SAFRAN Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung Österreichisches Studienzentrum fürFrieden undKonfliktlösung (ÖSFK) „EWIGEN KRIEG“? „WÖLFE“ INEINEM Georg Leitner beziehungen russischen Ethnizitäts- die tschetschenisch- Tschetschenienkriegen und Mythen indenrezenten prozesse undnationale Ethnische Mobilisierungs- Thomas Roithner (Hrsg.) Paper 10

SAFRAN 10 Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung

Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, Thomas Roithner (Hrsg.)

Georg Leitner

„WÖLFE“ IN EINEM „EWIGEN KRIEG“? Ethnische Mobilisierungsprozesse und nationale Mythen in den rezenten Tschetschenienkriegen und die tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbezie- hungen

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SAFRAN Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung

Diese Forschungsreihe des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Kon- fliktlösung (ÖSFK) soll jungen, noch wenig bekannten WissenschafterInnen die Mög- lichkeit geben, ihre Forschungsarbeiten zu unterschiedlichen Fragen der internatio- nalen Beziehungen, der Friedensforschung, der Abrüstung und der nachhaltigen Entwicklung zu veröffentlichen. Diese Arbeiten wurden u.a. im Rahmen von Praktika in Wien oder bei den JungforscherInnenworkshops im Rahmen der Schlaininger Sommerakademien erarbeitet. Diese in der Reihe veröffentlichten Beiträge widerspiegeln die Sicht der AutorInnen und müssen nicht mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen.

Redaktion: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) Außenstelle Wien, Thomas Roithner Tel. 0043 – (0)1 – 79 69 959, Fax 0043 – (0)1 – 79 65 711 e-mail: [email protected]

© 2012, ÖSFK Burg Schlaining Rochusplatz 1, A – 7461 Stadtschlaining Tel. 0043 (0)33 55 – 2498, Fax 0043 (0)33 55 – 2662 e-mail: [email protected], Web: http://www.aspr.ac.at © Coverlayout: Doris Engelmeier Layout: Georg Leitner ISBN: 978-3-900630-30-0

ÖSFK/Thomas Roithner (Hrsg.): Georg Leitner: „Wölfe“ in einem „ewigen Krieg“? Ethnische Mobilisierungsprozesse und nationale Mythen in den rezenten Tsche- tschenienkriegen und die tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbeziehungen, SAF- RAN. Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung, Paper Nr. 10, Wien/Stadtschlaining, Mai 2012 (auch abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/safran10-leitner.pdf).

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Key words: Tschetschenien, Russland, Nordkaukasus, Ethnizität, Nationalismus, Mythen, ethnische Konflikte, Krieg, ancient hatreds, Symbolic Politics Theory

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...... 7 1.1. Forschungsfragen ...... 8 1.2. Aufbau der Arbeit ...... 8 1.3. Theoretisch-methodische Überlegungen ...... 9

2. Das Konzept der Ethnizität und die Kategorisierung der tschetschenischen Ethnie...... 11 2.1. Über die allgemeine Bedeutung von Ethnizität und die Problematik des Kulturbegriffes ...... 11 2.2. Theoretische Überlegungen zum Thema Ethnizität ...... 12 2.2.1. Die TschetschenInnen als ethnische Gruppe...... 13 2.2.2. „Ethnicity vs. Nationalism” ...... 15 2.2.3. Eine tschetschenische Nation? ...... 16 2.2.4. Über die angebliche „Konstruiertheit“ einer tschetschenischen ethnischen Identität ...... 19

