten sen können? In diesem Fall kann eine gute, sind heute von Verlagen und Buchhändlern treffende Literaturkritik den Zugang öff- gesponsert, um zustimmendes Lob für ihre nen. Kein Geringerer als Jorge Luis Borges eigenen Produkte zu erzeugen. Eine Quali- schrieb in seinen „Geschichten“, dass er, tätsseite für Literatur muss demgegenüber anstatt ein Buch von 500 Seiten zu schrei- neutral sein und alle Literaturinteressierten ben, von dem er nicht wisse, ob es gut sei, ansprechen. Ja, und könnte es nicht auch lieber gleich die Kritik dazu verfasse. Auch sein, dass Jugendliche, die die traditionelle sei an Experimente erinnert wie jenes des „Ordnung des Lesens“ etwa von Büchern französischen Wochenmagazins „Courrier ablehnen, positiv auf ein alternatives An- international“, das Kritiken aus aller Welt gebot an literarischen Texten ansprechen? veröffentlicht, weniger um sie zur Lektüre Gedichte auf dem iphone ließen sich be- zu empfehlen, als um sprachregionale Cha- stens mit dem Habitus eines Jugendlichen rakteristika aufzuzeigen. von heute verbinden. Sicher ist: Bei der Vermittlung fremd- Die Zeiten wandeln sich, die Figuren sprachlicher Literatur kommt es auch auf des Lesers mit ihnen. Die Literatur sollte – Qualität und Auswahl an. Doch wenn die und will – da nicht zurückbleiben. Spoken

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Word Performances und Slam Poetry auf der einen Seite, und das Internet auf der anderen können die Sprachgeister aufwe- cken – über die Sprachgrenzen hinweg. Das allein schafft noch keine europäische Kul- tur, die auch als solche tiefer ins Bewusst- sein der Menschen dringt. Aber es kann dazu beitragen. Entscheidend dabei bleibt zweierlei. Zum einen müssen sich digitale www.readme.cc Medien und persönliche Begegnungen stets Readme.cc ist eine europäische Plattform für Li- teratur, die den Austausch über Bücher in vielen ergänzen, zum anderen sollte das Vergnü- Sprachen anregt. Das Besondere daran: die Teil- gen auch einen künstlerischen Anspruch nehmer fotografieren sich mit ihrem Lieblings- einlösen. Nur das eine mit dem anderen buch, kommentieren es und begründen damit eröffnet tatsächlich neue Perspektiven. ein persönliches Bücherregal. Derart ist readme. cc kein anonymes Internetforum, sondern ein Beat Mazenauer ist Chefredakteur von Read- inspirierender Raum für literarische Begeg- me.cc. nungen und Lektüreüberraschungen. Regel- Francesco Biamonte ist Chefredakteur von mäßig werden Buchtipps in die verschiedenen Culturactif.ch. Sprachen übersetzt. Dazu verfügt die Plattform über spezielle literarische Dokumentationen. 2005 gegründet, gibt es Readme.cc aktuell in zehn Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Dänisch, Slowenisch, Tschechisch, Ungarisch, Arabisch und Hebräisch). Die Seite wird vom Kulturprogramm der Europäischen Union unterstützt. Seine Redaktion ist bestens im europäischen Literaturbetrieb vernetzt.

www.culturactif.ch Culturactif.ch ist eine Webseite, die sich dem zeitgenössischen literarischen Schaffen in der Schweiz widmet. 1997 gegründet, wird sie seit 2002 vom Service de Presse Suisse unterhalten, einem Verein mit dem Ziel, den Austausch über die Sprachgrenzen hinweg zu fördern. Im Lauf der Jahre hat sie sich – mit rund 2500 html-Sei- ten – zu einer herausragenden Quelle für die ak- tuelle Schweizer Literatur entwickelt. Angeregt durch ein mehrsprachiges Radaktionskomitee (Französisch, Italienisch, Deutsch) erscheint die Seite hauptsächlich auf Französisch, regelmäßig werden aber italienische und deutsche Beiträge aufgeschaltet, um die gesamte Schweizer Lite- ratur abzudecken. Zahlreiche Seiten verfügen über eine Zusammenfassung in allen drei Spra- chen. Das Angebot von Culturactif.ch zeichnet sich durch monatlich erneuerte Rubriken aus: Kritiken, Informationen, bisher unveröffentlich- te Texte.

85 S prachliche Supermacht Englisch ist in Europa lingua franca. Britische Autoren haben einen Sprachbonus. Warum aber lesen die Briten so wenige andere euro- päische Autoren? Von Emma House

ins Englische – haben also einen globalen Leserkreis. Dies lässt sich zunächst an der Anzahl von Büchern ablesen, die allein aus Großbritannien in andere Länder Europas exportiert werden. Im Jahre 2008 wurden Bücher im Gegenwert von über 799 Milli- onen Pfund aus Großbritannien in die 26 anderen EU-Mitgliedstaaten ausgeführt. Laut Statistik ist die Republik Irland wichtigstes Exportland, dicht gefolgt von Deutschland, den Niederlanden, Frank- reich, Spanien und Italien. In vielen eu- ropäischen Ländern bieten Buchgeschäfte englische Titel an oder es existieren darauf nglisch ist weltweit die am zweit- spezialisierte Buchläden – in Großbritan- häufigsten gesprochene Sprache nien dagegen sind fremdsprachige Bücher und die Zweitsprache mit der größ- schwer zu bekommen. tenE Verbreitung. Im Jahre 1999 stellte der Die englische Sprache nimmt bei den britische Soziolinguist David Graddol fest, Übersetzungen der europäischen Verlags- dass die englische Sprachkompetenz auf häuser eine Monopolstellung ein. Der von dem europäischen Kontinent seit 1990 ra- Rüdiger Wischenbart veröffentlichte „Di- sant zugenommen hatte. Über 100 Millio- versity Report 2008” beschreibt „Englisch nen Menschen – also nahezu ein Drittel der als die deutlich vorherrschende Original- Bevölkerung der Europäischen Union – be- (bzw. Quellen-)sprache für Übersetzungen, herrschten Englisch als Zweitsprache. Diese deren Anteil innerhalb von 15 Jahren im Entwicklung hat auch damit zu tun, dass Durchschnitt von 40 auf über 60 Prozent andere Kunstformen und Medien auf Eng- gestiegen ist.” In Deutschland wurden im lisch verfügbar wurden: Radio, Fernsehen Jahre 2007 6160 Rechte und Lizenzen für und Film trugen zur globalen Verwendung fremdsprachige Bücher erworben. Die an- der Sprache bei. gloamerikanische Welt ist mit einem Anteil Alle literarischen Werke, die in englischer von 67 Prozent mit Abstand führend. Sprache veröffentlicht werden – sei es in der Neben Englisch zählt Französisch stets Originalsprache oder in einer Übersetzung zu den wichtigsten Sprachen, aus denen

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übersetzt wird – gefolgt von Italienisch, Verkaufszahlen erzielt. Henning Mankell Spanisch, Holländisch und Russisch in etwa erreicht mit jedem seiner Bücher Mil- wechselnder Rangfolge. Zwei skandina- lionenauflagen. Stieg Larsson hat weltweit vische Länder waren im Jahre 2007 unter knapp 13 Millionen Bücher verkauft. den zehn wichtigsten Ausgangssprachen – Norwegisch auf Platz acht und Dänisch auf Vorherrschaft des Englischen Platz zehn. Nach wie vor herrscht jedoch die stärkste Nachfrage nach englischen und A ufgrund der globalen Vorherrschaft amerikanischen Schriftstellern. der englischen Sprache gibt es eine riesige Es gibt nur wenige aussagekräftige Sta- Auswahl englischsprachiger Publikationen. tistiken über die Übersetzungen zwischen Man könnte sagen, dass bei der Bevölkerung anderen Sprachen Europas. Es ist jedoch be- der USA und Großbritanniens ein gewisser kannt, dass der sprachliche Austausch sehr linguistischer Chauvinismus existiert. Rund viel geringer ist, als dies vielleicht der Fall die Hälfte aller übersetzten Titel europä- sein sollte. Die Gründe dafür variieren. Eine ischer Verlagshäuser ist im Original eng- Ursache ist sicherlich der Mangel an Über- lischsprachig. In einigen Fällen sind bis zu setzern. Ein Beispiel: In der Slowakei wurden 50 Prozent der publizierten Bücher eines während der Siebziger- und Achtzigerjahre Verlagshauses Übersetzungen. Zugleich ent- des 20. Jahrhunderts von einer produktiven spricht die häufig zitierte Statistik, dass nur Übersetzerin Dutzende Übertragungen aus drei Prozent aller neuen in Großbritannien der türkischen Sprache produziert. Nachdem veröffentlichten Titel Übersetzungen sind, sie sich zur Ruhe gesetzt hatte, gab es jedoch recht genau der derzeitigen Realität. Warum keine Nachfolger und die neuesten Romane wollen Europäer unsere Bücher lesen, wir Orhan Pamuks wurden vom Englischen ins ihre jedoch nicht? Slowakische übertragen. Für ein britisches Verlagshaus bedeutet Die Lage kann sich geringfügig ändern, die Veröffentlichung der Übersetzung eines wenn leidenschaftlich engagierte Literatur- Titels Übersetzungskosten. Generell wird agenten und -agentinnen wie Nermin Mol- mit spezialisierten Lektoren gearbeitet und loaglu auf der Bildfläche erscheinen, die 58 die Veröffentlichung gilt als viel risikoreicher türkische Schriftsteller vertritt und sehr er- als eine Buchpublikation im englischen Ori- folgreich Übersetzungsrechte für die Titel ginal. Dieses Risiko ist anders als bei den ihrer Autoren verkauft. großen Verlagshäusern in anderen europä- Aber es ist nicht ungewöhnlich, dass ein ischen Ländern nicht in das Geschäftsmo- Buch aus einer anderen (insbesondere ei- dell britischer Verleger integriert. Die Folge: ner kleinen) europäischen Sprache nur ins Übersetzte Literatur bildet in Großbritan- Englische übersetzt wird, damit es über die nien nach wie vor eine kleine Minderheit. lingua franca den Weg in andere europä- Häufig nehmen kleinere, spezialisierte ische Sprachen findet, und nicht etwa, weil Verlagshäuser dieses Risiko auf sich, die man sich einen kommerziellen Erfolg der nicht über die Werberessourcen der großen englischen Ausgabe verspricht. Verlagshäuser verfügen. Aufgrund der der- Dennoch ist in den vergangenen 30 Jah- zeitigen wirtschaftlichen Situation – insbe- ren Unterhaltungsliteratur vermehrt inner- sondere im Buchhandel in Großbritannien europäisch übersetzt worden und hat hohe – sind aber die kleineren Verlagshäuser ge-

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zwungen, ihre Risiken zu minimieren. Den- zeichnungen für übersetzte Literatur, un- noch hat sich Großbritannien in den letz- ter anderem den äußerst prestigeträchtigen ten 25 Jahren hinsichtlich der Publikation Independent Foreign Fiction Prize, der den übersetzter Titel sehr stark weiterentwickelt. Preisträgern und allen, die in die engere Europäische Länder investieren viel Ener­ Wahl kommen, einen enormen Anstieg der gie und finanzielle Mittel in die Werbung Verkaufszahlen beschert. für ihre einheimischen Talente, die Über- Der englische PEN-Club fördert eben- setzung wird subventioniert. NORLA (Nor- falls übersetzte Literatur und Literaturfesti- wegen) und die Stiftung für die Produktion vals werden dank des Engagements und der und Übersetzung niederländischer Literatur Einflussnahme auf die Organisatoren der sind nur zwei Beispiele hierfür. Dies ist si- Festivals durch Leute wie Rebecca Morrison cherlich ein wichtiger Faktor für britische vom Goethe Institut und Svetlana Adjoubei Verleger, wenn sie das Risiko eingehen, eine von der Academia Rossica – einer Stiftung Übersetzung zu publizieren. zur Förderung russischsprachiger Literatur Für den Marktzugang spielt Werbung eine in Großbritannien – immer mehr zur Bühne wichtige Rolle. Große Ketten sind kaum be- für Schriftsteller anderer Länder. Verleger reit, sich bei der Werbung für übersetzte Ti- setzen sich ebenfalls für die Vermarktung tel zu engagieren, weil es sich wirtschaftlich jener Bücher ein, bei denen sie das Risiko nicht lohnt. Trends haben starken Einfluss einer Übersetzung auf sich genommen ha- darauf, welche übersetzten Titel erfolgreich ben. Bloomsbury wird in Kürze die Online- sind, etwa die Wiederentdeckung Osteuropas Bibliothek des Verlages um ein Bücherregal Ende des vergangenen Jahrtausends. mit vielen Übersetzungen unter dem Titel Spezialisierte Newsletter, beispielsweise “International Fiction“ ergänzen. New Books in German, eine Publikation, Vielleicht werden das leidenschaftliche die dem britischen Markt deutschsprachige Engagement Einzelner und verschiedener Literatur aus Deutschland, Österreich und Organisationen sowie die steigende Zahl der Schweiz vorstellt und zweimal jährlich europäischer Romanschriftsteller wie Stieg erscheint, haben ebenfalls eine Auswirkung Larsson oder Carlos Ruiz Zafón, die sich für auf Übersetzungen. Laut dem Börsenver- einen breiten Leserkreis erfolgreich vermark- ein des Deutschen Buchhandels ist die Zahl ten lassen, sowie ein erweiterter Marktzugang der Rechte, die für englische Übersetzungen durch elektronische Medien dazu führen, nach Großbritannien verkauft wurden, von dass mehr Titel europäischer Autoren den 103 im Jahr 2000 auf 160 im Jahr 2008 an- britischen Markt erreichen. Ohne kontinu- gestiegen, wenngleich hierunter nicht nur ierliche und erhöhte finanzielle Mittel, eine literarische Titel fallen. stärkere Unterstützung durch die Buchhänd- Es gibt in Großbritannien zwar keine ler und eine größere Präsenz in der britischen speziellen Organisationen wie NORLA, Öffentlichkeit haben wir jedoch einen langen die sich ausschließlich für die Übersetzung und beschwerlichen Weg vor uns. britischer Literatur in andere Sprachen Aus dem Englischen von Angelika Welt einsetzen. Der Arts Council England un- terstützt jedoch britische Verleger bei der Übersetzung fremdsprachiger Literatur ins Emma House ist Internationale Direktorin des bri- Englische. Es gibt eine Vielzahl von Aus- tischen Verlegerverbandes.

88 alen Geschichte. Diese Beispiele zeugen davon, derbuchautor und ehemaligen Children’s Lau- Vom Lesen auf welch internationaler Grundlage so viele reate Michael Rosen zu erleben, die ihnen die zur Kommunikation große Kunstwerke entstanden sind. Kraft wunderbarer Erzählungen vermittelten Wir legen bei der Arbeit des British Council und ihnen das große Potenzial erschlossen, das Die Rolle des British Council bei der För- großen Wert darauf, dass wir über unsere in kreativen Texten schlummert. derung kultureller Beziehungen in Euro- eigene Reichweite hinauswachsen: Die Aus- In Ergänzung zu diesen Hauptsträngen unserer pa durch die Literatur. wirkungen der Arbeit im Bereich kulturelle programmatischen Arbeit engagieren wir uns Beziehungen ist von ihrer Natur her nicht klar bei vielen weiteren Projekten in ganz Europa. Zielsetzung des British Council ist es, durch umrissen und unsere Ziele sind langfristig und Mit der wachsenden Beliebtheit von Litera- den Austausch von Wissen und Ideen zwi- weiträumig angelegt. In unserer Literaturarbeit turfestivals arbeiten wir daran, die reichhaltigen schen Menschen weltweit Engagement und sind wir vor allem an dem reichen Wechsel- Möglichkeiten dieser vielfältigen Plattformen Vertrauen für Großbritannien aufzubauen. Wir spiel interessiert, das sich aus der kreativen, des literarischen Diskurses zu nutzen. Ein verfolgen diesen Auftrag mit großer Leiden- persönlichen und kulturellen Interaktion von Beispiel sind die vier schottischen Schriftstel- schaft und sehen ihn als ein Gegengewicht Schriftstellern mit Lesern und Schriftstellern in ler, die 2009 am ukrainischen Literaturfestival zu den vielen globalen Herausforderungen anderen Ländern ergibt. Als ein angenehmes Lviv im Rahmen einer Partnerschaft des British unserer Zeit. Literatur und Schriftsteller können Nebenprodukt streben wir an, die Früchte Council mit dem Edinburgh Book Festival einen bedeutenden Beitrag zu unserer Arbeit dieser Arbeit – neue Werke und hinzugewon- teilnahmen. Oder unsere Zusammenarbeit mit leisten und der British Council blickt auf eine nene Kreativität, die sich aus den Beziehungen dem Hay Festival, das ausgehend von seinen lange und glanzvolle Geschichte zurück, in der zwischen Autoren und Übersetzern, Verlegern Wurzeln in Wales ein stetig wachsendes inter- diese einflussreichen Kräfte unsere Aufgabe, und Intellektuellen, Lesern und Unternehmern nationales Publikum anspricht und über seine kulturelle Beziehungen zu fördern, unterstützt im Kreativbereich ergibt – sinnvoll zu nutzen. ursprüngliche Reichweite hinaus mit Festivals haben. In Europa verfügt der British Council über eine im spanischen Segovia und Granada ein euro- Die Literatur ist in ihrer Dichte die wirkungs- weit reichende und äußerst vielseitige Erfah- päisches Publikum erreicht. vollste aller Kunstformen, wenn es darum geht, rung darin, Leser aus allen Teilen des Konti- Neben diesen etablierten Formen des Dis- Bedeutungsinhalte zu vermitteln und alterna- nents mit den besten britischen Schriftstellern kurses und des Austauschs wurden innovative tive Realitäten darzustellen. Der Akt des Lesens zusammenbringen. Eine der langjährigen und Projekte wie „Words Converge” ins Leben geru- oder Hörens literarischer Werke aus anderen erfolgreichen Konstanten unseres Literatur- fen. Hier wird Lyrik mit innovativer Technologie Kulturkreisen bedeutet jedoch noch nicht nur programms ist das alljährlich stattfindende zu Kunst im öffentlichen Raum verknüpft. Das die Kommunikation von Ideen – es ist vielmehr Walberberg Seminar on Contemporary Lite- Projekt entwickelt Formen der Präsentation eine Form des internationalen Austauschs von rature, bei dem rund 45 Teilnehmer aus ganz und Manipulation von Lyrik durch Nutzung größter Klarheit und Schlichtheit. Große Schrift- Europa zugegen sind – eine von großer Vielfalt verschiedener Plattformen - beispielsweise steller haben stets von Aufenthalten in ande- geprägte Gruppe aus Literaturwissenschaft- Videoschirme, Gebäude und Mobiltelefone. ren Ländern und der Interaktion mit anderen lern und -kritikern, Professoren der englischen Führende junge Dichter und visuelle Künstler Kulturen profitiert. Betrachtet man Schriftsteller Sprache (viele aus der Nachwuchsgeneration), aus Rumänien, Israel, Griechenland, Georgien der Britischen Inseln, so ist es kein Geheimnis, Verlegern, Journalisten und Übersetzern. Das und Großbritannien werden diese Plattformen dass ein bedeutender Anteil der Inhalte Shake- Seminar wurde 1986 durch den zukunftswei- nutzen, um textbasierte Installationen zu speares thematisch in hohem Maße an die eu- senden verstorbenen britischen Schriftsteller schaffen. ropäischen Originale angelehnt ist. Die Macht Malcolm Bradbury ins Leben gerufen. Im Laufe Durch unsere Arbeit mit der internationalen des kollektiven Schaffens der englischen der Jahre hat das Seminar einem wichtigen Verlagswelt erhöhen wir die Chancen für kultu- Dichter der Romantik kann man nicht losge- europäischen Publikum eine große Anzahl relle Beziehungen, die der Wirtschaftskontext löst von deren Erfahrungen im Europa des 18. zeitgenössischer britischer Autoren vorgestellt. in sich birgt. Die Programme etwa, die wir zu Jahrhunderts betrachten. Die Ereignisse der Den Vorsitz von Walberberg hatten unter Ehren des jeweiligen Market Focus Country Französischen Revolution beeinflussten das anderem A . S. Byatt, Andrew Motion, Paul der Londoner Buchmesse (jeweils im April) Denken von Wordsworth und Shelley, und By- Muldoon und Marina Warner. Das Walberberg kuratieren, unterstützen den Aufbau dauer- ron und Keats fanden die kulturelle Kulisse für Seminar des Jahres 2009 fand in der Akade- hafter und fruchtbarer Beziehungen zwischen ihre sinnlichen Betrachtungen in der Schweiz, mie Schmöckwitz in Berlin unter dem Thema verschiedenen Nationen durch das Medium Portugal, Italien und Griechenland. „Changing Literary Climates“ statt. Das Seminar mit der nachhaltigsten Macht – das geschrie- Die Begeisterung der vorangegangenen Ge- wurde von Patricia Duncker geleitet und die bene Wort. neration für die „Grand Tour“ reichert noch im teilnehmenden Autoren waren David Edgar, Aus dem Englischen von Angelika Welt 20. Jahrhundert den literarischen Nährboden James Meek, Michael Symmons Roberts, Ra- im Paris der zwanziger Jahre an. Die Stadt chel Seiffert und Simonetta Wenkert. wird zum kulturellen Mittelpunkt englisch- Für eine junge Zielgruppe hat der British Coun- sprachiger und insbesondere amerikanischer cil in den letzten Jahren mit Lehrkräften der Schriftsteller. Auch in den dreißiger Jahren Organisation an der Entwicklung von „Britlit” spürt man diese Begeisterung in der britischen gearbeitet. Dieses Projekt nutzt den kulturellen Literatur, man muss sich nur das intellektuelle Rahmen zeitgenössischer britischer Literatur Engagement George Orwells, Stephen Spen- für das Unterrichten der englischen Sprache. ders und vieler anderer für den Spanischen Ein wichtiges Element dieses ausgesprochen Bürgerkrieg ansehen. In der zweiten Hälfte des erfolgreichen pädagogischen Ansatzes sind 20. Jahrhunderts prägten Schriftsteller wie Do- Unterrichtsbesuche britischer Autoren in Schu- Tanya Andrews ist amtierende Direktorin für ris Lessing, Salman Rushdie und Hanif Kureishi, len ganz Europas. Schulkinder in Portugal und Literatur beim British Council. um nur drei zu nennen, die britische Literatur- Italien hatten die Gelegenheit, Romesh Gune- Patrick H​art ist Stellvertretender Direktor des szene mit einer unauslöschlichen postkoloni- sekera und den einzigartigen britischen Kin- British Council Deutschland.

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91 Kleine und große Übersetzernationen Die katalanische Sprache kann auf eine mehr als tausendjährige Ge- schichte zurückblicken. Katalonien – und Barcelona als dessen Hauptstadt – ist heute das wichtigste Ver- lagszentrum der spanischsprachigen Welt. Der Über- setzungsanteil ins Katalanische, das immerhin von 8 Millionen Menschen in vier Staaten gesprochen wird, ist hoch. Von Josep Bargalló

Katalanischen in Europa. Die Verbreitung des Katalanischen durch die Wogen der europäischen Geschichte, insbesondere im Mittelmeerraum, hat dazu geführt, dass sie heute von rund 8 Millionen Menschen ge- sprochen wird. Damit überflügelt das Ka- talanische zahlenmäßig den Durchschnitt der offiziellen Sprachen der Europäischen Union. Seit vier Jahren ist das Katalanische auch als Arbeitssprache und Sprache für Eingaben in einigen Bereichen der europä- ischen Institutionen anerkannt. Und das, obwohl es keine offizielle Sprache eines Mitgliedstaates ist. wischen dem 13. und dem 14. Jahr- Im Jahr 2004 war die katalanische Lite- hundert erlebte die Vielfalt der ro- ratur die Gastliteratur der Buchmesse von manischen mittelalterlichen Kultur Guadalajara (Mexiko), der bedeutendsten mitZ dem Philosophen Ramon Llull einen Messe Lateinamerikas. Im Jahre 2007 war Durchbruch. Mit seinem auf Katalanisch die katalanische Kultur das Schwerpunkt- verfassten Werk bereitete er, noch parallel thema der Frankfurter Buchmesse. In die- zum Lateinischen, den Weg zur Nutzung sem Jahr wurde das World Voices Festival der neuen Sprachen: zur Verbreitung von in New York von dem katalanischen Dich- Gedankengut, für die Theologie und für ter Narcís Comadira eröffnet, für das kom- wissenschaftliche Veröffentlichungen. mende Jahr ist die katalanische Poesie Gast Zeitgleich mit anderen romanischen Li- beim Marché de la Poésie in Paris. teraturen setzte in Katalonien in diesen Jah- Unbestritten sind seit Ramon Llull aus ren eine literarische Produktion ein. Poeten der katalanischen Literatur universelle wie Ausiàs March und Prosaautoren wie Autoren und Werke hervorgegangen. An Joanot Martorell, dessen Buch „Tirant lo dieser Stelle soll nur beispielhaft auf den Blanc“ das einzige war, das Don Quijote namhaften amerikanischen Literaturkriti- vor den Flammen rettete, prägten die lite- ker Harold Bloom verwiesen werden, der rarische Kultur der katalanischen Sprache auch über Llull geschrieben hat und der – und sorgten für eine Sonderstellung des in seinem „The Western Canon“ (1994)

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sechs katalanische Schriftsteller des 20. tion, sondern um verschiedenste Genres. Jahrhunderts aufnahm: Carles Riba, J. V. Ein Blick auf die Subventionen für Überset- Foix, Mercè Rodoreda, Salvador Espriu, zungen von Prosa für Erwachsene, Theater Joan Perucho und Pere Gimferrer. und Poesie, die von einer der in diesem Be- Nicht zu vergessen sind die Verkaufs- reich zuständigen Institutionen der katala- schlager der deutschen Übersetzung der nischen Regierung erteilt werden, zeigt die Romane von Jaume Cabré – „Les veus del Bandbreite der Herkunftssprachen. Auch Pamano“ [„Die Stimmen des Flusses“] – wenn die führende Stellung des Englischen und von Maria Barbal – „Pedra de Tartera“ offensichtlich ist: Übersetzt wurde (neben [„Wie ein Stein im Geröll“] – rund um die weiteren Sprachen) aus dem Ungarischen, Frankfurter Buchmesse 2007 oder die be- Portugiesischen, Japanischen, Arabischen trächtliche Anzahl an Sprachen, in die an- und Hebräischen. Bemerkenswert ist, dass dere zeitgenössische katalanische Erzähler die meisten katalanischen Verlage einen übersetzt wurden, wie der erst vor kurzem Grossteil ihrer Übersetzungen ohne jede verstorbene Baltasar Porcel, Quim Monzó öffentliche Hilfe realisieren. oder Albert Sánchez Piñol. Für Katalonien ist es zum einen wich- Katalonien – und Barcelona als dessen tig, den Weltkulturen gegenüber offen zu Hauptstadt – ist das wichtigste Verlagszen- sein, sie aufzunehmen und dies in der ei- trum der spanischsprachigen Welt. Die kata- genen Sprache zu tun; noch wichtiger ist es lanischen Verlage verkaufen nicht nur nach jedoch, sich selbst nach außen hin zu ver- ganz Spanien, sondern exportieren ebenso mitteln. Aus diesem Grund wird eine Kul- in alle lateinamerikanischen Länder, in de- turpolitik betrieben, die die Übersetzungen nen sie zudem Filialen unterhalten oder an der auf katalanisch verfassten Werke unter- lokalen Unternehmen beteiligt sind. stützt. Obwohl verschiedene Institutionen Allein in Katalonien wurden 2006 30 auf diesem Gebiet arbeiten, wird der Groß- 709 Bücher herausgegeben, von denen 10 teil dieser Aufgabe vom Institut Ramon 861 auf Katalanisch. Diese Zahl sticht vor Llull übernommen. Es handelt sich hierbei allem deshalb ins Auge, weil der Markt für um eine gemeinsame Organisation der ka- katalanische Bücher viel begrenzter ist als talanischen Regierung und der Regierung der für Spanische. der Balearen, deren Ziel die Förderung der katalanischen Sprache und Kultur im Aus- Gesamtanzahl der auf Katalanisch land ist. Das Institut Ramon Llull fördert veröffentlichten Übersetzungen ausschließlich Übersetzungen vom Kata- 2002 2003 2004 lanischen in andere Sprachen. Diese Un- terstützung kommt direkt den jeweiligen Spanisch 628 756 854 Englisch 493 492 456 Verlagen des entsprechenden Landes zu. Französisch 201 197 164 Die Übersetzungen haben in den ver- Deutsch 99 95 95 gangenen Jahren zugenommen. Die Grün- Sonstige 158 67 137 de hierfür sind unterschiedlich, jedoch Gesamt 1.579 1.607 1.706 zeigte die Frankfurter Buchmesse mit ih- rem katalanischen Schwerpunkt 2007 ihre Beim Grossteil dieser Bücher handelt es Wirkung. Mit ihr stieg die Zahl der Über- sich natürlich nicht um literarische Produk- setzungen deutlich, vor allem ins Deutsche.

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Übersetzungen in die englische Sprache es sich doch um die ganze Wahrheit. Die sind dagegen vergleichsweise selten. einzige Sprache, die alle Europäer verste- hen und auch alle Weltbewohner, ist ihre Zahl der geförderten Übersetzungen eigene Sprache. Sogar wenn man das Eng- vom Katalanischen in andere Sprachen lische nimmt, wird deutlich, dass die mei- 2008 sten Erdenbewohner diese Sprache nicht Französisch 16 verstehen, ganz zu schweigen über eine Spanisch 14 ausreichende Kenntnis zur Rezeption von Italienisch 13 Literatur verfügen. Portugiesisch 10 Somit ist es für einen Schriftsteller nicht Deutsch 7 Englisch 4 wirklich wichtig, wie viele Personen die Griechisch 3 Sprache sprechen, in der er sein Werk ver- Ungarisch 3 fasst. Wichtig ist die Qualität seines Schrei- Niederländisch 3 bens und dessen Rezeption mittels Über- Polnisch 2 setzung in die Sprache der Leser. Rumänisch 2 Chinesisch 2 Verschließt sich eine Kultur der Rezepti- Kroatisch 1 on anderer Literaturen, wird sie niemals die Russisch 1 Welt in ihrer Gesamtheit verstehen. Aber Serbisch 1 auch eine Kultur, die keine Instrumente Gesamt 82 besitzt, um andere Kulturen zu erreichen, ist nicht komplett, denn die eigene Exi- stenz ist erst dann vollständig, wenn sie von Von der Brücke zum Deich den anderen anerkannt wird. Dies sollte in Europa noch mehr berücksichtigt werden. Diese Tatsache trifft indes für jede ande- re Sprache zu. Eine Untersuchung über die Josep Bargalló ist Leiter des Institut Ramon internationale Situation der literarischen Llull in Barcelona. Übersetzungen, die 2007 vom Institut Ra- mon Llull in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen PEN-Club veröffentlicht wurde – „Ser traduït o no ser“ [„Übersetzt sein oder nicht sein“] – macht eines der großen Probleme der kulturellen Globa- lisierung deutlich: Die vorherrschende Sprache widersteht der Rezeption anderer Sprachen und wird so von der Brücke zum Deich. Auf die Frage, welche die globale Spra- che Europas sei, antwortete Umberto Eco einmal, die europäische Sprache an sich sei die Übersetzung. Auch wenn dies iro- nisch klingt oder wie eine Ausflucht, um einer heiklen Frage zu entgehen, handelt

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95 Verspäteter geistiger Systemwechsel Fehlende Lesekom- petenz bei Schülern und die Schliessung öffentlicher Bibliotheken. Wie steht es um die Lesekultur in Euro­ pa? Ein Blick nach Ungarn, einem Land, dessen Ver- lage und Buchhandel zu den ältesten des europäischen Literaturbetriebs zählen. Von László L. Simon

bot des liberalisierten Medienmarktes tun ein Übriges, dass es das traditionelle Buch immer schwerer hat. Die vergleichenden europäischen Un- tersuchungen zeigen, dass sich Ungarn in puncto Lesekonsum im Mittelfeld bewegt. Lediglich beim Besuch von Bibliotheken liegt Ungarn unter dem europäischen Durchschnitt. Anders wiederum sieht es beim Besitz von Büchern aus: Ungarn ha- ben überdurchschnittlich viele Bücher in ihren eigenen vier Wänden angesammelt. Die finanziellen Einschnitte der Regie- rung unter Ferenc Gyurcsány, der knapp eute lesen rund 40 Prozent der fünf Jahre bis April 2009 als Ministerprä- Ungarn mindestens ein Buch sident an der Macht war, bei Institutionen pro Jahr. Die Tendenz ist ein- der öffentlichen Bildung wie Bibliotheken, deutigH fallend. Während des kommuni- Museen und Kulturzentren fielen beson- stischen Regimes und unmittelbar nach ders stark aus. Die Folge: Bibliotheken dem Mauerfall hatten 60 bis 65 Prozent der müssen Mitarbeiter entlassen, Neuanschaf- Ungarn regelmäßig zum Buch gegriffen. fungen stornieren und Öffnungszeiten ein- Zum Jahrtausendwechsel waren es noch schränken. Im Sommer 2009 wurden in etwa 50 Prozent. den großen öffentlichen Einrichtungen im- Rückläufige Leseanteile sind keine un- mer öfter Zwangsurlaube verordnet, unter garische Besonderheit. Weltweit verliert anderem auch in der ungarischen Natio- das gedruckte Wort an Bedeutung, immer nalbibliothek. Weitere öffentliche Biblio- mehr bestimmen die elektronischen Medi- theken werden folgen. en den Alltag der Menschen. Sich verän- Im Land sieht sich der Kultursektor dernde Wertesysteme und ein Überange- mit immer gravierenderen Problemen

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konfrontiert. Diese verlangen nach nati- Ungarn immer weniger gelesen wird. Die onalen Lösungen, vor allem weil der Staat Konsequenzen der zurückgehenden Le- sie hauptsächlich selbst verursacht hat: Die sekultur zeigen sich am sichtbarsten in vergangenen Regierungskoalitionen haben den PISA-Studien der vergangenen Jah- die Aufrechterhaltung und Pflege der na- re: bei Lesefähigkeiten und Textverständ- tionalen Kultur allein in die Hände der nis schneiden fünfzehnjährige ungarische ungarischen Gesellschaft übertragen. Der Schüler nicht besonders gut ab, sie befinden Staat zog sich mehr und mehr zurück. sich im unteren Drittel der untersuchten Daran ist nicht nur die Wirtschafts- Länder. Hinzu kommt: Literatur selbst ist krise schuld. Auch Inkompetenz verant- immer mehr dem Zeitgeist unterworfen. wortlicher Politiker und deren Ignoranz Sie bietet keine Welterklärungen und ist gegenüber der Kultur spielen eine Rolle. immer seltener ein wichtiges Instrument Gleichzeitig wird die Kluft zwischen Ver- der moralischen und geistigen Bildung. mögenden und Armen im Lande zusehends Das Buch gehört auch nicht mehr zu den größer, sodass immer weniger Menschen in primären Informationsquellen. Eine Kon- der Lage sind, sich Zugang zu Kultur zu sequenz: Zwei Jahrzehnte nach Fall des Ei- verschaffen. Staatliche Mittel werden durch sernen Vorhangs fehlen in Ungarn noch diverse Verwaltungs- und Stiftungskanä- immer solche großen literarischen Werke, le oft ungerecht verteilt. Ein Großteil des die die Folgen des Kommunismus aufarbei- Geldes fließt in die Hauptstadt Budapest ten oder eben helfen, die postsozialistische und die großen Städte, sodass die Landbe- und wild kapitalistische Welt zu verstehen. völkerung stark benachteiligt wird. Während sich der Staat zurückzieht, Rückzug des Staates kümmert sich keiner um Alternativen. Kultursponsoring und die nötigen staat- Dass dies nicht so sein muss zeigen an- lichen Rahmenbedingen sind in Ungarn dere mittel- und osteuropäische postkom- noch nicht weit entwickelt. Kulturinstitu- munistische Länder. Dort sind genau solche tionen trocknen also weiter aus, das kultu- großen Meisterwerke der Literatur geschaf- relle Leben verliert an Niveau, immer weni- fen worden, die zum Verständnis der jün- ger Menschen interessieren sich für Kultur. geren Vergangenheit und zu einem neuen Dies ist auch einer der Gründe, warum in nationalem Selbstbild beitragen. Dies heißt nicht, dass die ungarische zeitgenössische Belletristik nicht reich an Zwei Jahrzehnte nach Fall des guten Werken ist. Die Autoren entspre- Eisernen Vorhangs fehlen noch chen meist der Erwartung, ein Buch müs- se amüsant sein. Deswegen dürfen wir uns immer solche großen literarischen auch nicht wundern, dass Imre Kertész erst Werke, die die Folgen des Kom- nach der Nobelpreisverleihung in die Li- munismus aufarbeiten oder eben ste der fünf meistverkauften Schriftsteller helfen, die postsozialistische und wild kapitalistische Welt zu ver- stehen.

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aufsteigen konnte, und auch dann nicht ungarischen Autoren überproportional. mit seinem preisgekrönten Werk, „Roman Gleiches gilt für die klassische Belletristik. eines Schicksallosen“. 2003 wurden von Zeitgenössische Werke machen nun mehr seinem Buch „Liquidation“ 30 000 Ex- als drei Viertel der aktuell veröffentlichten emplare verkauft, während der erste und Literatur aus. zweite Platz der Bestsellerliste von dem un- Anspruchsvolle Literatur wird von neu- ter englischem Pseudonym publizierenden en Bestsellern und Non-Fiction-Büchern László Lőrincz L. eingenommen wurde: verdrängt. Nach dem Systemwechsel 1989 Mit „Siva tanzt wieder“ (140 000 Exem- nahm das Interesse an den Schriftstellern plare) und mit „Die Werwölfe im Schloss“ aus Übersee, etwa an den Bestseller- und (70 000 Exemplare). 2004 kam der gleiche Thrillerautoren Danielle Steel, Robin Cook Autor mit neuen Büchern wieder auf die und Steven King, sprunghaft zu. ersten beiden Plätze, während Kertész es Die wertvolle zeitgenössische Literatur nicht einmal unter die ersten fünf schaff- wurde früher hauptsächlich von Menschen te. Dies wiederum gelang Miklós Vámos mit höherer Schulbildung gelesen, jedoch als einzigem anspruchsvollen ungarischen stieg die Anzahl der intellektuellen Leser Schriftsteller. nicht, obwohl sich in den letzten zwanzig Die Fakten zeigen, dass die im Westen Jahren viel mehr Jugendliche an Universi- berühmt gewordenen ungarischen Schrift- täten einschrieben. steller zu Hause nicht zu den meist gele- Wie in vielen anderen Ländern waren in senen gehören. Offensichtlich ist zudem, den letzten Jahren bei Jugendlichen Dan dass es außergewöhnlich gute und in Un- Browns „The Da Vinci Code“ und J. K. garn viel gelesene Schriftsteller gibt, die Rowlings „Harry Potter“-Bände große Er- jedoch kaum oder nur sehr mühsam ins folge, sie hatten Verkaufszahlen von über Ausland kommen. Ein Grund hierfür ist 200 000 Exemplaren jährlich. nicht nur das fehlende Interesse auslän- Während ungarische Verlage und der discher Agenturen, sondern das mangeln- Buchhandel zu den ältesten des europä- de Engagement der ungarischen Kulturin- ischen Literaturbetriebs gehören, beherr- stitutionen. Neue Bücher sind allein den schen heute multinationale Firmen den Marktmechanismen und dem Wohlwollen Markt. Nur drei Konzerne besitzen nicht der Medien ausgeliefert. nur Einzelhandelsketten, große Buchkauf- Die Werke ausländischer Schriftsteller häuser und riesige Lagerhallen, sie kauf- nehmen einen immer größeren Anteil in ten zudem die alten, schon zu Zeiten des den Regalen der Buchhandlungen ein. Im Sozialismus berühmten Verlagshäuser auf. vergangenem Jahr stammte mehr als die Damit brachten sie die kleinen, unabhän- Hälfte der Titel aus dem Ausland, ihr An- gigen Verlage, die nicht über eigene Ver- teil bei den verkauften Exemplaren betrug 75 Prozent. Während der Buchabsatz ins- gesamt rückläufig ist, schwindet der von Die Marktstruktur ist heutzutage so deformiert, dass die kulturelle Öffentlichkeit in Ungarn gefähr- det ist.

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triebswege verfügen, in Bedrängnis. Diese Gruppen. Postkommunistische Kreise in- müssen heute nicht nur mit Kapitalmangel strumentalisieren dieses Phänomen für ihre kämpfen, sondern auch große Risiken auf Interessen in enger Zusammenarbeit mit dem Markt eingehen. Journalisten und Intellektuellen. Die Konzerne kontrollieren, welche Bü- Daher kann in Ungarn zwanzig Jahre cher sie an die kleinen Buchhändler weiter- nach dem Sturz der Diktatur noch immer schicken. Die Kleinhändler sind also den nicht von einer stabilen Werteordnung der Großhändlern ausgeliefert. Da die multina- Gesellschaft gesprochen werden, in der sich tionalen Firmen nur auf höchstmöglichen Institutionen selbst regulieren und kontrol- Profit spekulieren, geben sie gut gehende lieren oder zivilgesellschaftlich erschaffen Bücher nicht an die kleinen Läden weiter, werden. sondern verkaufen sie selber. Auch bei der Literatur spricht der Die Bücher, die sie als nicht so profita- Schriftsteller János Sebeők von einem ver- bel einschätzen, reichen sie an die Klein- späteten geistigen Systemwechsel. Seiner händler weiter. Die­se Bücher sind meist die Meinung nach „ist die Literatur psycho- anspruchsvollen Werke, die die Buchhand- logisch heutzutage noch immer eine poli- lungen nicht gut unters Volk bringen, da tische Erscheinung, während die Malerei das Marketing fehlt. So bleiben die kleinen eine künstlerische ist. Die Literatur ist bis Läden auf ihren Büchern sitzen. heute noch immer der Simulations-Schau- Die Marktstruktur ist heutzutage so de- platz der politischen Konflikte.“ formiert, dass die kulturelle Öffentlichkeit Aus dem Ungarischen in Ungarn gefährdet ist. Wichtige Bücher von Orsolya Kurucz kommen nicht in den Handel und das Ziel- publikum erfährt nichts von ihrer Existenz. Die Regierung lässt den Kultursektor durch Unterfinanzierung immer weiter austrocknen. Gegenreaktion der Kunst und von Teilen der Medien ist eine Art Elitefeindlichkeit. Das ist keine neomarxi- stische Tendenz, es ist eher Enttäuschung über die neue politische Elite, die sich nach dem Fall der Diktatur nur teilweise erneu- erte. Während das Ansehen der Politik im- László L. Simon, Jahrgang 1972, publiziert mer weiter sinkt und damit die Akzeptanz regelmäßig Essays, Studien und belletristische der aktuellen politischen Klasse beim Volk, Schriften. Er ist Redakteur der gesellschaftswis- ist es verständlich, dass die politische Elite senschaftlichen Zeitschrift „Kortárs“ und Kurator in der Ungarischen Mühely Galerie. Zwischen mit Legitimitätsproblemen zu kämpfen hat. 1998 und 2004 war er Vorsitzender der Organi- Die immer stärker werdenden elitefeind- sation der Jungen Schriftsteller, seit 2004 ist er lichen Stimmen fördern politisch radikale Sekretär der Ungarischen Schriftstellerunion.