3. Der nationalistische Mobilisierungsprozess und die Instrumentalisierung von „ancient hatreds“ und nationalen Mythen in den rezenten Tschetschenien- kriegen ...... 21 3.1. Der tschetschenische Widerstand gegen Russland: ein historischer Aufriss ...... 21 3.1.1. Widerstand zur Zeit des Zarenreiches und der Sowjetunion ...... 21 3.1.2. Die nationale Revolution und der Beginn des ersten Tschetschenienkrieges ...... 23 3.1.3. Die Islamisierung des Widerstandes und der Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges ...... 26 3.2. Die „Symbolic Politics Theory“ ...... 30 3.2.1. Voraussetzungen für den Ausbruch eines ethnic war ...... 32 3.2.2. Über die allgemeine Bedeutung und die Funktionen von Mythen...... 33 3.3. Anwendung der „Symbolic Politics Theory“ auf das Fallbeispiel Tschetschenien ...... 35 3.3.1. Die Gelegenheit zur Mobilisierung (opportunity) ...... 35 3.3.2. Ethnische Ängste vor der Auslöschung der eigenen Gruppe ...... 37 3.3.3. Die Instrumentalisierung des tschetschenischen myth-symbol complex in den rezenten Tschetschenienkriegen ...... 39 3.4. Der tschetschenische myth-symbol-complex ...... 44 3.4.1. Der Mythos der „ancient nation“ ...... 44 3.4.2. Der Mythos des „ewigen Krieges“ gegen Russland ...... 46 3.4.3. Der Mythos der Imame Schamil und Mansur ...... 49 3.4.4. Das Symbol des Wolfes ...... 52 3.4.5. Der Mythos der militärischen Tapferkeit und der abreks ...... 54

4. Über die interethnischen Beziehungen zwischen TschetschenInnen und RussInnen und die Konstruktion einer „tschetschenischen nationalen Identität“ ...... 57 4.1. Die Abgrenzung und Stereotypisierung von anderen Gruppen ...... 57 4.1.1. Das Orientalismus-Konzept von Edward Said ...... 58

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4.1.2. Russischer „Orientalismus“, die Kolonisierung des Kaukasus und die Konstruktion ethnischer Kategorien ...... 59 4.1.3. Die „Zivilisierung“ des Kaukasus und die „TschetschenInnenfrage“ ...... 62 4.1.4. Die Konstruktion von Stereotypen über TschetschenInnen in der russischen Literatur und in kontemporären russischen Medien...... 63 4.1.5. Ein „Clash of Civilizations“ zwischen „russischer Orthodoxie“ und „tschetschenischem Islam“? ...... 66 4.1.6. Das interkonfessionelle Verhältnis von Islam und Orthodoxie in Russland ...... 71 4.2. Das Verhältnis von Kultur und Ethnizität ...... 73 4.2.1. Die interethnischen Beziehungen zwischen KosakInnen und TschetschenInnen ...... 74 4.2.2. Der multikulturelle Nordkaukasus und die behauptete ethnische Homogenität „der TschetschenInnen“ ...... 75 4.2.3. Das Aufkommen einer Orstkhoy-Identität ...... 78 4.3. Die Entstehung ethnischer Gruppen und die Kontroverse zwischen primordialism und instrumentalism ...... 79 4.3.1. Instrumentalism und Sezession ...... 80 4.3.2. Konkurrierende nationale Narrative im Tschetschenienkonflikt ...... 81 4.3.3. Die Frage der kulturellen „Authentizität” und die Rolle der teips ...... 83 4.3.4. Exkurs: Die Frage der Unabhängigkeit ...... 85 4.4. Die Situationsbezogenheit von Ethnizität ...... 87 4.4.1. Die Festschreibung von Ethnizität im Kontext des Tschetschenienkonfliktes ...... 88 4.5. Modernisierung als Grund für das vermehrte Aufkommen politisierter ethnischer Identitäten ...... 89 4.5.1. Modernisierungsprozesse in den tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbeziehungen ..... 90 4.5.2. Der Prozess der „Demodernisierung“ ...... 92

5. Schlussfolgerungen ...... 94 5.1. Ergebnisse der Arbeit ...... 94 5.2. Lösungsansätze und Ausblick ...... 102

6. Literatur- und Quellenverzeichnis ...... 106

7. Anhang ...... 115

8. Abstract ...... 119

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1. Einleitung1 jetunion führte. Der daraus resultierende natio- nale tschetschenische myth-symbol-complex – wie ihn der Politikwissenschaftler Stuart Kauf- „Es gab indes eine Nation, die der Psychologie man (2001) bezeichnet – umfasst Themen der der Unterwerfung standgehalten hatte – als Viktimisierung und der Heroisierung und nimmt Nation, als Ganzes, nicht nur die Einzelgänger, dabei Bezug auf über 300 Jahre der interethni- nicht nur die Rebellen. Das waren die Tsche- schen Beziehungen zwischen RussInnen und tschenen (…) immer traten sie jeder Obrigkeit TschetschenInnen. Neben Ängsten vor der stolz, ja sogar offen feindselig entgegen (…) Auslöschung der eigenen ethnischen Gruppe, Niemand vermochte sie daran zu hindern, auf der Gelegenheit zur Mobilisierung und dem diese Art zu leben. Und die Macht, die nun- daraus resultierenden security dilemma trägt mehr dreißig Jahre über diesem Lande der myth-symbol-complex einer Ethnie laut herrschte, konnte sie nicht zwingen, die von ihr Kaufman in großem Maße zu einer Dynamik geschaffenen Gesetze zu respektieren.“ bei, die den Ausbruch von ethnischen Konflik- (Alexander Solschenizyn (1976: 398f) über das ten begünstigt. Mit seiner „Symbolic Politics 1944 unter Josef Stalin nach Zentralasien de- Theory“ erklärt Kaufman so auf überzeugende portierte tschetschenische Volk) Weise die Ursachen für den Ausbruch von Sezessionskonflikten in Gebieten der ehemali- gen Sowjetunion nach dem Ende des Kalten Viele SchriftstellerInnen, JournalistInnen und Krieges – vor allem in der Region des Südkau- WissenschaftlerInnen haben im Laufe der letz- kasus. Eine Kernaussage besagter Theorie ist, ten Jahrhunderte über das „tapfere“ und „frei- dass ethnische Konflikte nicht aufgrund von heitsliebende“ tschetschenische Volk ge- „ancient hatreds“, also ursprünglichen und seit schrieben, welches sich angeblich niemals langem bestehenden „Hassgefühlen“, entste- einer fremden Herrschaft unterworfen und hen, sondern dass ethnische Identität in Kon- immer mutig für seine Unabhängigkeit ge- fliktsituationen oft nur instrumentalisiert wird kämpft hat. Dieses idealisierte Stereotyp der um die wahren (oft politischen, ökonomischen „unbeugsamen“ TschetschenInnen ist von den und territorialen) Interessen und Motive der romantisierenden Beschreibungen russischer Konfliktparteien zu verschleiern und die eigene Autoren wie Puschkin und Lermontov im 19. Gruppe für Kampfhandlungen zu mobilisieren. Jahrhundert bis hin zu den ethnographischen Im Rahmen des ersten Teiles dieser Arbeit Beschreibungen der tschetschenischen Ethnie sollen die rezenten Tschetschenienkriege der in den Kriegen der 1990er Jahre reproduziert 1990er Jahre anhand der „Symbolic Politics worden. Das tschetschenische Volk wurde Theory“ analysiert und erklärt und dabei der darüber hinaus auch mit dem Symbol des Wol- umfangreiche tschetschenische myth-symbol- fes assoziiert, der sich in einem „ewigen Krieg“ complex herausgearbeitet werden. mit seinem großen russischen Rivalen befindet Aufgrund von nationalistischer Rhetorik und und seit 300 Jahren heldenhaft gegen diesen Agitation – wie sie von russischer wie tsche- kämpft. Diese Sichtweise wurde mit dem Be- tschenischer Seite seit den 1990er Jahren ginn des ersten Tschetschenienkrieges 1994 vermehrt getätigt wurde – wurden die komple- auch von vielen westlichen AutorInnen über- xen interethnischen Verbindungen zwischen nommen, die glaubten in den TschetschenIn- den Völkern im kulturell äußerst heterogenen nen von heute eine Wiedergeburt der helden- Nordkaukasus sowie im russischen Vielvölker- haften WiderstandskämpferInnen des 19. reich zunehmend vernachlässigt. Waren die Jahrhunderts entdeckt zu haben. interethnischen Beziehungen zwischen Tsche- Diese reichhaltige tschetschenische Mytholo- tschenInnen und RussInnen in den 1970er- bis gie wurde von der tschetschenischen Unab- 80er Jahren verhältnismäßig konfliktfrei, so hängigkeitsbewegung Anfang der 1990er Jah- verschlechterten sich diese im Zuge der rezen- re aufgegriffen, um die Unabhängigkeit Tsche- ten Kriege erheblich. TschetschenInnen wur- tscheniens zu legitimieren und die Bevölkerung den vermehrt in russischen Medien und auch für ihre Ziele zu mobilisieren. Dabei wurde von offizieller Seite pauschal als „TerroristIn- auch versucht, eine Kontinuität mit den kriege- nen“ und „BanditInnen“ diffamiert, was zu einer rischen Auseinandersetzungen und „Abwehr- zunehmenden „Kaukasophobie“ in der russi- kämpfen“ herzustellen, die das kleine Tsche- schen Bevölkerung und zu gewalttätigen ras- tschenien seit dem 19. Jahrhundert gegen das sistischen Übergriffen gegen KaukasierInnen Russische Reich und darauffolgend die Sow- geführt hat. Auch die von tschetschenischen IslamistInnen verübten Terroranschläge in Russland in den letzten Jahren wirkten einer 1 Die vorliegende Arbeit stellt eine geringfügig überarbeite- positiveren Wahrnehmung von TschetschenIn- te und aktualisierte Version der Diplomarbeit des Autors nen in der Öffentlichkeit entgegen. Dabei war dar, welche unter dem gleichen Titel auf der Universität das tschetschenisch-russische interethnische Wien im November 2009 eingereicht wurde. 7