99 Der lange Schatten des Sokrates Auf den Spuren von Cervantes und Rabelais geht es für heutige Autoren darum, die Wurzeln des Romans in Europa wieder- zuentdecken. Den Geist des Humors und der Ironie, um mannigfache Wahrheiten auszusprechen. Nur so wird es gelingen, dass der Kontinent seine kulturelle Zeu- gungsfähigkeit wiedererlangt. Von Stefano Zangrando

tungen gediehen sind, etwa der sogenann- te griechische oder byzantinische Roman – auch wenn diese erzählende Dichtung aus dem ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus nicht diesen Namen trug – sowie verschiedene Epen und mittelalterliche Rit- terromane. Letztere wurden dann als „Ro- mane“ bezeichnet, weil sie in der Volksspra- che, der lingua romana, im Gegensatz zu dem in der lingua latina verfassten gelehrten Schrifttum geschrieben waren. Trotz seines freien Geistes gehört jedoch der moderne Roman zu den Gattungen, die uns die europäische Kultur am besten be- eine der zahlreichen Debatten um greifen lassen. die sogenannten europäischen Der Neuansatz des Romans beginnt in Wurzeln hat sich ernsthaft mit der- der Renaissance, im Zeitalter der großen jenigenK literarischen Kunst auseinanderge- geografischen und wissenschaftlichen Ent- setzt, die mit dem modernen Europa in Er- deckungen, die den Europäern ein radikal scheinung trat: der Romankunst. Vielleicht neues Bewusstsein der eigenen relativen Stel- weil es dem Roman an Ernsthaftigkeit fehlt, lung in der Welt und im Universum vermit- um die Wurzel von etwas zu sein. telten. Von Anfang an trat er als komische, Er präsentiert sich vielmehr als eigenstän- parodistische Erwiderung auf die offizielle diger Baum, wie der Titel eines schönen Es- Kultur auf: In François Rabelais’ „Gargan- says des Literaturwissenschaftlers Massimo tua und Pantagruel“ (erschienen in fünf Rizzante („L’albero“, Venedig 2007) sugge- Bänden 1532–64) steigt der Erzähler Al- riert. Ein Baum, der im selben „Erzählreich“ cofribas Nasier (Anagramm des Namens des gewachsen ist, in dem zuvor die klassische Verfassers) in den Mund des Protagonisten, Epik und andere literarische Vorläufergat- des jungen Riesen Pantagruel, und findet

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dort eine „neue Welt“, in der die Zähne als Sicht, die sich der ontologischen Ambiguität Berge erscheinen, zu deren Füßen ausge- der menschlichen Dinge und deren unver- dehnte Wiesen, Wälder und Städte liegen meidlicher Materialität bewusst ist. sowie ein Dorf, in dem die Bewohner ihr In einem Vortrag, den er 1985 in Jerusa- Geld im Schlaf verdienen und in dem die- lem hielt und der ebenfalls in dem erwähnten jenigen den höchsten Lohn bekommen, „die Band abgedruckt ist, verweist Kundera auf laut schnarchen“. eine andere Episode aus „Gargantua und Im „Don Quijote“ von Miguel de Cer- Pantagruel“: Im dritten Buch wird Panurg, vantes (1605–15) beschließt der von mittel- Pantagruels treuer Freund, von der Frage alterlichen Ritterromanen begeisterte Edel- gequält, ob er heiraten soll oder nicht. Dort mann Alonso Quijano, unter dem Namen geht es um die Erörterung dieses Zweifels Don Quijote de la Mancha selbst fahrender unter allen möglichen Blickwinkeln; zu die- Ritter und Beschützer der Armen, Witwen sem Zweck zieht Panurg unzählige Fachleu- und Waisen zu werden. „Als Gott allmäh- te und Gelehrte zu Rate – aber am Schluss lich den Platz räumte, von dem aus er das weiß er immer noch nicht, was er tun soll. Universum und seine Wertordnung gelenkt, das Gute vom Bösen gesondert und jedem Weisheit der Ungewissheit Ding seinen Sinn verliehen hatte, trat Don Quijote aus seinem Haus und konnte die Welche Lehre ist aus einer solchen Un- Welt nicht mehr wiedererkennen. Denn in entschlossenheit zu ziehen, die große Ähn- Abwesenheit des Höchsten Richters erschien lichkeit mit der Ambiguität der Wirklichkeit diese plötzlich in einer furchtbaren Ambigu- hat, auf die Don Quijote sein Ritterideal ität: Die einzige göttliche Wahrheit zerfiel projiziert? Folgt man Kundera, so besteht in Hunderte von relativen Wahrheiten, an sie in der „Weisheit der Ungewissheit“, die denen die Menschen teilhatten. So entstand sich darin kundtut, dass man sich in der die Welt der Neuzeit und mit ihr der Roman, Literatur wie im Leben mit „einer Menge ihr Abbild und Muster.“ relativer, sich widersprechender Wahrheiten“ So schreibt im ersten auseinanderzusetzen lernt. Es ist eine Weis- Teil seines Buches „Die Kunst des Romans“ heit, die im Gegensatz zum ego cogitans (1986). Kundera ist der Romanschriftsteller, des Descartes steht: „Die Weisheit des Ro- der sich unter den Zeitgenossen am meisten mans unterscheidet sich von der Weisheit für das Verständnis des Romans als wahre der Philosophie. Der Roman ist nicht aus und echte Kunst eingesetzt hat, die vielmehr dem theoretischen Geist, sondern aus dem ist als nur als eine literarische Gattung unter Geiste des Humors geboren.“ anderen. Das erfordert ihre besondere Welt- Wenn dies zutrifft, liegt dem Geist des sicht, eine ironische, kritische, prosaische modernen Romans nichts ferner als die he- roische Haltung der Helden der mittelalter- lichen Ritterromane oder als die Ergebenheit Der moderne Roman gehört zu in den göttlichen Willen, das die verliebten den Gattungen, die uns die euro- päische Kultur am besten begrei- fen lassen.

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Protagonisten der griechischen oder by- I n der Jerusalemer Rede erklärt der tsche- zantinischen Romane – und ihre Autoren chische Schriftsteller: „Europa hat versagt, – kennzeichnet. Aber wenn der Baum des indem es die europäischste aller Künste, den modernen Romans tatsächlich demselben Roman, nie verstanden hat, weder seinen Erzählreich angehört wie seine Vorläufer, Geist noch seine gewaltigen Erkenntnisse müssen die Vorbilder seines „Geistes des Hu- und Entdeckungen noch die Autonomie sei- mors“ woanders gesucht werden. ner Geschichte.“ Kundera bezieht sich auf Ortega y Gasset hat sie, einer Intuition die verkannte kritische Sicht des Romans im von Friedrich Schlegel folgend, erkannt und Vergleich zu den ideologischen und wissen- in seinen „Meditationen über Don Quijote“ schaftlichen Gewissheiten, die die moderne (1914) Cervantes’ Stilverwandtschaft mit europäische Kultur im Zeichen des Über- Platons „Symposion“ und dem antiken My- muts und der „vollkommenen“ Kenntnis thos erhellt. Am Schluss des „Symposions“ geformt haben, wobei sie zu oft die tragi- bemerkt Aristodemos, den das Hahnenkrä- komische Schönheit der menschlichen Un- hen geweckt hat, dass die Gäste des Vora- vollkommenheit außer Acht gelassen haben. bends schlafen oder schon fort sind – mit Seitdem hat sich jedoch in Europa und in der Ausnahme von Agathon, dem Tragödien- Welt überhaupt ein durchgreifender Wandel dichter, Aristophanes, dem Komödiendich- vollzogen, der sich beinahe so radikal aus- ter, und Sokrates, der das Gespräch führt. nimmt wie der Übergang vom Mittelalter Aristodemus ist zu schläfrig, um sich die De- zur Renaissance. tails zu merken, er erinnert sich aber, „dass 1989 war das totalitäre Regime, in dem Sokrates sie genötigt habe zuzugeben, es sei Kundera aufgewachsen und vor dem er Sache ein und desselben Mannes, Komö- geflüchtet war, zusammengebrochen und dien und Tragödien dichten zu können, und einer Ideologie gewichen, die sich mit der ein Tragödiendichter mit Kunstverstand sei für den Neoliberalismus typischen Ideo- auch Komödiendichter“. Aber Aristophanes logiefreiheit tarnte, deren Einfluss auf das und Agathon können nach dem Trinkgela- Individuum und auf dessen Lebens- und ge und den nächtlichen Diskussionen So- Gedankenfreiheit genauso real wie die To- krates’ Gedankengang nicht mehr folgen talitarismen des 20. Jahrhunderts war. Nur und schlafen nacheinander ein. Erst viele schwerer aufzudecken, weil losgelöst von Jahrhunderte später werden Shakespeare einer erkennbaren politischen Macht und und Cervantes den von Sokrates beschwo- renen „Tragikomödiendichter“ verkörpern. Aber wenn Shakespeares Glück ein maje- E uropa hat versagt, indem es die stätischer Strom ist, der im Schutz sicherer europäischste aller Künste, den Dämme durch die letzten vier Jahrhunderte europäischer Kultur fließt, wie sollte man Roman, nie verstanden hat, weder das bezeichnen, was Kundera „das verkannte seinen Geist noch seine gewal- Erbe des Cervantes“ nennt? tigen Erkenntnisse und Entde- ckungen noch die Autonomie sei- ner Geschichte. Milan Kundera

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darum umso schwerer zu bekämpfen. Zu Tiere – ein grundlegender Aspekt des zeit- Beginn dieser Periode unserer Geschichte genössischen Gewissens – Ähnlichkeit mit bestätigte die von Ayatollah Khomeini gegen Platons Dialogen auf: Elizabeths Wahrheit Salman Rushdie erlassene Fatwa wegen an- wird immer mit der ihrer Gesprächspartner geblicher Gotteslästerung in seinem Roman konfrontiert, sodass sich niemand benach- „Die Satanischen Verse“ die Erkenntnis des teiligt fühlen kann. tschechischen Romanciers, und zwar das Im ersten Kapitel des Romans „Elizabeth traurige Schicksal des „Geistes des Romans“ Costello“, der Coetzee den Nobelpreis ein- in einer Welt, in der die Unsicherheit und brachte, sagt der Erzähler, Elizabeths Sohn, die Ambiguität des Realen im Namen einer der Frau, mit der er die Nacht verbracht einzigen Wahrheit keinen Platz mehr haben. hat: „Ich denke, dass du vor einem Rätsel Und doch hat sich der Geist des Romans in stehst, auch wenn du das nicht zugibst, vor den beiden folgenden Jahrzehnten, in einem dem Rätsel des Göttlichen im Menschen. Europa, das für eines seiner wertvollsten Gü- Du weißt, dass etwas Besonderes an mei- ter seiner Kulturgeschichte blind war und ner Mutter ist – das zieht dich zu ihr hin sich in einem andersgearteten ideologischen –, aber wenn du ihr begegnest, stellt sich Zangengriff befand, weiterhin als das beste heraus, dass sie eine ganz normale alte Frau Mittel erwiesen sowohl um Widerstand zu ist. Du kannst die beiden nicht in Einklang leisten als auch um ein kritisches kulturelles bringen.“ Aber spiegelt denn die Verstörtheit Gewissen durchzusetzen. der Frau, selbst ein Kind der ideologischen Dieses Gewissen europäischen Ur- und wissenschaftlichen Gewissheiten, nicht sprungs, das aber inzwischen weltumfassend die Unfähigkeit wider, in der alten Elizabeth ist – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- Costello den gleichen daimon zu erkennen, derts hat die Kunst des Romans außerhalb der Sokrates antrieb? Europas die reichsten Früchte getragen – verkörpert auf vorbildliche Weise die austra- Ambivalent karnevalistisch lische Schriftstellerin Elizabeth Costello, die Protagonistin des 2003 erschienenen gleich- Zeitgenössische Autoren wie Kundera, namigen Romans von John M. Coetzee. Die Coetzee, Rushdie und dann auch Roberto Titelfigur taucht zum ersten Mal in einem Bolaño, Dubravka Ugrešicć, Ingo Schulze Essay Coetzees auf, „Das Leben der Tiere“ oder Zadie Smith haben es gemäß der Lehre (1999), einem Kleinod der Erzählkunst. Ihre von Rabelais und Cervantes verstanden, die Fähigkeit, sich in ein anderes Geschöpf – ob Romankunst mit dem Wandel zu konfron- Mensch oder Tier – hineinzuversetzen, ge- tieren, der sich in Europa und in der ganzen mahnt an die liebevolle, heitere Ironie, die Welt in den letzten Jahrzehnten vollzogen den ersten modernen Romanschriftellern hat und dessen offenkundige Unzulänglich- gestattet, jede Wahrheit zu verstehen. keit die derzeitige Wirtschaftskrise hervor- Übrigens weist dieser kurze Text über die hebt: beispiellose Migrationswellen und die Gewaltanwendung der Menschen auf die Anhäufung von Reichtum in den Händen

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weniger, neue Formen der Armut und das Künste, des Romans“ nicht ein Zeichen gefährliche Wiederaufflackern des Rassis- dieses Verlustes? mus, die Manipulation des menschlichen Am Schluss des „Symposions“ schlafen Lebens durch die Medien und die zu einer bei Tagesanbruch Agathon und Aristopha- ständigen Performance ausgeartete Kultur, nes ein; erst an der Schwelle der Moder- die einer Wegwerfmentalität frönt, ohne Be- ne werden die ersten großen europäischen zug auf die Vergangenheit und die Zukunft. Schriftsteller den von Sokrates beschwo- In einem Vortrag über das Theater, den renen Tragikomödiendichter verkörpern. er 1946, unmittelbar nach dem grauenvollen Heute hängt ihr Erbe von unserer Fähigkeit Geschehen des Zweiten Weltkriegs, hielt, ab, wachsam zu sein, nicht einzuschlafen der dem modernen Europa ein Ende setzte, angesichts der unvermeidlichen Ambiguität sagte José Ortega y Gasset: „Die Kontinui- des neuen globalen Tages. Und darin werden tät ist die fruchtbare Koexistenz oder, wenn wir gewiss bestärkt werden, wenn wir die man so will, das Nebeneinanderbestehen Wurzeln des Romans in Europa wiederent- von Vergangenheit und Zukunft, und sie decken, aufwerten und in ihnen die Weisheit ist die einzige Möglichkeit, nicht reaktionär der Ungewissheit, den Geist des Humors, zu sein. Der Mensch selbst ist Kontinuität, wiederfinden, die Fähigkeit, mit Ironie die und wenn er diese bricht (in dem Maß, in mannigfachen Wahrheiten auszusprechen, dem er sie bricht), heißt es, dass er vorü- die Europa und die ganze Welt beleben. Nur bergehend aufhört, Mensch zu sein, dass er so wird es uns gelingen, wir selbst zu sein auf sich selbst verzichtet, und ein Anderer und unsere kulturelle Zeugungsfähigkeit – alter – wird. wiederzuentdecken. Dies bedeutet, dass er sich verändert, dass Aus dem Italienischen im Land Veränderungen stattgefunden ha- von Annalisa Viviani ben. Da muss man dafür sorgen, dass solche Veränderungen nicht mehr stattfinden, dass der Mensch wieder er selbst wird und und es ihm gelingt – wie ich mit einem herrlichen Wort zu sagen pflege, das nur in unserer Sprache vorhanden ist – ensimismarse –, er selbst zu sein.“ Das heutige pluralistische, widerspruchs- volle, ambivalent karnevalistisch anmutende Europa ist gewiss nicht mit Nachkriegsspa- nien vergleichbar. Aber hat unser Kontinent, von der ständigen Präsenz des „Konsum- Totalitarismus“ erdrückt, vom neuen Po- pulismus bedroht und durch den Kitsch der Erinnerung und die Verherrlichung der ei- Stefano Zangrando, 1973 in Bozen (Südtirol) ge- genen Narben irregeführt, etwa nicht das boren, ist Prosaautor, Literaturkritiker und Überset- lebendige Gefühl der Kontinuität verloren? zer. Er gehört zu den Mitbegründern des internatio- Ist denn das von Kundera 1985 beklagte nalen Seminars zum Roman (SIR) an der Universität Unverständnis der „europäischsten aller Trento und ist Redakteur der Kulturzeitschrift „Sud“.

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105 FORTSCHRITT EUROPA ? Europa kann zwar seine Literaten nicht in die Pflicht nehmen, aber Europas Literaten können

Europa in die Pflicht nehmen. Aus Sicht der Literatur: Wie sehen die Schriftsteller die Rolle der

Kultur in Europa? Wie definieren sie europäische Kultur, was macht europäische Kultur jenseits

der nationalen Kulturen aus? Kann sie eine strategische Rolle übernehmen, um dem Kontinent

zu einem noch immer vermissten Gemeinschaftsgefühl zu verhelfen? Kann Kultur Europa gar

eine Seele einhauchen? Welche Fortschritte oder Rückschritte sind in den letzten Jahren auf

dem Weg zu einer europäischen Kultur zu verzeichnen?

Wie Schriftsteller die Rolle von Kultur in Europa sehen

106 FORTSCHRITT EUROPA ?

Wie Schriftsteller die Rolle von Kultur in Europa sehen

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109 Mittler zwischen den Kulturen Ob historisch, kulturell oder politisch: Europa ist untrennbar mit seinen Nachbar- regionen verwoben und damit geradezu prädestiniert, eine Mittlerrolle einzunehmen. Und: Es lohnt sich für einen gerechten Frieden im Nahen Osten einzutreten, denn auch die Zukunft in Europa wird an ihm teilhaben. Anmer- kungen eines Autors, der in Reichweite von Palästinen- sern, Afghanen, Griechen, Tscherkessen und Libanesen geboren und selbst zum Mittler wurde. Von Rafik Schami

gung. Sie ist biografisch vorgegeben. Ich bin als römisch-katholischer Junge zur Welt ge- kommen. Meine Eltern stammten aus dem aramäischen Bergdorf Maalula, 60 Kilome- ter nördlich von Damaskus und drei Stun- den Fußmarsch vom Libanon entfernt. Die Franzosen hatten in den zwanziger Jahren die Grenzen willkürlich gezogen und so wurden meine Tante mütterlicherseits und mein Onkel väterlicherseits Libanesen, und wir sind Syrer geblieben. Ich bin in einer Gasse zur Welt gekom- men, an deren Ende die Stelle der Damas- zener Stadtmauer liegt, von der aus Apostel arum schreibe ich, was ich Paulus, alias Saulus, geflüchtet war. Dort schreibe und warum schrei- steht heute eine Kapelle schmucklos und be ich es so, wie ich es schrei- unverwüstlich wie Paulus’ Sprache. be?W Vielleicht weil ich ein Vermittler zwi- Wäre ich von einer Frau nur sieben Me- schen den Welten bin. Unter „Zwischen ter entfernt vom Zimmer meiner Eltern zur den Welten“ kann man eine Position ver- Welt gebracht worden, wäre ich ein jüdisches stehen, die mit Fliegerei zwischen Konti- Kind, denn unser Haus grenzte zum Westen nenten, Konferenzen und Kulturen zu tun hin an die Häuser der Judengasse. hat. Da ich jedoch ein Bodentier bin, das Hätte mich dagegen eine Frau 14 Me- nie fliegt, ist hier die Funktion eines Bin- ter entfernt zur Welt gebracht, wäre ich ein deglieds zwischen Teilen gemeint, die zu waschechter Armenier geworden, denn in einem Ganzen gehören, auch wenn sie sich unserer Gasse lebte eine kleine Gemeinde in vielem unterscheiden wie etwa Auge und von Armeniern, die nach dem furchtbaren Ohr. Man könnte diese Verbindung auch Massaker von 1915/16 in Damaskus Zu- einfach als Brücke bezeichnen, die zwei Ufer flucht fanden. eines Flusses verbindet und beide Seiten be- Wenn mich aber eine andere Frau etwa rührt, ohne zu einer von ihnen zu gehören. zwölf Meter entfernt von unserem Haus ge- Diese Zugehörigkeit zu verschiedenen boren hätte, wäre ich Druse, vierzehn Me- Welten verlangte von mir keine Anstren- ter südöstlich wäre ich römisch-orthodox

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geworden. Wäre eine andere Frau vierund- Hier spielt weniger die Geografie eine zwanzig Meter von unserem Haus entfernt Rolle als viel mehr die Einsicht, dass ag- meine Mutter geworden, hätte ich der sun- gressive Handlungen wie Krieg niemals Pro- nitischen Mehrheit der Muslime in meinem bleme lösen, sondern immer neue schaffen. Land angehört. Der Zufall aber wollte, dass Sicher lag und liegt mir der Jahrhundert- ich das Kind genau meiner Mutter wurde. konflikt zwischen Juden und Arabern am Ich habe mich hier kurz gefasst, denn die Herzen und im Magen. Aber jeder Krieg, Liste der Völker in unserer Nachbarschaft, und sei er auf den Falklandinseln, macht deren Sohn ich hätte werden können, ist mich traurig und wütend über den primi- noch wesentlich länger. In unserer Reichwei- tiven Stand der Menschheit. te lebten Palästinenser, Kurden, Tscherkes- Und dieser Krieg zwischen Juden und sen, Afghanen, Griechen, Jugoslawen und Arabern mit seiner globalen Wirkung ge- Libanesen. Und alle mit den unterschied- hört zu den gefährlichsten der modernen lichsten Religionszugehörigkeiten. Geschichte. Beide Völker kommen von al- Jedes Detail dieses Lebens in Syrien und leine nicht mehr aus der Spirale, in die sie auch später in Deutschland ließ mich beide geraten sind. Sie brauchen Hilfe von außen. Seiten verstehen. Wenn ich nur das klei- Eine Hilfe fruchtet aber nur dann, wenn ne unauffällige nehme, dass ich der aramä- sie eine Brücke der Vermittlung zwischen ischen Minderheit angehöre, und dazu in beiden Ufern bildet. Der Helfer selbst muss aller Bescheidenheit erwähne, dass Aramä- auf der Brücke bleiben. Er darf sich nicht isch vom Sprachstammbaum her die Tante selbst auf die eine oder andere Seite begeben der hebräischen und arabischen Sprache ist, und sich für die andere blind stellen, denn so wird deutlich, warum es mir immer ein damit fördert er gewollt oder ungewollt den Anliegen war, beide Völker, Juden und Ara- Krieg. Der Friede zwischen beiden Völkern ber, Palästinenser und Israelis zu versöhnen. ist nicht teilbar, sondern muss gleicherma- Kommen wir nun zum Vermittler. Ab- ßen für beide Seiten erreicht werden, und er gesehen von einer sekundären Bedeutung wird nicht sensationell schlagartig eintreten, meint man mit dem Wort immer eine Tä- sondern muss zäh errungen werden. Rück- tigkeit, die der Duden folgendermaßen be- fälle sind jederzeit möglich. Er ist daher so schreibt: „zwischen Gegnern eine Einigung kompliziert, dass man ihn nicht allein den erzielen und weiter ‚etwas’ zwischen Geg- Amerikanern überlassen darf, deren Außen- nern herbeiführen: zwischen Kriegsfüh- politik den Rest der Welt lange in Schrecken renden einen Waffenstillstand vermitteln“. versetzt hat. Ich sehe hier eine große Chan- ce für Europa. Europa ist der unmittelbare Nachbar und hat bereits Erfahrung im be- sonnenen Vermitteln in Osteuropa gezeigt. Wenn mich eine andere Frau etwa Für einen gerechten Frieden und das zwölf Meter entfernt von unserem absolute Recht aller Völker auf friedliches Haus geboren hätte, wäre ich Leben im Orient lohnt es sich einzutreten, Druse, vierzehn Meter südöstlich denn auch unsere Kinder und unsere Zu- kunft in Europa werden an diesem Frieden wäre ich römisch-orthodox gewor- teilhaben. den. Mich aber beschäftigt – berufsbedingt

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– ein anderer Krieg, der Krieg mit Wor- I ch sehe hier eine große Chance ten. Diese Art von Krieg führen Fanatiker. für Europa. Europa ist der unmit- Manchmal grenzt das, was sie als Gedan- kengut von sich geben an das Lächerliche, telbare Nachbar und hat bereits doch das Lachen vergeht einem, wenn man Erfahrung im besonnenen Ver- an die Konsequenzen denkt. mitteln in Osteuropa gezeigt. Die arabischen Fundamentalisten be- haupten allen Ernstes, Gott verstehe nur arabisch. Das haben sie nicht erfunden, sondern abgeschrieben von verkrampften L atein angesprochen werden. Gott versteht simplen Juden, die behaupteten, Jahwe sei nicht nur über 6000 Sprachen unserer Erde, so simpel und verstehe nur Hebräisch. Nur, sondern auch das Brabbeln der Babys, alle man könnte beiden Völkern, den Juden und Tiersprachen und das Wasserflüstern und den Arabern, aus Mitleid solches Aufbegeh- die Windlieder. ren nachsehen. Beide Völker sind wie mein Ob Juden, Muslime oder Christen, alle eigenes, die Aramäer, uralt. Unsere Siege be- ihre Fundamentalisten beleidigen Gott, völkern Legenden und Geschichten, unsere wenn sie ihn zu einem Simpel machen. Und Niederlagen sind reale Geschichte. merkwürdig: Immer wenn Gott nur eine Aber was machen unsere katholischen Sprache sprach und verstand, wurde er zum Fundamentalisten? Sie wollen Gott wieder Krieger. Nein, nicht er, sondern die Fanati- auf Latein ansprechen. ker, die seinen Namen missbrauchten, um Nun, meine Vorfahren, die christlichen andere zu ermorden. Dem Papst werde ich Aramäer, waren unter den ersten Christen nichts empfehlen. Er oder seine Nachfolger und sie sind auch jetzt, nach fast zweitausend werden vielleicht verstehen, wenn die Zahl Jahren, noch Christen. Und ich fühle mich der Katholiken noch radikaler schrumpft, als deren Vertreter und Beobachter hier in aber den deutschen Autoren, die Gott für Europa. Einige komische und bisweilen ma- einen Lateiner halten, würde ich empfehlen, kabre Metamorphosen hat die Lehre Jesu seit sie sollten Gott in Ruhe lassen und ihre eige- seiner Ankunft in Europa gemacht. nen Romane und Essays auf Latein schrei- Statt also dringende Aufgaben in An- ben. Ich würde das begrüßen, denn dann griff zu nehmen, wärmte der Vatikan die ersparen sie der von mir geliebten deutschen alte Diskussion um den Gottesdienst auf Sprache etwas Langeweile. Latein wieder auf und begibt sich damit in Nun, wir können glücklich sein, dass die Reihen der vorhin erwähnten jüdischen in Deutschland Staat und Kirche getrennt und muslimischen Fundamentalisten. Als sind. Eine glückliche Folge davon ist, dass ob Gott nur Latein verstünde. Aber beim solche Vorstöße für die deutsche Sprache Papst kann ich einiges noch verstehen ohne folgenlos bleiben. Nicht so in der arabischen Verständnis zu haben. Er ist ein Herrscher, Welt. Dort führen Fundamentalisten und muss seine Macht erhalten und möchte sei- Diktatoren ständig Krieg und ihr erstes Op- ne Herde disziplinieren und lenken. Ich fer ist die Sprache. verstehe jedoch nicht, wie deutsche Gegen- Seit nun vier Jahren stehen die arabische wartsautoren so erzreaktionär sein können, Sprache und Schrift im Mittelpunkt meines dass sie laut tönen, Gott sollte wieder auf Interesses, denn in meinem neuen Roman

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„Das Geheimnis des Kalligrafen“ geht es und wir in allen arabischen Ländern keine neben Liebe und Mord um eine schöne Trennung zwischen Religion und Staat ha- Sprache, die in Schrift und Substanz ge- ben. Und solange das so ist, werden sich fährdet ist. Reformer nur die Finger verbrennen. Die Kalligrafie war jahrzehntelang mein Politiker in den arabischen Ländern sind Hobby, nachdem ich als Jugendlicher drei primitive Militärdiktatoren und sie haben Jahre bei einem alten Meister in die Lehre am allerwenigsten Lust und Mut etwas zu gegangen bin. reformieren. Ihr Interesse konzentriert sich einzig und allein auf die Festigung der Herr- Krieg mit der Sprache schaft ihrer Sippe. Ihr Reichtum erlaubt ih- nen das. Dabei ist die arabische Sprache wie Das Thema „Sprache“ meldete sich, viel- alle Sprachen eine Erfindung der Menschen. leicht biografisch bedingt, bei mir immer Auch bräuchte eine Reform den Koran nicht wieder. Aramäisch ist meine Muttersprache, zu erfassen, sondern lediglich die Sprache arabisch ist meine Kindheitssprache. Die er- des Alltags erweitern und reformieren. ste Fremdsprache war – bedingt durch die Die arabische Sprache zeigt große Män- alte Kolonialmacht Frankreich – Franzö- gel an Wortschatz der Moderne und an sisch, meine zweite Fremdsprache war – be- Buchstaben, die ihr erlauben würden, die­ dingt durch die Herrschaftsverhältnisse der se neuen Wörter aufzuschreiben. W, P, E Welt – Englisch. Deutsch ist meine Litera- und O hat sie nicht, deshalb kann sie la- tursprache und mein Zuhause seit 36 Jahren. teinische Sprachen nicht korrekt wiederge- Dadurch boten sich Vergleiche zwischen ben. Und wenn ein Araber den Satz „Pablo den Sprachen immer wieder an. Auch ein Picasso wohnte zuerst in Bateau Lavoir auf Studium der Ökonomie und der Naturwis- dem Montmartre in Paris“ aufschreiben senschaft öffnete mir die Augen über große sollte, wird es eng für ihn. Man kann heute Lücken und Schwächen der arabischen Spra- keinen Artikel über Chemie, Mathematik, che. Und irgendwann wurde das mein Zen- Physik, Ökonomie, Medizin, Pharmakolo- tralthema und ich begann zu recherchieren. gie, Geologie, Philosophie u. a. schreiben, Woher kommen diese Schwächen und ohne die Zeilen mit lateinischen Wörtern in warum wurden die arabische Sprache und Klammern zu spicken. Auch Nuancen der Schrift nie reformiert? Rund 300 Millionen spanischen und chinesischen sowie weiche Menschen sprechen arabisch und durch den Konsonanten der persischen Sprache kann Islam wird die arabische Schrift von 1,5 Mil- sie nicht wiedergeben. liarden Menschen in Anspruch genommen. Die seit einem halben Jahrhundert an- Aber seit mehr als zwölf Jahrhunderten, dauernde arabische Diktatur der Sippe seit der endgültigen Niederschrift des Ko- machte nicht nur Arabien insgesamt zu einer rans, gab es keine Reform, weil Fundamen- rückständigen Gegend. Sie deformiert die talisten diese Sprache als heilig erklärten, Menschen und zerstört ihre Sprache. Jede vernünftige Entwicklung, jede freiheitliche Regung ist ihr verhasst. Doch schlimmer als die pure Diktatur ist ihre Paarung mit Erd- I ch fühle mich als Vertreter und öl. Das Produkt ist eine perfekte Demonta- Beobachter hier in Europa. ge der Kultur bei gleichzeitig blendendem

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Glanz der Oberfläche. Das Elend trägt Han- ben schreiben. Dass Arabisch eine Weltspra- dy, fährt teuerste Limousinen und hält sich che ist, ist keine Naturkonstante, sondern zu allem Übel für zivilisiert. Ein Araber ist eine Gewichtung durch die Verbreitung der heute im Grunde rückständiger als seine arabischen Sprache. Ein Jahrzehnt unserer Vorfahren im 9. oder 11. Jahrhundert. Zeit gleicht aber mit seiner Schnelllebigkeit Die Diktatur führt einen Krieg mit der einem Jahrhundert früherer Zeitepochen. Sprache gegen die eigene Bevölkerung und Hinkt die arabische Sprache ständig hinter auch gegen die Sprache selbst. Die Unfrei- der Zeit her, wird der Abstand zwischen ihr heit zerstört und besetzt ganze Gebiete der und dem Standard, den die Zivilisation von Sprache, sperrt andere Gebiete ab und er- einer Weltsprache verlangt, immer größer. klärt sie zur verbotenen Zone. Nicht selten Nur wenn sich die Sprache aus der Ge- ist ein Gedicht Anlass für brutale Gefängnis- fangenschaft der Diktatur und der Faust strafe. Damit lähmt die Diktatur die Spra- der Fundamentalisten befreit, wird sie sich che. Es drängt sich ein Vergleich mit einem einen Ehrenplatz unter den Sprachen der Gefangenen auf, der auf einer fernen Insel in Erde verdienen. absoluter Isolation gehalten wurde und nun Alle Extremisten verachten den Tod, weil plötzlich in eine heutige Metropole kommt. sie aus welchen Gründen auch immer ihre So und nicht anders steht die arabische Spra- Lust auf Leben verloren haben. Sie geben che heute gegenüber den Fragen der Zeit. aber nicht das, sondern ein ehrenhaftes Ziel Denken formiert sich aber aus Wörtern. als Grund an, das man mit einem Wort be- Das arabische Denken bleibt bei dieser ver- zeichnen kann: „Das Paradies“. Es ist bei den heerenden Zerstörung der Sprache nicht un- einen diesseitig, bei den anderen jenseitig. berührt. Mich wundert es nicht, dass die Auf dem Weg zu ihm aber errichten beide Zahl der arabischen Patente bei rund 300 Fraktionen die Hölle auf Erden. Millionen Menschen gegen Null geht. In ganz Arabien werden jährlich 35 Bücher pro Lustiger Hegel eine Million Araber gedruckt, ein guter Teil davon sind religiöse Bücher. Das ist eine kul- Neulich fragte ich mich, warum ich das turelle Katastrophe. (Im Vergleich dazu: in Lachen liebe? Warum fühle ich diese tiefe der Bundesrepublik werden über 700 Bücher Sympathie für Cervantes, Woody Allen und pro Million Einwohner gedruckt.) Die Be- Gerhard Polt? Natürlich ist die Auswahl sub- hörden verordnen Zensur und Feindseligkeit jektiv und ich hatte einen Nachbarn in Hei- gegen das Wesen Buch und gefährden damit delberg, der sogar Hegel lustig fand. nicht nur die heranwachsenden Generati- Vielleicht liebe ich das Lachen, weil ich onen, die immer mehr zu modernen Anal- dem uralten Volk der Aramäer entstamme, phabeten werden, sondern auch die Stellung das einst den ganzen Mittelmeerraum be- der arabischen Sprache als Weltsprache. herrschte und heute über die ganze Welt Es ist nur eine Frage der Zeit, wann nicht verstreut als unterdrückte winzige Minder- arabische Länder Atatürks Beispiel von 1928 heit lebt. Wenn ich also die Wichtigtuerei folgen und ihre Sprachen vom arabischen Al- mancher junger Kultur miterlebe, muss ich phabet ablösen. Atatürk schaffte innerhalb lachen. Ich glaube fest daran, dass es solche kürzester Zeit die arabischen Buchstaben ab Gestalten zuhauf unter meinen Vorfahren und ließ Türkisch mit lateinischen Buchsta- am Hofe des mächtigen Königs Assurbani-

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I n ganz Arabien werden jährlich und Okzident. Als ich in die Bundesrepu- 35 Bücher pro eine Million Ara- blik kam, verstummte ich vor Staunen und brauchte eine Weile, um meine Sprache wie- ber gedruckt, in Deutschland sind der literarisch zu gebrauchen. Deutsch habe es über 700 Bücher pro Million ich verhältnismäßig schnell gelernt, aber ich Einwohner. beherrsche die Sprache nicht. Ich liebe sie. Während ich noch über die moderne Ge- sellschaft staunte, begriff ich schnell, dass in Deutschland heitere und spannende Litera- pal gab, der in der Zeit von 660 bis 630 vor tur nicht ernst genommen wird. Nie gerät Christus ein mächtiges Reich von Ägypten ein schlechtgelaunter Autor in diesem Land bis zur heutigen Türkei beherrschte. Dieser in den Verdacht unseriös zu sein und das ist mächtige König war belesen und ging gerne einer der größten Irrtümer der deutschen Li- auf Löwenjagd. Später wurde er zu einem teratur der Gegenwart, der auch Mitschuld Häufchen kalkhaltiger Mineralien und noch trägt am Rückgang der Stellung der deut- ein wenig später saugten primitive Pflanzen schen Literatur auf der Weltrangliste. seine letzten Spuren auf. Aber diese Erkenntnis erleichterte nicht Auch ermuntert mich eine Besonderheit den Start. Ich stand vor einem großen Pro- meiner Biografie zum Lachen. Meinen Le- blem. Natürlich fragt man sich beim Schrei- benslauf kann man mit einem Wort cha- ben nach der Rezeption seiner Literatur. Es rakterisieren: Minderheitensammler. Dieses gibt immer die simple Frage, ob ich beim Dauerleben am Rande schenkt einem ko- Schreiben an die Leser denke. Die Antwort mische Momentaufnahmen von der Mehr- lautet „nein“ in dem Sinne, dass ich für nie- heit, die vieles nicht sieht, weil sie mitten im mand Spezielles schreibe, nicht für die Li- Strudel in Bewegung ist. teraturkritik und auch nicht für eine be- stimmte Partei oder Menschengruppe. Aber Lachen aus der Wunde es wäre schlicht verlogen zu sagen, ich schrei- be und es interessiert mich nicht, ob mein Vielleicht war das Lachen auch ein Ver- Buch gelesen wird. such der Auflehnung gegen das Düstere. Ich Was also tun? nannte die Satiren der arabischen Schrift- Damit ich nicht für einen Helden gehal- steller in einem Essay: „Lachen aus der ten werde, muss ich etwas über die wich- Wunde“. Ich habe zudem mit fünfzehn, tigste Entscheidung in meiner literarischen sechzehn Jahren als süchtiger Zuhörer und Laufbahn kundtun. Exil ist nicht nur bitter. angehender Erzähler entdeckt, dass Lachen Exil macht mutig, öffnet Wege und Wun- ein raffinierter Schmuggler ist. Man kann den, verlangt viel Arbeit, aber beschenkt manchmal in einer kurzen Lachgeschichte auch mit beiden Händen. Ich wäre nie zu mehr verstecken, als ernsthafte Autoren in dem Autor geworden, der ich heute bin, dicken Bänden. wäre ich nicht nach Deutschland gekom- Ich habe das selbst erprobt und fand mei- men. Hier genoss ich die Freiheit und die ne eigene Mischung: zwischen Heiterkeit Demokratie, die mich bis heute fasziniert. und Trauer, Härte und Zärtlichkeit, Lüge Mit einem Schlag war ich meiner Sippe ein- und Wahrheit. Und auch zwischen Orient schließlich erpresserischer Tanten, Onkel

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und Paten, 16 Geheimdiensten, einem Heer zu zählen. Das war im Jahre 1992. Nun reise von Staatsschreiberlingen, diversen Gefäng- ich nicht mehr viel, pro Roman besuche ich nissen und der materiellen Not entronnen. nur hundert Städte. Am Anfang hatte ich Da ist der Begriff „Sieben auf einem Streich“ fünf Zuhörer und natürlich fragt man sich eine typisch deutsche Untertreibung. nach einer siebenstündigen Fahrt mit dem Den Preis für diese Befreiung musste ich VW-Käfer von Heidelberg nach Hannover, jedoch bezahlen, und er war hoch. Ich durf- ob es sich gelohnt hat. Doch ich erzählte den te die schönste Stadt der Welt nicht mehr Wenigen so gut, wie einer der sie begeistern betreten und meine geliebte Mutter nicht und aus ihnen Botschafter für eine neue Li- einmal beerdigen. Wer soll mir noch Angst teratur machen wollte. Und sie wurden die machen? besten Botschafter. Nicht selten sitzen heute Ich beschloss also, ermuntert durch mei- nach dreißig Jahren drei Generationen einer nen Exil-Mut, auf Deutsch zu schreiben, Familie bei meinen Lesungen. aber so zu schreiben, als ob ich nicht in Mir halfen und helfen bis heute zwei Deutschland lebte und nicht wüsste, dass Ener­giequellen. Die Überzeugung, dass Li- man umso größere Chancen hat von der li- teratur ohne Leser und Zuhörer keine ist. terarischen Welt wahrgenommen zu werden, Das Publikum schenkt dem Erzähler das je langweiliger man schreibt. teuerste, was es besitzt: Zeit. Es kann sie Das hat sich heute verändert. Heute ist nie wieder ersetzen, also versuche ich ihm es Mode geworden, dass jeder sich Erzähler diesen Verlust so unbemerkbar wie möglich nennt und auch die Kritik legt inzwischen zu machen. Wert darauf, dass eine Lektüre spannend Die zweite Quelle meiner Energie ist der ist. Damals in den Achtzigern, als ich mei- ungeheure Genuss, Erwachsene durch Er- nen literarischen Weg begann, rühmten die zählen in lauschende Kinder zu verwandeln. Kritiker manche Autoren allen Ernstes da- Das ist ein Glück, das ich im Herzen spüre für, dass sie einen ganzen Roman schreiben und nicht beschreiben kann. Es schmeckt könnten ohne etwas erzählt zu haben. wie Eis oder Edelschokolade oder Pistazien. Ich erzählte also Märchen, Geschichten, Wer aber in meinem Beruf etwas errei- Satiren und Romane. Mich umgab zunächst chen will, muss die Geduld eines Kamels, eine undurchdringliche Mauer des Schwei- den Mut einer Löwin und den langen Atem gens. Aber Mauern haben immer eine eines Blauwals haben. Ich überhörte die bös- Schwäche und wenn man die entdeckt, bre- artigen Kommentare, die meinen Erfolg be- chen sie zusammen. In meinem Fall lautete gleiteten. Die reichten vom harmlosen „Mär- die Lösung: Schweigemauer brechen durch chenonkel“, weil ich Kinder ernst nahm, bis Lärm. Jerichos Legende hat ein Orientale erfunden. Ich besaß nicht die Noten für die biblische Musik, die Mauern einstürzen zu lassen, aber ich entdeckte, dass Deutsche Wer aber in meinem Beruf etwas gerne zuhören, wenn man etwas erzählt. erreichen will, muss die Geduld Also begann ich zu reisen und meine Ge- eines Kamels, den Mut einer Lö- schichten zu erzählen. Ich habe, da ich ein braver Steuerzahler bin, meine Erzählabende win und den langen Atem eines alle festgehalten, doch bei 1200 hörte ich auf Blauwals haben.