Verhältnis in den letzten Jahrhunderten kei- tet worden (siehe bspw. Leitner 2010, 2009, neswegs ausschließlich von Konflikt, sondern 2008, 2007, 2006). durchaus auch von Kooperation geprägt. Die Sozialwissenschaftlerin Ekaterina Sokiri- anskaia (2008) verweist in diesem Zusam- 1.1. Forschungsfragen menhang auf das Vorhandensein von memo- ries of success und memories of multicultural Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen existence zwischen den beiden Gruppierun- folgende Forschungsfragen behandelt werden: gen, die jedoch durch die kriegerischen Ausei- nandersetzungen der letzten Jahrhunderte  Welche Kriterien und Mechanismen immer wieder in den Hintergrund gedrängt führen – laut Stuart Kaufman – zu ei- wurden. Der zweite Teil dieser Arbeit widmet nem bewaffneten Konflikt zwischen sich aus diesem Grund aus einer historisch- ethnischen Gruppen? anthropologischen Perspektive der Darstellung der tschetschenisch-russischen interethni-  Inwiefern kann Stuart Kaufmans schen Beziehungen von den ersten Kontakten „Symbolic Politics Theory“ zu einer Er- im 16. Jahrhundert bis zu den rezenten Tsche- klärung des Ausbruches der rezenten tschenienkriegen. Dabei wird auch versucht, Tschetschenienkriege beitragen und Beispiele von ethnischen Gruppierungen her- welche Rolle spielten nationale Mythen auszuarbeiten, die sich „zwischen den Fron- und Symbole im tschetschenischen ten“ befunden haben, wie etwa die Terek- nationalistischen Mobilisierungspro- KosakInnen, und Konzeptionen der „ewigen zess Anfang der 1990er Jahre? Feindschaft“ zwischen Tschetschenien und Russland – die in Teilen der russischen Litera-  Welche tschetschenischen Mythen, tur und kontemporären Medien genauso ihren Symbole und nationalen Narrative sind Ausdruck finden wie in den Debatten um einen in diesem Kontext relevant? religiösen „Kulturkampf“ á la Samuel Hunting- ton – zu dekonstruieren. Bei der Darstellung  Wie gestalteten sich die interethni- des Tschetschenienkonfliktes wird dabei ver- schen Beziehungen zwischen Tsche- sucht, diesen möglichst objektiv abzubilden tschenInnen und RussInnen seit den und verschiedene Seiten und Argumente zu ersten aufgezeichneten interethni- berücksichtigen. Als theoretische Grundlage schen Kontakten? der vorliegenden Arbeit dienen verschiedene Ethnizitätstheorien aus den Disziplinen der  Welche Bedeutung kommt dem Faktor Kultur- und Sozialanthropologie, Politikwissen- „Religion“ in diesen interethnischen schaft und Geschichtswissenschaften. Beziehungen zu? Die Idee und Motivation hinter dieser Arbeit geht auf die Beobachtung zurück, dass in un-  Welche Rolle spielten die tschetsche- terschiedlichen Konflikten weltweit geschichtli- nisch-russischen Ethnizitätsbeziehun- che Ereignisse von ethnischen FührerInnen gen für die