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zu „Liebling der Frauen“, weil Männer viel schon die Nazis gegenüber den Büchern eine zu spröde erzogen werden, so dass heute 70 schärfere Wahrnehmung gehabt als die Hu- Prozent der Zuhörer Frauen sind. All das lag manisten? Und haben sie nicht barbarisch im Bereich harmlosen Stichelns. auch Autorenwerke verbrannt, die man in Lebensgefährlich wird es bei „Verräter“, den humanistischen Kreisen belächelte? zumal diese Kritik meist von arabischer Langsam erkannte ich, dass Worte nicht Seite kommt, oft von Menschen, die selbst geeignet sind für den Aufbau von troja- nicht lesen und keine Kritik verstehen. Doch nischen Pferden. Sie sind durchsichtig wie ehrlich gesagt war es mir gleichgültig, was Glas und können für eine Weile und bei die anderen sagten oder verschwiegen. Im günstiger Spiegelung des Lachens etwas tar- Nachhinein empfinde ich aber eine große nen, aber nach einer gewissen Zeit erkennt Befriedigung, dass ich mit der Hilfe meines jeder die Botschaft einer Literatur. Eine Ge- Publikums all diese Hürden nehmen konn- schichte, die bei wiederholtem, sorgfältigem te. Lesen ihre Geheimnisse nicht preisgibt, hat Eine langjährige Freundin von mir und auch keine. meiner Literatur sagte mir einmal, sie lese Mein neuer Roman ist ein unpolitisches meine Geschichten immer als trojanische Buch. Er trägt den Titel „Das Geheimnis des Pferde. Ich fühlte mich ertappt. Sie hatte Kalligrafen“ und spielt in der Zeit von 1954 mich durchschaut. Kein Wunder. Sie liest bis 1958. Er handelt nur von der Liebe und jährlich so viele Bücher wie selten eine an- dem Geheimnis eines Kalligrafen, das ihn dere Person. Sie macht Bücher. noch ruinieren wird. Ich wählte absichtlich Eine andere Freundin, sie ist Schrift- die einzige lange Phase der Demokratie in stellerin und Malerin, las meinen Roman meinem Land, weil ich einmal entspannt „Die dunkle Seite der Liebe“ und sagte mir: einen Roman ohne Politik schreiben wollte. „Wenn auch nur ein syrischer General die- Vom Frühjahr 1954 bis zur Union mit Ägyp- sen Roman liest, kriegst du keine Amnestie, ten im Februar 1958 dauerte diese längste sondern lebenslänglich.“ Sie bezog sich auf Phase der Freiheit meines Landes. Die par- die Initiative meiner Freunde, die vergeblich lamentarische Demokratie funktionierte mit versucht haben, für mich eine Amnestie zu vielen Parteien und Zeitungen. Kein einziger bekommen. Seit dem Tod meiner Mutter Mensch saß seiner Meinung wegen im Ge- will ich keine Amnestie mehr. fängnis. Es war eine wunderbare Zeit. Diese Kollegin kennt meine Bücher sehr gut. Sie ist die erste Leserin aller meiner Werke. Sie ist meine Frau. Ich dachte aber, beide Frauen hätten den doppelten Boden erkannt, weil sie sehr klug und belesen sind. Aber bald musste ich er- fahren, dass auch weniger kluge und kaum des Lesens mächtige Feinde mich durch- schaut haben und mir daher unversöhnlich Rafik Schami, 1946 in Damaskus geboren, lebt seit den Krieg erklärt haben. Kein Autor genießt 1971 in Deutschland. Heute zählt er zu den erfolg- so viel Feindschaft seitens der Diktaturen reichsten Schriftstellern in deutscher Sprache. Sein und deren Hofdichter wie ich. Haben nicht Werk wurde in 22 Sprachen übersetzt.

117 A lt, aber nicht unbedingt klug Nicht selten stößt man auf die Metapher der Familie für Europa: weit verstreut, meist abwesend, aber eben verwandt. Das ist ein Eu- phemismus. Europa ist keine Familie, sondern ein Polit- Programm. „Kultur“ findet dort nicht „einfach so“ statt und wird sich bestenfalls als Kopfgeburt organisieren lassen. Schließlich wollen wir uns den Brüsselbürokra- tieroman gar nicht erst vorstellen. Von Ulrike Draesner

der langen Schlange „EU“. Dass die Frage nach Europa immer wiederkehrt, ist sym- ptomatisch. Dabei ist es doch ein offenes Geheimnis: Es gibt dieses Europa nicht. Vor langer Zeit wurde es erfunden, dann ver- gessen, nach dem Zweiten Weltkrieg stark wiederbelebt. Es ist nützlich; auch in der Fi- nanzkrise, die im Herbst 2008 begann, hat es sich bewährt. Ökonomisch und finanzi- ell besitzt Europa Kraft; der wirtschaftliche Raum ist dicht gefüllt. Der nächste Definitionsrahmen heißt „Politik“. Hier gilt Europa als eher weich, ein wenig träge, zersplittert, zögerlich. Man an wird es nicht los, obwohl es bespielt die politische Bühne, weiß dort aber sich nicht greifen lässt. Von au- nicht recht, wer man ist oder sein könnte. ßen, aus der Ferne eines anderen Wie weit Fiktion und Wirklichkeit ausein- MKontinents, zeigt sich: Europa, der kleine anderklaffen, zeigen u. a. die Verhandlungen zerfledderte Zipfel, das Ende Asiens über um den Vertrag von Lissabon. Afrika. Sitzt man hingegen mitten darin, Folgt „die Kultur“. Nun wird es schlimm. also an Europas Rand, denn Ränder hat es Hier ist Europa ein Sumpf, jedenfalls äu- überall, weiß man nicht, was oder wo es ist: ßerst schwammiges Gebiet. Der ehemalige so bald, oft nach nur wenigen Kilometern Ostblock drängt am stärksten auf „mehr da- oder Meilen, wechseln die Farben, das Licht, von“. Man ist klein(er), neu, neugierig. Das die Landschaft, die Sprache, die Menschen. ist erfrischend, und manchmal geht es auf Im Vergleich zu vor 50 oder 30 Jahren haben den Geist; im Untergrund rührt das Geld Geld und Waren sich angeglichen, gewiss. der Sondertöpfe, die Projekte gebären. Und doch rieche ich die Grenzen an Flüssen, Damit ist ein ambivalentes Stichwort ge- Bergen und Meer, spüre sie im Flughafen in fallen. Europa bedeutet Geld. Kaum verlässt

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man den Kontinent, wird das überdeutlich: trägt zu seiner Schrumpfung noch bei. Doch In Europa gibt es wenig Armut. Den Luxus auch geografisch, als Kontinent, kommt eines angenehmen Klimas. Geringüberflu- Europa nicht richtig aus den Startlöchern tung. Relative Erdbebensicherheit. Europa, und bringt es bestenfalls zum Subkontinent! ein Kontinent ohne wirkliche Slums, ohne Umso wichtiger ist der Begriff: Wir brau- Megacitys des Elends. chen Einheiten und Grenzen, Nachbarn und Europäische Kultur bedeutet für mich als Fremde als Projektionsflächen. Den Nahen erstes, sich eben dessen bewusst zu sein, also Osten etwa, oder den Fernen. Wir brauchen etwa von Afrika herüberzuschauen über jene die „Anderen“, um Ängste zu projizieren, um 14 Kilometer Meer zwischen Tanger und uns zu fühlen, und brauchen, sozusagen im Gibraltar. Zu sehen, wie weit das ist, und Rückschluss, dafür auch ein „Uns“. Europa wie nah. Wie klein aber die Boote, die von ist ein Modul oder Würfel in diesem Men- Marokkos Küste auf Fahrt gehen, heimlich schen-Spiegel-Spiel, und wenn man will, und riskant. auch ein „Symptom“ unserer spiegelnden Europa, zum Zweiten, ist sehr weiß. Das Verfasstheit, gepolt zwischen Dazugehörig- vergisst sich schnell, obwohl es in unserer keit und Ausschluss, Wir und Ihr. Geschichte ständig seine Rolle spielt. Und Europa heißt zweierlei: alt und neu. Bricolage Daraus kann ein kultureller Vorteil erwach- sen: stereometrisch zu sehen. Europa be- I m Rahmen dieser Konstellation ist deut- deutet fühlbare Geschichtlichkeit. Das ist lich, warum ein „kulturelles Europa“ stän- ein Klischee – und dennoch ein Schlüssel. dig schwächelt. Das Symptom lächelt ma- Auch andere haben Geschichte, selbstver- liziös und überlegen. Und richtig: Der Idee ständlich; Europa bedeutet eine spezifische eines kulturellen Europa liegt ein Denk- Gedächtniskultur. Europa war archivalisch fehler zugrunde, solange dieses Europa im schon in der Bronzezeit. Bild der vornehmlich wirtschaftlichen und Mit diesem Gedanken setze ich noch ein- politischen Organisationseinheit gleichen mal an. Es ist nicht einfach, sich der Schach- Namens gedacht wird und immer schon da tel „Europa“, die von außen so erfolgreich gewesen sein soll, um eben diese politisch- einer Festung gleicht, so zu nähern, dass man ökonomische Einheit mit dem Mäntelchen an ihren in jahrzehntelanger Arbeit blank- der Kultur ein wenig zu verhübschen. Nicht polierten Wänden, die von Sprüchen und selten stößt man in diesem Zusammenhang Absichten glänzen, nicht abrutscht. auf die Metapher der Familie für Europa: Solange die Welt eine Scheibe war, war weit verstreut, meist abwesend, aber eben Europa alles: Jetzt und Präfiguration kom- verwandt. Das ist ein Euphemismus. Euro- menden Heilsgeschehens. So klein wie heute pa ist keine Familie, sondern ein Öko-Polit- ist es noch nicht lange; die Globalisierung Programm. „Kultur“ findet dort nicht „ein- fach so“ statt und wird sich dort bestenfalls als Kopfgeburt organisieren lassen. Glück- I m Untergrund rührt das Geld der Sondertöpfe, die Projekte ge- bären.

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licherweise. Allein Gedächtnis, verstanden S prachkopf zwischen den Schultern? Man sowohl als Archiv als auch als aktive, also wundert und freut sich: Ausgestorben sind erfindende Erinnerung, sowie vor allem un- sie noch nicht! Und man begreift: Europa ist sere Sprachen und ihre Übersetzungen inei- ein hermeneutisches Wesen. Ein Kontinent nander, werden uns auf seine Spur bringen. der unselbstverständlichen Verständigung. Europa ist ein Mythos: bunt gemischt, Da liegt es auf der Hand, nach Brüssel vielfach ausgemalt, beweglich und immer zu rufen: Wir erwarten von euch, dass ihr fraglich. Nationale, staatliche, kulturelle, diese Vielfalt pflegt. Brüssel ruft übrigens historische und sprachliche Register über- brav zurück: Natürlich, natürlich... Das ist schneiden sich hier häufig und stark; Euro- nett und nicht falsch und zu kurz gedacht. pa zeigt sich dabei stets nur Stückchen für Mit einem Puzzle fuhr ich als Sieben- Stückchen, als Patchwork, Mosaik und Me- jährige in die ersten großen Ferien an ein moryfunktion. Seinen kulturellen Reichtum europäisches Meer, die Adria, in ein Land, machen seine Sprachen aus. Sprachen sind mitten in Europa, das es nicht mehr gibt. Wissensarchive; Schatzkisten, die uns in ih- Bilder eines Mannes mit großem Bart hin- ren Metaphern ebenso wie in ihren gram- gen in den Läden, das Land war nicht teuer, matischen Strukturen erzählen, wie wir die das Wasser blau, und der Vorhang, der mir Welt sehen, welche Bilder erfunden wur- Kopfzerbrechen bereitete, weil er eisern hieß, den, wie wir fühlen. Das Deutsche sagt das aber nirgends zu sehen war, hing zwar ei- unmittelbar: wenn es vom „Ausdeutschen“ gentlich vor diesem Land, aber man konnte spricht. Lustvoll unterschiedlich geht es in doch dorthin fahren. Das Puzzle war bunt. diesen Ein- oder Aussprachungen zu: Eng- Am rechten Rand begann die Sowjetuni- länder springen von der Pfanne ins Feuer on. Mir machten nur die kleinen Staaten (vom Regen in die Traufe), Deutschspre- Mühe, sie waren zu kurz für ihren Namen cher fragen sich, ob sie noch alle Tassen und fielen so leicht in den Sand. Österreich im Schrank haben, den Franzosen steckt war lila, Frankreich grün. manchmal der Arsch voller Nudeln (viel Die Farben waren weder symbolisch Schwein) und den Spaniern ist die Wurst noch national auf die Länder verteilt son- gern ein Rettich (ist mir doch wurscht!). dern einfach nach dem Prinzip des größten Europa: acht große Sprachfamilien auf Kontrastes zu allen Nachbarn. Das war pä- engstem Raum. Latein bestimmte Jahrhun- dagogisch gemeint. Und klüger als gedacht: derte lang den Austausch, heute ist Eng- In ihrer Buntheit gehörten die Staaten zu- lisch Lingua franca, vielfach miteinander sammen. Ihre Unterschiedlichkeit verband verflochten sind einzelne Sprachen. Es gel- sie. Das „kulturelle Europa“ ist eine Art ten die Eigenheiten des Dänischen, Räto- großer Schachtel, mit Kleinem gefüllt. Hie romanischen, Altbayrischen etc., und in und da leer oder geräumig oder im Transit. Finnland lebt man ohne Unterscheidung Die Leere ist das Gut, das Fehlen einer eu- von „er“ oder „sie“. Kann man das wirk- ropäischen Kultur(einheit) ein Vorteil. Es lich verstehen mit dem indogermanischen bedeutet Beweglichkeit. Man kann etwas

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herausnehmen, hineinstellen. Das kulturelle vor. Dieser Stier freute sich, das Mädchen Europa ist kein festes Haus; es ist noch nicht zu sehen, hielt ihm seine weißen Hörner einmal ein Haus, sondern ein nicht effek- entgegen, sie steckte ihm Rosen auf und tiver und nicht rationalisierter Raum. Er bie- kletterte auf seinen Rücken. Heimlich und tet Kleinem Platz; hier sitzt, wer will, ganz leise bewegte sich nun die Herde Richtung für sich auf seinem Berg oder seinem Deich, Meer; als Eu­ropa das bemerkte, war es zu eigen und eigentümlich. spät. Der Stier stürzte sich in die Fluten, sie rief und winkte, klammerte sich fest. Rasch Am Strand von Sidon schwamm das Tier mit ihr nach Kreta, und nahm dort, bei Zeus, seine göttliche Gestalt I nnerhalb eines derart verstandenen, un- wieder an. Wieder hatte der Herr des Olymp scharfen und immer in Bewegung gehal- seine eifersüchtige Gattin Hera erfolgreich tenen Fiktionsgebildes „Europa“ wird der hintergangen. Er zeugte drei Söhne mit Eu- Begriff „europäische Literatur“ in beson- ropa, dann verheiratete er das orientalische derem Maß fiktiv bleiben. Es kann diese Mädchen mit dem König von Kreta, der die Literatur, anders als die amerikanische oder Kinder adoptierte. chinesische, gar nicht geben. Dort spricht So also: holte sich eine fremde Frau, um bzw. schreibt man eine Sprache. „Europä- sich selbst zu taufen – sich zu begreifen. Der isch“ hingegen heißt, dank der Vielzahl sei- Akt spiegelt, wie wichtig die Sicht der an- ner Sprachen: Unselbstverständlichkeit des deren auf den eigenen Landstrich ist, das Verstehens. Kontinentchen, das auch hier als Subunter- Übersetzung also ist ein europäischer nehmen des großen Ostens erscheint: Aus Kernbegriff. Zeit, sich das vor Augen zu ihm treibt sein Name hervor. führen. Es macht „Europa“ vielleicht schwie- Europas „Übersetzung“ vollzog sich riger, aber auch interessanter, dass der Kern mit List und Gewalt. Aber Stier und Mäd- nicht ein Ding enthält, sondern einen Vor- chen konnten sich offensichtlich verstehen: gang. Bereits der griechische Mythos der Schließlich erklärte er ihr, wer er war. Und Europa handelt davon: er erzählt, recht ge- sie, verheiratet mit dem König Kretas, lernte lesen, eine Übersetzungsgeschichte. Und das dann wohl – Griechisch. gleich dreifach. Da war jemand übers Wasser „gesetzt“, Europa, Tochter des phönizischen Kö- Name und Sprache wurden mitgenommen. nigs, spielte am Strand von Sidon (südlich Im Deutschen kommt dem Wort „Überset- von Beirut am Mittelmeer, heute viertgröß- zung“ noch eine dritte Bedeutung zu, und te Stadt des Libanon), als sie sich von einer auch sie trifft den Kern eines kulturellen Herde Stiere umgeben sah. Hermes trieb Europa, wie ich es mir vorstellen will: Über- die Tiere an, sie waren friedlich, und einer, setzung meint die Verwandlung von Kraft ganz weiß, stach durch seine Schönheit her- in Bewegung. Tatsächlich bedeutet Übersetzen, alle- mal literarisches, einen komplexen Trans- Man sollte Übersetzung als europäischen Kernbegriff begreifen.

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fer, denn selbstverständlich übersetzt man Gedicht mit deutschen, koreanischen, pol- niemals Wort zu Wort oder Geste zu Geste, nischen Wörtern), sprachlichen Rissen (wie sondern bewegt immer den historischen und sage ich „mind“?), historischen Lücken (wie kulturellen, den linguistischen und szienti- das mittelhochdeutsche „aventiure“ ausdrü- fischen Raum einer Sprache, ihre historische cken?) und hybriden Köpfen („handy“). Gebrauchstiefe, ihre Gefühlsvalenzen, ihre Dabei erscheint ein Europa, das alt und besonderen Eigenschaften „mit“: Oft geht neu zugleich ist: Literarische Formen wie das nicht oder kaum. Auch das erzählt be- das Sonett oder der Roman sind europä- reits der Mythos – man muss fürs Über- ische Erfindungen, die die europäischen setzen nicht gerade Zeus sein (manchmal Sprachen und Kultursysteme eroberten. wünscht man es sich aber!), oder ein be- Sie lösten Übersetzungen aus und wurden trügerischer Ehemann, aber etwas List, Be- durch Übersetzungen befördert. trug und Gewalt finden sich immer im Spiel Jeder geschriebene Text tritt in diesen jener Verwandlungen, die Verständigung Raum: Er ist weder deutsch noch englisch bedeuten. etc., weder nur von heute noch von gestern, Europa trägt, dem Namensmythos zufol- weder nur schriftlich fixiert noch allein ge, eine Fremde in sich. Dieser Mythos ist mündlich. Man kann ihn sich als „europä- auch deswegen etwas Besonderes: Er spie- isch bestimmte Schreibfläche“ vorstellen, gelt Europa in seinem Namen als Ort seiner wobei die tatsächliche Schreibfläche, aus der Grenzwertigkeiten. Das ist durchaus wört- ein Text entsteht, immer weiter sein wird. lich zu verstehen: der Grenzen und des ihnen Schon die Wortsprachen sind miteinander zugemessenen Wertes. Auch deswegen sollte über Kontinentgrenzen hinaus verhakt; erst man Übersetzung endlich als europäischen recht die Bild- und Mythenwelten, Comics Kernbegriff begreifen – und schätzen lernen. und Techno, Mode, Microsoft, CNN und Die Unselbstverständlichkeit des Verstehens Rolling Stones. In Bezug auf Europa ist innerhalb des Kontinents setzt Europa noch Bescheidenheit am Platz; es scheint ange- immer in Bewegung. Die Entwicklung der messen, unter „europäisch“ Gewichte und spezifischen, europäischen Schrift- und Ge- Präsenzen, Dominanzen und Fehlstellen zu dächtniskultur, ja -obsession, ist damit aufs verstehen und dabei zu versuchen, sich der engste verbunden. Lücken des eigenen Wissens bewusst zu sein. Im Bereich der Literatur schließen sich Auch dies ist ja „Grenzwertigkeit“. Nationenbezeichnungen zu eigenen Erin- Der Förderung guter Übersetzung nerungs- und Bedeutungseinheiten zusam- kommt eine Schlüsselrolle zu. Literatur ist men: den imaginären Staaten der Sprache, Sprache, sie ist darauf angewiesen, dass in eingetragen auf einer mentalen Karte, in den der Übersetzung durch und mit Sprache ge- Tiefen- und Höhenlinien des Hörens und Lesens. Durchlässige, lückenreiche Gebil- de entstehen: Mischwesen mit vielen Zun- L iterarische Formen wie das So- gen (ein Engländer in Berlin schreibt ein nett oder der Roman sind eu- ropäische Erfindungen, die die europäischen Sprachen und Kul- tursysteme eroberten.

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handelt wird. Nur so lässt sich ein Stück entdeckt. Man kann den Begriff „europä- fremder Wirklichkeit in die Wirklichkeit ische Literatur“ auch in einem zweiten Sinn, eines anderen Teiles von Europa transpor- nämlich inhaltlich, verstehen. Den Brüssel- tieren. bürokratieroman wollen wir uns lieber gar Dies bedeutet, einen Schritt – und gern nicht erst vorstellen; tatsächlich ist Europa auch zwei – vom Buchmarkt zurückzutre- als literarisches Thema selten und fast im- ten. Märkte entwickeln sich nach Profit, mer mit Kriegsthematik verbunden. Dies Größe und Verdrängung. Man wird eingrei- gilt, wenn auch nur in geringem Maß, für fen müssen, fördern und genauer hinsehen, den Roman „Zeno Cosini“, geschrieben von was man sich wirklich unter europäischer dem italienischen Autor Italo Svevo, 1923 Literatur vorstellen will. Deutschland sonnt ver­öffent­l­icht. Beim Lesen dieses Romans sich gern im Glanz des Titels „Übersetzer- hatte ich zum ersten Mal ein starkes Europa- weltmeister“. Aber auch hier wird überwie- gefühl, und natürlich suchte ich nach Grün- gend aus dem Englischen übersetzt, auch den dafür: Da sind zum einen die „Codes“, hier werden Übersetzungen nach Überset- auf die der Roman sich bezieht, etwa Freuds zungen statt nach dem Original angefertigt, Psychoanalyse, ein eminent europäisches auch hier werden Übersetzer immer wieder Produkt. Zum anderen die Themen der Fi- unter Wert und Aufwand bezahlt und über- guren, ihre Ess- und Liebesrituale, ihre Kon- setzte Manuskripte überrasch in die Müh- flikte und Strategien. Ich erkannte Werte len der Buchproduktion gespeist. Nicht als und Lebensklima wieder. Plötzlich war nicht Schriftstellerin, sondern vor allem als Lese- mehr wichtig, dass der Roman in Italien rin wünsche ich mir, dass man gerade in die- spielt; Svevos Erzählen stieß vor zur dicken ser Hinsicht „Europa“ mit Inhalt füllt, die Wamme und zum Grunzen des Ochsens, Übersetzerausbildung fördert, und sich freut das nach Gustave Flaubert, einem anderen an der locker eingerichteten, immer etwas europäischen Schriftsteller, die Lebendig- zugigen Schachtel der Multilingualität und keit eines Romans ausmacht. Da begriff ich: Vielfachidentitäten, die von der Vielzahl der Mein Europagefühl verdankte sich dem Hu- in ihr möglichen Wege lebt. mor des Buches. Das asiatische Lachen ist so anders als meines, das afrikanische kenne ich Keine unschuldige Braut nicht, das amerikanische kenne ich, verstehe es aber selten. Im europäischen Humor hin- E uropa besteht heute aus 48 Staaten gegen macht sich das Alter des Halbkonti- und es ist alles andere als eine unschuldige nents bemerkbar. Zynismus, der milde sein Braut. Fremd zog sie ein – und blieb. Der kann, Sarkasmus, der sich selbst einbezieht, Stier gehört der Börse, sie aber – ein Stück aber nie ganz ernst meint, Slapstick ja, aber „Kultur“(?) – schwenkt die Flagge der Me- als Shakespeare-Komik. Nicht so gaukelig taphorik, Übersetzung und Interpretation. wie Chaplin, oder so nervös wie Woody Al- Die Unselbstverständlichkeit der Verständi- len, gern aber ein Humor wie in Madame gung weiß zu glänzen, hat man sie einmal Bovary, den die meisten erst beim zweiten

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L esen bemerken. Europa ist zerklüftet, glit- menschlusses geben kann. Sprich: ein schig und alt. Es mag notwendig und frucht- Europa der Gemeinsamkeit, dessen bar sein, auch dies noch einmal zu überset- Möglichkeiten über die der Einzel- zen. Europa ist alt, aber nicht unbedingt staaten hinausgehen, auch sichtbar ma- klug, gefüllt nicht so sehr mit Menschen chen. In der Raumfahrt geschieht dies. (man vergleiche so manches asiatische oder südamerikanische Ballungsgebiet) als mit Und was machen wir mit der Literatur? Material: Wissen, Technik, Archiv. Nun, an der Idee soll es nicht mangeln: Wir Für Schriftsteller heißt dies in meinem gründen eine große europäische Bibliothek. Verständnis: benutzen, aktivieren, über Spektakulärer Bau, spektakulärer Bestand. Grenzen greifen. Nur dank Übersetzungen Elektronischer Zugang für alle. Mit ange- ist es möglich, von unserer Unterschied- schlossenem Übersetzernetzwerk, sodass lichkeit sowie der gestaffelten historischen Bücher und Texte wirklich übersetzt wer- Dichte des europäischen Raumes und sei- den, manchmal auch doppelt oder dreifach, ner Sprachen zu profitieren. Dies bedeutet: gewiss, sodass man Dichter in den anderen europäischen Sprachen hören und über ihr • Verstärkung des kollektiven Gedächt- Leben nachlesen kann. Und feiern so die nisses. Zugang zu Texten jeder Art in Grenzwertigkeit des Kontinents. Übersetzungen. • Gute literarische Übersetzungen müs- Ulrike Draesner, Jahrgang 1962, ist Schriftstellerin sen gefördert werden, der Markt pro- und Essayistin. Ihr Werk, das Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays umfasst, wurde mit zahl- duziert sie nicht. reichen Literaturpreisen gewürdigt. Sie erhielt unter • Ausbildung von Übersetzern. Das ist anderem den Hölderlin-Förderpreis (2001) und den dringend notwendig, denn es gibt im- Preis der Literaturhäuser (2002). Jüngst erschienene mer wieder kleine Verlage, die Bücher Bücher: „Berührte Orte“ (München 2008), „Schöne übersetzen lassen würden, aber nie- Frauen lesen“ (München 2007), „Spiele“ (München 2005), „Hot Dogs“ (München 2004). manden finden, der dazu in der Lage ist. Die Folge: Das Buch wird nicht übersetzt, was dazu führt, dass noch weniger Übersetzer sich ausbilden las- sen, weil sie glauben, es gäbe sowieso kein Interesse an ihrer Arbeit etc. • Das Wort „Kultur“ stammt aus dem Agrarbereich; auch Europa stammt daher, der Stier des Mythos zeigt es an, hat den Pflugochsen allerdings weit überholt. Das sollten auch wir endlich tun: Es ist höchste Zeit, dass Europa aus seiner Agrarkindheit herauswächst. • Anwendung des Doppelstrangprin- zips: Think big – and small. Das Kleine, Spezifische ebenso fördern wie große Projekte, die es nur dank des Zusam-

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125 S icherer Weg zum Ruhm Es tut immer gut, vom Scheitern anderer Länder zu hören. Wenn man Tho- mas Bernhard oder liest, denkt man stets mit einem leichten Schaudern, wie schrecklich Österreich doch sein muss. Die EU allerdings ist ein zu amorphes und vielschichtiges Konzept, als dass sich die Leser an einem Unrecht erfreuen würden, das dort geschieht. Niemand schreibt darüber einen Roman. Von Tim Parks

mer vor dem PC, das Programm mit den E-Mails läuft im Hintergrund. Darüber hinaus wird man auch noch von anderen bewundert, die eigene Identität wird be- stätigt und bestärkt. Ob dieser junge Mensch an Europa denkt? Eher unwahrscheinlich. Falls er ein politisches Ziel verfolgt, wird es um ir- gendein großes Unrecht gehen. Der Leser wird mit Mitgefühl auf die Besorgnis des Schriftstellers über die Opfer dieser Welt und ihre Leiden reagieren. Bei aller Kor- ruption und Beschränktheit zählt die Eu- ropäische Union bisher noch nicht zu den as bewegt einen jungen Mann großen Übeltätern, und der junge Schrift- oder eine junge Frau, einen Ro- steller wird somit nicht an sie denken. man zu schreiben? Schlichter Falls es um ein eher persönliches Un- WEhrgeiz? Dämonen, die es auszutreiben gilt? recht geht, wird er sich in seinem regionalen Liebe zur Sprache und zum Geschichtener- Umfeld oder allerhöchstens auf nationaler zählen? Vielleicht der Wunsch, andere ge- Ebene bewegen. Eine junge Frau wurde se- nauso zu verführen, wie man einst selbst xuell belästigt, und ihre Erniedrigung wird von anderen Schriftstellern verführt und von der Polizei und den Gerichten igno- verzaubert wurde. Oder das Gefühl, dass riert. Verständlicherweise führt ihr Weg Schreiben die Interaktion mit der Außen- zum Schreiben: Sie entwirft eine Karikatur welt ermöglicht, sozusagen ohne sich die des britischen Rechtssystems. Ihr Schreiben Hände schmutzig zu machen. Man kann die appelliert an ein übergeordnetes Tribunal höchsten Autoritäten kritisieren und sogar und ermöglicht es der Schriftstellerin, ih- Gott zur Verantwortung ziehen und sitzt ren Schmerz zu Geld zu machen. Oder ein doch immer sicher im eigenen Arbeitszim- junger Mann wurde bei der Stellenvergabe

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an einer Uni zugunsten der Tochter eines zählt. Man wird heutzutage unter den Ver- Professors übergangen. Verständlicherweise legern in Großbritannien nur mit Mühe verurteilt er diesen familiären Nepotismus einen Lektor finden, der an erster, zweiter Italiens, jene Ungerechtigkeit, die seit jeher oder auch nur an dritter Stelle die „litera- in diesem Land herrscht. Und wenn diese rische Leistung“ berücksichtigt – was auch Bücher dann im Ausland erscheinen, wer- immer das genau sein mag. Lektoren, die den sich die Leser freuen, dass Großbritan- so arbeiteten, wurden vor langer Zeit aus nien eigentlich gar kein so zivilisiertes Land ihren Positionen entfernt und arbeiten nun ist und dass Italien korrupt ist wie eh und je. freiberuflich von zu Hause, wo sie nach den Es tut immer gut, vom Scheitern ande- Anweisungen klügerer Menschen mit ei- rer Länder zu hören. Wenn man Thomas ner vernünftigen Ausbildung in Marketing Bernhard oder Elfriede Jelinek liest, denkt und Buchhaltung Manuskripte lesen und man stets mit einem leichten Schaudern, wie lektorieren. schrecklich Österreich doch sein muss. Bei der Lektüre des Mafia-Buchs „Gomorrah“ Kinderzauberer und Verschwörung erfreuen sich Franzosen und Deutsche da- ran, dass Neapel niemals so zivilisiert sein Glücklicherweise gibt es viele Themen, wird wie Marseille oder München. die dieses kommerzielle Potenzial in sich Aber ach, Europa ist letztendlich ein zu tragen – von Kinderzauberern über interna- amorphes und vielschichtiges Konzept, als tionale Verschwörungen, Liebesgeschichten dass die Leser sich an einem Unrecht er- natürlich, Mord, Gewalt und Chaos, die freuen würden, das in der Europäischen Misere ethnischer Minderheiten, bis zu Por- Gemeinschaft geschieht. Niemand wür- nografie und der Schmach der Ungerech- de einen Roman darüber schreiben, welch tigkeit. All diese Themen sind sichere Wege schreckliches Erlebnis er oder sie in Eu­ropa zum Ruhm. hatte. Noch vor Veröffentlichung des Romans Warum erklärt sich der zehnte oder unseres jungen Mannes wird man auf den zwölfte Verleger (sei es auch, nachdem er Verkauf der Rechte ins Ausland drängen. viele „Verbesserungen“ aufgenötigt hat) be- Liegt das daran, dass der Schriftsteller in reit, das Werk jenes jungen Schriftstellers Portugal oder Irland es kaum erwarten oder jener jungen Schriftstellerin zu veröf- kann, in Belgien, Griechenland oder Slowe- fentlichen? Weil es kommerzielles Potenzi- nien gelesen zu werden? Sicher nicht. Sogar al hat. Es werden andere Gründe genannt, wenn der Roman eine faszinierende Dar- aber das ist der einzige Grund, der wirklich stellung der Kultur und Politik eines klei- nen europäischen Landes ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass der Schriftsteller sich Bei der Lektüre des Mafia-Buchs auf einen Austausch mit den Kulturkreisen „Gomorrah“ erfreuen sich Fran- anderer kleiner oder großer europäischer zosen und Deutsche daran, dass Länder freut. Es ist ihm außerdem relativ Neapel niemals so zivilisiert sein wird wie Marseille oder Mün- chen.

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egal, ob sie seine eigene Kultur verstehen. wisse genug über Belgien, um seine Bücher Er hat über seine Kultur geschrieben, weil er zu lesen. Zeitgenössische Romanciers gehen über sie zu seiner Form der Selbstdarstellung klüger vor. Man muss nichts über Norwe- gelangt ist. Nun geht es darum, dass jeder gen wissen, um Per Petterson zu lesen, und sein Buch liest. Der moderne Schriftsteller man wird von ihm nichts über das Land ist weder ein Engländer noch ein Franzose lernen. Gleiches gilt für Gerbrand Bakkers noch ein Deutscher – er ist ein unabhän- Holland. Beide Männer sind ausgezeichnete giges Individuum, zu seinem Leserkreis ge- internationale Schriftsteller. hört jeder. Diese neue Situation hat Auswirkungen auf die Übersetzungen in andere Sprachen, Für ein globales Publikum von denen Milan Kundera in seinem na- hezu rauschhaften neunteiligen Essay Die Übersetzung, für die er sich am „Testaments Betrayed“ schreibt. Übersetzer meisten interessiert, ist die in die englische müssten aufhören, sich den Konventionen Sprache, da sie Leser in Großbritannien, zu beugen, die durch „gutes Französisch, aber auch in den USA, Kanada und Austra- Deutsch oder Italienisch“ vorgegeben wer- lien erschließt und die Wahrnehmung des den. Stattdessen sollte ihre „höchste Auto- Werkes erhöht, was wiederum zu weiteren rität … der persönliche Stil des jeweiligen Übersetzungen führt. Er wendet sich we- Autors sein” (redaktionelle Anmerkung: der an sein Heimatland noch an Europa, Die Zitate Kunderas wurden zum besse- sondern an die Welt. ren Leseverständnis aus dem Englischen Die Tatsache, dass der Schriftsteller übersetzt). nicht für einen nationalen, sondern für ei- Ein die Regeln sprengender Stil in tsche- nen globalen Leserkreis schreibt, ist von ent- chischer Sprache muss ähnlich mit den sti- scheidender Bedeutung. Diese Entwicklung listischen Gegebenheiten der französischen, hat die Rolle der Literatur bereits verändert deutschen, japanischen oder kantonesischen und wird sie künftig weiter formen. Bei- Sprache umgehen. Kundera ist derart fest spielsweise wird ein portugiesischer oder entschlossen, dem internationalen Leser ein griechischer Schriftsteller eher darauf Kundera statt einer spanischen oder itali- bedacht sein, nicht zu detailliert über die enischen Metamorphose zu präsentieren, eigene Kultur und auf gar keinen Fall nur dass dieser intelligente und ausgesprochen für Leser zu schreiben, die Kenner dieser talentierte Mann vergisst, dass ein be- speziellen Kultur sind, da dies seinen inter- stimmter Schreibstil in Beziehung zu der nationalen Leserkreis beschränken würde. Sprache und der Kultur existiert, in dem ein Bei der Lektüre von Hugo Claus, einem Text geschrieben wurde, und nicht isoliert der großen Schriftsteller der Vierziger- und bestehen kann. Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts, er- Dieser Stil kann niemals als absolute staunt die Naivität, mit der der Schriftsteller Entsprechung des Originals nachgebildet annahm, seine internationale Leserschaft werden. Kundera spricht von „seinen Über-

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setzern“ als einer aufgeklärten Gruppe, die mit der man die ganze Welt erreichen kann. seine höchste Autorität akzeptiert hat. Von skandinavischen Schriftstellern Die Identitäten der einzelnen Überset- habe ich erfahren, dass sie bei der Wahl zer werden unter Kunderas Identität subsu- der Namen ihrer Romanfiguren an ihre Le- miert. Eine befremdliche Situation. ser im Ausland denken. Die Leserschaft im Andere Übersetzer schreiben wissen- Inland und die Auswirkungen eines Buches schaftliche Abhandlungen darüber, wie auf nationaler Ebene sind nicht so bedeu- notwendig es für Übersetzer ist, sich ihren tend – jedoch weniger zugunsten Europas Autoren zu „widersetzen“ und sich selbst in als zugunsten der gesamten Welt. Bezie- ihren Übersetzungen Ausdruck zu verlei- hungsweise zugunsten des Schriftstellers hen. Sie sind zu hungrig nach Anerkennung. selbst. All dies bedeutet für Europa, dass jegliche Italienische, spanische und sogar deut- Vorstellung, Schriftsteller könnten einen sche Schriftsteller fordern lautstark, ins „Dialog zwischen den Kulturen“ befördern, Englische übersetzt zu werden, um sich da- recht naiv ist. Möglicherweise existiert ein mit den Weg zum internationalen Ruhm zu ausgeprägter Austausch zwischen verschie- öffnen. Aber natürlich werden die meis­ten denen Kulturen, und ein Buch kann even- Übersetzungen in die jeweils andere Spra- tuell etwas Authentisches mit sich bringen, che in Auftrag gegeben, und Texte vom das der Schriftsteller über seine unmittel- Englischen in die jeweilige Sprache übertra- bare Lebenswelt zum Ausdruck gebracht hat gen. Hier in Italien, wo ich lebe, sind über – oder auch nicht. Aber das ist letztendlich siebzig Prozent der veröffentlichten Bücher nebensächlich. Übersetzungen, und die Mehrzahl dieser Entscheidend für den ambitionierten Publikationen stammt aus dem Englischen. Schriftsteller ist, dass sein Werk überall In Mailand unterrichte ich im Rahmen verfügbar ist. Um dieses Ziel zu erreichen, eines Postgraduate-Studiengangs für Über- ist er gewillt, Inhalt und Stil seines Buches setzungswissenschaften. Alle Studierenden zu verändern. Der britische Schriftsteller müssen zwei Sprachen belegen, und eine japanischer Herkunft Kazuo Ishiguru hat davon ist Englisch. Auch wenn sie Franzö- von der Notwendigkeit einer leicht zu über- sisch, Deutsch oder Spanisch bevorzugen, setzenden englischen Sprache gesprochen, geht man davon aus, dass der Großteil der künftigen Aufträge Übersetzungen aus dem Englischen sein wird. S ogar wenn der Roman eine fas- Dies liegt nicht daran, dass Europa be- zinierende Darstellung der Kultur wundernd nach England blickt, sondern und Politik eines kleinen europä- dass Amerika nach wie vor als Vorreiter der kulturellen Entwicklung in der Welt ischen Landes ist, bedeutet dies gilt. Somit ist Europa nicht nur zu amorph, noch lange nicht, dass der Schrift- um der Ort zu sein, wo sich eine Erzäh- steller sich auf einen Austausch lung entwickelt, sondern seine Bewohnern mit den Kulturkreisen anderer kleiner oder großer europäischer Länder freut.

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nehmen es als überaltert wahr oder finden, das zu sagen, was er sagen möchte – jetzt, dass es nicht die innovative Kraft Amerikas genau in diesem Augenblick, in Glasgow, hat bzw. ebenso kraftvoll seine Interessen in Bonn, in Dijon – und nicht mit Blick auf durchsetzt. die Verkaufszahlen in New York. Es wäre müßig, sich darüber zu ärgern Genau das macht die Europäische Uni- oder dagegen anzugehen. Möglicherweise on so bedeutend. Dies ist die einzige Rolle, ist es sogar ein Vorteil, weil es den Europä- mit der sie sich nach Auffassung der Auto- ern ermöglicht, ihr Leben zu leben und ihre ren befassen soll: für Freiheit zu sorgen. In- Ziele zu verfolgen, ohne unter dem Ram- nerhalb der EU genießen britische, irische, penlicht zu leiden, das auf alles fällt, was italienische und polnische Schriftsteller die aus Amerika kommt. völlige Freiheit der Meinungsäußerung. Sie verfügen über das beruhigende Wissen, dass Aufgeblähte Gedanken es für den jeweiligen nationalen Kultur- kreis sehr schwer sein wird, sie innerhalb der Von entscheidender Bedeutung ist in größeren Gemeinschaft zu verfolgen. Diese diesem Zusammenhang, dass der Schrift- Freiheit ist das größte Geschenk, das jede steller sich möglicherweise nach dem Ruhm Regierung ihren Künstlern machen kann, und Reichtum sehnt, den Übersetzungen und gleichzeitig die stärkste Zurechtwei- und internationale Anerkennung vielleicht sung all jener Länder, die sich anders ver- mit sich bringen. Andererseits ist es wohl halten. das Schlimmste, was ihm als Mensch und Es ist sehr wichtig, zu erkennen, dass ich Schriftsteller passieren kann, diese Ziele zu nicht von wirtschaftlicher Freiheit spreche. erreichen. Nichts wird seine Arbeit mehr Es ist nicht die Aufgabe der Europäischen verwässern, ablenken und verfälschen als Union, zu entscheiden, ob dieser oder jener ein bedeutender internationaler Erfolg und Schriftsteller gefördert werden soll, wäh- die das Ego aufblähenden Gedanken, wenn rend ein anderer sich selbst durchschlagen er zeitgleich in mehreren Ländern veröf- muss. Derartige Entscheidungen werden fentlicht wird. stets politischer oder – noch schlimmer – Es gibt nichts, was einen nationalen persönlicher Natur sein. Um heutzutage die Kulturkreis stärker der wertvollen Beiträ- eigene Meinung, die eigenen Gedichte, Ge- ge seiner Autoren beraubt, als die Verlo- schichten oder sogar Romane zu veröffentli- ckungen weltweiter Berühmtheit. Auch chen, muss man nur einen Blog starten, der wenn Schriftsteller genau wie Afrikas ta- nichts außer Energie und Hingabe kostet. lentierte Fußballspieler nicht unbedingt ins Der Fluss von Information, Kreativität oder Ausland gehen, so sind sie in Gedanken schlichten Worten ist schwindelerregend. doch anderenorts. Währenddessen entwickelt sich der tra- Mehr als der ersehnte Ruhm ist für den ditionelle Buchmarkt immer mehr zu einer Schriftsteller der Freiraum für seine Arbeit Angelegenheit großer Ketten, die eine im- von großer Bedeutung – jene Freiheit, genau Mensch zu sein sollte als Zusammengehörigkeitsgefühl genügen.

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mer stärker abnehmende Zahl mittelmä- jeweiligen nationalen Identität zu leben und ßiger Titel im Programm haben, von denen es nicht durch eine gleichermaßen rausch- man annimmt, dass sie sich gut vermark- hafte kontinentale Identität zu ersetzen, ten lassen. sondern jedem einzelnen Bürger gestattet, Dies führt dazu, dass echte Innovationen eine nationalstaatliche, europäische oder mehr und mehr auf regionaler Ebene statt- ganz individuelle Identität zu leben – ganz finden, immer fragmentarischer sind und nach den jeweiligen Vorlieben. ihre ganz eigene Form der Distribution im Mensch zu sein sollte als Zusammenge- Internet finden, die gleichzeitig regional hörigkeitsgefühl genügen. Was die „Seele“ und global ist. Unter Umständen führt dies betrifft, bin ich immer noch auf der Suche zu einem weniger privilegierten Lebensstil nach dem Wörterbuch, das mir erklären des Schriftstellers, es kann jedoch gleich- kann, was dieses Wort bedeutet, aber falls zeitig sehr befreiend sein, da das höchste so etwas existiert, kann ich mir nicht vor- Anliegen des Schriftstellers ist, jene Leser stellen, dass es sich durch irgendeine kul- anzusprechen, die ihn wirklich verstehen. turelle Strategie antreiben lässt. Das Schreiben, mit dem ich zu diesen Aus dem Englischen von Angelika Welt Betrachtungen eingeladen wurde, stellte die folgenden Fragen: „Kann Kultur eine strategische Rolle übernehmen, um dem Kontinent zu einem noch immer vermissten Gemeinschaftsgefühl zu verhelfen? Kann Kultur Europa gar eine Seele einhauchen? ” Ich empfinde dies als beunruhigend. Menschen haben ein Zusammengehörig- keitsgefühl, wenn sie angegriffen werden oder wenn sie sich in einem größeren Rah- men für eine gemeinsame Sache stark ma- chen. Möge uns all das erspart bleiben. Mö- gen wir uns weiterhin in den Haaren liegen Tim Parks, geboren 1954, hat in Cambridge und und uns gegenseitig misstrauisch beäugen. Harvard studiert. 1981 zog er nach Italien, wo er Mögen wir niemals eine gemeinsame Re- seitdem als Schriftsteller und Übersetzer lebt. Er hat elf Romane geschrieben, darunter „Europa“ ligion in unserer Verfassung festschreiben. (1997), „Stille“(2006) und „Träume von Flüssen und Mögen wir niemals eine gemeinsame „Ver- Meeren“ (2008). Zu seinen zahlreichen Überset- teidigungspolitik“ haben. Mögen wir nie- zungen aus dem Italienischen gehören Werke mals Europa als ein „Bollwerk“ oder einen von Alberto Moravia und Italo Calvino. Unter „Machtblock“ sehen. dem Titel „Translating Style“ hat er ein Buch he- rausgegeben, in dem italienische Übersetzungen Die Genialität der EU macht genau jener der englischen Modernisten analysiert werden. Er Spielraum innerhalb der Organisation aus, erhielt zahlreiche Literaturpreise, u.a. den Somer- der es jedem Land erlaubt, das Delirium der set Maugham Award.

131 132 133 I ch glaube nicht an Europa, ich glaube an die Kultur Die Lyrik wird untergehen wie der Begriff des alten Eu- ropa, prophezeit der litauische Autor Sigitas Parulskis. Ist Europa nur noch ein poetischer Topos, eine Meta- pher, die ihre Bedeutung längst verloren hat und nun dem Vergessen anheimfällt? Von Sigitas Parulskis

habe meinen Wehrdienst ausgerechnet in Deutschland abgeleistet). Wenn ein Mensch längere Zeit im Gefängnis, im Exil oder in Einsamkeit zubringt, dann tut sich immer eine Kluft auf – ein Riss, der sich bis zum Ende des Lebens oft nicht mehr schließen lässt. Das ist ein Drama. In sozialer wie auch existenzieller Hinsicht. Eine Kluft, die dem Menschen das Gefühl für das Hier und Jetzt nimmt. Ganz ähnlich kann es auch einem ganzen Volk ergehen, z.B. meinem – den Litauern. Bis in die Gegenwart ist bei uns in Alltag und Bildung, in Wirtschaft und ein Notebook zeigt die falsche Politik sowie zweifellos auch in der Kultur Uhrzeit an – sie unterscheidet diese Zeitdifferenz von einer Stunde deut- sich um eine ganze Stunde von lich zu spüren. Mder litauischen Zeit. Ich habe im Frühjahr Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass letzten Jahres zwei Monate in Berlin ge- Litauen schon seit der Christianisierung, wohnt, und mein Computer hat noch im- also seit 1387, der europäischen Kultur an- mer die deutsche Zeit im Gedächtnis. Für gehört, sie pflegt und sich aus ihr speist. Das mich ist dieser Abstand von einer Stunde ist im Großen und Ganzen auch wahr, aber symbolisch und vieldeutig. In meinem Ro- komplizierte historische Umstände haben man „Drei Sekunden Himmel“ habe ich unser kleines Land immer wieder in völlige auch eine Zeitdifferenz beschrieben – eine Vergessenheit, an den Rand oder sogar ins Lücke von drei Sekunden im Leben und im Jenseits der europäischen Politik und Kul- Bewusstsein eines Menschen, der zwei Jahre tur verstoßen. in der sowjetischen Armee gedient hat (eine Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde un- weitere zufällige Entsprechung: Ich selbst ser Volk fünfzig Jahre lang furchtbar ver-

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letzt und gequält, und deshalb hat sich auch denen Ausdrucksformen (wie beispielsweise unsere Kultur in einem Zustand befunden, der Architektur) eine Alternative. Aber es ist den man durchaus als fortwährend schizo- ja nichts anderes als die Kultur, die es mir phren bezeichnen kann. Eigentlich waren es gestattet, mit anderen Menschen zu kom- nämlich zwei Kulturen: die sowjetische, das munizieren. Ich fahre nicht ins Ausland, heißt, die russische, uns von außen aufge- um dort etwas zu kaufen oder zu verkau- zwungene, fremde Kultur der Besatzungs- fen, und auch nicht, weil ich etwa auf der macht und unsere eigene litauische Kul- Suche nach einer Frau oder einer Religion tur. Europäer zu sein hat für die Litauer in wäre – ich reise wegen der Kultur: um sie zu Vergangenheit und Gegenwart fast immer teilen, sie zu finden, mit ihr zu leben und so bedeutet, aufholen zu müssen, ein fortge- weiter. Über ihren Sinn und Unsinn kann setztes Bemühen, diese verdammte Lücke ich mich nicht äußern, weil sie der Boden zu schließen, die verfluchte Kluft zu über- ist, auf dem ich meine Häuser baue, den Pa- winden und ein adäquates Gefühl für die last meines Daseins, meine Welt. Die Frage europäische Zeit, für europäische Traditi- nach der Kultur gleicht für mich der Frage, onen und Werte zu entwickeln. ob es für den Menschen sinnvoll sei, einen Ich kann mit der Frage nach der Rolle Kopf zu haben. Joseph Guillotin würde mir der Kultur in Europa nichts anfangen, sie sicher mit fröhlichem Gelächter zustimmen. löst bei mir Verwirrung aus. Meiner Ansicht Ossip Mandelstam, einer der interes- nach ist die Kultur ohnehin das einzig Be- santesten russischen Lyriker, hat den Ak- deutsame im Leben des Menschen. Wenn meismus als „Sehnsucht nach Weltkultur“ man sie als Gegenteil der Natur versteht, definiert. In Litauen war diese Auffassung als Gesamtheit aller vom Menschen ge- immer verbreitet, und die Künstler haben schaffenen materiellen und geistigen Wer- die Sehnsucht nach Welt- oder europäischer te, dann ist alles, dann sind selbst Waffen Kultur ganz besonders empfunden, weil sie und idiotische, aggressive, Millionen von bei uns in Quantität und Qualität nur sehr Menschenleben zerstörende Ideologien Pro- spärlich vorhanden war. Der Eiserne Vor- dukte der Kultur. Es heißt ja schließlich hang war für uns nicht bloß eine bequeme nicht ohne Grund, dass der Krieg ein Mo- politische Metapher, sondern er war die ab- tor des Fortschritts sei. Und Kultur und stoßende Wirklichkeit. Nur vom Politbüro Fortschritt sind, wie zum Beispiel Albert in Moskau, von der Zensur, vom KGB zu- Schweitzer meinte, fast ein und dasselbe. gelassene Werke konnten den Eisernen Vor- Ich wüsste nicht, wie ich den Begriff hang passieren. Viele Bücher aus dem Aus- Kultur noch weiter eingrenzen könnte. Viel- land wurden bei uns vornehmlich aufgrund leicht wäre die Kunst mit ihren verschie- ihres ursprünglichen Erscheinungsjahres übersetzt, das möglichst vor 1972 liegen sollte. In der Sowjetunion war nämlich das Wir trösten uns mit dem Gedan- Urheberrecht von vor 1972 im Ausland pu- ken, dass Litauen schon seit der blizierten Werken auf nur 15 Jahre begrenzt, Christianisierung, also seit 1387, der europäischen Kultur ange- hört.

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für später erschienene Bücher lag die Frist sen, die sich über die ganze Erde ausgebrei- bei 25 Jahren. Erst seit 1996, als Litauen tet haben; typisch sind eine helle Haut in die Berner Übereinkunft ratifiziert hat, gilt verschiedenen Schattierungen, glattes oder ein Urheberrecht von 70 Jahren. Doch ich gewelltes, weiches Haar, ein üppiger Bart, habe sowieso starke Zweifel daran, dass die starke Körperbehaarung, ein schmales Ge- Sowjets überhaupt irgendwelche Anstands- sicht, eine schmale Nase mit geraden, eher regeln eingehalten haben. senkrechten Nasenflügeln, eine hohe Na- Dafür nur ein kleines Beispiel: Ich habe senwurzel und schmale Lippen.“ den Roman „White Tiger“ von Aravind Adi- ga gleich, nachdem er mit dem Booker Pri- Athrophie des Denkvermögens ze ausgezeichnet worden war, im Original gelesen. Noch vor zwanzig Jahren wäre das E iner heutigen Betrachtung der europä- undenkbar gewesen. ischen Bevölkerung kann diese Definition Andererseits muss ich trotz derart trau- wohl kaum noch standhalten. Doch was riger, von Selbstmitleid erfüllter Erörte- sollte dieses unglückliche Europa oder seine rungen dennoch sagen: Ich glaube nicht Kultur denn sonst sein als seine Bewohner, an Europa. Ich glaube, dass es eine europä- die Menschen? Immer mehr dienen wir De- ische Kultur als eigenständiges Phänomen finitionen und Termini, Projekten und Visi- mit spezifischen Regeln sowie konkreten onen und vergessen dabei das Elementarste: Objekten und Subjekten überhaupt nicht diese Abstraktionen sind nur Hilfsmittel, gibt. Die europäische Kultur ist ein von Bü- die uns eigentlich helfen sollen zu leben, rokraten und Politikern erfundener Termi- zu kommunizieren und einander nicht um- nus. Die europäische Kultur setzt sich aus zubringen. Europa, Politik und sogar Gott einer Vielzahl nationaler Kulturen zusam- sind ja nichts anderes als solche Hilfsmittel, men, die auf längere Sicht zweifellos ihre die es dem Menschen ermöglichen sollen, eigenständigen Züge verlieren und immer die furchtbare Einsamkeit auf Erden und kosmopolitischer werden. sein tragikomisches Schicksal zu ertragen. Früher hat sich die europäische Kultur Ich glaube nicht, dass Schriftsteller ir- auf die antike Zivilisation gegründet und gendetwas grundlegend verändern kön- mit christlichen Werten vermischt, mit ent- nen, weil niemand auf ihre Stimme hört. sprechenden Traditionen, Symbolen, Sujets Und das ist wahrscheinlich auch gut so. usw. Aber ich wüsste wirklich nicht, wie Ein echter Schriftsteller erschafft immer sie sich heute noch definieren ließe, da in eine unwirkliche, also eine ideale Welt, in der Europäischen Union zunehmend auch der echte Menschen niemals leben könnten. andere Religionen, Kulturen und Tradi- Natürlich, unter besonderen histo- tionen Einzug halten. Ein älteres Fremd- rischen Umständen artikulieren Schriftstel- wörterbuch hielt noch folgende Definition ler in einem gewissen Sinne den Willen der bereit: „Europiden, die weiße (eurasische) Gesellschaft, in der sie leben. Im sowjetisch Rasse – eine der drei Primär- oder Großras- besetzten Litauen haben die Menschen von

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ihnen immer Worte der Wahrheit erwartet. mehr Menschen lesen keine Bücher mehr, Die 1987/88 entstandene litauische Reform- und das führt zu einer um sich greifenden und Nationalbewegung Sąjūdis hat gezeigt, Atrophie des Denkvermögens. Ich betrachte dass die Autorität von Schriftstellern sehr die Kultur durch das Fenster der Litera- groß sein kann, wenn die Menschen schöne tur, das heißt, mein Zugangscode für die Rhetorik, scharfe Worte, starke Vergleiche Welt der Kultur ist das Wort. Aus diesem oder erschütternde Bilder brauchen. Doch Grund stimme ich zu, der die Poesie der Demonstrationen und Barri- einmal gesagt hat, ein belesener Menschen kaden verblasste sehr schnell, als die Zeit ge- ließe sich schwerer betrügen. Ein belesener kommen war, Litauens Geschicke tatsäch- Mensch lässt sich schwerer manipulieren, lich in die Hand zu nehmen. Als Politiker, was Politiker und Wirtschaftsleute aus Geschäftsleute und Banker die Initiative purem Egoismus ständig versuchen. ergriffen, spielten die Schriftsteller bald kei- In den zurückliegenden Jahren bin ich ne Rolle mehr. Ich glaube nicht, dass ihr ziemlich viel durch Europa gereist. Ich war Einfluss in Ländern mit längerer demokra- im Norden, beispielsweise im norwegischen tischer Tradition ein anderer ist. Kunst und Trondheim, und der südlichste Punkt Eu- Politik sollten nicht vermischt werden, es ropas, den ich besucht habe, war das grie- sind Dinge verschiedener Herkunft. chische Rhodos. Ich war in Polen, Italien, Die Kultur fördert unsere Menschlich- Slowenien, Deutschland, Frankreich und keit, das heißt Sensibilität, Mitgefühl und Israel. Meine Bücher sind in acht europä- Hingabe für den Anderen – für einen, der ische Sprachen übersetzt. Und doch könnte schwächer, verletzlicher oder auch einfach ich nicht sagen, was dieses Europa eigent- nur von uns verschieden und trotzdem ein lich ist. Oft empfinde ich den Wunsch, in Mensch ist, genau wie wir, nur eben ein Anlehnung an einen Ausspruch von Lud- anderer. Die Popkultur allerdings hat sich wig XIV. zu sagen: Europa – das bin ich. allein der Unterhaltung verschrieben, und Denn wenn ich mich nicht als Europäer das ist grundsätzlich nicht schlecht. Aber bezeichnen könnte, wer dann? Was müsste leider, so der Brite John Fowles (ein Schrift- dieser Mensch für eine Bildung haben, wel- steller, den ich sehr mag), ist die Übermacht che Herkunft, welche Ansichten? der Unterhaltungskultur inzwischen so ge- Von meinen Reisen durch Europa kehre waltig, dass die ernsthafte Kultur gegen sie ich fast immer mit demselben sonderbaren gar nicht mehr ankommen kann. Das be- und wohl auch etwas zwiespältigen Gefühl schränkt die Möglichkeiten der Menschen, zurück: Wenn sich aus einem Produkt von sich jener Handvoll schlauer, gebildeter Zy- Kultur oder Kunst keine gut verkäufliche niker zu widersetzen, die sich als Politiker Ware machen lässt, dann macht das Werk und Geschäftsleute bezeichnen. Immer immer einen etwas seltsamen Eindruck. Und auch Kulturveranstaltungen, an de- nen keine „Stars“ teilnehmen, Veranstal- A ls Politiker, Geschäftsleute und tungen, die als „klein“, „intim“ oder ähnlich Banker die Initiative ergriffen, spielten die Schriftsteller bald kei- ne Rolle mehr.

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bezeichnet werden, wirken nicht wirklich über sie zu sagen oder auch nur einfach so lebendig. Sie richten sich nur an einen en- zu tun, als existierten sie überhaupt nicht. gen Zuhörerkreis und erscheinen ein wenig Ich denke, genau darin besteht der Sinn altmodisch, unmotiviert und träge. Kunst kultureller Verbindungen – im Erspüren muss gut verkauft werden, sie muss vielen des Innenlebens deines Nächsten. Im Be- Menschen gefallen, denn wenn sie nur den greifen, dass es dem sehr ähnlich ist, was Geschmack einer kleinen Gruppe trifft, ist du selbst fühlst, wofür du lebst und dich sie zum Untergang verurteilt. Das ist ele- quälst, was du bedauerst und worüber du mentare, erbarmungslose Marktwirtschaft. dich freust. Dein Nächster ist ein Spiegel- Wenn ich auf irgendeinem Festival eine bild deiner selbst, und es spielt keine Rolle, Handvoll Lyriker sehe, die sich gegenseitig wo er lebt – tausend Kilometer entfernt oder ihre Gedichte vortragen, weil schrecklich unmittelbar neben dir. Dazu sind wir ohne wenig Publikum erschienen ist, überkommt Europa (was das um Himmels willen auch mich fast so etwas wie Widerwillen: Was sein mag!) in der Lage, aber ohne Kultur, soll das alles? Wozu Lyrik, für die sich nur ohne Kunst – nicht. Verfasser und Herausgeber interessieren? Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig Das ist ein ungutes Gefühl. Sollte man viel- leicht in dieser Handvoll Lyriker so etwas Sigitas Parulskis, Jahrgang 1965, lebt in Vil- wie die kleine Sekte der ersten Christen er- nius. Für seinen 1990 erschienenen ersten Ge- dichtband erhielt er 1991 den Zigmas-Gėlė-Preis blicken? Apostel, die in der Zukunft ihre für das beste Lyrikdebüt des Jahres. Sein erster gute Nachricht unter den Massen verbreiten Roman, „Drei Sekunden Himmel“, in dem er sei- werden? Nein. So wird es nicht kommen. ne Erfahrungen als Angehöriger einer sowje- Die Lyrik wird untergehen wie der Begriff tischen Fallschirmjägerdivision in der Nähe von des alten Europa. Jawohl, vielleicht habe Cottbus verarbeitet hat, wurde vom litauischen Schriftstellerverband als das beste Buch des ich jetzt endlich einen passenden Vergleich Jahres 2002 ausgezeichnet. Im Jahr 2004 bekam gefunden: Der Begriff „Europa“ ist wahr- er für sein bisheriges Schaffen den Nationalpreis scheinlich nur noch ein poetischer Topos, der Republik Litauen zuerkannt. Seine Werke eine Metapher, die eigentlich schon fast ihre wurden bisher in elf Sprachen übersetzt. „Drei althergebrachte Bedeutung verloren hat und Sekunden Himmel“ wird derzeit verfilmt. nun dem Vergessen anheimfällt.

P.S. Aber später, nach der Heimkehr von meinen Reisen – meist nicht sofort, son- dern einen Monat oder auch erst ein Jahr danach – erinnere ich mich oft plötzlich an irgendeine Kleinigkeit, an eine Geschichte, die mir jemand erzählt hat, oder ein De- tail einer Landschaft, und ich fühle mich menschlicher. Wenn ich weiß, wie die Leute in dem einen oder anderen Land leben, fällt es mir schwerer, für sie Verachtung oder Neid zu empfinden, irgendetwas Schlechtes

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139 Der gärende Bauch des alten Kontinents Ist Europa nur ein Finanz- und Wirtschaftsorganismus ohne jeg- liche Seele? Die gewachsene EU wird nicht bestehen können, wenn sie sich auf die ökonomische Dimension beschränkt. Dem Kontinent, der sich über Jahrhun- derte in Konflikten feindlicher Reiche zerfleischt hat, eröffnen sich unwiederbringliche Möglichkeiten. Was kann die Kultur leisten? Von Antonio Moresco

wanderungen. Mit kulturellen Identitäten und unterschiedlichen Glaubensgemein- schaften, die sich gegenüberstehen oder überlappen. Mit Unsicherheiten, Ängsten, Antagonismen. Auch solchen, die künst- lich aufgebauscht werden von Leuten, die ihre Macht daraus schöpfen, getrennte po- litische und religiöse Identitäten aufrechtzu- erhalten und Konflikte zu schüren. Es ist ein ewiges Vorstürmen und wieder Ausbrem- sen politischer und religiöser Mächte, ein Kreislauf aus Dynamik und Restauration, Gier und fehlendem Mut, Unterordnung, Korruption, Egoismus und Wirtschaftsmo- as kocht da im Bauch von Euro- nopolen. Ein Kampf auch von kriminellen pa? Welche Veränderungen voll- Strukturen, welche integrativer Bestand- ziehen sich in diesen Jahren im teil der europäischen wie der weltweiten VerdauungstraktW unseres Kontinents? Denn Wirtschaft geworden sind. Eine ständige auch das muss uns interessieren, nicht nur, Erosion der demokratischen Mechanis- was in Europas Kopf vor sich geht, sondern men. Ein gezinktes Spiel, beeinflusst von auch, was im Bauch abläuft. Man kann den wirtschaftlicher Macht und Medienein- Eindruck haben, dass sich etwas Ungeheures fluss, von Demagogie und Populismus. vor unseren Augen ereignet, etwas Unerwar- Eine Umprogrammierung der Köpfe und tetes, das noch nicht voll zutage getreten ist, der individuellen Wahrnehmungsfähigkeit, noch keine eindeutige Gestalt angenommen die dazu führt, dass inmitten des riesigen hat. So vieles, so viele Dinge – im Guten wie Informationsüberflusses die Fähigkeit ab- im Schlechten – kochen derzeit im Bauch handenkommt, zu beurteilen, was wirklich von Europa, dass man nicht voraussehen geschieht, und zu entscheiden. kann, wie unser Kontinent sein wird, ich Doch wir sehen auch neue Ordnungen sage nicht, in hundert Jahren, nein, nicht entstehen, neue Strukturen, Bindungen und einmal in zwanzig. Synergien. Eine einheitliche Währung. Im- Wir haben es mit gehörigen geopoli- mer neue Länder, die hereindrängen in die tischen Veränderungen zu tun. Mit Völker- Gemeinschaft. Neue, große, unwieder-

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bringliche Möglichkeiten, die sich diesem überhitzten und erschöpften Planeten be- Kontinent eröffnen, der sich über Jahrhun- wohnen, bedarf es wohl ganz anderer Pro- derte, Jahrtausende in Bruderkriegen, in jektionen und viel weiterer Horizonte. Alles Konflikten feindlicher Reiche zerfleischt muss neu überdacht und neu erfunden wer- hat. Der bis gestern zweigeteilt war, gefan- den und zwar auf dynamische Weise und im gen in zwei sich gegenüberstehenden Blö- Verhältnis zur europäischen sowie zur glo- cken. Länder, die einstmals den Kontinent balen Situation, in der wir leben. Enorme beherrschten und Kolonialmächte waren, schlafende Energien müssen befreit werden, müssen jetzt lernen, zusammenzuleben, die – vielleicht – noch gefangen sind im In- und hinzu kommt nun die ganze facetten- nern Europas. reiche, dramatische und kreative Welt Ost- europas, die in diesen gemeinsamen Raum Fraktal und Floß entscheidend einbricht mit ihrer mensch- lichen Kraft, ihrer Intelligenz und ihren E uropa ist keine Insel. Es ist geogra- Ansprüchen. fisch verbunden mit dem riesigen asia- Was wird wohl entstehen aus dieser tischen Kontinent, und es ist bloß einer der ganzen Dynamik entgegengesetzter Kräf- kleinsten von insgesamt sechs Erdteilen, die te? All dieses Gedränge und diese ganzen weiße Antarktis miteinbezogen. Es ist der Hoffnungen werden sich sicherlich nicht zu- einzige Kontinent, der sich vollständig in sammenhalten lassen, indem man lediglich der nördlichen Hemisphäre des Planeten den Bodensatz der alten Ideologien und der befindet. Europa ist wie ein riesiges Vorge- guten Vorsätze abkratzt, der nationalen wie birge, ein Fraktal. Dieses Floß erreichten vor der ethnischen und religiösen Identitäten. vierzigtausend Jahren die ersten Menschen, Oder indem man sich auf die ökonomische die aus Afrika und aus Westasien kamen, Dimension beschränkt und den ganzen kurz vor dem plötzlichen Verschwinden des Kontinent in einen einzigen Finanz- und Neandertalers. Seitdem hat der Kontinent Wirtschaftsorganismus verwandelt, der je- über Jahrhunderte, Jahrtausende gewalttä- doch keine Nerven besitzt, blutleer ist sowie tige Zerreißungen erlebt, Völkermorde und ohne eine Seele und dazu bestimmt, sich Kriege. Nationen entstanden, ganze Völker in kurzer Zeit aufzulösen, zu explodieren. massakrierten sich gegenseitig. Dynastische Um das Wunder einer anderen Welt, eines Strukturen bildeten sich, wirtschaftliche neuen Traums für die Frauen und Männer und politische Revolutionen vollzogen sich, zu vollbringen, die unseren kleinen Konti- neue Gesellschaftsklassen entstanden mit nent auf diesem kleinen, überbevölkerten, ihren Ideologien, die sich jeweils als univer- selle und finale Wahrheiten darstellten. In dem gerade abgelaufenen Jahrhundert sind E s findet eine Umprogrammie- hier zwei Weltkriege gekämpft worden mit rung der Köpfe statt; inmitten des ihren Exzessen an Grausamkeit und Wahn, riesigen Informationsüberflusses den ungeheueren Zerstörungen, den Met- kommt die Fähigkeit abhanden, zeleien, dem Holocaust. So wie das antike Griechenland mit sei- zu beurteilen, was wirklich ge- nen tausend Inseln im Ägäischen Meer ein schieht. Schmelztiegel aus Völkern, Kulturen und

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Reichen war, so stellte auch Europa einen Nun existiert der Embryo dieses Schmelztiegel aus Völkern, aus Nationen, alten und neuen politischen aus Sprachen und Kulturen sowie aus klei- nen und großen Reichen dar. Ich selbst, Kontinents, entstanden aus dem als Italiener, aber mit einem Nachnamen, prophetischen Traum einiger der auf spanische und zuallererst jüdische Europäer in den Ruinen der Vier- Ursprünge verweist, trage eingeprägt in zigerjahre. meinem Namen die Geschichte von Völker- wanderung und Verfolgung, von Diaspora, Freiheits- und Überlebenskampf. neuen Weg einzuschlagen, von größerem Nun endlich existiert der Embryo dieses Zuschnitt und in einer globalen Perspektive. alten und neuen politischen Kontinents, Wir sind Teil eines Experiments, das entstanden aus dem prophetischen Traum noch nie zuvor auf unserem Kontinent ver- einiger Europäer inmitten der Ruinen im sucht wurde. Ein dynamisches Aggregat, Europa der Vierzigerjahre. Sie wussten vo- das nicht durch die Auflösung der Gren- rauszuschauen, manchmal sogar, wie die zen eines Staates und die Annexion immer zu den Gründervätern der EU zählenden neuer Völker seitens aggressiverer und stär- Altiero Spinelli und Ernesto Rossi, in der kerer Staaten erfolgt, sondern im allseitigen Finsternis eines Gefängnisses, und hatten Einvernehmen. eine Vision für die Zukunft Europas. „Die Es könnte eine vorbildhafte und bahn- Jahre auf jener Insel“, erinnert sich Spinelli brechende Wirkung entfalten. Völker, lange Zeit später im Gedenken an die In- Volksstämme, Völkergruppen unterschied- sel Ventotene, wo er gemeinsam mit Rossi licher Herkunft, die in seinem Innern leben, während des Faschismus eingekerkert war, aber teils aus Ländern kommen, die in den „sind noch immer gegenwärtig in mir mit vergangenen Jahrhunderten auf das Härteste der Fülle, welche nur die Augenblicke und kolonisiert wurden, Nationen, die sich im Orte erlangen, in denen sich dieses myste- Laufe der Zeit bekämpft haben, sind jetzt riöse Geschehen vollzieht, das die Christen ineinander verschlungen in einer geopoli- das Auserwähltsein nennen. Ich begriff, dass tischen Situation von epochaler und gänz- ich bis zu jenem Moment gleich einem Fötus lich neuer Art, was für sie die letzte Umar- im Entstehen war, in Erwartung geboren mung zwischen angeschlagenen Boxern sein zu werden, und dass ich in jenen Jahren, an kann, die nicht mehr fähig sind, aufeinan- jenem Ort ein zweites Mal zur Welt kam.“ der einzuschlagen, oder eben ein Aufbruch. Damals war es überlebenswichtig, die Zur gleichen Zeit gibt es immer neue He- selbstmörderische Pattsituation der Ideo- rausforderungen und Bedrohungen: Große logien, in die wir uns verrannt hatten, der Reiche entstehen erstmals oder wieder im Kräfte und Mächte, die uns in diesen Krieg Orient, und andere befinden sich vielleicht geführt hatten, zu überwinden und einen im Niedergang auf Grund ihrer Blindheit Ausweg zu finden in einen größeren Raum, und Gier, weil sie die uralte Lektion von zu einem weiteren europäischen Horizont der Kröte nicht gelernt haben, die so groß hin. Heute gilt es für ganz Europa – so wie wie die Sonne werden wollte und fraß bis damals für die einzelnen europäischen Na- sie platzte. Da ist es von wesentlicher Be- tionen –, sich neu zu erfinden und einen deutung, dass dieses Experiment gelingt.

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Europa kann eine neue Rolle spielen im glo- Was wird geschehen, wenn diese noch balen Kontext. recht fragilen Strukturen Europas unter den Gerade zumal im Augenblick der Be- Druck der Migration großer Menschenmas- schleunigung die alten Geister wieder er- sen geraten, die ohne Perspektive stranden scheinen und der Bauch Europas wie der aufgrund der Veränderungen in Klima und Welt immer bereit ist, die alten Wahnbilder Umwelt und der wachsenden Ressourcen- wieder hervorzuholen und neue entstehen knappheit? zu lassen: Unsere Verantwortung ist riesig. Es ist der Moment gekommen, wo all die­ Europa ist zurzeit ein Nadelöhr, ein unend- se Identitäten, Eigenheiten und Reichtümer lich kleines, ein Durchgang, den man er- sich selbst übertreffen müssen in einer grö- weitern muss, nicht nur für uns, auch für ßeren Identität, die keine gleichmacherische den Rest der Welt. Es genügt nicht, sich Verniedlichung sein kann, sondern eine Ver- den gefährlichen Ideen, die auf ewig wie- vielfältigung der Kräfte. Davon wird die dergeboren werden in Europa und in der Zukunft nicht allein Europas, sondern der Welt, entgegenzustellen. Quasi in einer spie- ganzen Welt abhängen. gelbildlichen Haltung, die diese Ideen bloß Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren. Es endlos fortleben lässt. Wir müssen uns neue müssen die ersten Embryonen geschaffen und bessere ausdenken. Dieses Europa, das werden von kontinentalen und globalen bereits am eigenen Leib die Erfahrung des Strukturen, wie sie so vorher nicht exis­ Scheiterns der alten Wege gemacht hat, kann tierten, entsprechend dem, was wirklich nun der Bauch sein, in dessen Innern sich um uns herum geschieht. jene neuen bilden. Neulich las ich in der Zeitung eine Mel- dung, die mich beeindruckte. In der Nähe Stranden ohne Perspektive von Mantua, meiner Geburtstadt, haben Ar- chäologen ein Paar eng umschlungener Ske- Man muss schon den Blickwinkel än- lette aus der Jungsteinzeit gefunden. Die bei- dern, um diesen Durchgang und dieses Na- den sind mit ziemlicher Sicherheit ein Mann delöhr sehen zu können, dieses Etwas, wie und eine Frau. Sie haben die Beine beide eine Projektion, das uns einen Sinn gibt für angezogen und ineinander verschlungen, dieses Babel aus Sprachen, Völkern, Identi- sie umarmen einander Schultern und Hals, täten. Man muss den Fokus verschieben, den und ihre Köpfe sind einander angenähert Horizont erweitern unter diesen Gruppen wie zu einem Kuss. Beide müssen sehr jung von Personen, die sich hier an das Floß dieses gewesen sein, ein Junge und ein Mädchen – Kontinents klammern, der auf der flüssigen das kann man aus dem vollständigen Gebiss Masse eines kleinen Planeten schwimmt, schließen – miteinander beerdigt in einer welcher vor über vier Milliarden Jahren ent- zärtlichen Umarmung, die seit sechstausend standen ist im Wanst des Kosmos, und des- Jahren andauert. sen bevorstehender Kollaps in einem Jahr- Eine europäische Umarmung, die zeit- hundert von bedeutenden Wissenschaftlern lich von sehr weit her kommt. Viel älter als vorhergesehen wird, wenn diese gierige und das Mittelalter, Rom, Byzanz und Karl der wahnsinnige Lebensform nicht sich selbst Große, die mutigen nordischen Völker, Wi- zur Diskussion zu stellen und den Kurs zu kinger und Normannen, Slawen, Kelten, ändern vermag. Völker des Islams. Sie kommen direkt aus

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einer Zeit, die wir mit Arroganz „Vor- und ne Diener des Zeitgeists und der Ideen, die Frühgeschichte“ nennen. Die Frauen und sich jeweils als gewinnträchtig erweisen. Sie die Männer Europas haben zu leiden und sind keine Unterhalter und Bediensteten, zu träumen begonnen, lange bevor sich die nur dazu da, uns für die kurze Zeit abzulen- ersten Reiche bildeten, wie wir sie aus den ken, die uns von unserem Tod trennt, oder Geschichtsbüchern kennen. höchstens harmlose erbauliche Gestalten. Wer werden die beiden wohl gewesen Sie sind es nie gewesen, auch nicht zu den sein? Und welches ist der Grund für dieses Zeiten, als alle Räume zu eng wurden und eigenartige Begräbnis? Ein Liebesakt oder das Wort als unterirdisches Terrain einzig ein gewaltsamer Tod? Ein Menschenop- unkontrollierbar, unbeugsam und wider- fer, ein überraschtes Paar – wie Paolo und sprechend blieb, die einzige Stimmung, der Francesca aus der Frühgeschichte? Oder sind einzige Durchgang, das einzige Nadelöhr, es Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Eu- wo später viele durchgingen. gen Onegin und Tatjana, der Meister und Die Schriftsteller, die Künstler, sind Margarita? Wer sollen sie denn nach un- Zerstörer und Erbauer, Kundschafter und serem Verständnis gewesen sein? Die Ge- Denker, Beunruhiger, Vorwegnehmer und schichte ist explodiert. Aus den Liebenden Träumer. Daher will ich hier noch etwas von Mantua sind die Liebenden Europas über Europas Schriftsteller und seine Künst- geworden. Wir alle entstammen dieser Um- ler anmerken, seine Denker und seine Wis- armung. Es ist an uns zu sagen, wer jene senschaftler und ihre Erscheinungen und beiden sind und wer wir in naher Zukunft Erfindungen. sein werden. An diesem Punkt will ich mir vorstellen, Als Autor weiß ich wohl, wie die elemen- wie mitten in der Nacht, wenn sie niemand tare Kraft des geschriebenen Wortes, die sieht, all diese Figuren sich auf den Stra- Tätowierung der Worte auf dem Papier, sein ßen dieses nördlichen Kontinents treffen, Atem und seine Macht in unserer Zeit ent- der versucht, geboren und wiedergeboren würdigt wurden. Für mich bedeutet Lite- zu werden. Zuerst bewegen sie sich in Ru- ratur allerdings nicht diese kleine mickrige deln. Es sind viele, ein Strom von Frauen Sache, entstanden durch riesige Maschinen, und Männern, der in der Nacht dahinzieht. die sich vor einem beschränkten Horizont Meine Güte, wie viele es sind! Es gelingt mir, bewegen in einem Zeitraum von kurzat- hier und dort jemanden zu erkennen: den miger Dauer, wo alles nivelliert und ent- blinden Dichter, der in den genetischen Kes- kräftet wird, keine Spannung mehr herrscht, sel des Lebens in Zeiten des Krieges geschaut nichts, was Unruhe, Kontrollverlust, Ge- hat und von der Menschheit ohne Frieden, danken hervorrufen könnte. dem Mut ohne Hoffnung sang, den anderen, Für mich bleibt diese Sache, die – auf dumme, verallgemeinernde Weise – Litera- tur genannt wird, zumindest potenziell auch A ls Autor weiß ich wohl, wie die Erscheinung, Invasion, Erfindung, Präfi- elementare Kraft des geschrie- guration und Explosion. Es kann auch ein benen Wortes, sein Atem und sei- Durchgang sein, ein Nadelöhr. Diejenigen Schriftsteller, die sich dieser ne Macht in unserer Zeit entwür- Bezeichnung als würdig erweisen, sind kei- digt wurden.

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mit Kapuze und Hakennase, der ins Jenseits die Rebellion, die Zartheit und die Verach- reiste und uns dort die Welt zeigte, die wir tung. Dann Héloise und Käthchen von Heil- alle vor Augen haben und in der wir leben, bronn, die uns liebende Voraussicht zeigten, dann Shakespeare, barbarisch und sanft, der und Puschkin, der die Eleganz im Angesicht uns die Geschichte von den beiden jungen des Todes lehrte, und Dostojewski, der den Liebenden Europas aus Verona erzählt hat Schmerz zu seinem Thema machte. und von dem blutigen Wahnsinn, aus dem Da sind die Figuren aus Rembrandts die Reiche entstehen. Nachtwache, alle in einer Reihe, so fabel- Dort sind unsere Denker und Wissen- haft keck heraufbeschworen, und mitten- schaftler, Kopernikus, Galilei, Newton, drin unser kleines Mädchen, ganz in Weiß Darwin…, die uns Unbändigkeit und Ge- gekleidet, mit seiner Henne, auf die sich das duld lehrten, Spinoza, der Träumer in Ge- ganze Licht der Welt konzentriert. danken, der uns den heiteren Mut der mil- Der nackte Körper Davids mit der rätsel- den und glühenden Menschen beibrachte, haften Mona Lisa, die mit offenem, wind­ Leopardi und Hölderlin mit ihrer Verzweif- zerzaustem Haar an der Seite ihres mutigen lung und ihrem Durst. Die stolzen, radi- Marmorgatten daherwandelt. Es herrscht kalen und sanften Frauenfiguren aus den eine ungeheure Stille, nur eine leise Musik russischen Romanen, mit ihren großen Ka- liegt in der Luft. Was ist das für eine Musik? tastrophen, den großen Träumen und der Woher kommt sie? Es ist jene Musik, die großen Literatur, die sanften und wilden von den Erfindern des psychischen Reichs Schriftstellerinnen Europas wie Emily Bron- der Musik herrührt, jenen, die dem inner- të und Virginia Woolf…, den melancho- sten Gefüge der tönenden Materie in der lischen Mephisto, Verführer und Erzieher, Atmosphäre eine anders klingende Konfi- den jungen Julien Sorel mit seiner verratenen guration des Kosmos entrissen. Und dann Jugend in den Klauen von Begierden und noch viele andere. Wie sollte man sie bloß Welt, den groben, kühnen und ergreifenden alle aufzählen! Wir sind auch in der Menge. Balzac, der uns gezeigt hat, wie die Gesell- Und uns voran, auf seinem schwankenden, schaften und die Welten entstehen und wie schlaksigen Pferd, immer er, Don Quijote, sie explodieren. der größte Ritter Europas, unser Anführer. Da ist auch eine spindeldürre und klapp- Aus dem Italienischen rige Figur, die jedoch stolz einherschreitet, von Tobias Eisermann im Gleichschritt mit den anderen. Es ist die Puppe Pinocchio, welche uns jene schwere Antonio Moresco, 1947 in Mantua geboren, lebt Kunst lehrte, die wir so verzweifelt brau- heute in Mailand. Er hat in Italien bei renommierten Verlagen zahlreiche Romane (etwa den Band „Auf- chen in diesem Augenblick: die Verwand- brüche“ im Jahr 2005) und Essays veröffentlicht und lung. Ganz in seiner Nähe befindet sich gilt heute als unbestrittener Wegbereiter für die jün- ein menschliches Insekt mit Namen Gre- gere italienische Literatur. gor Samsa, mit dem alten Apfel, förmlich in seinen Rücken eingedrungen. Da ist auch Raskolnikoff mit seiner Ein- samkeit und seinem Beil, dort sind die Mete- ore Büchner und Rimbaud, die uns die Un- nachgiebigkeit und die Leidenschaft lehrten,

145 146 147 T anz auf dem Drahtseil Die Herausforderungen, mit denen Europa zu tun hat, sind oft technischer, ziemlich nüchterner Natur wie Übersetzer- und Dolmetscher- vergütung. Doch wo sonst kann ein Autor so sehr aus der kulturellen Vielfalt schöpfen, wo ein Kafka das Deutsch Goethes durch das Tschechische und Jiddische bereicherte, und zum Nomaden und Einwanderer der eigenen Sprache werden? Von Alban Lefranc

in die gleiche Falle zu tappen, möchte ich versuchen, einige anschauliche Begeben- heiten aus meiner bruchstückhaften und anfechtbaren Erfahrung als Übersetzer (aus dem Deutschen) und als französischspra- chiger Schriftsteller (der mehrere Bücher über deutsche Persönlichkeiten geschrieben hat) aufzugreifen. Beginnen möchte ich mit einem Ereig- nis, das im Hinblick auf die Schwierigkeit, eine (konkrete) Praxis für und einen allge- meinen Diskurs über Europa zu formulie- ren, äußerst aufschlussreich und symptoma- tisch ist. Ich war eingeladen, im Maison de enn man sich zum Thema Eu- l‘Europe in Paris eine Gesprächsrunde mit ropa äußern soll, besteht eine dem bedeutenden österreichischen Schrift- der Hauptgefahren darin, in steller Werner Kofler und seinem nicht Wberuhigende und unstrittige Banalitäten weniger bedeutenden Übersetzer Bernard abzugleiten. Über die wir uns dann alle, Banoun, dessen Arbeit in diesem Jahr mit zumindest innerhalb des gesellschaftlichen dem Prix de Nerval ausgezeichnet wurde, Milieus, in dem diese Zeilen gelesen wer- zu leiten. Die Gesprächsrunde sollte sich den, unweigerlich einig sind: Ja, das Fremde des Themas Europa annehmen. ist es wert, entdeckt zu werden; ja, das Über- Da wir nichts Allgemeines über Europa setzen ist eine gute Sache; ja, der Frieden zu sagen hatten oder uns dafür nicht zustän- zwischen den Völkern in unserer Weltge- dig fühlten, sprachen wir also zu dritt über gend ist eine außerordentliche Errungen- die Besonderheiten der österreichischen Li- schaft und so weiter. Dennoch – hat man teratur, die Vorwürfe des Provinzialismus, sich diese bedeutenden Leitsätze erst einmal denen sich auch Elfriede Jelinek ausgesetzt an den Kopf geworfen, wird nichts dafür sah, sowie über den Einfluss von Thomas getan, sie konkret umzusetzen. Um nicht Bernhard und so weiter.

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Wir unterhielten uns auf Deutsch, und Man muss also immer wieder an die we- ich übersetzte für das Publikum ins Fran- sentliche Rolle der Übersetzer erinnern. Als zösische. Unsere Ausführungen waren we- französischer Romanautor, der ins Deutsche der besonders akademisch noch schwer ver- übersetzt wurde (von Katja Roloff) als auch ständlich, vielmehr war es eine lebensnahe als französischer Übersetzer von Peter Weiss Erfahrung sprachlichen Miteinanders und habe ich viel zu oft die Erfahrung gemacht, europäischer Themen. dass der Name des Übersetzers in Rezensi- Der Leiter des ehrwürdigen Hauses aber onen oder Buchpräsentationen nicht einmal versuchte uns zu unterbrechen, stieg auf das erwähnt wird. Podium und insistierte auf dem angekündi- gten Thema: Europa! In seinen Augen wa- Anonyme Dienstleistung ren Bernhard, Jelinek und Kofler nicht „eu- ropäisch“ genug. Dann wiederholte er mit Die empfindliche Übertragung von einer Nachdruck einen berühmten Ausspruch Sprache in einer andere, die vielen Stunden, Umberto Ecos: „Die Übersetzung ist die in denen man sich wegen dieser oder jener Sprache Europas.“ Ohne jeden Willen zur idiomatischen Wendung die Haare rauft, Polemik bin ich der Ansicht, dass wir es Autoren oder native speakers befragt, um hier mit einem guten Beispiel für die Ge- einen unbekannten Ausdruck zu verstehen fahren von Allgemeinplätzen zu tun haben, und nachzubilden – all diese Arbeit wird die die Debatte plagen. Die Herausforde- als vage anonyme Dienstleistung angesehen rungen, mit denen Europa nämlich allzu oft und viel zu oft nicht anerkannt. Der Glaube zu tun hat, sind mitunter technischer und an eine Transparenz der Sprachen, die süß- sogar ziemlich nüchterner Natur und be- liche Ideologie eines tout communicationnel, treffen die Übersetzung, das Dolmetschen einer Vorstellung allgegenwärtiger Kommu- sowie die Übersetzer- und Dolmetscher- nikation, ist weiter verbreitet als gedacht. vergütung. Im Februar 2007 entbrannte in Deutsch- land eine Auseinandersetzung, in deren „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, Zuge mehrere Leitartikler die auf eine Schmerzlos sind wir und haben fast bessere Vergütung drängenden Übersetzer Die Sprache in der Fremde verloren.“ scharf kritisierten und als Diven verspot- Hölderlin, Mnemosyne teten. Es ist bestürzend, wenn man erfährt, dass die 1800 Zeichen umfassende deut- E s hat etwas Beruhigendes, sich über das sche Normseite schlechter bezahlt wird als Übersetzen im Allgemeinen oder die Be- die um 300 Zeichen kürzere französische deutung ausländischer Literaturen zu ver- Normseite. Man muss auch wissen, dass ein ständigen, aber tatsächlich ist es so, dass Übersetzer meistens mehrere Berufe gleich- sehr wenige Autoren außerhalb der Grenzen zeitig ausübt: Er soll der Agent desjenigen ihrer Sprache wahrgenommen werden, und Autors sein, den er zu übersetzen wünscht, dass der Kulturbetrieb sich weiterhin um und es ist oft an ihm, einen andersspra- seine nationalen Autoren herum organisiert. chigen Lektor davon zu überzeugen, sich für (Eine Ausnahme bildet die amerikanische Literatur, der – weitgehend verdient – all- seits große Aufmerksamkeit zuteil wird.)

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einen quasi Unbekannten zu interessieren. weise nicht darauf hingewiesen, dass das (Ich spreche hier nicht von Michel Hou- Stück übersetzt wurde. Das erste Mal wird ellebecq oder Amélie Nothomb, sondern ein Übersetzer als Autor angesehen. Und von Autoren wie Christian Prigent oder das ist gut so.“ Régis Jauffret, um nur zwei zu nennen, die in Deutschland gänzlich unbekannt sind.) Syntaktische Stoßrichtung Das gleiche gilt umgekehrt natürlich auch für sehr gute deutsche Autoren. Der- O livier le Lays Neuübersetzung von selbe Übersetzer, der die Pressemappe für „Berlin Alexanderplatz“ hat ebenfalls erst ein zu übersetzendes Buch überträgt, lie- jüngst die umfassende Wiederentdeckung fert auch die zwölfseitige Probeübersetzung dieses Romans ermöglicht, der in der Erst­ – ohne jede Garantie dafür, dass all diese übersetzung drastisch um ein Viertel ge- Unternehmungen zu etwas führen. kürzt und aufs Äußerste geglättet worden Ich wünsche mir deshalb, dass in einer war. Debatte über das Übersetzen die einfachen, Die gleichen Schockmomente der Entde- aber fundamentalen Fragen nie ausgelassen ckung eines gänzlich anderen Buches, der werden: namentlich Fragen zur Vergütung, Erfahrung, dass sich unter dem gleichen zur Anerkennung der Person (sei es auch Namen („Berlin Alexanderplatz“, „Verbre- nur im Rahmen der Nennung des Namens chen und Strafe“, jene Titel, die uns seit in einer Rezension) sowie der Arbeit des langer Zeit begleiten) eine neue syntak- Übersetzers. tische Stoßrichtung und neue Empfin- Das Verhältnis von uns Franzosen zu dungen verbergen, ermöglichen es uns, uns Dostojewski oder Döblin beruhte auf Über- der Brüchigkeit unseres Halts in der Welt setzungen, die unlängst einer gründllichen bewusst zu werden. Unsere Wahrnehmung Revision unterzogen worden sind und uns von Welt, sogar von unserem Leben, speist die Undurchdringlichkeit und Fremdheit sich aus der Lektüre der großen Werke der dieser Autoren zurückgegeben, sie vom Weltliteratur. Gang der französischen Syntax befreit ha- Die ständige Gefahr besteht beim Über- ben, wo die ersten Übersetzer diese noch setzen darin, den Text zu französisieren, ihn mit Macht durchsetzen wollten. in unsere Form zu gießen. Deswegen sagt Für die Wiederentdeckung des rus- Olivier le Lay, der Autor der Neuüberset- sischen Romanschriftstellers muss an dieser zung des Romans von Alfred Döblin, dass Stelle André Markowicz gewürdigt werden, es ihn freut, wenn man ihm sagt, dass die der, wenn man ihn nach seinem zur Ziel- Übersetzung beim Lesen spürbar ist. Wa- scheibe der Polemik gewordenen Status als rum schließlich sollte man versuchen, die Übersetzerstar befragt, antwortet: „In einer Fremdheit des Textes zum Verschwinden Sache wenigstens war ich erfolgreich. Dass zu bringen, wenn eben sie es doch ist, nach man das Augenmerk auf die Übersetzung der wir suchen? richtet, dass man bemerkt, dass das Buch Es ist dieses Verhältnis zum Fremden, übersetzt ist. Im Theater wird normaler- das ich beschreiben möchte, dieser Verlust

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der Selbstverständlichkeit der Sprache, die- wenn ich nach Paris zurückkehrte, begeg- se quasi-körperliche Bewusstwerdung, dass neten mir eine Menge neuartiger Ausdrü- die Sprache nie gegeben ist, dass sie unabläs- cke. sig unterhöhlt wird von Unverständlichem Aber dieser Zustand des Dazwischen und Widerständen. kann uns auch lehren „auf dem Drahtseil zu Ich habe fast sieben Jahre in Deutschland tanzen“, wie es Gilles Deleuze und Felix Gu- gelebt mit nur kurzen Unterbrechungen, attari in ihrem Buch über Kafka („Für eine die ich in Frankreich verbrachte. In frei- kleine Literatur“) nennen. Die beiden Philo- lich sehr viel weniger drastischen als den sophen schärfen uns hierzu ein, die Sprache von Hölderlin mit Nachdruck gesetzten Be- zu vertiefen, zum Nomaden und Einwan- griffen habe ich wie viele andere die Erfah- derer der eigenen Sprache und minoritär zu rung dieses fremdartigen Dazwischenseins werden wie Kafka, der das Deutsch Goethes gemacht, das sich nach einigen Monaten in durch das Tschechische und Jiddische be- einem Land einstellt, dessen Sprache, ganz reicherte. Er läuterte die deutsche Sprache gleich wie gut man sie beherrscht, immer und befreite sie von ihren Verkrustungen eine fremde Sprache bleibt. und Klischees, die sie Anfang des Jahrhun- Plötzlich findet man sich zwischen einem derts in Prag verarmt hatten. vom Deutschen durchkreuzten Französisch (zahlreiche Germanismen beginnen meiner Thomas Bernhard unter Moralisten Muttersprache zuzusetzen) und einem vom Französischen durchsetzten Deutsch und A uf ganz andere Art sind die Bücher von macht die womöglich insbesondere für ei- Bernard Lamarche Vadel („Vétérinaires“, nen Übersetzer schmerzhafte Erfahrung, „Sa vie son œuvre“) beeindruckende Bei- dass man im Französischen beginnt, sein spiele einer Übertragung des Deutschen ins natürliches Sprachgefühl (oder was man Französische, die eine absonderliche, „un- dafür hält) im Hinblick auf die Syntax und brauchbare“, aber äußerst schöne und beun- sogar die Lexik zu verlieren (der Unterschied ruhigende Sprache bewirkt, so, als hätte sich zwischen Imparfait/Passé Simple, das Prä- Thomas Bernhard ohne unser Wissen hin- positionalsystem, um nur zwei Punkte zu terrücks in das klassische Französisch der nennen). Moralisten des Grand Siècle eingeschlichen. Man hat auch den Eindruck, den An- Ein weiterer Aspekt dieser Hybridisie- schluss zu verlieren an die zeitgenössischen rungen besteht in der Wahl solcher The- Ausprägungen seiner Muttersprache, ihre men, die eine andere Nationalgeschichte als vielgestaltigen Wandlungen, ihren sich jene des Autors rekonstruieren: Das Thema unablässig erneuernden Argot; jedes Mal, meiner ersten drei Romane (deutscher Titel: „Angriffe. Fassbinder, Vesper, Nico. Drei Romane“, übersetzt von Katja Roloff) ist Warum schließlich sollte man ver- das Deutschland des Wiederaufbaus der suchen, die Fremdheit des Textes Sechziger- und Siebzigerjahre. Im Wesent- zum Verschwinden zu bringen, lichen von Fassbinder, Bernhard Vesper, wenn eben sie es doch ist, nach der wir suchen?

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der Roten-Armee-Fraktion bis hin zu der Sängerin Nico. Ich habe mich nie als Hi- storiker oder Spezialist für diese Fragen auf ein so eminent heikles und problematische Terrain gewagt, sondern ich habe meine eigenen bio­grafischen Spannungen darauf projiziert. Ich habe also versucht, einen möglichen Baader und Fassbinder zu imaginieren (ge- nauso glaubwürdig und wahrscheinlich wie ihre historischen Vorbilder), und zwar mit dem Blick des Franzosen, der die filmischen Collagen eines Godard ebenso aufgesogen hat wie die Gedichte eines Apollinaire und von der Boxtechnik eines Mohammed Ali nicht weniger fasziniert war; indem ich also aus historischem und künstlerischem oder sportlichem und fremdländischem Mate- rial schöpfte und mich so der deutschen Geschichte näherte. Dass auch Genres und Einflüsse ver­ mischt werden können, bringt Malcolm Lowry vortrefflich in dem Vortwort zu seinem Roman „Unter dem Vulkan“ zum Ausdruck. Er selbst sagte dazu: „Er kann als eine Art Symphonie betrachtet werden oder in anderer Hinsicht als eine Art Oper – oder sogar als Western. Ich wollte aus ihm Jazz, ein Poem, ein Chanson, eine Tragödie, eine Komödie, eine Farce und noch mehr machen. (…) Er ist eine Prophetie, eine po- litische Warnung, ein Kryptogramm, ein ir- rer Film, ein Menetekel, eine Wandparole.“ Diese Querverbindungen, diese abson- derlichen historischen, sprachlichen und Genreübertragungen sind es, die eines Ta- ges wohlmöglich die Besonderheit der euro- Alban Lefranc, Jahrgang 1975, lebt als Schrift- päischen Literatur ausmachen werden und steller und Übersetzer in Paris und ist Mitheraus- geber der deutsch-französischen Literaturzeit- die bereits zur ihren Bestandteilen gehören schrift „La mer gelée“. Anfang 2009 erschien sein – möglich machen sie die Übersetzer. neuester Roman „Vous n‘étiez pas là“ bei Vertica- Aus dem Französischen von Gregor Runge les/Gallimard. Auf Deutsch kam im Oktober 2008 sein Band „Angriffe. Fassbinder, Vesper, Nico. Drei Romane“ im Blumenbar Verlag heraus.

152 Europa liest Fraktur

153 Nützlicher Kit Kultur kann ein touristisch-edukatives Geschenkpaket sein, das ein bisschen Geschichte, ein bisschen Folklore, ein bis zwei Verse enthält. Sie kann einfaches Marketingprodukt sein oder als Identitätskit dienen. Klar ist allerdings: Das Wort Kultur fügt sich perfekt in das Wörterbuch des administrativen Sprach- jargons der EU ein, sind doch in diesem die häufigsten Begriffe zugleich auch die verschwommensten. Von Dubravka Ugrešić

ihre drei unehelichen Söhne adoptiert hat, sonst nichts. Dank ihres natürlichen Ta- lents, mit Göttern, mit Tieren und Männern gleich gut auszukommen, und eines gerin- gen, aber wertvollen Kapitals, das ihr für den Fall eines moralischen Schadens hinterlas- sen wurde, lebte Europa auch weiterhin aus dem Vollen. Jene erste Reise auf dem Rücken des Zeus hatte ihren geografischen Appetit angeregt, und so entdeckte sie immer neue Länder und Kontinente. Viele hat sie kolo- nisiert, aber letztlich auch dekolonisiert. Sie konnte ihren Reichtum mehren. Sie dachte sich viele Dinge aus. Für Begriffe wie Demo- eus, der Vater aller Götter, lächelt kratie, Humanismus, Kunst, Literatur und dieser Tage wohlwollend, wenn Philosophie beanspruchte sie das alleinige er die Aktivitäten seiner geliebten Copyright. Sie war auch aggressiv, führte ZEu­ropa beobachtet. Man kann nicht sa- zahlreiche Kriege und erlangte im Vernich- gen, dass sie seine Erwartungen enttäuscht ten Perfektion. Vor mehreren Jahrzehnten hat, denn er hatte erst gar keine. Als er von verübte sie das größte und schrecklichste ihr ging, hinterließ er ihr elegant zwei Ge- Verbrechen, die Ermordung von etwa sechs schenke, die sich jede Frau nur wünschen Millionen Juden, was sie allerdings nicht kann: einen Speer, der nie sein Ziel verfehlt, daran hindert, die Rolle eines Schiedsrich- und wertvollen Schmuck. ters der Moral zu spielen, wann immer sich Nachdem Europa ihren Verehrer als Gelegenheit dazu ergibt. schnellstes Transportmittel ausgenutzt hat- Heute vereinigt Europa als gute und te, um in geografisch günstigere Gegenden weise Hausherrin ihre Länder, obwohl sie zu gelangen, und nach ein paar erotischen jüngst bei der Vereinigungsprüfung durch- Eskapaden mit einem Hornvieh, dem sie so- gefallen ist. Sie, die nicht herbeieilte, um gar Söhne gebar, heiratete sie zufrieden einen die Spaltung Jugoslawiens und den Krieg ortsansässigen Burschen namens Asterion. zu verhindern, platziert heute Worte wie Im Lebenslauf des armen Asterion steht nur, Postnationale Einheiten und Postnatio- dass er die Geliebte des Zeus geheiratet und nale Konstellationen. Sie, die zum Beispiel

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nicht einmal das Verschwinden der „Jugo- das Wörterbuch des administrativen neu- slawen“ bemerkt hat (und das war eine eth- en Sprachjargons der EU ein, sind doch in nisch indifferente „gemischte“ Minderheit, diesem Wörterbuch die häufigsten Begriffe die im einstigen Jugoslawien lebte, zahlen- zugleich auch die verschwommensten wie mäßig größer als die national zu Bewusst- etwa Mobilität, Fusion etc. sein gekommenen Slowenen), fordert heute In diesem neueuropäischen Sinn sollte als Hauptbedingung für die Aufnahme in Kultur traditionell, national und kosmopo- ihre Reihen die strenge Respektierung der litisch sein, einfach alles allerdings in einem Rechte von Minderheiten. vernünftigen Maß und in einem ausgewo- Wer weiß, vielleicht ist gerade deshalb die genen Verhältnis. Kultur sollte ihre Spe- Kultur einer der wichtigsten ideologischen zifika präsentieren, aber gleichzeitig offen Hebel der europäischen Vereinigung. Gera- bleiben, Kultur sollte Grenzen öffnen und de so, wie jeder kleine Ort in den einstigen gleichzeitig Stereotype festigen. Jeder Tou- kommunistischen Ländern sein „Haus der rist beendet seinen Hollandbesuch mit dem Kultur“ hatte, so ist auch die europäische Kauf von wenigstens einem Paar kleiner Landkarte der Vereinigung mit einem Netz Holzpantinen, einer kleinen Windmühle virtueller und realer „Häuser der Kultur“ und einer Tulpenzwiebel. Und wenngleich überzogen. Kultur kann ein touristisch-edu- die Tulpe eine türkische florale Inspiration katives Geschenkpaket sein, das ein bisschen darstellt, und obwohl die gesamte bäuerliche Geschichte, ein bisschen Folklore, ein bis Bevölkerung überall im morastigen Nordeu- zwei Verse enthält; sie kann als Identitäts- ropa solche Pantinen trägt, und obwohl sich kit dienen; als unklarer Punkt der Selbst- Windmühlen auch im „Don Quijote“ dre- und gegenseitigen Achtung; als Freiraum hen, kann das den Besucher dennoch nicht für das Zuschreiben und Hineinlesen von von seiner hartnäckigen Entscheidung ab- Bedeutungen. Kultur kann als Lebensform bringen, von der Reise etwas Holländisches aufgefasst werden, „whether of Berbers or mitzubringen. Aber auch die Souvenirläden Barbars“, wie der britische Literaturtheore- gehen auf die Besucher ein. Niemand weiß tiker Terry Eagleton geistreich bemerkt, als so gut wie sie, dass der, der sich anschickt, kulturgeschichtliche Reihe von Seneca bis den Markt von Stereotypen zu befreien, im Seinfeld, als Opposition zum Begriff des Bankrott endet. Barbarismus, als romantisches Symbol, als Kultur ist also Repräsentation von et- Form der Manipulation und der Überlegen- was. In dieser sehr üblichen Fusion der Be- heit, als einfaches Marketingprodukt oder griffe ist Kultur an den sehr breit gefassten als Synonym für das Wort nationale Iden- Begriff „Kunst“ gebunden. Was die Kunst tität. Das Wort Kultur fügt sich perfekt in angeht, hat Europa in seiner reichen Kultur- geschichte das Mäzenatentum etabliert, die fruchtbare Verbindung von Kunst und Geld, H eute vereinigt Europa als gute die auch das „Goldene Zeitalter“ und den und weise Hausherrin ihre Län- europäischen kulturellen Kanon hervorge- bracht hat. Europa hat weiterhin die Verbin- der, obwohl sie jüngst bei der dung von Kunst und Ideologie ausgekostet, Vereinigungsprüfung durchgefal- Perioden, in denen laut Walter Benjamin len ist. „der Faschismus die Politik ästhetisierte“

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und „der Kommunismus die Kunst politi- Verfechter europäischer Besonderheiten sierte“. Europa hat verschiedene ästhetische und Differenzen, aber auch der europä- Kanons, künstlerische Konzepte und Peri- ischen Vereinigung, Professionelle mit oden erlebt – lange Perioden der elitären Mehrfachidentitäten, Menschen mit meh- Hochkultur und danach auch die Zeit der reren Häuptern auf einem Körper. Innerhalb „mechanischen Reproduktion“ und Entau- dieser Dynamik – im reichhaltigen Netz ratisierung der Kunst –, um sich schließlich der europäischen Kulturbürokraten und der in einer totalen Auflösung der Konzepte zu noch nicht vernetzten unmittelbaren Kul- befinden, aber auch in einer starken Auflö- turproduzenten – spielt sich das derzeitige sungsdynamik, in der sich die Demokrati- und künftige europäische Kulturleben ab. sierung der Kunst und die Herrschaft des Obwohl die Literatur längst ihre domi- Marktes, die starke Dominanz der Massen- nante Stellung eingebüßt und diese attrak- kultur, die teils eine amerikanische ist, und tiveren und repräsentativeren Medien über- damit im Zusammenhang auch die Geopo- lassen hat, entwickelt sich auch ihr Leben litisierung der Kultur, schließlich auch die mit genau dieser Dynamik. Auch der euro- Reste traditionalistischer Kulturkonzepte päische Gegenwartsautor, besonders der aus und deren Politisierung miteinander ver- dem Osten, ist ein Produkt dieser konfusen mengen. In diesem Prozess hat Europa, das kulturellen Dynamik. Er ist ein Körper mit als entscheidenden ideologischen Kit gerade mehreren Häuptern, er ist bemüht, sich im die Kultur nutzt, Bedarf, diese seine Kultur Einklang mit den Veränderungen zu positi- zu reartikulieren und zu redefinieren. onieren. Er versucht diskret, die traditionelle „Seele seines Volkes“ beizubehalten. Bezahlte Europaenthusiasten In den westeuropäischen Ländern ist die- se schriftstellerische Funktion längst entpo- A uf den ersten Blick scheint es keiner- litisiert worden, aber insgeheim hält sie sich lei Sorge zu geben. Ein kurzer Bummel noch wie eine Sinekure. In den neu dazuge- durch das Internet wird zeigen, dass Eu­ kommenen osteuropäischen Ländern, denen ropa heute mit einem umfangreichen Netz es bisher nicht gelungen ist, sich von ihrem von Hunderten von Highways, Autobahnen „befreienden“ Nationalismus zu lösen, ist und Straßen, Hunderten Fons und Founda- der Schriftsteller noch immer als „Seele des tions, Schirmorganisationen, NGOs, Net- Volkes“ brauchbar. Das Modell hat also sei- works, Kulturservices und virtuellen Büros ne Anziehungskraft nicht eingebüßt. Denn überzogen ist, deren einzige Aufgabe darin die „Seele“ des einen Volkes kommuniziert besteht, einen ungehinderten Kulturtrans- am einfachsten mit der „Seele“ eines andern fer zu ermöglichen. Im Bereich Service und Volkes. Die Kommunikation einer „Seele“ Absicherung dieses Kulturverkehrs und der ohne Grenze und ohne ständige Adresse ge- kulturellen Kooperation arbeiten zahlreiche staltet sich schon schwieriger, nicht wahr? Kulturmanager, „Offiziere“, „Advokaten“ Unter den einstigen Bedingungen schlug es der Kultur sowie Kulturmittler. Diese Leute unser Litauer oder Slowene, der die Auto- sind bezahlte Europaenthusiasten, Natio- nomie der „literarischen Kunst“ verteidigte, nalisten, Postnationalisten und Internati- gar aus, ein Repräsentant seines (kommuni- onalisten, Kosmopoliten und Globalisten, stischen) Volkes zu sein. Heute ist er wieder europäische und regionale Nationalisten, bereit, einer zu sein. Wegen seines (post-

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kommunistischen) Volkes? Weil sich seine regelmäßige Besuche eines Fitnessstudios Haltung gegenüber der Literatur verändert einplanen müssen. Denn die Konkurrenz hat? Nein, wegen des Gesetzes von künst- ist stark, ungleich und entmutigend. Um lerischem Angebot und Nachfrage. Der eu- ehrlich zu sein, eine Verzögerung der Kon- ropäische Literaturmarkt kann nämlich den frontation mit dem brutalen Markt wird we- Ansturm von fünfzig litauischen Schriftstel- nigstens während der Transition durch die lern nicht verkraften (das gilt auch für den europäische Kulturbürokratie ermöglicht, litauischen, der nicht mehr als zwei hollän- die noch immer den Austausch nationalli- dische Schriftsteller verkraften kann), und terarischer Identitäten achtet und stimuliert. deshalb sind nur einer oder zwei willkom- Dafür kassiert sie das eine oder andere Pro- men. Diese beiden Auserwählten gelten als zent, gerade so wie jeder Agent. Doch auch „Repräsentanten“ der litauischen Literatur. die Leser sind hier nicht unschuldig Um So ist unser Ostler (aber auch der Westler) sich auf die Schnelle zu informieren, lesen sowohl eine europäisch orientierte „Seele“, sie sogar etwas Estnisches. die sich nach Affirmation auf dem europä- Was ist mit jenen, die keine nationale ischen Markt sehnt, als auch eine „globalis­ Identität haben? Mit der kosmopolitischen, tische“ Seele, die ihre europäische Affir- proletarischen, intellektuellen Bagage, mit mation schon morgen für die profitablere den Verfechtern einer europäischen Iden- amerikanische verkaufen würde. Das Hi- tität, eines europäischen Schmelztiegels, nausspazieren aus dem Paradies der Nati- der die Staatsgrenzen, die nationalen und onalliteraturen, wo der Schriftsteller noch die ethnischen Teilungen auslöschen und immer als „Repräsentant“ und Wortkünstler durch einen europäischen Pass und den Sta- behandelt wird, schließt die Zustimmung tus eines europäischen Bürgers regulieren zur Demokratie des Marktes ein. möchte? Solche Leute werden zwangsläu- Schriftstellern aus der Slowakei oder aus fig ausharren müssen. Solche Leute kön- Slowenien, die bisher von kurzsichtigen Kol- nen ihre utopistische Hoffnung einzig in legen mit schwergewichtigen Hinterteilen die Mobilität des Großkapitals setzen, so umgeben waren, steht also die Konfrontati- paradox das auch klingen mag. In Zukunft on mit dem Markt bevor. Auf diesem Markt könnte nämlich anstatt Volk und Staat ir- erwartet sie unter anderem David Beckham, gend so eine mächtige Korporation als neu- der vor einiger Zeit den British Book Award er Identitätsstifter auftreten, und in diesem erhielt, denn das mit seinem Namenszug Fall könnte es passieren, dass die Logik des versehene Buch hat der Buchindustrie einen Geldes einfach so Staatsgrenzen und Iden- Haufen Geld gebracht. Daher wird unser titäten wegwischt. Sollte das geschehen, Este, vorausgesetzt, er ist ein Marktoptimist, wird Serbien Ikea heißen, seine Einwohner von nun an in sein literarisches Leben auch Ikeaner, Slowenien Siemens, mit Siemensia- nern als Einwohner. Und man sieht den po- litischen Führer eines kleinen europäischen I n den neu dazugekommenen Landes schon vor sich, der seinem Volk die osteuropäischen Ländern ist der Botschaft schickt: „Wenn ihr euch nicht be- nehmt, verkaufe ich euch an Bill Gates.“ Schriftsteller noch immer als Und auch das Leben selbst scheint un- „Seele“ des Volkes brauchbar. auffällig in diese Richtung zu gehen. Mit

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der Aufnahme neuer Mitglieder im Osten U nd die Literatur selbst, verändert sie hat sich nicht der Osten im Westen angesie- sich durch diese Interaktion? Ich nehme an, delt, wovor sich jeder verschreckte westeu- dass in einer ersten Adaptionsphase slowa- ropäische Chauvinist fürchtet, sondern der kische, litauische und lettische Schriftsteller Westen siedelt sich eher im Osten an. Über das eine oder andere Buch zum bereits vor- die Wege des Großkapitals weiß ich nichts, handenen Bücherberg über die persönlichen aber ich weiß, dass die kroatische Küste ver- Leiden während des Kommunismus beitra- kauft ist, dass die bulgarische Stadt Varna gen. In Belgrad verkaufen in diesem Mo- von durchschnittlich solventen Holländern, ment Souvenirverkäufer kleine Tito-Büsten Belgiern und Deutschen bevölkert wird, von (30 Euro pro Stück). „Na ja, das ist wegen denen, die es versäumt haben, rechtzeitig der Ausländer, die möchten etwas Kommu- Wohnungen in Dubrovnik, Prag oder Bu- nistisches mitnehmen“, sagen die Verkäufer. dapest zu erwerben, sodass sie jetzt dort kau- In der Literatur wird – so nehme ich fen, wo es noch möglich ist. Es ist nicht an – schnell die Topografie zurückkehren, auszuschließen, dass diese kleinen, aber die mit der Zeit verlorengegangen ist. In zahlreichen und unsichtbaren Migranten, intelligenteren kroatischen Romanen an die niemand beachtet, jene Kleineigentümer der Schwelle vom neunzehnten zum zwan- kroatischer, bulgarischer und rumänischer zigsten Jahrhundert und in der ersten Hälfte Quadratmeter Wohnfläche, die Zukunft des zwanzigsten Jahrhunderts (ähnlich ist Europas bestimmen werden, auch die kultu- es auch in der tschechischen, ungarischen relle, warum auch nicht. Sie wissen, dass das und anderen Literaturen) waren die Hel- Leben in den frisch angegliederten Ländern den unterwegs zwischen Wien, Prag und Europas (und in denen, die auf den Beitritt Budapest, sie sprachen Deutsch oder Fran- warten) billiger und fröhlicher ist als das in zösisch, ihre Bücher wurden ohne Fußnoten den teuren westeuropäischen urbanen Ghet- mit Repliken in Kroatisch gedruckt. Diese tos. Auch gibt es jene „teuflische“ Identität Topografie wird gewinnen. Aus dem topo- zum Export: von lächerlich großen bulga- grafischen Repertoire des Ostlers wird das rischen Cevapcici bis zum überwältigenden Thema Exil, Pass und Visum wie auch die Gesang bulgarischer Omas. Teilung Europas in „Wir“ und „Sie“ langsam verschwinden. Und aus dem Blickfeld einer Unter Ikeanern zu vernachlässigenden Anzahl von Westlern, die am Osten interessiert waren, wird auch Was die Aufnahme neuer Mitglieder be- diese bombastische imperiale Komponente trifft, hüpft mein Herz vor Freude, wenn ich verschwinden. Es wäre freilich nicht unin- mir vorstelle, wie die Franzosen litauische teressant, wenn die europäischen Autoren Namen aussprechen und die Deutschen let- einander in die Augen sehen und dazu et- tische. Außerdem freue ich mich darüber, was aufschreiben würden. Allerdings werden dass die Litauer, die sich bisher damit rüh- der im Hinblick auf die Vereinigung ent- men, dass Vilnius das geografische Zentrum standene Enthusiasmus und die politische Europas sei, mit ihrem Beitritt zur EU ihren Korrektheit ihnen nicht die Chance einräu- ausufernden Enthusiasmus im Hinblick auf men, das zu tun. Und auch der Markt wird die eigenen nationalen Spezifika bremsen auf leichtere und beschwingtere literarische mussten. Themen setzen.

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S ie wissen, dass das Leben in den die Presse der großen Zentren präsentiert frisch angegliederten Ländern wird, ich meine, dass das unstrittig ist. Die Wertstruktur des Durchschnitts oder der Europas billiger und fröhlicher ist Gesamtheit der literarischen Produktion als das in den teuren westeuropä- würde andere Dimensionen annehmen. ischen urbanen Ghettos. Vielleicht würde das die heutigen Kriterien nicht ins Wanken bringen, aber auf jeden Fall würde die Galerie der hörbaren Stim- men um die Länder bereichert, denen wegen Und schließlich, wenn wir schon beim ihrer unbekannten Sprachen der Zugang zu Thema der europäischen literarischen Ver- den Literaturmetropolen verwehrt ist. We- einigung und der literarischen Geopolitik nigstens auf der Landkarte würden sich die sind, sei es gestattet, einen Blick in die Ge- Grenzen guter Bücher ausweiten. danken des jugoslawischen Schriftstellers Krležas Lamento hat auch heute, viele Miroslav Krleža zu werfen: Was bedeutet Jahrzehnte nach seiner Entstehung, seinen in der heutigen Welt schon ein vereinzeltes Sinn nicht verloren. Auf eine gerechte lite- Buch, ist seine Veröffentlichung wirklich rarische Verteilung werden wir wohl warten sinnvoll? Weniger als ein winziges Tröpf- müssen, denn Literatur ist ein geopolitisches chen im Amazonas. Vor vierhundert Jahren, Terrain. Es gibt große, imperiale Litera- als ein gewisser Erasmus seine Bücher in turen, die scheinbar universalistische Wer- zweihundert Exemplaren druckte, war das te besitzen, und es gibt kleine, nationale Li- für die europäische Elite von Cambridge teraturen, von denen erwartet wird, dass sie und Paris bis Florenz ein Ereignis, aber heu- ihre lokalen, regionalen, ethnischen, ideo­ te, zwischen Hunderten von Buchmessen, logischen und weitere Spezifika zu einem auf denen Hunderttausende von Neuheiten Bündel schnüren und mitbringen. Während auftauchen, wie könnte da ein vereinzeltes, des kaum vergangenen Krieges im einstigen einsames Buch überhaupt bemerkt werden? Jugoslawien haben viele Ausländer, die aus Die großen Meister, die aus dem Buch ein dienstlichen oder anderen Gründen an jenes einträgliches Geschäft gemacht haben, die Territorium gebunden waren, vor mir damit Autokraten der Literatur- und Kunstme- geprahlt, dass sie Ivo Andrić und Miroslav tropolen diktieren den Literaturmarkt, den Krleža gelesen haben. Warum?, fragte ich. Geschmack und die ästhetischen Kriterien, Um die balkanische Mentalität besser zu und ohne das Getöse ihrer Propaganda ver- verstehen, lautete die Antwort. Würde ich schwinden Tausende und Abertausende von einem Deutschen mitteilen, dass ich Günter Büchern in einer absolut anonymen Stille. Grass lese, um den „deutschen Geist“ besser Ich will damit nicht sagen, dass mit Presse zu verstehen, oder einem Amerikaner, dass und Reklame literarische Erfolge konstru- ich Philip Roth lese, um das Wesen der ame- iert werden, wie auch Siege bei Pferderen- rikanischen Mentalität zu begreifen, also, nen nicht durch Zeitungsgeraschel erraten ich bin sicher, sie wären unangenehm be- werden können, doch würde eine imaginäre rührt. Grass und Roth sind große Literaten, Umwertung literarischer Werte heute ein an- keine Autoren von touristisch-spirituellen deres Bild vom Zustand der europäischen Li- Führern. Peripherie und Zentrum erfahren teratur vermitteln können als das, was durch weder heute ein und dieselbe Behandlung,

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noch war dies früher der Fall. Deshalb wer- zwischen Peripherie und Zentrum, zwischen den die Bücher von Krleža und Andrić auch großen und kleinen Literaturen oder auf die weiterhin für viele lediglich literarische Füh- Genderproblematik, reduzieren. Übrigens rer durch den Balkan bleiben. genügt es vollauf, sich nur kurz die gewal- Ein ähnlicher Unterschied im Umgang tige literarische Produktion Chinas und das besteht zwischen Literatur und – Frauenlite- Millionenpublikum dort vorzustellen, und ratur. Erstere trägt die Last universalistischer schon wird das geringe Anwachsen der litau- Werte, während sich die zweite mit engen, ischen und esthnischen Aktien auf dem eu- geschlechtlich bedingten Spezifika befasst. ropäischen Literaturmarkt gänzlich unwich- Wenn Frauen zu Beispiel über Sex schrei- tig. Aber zum Verstehen der komplizierten ben, handelt es sich um einen weiblichen Verhältnisse in der weltweiten „literarischen Blickwinkel, schreiben Männer darüber, ist Republic“ trägt sicherlich eher der ökono- der Blickwinkel stets ein universalistischer. mische und politische Rekurs und Diskurs Jeder Schriftsteller ist eine Erscheinung für bei (auf den sich der französische Literatur- sich, etwas Besonderes. Schriftstellerinnen kritiker Pascal Casanova in seinem Buch werden in der Praxis (in der literaturtheo- „The World Republic of Letters“ bezieht), retischen, literaturhistorischen und sozio- Begriffe wie literarisches Kapital, Ökonomie logischen) fast immer als Gruppe „behan- der Literatur, verbaler Markt, Weltmarkt der delt“, in Formationen, zu zweit, zu dritt, zu intellektuellen Güter, immaterielle Reich- viert, vor allem wenn sie aus kleinen Ländern tümer, Politik der Literatur als das traditi- kommen. Zwei Bulgarinnen, zwei Osteuro- onelle literarische Begriffssystem. Deshalb, päerinnen ... Auf das Geschlecht orientierte liebe Schriftstellerkollegen, öffnen wir uns Literaturkritikerinnen, die literarische Texte den Herausforderungen des Kapitals und hartnäckig als geschlechtliches Phänomen der – Physik! Denn die Metaphysik nutzen interpretieren, unterscheiden sich nicht nur noch die Kriminellen als Alibi für ihre großartig von rigiden, chauvinistischen Li- Handlungen. teraturkritikern. Auch sie sehen in der Lite- Übersetzt aus dem Englischen ratur, die Frauen schreiben, ausschließlich ein – geschlechtliches Phänomen. Daher hat Dubravka Ugrešić wurde 1949 im heutigen Kroa- die schwesterliche Sorge um den Status von tien geboren. Bis sie 1993 aus politischen Gründen emigrieren musste, unterrichtete sie Literatur an Literatur, deren Autoren Frauen sind, dazu der Universität Zagreb. Danach war sie Dozentin beigetragen, dass die Schwestern auch wei- an verschiedenen amerikanischen und europä- terhin in ihrem geschlechtlichem Ghetto ischen Universitäten. Sie erhielt zahlreiche Preise, schmachten, nur dass das Ghetto, dies sei unter anderen 1995 den Europäischen Essaypreis zum Trost bemerkt, dieses Mal weniger im Charles Veillon. Auf Deutsch erschienen ist zuletzt von ihr der Roman „Das Ministerium“ (2005) und der Verborgenen existiert. Das lang ersehnte Essayband „Keiner zu Hause“ (2007, beides im Berlin Recht auf Verwirklichung der geschlecht- Verlag). lichen, ethnischen oder Rassenidentität ver- wandelt sich letztlich in einem Albtraum und wird zur Strafe. Gewiss, auf der literarischen Weltkarte sind die Dinge viele komplizierter, sie lassen sich nicht auf binäre Beziehungen, auf solche

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161 162 163 Wenigstens wie Kollegen Auf dem europäischen Kon- tinent lebt ein bescheidenes, in die Ecke gedrängtes, seit Jahrhunderten immer wieder unterworfenes, peri- pheres Europa der östlichen und südöstlichen europä- ischen Völker. Literatur ist eine Möglichkeit, dessen vielschichtige Normalität zu erleben. Denn: Wer liest, hat das Privileg, in den Kopf eines anderen zu steigen. Man macht es sich zwischen den Gedanken des Ver- fassers gemütlich. Von Andrea Grill

nen war. Wie kann das sein? Der Roman ist auf Deutsch geschrieben, in einem österrei- chischen Verlag publiziert. Gelesen hatten die albanischen Rezensenten ihn offensicht- lich nicht; die Quintessenz der Handlung zwar gut nacherfunden, sogar die Hauptfi- gur umgetauft. Er heißt Galip. Sie nennen ihn Dalip. Und loben das Buch. Das unbe- kannte Buch. Und warum? Warum das In- teresse für ein Buch, das in Albanien kaum einer lesen kann? Nicht einmal die Journa- listen, die darüber schreiben? „Solche Geschichten, in denen Albaner zu Hauptfiguren in den Büchern europä- orweg möge der Leser mir verzei- ischer Schriftsteller werden, sind jetzt eine hen, wenn ich hier von meinem ei- unübersehbare Realität, die auch uns ani- genen Buch spreche. Es klingt nach mieren darf, ... aber vor allem bringt sie uns VEigenwerbung. Vor allem, weil es sich um dazu, uns besser zu fühlen, wenigstens wie mein jüngstes Buch handelt. Ohne Selbst­ Kollegen!“, hieß es in einem Artikel von reklame kommt niemand aus. In diesem Fall Aleko Likaj. aber geht es mir darum, dass ich mich, ge- Wenigstens wie Kollegen! Dass die fragt nach der Rolle, die die vielsprachige schiere Anwesenheit meines Romanhelden Literatur Europas für das gegenseitige Ver- jemanden dazu bringen könnte, sich besser ständnis und den Fortschritt Europas spielt, zu fühlen – damit hatte ich nicht gerech- auf etwas beschränken muss, bei dem ich net. Für mich als Autorin der Geschichte mich auskenne. Sich bei etwas auskennen ist das so erfreulich wie bedenklich. Haben zu wollen, ist immer risikoreich. Bei den Sie sich schon einmal gefreut, weil der Held eigenen Büchern kann ein Schriftsteller das eines Romans Deutscher war, Engländer, aber immerhin mit einigermaßen gutem Ge- Franzose, Italiener, Österreicher, Portugiese, wissen behaupten. Schweizer? Waren Sie als Deutscher, Englän- Mein drittes Buch wurde in albanischen der, Franzose, Italiener, Österreicher, Portu- Zeitungen besprochen, bevor man in Öster- giese, Schweizer schon einmal stolz darauf, reich richtig gemerkt hatte, dass es erschie- in einem Buch, das Sie nicht lesen können,

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einem erfundenen Landsmann zu begegnen? heißt es bei der albanischen Lyrikerin Lul- Ich muss sagen, ich kann mich nicht erin- jeta Lleshanaku in einem „Gelbe Bücher“ nern, je besonders stolz oder froh gewesen betitelten Gedicht, in dem es um die Wich- zu sein, in einem Buch einem Österreicher tigkeit der einst verbotenen Bücher geht. zu begegnen. Mir fällt keine Gelegenheit Bücher, die versteckt wurden und heimlich der ausgesprochenen Freude über einen ös- gelesen oder nur versteckt, weil der Besitz terreichischen Romanhelden ein. Ich denke, allein schon etwas Besonderes war, Bücher, man freut sich nur über etwas, das einem von denen der Dichterin als Leserin kaum außergewöhnlich erscheint. Über das Nor- mehr in Erinnerung geblieben ist, als der male freut man sich nicht. Man sollte sich Vorgang des Versteckens. Trotzdem bleibt vielleicht freuen; es sich beibringen. Was das Buch – als Momentaufnahme – eine der mir normal vorkommt, ist für den anderen einzigen Wahrheiten. das Exzeptionelle. Selbst ungelesen wahr und wichtig, Zeu- Wenigstens wie Kollegen ... Die erste der ge einer anderen Realität, außerhalb des Serie von Fragen, die der Bitte, diesen Essay kommunistischen Regimes; einer Alterna- zu schreiben, vorangestellt waren, lautete tivwirklichkeit, die alle Bücher zuließ. Das folgendermaßen: Welche Rolle kann die Li- ungelesene Buch ist Hoffnungsträger, nistet teratur für den Austausch in Europa spielen? sich schier durch seine Anwesenheit in den Die Antwort kann einfach sein, in einen Köpfen möglicher Leser ein. Satz gefasst: Literatur ist eine Möglichkeit, die vielschichtige Normalität andersspra- Für die Ewigkeit gebunden chiger Bewohner anderer geografischer Re- gionen zu erleben. Es gibt auch andere Mög- Jetzt hält Luljeta mein Buch in der Hand, lichkeiten, z. B. Film oder Fernsehen. Ein lobt seine Machart. Das Papier. Den Ein- Gemälde. Eine Reise in die Region. Was band. Meine Bücher nehmen sich aus wie für diese Möglichkeiten aber nicht haben, was die Ewigkeit gebunden; eine winzige Ewig- der Literatur eigen ist, sind die Leerstellen. keit mindestens. Albanischen Büchern, die Die Plätze zwischen den Wörtern, die dem oft nach zehnmal Durchblättern zu zerfal- Leser erlauben, sich diese andere Realität len beginnen, sieht man die Vorläufigkeit in allerprivatester Form einzuverleiben und an, sie verkörpern sie und sind so vielleicht wahrhaftig anzueignen. Wer liest, hat das ehrlicher als die unseren mit dem festen Ein- Privileg, in den Kopf eines anderen zu stei- band. „Sie irrt sich wie ein Kind, sie spricht gen. Man macht es sich zwischen den Ge- schön./ Sie atmet leicht, wie eine Eidechse danken des Verfassers gemütlich. Wer Bü- auf den sonnenwarmen Ziegeln./ Wie ein cher isst, isst sich selber, Stück für Stück, Grashalm,/ wie ein offener Hemdknopf“ schreibt Lleshanaku in einem anderen Ge- dicht. Sie will mein Buch haben, lobt mein H aben Sie sich schon einmal ge- Buch. Obwohl sie es nicht lesen kann. freut, weil der Held eines Romans Vor allem bringt sie uns dazu, uns besser Deutscher war, Engländer, Fran- zu fühlen. Im Roman „Gott rückwärts und seine Geliebte“ des albanischen Schriftstel- zose, Italiener, Österreicher, Por- lers Visar Zhiti ist der Freund der Haupt- tugiese, Schweizer? figur Österreicher, genauer gesagt Wiener,

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und Fotograf. Habe ich mich deshalb besser E r hat sich als Prophet erwiesen. Einund- gefühlt? Hat es mich überrascht, einen Wie- zwanzig Jahre später klingt der Satz wie neu. ner im Roman eines Autors vorzufinden, der Weiter heißt es dort, „... denen es bestimmt in seinem Leben bisher nur ein einziges Mal ist, nicht innerhalb europäischer Mauern zu in Wien gewesen ist? Nicht im Geringsten. leben, sondern antemural, eine Art Glacis Es hat mich nicht überrascht. Ich habe es bildend gegen die osmanische und mongo- normal gefunden. Wiener sind selbstver- lische Gefahr und gegen alle anderen Bedro- ständliche Helden und Hauptfiguren. hungen militärischer und politischer Art“. Albaner – und ich nehme sie als Beispiel, „Bestimmt“ ist es ihnen nicht von einer Art weil ich sie kenne, während es natürlich un- höherer Gewalt, gleichsam wie von Gottes überschaubar viele potenzielle Hauptfiguren Gnaden. Man könnte sagen, es hat sich so er- gibt, die ich nicht kenne – sind abwesend. geben. Man könnte auch sagen: die reicheren Als würde es sie nicht geben. Die Literatur Länder Europas haben es beschlossen. ist doch oft ein ganz guter Spiegel für die Visar Zhitis Held landet am Ende seiner realen politischen Verhältnisse. Mittlerweile Reise nach Europa, die er allerdings in einer ist Albanien fast vollständig von Euroland Art Rückwärtsgang durchläuft, in Wien. umgeben. Sogar im angrenzenden Monte- Zur Jahrtausendwende. Und was macht er negro kommen Euroscheine aus dem Ban- im Wien der Jahrtausendwende? Er bringt komaten. Bloß in Tirana nicht. In Tirana sich um. Dass er seinen Helden in Wien ster- kommen – ja, wer weiß eigentlich, wie die ben ließ, um der Stadt, die er liebt, eine Ehre Papiere heißen, die aus einem Bankomaten zu erweisen, hat mir der Autor später erklärt. in Tirana kommen? Lekë heißen sie. Alba- Der Held meines Romans bringt sich nien hat sein eigenes Geld. Und keiner weiß, nicht um. Quietschlebendig kehrt er nach was es damit bezahlt. Albanien zurück, nachdem er sich eine Wei- Klar ist es meist leichter, über sich selbst le in Österreich aufgehalten hat, das ihm zu zu schreiben als über andere. Leichter, sich Beginn der Neunzigerjahre golden und strah- in sich selbst hineinzuversetzen (wenn man lend erschien, eine Art Schlaraffenland, das nicht schon drin ist) als in einen anderen. sich aber doch nur als riesenhafte Würstelbu- 1988 schrieb der österreichische – und de erwies, die er, nachdem ihm die österrei- diese Bezeichnung ist bei ihm tatsächlich chische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, rein auf den Geburtsort und die Mutterspra- auch noch bewachen muss; vor Gefahren, die che bezogen, denn über welchen Landstrich, scheint’s von außen kommen (siehe Gauß’ welche kaum bekannte Bevölkerungsgruppe prophetische Worte oben), und zwar genau Europas hätte er nicht geschrieben – Schrift- an der Grenze, über die er dazumal illegal steller Karl-Markus Gauß in seinem Band eingereist ist. „Tinte ist bitter“: Anstatt sich in Wien umzubringen, geht Neben dem klassischen westeuropä- er zurück nach Tirana. Das ist etwas, das ischen, museal-grandiosen, historisch-pa- thetischen Europa lebt noch ein zweites, das bescheidene, in die Ecke gedrängte, seit S ogar im angrenzenden Monte- Jahrhunderten immer wieder unterworfene, periphere Europa der östlichen und südöst- negro kommen Euroscheine aus lichen europäischen Völker. dem Bankomaten.

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mir jetzt erst auffällt. Diese Gegenläufigkeit ein ,versunkener‘, sondern ein noch weitge- zwischen den zwei Romanen, meinem „Trä- hend unentdeckter Kontinent; es ist keine nenlachen“ und Zhitis „Gott rückwärts und ,verlorene Heimat‘, die man einmal hatte, seine Geliebte“. In beiden Büchern geht es sondern der Entwurf einer kulturellen Iden- grundsätzlich um einen Weg ins EU-Europa tität, einer vielfältigen Identität ...“ und um die Liebe. In dem einen führt die Wir definieren uns gerne über Nationali- Reise nach Wien und in die Donau, einen täten, und das ist für einen Europäer, wenn feuchten Tod, im anderen letztendlich zu- man ehrlich ist, noch absurder als für einen rück nach Tirana. Australier oder Amerikaner. Gibt es doch Eine zweite Frage, die dieser Essay beant- kaum ein europäisches Land, das heute noch worten soll, kann ich also guten Gewissens dieselben Grenzen hätte wie vor hundert beantworten. Sollten wir uns mehr für die Jahren. Unzählige Leute haben innerhalb Schriftsteller unserer Nachbarn interessie- der letzten zwanzig Jahre ihre Nationalität ren, um mehr über sie zu lernen? verändert, ohne je umgezogen zu sein. Im Ja. selben Haus, in derselben Straße wohnend, Was zeichnet die „europäische Kultur“ sind sie auf einmal andere geworden. So ist es aus? Kann sie zu dem immer noch ver- dem mazedonischen Dichter Salajdin Salihu missten europäischen Gemeinschaftsgefühl gegangen. Aufgewachsen ist er als Jugoslawe. beitragen? Weitere Fragen. Jetzt lebt er in Mazedonien. Schreiben tut er auf Albanisch. Ja, das Albanische ist eine der Verdampfende Haut Sprachen, die man in Mazedonien spricht. Die Sache ist simpel, sagte Abel. Der Die erste ist für mich einigermaßen selt- Staat, in dem er geboren worden sei und sam. Denn ich vermisse einerseits kein Ge- den er vor fast zehn Jahren verlassen habe, meinschaftsgefühl. Im Gegenteil, wer jemals sei in der Zwischenzeit in drei bis fünf neue in Kalifornien gewesen und dort mit dem Staaten gespalten worden. Und keiner dieser Auto ins Death Valley gefahren ist – dem drei bis fünf sei der Meinung, jemandem heißesten Ort der Erde; wer dort in den fünf wie ihm eine Staatsbürgerschaft schuldig zu Minuten, während derer man ausgestiegen sein. Eine weitere europäische Hauptfigur. ist, um ein Foto zu machen, während derer Namens Abel und erfunden von der unga- man die Haut verdampfen fühlt und einen rischen Autorin Terézia Mora; sie schreibt anderen mit ebenfalls verdampfender Haut auf Deutsch. Ihr Erstlingsroman hieß „Alle bittet, ein Foto zu machen, wenn der sich Tage“. Übrigens auch, und bestimmt nicht als Europäer herausstellt, – der weiß, dass zufällig, der Titel eines Gedichts von In- es ein Gemeinschaftsgefühl gibt. Jedoch, geborg Bachmann. „Der Krieg wird nicht etwas zu spüren ist das eine. Zu definieren, mehr erklärt,/ sondern fortgesetzt“, lautet was dieses Gemeinsame nun sei, das andere. die erste Verszeile darin. „Das Unerhörte/ Nochmals Karl-Markus Gauß zitierend, ist alltäglich geworden.“ wenn auch in leicht veränderter Form, näm- Jetzt hat sie behauptet, von Anfang an lich, indem ich das Wort Mitteleuropa durch versprochen, sie würde nur über ihr eige- Europa ersetzen würde: nes Buch schreiben, nur über das, wo sie „Mitteleuropa ist schließlich nicht, wie es sich auskennt. Und was macht sie? Sie zi- so häufig wie gedankenlos reklamiert wird, tiert um und um. Einen nach dem ande-

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ren. Da haben Sie Recht! Es fällt mir selber das europäische Gemeinschaftsgefühl. Das auf und gefällt mir. Wie sich die Stimmen, Buch, von dem man weiß, es gibt es, muss es ganz verschiedene, eine nach der anderen geben, es ist ja ganz nah, kaum ein paar hun- einstellen. Ein Funke der Rebellion, so hat dert Kilometer weit. Man schlägt es auf, be- Gauß es genannt, keine Bußkerze des Kon- wundert den Druck, die Zeichen, die einem, servativismus. Ich würde hinzufügen: keine obwohl man sie einzeln sogar kennt – der Bußkerze des Kommunismus. Großteil Europas (auch Albanien!) schreibt Vor kurzem war ich in Berlin. Dort gibt mit lateinischen Buchstaben – exotisch vor es den „Hamburger Bahnhof“, der ein Mu- Augen treten. Europa ist das Bewusstsein seum der Gegenwart beherbergt. Museum der Menge der ungelesenen Bücher. Zu wis- der Gegenwart, ein Widerspruch in sich? sen, dass irgendwo der eigene Landsmann Dort lief eine Ausstellung mit dem Titel ein anderssprachiger Romanheld ist, ist un- „The Murder of Crows“; eine enorme Hal- sere Gemeinsamkeit. Und besser als Salaj- le mit Holzfußboden, rote Klappsessel, auf din Salihu könnte ich das Schlusswort nicht denen schwarze Lautsprecher sitzen. Im Mu- formulieren: seumsshop habe ich eine Ansichtskarte ent- „Dichter kommen zu spät. Ihre Heimat deckt, ein Gruppenfoto diverser Männer, ist das Morgen. ... Üblicherweise sind sie in Künstler nehme ich an – ich habe sie nicht Eile, die hochmütigen roten Kardinalvögel, gekauft, also fehlt sie mir jetzt, um mich zu wirken wie Kinder und vergnügen sich mit vergewissern, ob ich mich richtig erinnere. Spielzeug, das sie sich selber ausgedacht ha- Sie posieren vor dem Museum, und darunter ben. ... Dichter kommen zu spät ... Und wis- steht ein Satz, der ungefähr so lautet: Ich bin sen nie, ob sie angekommen sind.“ froh, dass heute nichts geschieht, außer dass Alle Übersetzungen ich aufstehe, frühstücke und später wieder der Textausschnitte aus dem Albanischen ins Bett gehe. Das Museum befindet sich in stammen von der Autorin. unmittelbarer Nähe einer Brücke, die zwi- schen 1961 und 1989 einen Grenzübergang Andrea Grill studierte Biologie, Italienisch, Spanisch zwischen Ost- und Westberlin darstellte. und Linguistik in Salzburg, Thessaloniki und Tirana. Sie lebte mehrere Jahre in Cagliari auf Sardinien und Gesagt hat diesen Satz wohl jemand, für den promovierte 2003 an der Universität Amsterdam das „Normale“, die Tatsache, dass nichts ge- mit einer Arbeit über die Schmetterlinge Sardiniens schieht, ganz und gar außergewöhnlich ist. zum Doktor der Philosophie. Neben ihrer wissen- Weil er diesen Alltag ständig bedroht weiß, schaftlichen Arbeit schreibt sie literarische Texte und jederzeit damit rechnet, ihn zu verlieren; in übersetzt aus dem Albanischen. 2007 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt einem Moment, wie man einen Schlüssel teil. Von ihr sind erschienen: „Endemism in Sardinia“, umdreht, alles Bequeme sich ins Extreme Amsterdam 2003, „Der gelbe Onkel“, Salzburg 2005, verkehren könnte. „Zweischritt“, Salzburg 2007, „Tränenlachen“, Salz- Über die Hälfte aller momentan pu- burg 2008. blizierten Übersetzungen in andere euro- päische Sprachen stammen aus dem Eng- lischen. Übersetzungen etwa aus dem Albanischen ins Litauische gibt es kaum. Das könnte und wird sich ändern. Bis da- hin ist das ungelesene Buch vielleicht doch

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169 Das Anti-Europa „Woran denken Sie, wenn Sie das Wort ,Balkan‘ hören?“, fragt die kroatische Autorin Slavenka Drakulić. An idyllische Adria-Strände und schmackhafte Speisen oder an Blut, Leid und Kriegs- terror? Der Balkan sind immer die anderen – das Anti- Europa. Die Grenze verläuft in den Köpfen und hält den Südosten des Kontinents draußen. Von Slavenka Drakulić

erlebt, wie sich dieser Name, Balkan, in das Verb balkanisieren verwandelte – und habe mit Tausenden von anderen Menschen un- ter den Folgen dieser Metamorphose gelit- ten. Allerdings möchte ich jetzt nicht dis- kutieren, wie wir dieses Geschehen hätten verhindern können – das hieße, töricht zu beklagen, was nicht mehr zu ändern ist – sondern überlegen, wie dieses Verb wieder nur zum Substantiv werden könnte. Wir haben alle von der Balkanisierung der Sowjetunion gehört oder gelesen. Häu- fig entdeckte ich in der Zeitung eine Über- schrift wie „Die Balkanisierung Kenias“ ch muss gestehen, dass ich den Namen oder „Washington betreibt die Balkanisie- Balkan nicht mag. Zu Recht mögen Sie rung Boliviens“. Erst kürzlich stieß ich in fragen: Wie ist das möglich? Sind Na- einem Buch von Ryszard Kapuściński über menI nicht neutral und in gewissem Sinne Afrika auf den folgenden Satz: „Der Afri- auch unschuldig, weil alles davon abhängt, kaner kennt sich gut in dieser Geografie wie wir sie verwenden, und in welchem freundschaftlicher und feindseliger Stam- Kontext? Oder ist der Name Balkan eher mesbeziehungen aus, die nicht weniger be- eine Art Supermarkt, in dem verschiedene denklich sind als jene, die heute auf dem Leute mit einem Einkaufskorb umherge- Balkan herrschen.“ Wenn Sie bei Google hen und ihn mit Bedeutungen füllen, die nachschauen, finden Sie 13 000 Seiten un- bereits in den Regalen ausliegen? Und was ter dem Stichwort „Balkanisierung“, und für Gründe könnte ich haben, so gefühls- die englische Seite von Wikipedia erklärt, betont auf diesen besonderen Namen zu der Begriff „balkanization“ sei „ein geopo- reagieren? Schließlich ist der Name einer litischer Begriff, der ursprünglich die Zer- geografischen Region kein Mensch, den splitterung oder Unterteilung einer Region man mag oder nicht ... oder eines Staates in kleinere Regionen oder Doch ich kann dem entgegenhalten, dass ich einen Grund – einen stichhaltigen Grund – für die Animosität habe: Ich habe

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Staaten bezeichnete, die sich untereinander einkaufen (auch das sind Supermärkte, die häufig feindselig oder unkooperativ verhal- zum Platzen mit Bedeutungen gefüllt sind!) ten. (...) Zunächst bezog sich der Begriff auf erwerben Sie – um es ganz einfach auszu- die Konflikte, die im 20. Jahrhundert auf drücken – die Vorstellung, dass der Bal- dem Balkan ausbrachen. Die erste Balka- kan das ist, was Europa nicht ist. Lassen nisierung manifestierte sich in den Balkan- Sie die Geografie beiseite, die Grenze ver- kriegen und fand später eine Bestätigung läuft irgendwo in den Köpfen, nicht in der durch die Kriege im ehemaligen Jugosla- Landschaft selbst. Für Zeitgenossen ist sie wien. Mit dem Wort werden auch andere höchstwahrscheinlich durch die Fernseh- Zerfallsformen bezeichnet, beispielsweise bilder der letzten Kriege definiert. die Unterteilung des Internets in separate Wenn Sie die Augen einen Moment Enklaven. Manchmal ist mit Balkanisie- schließen und Balkan sagen, sehen Sie ver- rung auch die divergierende Entwicklung mutlich die Bilder von Flüchtlingsmassen von Programmiersprachen und Dateifor- vor sich, von weinenden Frauen mit Kopf- maten gemeint. (...) In der amerikanischen tüchern, Vukovar in Trümmern, Leichen, Städteplanung versteht man darunter die noch mehr Leichen, die CNN-Reporterin Entwicklung geschlossener Wohnanla- Christiane Amanpour, die vor einem Hin- gen. (...) Im Januar 2007 sprach Gordon tergrund von Tragödien und Verwüstungen Brown in Hinblick auf die wachsenden berichtet. Dann erinnern Sie sich vielleicht schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen an die Zahlen (mehr als 7000 ermordete von der ‚Balkanisierung Großbritanniens’“. muslimische Männer in Srebrenica, 60 000 Der englische Merriam-Webster fügt vergewaltigte Frauen, 200 000 Tote in Bos- hinzu, dass „balkanize“ ein transitives Verb nien, 10 000 verwundete Kinder ...). Oder, ist, dessen Synonyme „teilen“ und „aufglie- wenn Sie kein Zahlengedächtnis haben, fal- dern“ sind. Überflüssig zu erwähnen, dass es len Ihnen wahrscheinlich Gesichter ein, vor ein anrüchiges Wort ist und dass das Sub- allem das eines zum Skelett abgemagerten stantiv (oder der Name) infolge des Verbs jungen Mannes hinter dem Stacheldraht­ ebenfalls eine besondere Bedeutung ange- zaun eines Konzentrationslagers in Omars- nommen hat – nicht mehr bloß ein Name ka, Bosnien. und nicht mehr unschuldig. Oder die Gesichter von Kriegsverbre- chern wie Ratko Mladić, dem langhaa- Was Europa nicht ist rigen Radoslav Karadžić oder Slobodan Milošević. Ich erinnere mich an einen Pul- U m auf die Metapher des Supermarkts lover, einen weißen handgestrickter Pul- zurückzukommen: Was Sie heute in Ih- lover mit roten Flecken. Er gehörte dem rem Einkaufskorb haben, hängt natürlich Vater eines kleinen Mädchens, das von davon ab, wo Sie einkaufen. Wenn Sie in einem Granatsplitter getötet worden war. Wien oder im „Westen“ oder in „Europa“ Während der Vater den winzigen Körper im Arm hielt, sickerte das Blut seiner Toch- Die Grenze verläuft irgendwo in ter in den Pullover, den er noch eine halbe den Köpfen, nicht in der Land- schaft selbst.

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Stunde später trug, als eine CNN-Kamera Natürlich hatte das zur Folge, dass die Men- ihn filmte. Wem wäre ein Vorwurf daraus schen, die dieses Raum-Namen-Verb-Bild- zu machen, dass ihm alle diese Dinge in Symbol bewohnten, zu Gefangenen der ne- den Sinn kommen, wenn er den Namen gativen Konnotationen wurden. Ihnen (uns) Balkan hört? gefiel es nicht, dazugerechnet zu werden, Einige von Ihnen erinnern sich vermut- folglich versuchten sie sich zu distanzieren. lich auch an das unwirkliche Blau der Adria, Niemand will zum Balkan gehören. Das das schmackhafte Essen, die Strände mit gilt auch für den Blick von Orten aus, die den kleinen weißen Kieseln, an denen Sie man eigentlich dem Inneren des Balkans mit ihren Eltern Urlaub machten, damals zurechnen würde: „Der Balkan, das sind in den Sechzigern, als alles noch anders war. die anderen!“, wie es der slowenische Sozi- Doch ich befürchte, dass sich die Vorstel- ologe Rastko Močnik in seiner treffenden lung vom Balkan als Nicht-Europa in den Formulierung ausdrückte. Jeder von uns Köpfen festgesetzt hat, seit sie diese idyl- (Slowenen, Kroaten, Serben und so fort) lische Landschaft das letzte Mal besucht blickt weiter nach Osten, und damit verla- haben. gert sich diese symbolisch imaginäre Grenze Das Buch der Historikerin Maria Todo- vom Wiener Südbahnhof nach Triest und rova, „Die Erfindung des Balkans“, machte Ljubljana, dann nach Zagreb und Sarajevo, deutlich, das wir es hier mit einer „imagi- schließlich nach Belgrad und sogar noch nären Geografie“ zu tun haben, um den weiter südöstlich nach Priština. Keine Gren- Ausdruck von Edward Said aufzugreifen. ze dieser Erde ist so flexibel, und das liegt Erinnern wir uns, Todorova sagte, der Bal- daran, dass es keine Grenze, sondern eine kan sei ein alter Name (der türkische Name Wahrnehmung ist. für das Stara-Planina-Gebirge in Bulgari- en), aber ein ziemlich neuer Ausdruck, der Schlägerei in der Balkankneipe Ende des 19. Jahrhunderts entstand, als der Balkan langsam – in einer Art „literarischer E s ist sehr interessant, wie Maria Todo- Kolonisation“ – zu dem dunklen und ge- rova das negative Image des Balkans histo- fährlichen, aber auch exotischen Ort wurde. risch analysiert (übrigens nennt sie mich Daran waren verschiedene westliche Au- als eine der Autorinnen, die das negative toren beteiligt – unter anderem Rebecca Image benutzen, indem sie es als transitives West, Agatha Christie, Bram Stoker, Karl Verb statt als Substantiv verwenden – ich May; bis hin zu den Nachkriegserinne- gestehe, dass ich es tat). Doch ich erinnere rungen von Politikern wie David Owen mich noch persönlich an diese Verände- und Richard Holbrooke oder den „Rei- rung in den letzten Jahrzehnten – obwohl sebüchern“ von Robert Kaplan und Pe- die Verwandlung, wie erwähnt, nicht 1991, ter Handke. Der Balkan wurde zu einem sondern mit den Balkankriegen begann, Raum, in dem die Mythologie mächtiger sich dann fortsetzte mit Gavrilo Princips als die Geschichte ist, dessen wilde, exo- Attentat auf Franz Ferdinand, rund eine tische Bewohner keine höheren Werte als Generation später mit dem Zweiten Welt- Blut und Boden kennen und der, auf ewig überschattet von Konflikten und Religi- onskriegen, eine Stätte der Unsicherheit ist.

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krieg und erst dann mit dem Zerfall Jugo- R egime mit dieser Aufgabe betraut werden, slawiens. Der Ausdruck „Balkan“ wurde in was uns, nebenbei gesagt, auch daran er- Ex-Jugoslawien nicht oft verwendet – und innern sollte, dass die Kultur und ihre Re- nicht ausschließlich in negativem Sinne. präsentanten nicht notwendigerweise oder Gewiss, man bezeichnete damit das pri- definitionsgemäß eine positive Kraft in der mitive Verhalten eines Menschen, etwa das Gesellschaft sind – vergessen wir nicht, dass eines Mannes, der seine Frau verprügelte. Radovan Karadžić ein Dichter und Dobrica Oder man benutzte die berühmte Paraphra- Ćosić ein Schriftsteller war. se des Schriftstellers Miroslav Krleža für Po- Ehrlich gesagt, ich staune immer wieder, litik: „balkanska krčma“, die Balkan-Knei- dass das Publikum im Westen bei jeder öf- pe, in der die Schlägerei beginnt, wenn das fentlichen Lesung oder Rede die ewig glei- Licht ausgeht. Doch für die jungen Leute che Frage stellt. Das geschieht unabhängig gab es Mitte der Achtzigerjahre auch John- von dem jeweiligen Thema, selbst wenn es ny Štulić‘s populären Song „Balkane moj“ sich um eine rein literarische Diskussion („Mein Balkan“), der frei von diesen „alten“ handelt. Das ist ohne Belang: Solange ich Bedeutungen war. von dort komme, gehöre ich zu denen. Und Doch wir können diese negativen Vor- obwohl so viele Jahre vergangen sind, so stellungen nicht einfach ignorieren, denn viele Zeitungsartikel gedruckt, Fernsehsen- sie sind nicht nur imaginär; die jüngsten dungen ausgestrahlt und Bücher veröffent- Kriege bestätigten diese mentale Landschaft licht wurden – die Frage bleibt immer die als realen Ort des Schreckens und der Zer- gleiche: Wie und warum hat der Krieg in splitterung. Außerdem gibt es jetzt die neu- Jugoslawien begonnen? Warum versank ein en Grenzen, und die sind nicht symbolisch, blühendes Land, das frei vom Kommunis- sondern real, mit der hellroten Farbe des mus sowjetischer Spielart und blockfrei war, Blutes gezogen. in einem so blutigen und brutalen Krieg? Für mich persönlich, als Schriftstellerin, Meine sehr lakonische Lieblingsantwort ist die Geschichte des Balkans als „Name, lautet: Unser Land zerfiel wegen – der ita- der zum Verb wurde“ besonders schmerz- lienischen Schuhe! Weil wir glaubten, wir lich, weil den realen Kriegen der „Krieg der wären frei, entwickelten wir keine demo- Worte“ vorausging und ich erleben musste, kratische politische Alternative, und das welches Unheil Worte anrichten können. Vakuum wurde von Nationalisten gefüllt. Kein Krieg geschieht einfach so; es muss Doch bedenken wir Folgendes: Nach eine Phase der Propaganda vorausgehen, um all diesen Jahren, achtzehn seit Beginn des das Töten psychologisch vorzubereiten. Ge- Krieges, vierzehn seit seinem Ende, hat wöhnlich sind es Vertreter der Kultur, des eine ganze Generation Zeit gehabt, her- Bildungswesens und der Medien – Intellek- anzuwachsen, nicht nur auf dem Balkan, tuelle, Schriftsteller, Professoren, Künstler sondern auch im Westen – und was wissen und natürlich Journalisten –, die von dem diese jungen Leute? Was wissen sie hier über den Balkan, abgesehen von den Klischees? Vergessen wir nicht, dass Radovan Um die Wahrheit zu sagen, ich habe ein Karadžić ein Dichter und Dobrica Ćosić ein Schriftsteller war.

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Problem mit den Westeuropäern: Nachdem jenseits dessen uns Gewalt nichts mehr sagt. so viele Jahre vergangen sind, habe ich den Was mich zu der Überlegung führt, wie lan- Verdacht, dass die Menschen hier gar nicht ge die Deutschen brauchten, um die Vor- verstehen möchten, wie es geschehen ist. Zu urteile loszuwerden, die ihrer genozidären kompliziert, sagen sie in der Regel. Vernichtungsmaschinerie und der Vorstel- Zunächst habe ich geglaubt, sie wären lung vom deutschen „Kadavergehorsam“ einfach zu faul, um diese wenigen histo- galten. Diese historische Perspektive macht rischen Fakten in Erfahrung zu bringen. mir Hoffnung: Dreizehn Jahre seit Ende Doch nachdem mir diese immer gleiche des Kriegs auf dem Balkan ist gar nicht so Frage wieder und wieder gestellt wurde, viel Zeit, oder? änderte ich meine Meinung: Heute denke ich, dass die schrecklichen Fernsehbilder Jenseits der Horrorquote von den Kriegen auf dem Balkan eine sehr bequeme Entschuldigung dafür sind, dass Doch wenn sich andererseits nach fast man uns nicht versteht: Die Menschen neun Jahrzehnten der Name „Balkan“ auf von dort und unsere Kriege sind einfach die Bedeutung eines transitiven Verbs re- nicht zu verstehen, weil sie so vollkommen duziert hat, stellt sich die Frage, wie lange verschieden sind. Tatsächlich dienen die- es dauern wird, das umzukehren. Lässt sich se Bilder und Erinnerungen als eine Art dieser Name wieder reinwaschen; kann er Schutzschild. Würden die Europäer sagen, wieder den Glanz des Substantivs anneh- sie verstünden diese beängstigenden Ereig- men? Die Frage lautet also: Wie können wir nisse, hieße das, dass wir alle gleich oder das bewerkstelligen? zumindest ähnlich wären. Es ist sicherer, Ich denke, erstens müssten wir – ich diese Möglichkeit auszuschließen und den meine jetzt uns aus Ex-Jugoslawien – zu- notwendigen gesunden Abstand zu solchen geben, dass wir selbst zur Wiederbelebung Nachbarn zu halten. Erinnern wir uns: Der der Balkanisierung beigetragen haben, kam Balkan ist das, was Europa nicht ist. das Verb „balkanisieren“ doch mit unserer Als wäre der Westen ein unberührtes, Hilfe zu neuer Geltung: Schließlich haben nie vom Pesthauch des Bösen gestreiftes wir (nicht jemand anders, keine Fremden) Gebiet – als gingen die europäischen Na- die Kriege gegeneinander geführt. Das wäre tionalstaaten oder Revolutionen nicht auf der Anfang einer Veränderung, der Beginn blutige Anfänge zurück, als hätte Auschwitz des Reinwaschens und Aufpolierens. nicht stattgefunden ... Ja, könnte man ein- Doch wie sieht es heute mit den (ma- wenden, aber zumindest war es eleganter! teriellen) Möglichkeiten der Kultur in Ex- Kein Blut, keine Messer, kein Gemetzel, Jugoslawien aus? Ich stelle diese Frage, keine sichtbare Brutalität. Die Bilder der weil im sogenannten Übergangsprozess abgezehrten Leichen? Sie sind nicht verges- Kultur und Künste die eindeutigen Ver- sen, sondern einfach tiefer im Gedächtnis lierer sind: Während staatliche Zuschüsse verstaut, schließlich muss ein bisschen Platz ständig abnehmen, gibt es kein etabliertes für die neuen Schrecken bleiben, für Bagdad privates Spendensystem. Örtliche Privat- oder Abu Ghraib etwa. Die Aufnahmefähigkeit ist begrenzt; es muss eine Horrorquote geben, einen Punkt,

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firmen investieren lieber – in den Sport! gen: Performances, Videos, Bücher, Ausstel- Noch schlimmer ist der Umstand, dass auch lungen, Filme, Musik, Theater. dass öffentliche Interesse an Kultur und Das Paradox von Kunst und Kultur liegt Kunst zurückgeht. Der Überlebenskampf (gemessen am investierten Geld) darin, dass im Wildwest-Kapitalismus lässt weder Geld sie hervorragende Exportartikel sind und noch Energie für die Kultur übrig. Wäh- für eine beachtliche Präsenz des Landes rend beispielsweise das durchschnittliche oder der Region in der größeren Gemein- Einkommen einige hundert Euro (200 bis schaft sorgen. Sie garantieren auch einen 700) beträgt, kostet ein Buch so viel wie im gewissen Ausgleich, weil selbst ein kleines Westen, wenn nicht mehr. Land einen größeren Beitrag leisten kann: Bei den Massenmedien findet der Wett- Als die Zagreber Philharmonie unlängst bewerb zwischen öffentlich-rechtlichen und ein Konzert in Wien gab, sagte der ehe- privaten Anbietern statt. Zeitungen wer- malige österreichische Kunststaatssekretär den zu Profitmaschinen, was zur Folge hat, Franz Morak: „Das war der größte Erfolg dass der öffentliche Raum schrumpft und der kroatischen Außenpolitik in den letzten der Raum für Kultur verschwindet; es gibt zehn Jahren.“ kein Geld mehr für Kultur, es sei denn, sie Wenn wir ein Land durch seine Kultur erklärt sich zur Propaganda bereit – nicht und Kunst darstellen und wahrnehmen, er- mehr politischer Art, Werbung heißt das halten wir ein anderes und differenzierteres jetzt. Bislang hat es den Anschein, dass Bild von ihm und sehen jenes Image infrage uns das neue politische und wirtschaftliche gestellt, das die Länder der Region gewöhn- Sys­tem Freiheit auf kulturellem Gebiet be- lich auf einen einzigen gemeinsamen Nen- schert hat. Doch was können wir mit dieser ner reduzieren. Kultur kann ein Land in den Freiheit anfangen – ohne Geld? Wir kön- Blickpunkt rücken, ihm Anerkennung ver- nen uns Hoffnung auf Hilfe machen. Ja, schaffen und es als attraktiven, offenen, in- wir brauchen Hilfe aus dem Ausland. Ein teressanten und kulturell vielfältigen Raum Trost ist, dass Kultur billig ist! Jedenfalls wahrnehmbar machen. vergleichsweise. Der größte Vorteil aber ist, dass durch Gewiss, wenn Kultur dem Markt ausge- eine solche Darstellung von Kultur und liefert wird, ist ihr Schicksal Marginalisie- Künsten jeder gewinnen könnte. Das Land rung – aber Kultur ist zu wichtig, um nur könnte gewinnen, weil kleine Länder um dem Markt überlassen zu bleiben. Die Be- ihre nationale Identität fürchten. Wenn deutung von Kunst und Kultur liegt darin, Kunst und Kultur diese Identität auf der dass sie Kapital erzeugen – „symbolisches größeren Bühne präsentieren, bekämpfen Kapital“, das in der Lage ist, soziale Inte- sie die Furcht, in der EU verloren zu ge- gration zu bewirken und Werte zu verbrei- hen, und die Angst vor der Globalisierung. ten. Unter Kultur verstehe ich Menschen, Kunst und Kultur sind, wenn Sie so wollen, die heute kulturelle Artefakte hervorbrin- praktische politische Werkzeuge, um posi- tive Effekte auf außen- und innenpolitischer Kultur und Künste sind der kos­ Ebene zu erzielen. Sie sind der kostengün- tengünstigste und schnellste Weg nach Europa.

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stigste und schnellste Weg nach Europa, wirtschaftliche und politische EU kann es ihre Wirkung ist unmittelbar, weil die Men- wahrscheinlich auch keine kulturelle EU ge- schen sich und ihre Werke hier individuell ben. Doch das Gegenteil ist genauso wahr: darstellen. Da sie mit ihren Projekten und Ohne Kultur wird es mit Wirtschaft und nicht mit Reden an der europäischen Kultur Politik allein nicht klappen, jedenfalls nicht teilnehmen, ist ihre Wirkung real. auf lange Sicht. Die EU braucht ein Binde- Als Schriftstellerin bleibt mir gar nichts mittel, und das kann nur aus einer anderen anderes übrig, als an der Überzeugung fest- Sphäre kommen, einer Sphäre, zu der jedes zuhalten, dass kulturelle Projekte wie dieses Land, egal, wie klein und politisch umstrit- hier möglicherweise die einzigen Instru- ten, einen Beitrag leisten kann. mente der Veränderung und daher auch die Auch wenn es vielleicht nicht sehr of- einzigen förderungswürdigen Maßnahmen fenkundig ist – es zeigt sich aber in mehr sind. als einer Hinsicht – die Menschen streben Die Frage, welche Bedeutung es hat, nach mehr als Geld. Zumindest in Europa. Kultur in dieser Weise zu präsentieren, hat Kommen wir also zum Schluss: Falls der auch mit der Zukunft zu tun. Ich denke, Balkan wirklich nach Europa zurückkehrt, wir auf dem Balkan müssen uns noch eine muss er als Name, als Substantiv, und nicht weitere wichtige Frage stellen: Was für ei- als Verb zurückkehren. nen Beitrag könnten wir für die EU lei- Aus dem Englischen von Hainer Kober sten, unser aller künftige Heimat? Wenn man uns eine solche Frage stellt, bleiben Slavenka Drakulić ist eine der bekanntesten wir gewöhnlich einen Augenblick stumm, kroatischen Schriftstellerinnen. Ihre Romane und etwas verlegen, weil wir sie uns nicht selbst Sachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt, acht davon bisher ins Deutsche. Zuletzt erschien gestellt haben! Doch dann sind wir rasch von ihr die Monografie „Leben spenden: Was (Improvisation ist eine unserer größten Stär- Menschen dazu bewegt, Gutes zu tun“ (Wien ken!) mit einer „geistreichen“ Antwort zur 2008). Sie lebt in Wien und Istrien. Hand: das Überleben! Wir werden euch lehren, wie man trotz widrigster Umstän- de überlebt! Ohne uns klarzumachen, dass solche Kenntnisse für euch ziemlich un- wichtig sein könnten. Das dürfen wir uns nicht eingestehen. Unser Dasein unter dem Kommunismus bestand nur aus Überleben, da würde uns die Erkenntnis, dass dieses Wissen heute niemand mehr braucht, das Gefühl der Überflüssigkeit geben. Unser Leben käme uns irgendwie vergeudet vor. Trotzdem scheint mir klar zu sein, dass unser Beitrag in zwei Dingen be- stehen könnte: erstens in der kulturellen und künstlerischen Produktion und zwei- tens in jungen, gebildeten Menschen vol- ler Geist, Intelligenz und Neugier. Ohne

176 Kultur der Angst Ausgerechnet Schriftsteller und Jour- nalisten, Regisseure und Philosophen spielten eine un- rühmliche Rolle, als im ehemaligen Jugoslawien das Rad der Geschichte zurückgedreht wurde. Heute sind in diesem Teil Europas die Schrecken der Vergangen- heit noch immer wach. Die Menschen sorgen sich um die Zukunft. Literatur, Film und der intellektuelle Aus- tausch können diesen Zustand nur beschreiben. Ein Bericht über eine Reise nach Kosovo. Von Beqë Cufaj

Deutsch ist so gemächlich wie seine Mutter- sprache. Ich überreiche ihm Fahrkarte und Pass und bestelle zwei Bier, für die ich ihm das Doppelte des Preises bezahle. Das ist kein Zeichen übertriebener Großzügigkeit meinerseits, sondern hat praktische Gründe. Ich verfüge noch über einen der blauen Rei- sepässe, wie sie in Ex-Jugoslawien ausgestellt wurden, und darin befinden sich eine Men- ge von Visa und Stempeln aller möglicher Schengen- und Nichtschengenstaaten. Ein solcher Pass ist eigentlich schon unbrauch- bar, denn die ganzen Einträge animieren Grenzpolizisten, vor allem ungarische, zu eine Fahrt beginnt Mitte Juni. langen Befragungen, bei denen man sich Hätte ich das Flugzeug genom- manchmal vorkommt wie ein ordinärer Ver- men, wäre sie nach zweieinhalb brecher. MStunden überstanden gewesen. Aber dies- Der Schaffner versteht meine Trinkgeld- mal habe ich beschlossen, nicht zu fliegen. botschaft, was mich außerordentlich beru- Und so nehme ich die lange Reise auf dem higt. Landweg von Deutschland über Österrei- ch, Ungarn und Serbien nach Kosovo ger- Ein Buch mit sieben Siegeln ne in Kauf. Der Zug nach Budapest unterscheidet Das Coupé teile ich mir mit einem ko- sich von anderen Zügen auf dem Münchner reanischen Touristen. Die Verständigung Hauptbahnhof. Er hat nur zwei Waggons, erfolgt auf Englisch. Er ist in meinem Alter, die von dunkler Farbe sind. Vor den Wag- stammt aus Seoul und befindet sich auf ei- gons wartet ein Schaffner, der nicht nur die ner Europareise. Wir unterhalten uns über Fahrkarten der Reisenden zu sehen wünscht, unseren Kontinent, und ich stelle fest, dass sondern auch ihre Pässe verlangt, ehe er je- der Koreaner über Europa redet, wie wir ge- dem das Abteil zuweist, in dem er die Rei- se zurückzulegen hat. Der Schaffner ist ein Ungar. Er trägt einen Schnurrbart und sein

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wöhnlich über Asien. Das heißt, es ist für ihn seines Vetters, welcher dich dann ins Kaffee- ein Buch mit sieben Siegeln. In Budapest, so haus eines guten Freundes weiterleitet. Man kündigt er mir an, wird er unbedingt Papri- kann sich als Tourist in Ungarn aus diesem kagulasch essen. Er interessiert sich dafür, Geflecht von Beziehungen kaum befreien. was ich als Deutscher und Europäer in Bu- Der Koreaner bestätigt mir mit einem ent- dapest zu mir zu nehmen gedenke. Ich ver- schlossenen Blick, dass er verstanden hat. suche ihm zu erklären, dass ich kein Deut- Ich hoffe, es stimmt auch. Dann hält der scher bin, auch wenn ich in Deutschland Zug im Bahnhof Keleti. Kaum ausgestiegen, lebe, und unterschlage den zweiten Teil der wird man von ein paar Dutzend Taxifahrern Frage, den Europäer in mir betreffend. „Ein und alten Frauen mit Schildern überfallen, Europäer bist du aber schon?“ fragt der Ko- auf denen in merkwürdigem Englisch Bot- reaner, ohne jedoch auf weitere Auskünfte schaften wie „Hotel for fast free“ geschrieben zu meiner bevorzugten Nahrung und dem stehen. Anders als noch gestern Abend wirkt Grund meiner Reise zu insistieren. unser Zug inmitten der anderen Züge auf Das beruhigt mich. Mit Bier und mit dem Bahnhof geradezu ansehnlich. einem Buch von Milan Kundera, den ich Im Gedränge der ihr touristisches Ange- seit langem wieder lesen will („Die uner- bot unterbreitenden Ungarn werde ich von trägliche Leichtigkeit des Seins“), setze ich dem Koreaner getrennt, ohne dass ich mich diese nicht so ganz gewöhnliche Reise fort. habe von ihm verabschieden können. Wenn man, von München kommend, Ungarn hat sich dennoch sehr verändert. nach der nächtlichen Fahrt kurz vor Buda- Es ist eine Mischung aus dem, was typisch pest aufwacht, befindet man sich in einer für das sogenannte Mitteleuropa ist, aus Glo- anderen Welt. Dort, wo du herkommst, war balisierung der heutigen Tage und aus Spu- alles wohlgeordnet und genau geregelt, hier ren der Vergangenheit. Da ich das ehemalige wirkt alles depressiv, müde und ungewiss. Jugoslawien als Bürger erlebt habe, kann Sogar die Miene des ungarischen Schaffners ich meinen Neid nicht verheimlichen: Als hat sich seit München verändert. Ohne sich Ungarn und die anderen ähnlichen Staaten zu erkundigen, ob wir gut geschlafen haben, den Kommunismus abschafften, war Titos gibt er uns die Pässe zurück und serviert Jugoslawien der Achtzigerjahre nicht nur Kaffee. Als ich ihn getrunken habe, bin ich der wohlhabendste und liberalste im kom- wieder imstande, ein Gespräch zu führen. munistischen Block, sondern zur gleichen So versuche ich meinem koreanischen Reise- Zeit reichten Orte wie Budapest nicht an genossen zu vermitteln, dass er sich vor den unsere Hauptstädte heran, angefangen bei Gaunern in Budapest zu hüten hat. Skopje, über Pristina und Belgrad, Zagreb, Damit meine ich allerdings weniger die Sarajevo und Ljubljana. flinken Taschendiebe als die Taxifahrer und Bei diesen unseren Völkern jedoch wur- nicht zuletzt das Empfangspersonal in den de dank der nationalistischen Politik das Hotels. Sie sorgen ständig dafür, dass du bei Rad der Geschichte zurückgedreht. Geför- jemand landest, mit dem sie verbandelt sind. dert wurde dies ausgerechnet von der ser- Der Taxifahrer bringt dich in ein Hotel, in bischen nationalistischen Elite, von den dem sein Neffe an der Rezeption arbeitet, der Neffe empfiehlt dir das (aller Wahr- scheinlichkeit nach chinesische) Restaurant

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Schriftstellern und Journalisten, Regis- S erbien hat sich eine Menge verändert. Das seuren und Philosophen, die ermöglichten, gilt auch für die Polizisten. Angst ist doch dass der nationalistische Apparatschik Slo- etwas ganz Normales, versuche ich mich zu bodan Milošević an die Spitze des Staates beruhigen, als wir uns dem Grenzübergang kam. Binnen eines Jahrzehnts, von 1989 mit nach Serbien nähern. Vor allem für einen der Autonomieaufhebung für Kosovo bis Albaner aus Kosovo, hier an diesem Ort, 1999 mit dem Ende des Kosovo-Krieges, nach allem, was geschehen ist. entstanden sieben neue Staaten und viele Zu so früher Stunde ist an der Grenze neue Grenzen. Zugleich wurde durch den zwischen Ungarn und der Vojvodina noch Zerfall des ehemaligen Jugoslawien eines der wenig Verkehr, und so dauert es nicht lan- blutigsten Kapitel der neuesten Geschichte ge, bis wir vor dem weiß-roten Schlagbaum geschrieben. angekommen sind. In einem Häuschen mit Von all dem, denke ich, sind auch Spuren schmutzigen Fenstern sitzt ein Polizist und der Vergangenheit irgendwo in meinen Erin- nimmt die Pässe entgegen, die ihm mein nerungen und Empfindungen haften geblie- deutscher Freund reicht. Vom Beifahrersitz ben. Irgendwann Mitte der Neunzigerjahre aus beobachte ich, wie er etwas aufschreibt hatte ich das letzte Mal Kontakt mit der und sich vor allem den nicht deutschen Pass serbischen Polizei. Ich war damals Student mit dem albanisch klingenden Namen des und wurde zusammen mit drei Kommili- Besitzers genau anschaut. tonen auf der Straße von Polizisten blutig Doch der Grenzpolizist stellt keine weiter geprügelt. Der einzige Grund für diesen Fragen. Meinem deutschen Freund teilt er Übergriff: Wir studierten „illegal“ weiter, mit, dass er, um einreisen zu können, eine nachdem man uns aus den staatlichen Hör- Gebühr für das Auto zu entrichten habe, sälen vertrieben hatte. Danach verließ ich und ein paar Minuten später befinden wir das Land und bekam serbische Polizisten uns in Serbiens reichster Provinz, der Voj- nur noch im Fernsehen und auf Fotos zu vodina. Der trübe Morgen spiegelt meine Gesicht. Gefühle wieder, als wir durch die flache grü- Jetzt blicke ich mit angstvollem Un- ne Landschaft fahren, über der ein dünner behagen meiner nächsten Begegnung mit Nebelschleier hängt. Was wird uns noch den Blauuniformierten entgegen. Bei der erwarten? Abfahrt am frühen Morgen bemüht sich mein deutscher Freund, mit dem ich verein- Albaner im Anmarsch bart hatte, dass wir ab Budapest gemeinsam mit dem Wagen durch Serbien nach Kosovo Wir kommen rasch voran und sind des- fahren, noch einmal, mir die Furcht aus- halb optimistisch, bald in Belgrad anzukom- zureden. Alles ist in Ordnung, sagt er, in men. Auf den Straßen am Stadtrand sind nur wenige Lastwagen und Autos unterwegs. Je näher wir der Innenstadt kommen, des­ T itos Staat war Ende der Achtzi- to langsamer wird allerdings unsere Fahrt. gerjahre der reichste und liberalste Schließlich stockt der Verkehr ganz, und in dem ehemaligen kommuni- stischen Block.

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ein immer längerer Rückstau bildet sich, weiter in Richtung Kosovo. Auf der Auto- schlimmer als in einer deutschen Großstadt bahn hinter Belgrad gibt es nur noch weni- zu den Stoßzeiten. Mein deutscher Freund ge Fahrzeuge, kein Wunder bei den hohen wird unruhig. So etwas hat er noch nie er- Autobahngebühren. Es geht mitten durch lebt, obwohl er auf der Fahrt nach Kosovo Serbien, doch nehmen wir nicht die übliche oder nach Mazedonien schon oft diese Stre- Strecke über Niš und Prokuplje, sondern fa- cke gefahren ist. Wir sitzen also fest in Bel- hren, ohne vorher recht nachzudenken, von grad, das, wenn man nach dem Namen geht, Niš aus weiter nach Leskovac, um von dort eigentlich weiß sein sollte, aber in Wirklich- über Medveda nach Kosovo zu gelangen. keit grau ist, unerträglich grau. Die Nacht senkt sich langsam auf die ser- Ich mache einen Scherz: Wahrscheinlich bische Provinz herab. Wir kommen durch haben die Belgrader mitbekommen, dass ein Städtchen und Dörfer, die in der Finsternis Kosovo-Albaner im Anmarsch ist, und des- noch gottverlassener wirken als vermutlich halb alle Straßen gesperrt. Inzwischen geht schon am hellichten Tag. Ganz Serbien wirkt nämlich gar nichts mehr. wie eine dunkle Höhle mit gebrochenen, Es ist schon komisch. Ich habe viele erschöpften und deprimierten Menschen. Freunde und Bekannte hier, aber ich bringe „Nichts ist schlimmer für ein Volk als eine es nicht über mich, auch nur einen einzigen solche Depression“, sage ich. Mein deutscher von ihnen anzurufen. Es ist wohl so, dass Freund stimmt mir zu. Wir kommen durch ich mich in dieser Hauptstadt fremd füh- die schmutzigen, nur spärlich beleuchteten len möchte. Straßen von Leskovac. Danach wird es So fremd, dass ich, während mein Freund immer einsamer. Wir fahren eine langge- seine privaten Angelegenheiten in der ser- streckte Anhöhe hinauf und erreichen eine bischen Hauptstadt erledigt, durch die Ca- halbe Stunde später den Grenzübergang bei fé-Terrassen spaziere, serbische Zeitungen Medveda. Vier bis an die Zähne bewaffnete lese und Kundera weiterblättere. Diese Stadt Polizisten halten uns an. Es sind serbische bleibt weiterhin von der blutigen Vergan- Polizisten vom groben Schlag, wie sie in Ko- genheit besudelt. Die Stadt lässt bewusst sovo über Jahre hinweg ihre „Arbeit“ getan Hochhausruinen stehen, auf die NATO- haben. Sie blättern endlos in unseren Päs- Bomben gefallen waren. Als Mahnmal und sen, und mein deutscher Freund wundert Relikt der Feindschaft. Hier wird gemahnt sich schon darüber, wie es möglich ist, dass ,und zugleich ist man nicht in der Lage, sich man an einer Grenze, die nach offizieller mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. serbischer Darstellung gar nicht existiert, Diese Antwort bleibt weiterhin aus. so heftig kontrolliert wird. Später werden wir dann in ein chine- Einer der Polizisten weist uns darauf hin, sisches Restaurant eingeladen. Eigentlich dass wir uns beeilen müssen, wenn wir heu- ist das Lokal selbst nicht übermäßig chine- te noch hinüberwollen, weil am Kontroll- sisch, wohl aber der Koch, den man in der punkt der KFOR-Truppen auf der anderen Küche die Speisen für die zahlreichen Gäste Seite in einer halben Stunde, also um 20.00 zubereiten sieht. Für Belgrader Verhältnisse Uhr, die Grenze dichtgemacht wird. Des- ist das reichhaltige „chinesische“ Menü fast unbezahlbar teuer, es kostet acht Euro. Gleich nach dem Mittagessen fahren wir

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sen ungeachtet lassen sich seine Kollegen und in Schutt und Asche gelegt, die ganze demonstrativ viel Zeit mit unseren Pässen. wirtschaftliche, politische und kulturelle Sie müssten die Echtheit überprüfen, be- Infrastruktur eines Landes mit zwei Mil- hauptet einer von ihnen. „Das geht doch gar lionen Einwohnern lag am Boden. Immer nicht“, meint mein Freund, „in dieser Hütte noch da ist der für den ganzen Balkan cha- hier oben gibt es bestimmt weder Computer rakteristische Lehm. Aber sonst hat sich in noch Telefon. Sie wollen uns nur aufhalten.“ den Jahren der KFOR-Friedensmission so Das ganze dauert fünfzig Minuten, mit der ziemlich alles verändert: die Menschen, die Folge, dass uns die zwei KFOR-Soldaten auf Straßen, die Häuser, die Geschäfte ... Die der anderen Seite freundlich mitteilen, dass Hektik und Nervosität von vor zwei Jahren wir leider nach Serbien zurückmüssten, es ist verschwunden. sei ja bereits nach 20.00 Uhr. Zwei- und manchmal auch dreisprachige Schrecklich! Zurück in dieses große, (albanisch, serbisch, englisch) Schilder auf schwarze Loch! Mein deutscher Freund den frisch asphaltierten Straßen, Ampeln tröstet mich: „Lass ihnen doch diesen klei- und vor allem die pflichteifrige einheimische nen Triumph. Heute stehlen sie dir ein paar Polizei schaffen ein ganz ungewohntes Bild. Stunden, vor zehn Jahren konnten sie dir Seit es die neue kosovarische Polizeitruppe noch das Leben nehmen.“ in ihren hellblauen Uniformen gibt, zu der Wir fahren zurück nach Niš und von dort Albaner, Serben und Angehörige der an- aus über Kuršumlija nach Merdare. Drei un- deren Minderheiten gehören, Männer und nötige Stunden. Aber die Grenzformalitäten Frauen (welch eine Sensation auf dem süd- sind hier schnell abgewickelt. Drüben in der lichen Balkan!), ist die internationale „Co- Heimat warten viele Lichter. Die Straßen ca-Cola-Polizei“ nicht mehr gefragt, wo es sind asphaltiert, und die Leuchtreklamen um die Überwachung des Verkehrs und die der Tankstellen und Geschäfte vermitteln Bekämpfung der Alltagskriminalität geht. einem das Gefühl, man sei in einer ande- Um der Korruption vorzubeugen, werden ren Welt gelandet. Wir haben die serbische Geldstrafen (auch das ganz neu auf dem Bal- Dunkelheit hinter uns gelassen, für heute, kan) nicht mehr an Ort und Stelle kassiert, für immer. vielmehr behält die Polizei den Führerschein Das Land, in das wir einreisen, ist nicht ein, den man erst nach Bezahlung der Strafe mehr jenes, das es vor dem NATO-Ein- zurückbekommt. marsch vor zehn Jahren war, und es ist nicht Die neu ausgegebenen, provisorischen mehr das Land, wie es vor der Unabhän- kosovarischen Personalausweise werden in- gigkeit existierte, die vor anderthalb Jah- zwischen von dreiundzwanzig Staaten aner- ren ausgerufen wurde. Damals, kurz nach kannt. Die KFOR-Soldaten sind natürlich dem Krieg, waren zwei Drittel der Dörfer auch noch da, doch sie halten sich nun dis- in Kosovo zerstört, halbe Städte geplündert kret im Hintergrund. Von der früheren geradezu abstoßenden Trägheit des öffentlichen Lebens in Priština H eute stehlen sie dir ein paar ist heute nichts mehr zu spüren. Heute schlägt man nicht mehr den ganzen Tag Stunden, vor zehn Jahren konnten im Café tot, sondern man trinkt dort sei- sie dir noch das Leben nehmen. nen Kaffee, wechselt ein paar Worte mit

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Freunden und bricht dann wieder zu seinen deuten nicht auf eine schnelle Heilung hin. Geschäften auf. Ein Freund von mir ist fest Nicht, weil es Kriegsgefahren gibt, sondern davon überzeugt, dass die Kosovaren inzwi- weil die wirtschaftlichen Sorgen und die schen schon wie die Deutschen sind, was Angst um die Zukunft diese Koexistenz so den Arbeitseifer und die Sorge um das frisch zerbrechlich machen. Und in solchen Fäl- erworbene Eigentum angeht. Zwar war er len kann die Kultur, Literatur, Film und noch nie in Deutschland und kennt die der intellektuelle Austausch diesen Zustand Deutschen gar nicht, aber er hat immerhin nur beschreiben. Diese Angst ist stets spür- recht mit der Feststellung, dass sich etwas bar, dort wo das Aschgrau dominiert, von grundlegend geändert hat. Früher beklag- den Grenzen bis hin zu zufälligen Passanten te man das erlittene Leid und grämte sich auf der Straße. Das ist es. Nichts mehr und um die nicht vorhandene Unabhängigkeit, nichts weniger. heute gehen die Leute ihrer Arbeit nach und Ich beschließe, in meine zweite Heimat fürchten nichts mehr, als dass die Auslän- – Deutschland – mit dem Flugzeug zurück- der aus Kosovo weggehen könnten. Von den zukehren. vierzig Prozent Beschäftigten, von denen man heute in Kosovo ausgeht, arbeiten al- Beqë Cufaj, Jahrgang 1970, ist Schriftsteller. Er lebt lein fünfundzwanzig Prozent bei internati- in Deutschland und Kosovo. Zuletzt ist von ihm „Der Glanz der Fremde” (Zsolnay Verlag) erschienen. onalen Einrichtungen wie KFOR, EULEX und OSZE oder den verschiedenen Nicht- regierungsorganisationen. Allmählich gewöhne ich mich wieder ein. Aber ich kann nicht umhin festzustellen, dass ich nicht mehr wirklich dazugehöre, dass ich kein Teil dieser neuen Realität bin, die man als den Beginn des Beginns einer Normalisierung bezeichnen könnte. Und wie soll ich mich nicht ein wenig enttäuscht fühlen über die mageren Ergeb- nisse der Bemühungen um Aussöhnung und Aufarbeitung. Was habe ich in den letzen Jahren mit Kollegen, Serben, Kroaten, Bos- niern, Mazedoniern, Montenegrinern, Slo- wenen, aber auch Albanern diskutiert. Auf Konferenzen, in Seminaren, bei Lesungen, durch schriftliche Gegenüberstellungen. All dies wurde mehrheitlich in Europa durch- geführt. Und nun kommt mir all das ein wenig umsonst vor. Diese weiterhin unglücklichen, immer noch mit Narben aus einer so nah zurück- liegenden Vergangenheit gezeichneten Men- schengesichter in Serbien oder in Kosovo

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183 184 185 Zwischen den Polen Jahrzehntelang beherrschte der Konflikt in Nordirland das Leben der Menschen dort. Europa war, wenn überhaupt, kaum mehr als ein ferner Traum. Mit dem Friedensschluss vor einigen Jahren kehrte Normalität ein, ein gewisser Wohlstand ver- breitete sich. Und mit ihm kamen Arbeitsmigranten aus anderen Teilen Europas. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Nordiren dem Kontinent ein Stück näherge- kommen sind. Von Glenn Patterson

der Gebäudefront heruntergelassen und an- gesteckt. Die Botschaft wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Jene Nacht – dieser historische Augen- blick – war laut dem damals anwesenden Colm Tóibín ein entscheidender Wende- punkt, nicht nur für ihn als Individuum, sondern für die gesamte Gesellschaft Südir- lands. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Ent- weder folgte man der Logik der Flammen und warf sich mit Leib und Seele in den Flächenbrand jenseits der Grenze – oder man betrachtete den Brand der Botschaft als einen Endpunkt. er irische Romancier Colm Tóibín Wie die große Mehrheit entschied sich erzählt eine interessante Ge- Tóibín für die zweite Option. Als Folge der schichte. Eine, die meines Wis- Ereignisse des 2. Februar 1972 kehrte die Dsens bisher noch in keinem seiner hoch- Republik Irland – im täglichen Sprachge- interessanten Bücher erschienen ist. Am brauch „Der Süden“ – so auch der Titel von Sonntag, den 30. Januar 1972, der als Colm Tóibíns erstem Roman (obwohl die- Bloody Sunday in die Geschichte einge- ser zum Teil in Spanien spielt) dem Norden gangen ist, töteten britische Soldaten bei den Rücken zu und wandte mit derselben einem Marsch der Bürgerrechtsbewegung metaphorischen Bewegung den Blick nach in Derry, der zweitgrößten Stadt Nordir- Europa. lands, vierzehn unbewaffnete Zivilisten mit ihren Schüssen. Drei Tage später mar- Provinzielle Engstirnigkeit schierten über zwanzigtausend Menschen zur britischen Botschaft am Merrion Square I m Januar 1973 schloss sich die Repu- in Dublin. Es kam zu Gewaltausbrüchen blik Irland dem damaligen Gemeinsamen und Brandbomben flogen. Man versuchte, Markt an. Der Beitritt Nordirlands als „Ver- die Tür der Botschaft aus ihren Angeln zu bomben. Als die Proteste ihren Höhepunkt erreichten, wurden britische Flaggen von

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waltungsbezirk Großbritanniens“ – so die II. ausgerufen wurde, wurde das Graffito korrekte offizielle Bezeichnung – erfolgte zu „No Pole Here“ (Kein Zutritt für den zum selben Zeitpunkt. Aber während der Polen) – unsere Art von Humor. Es war we- Süden dem europäischen Gedanken mit niger eine Drohung als die Benennung einer großem Enthusiasmus begegnete, fand der Tatsache. Sogar unter den vorherrschenden Norden nach wie vor weniger produktive Bedingungen des Jahres 1978 in ihrem ei- Möglichkeiten, die Waffen sprechen zu genen Land wären nur sehr wenige Polen lassen. Tatsächlich begann in Nordirland im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte auf den eine Phase intensiver provinzieller Engstir- Gedanken gekommen, nach Belfast um- nigkeit, und ein Gefühl der Zugehörigkeit zuziehen. Wenn man sich Filmaufnahmen assoziierte man oft mit einem Gebiet, das aus jener Zeit vor fast dreißig Jahre ansieht, nur aus wenigen Quadratmeilen bestand herrscht in der Stadt die Atmosphäre eines und manchmal sogar noch sehr viel kleinere Polizeistaates. Den Begriff „Polizei“ konnte Ausmaße hatte. Belfast war so umfassend man auf jene paramilitärischen Organisa- getrennt, dass viele Leute „ihr Gebiet“ nur tionen ausdehnen, die in den Bezirken der verließen, um zur Arbeit zu gehen – gesetzt Loyalisten und Republikaner herrschten den Fall, sie hatten eine Arbeit, wegen der und ihre sehr eigenen rauen Methoden an- sie das Haus verlassen mussten. wendeten, um die Stimmen der Opposition Die Grenzen zwischen diesen nach Kon- zu Schweigen zu bringen: Klebeband über fessionen getrennten Bezirken waren mit den Mund, eine Kapuze über den Kopf und Fahnen, Wandmalereien und natürlich mit eine Kugel ins Genick. Graffiti markiert. Zu den am häufigsten Nordirland ist dafür berühmt, dass man auftauchenden Slogans in den Stadtteilen keine Straße entlanggehen kann, ohne einen der Loyalisten – den Protestanten aus der Dichter zu treffen – oder zumindest keine Arbeiterklasse – zählte „No Pope Here“ Bar betreten kann, ohne auf einen Dichter (Kein Zutritt für den Papst). Der Slogan zu stoßen. erinnerte daran, dass vor sehr langer Zeit Es waren jedoch nicht die Worte eines jener Konflikt, der uns so viel von unserer Dichters, die meiner Ansicht nach die Stim- Energie und unserer Wirtschaftskraft und mung jener Jahre am besten umschrieben so viele Leben unserer Mitbürger kostete, haben, sondern eine Gruppe junger Män- Bestandteil eines größeren europäischen ner, die fast noch Teenager waren: Auf dem Religionskrieges war. Debütalbum der Belfaster Punkband Stiff Als Kardinal Karol Józef Wojtyła im Little Fingers, das vier Monate nach dem Oktober 1978 zum Papst Johannes Paul ersten Graffito „No Pole here“ herauskam, gibt es einen Song mit dem schlichten Ti- tel: „Here We Are Nowhere: Here we are Nordirland ist dafür berühmt, nowhere, nowhere left to go“ (Hier sind wir dass man keine Straße entlang- im Nirgendwo. Hier sind wir im Nirgendwo gehen kann, ohne einen Dichter und können nirgendwo mehr hin). Oder zu treffen – oder zumindest keine wie ein Freund von mir immer sagte: „Hier Bar betreten kann, ohne auf einen Dichter zu stoßen.

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treiben wir also im Atlantik in nicht allzu bedauerlicherweise weit vor uns hier in Bel- großer Entfernung vom Nordpol und besit- fast haltmachte) und der Osten immer stär- zen die Frechheit, uns übers Wetter zu be- ker als Bedrohung dargestellt wurde – ganz schweren.“ Nirgendwo oder in der Nähe des gleich, wo man den Anfang des Ostens zum Nordpols – jedenfalls hätten wir uns nicht jeweiligen Zeitpunkt sah: An der Meerenge weiter vom übrigen Europa entfernt fühlen des Bosporus oder am Brandenburger Tor. können: Wir schienen nicht aus demselben Das ultimative Beispiel dieser Strömung gen Holz geschnitzt zu sein. Was mir aus mei- Westen findet sich meiner Ansicht nach im ner Teenagerzeit am meisten im Gedächtnis Disneyland von Paris. Die Disney Corpo- haften geblieben ist, war das viele Glas der ration hat sehr viel Zeit und Geld darauf Gebäude in Straßburg und Brüssel, die man verwendet, das genaue Zentrum Europas in den Fernsehnachrichten sah. In Belfast zu lokalisieren – und sich letztendlich ent- waren die Fenster durch Sicherheitsgitter schieden, dass es knapp 21 km südöstlich und Sichtschlitze ersetzt worden. Es fehlte von Paris liegt. Während der Bauarbeiten uns das Gefühl, ein Teil Europas zu sein, für den Park stellte sich jedoch mit dem Fall und wir liefen Gefahr, es vollkommen aus der Berliner Mauer und dem Zerfall von Ju- den Augen zu verlieren. goslawien heraus, dass die Geschichte selbst Auf den ersten Seiten seiner großartigen die Koordinaten verändert hatte. Geschichte Europas liefert der britische Hi- Und natürlich entstehen all die Unsi- storiker Norman Davies eine akkurate In- cherheiten und Ängste über die Grenze im terpretation des Mythos Europa. Wenn man Osten genau deshalb, weil – wie Norman sich an Ovid erinnert, so war Europa die Davies erneut treffend ausdrückt – Europa Mutter von Minos, die beim Planschen in streng genommen gar kein Kontinent und den Wellen ihrer Heimat Phönizien – dem nicht „in sich geschlossen“, sondern ledig- heutigen Südlibanon – auf den Gott Zeus lich eine Halbinsel, eine Ausbuchtung der in Gestalt eines schneeweißen Bullen traf. größten Landmasse der Welt ist. Europa ließ sich dazu überreden, auf den An dieser Stelle erinnere ich mich an Rücken von Zeus zu steigen, und der Gott eine weitere große literarische Figur, Albert eilte mit ihr über die Wellen nach Kreta. Camus, dessen Werk für viele von uns in „Zeus“, so Davies, „brachte sicherlich die Nordirland in unserem nordirischen Nir- Früchte der älteren asiatischen Zivilisati- gendwo ein Geschenk des Himmels war. onen des Ostens zu den neuen Inselkolo- In den letzten Monaten des Zweiten Welt- nien in der Ägäis … In der Frühzeit der europäischen Geschichte lag die bekannte Welt im Osten und das Unbekannte war- I n Belfast waren die Fenster durch tete im Westen.“ Dies ist eine Umkehrung nahezu der Sicherheitsgitter und Sichtschlitze gesamten darauf folgenden europäischen ersetzt worden. Es fehlte uns das Geschichte, bei der das „Zentrum“ sich im- Gefühl, ein Teil Europas zu sein mer stetiger nach Westen verlagerte (jedoch und wir liefen Gefahr, es voll- kommen aus den Augen zu ver- lieren.

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kriegs, der wie die meisten größten Bedro- genau in dem Moment ein Gewitter los, als hungen, die Europa im 20. Jahrhundert uns die Grenzposten das Signal zur Weiter- erfuhr, ganz und gar nicht aus dem Osten fahrt gaben. Der nachfolgende Regen war kam, widmet sich Camus derselben Frage verschwommener als ein eiserner Vorhang, einer Definition. Im zweiten seiner Briefe aber atmosphärisch genauso wirkungsvoll. an einen deutschen Freund spricht er von Als wir zwei Tage später nach einer weiteren der „Idee Europa“ als Gegenentwurf zu dem Grenzkontrolle nach Kaliningrad hinein­ „bunten Fleck, [den die Nazis] auf vorläu- krochen, bemerkte ein kroatischer Schrift- figen Karten annektiert haben.“ Europas steller, „die Zeitmaschine funktioniert – wir echte Grenzen, so schreibt er mit bewun- sind von den Siebzigern in die Fünfziger- dernswerter Ungenauigkeit weiter, sind „der jahre zurückversetzt worden.“ Genius einiger weniger und das Herz all seiner Bewohner“. Funktionierende Zeitmaschine Ich las zum ersten Mal in der Schule. Norman Davies las ich zum er- I ch lachte mit ihm, obwohl ich mich in sten Mal im Spätsommer 2000, auf meiner Wahrheit bereits in das Land verliebt hat- Rückkehr nach Belfast vom Literatur Ex- te, das wir hinter uns ließen. Und mehr als press, einem Projekt, das seinen Ursprung in nur verliebt: Während der folgenden Mo- Berlin hatte und 106 Schriftsteller auf eine nate begann ich meinen Glaubensfeldzug siebenwöchige Odyssee von Lissabon nach für Polen und sprach mit jedem, der bereit Berlin über Spanien, Frankreich, Belgien, war, mir zuzuhören, mit dem Eifer eines Norddeutschland, das Baltikum, Russland, Konvertierten über das Land. Ohne die Weißrussland und Polen schickte. Aus den polnische Geschichte zu verstehen, konn- vielen hundert Büchern zum Thema hatte te man die europäische Geschichte nicht ich „Europe: A History“ von Norman Da- verstehen, und ohne Verständnis der eu- vies ausgewählt, zum Teil, weil ich wusste, ropäischen Geschichte war es unmöglich, dass er ein Experte für Polen war – jenes endlich von der Politik der Vergangenheit Land, das mich nach anderthalb Monaten loszukommen und sich sozusagen von der mit dem Literatur-Express am meisten in- Folklore zu befreien. Ich mochte Polen so teressierte. sehr, dass ich den Strafzettel, den ich in Polen steckte damals noch mitten in Warschau in meiner Zerstreutheit für das langwierigen Verhandlungen über die Be- Überqueren der Straße bei Rot bekom- werbung zum EU-Beitritt und war zu dem men hatte, an die Pinnwand über meinem Zeitpunkt noch Osten. Auf einem frühen Schreibtisch hängte (Die Strafe war über Abstecher nach Malbork auf unserem Weg mich verhängt worden und ich verließ das von Hannover nach Kaliningrad musste der Land, ohne sie zu bezahlen: So zerstreut Literatur-Express eine Stunde lang auf einer kann selbst ich nicht sein). Brücke über die Oder warten, während die Nahezu vier Jahre später, am 1. Mai Einreisepapiere überprüft wurden. Durch 2004, wurde Polen schließlich der Beitritt einen außergewöhnlichen Zufall brach fast zur Europäischen Union gewährt und im Jahr danach starteten die ersten Direktflüge zwischen Belfast und Warschau, die noch dazu billig waren.

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Und es besteht kein Zwei­fel: Eine der pas zu sein. Der nordirische Friedensprozess wichtigsten und populistischen Maßnah- hat dazu geführt, dass die Immobilienpreise men der letzten Jahrzehnte war mit Sicher- schnell nach oben gingen – sehr viel schnel- heit die Deregulierung des Flugverkehrs. ler, als der Friedensprozess vorankam. Die Lässt man für einen Augenblick die poten­ Mieten wurden ebenfalls in die Höhe getrie- ziell katastrophalen Auswirkungen all die- ben, so dass viele der neu Zugewanderten ser Kurzstreckenflüge auf die Umwelt und sich gezwungen sahen, nach Unterkünf- einen Kundenservice außer Acht, dem nur ten in eher unbeliebten (und daher billi- daran gelegen ist, die Flieger möglichst voll gen) Stadtteilen zu suchen. Insbesondere zu bekommen, gibt es rein gar nichts, was die Polen haben auf diese Weise manchmal die europäische Integration stärker geför- die religiöse oder sektiererische Balance aus dert hat als die Billigfluglinien. Wenn die dem Gleichgewicht gebracht. Polen ist ein Europäische Union in Easyjet Union um- überwiegend katholisches Land, und die benannt würde und man eine Mitglied- Bezirke mit den am schwersten zu vermie- schaft für Wochenendkurztrips anbieten tenden Wohnungen in Belfast sind in der würde, bin ich überzeugt, dass Großbritan- Regel protestantische Arbeiterbezirke. Es nien sich über Nacht in eine Nation enthusi- gab unzählige Zwischenfälle: Zerbrochene astischer EU-Anhänger verwandeln würde. Fensterscheiben, Drohungen, und es wur- Natürlich meine ich das scherzhaft, aber den sogar Häuser angezündet. Für die Op- dem Ganzen liegt auch ein ernsthafterer fer solcher Angriffe ist es eigentlich sowieso Aspekt zugrunde. Europa galt immer als egal, aber es war nicht immer sofort klar, etwas, für das wir in Großbritannien und ob nun eine neue Form der Fremdenfeind- Nordirland uns entscheiden konnten. Hin- lichkeit oder die alte religiöse Bigotterie die zu kommt, dass Nordirland genau wie der Ursache waren. Rest der Insel stets ein Auswanderungsland Vor einiger Zeit wurde ich selbst Zeuge war, und man kann sich den allgemeinen dieses Durcheinanders. Meine Frau stammt Schock vorstellen, als man feststellte, dass aus Cork in der Republik Irland. Einige der europäische Austausch in beide Rich- Bewohner der Stadt nennen sie auch die tungen lief und dass es Menschen – und Volksrepublik Cork. Zu Beginn dieses sogar ziemlich viele – gab, die sich dafür Jahres besuchte uns die Familie meiner entschieden, in unserem seltsamen euro- Frau in Belfast. Ihre Eltern, ihr Bruder päischen Außenposten zu leben: Portugie- und ihre Schwester sowie deren Ehepart- sen, Litauer, Letten und vor allem Polen. ner und Kinder waren mit von der Partie. In weniger als drei Jahren war die Zahl der Noch vor wenigen Jahren hätte dies mög- polnischen Bewohner von Nordirland von licherweise Anlass zur Sorge gegeben: Die ungefähr Null auf über dreißigtausend bzw. Nummernschilder aus dem Süden Irlands nahezu zwei Prozent der Gesamtbevölke- sind unverkennbar. Wir leben in einem Teil rung angestiegen. Die Erstsprache Polnisch von Belfast, der mit seinen rot-weiß-blauen hat Irisch bereits überholt – andererseits gilt Flaggen an den Laternenpfählen und roter, das aber auch für die kantonesische Sprache. weißer und blauer Farbe an den Wänden Schon vor dem jüngsten Einwande- rungsboom erwarb sich Belfast den zwei- felhaften Ruf, rassistische Hauptstadt Euro-

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eindeutig an Ulster und britische Einflüsse Dieser Zwischenfall spielte sich ungefähr denken lässt. Da wir jedoch das Jahr 2007 fünfzig Meter vom Hauptsitz der unver- schrieben, konnten wir alle zusammen am hohlen populistischen Democratic Union­ Samstagabend ein Restaurant in unserem ist Party ab, deren Gründer Reverend Ian Viertel besuchen und uns ein paar Stun- Paisley auch den Parteivorsitz hat und der den später – etwas wackliger auf den Bei- einmal des Europäischen Parlaments ver- nen – wieder auf den Heimweg machen. wiesen wurde, weil er eine Ansprache von Der Bruder meiner Frau und der Ehemann Papst Johannes Paul II. immer wieder mit ihrer Schwester schwankten am wenigsten „Antichrist“-Zwischenrufen unterbrach. von uns allen, waren bereits weit vorausge- Ian Paisley war außerdem Gründer und gangen und sahen sich plötzlich mit einer langjähriger Vorsitzender der Free Presby- Gruppe Jugendlicher konfrontiert, die ihre terian Church, auf deren Website eine Sto- Unterhaltung gehört hatten. ry mit „Bedrohung für das protestantische „Verpisst euch dorthin, wo ihr herge- Ulster“ überschrieben war. Dort ging es um kommen seid, ihr polnischen Dreckskerle“, Verdächtigungen, dass Priester Einwande- so die Jugendlichen. Meine beiden Schwa- rer bei der Aufnahme in das nordirische ger waren beinahe zu überrascht, um ein- Wählerverzeichnis unterstützten. Natürlich geschüchtert zu sein (die Angst setzte wie ist es als Bürger der Europäischen Union das immer sehr, sehr viel später ein). „Polnisch?“ gute Recht der Migranten, in dieses Wäh- sagten sie, als wir sie erreicht und die Ju- lerverzeichnis aufgenommen zu werden. gendlichen sich davongemacht hatten. „Die Die Website äußerte jedoch in erster Linie dachten, dass wir mit polnischem Akzent Beunruhigung über den katholischen Glau- sprechen?“ ben dieser Einwanderer und nicht etwa über Nun, „dachten“ ist vielleicht ein zu lo- deren Staatsangehörigkeit. Ganz gleich ob gischer Begriff, aber es scheint, als hätten nun explizit oder implizit – es wird unter- die Jugendlichen automatisch etwas, das stellt, dass die Einwanderung die Balance deutlich „anders“ klang, mit dem neuen der einheimischen Politik aus dem Gleich- Objekt ihres Argwohns identifiziert – näm- gewicht bringen könnte. lich mit den neu zugewanderten Einwande- Man muss hier indes hinzufügen, dass rern aus einem EU-Mitgliedstaat – anstatt es Versuche von Angehörigen der protestan- mit dem alten „folkloristischen“ Feind süd- tischen Gemeinde (oftmals ein Euphemis- lich der irischen Grenze. mus für „ehemalige Paramilitärs“) gab, ras- sistische Angriffe einzudämmen. Einmal wurden die Bewohner der Stadt Lisburn WennU die E in Easyjet Union daran erinnert, dass polnische Piloten eine entscheidende Rolle bei der Luftschlacht umbenannt würde und man eine um England gespielt hatten. Was dies je- Mitgliedschaft für Wochenend- doch für all jene Deutschen bedeutet, die kurztrips anbieten würde, würde darauf hoffen, nach Nordirland auszuwan- Großbritannien sich über Nacht dern, kann man nur vermuten. in eine Nation enthusiastischer EU-Anhänger verwandeln.

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I n der letzten Zeit hat es ermutigende mit: „Die Europäische Union im Westen Signale gegeben. Während des letzten Jahr- und die Nachfolgestaaten im Osten müssen zehnts hat sich die Polizei vollkommen ge- ihre Identitäten, ihre Grenzen und ihre Lo- wandelt. Von der Royal Ulster Constabu- yalitäten neu definieren. Irgendwie könnte lary – „the RUC dog of repression“, wie es zumindest für eine gewisse Zeit ein neues in anderem anderen berühmten Song des Gleichgewicht gefunden werden… Euro- ersten Albums der Stiff Little Fingers heißt pa wird auch in der nahen Zukunft nicht – zum Police Service of Northern Ireland. vollkommen vereint sein, aber es hat die Der PSNI praktiziert eine so genannte 50- Chance, weniger gespalten zu sein als in der 50 Strategie bei der Personalbeschaffung, Vergangenheit. Falls Fortuna Europa lacht, das heißt, es werden gleich viele Katholiken werden die physischen und psychologischen und Protestanten eingestellt, um den tra- Barrieren weniger grausam sein als je zuvor ditionell niedrigeren Zahlen katholischer seit Menschengedenken.“ Polizisten vorzubeugen. Laut Anfang 2007 Wenn heute die Stiff Little Fingers in veröffentlichter Zahlen bewarben sich na- der Ulster Hall im Zentrum von Belfast hezu eintausend Polen, die zu dem Zeit- spielten, würde es mich freuen, wenn einige punkt in Nordirland lebten, um eine Stelle unserer polnischen Nachbarn unter den al- bei der Polizei. Es gab sogar ein spezielles ternden Punks wären und bei „Here We Are Anwerbungsverfahren in Polen, worüber Nowhere“ mitsängen. Wir sind nach wie vor gewitzelt wurde, dass der Name der Polizei nicht allzu weit vom Nordpol entfernt, aber im Laufe der Zeit offiziell in Polish Service wir haben es zu einem beachtlichen Teil den of Northern Ireland geändert werden wür- Menschen aus anderen Teilen Europas zu de. Es sind schon ungewöhnlichere Dinge verdanken, die sich für ein Leben in diesem passiert. Man muss sich nur die starke Prä- Land entschieden haben, dass es dort, wo senz der Iren bei der New Yorker Polizei des wir sind, jetzt ein wenig anders ist als vorher. letzten Jahrhunderts anschauen. Aus dem Englischen von Angelika Welt Albert Camus schreibt während des Krieges in jenem zweiten „Brief an einen Glenn Patterson wurde 1961 in Belfast gebo- deutschen Freund“: „Europa muss neu ge- ren. Er ist Autor zahlreicher Romane. Sein erster, „Burning our own“ (1988), spielt im Nordirland der schaffen werden. Es muss immer wieder späten Sechzigerjahre und gewann den Rooney neu geschaffen werden.“ Es ist zweifellos Prize für irische Literatur. Seine letzten Bücher: für Camus keine Frage, wo die Grenzen zu „The Third Party” und „Once Upon a Hill: Love in ziehen sind, was Osten und was Westen ist. Troubled Times“ (2008). Was sind „wir“ und was „das Andere“? Es ähnelt eher einer inneren Erneuerung, einer immerwährenden Überarbeitung und Sich -neu-denken. Europa hat zuletzt schnellen Wandel und Stagnation erlebt. Und es wird noch sich noch mehr ereignen – mit all den damit verbundenen Chancen und Risiken. Auf der letzten Seite von „Europe: A History“ aus dem Jahr 1992 schwingt bei Norman Davies das Denken von Camus

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193 Geistige Esel der Beladenen Für viele Esten blieb Eu­ ropa auch zur Zeit des Eisernen Vorhangs geistige Hei- mat. In der seit fünf Jahren zur Europäischen Union gehörenden Republik Estland leben wiederum Men- schen, die einer vergangenen Zeit angehören, die ihrer Erziehung und ihrer Mentalität nach Bürger der stali- nistischen Sowjetunion sind. Wo ist die geistige Heimat der jungen Generation? Von Eeva Park

Die Staatsgrenze war geschlossen wor- den, doch die in Italien, dem „Land der Sehnsucht”, verbrachten Wochen (im heu- tigen Verständnis kann man sie wohl als Touristenreise bezeichnen) hinterließen bei dem Poeten auch in seinen späteren Erin- nerungen einen eher unbefriedigenden Ein- druck. Als Schriftsteller zählte für ihn nicht die physische Erfahrung, die Schönheit der toskanischen Berge. Für ihn war allein die Bedeutung der europäischen Weltkultur in seinem Leben wichtig, einer Kultur, die er zutiefst als eigene empfand, sowohl histo- risch als auch literarisch. „Als sei ich nie dort gewesen ...”, mit die- Im Zentrum Europas, in den alten Kul- sen Worten erinnerte sich der während der turländern wie Deutschland, wo man auf Terrorjahre zum Schweigen verurteilte und Mauerreste römischer Kolonien stößt, die in später im Gefangenenlager von Wladiwo- ursprünglich germanischen Gebieten errich- stok gestorbene Ossip Mandelstam an die teten wurden, wo sich über den „Anfang” Reisen nach Italien, die er während seiner der Geschichte niemand den Kopf zerbricht, Studienzeit in Heidelberg und an der Sor- hier ist es wohl nur schwer zu verstehen, bonne unternommen hatte. Mandelstam wie sehr jene Völker, die fernab dieser kon- war ein russischer Poet, der gemeinsam mit zentrierten Kulturlandschaft, aber doch in Anna Achmatowa zum Kreis der zu Beginn ihrem Einflussbereich lebten und sich ent- des 20. Jahrhunderts berühmten Akmeisten wickelten, diese allgemeinmenschliche, ge- gehörte. meinsame geistige Heimat brauchen. Auf die Frage, was Akmeismus sei, ant- Ich habe mit dem großen russischen Poe- wortete er: „Sehnsucht nach der Weltkultur” ten begonnen, weil in ihm die besondere und verlautbarte, sich weder von den Leben- Eigenschaft und Bedeutung dessen, was es den noch von den Toten lossagen zu wollen, heißt, Europäer zu sein, besonders deutlich obwohl genau das die sowjetische Diktatur und tragisch zum Ausdruck kommt: Dante, von Intellektuellen wie von Durchschnitts- Ariost, Petrarca, Catull, Ovid, Goethe, Bür- bürgern verlangte. ger, Kleist, Hölderlin, Baudelaire, Rimbaud,

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Villon etc. retteten Mandelstam zusammen Ich wurde bereits in der Sowjetrepublik mit Puschkin, Brjussow, Derschawin und so Estland geboren und wuchs in einem Land vielen anderen Sternen der russischen Litera- auf, das den anrollenden Panzerkolonnen tur aus der geistigen Isolation der Terrorjah- seine Freiheit opfern musste, das getrennt re – doch sie bestimmten auch das weitere vom Ausland, vor allem aber von Europa, Schicksal des Dichters. mit Sowjetrussland verschmolzen war. Ob- Mit anderen Worten: Ein zutiefst europä- wohl jenes Europa auf der anderen Seite des isch denkender Mensch kann sich in keine Eisernen Vorhangs für uns für immer in Diktatur fügen. unerreichbarer Ferne zu liegen schien, klang Aus ihm kann man selbst unter Andro- der geistige Nachhall dieser Parole fort. Zu- hung schlimmster Strafen keinen Orwell- mindest bei mir zu Hause. schen Farmer machen, jedenfalls nicht so Die außergewöhnlich große, die amt- leicht wie aus jenen, die nicht von dieser Kul- liche Ideologie negierende Bedeutung der tur durchdrungen sind. Denn das, was der Weltliteratur beruhte darauf, dass uns dank Europäer Mandelstam in seinen Gedichten der vorhandenen Bücher und der estnischen zum Ausdruck brachte, bedeutete unter den Übersetzer die europäische Mentalität weit- gegebenen Umständen nichts Geringeres als hin vertraut war. vollständigen Widerstand, die Kriegserklä- Ein für uns überaus wichtiger Aspekt rung eines Menschen gegen eine absolute dabei ist, dass die Zeit Stalins (eine Zeit, Macht, wobei für ihn nicht die geringste die nicht nur für den physischen, sondern Hoffnung bestand. auch für den geistigen Tod steht) in Estland Es gab eine Zeit, in der das Tragen eines vergleichsweise kurz andauerte, während in europäischen Hutes anstelle einer Lenin- Russlands, wo die Leiden und der geistige mütze nicht nur für den Träger, sondern Schaden weitaus größer waren, die allgemein auch für seine Angehörigen tragisch endete. bekannten historischen Fakten erneut auf In den ersten Jahren der Republik Est- Staatsebene umgeschrieben oder verschwie- land, während unser Nachbarstaat Sowjet- gen werden. russland im Zuge der ersten „Großen Säu- In gewissem Sinne kam es in Sowjet-Est- berungen” den zig Millionen von Opfern land zu einer eigenartigen, aber deutlich zu auch seine größten Schriftsteller hinzufügte, spürenden Zeitverschiebung. waren unsere Autoren beseelt von nationaler Genauer gesagt: In dieser totalitären Begeisterung. Allgemein bekannt ist die Pa- Zeit, die auf Planwirtschaft beruhte und role „Seien wir Esten, aber werden wir auch den Lagerkommunismus einführte, lebten Europäer”. Diese Parole erklang nur zwei doch viele Menschen, die aufgrund ihrer Jahrzehnte und wurde von dem Komplott moralischen Grundsätze, ihrer Sitten, aber zweier Diktaturen, dem Molotow-Ribben- vor allem aufgrund ihrer geistigen Haltung trop-Pakt, beendet. in die estnische Republik, mit anderen Wor- ten: nach Europa, gehörten. Jetzt, nach der Wiedererlangung der Un- E in zutiefst europäisch denkender abhängigkeit, zeigt sich diese Verschiebung in entgegengesetzter Richtung. In der seit Mensch kann sich in keine Dikta- fünf Jahren zur Europäischen Union ge- tur fügen. hörenden Republik Estland leben wiede-

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rum Menschen, die einer vergangenen Zeit auf den Kriegsfriedhof zu Plünderzügen in angehören, die ihrer Erziehung und ihrer der Innenstadt Tallinns führten), würde ich Mentalität nach Bürger der stalinistischen die Parole jetzt neu formulieren: „Seien wir Sowjetunion sind. Es sind nicht viele, aber Esten, werden wir Estländer, aber seien wir ihre aggressive Existenz lässt die Vergangen- alle zusammen auch Europäer!” heit nicht ruhen. Für mich, die werdende Schriftstellerin, Man macht es sich zu leicht, wenn man waren Jugend und Ausbildung in diesem glaubt, das sei ein nationales Problem. kleinen Flecken Land am Ufer des Fin- Letztendlich haben wir doch alle dasselbe nischen Meerbusens gerade deshalb durch- Purgatorium durchlitten, in dem uns die drungen von einer existenziellen Spannung europäischen Grundlagen ausgetrieben wer- und Komplexität, als unsichtbar und sicht- den sollten, und mehr oder weniger hat die bar der von Soldaten bewachte Stacheldraht- 50-jährige Sowjetzeit uns allen ihren Stem- zaun immer vor Augen war. pel aufgedrückt. Der Führerkultus und die Schriftsteller lernten unter der Zensur Aufgabe der westlichen Demokratie führten „zwischen den Zeilen” zu schreiben, und dazu, dass neben dem Großen Führer auch die Leser kauften mit einer davor nicht be- all jene an die Macht kamen, die im System kannten Leidenschaft Bücher (so konnte eine Position hatten. sich die Erstauflage eines Gedichtbandes auf viertausend, eines Romans auf ganze Sowjetische Nostalgien zwanzigtausend Stück belaufen), um den allgemeinverständlich zwischen den Zeilen Jeder klammerte sich an seinen Posten, verborgenen Geheimcode zu knacken, der und über ihre Macht freuten sich Forscher, von den Zensoren übersehen worden war. Hauswart und Institutsdirektor gleicherma- Selbst in Gedichten für Kinder entschlüs- ßen. Wer nicht in diesem System gelebt hat, selte das kollektive estnische Bewusstsein weiß nicht, was Machtgier ist. Die Nostal- verbotene Nachrichten, die von den Dich- gie, die einige ältere Menschen verspüren, tern, wie sie später bekannt gaben, freilich wenn sie an diese Zeit zurückdenken, erhellt niemals intendiert worden waren. einen nur allzu menschlichen Tatbestand – Und inmitten all dieser staatlichen Ver- die Jugend scheint, jedenfalls einigen Men- bote und Bedrängungen gab es Zeiten, in schen, die beste Zeit des Lebens gewesen denen mich das Bild, das sich mir auftat, zu sein, und angesichts der globalen Wirt- wenn ich mit der Verhärmtheit eines Ge- schaftskrise hört man Stimmen, die das Aus- fangenen nach Europa blickte, erschütterte. einanderbrechen der Sowjetunion sogar für Ich gestehe, ich hätte mir gewünscht, die ein tragisches Ereignis halten. europäische geistige Elite wäre hellsichtiger Unsere frühere Parole „Seien wir Esten, und klüger gewesen; hätte mir gewünscht, aber werden wir auch Europäer!” ist daher dass ein Teil der bedeutendsten europä- wohl gerade jetzt von größerer Bedeutung als ischen Intellektuellen sich bei der Wahl ih- jemals zuvor. Eingedenk der „Bronzenacht” rer Weltanschauung nicht derart von den vor zwei Jahren (als die Proteste gegen die verbalen Vortäuschungen dieses tönernen Umsetzung eines Mahnmals zur Erinne- Kolosses hätte blenden lassen. rung an den Zweiten Weltkrieg und gegen Ich verstand zutiefst den hier offenbar die Umbettung der Gebeine von Soldaten werdenden, andauernden Kampf begabter

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Menschen um eine bessere Weltordnung, ver- L ehre vom Aufbau eines Gemeinwesens vor stand, dass Proteste damals und in Zukunft Gericht schleifen sollte oder könnte. Aber nötig sind, dass menschliche Freiheit und ge- ein Regime, das im Namen der kommu- sellschaftliche Verantwortung immer Man- nistischen Partei derartige Gewalttaten be- gelware sind. Doch Künstler und Schrift- ging, kann mit europäischem Maßstab ge- steller, die offen als Kommunisten auftraten, messen meiner Meinung nach nicht anders zeigten in meinen Augen vor allem, dass sie als verbrecherisch bezeichnet werden. den gegen die Träger europäischer Werte ge- richteten Holocaust, dass sie das Schicksal Trauer der Neuankömmlinge von Mandelstam, Achmatowa und vielen an- deren unbekannteren Schriftstellern nicht U m aber auf die Frage nach den heu- nur begrüßten, sondern durch den Besitz tigen Verflechtungen europäischer Geistes- eines roten Parteibuchs geistig unterstützten. kulturen zurückzukommen, so scheint mir, Eigentlich war das, was wir erlebten, dass diese verhindert werden, da das alte, gegen Ende weniger grausam als vor allem geistreiche und großherzige Zentrum Eu- von himmelschreiender Dummheit. Und ropas von der Trauer der Neuankömmlinge da schon lange niemand mehr an die Ide- ermüdet ist. ologie der Terrorjahre und die ganze Dia- Mir scheint, dass sich Europa zum Teil lektik des Kommunismus glaubte, war es ganz einfach fürchtet und das Übermaß uns ein Rätsel, wie es möglich sein konn- grausamer Schicksalsschläge, das ihm in te, dass eine Gruppe von Mächtigen, die den Übersetzungen aus den kleinen Spra- sich angesichts des akuten und chronischen chen Europas so plötzlich entgegenschla- Mangels an Grundprodukten schamhaft in gen könnte, teils nicht erträgt, teils nicht Extrageschäften, Extrakrankenhäusern, Ex- zu hören wünscht. travillen etc. verbarrikadierte, die von Zeit Aber vielleicht ist genau das die Frage zu Zeit eine Farce von Wahlen veranstaltete – was können wir, „die geistigen Esel der und sich beinahe halb Europa unterworfen Beladenen”, wir Schriftsteller kleiner euro- hatte, warum diese Gruppe von Menschen päischer Sprachgemeinschaften, dem über- auch auf den freien Rest Europas einen sol- sättigten europäischen Literaturmarkt an- ch lang anhaltenden geistigen Einfluss aus- stelle der befürchteten Klagelieder bieten? üben konnte. Die Frage ist umso wichtiger, als die Ver- Ich will nicht behaupten, dass man den leger sehr wohl wissen, was sich verkauft, Kommunismus als theoretische und soziale und ohne möglichen Profit keine wirtschaft- lichen Risiken eingehen. Der Zweite Weltkrieg und seine Nachwir- kungen sind in Europa kein Thema mehr. Ich hätte mir gewünscht, dass Für die Osteuropäer, die Balten, endete er europäische Intellektuelle sich aber erst wirklich mit dem Fall der Berliner bei der Wahl ihrer Weltanschau- Mauer, und mir scheint, dass wir es erneut ung nicht derart von den verbalen mit einer Zeitverschiebung zu tun haben, die sich um Jahreszahlen nicht kümmert. Vortäuschungen dieses tönernen Aus Gründen, die wir nicht beeinflussen Kolosses hätten blenden lassen. können, ist uns der Totalitarismus der Vor-

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kriegszeit immer noch schmerzlich nah, er re im Gefangenenlager verbrachte, und mit bricht in den „Bronzenächten” mit neuen Mandelstam – für beide war die Freiheit Schreckensvisionen hervor, und uns scheint, nicht vom Menschen zu trennen. dass, wenn man ihn nicht auf europäischer Als ich diesen Aufsatz beendete, fragte Ebene versteht, es uns schwer fallen wird, ich meine Tochter, die zu der Zeit in Singa- eine gemeinsame allgemeinmenschliche pur Genetik studierte und in einem interna- Sprache zu finden. tionalen Studentendorf lebte, ob sie sich in , der international bekannteste der Welt als Europäerin fühle. Ich bekam Schriftsteller Estlands, sagte: „Meinem eige- sofort eine bejahende Antwort. nen Selbstverständnis nach bin ich weit da- Europa ist die Heimat der jungen gebil- von entfernt, historische Erinnerungsplätze deten Esten. Aber dennoch fügte sie ihrer zu zementieren. Aber einen grundsätzlichen Bejahung ein wenig später hinzu, dass sie Unterschied zwischen dem D-Day in Frank­ als Estin in Gesprächen mit Gleichaltrigen reich und unseren Deportationen möchte ich über Geschichte und Politik doch immer doch hervorheben: Die Franzosen (und mit wieder merke, wie wenig man von uns weiß ihnen ein großer Teil der Europäer) durften und wissen will, und wie weit wir aufgrund diesen Tag sechzig Jahre lang begehen. Und dessen doch immer noch von einer europä- vielleicht reicht es ihnen jetzt. Das sollen ischen Identität entfernt sind. sie selbst entscheiden. Aber wir durften des Aber die Weltauffassung eines Künstlers Jahrestages der Deportation lange Zeit nicht ist ein Instrument und ein Werkzeug wie der öffentlich gedenken. Wir standen nach den Hammer in der Hand eines Steinmetzes. großen Deportationen von 1941 und 1949 Und so gibt es keinen anderen und wohl ein halbes Jahrhundert lang unter Sowjet- keinen besseren Weg zur Erschaffung einer herrschaft, die uns die Erinnerung an diese gesamteuropäischen Identität als den von Tage mit all den ihr zur Verfügung stehen- Literatur inspirierten Dialog. den Verfolgungsorganen verbot ... Jetzt, wo Oder in den Worten Milan Kunderas: es kein Staatsverbrechen mehr ist, jemandem „Die Existenz literarischer Werke hat nur in Gedanken und Taten Blumen an das un- insofern Sinn, als sie bislang unbekannte As- bekannte Grab zu legen, jetzt, wo das endlich pekte der menschlichen Existenz enthüllen.” möglich geworden ist, möchte ich selbst ent- Wie intensiv dieser Dialog ist, hängt aber scheiden, wie lange ich meiner Verstorbenen vor allem vom inhaltlichen und emotionalen oder der Toten des Volkes gedenke. Ob fün- Interesse an jenen Völkern und Ländern ab, fig, sechzig oder hundert Jahre reichen. Oder die zwischenzeitlich von der europäischen ob auch tausend Jahre dafür zu wenig sind.” Landkarte ausradiert worden waren. Wie Kross versuche auch ich, keine „his­ Aus dem Estnischen von Ulrike Plath torischen Erinnerungsplätze zu zementie- ren”, auch und obwohl ich mich an alles Eeva Park begann ihre literarische Karriere 1983 erinnere. als Lyrikerin, widmete sich aber bald auch der Pro- Mein 2008 auf Deutsch erschienener Ro- sa. Besonders ihr Roman „Lõks lõpmatuses“ (2003; man „Falle, unendlich” handelt zum Bei- deutsch: „Falle, unendlich“, 2008) erregte Aufsehen. In dem Thriller beschreibt sie die Schattenseiten des spiel von Dingen, die heutzutage geschehen, estnischen Wirtschaftswunders mit Straßenkindern, aber das, was ich mit dem Werk sagen will, moralischer Verwahrlosung und der täglichen Bru- steht in Verbindung mit Kross, der acht Jah- talität.

198 Wo das Meer endet und das Land beginnt Jenseits imperialistischer Ansprüche der Vergangenheit hat in Portugal die Weite der Meeresgrenze den kosmopoli- tischen Dialog zur täglichen Praxis werden lassen. Kul- turwissenschaftliche Anmerkungen vom westlichsten Rand Europas. Von Isabel Capeloa Gil

zählungen der Örtlichkeit und der stets im Fluss befindlichen Logik der Globalität un- ter die Lupe zu nehmen. Ich argumentiere aus einer Position des Provinzialen, aus der Sicht einer portugie- sischen, semiperipheren europäischen Iden- tität. Ich äußere mich als Akademikerin mit einer wissenschaftlichen Ausbildung in deutscher Literatur, die im Schatten der letzten imperialistischen und kolonialen Na- tion des europäischen Kontinents arbeitet – einem Land in der Diaspora, das sich in den letzten Jahrzehnten als Zufluchtsort für Einwanderer neu erfunden hat. ber europäische Kultur von dem Für all jene, die mit mir eine Transit- Standort aus zu sprechen, wo „das Identität gemeinsam haben, ist Internatio- Meer endet und das Land beg­ innt“, nalisierung kein Trend, sondern ein essen- kannÜ nur ein kosmopolitisches Unterfangen zieller Zustand – und Kosmopolitismus ist sein. Die Formulierung stammt aus José Sa- kontinuierlich zu verhandeln. Statt jedoch ramagos Anfangszeile des Romans „Das To- den abstrakten, imperialistischen Kosmopo- desjahr des Ricardo Reis“ (1984) und setzt litismus aus dem Europa der Aufklärung zu sich kritisch mit der maritimen Vergangen- beschwören, schlage ich vor, die kosmopo- heit Portugals auseinander. Durch die pe- litische Denkweise zu provinzialisieren, zu riphere Lage oder weil eigentlich das Meer historisieren und sich ihr von einem veror- – und nicht das Land – für uns Horizont teten Standpunkt aus anzunähern – wie es ist, bekommt das Gefühl von globaler Zu- der deutsche Soziologe Ulrich Beck treffend gehörigkeit eine besondere Bedeutung. Jen- geltend macht: „Kosmopolitismus ohne Pro- seits imperialistischer Ansprüche der Ver- vinzialismus ist leer. Provinzialismus ohne gangenheit hat die Weite der Meeresgrenze Kosmopolitismus ist blind.” den kosmopolitischen Dialog zur täglichen Ein Kosmopolitismus des Provinzialen Praxis werden lassen. steht somit zwei narrativen Hauptsträngen Hochschulen haben die Aufgabe, Span- der Kulturwissenschaft gegenüber: Es geht nungen zwischen den erdgebundenen Er- zum einen um die Kultur als einen nati-

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onalen Ausdruck der Identität im Sinne Anstrengungen und die Herausforderungen von Norbert Elias und zum zweiten um die besser begreifen, denen sich der Andere aus- Kulturwissenschaft als ein europäisches gesetzt sieht. Diese Verschiebung kann dann abstraktes hegemoniales Privileg gegenü- durch die Kulturwissenschaft als eine Meta- ber dem Süden. disziplin herbeigeführt werden, die problem- Wir leben in einer Zeit, in der die Re- orientiert agiert, sich auf ein demokratisches alität selbst kosmopolitisch geworden ist. Verständnis allgemeiner Menschlichkeit Einerseits durchdringt die vita cosmopolita stützt und somit als Programm einer kos- eine Moderne, die von der fließenden Mo- mopolitischen Erkenntnistheorie gut posi- bilität von Menschen und Ereignissen ge- tioniert ist. Eine solche Kulturwissenschaft prägt ist. Andererseits gibt es jedoch auch kann helfen, den komplexen Wandel in den eine Schattenseite, die der indisch-amerika- Wissenschaften und der Welt in ihrer Ge- nische Ethnologe Arjun Appadurai als Dia- samtheit zu verstehen. spora des Schreckens jener identifiziert hat, die nicht an dieser fließenden Kosmopolis Stempel nationaler Identität teilhaben, deren Leben jedoch trotzdem in hohem Maße durch jene Fließbewegungen Die Kulturwissenschaft, ebenso wie die beeinflusst wird. Geisteswissenschaft insgesamt, trug über Der Konflikt um kulturelle Rechte – um lange Zeit den Stempel nationaler Identität. den Anspruch auf vielfältige Narrationen – Als Germanistin erinnere ich mich, dass die hat sich zum Schlagwort für neue symbo- Prägung eines Germanistikstudiums durch lische und real stattfindende Kriege entwi- Jacob Grimms Modell „Wissenschaft vom ckelt und verdeutlicht, dass eine homogene, Deutschen“ noch gar nicht so lange her ist. vom europäischen Zentrum ausgehende Auf der Grundlage eines rein linguistisch- Perspektive nicht mehr relevant ist. Somit philologischen Modells war das Studium könnte man den portugiesischen National- einer fremden Kultur in den Achtzigerjah- dichter Camões für einen seltsamen Weg- ren in Portugal eine Übung, bei der die gefährten eines aufgebrachten afrikanischen Einzigartigkeit des Anderen angesichts der Migranten halten – aber ist er das wirklich? Exzentrizität des ausländischen Studieren- Kultur ist in der Tat ein äußerst aufge- den aufgewertet wurde. Das Studium einer ladenes Wort – mit einer langen und an- anderen Kultur war eine Aufwertung von dauernden Machttradition – und in der Unterschieden zwischen Völkern, d.h. zwi- Wortbedeutung sowohl in der lateinischen schen Nationen, sowie der Grenzziehung. als auch in der germanischen Sprachfami- Die Wissenschaften, die sich etwa mit lie von höchster semantischer Komplexität. afrikanischen Kulturen beschäftigten, be- Und obwohl jüngste Konflikte zeigen, dass wahrten häufig – zumindest vor dem Auf- alles Kulturelle zu den komplexen Ebenen kommen postkolonialer Studien – eine zählt, auf denen Machtkämpfe ausgetragen Narration der Unterscheidung, um eine werden, kann es sicherlich auch eine Platt- kulturelle und politische Vorherrschaft zu form sein, über die Lösungen gefunden wer- begründen. den und die einen Dialog ermöglicht. Seiner Die Narration zu Identität und Exklusi- imperialistischen Kleider beraubt, könnte on zu verurteilen, heißt jedoch keinesfalls, man mit Camões kulturelle Kontakte, Not, dass die Erforschung von Identität im Rah-

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men der Kulturwissenschaft komplett auf- fangen stützt sich auf vier Hauptgedanken. gegeben werden soll. Stattdessen bin ich der Der erste Gedanke ist die Anerkennung der Auffassung, dass eine neue Bedeutung von universalen und rationalen Tradition der Identität und ihre Umwandlung in eine neue europäischen Wissenschaft als einer veror- „Einzigartigkeit“ angemessen wäre. Die teten Reaktion auf die Herausforderungen Narration der Einzigartigkeit würde sich der Geschichte. Es handelt sich um eine re- somit auf Übergang statt Dauer konzen- gionale Antwort mit Weltanspruch. Obwohl trieren und damit Platz für Nachprüfung, neue Trends, beispielsweise postkoloniale Selbstkritik und somit für eine friedliche Studien und Genderwissenschaften, dieses Auflösung schaffen. In den Seminarräumen Paradigma in Frage gestellt und damit das des postnationalen Europas verfügt die Nar- Bewusstsein für den europäischen Provinzi- ration zur Kultur als Einzigartigkeit über alismus gefördert haben, muss man sich von einen entscheidenden Versuchsraum. dem Impuls lösen, die Stimme des Anderen Nach der Internationalisierung der euro- zu verkörpern. Anstatt für andere zu spre- päischen Hochschulen in den vergangenen chen, sollten wir die Bescheidenheit besit- Jahren ist die wissenschaftliche Ausbildung zen, einfach nur für uns selbst zu sprechen. auf dem Kontinent nicht mehr auf einhei- mische Studierende oder solche aus Euro- Gefühl gemeinsamer Fragilität pa beschränkt. Programme wie Erasmus Mundus, ALFA oder die Atlantis Programs, Der zweite Gedanke ist die Akzeptanz die sich mit der Ausweitung euro-ameri- anderer Erkenntnistheorien aus dem Süden kanischer Forschungsnetzwerke befassen, oder Osten und die Fähigkeit, deren Fremd- verfolgen das Ziel, die europäische For- heit mit einer dialogischen Einzigartigkeit schungslandschaft für Studierende jenseits anzunehmen. Drittens geht es darum, dass der Schengen-Grenze konkurrenzfähig zu ein Bewusstsein des verorteten und provin- machen. zialen Charakters des humanistischen Uni- Die Entwicklung wirkt sich auch auf den versalismus ein Gefühl gemeinsamer Fragi- disziplinären Nationalismus der Geisteswis- lität und Verletzbarkeit fördern kann, das senschaften aus, und zwar stärker als auf eine Grundlage für ein Vielfalt akzeptie- jedes andere wissenschaftliche Fach: Geht rendes Kulturverständnis wäre. Wenn eine doch ihre wissenschaftliche Geschichte häu- politisch korrekte Sorge um den Respekt fig mit dem Aufstieg und der Legitimation für Minderheiten nicht mit den Rechten ei- des modernen europäischen Nationalstaates ner Mehrheit – beispielsweise den Rechten im Gewand der Narration des Universalis- von Frauen – kollidiert, wird das Univer- mus einher. Die Betrachtung des Studiums sale nicht einfach aufgezwungen, sondern europäischer Kultur als provinziales Unter- als verortete Reaktion auf die Fragilität der nackten Existenz beansprucht. Der letzte Aspekt ist die Einführung E ine neue Bedeutung von Identi- eines provinzialen Curriculums, sprich: tät und ihre Umwandlung in eine eines Curriculums, das nicht für jeden spricht, das jedoch am Rand der Nord-/Süd- neue „Einzigartigkeit“ wäre ange- Grenze die europäische Universität als eine messen. angemessene Antwort auf die komplexe Mo-

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dernität anerkennt, in der wir uns bewegen. Interessenvertretung und Bildung Einfluss Bei diesem Curriculum kann es nicht um genommen wird. eine globale Anwendung gehen. Es könnte Ich bin der Ansicht, dass uns kulturelle sich jedoch zu einem Modell entwickeln, das Studien im Sinne von Hannah Arendt er- die Rahmenbedingungen für einen breiten möglichen zu erkennen, dass der andere Dialog innerhalb der regionalen Vielfalt der ebenfalls recht haben könnte, da wir so ge- an diesem Curriculum Beteiligten schafft. fordert sind, Identität zu überdenken und Provinzial und gleichzeitig kosmopolitisch uns mit der dialogischen Einzigartigkeit im Sinne der Anerkennung der Narration auseinanderzusetzen, die Forscher/Leh- der Anderen und mit dem Wunsch, sie zu rende und Studierende über die nationale teilen, wäre dies das Projekt für das Ver- kulturelle Kluft hinweg zusammenbringt. ständnis einer europäischen Kultur jenseits Andererseits stärken Kultur und der litera- alter verdinglichter Narrationen zur Iden- rische Text als narratives Gegenstück einen tität. Kosmopolitismus der Hoffnung mit den Der neu gedachte Kosmopolitismus aller Werkzeugen einer demokratischen huma- Studierenden der Kulturwissenschaft in Eu- nistischen Kritik. ropa könnte sich auf die Lehre der alten pro- Europas belastete Vergangenheit, aber vinzialen Tradition einer essenziellen Hu- auch die wunderbare Fähigkeit zur Versöh- manität aus dem 18. Jahrhunderts stützen nung, versetzen die europäischen Bildungs- und die privilegierten globalen Strömungen institutionen in eine beispiellose Position. um ein Bewusstsein und die Gemeinsam- Eine sachkundige und kritische Untersu- keit des Seins erweitern. Und die Literatur chung Europas, die den einzigartigen Kos- ist in der Tat der Schlüssel zu dieser Erneu- mopolitismus des Kontinents einbezieht, erung des Kosmopolitismus als einer Ebene schafft eine neue Wissenschaft, die natio- zur Ausübung des Rechts auf Narration der nale Grenzen überwunden hat und wahrhaft europäischen Vielfalt. Literatur ist ein Weg, auf das Verständnis von Europas transkul- um die Narration des Ichs und des Anderen tureller Ökologie des Wissens hinarbeiten in Europas provinzialer Geschichte zu inter- wird – auf dass es der Kontinent werden pretieren, sich damit auseinanderzusetzen möge, wo Land und Meer sich unterhalten und zu erfassen. statt zu kollidieren. In der hybriden Ambivalenz der „frem- Aus dem Englischen von Angelika Welt den Nationen“ der Moderne nach dem in- disch-amerikanischen Kulturwissenschaft- Isabel Capeloa Gil ist Professorin für Literatur- und ler Homi Bhabha gelingt es durch Narration, Kulturwissenschaft an der Katholischen Universität in Lissabon. Zahlreiche Publikationen zu Kulturthe- dass Modelle der Zugehörigkeit und einer orie, Geschlechterdifferenz, Tanz und Literatur. Gast- neuen dialogischen Einzigartigkeit getestet professuren an Universitäten in Europa, den USA und umgesetzt werden. Das narrative Recht und Brasilien. Sie ist Honorary Fellow der University ermöglicht unterrepräsentierten Gruppen, of London‘s School of Advanced Study. sich dem Symbolhaften zu stellen. Diese Narration von Vertreibung und Zugehö- rigkeit fügt sich zu Homi Bhabhas „einhei- mischem Kosmopolitismus“ zusammen, mit dem auf die Globalisierung von unten durch

202 S o nah und doch so fern Seit dem EU-Beitritt Maltas wurden gerade einmal zwei maltesische Werke in eine andere europäische Sprache übersetzt. Magere Ausbeute oder Inselmentalität? Das kleine Land hat sich damit abgefunden, draußen zu bleiben, jedoch gleichzeitig so zu tun, als sei es mitten im Geschehen. Von Immanuel Mifsud

Der Beitrag enthielt einige äußerst pa- triotische romantische Hymnen auf das Mutterland, von denen manche bereits vor ungefähr siebzig Jahren entstanden und während der kulturellen Revolution der Sechziger Gehör fanden. Der Artikel en- dete mit der feierlichen Erklärung, dass die Unterzeichner ausschließlich eine selbstbe- stimmte Regierung durch die Bürger Maltas wünschten – und keinesfalls irgendwelche ausländischen Machthaber. Vertragen sich diese Äußerungen der Schriftsteller mit der Mitgliedschaft in der EU? Im Jahr 2005 stoppte eines der führen- m 2. März 2003, dem Vorabend den Verlagshäuser Maltas, das unter ande- der Volksabstimmung über Maltas rem die „Times“ und die „Sunday Times“ EU-Beitritt, veröffentlichte die linke verlegt, die zu den meistgelesenen malte- WochenzeitungA „It-Torca“ im Literaturteil sischen Zeitungen zählen, die Publikation einen Sonderbeitrag verschiedener malte- einer Sammlung von Kurzgeschichten. Die sischer Schriftsteller, die zum Teil sehr aktiv Entscheidung wurde damit begründet, dass an der literarischen Revolution der Sech- diese Themen behandelten, die auf Malta als zigerjahre beteiligt waren. stille Tabus gelten – unter anderem Inzest, Sie leisteten gemeinsam einen feierlichen männliche Prostitution und die Unterwelt. Loyalitätseid auf ihr Mutterland und erklär- Anzumerken ist dabei, dass die „Times“ ten ihren Wunsch, die Unabhängigkeit zu während der EU-Kampagne zu den erklär- erhalten, die im Jahr 1964 erstritten wurde. ten Beitrittsbefürwortern gehörte. Unter Sie setzten sich für den Erhalt der umfas- anderem sagte sie nach Erlangen der EU- senden politischen Freiheit ein, die seit 1979 Vollmitgliedschaft die Zugehörigkeit Maltas besteht, und plädierten dafür, Kulturen, zum europäischen Kulturerbe voraus. Traditionen und die Identität zu wahren, die ihre Vorfahren durch unerschrockene harte Arbeit und Liebe zu ihrem Land er- rungen hatten.

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Meiner Ansicht nach veranschaulichen europäischen Kultur- und Identitätspa- diese beiden Geschichten die widersprüch- radigmas kurz nach der EU-Erweiterung liche Haltung, die Malta gegenüber dem scheint sich hauptsächlich auf die Trennung neuen Europa eingenommen hat. Der Wi- zwischen altem Westen und neuem Osten derspruch erscheint noch größer, wenn man zu konzentrieren. Da Malta zu keinem der bedenkt, dass viele maltesische Autoren über beiden Blöcke gehört, hat sich das Land da- verschiedene Epochen hinweg Europa nicht mit abgefunden, draußen zu bleiben, jedoch nur als Bezugspunkt ihrer Arbeit, sondern gleichzeitig so zu tun, als sei es mitten im auch ihrer gesamten Philosophie und ihrer Geschehen politischen Orientierung gewählt haben. Seit Maltas EU-Beitritt hat es nur weni- ge kulturelle Initiativen gegeben, um mal- Europa mit arabischen Einfluss tesische Kunst zu fördern. Die bildenden Künste und die Musik bilden in diesem Malta hat sich trotz starker arabischer Zusammenhang möglicherweise zwei Aus- Einflüsse auf seine Kultur und insbesondere nahmen. Die Literatur hat von der „An- die Sprache in erster Linie stets als ein euro- knüpfung“ an das europäische Festland päisches Land wahrgenommen. Andererseits nicht unbedingt profitiert. Seit 2004 wur- wird deutlich, dass es sowohl europafreund- den nur zwei literarische Werke in einem liche Schriftsteller als auch meinungsbilden- anderen europäischen Land veröffentlicht: de Politiker im Dunkeln lassen, was es be- Ein Lyrikband von mir erschien 2005 im deutet, europäisch zu sein. Rahmen der Feierlichkeiten der damaligen Dies verwundert nicht besonders, wenn europäischen Kulturhauptstadt Cork, und man bedenkt, dass diese vage Haltung von ein Bühnenskript von Clare Azzopardi wur- vielen anderen Europäern geteilt wird, die de 2008 in Paris veröffentlicht. sich mit der Definition des Begriffs einer Ende 2009 wird der National Arts Coun- „europäischen Identität“ ebenfalls äußerst cil of Ireland in Irland einen zweisprachigen schwertun. Der Verdacht liegt nahe, dass Gedichtband (Maltesisch/Englisch) von dieser Begriff ein Konstrukt von Politikern Adrian Grima herausgeben. Hinzu kommen ist, die eine politische Supermacht schaffen vereinzelte Initiativen zur Veröffentlichung möchten. literarischer Werke in E-Zines, Literatur- In einer Zeit, in der die Geografie Eu- zeitschriften oder Anthologien, die im An- ropas infrage gestellt wird und die Grenzen schluss an Literaturfestivals, zu denen mal- des Kontinents ein wenig verwischt erschei- tesische Schriftsteller regelmäßig eingeladen nen, ist der Begriff einer Identität nur sehr werden, im Auftrag der EU oder einer ande- schwer greifbar. ren Organisation erschienen sind. In der Ge- Dies gilt umso mehr für ein Land an samtbetrachtung der großen Anzahl veröf- der äußersten Peripherie der politischen fentlichter Übersetzungen ist dies eine sehr und geo­grafischen Realität, die wir Europa magere Ausbeute. Das EU-Progamm Kul- nennen. Malta wagt nicht den notwendigen tur 2000 zur Förderung von Übersetzungen Sprung, um zu den anderen zu gehören und klammert sich stattdessen an den Status des europäischen Landes „Down Under“. Der vorherrschende Diskurs zur Gestaltung des

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hat seltsamerweise nicht dazu geführt, dass Der von der Regierung ins Leben geru- maltesische Verlagshäuser ihre Publikati- fene National Book Council arbeitet in Teil- onen vermehrt im Ausland anbieten. Bisher zeit und verfügt trotz einer Absichtserklä- war nicht ein einziges von ihnen in ein sol- rung, ein Übersetzungsprogramm ins Leben ches Projekt involviert. Der Geschäftsführer zu rufen, nicht über die nötigen Mittel, die eines der wichtigsten Verlagshäuser Maltas geplanten Projekte zu realisieren. Literatur äußerte öffentlich, das Übersetzungspro- hat offensichtlich nicht denselben Stellen- gramm der EU sei für Übersetzer finanziell wert wie die anderen Bereiche der Kultur- sehr viel lukrativer als für die Schriftsteller landschaft der Insel. Während der Malta und deren Verleger. Council of Culture and the Arts regelmä- Zugegebenermaßen ist die Übersetzung ßig Schriftsteller finanziell dabei unterstützt eine entscheidende Hürde, da die malte- hat, ihre literarischen Verpflichtungen in sische Sprache nur von 400 000 Menschen Europa wahrzunehmen, hat er im Gegensatz gesprochen und geschrieben wird und nicht zu ähnlichen Kultureinrichtungen anderer als bedeutende europäische Sprache gilt, ob- Länder kein Programm zur Übersetzungs- wohl sie eine der Amtssprachen der Euro- förderung aufgelegt. päischen Union ist. Die 2007 gegründete 2009 wurde bei der Planung des jährlich Internationale Vereinigung für Maltesische stattfindenden Internationalen Kunst- und Linguistik unter dem Präsidenten Thomas Kulturfestivals die Literatur komplett aus- Stolz an der Universität Bremen war ein geblendet. Malta hat bisher keine offizielle sehr vielversprechender Schritt, obwohl di- Kulturpolitik, obwohl die Ministerin für ese Vereinigung wiederum nichts mit Lite- Bildung, Erziehung und Kultur, Dolores ratur zu tun hat. Cristina, im Sommer 2009 für die „kom- Malta verfügt nach wie vor über keine menden Wochen“ die Veröffentlichung eines der gängigen Literaturorganisationen, die Strategiepapiers über die Kulturpolitik zu sich für die Übersetzung und die Verbrei- Beratungszwecken ankündigte. tung maltesischer Literatur einsetzen würde. Frühere Regierungen haben wiederholt Es gibt weder ein Literaturinformationszen- Absichtserklärungen abgegeben, Überset- trum noch ein Literaturhaus. Die Academy zungsförderungsprogramme einzurichten, of Maltese hat trotz ihrer in der Gründungs- von denen jedoch nicht eines in die Tat um- satzung im Jahr 1920 formulierten Aufgabe gesetzt wurde. Eine weitere gemeinsame Er- – die maltesische Sprache und Literatur zu klärung der Ministerin für Bildung, Erzie- fördern – Desinteresse bekundet, die Über- hung und Kunst sowie des Finanzministers setzung literarischer Werke aus der malte- Tonio Fenech vom 8. August 2009 kündigte sischen Sprache zu unterstützen. die Einrichtung eines von der Regierung unterstützten maltesischen Kulturfonds in Höhe von 330 000 Euro zur Bezuschussung Zugegebenermaßen ist die Über- verschiedener Projekte an, aber weder die setzung eine entscheidende Hür- Literatur noch Übersetzungen wurden in de, da die maltesische Sprache nur von 400 000 Menschen gespro- chen und geschrieben wird. Fortschritt Europa ?

diesem Zusammenhang erwähnt. Die mal- tesischen Schriftsteller arbeiten in diesem recht düsteren Umfeld und nehmen es als gegeben hin, dass sie keine Unterstützung von offizieller Seite erhalten. Obwohl eini- ge vielleicht argumentieren, dass diese Si- tuation mangelnden finanziellen Ressour- cen geschuldet ist, muss darüber hinaus ein gründliches Umdenken darüber stattfinden, was eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union eigentlich bedeutet. Falls die Inselmentalität der älteren Schriftsteller, von der ich eingangs berich- tete, weiterhin in der Luft liegt und die mal- tesische Literatur – insbesondere die der jün- geren Generation – weiterhin misstrauisch beäugt wird, wird sich auch künftig bei der Vermittlung von Literatur in andere Länder nichts tun. Die schwierigste zu überwindende Hür- de für eine sichtbare Rolle Maltas in der literarischen Szene Europas ist meiner An- sicht nach der Umstand, dass die Bedeutung literarischer Übersetzungen nicht wertge- schätzt wird. Mutter Europa bleibt irgendwo dort draußen: so nah und doch so fern; so sehr ein Teil von uns und doch so fremd. Aus dem Englischen von Angelika Welt

Immanuel Mifsud, 1967 auf Malta geboren, verfasst Poesie, Prosa sowie Kinderbücher. Mit 16 begann er Gedichte zu schreiben und gründete die literarische Gruppe Versati. Seine Kurzgeschich- tensammlung „Strange Stories“ (2002) gewann den nationalen Literaturpreis. Zuletzt erschienen: „km“ (2005), „Confidential Reports“ (2005), „Happy Week- end“ (2006), „Poland Pictures“ (2007), „Stories Which Should Not Have Been Written“ (2008). Marker

207 Impressum

Herausgeber: Institut für Auslandsbeziehungen und Robert Bosch Stiftung, in Zusammenarbeit mit dem British Council, der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, der Stiftung für Deutsch-Polnische Zu- sammenarbeit und der Calouste Gulbenkian Stiftung

Redaktion: William Billows, Sebastian Körber, Mitarbeit: Claudia Judt, Kornelia Serwotka Gestaltung: Eberhard Wolf Adresse: Charlottenplatz 17, 70173 Stuttgart Druck: Offizin Andersen Nexö Leipzig Übersetzung: William Billows, Andreas Bredenfeld, Tobias Eisermann, Annalena Heber, Hainer Kober, Burkhart Kroeber, Orsolya Kurucz , Ulrike Plath, Gre- gor Runge, Claudia Sinnig, Annalisa Viviani, Angelika Welt

Die Beiträge geben die Meinungen de r Autoren wieder.

Fotohinweise: S. 10 Ekko von Schwichow, S. 18 Daniel Thorpe, S. 64 Brigitte Friedr ich, S. 76 Jana Chiellino, S. 110 Root Leeb, S. 118 Daniel Biskup, S. 126 Basso Can- narsa, S. 154 Jerry Bauer Bildstrecke: Corbis (Seiten 8/9, 24/25, 54/55, 70/71, 90/91, 132/133, 184/185), buchcover.com (Carsten Koall S. 108/109, Rudi Meisel S.146/147) ISBN 978-3-921970-99-7

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