Herausbildung einer tsche- mythologisiert und instrumentalisiert werden tschenischen nationalen Identität? und eine künstliche Kontinuität mit der Ver- gangenheit hergestellt wird, um so gegenwär- tige partikulare Interessen durchzusetzen. Dieses Muster manifestierte sich in der natio- 1.2. Aufbau der Arbeit nalistischen Politik von Slobodan Milosevic am Balkan genauso wie in der Argumentation von In Kapitel 2 wird nun einführend auf verschie- HindufundamentalistInnen, die sich gegenüber dene anthropologische Ethnizitätstheorien und den Moslems am indischen Subkontinent ab- deren wissenschaftliche und alltägliche Bedeu- grenzen wollen. Durch eine Analyse dieser tung eingegangen. Dabei wird auch die tsche- Mechanismen lässt sich auch die schwierige tschenische Ethnie behandelt und gemäß un- Frage beantworten, warum Menschen bereit terschiedlicher Kriterien kategorisiert. sind, für ihre ethnische Gruppe bzw. Nation zu Im Anschluss an diese einleitenden Begriffsde- kämpfen und zu sterben. Die Wahl Tsche- finitionen werden in Kapitel 3 die konfliktiven tscheniens als Fallbeispiel in der vorliegenden Aspekte der interethnischen Beziehungen Arbeit ist auf die längere wissenschaftliche zwischen TschetschenInnen und RussInnen Auseinandersetzung des Autors mit dieser und die kriegerischen Auseinandersetzungen Region zurückzuführen. Einzelne Fragestel- zwischen diesen Gruppen beleuchtet. Nach lungen sind hierbei schon ansatzweise in an- einem historischen Überblick des Tschetsche- deren bereits veröffentlichten Artikeln bearbei- nienkonfliktes von den Kaukasuskriegen des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu den ge- 8 genwärtigen Kriegshandlungen wird die „Sym- schen diesen beiden Gruppen aufgrund der bolic Politics Theory“ von Stuart Kaufman dar- religiösen Unterschiede als ein „Kampf der gelegt, die erklärt, welche Mechanismen und Kulturen“ nach Samuel Huntington dargestellt Kriterien zu einem bewaffneten Konflikt zwi- worden ist, wird in weiterer Folge auch die schen ethnischen Gruppen führen können. Da Bedeutung der Religion für die interethnischen in diesem Konzept der myth-symbol-complex Beziehungen herausgearbeitet. Unter anderem einer ethnischen Gruppe eine entscheidende aufgrund von „Russifizierungs“- und „Moderni- Rolle spielt, wird in einem Unterkapitel noch sierungsprozessen“ sowie sowjetischer Natio- auf anthropologische Konzeptionen von My- nalitätenpolitik ist es auch zur Herausbildung then und deren Funktionen eingegangen. In einer tschetschenischen nationalen Identität einem weiteren Schritt soll dieses Theoriege- gekommen, weshalb auch diejenigen Faktoren bilde nun auf den nationalistischen Mobilisie- behandelt werden sollen, die zu dieser Ent- rungsprozess in Tschetschenien Anfang der wicklung beigetragen haben. 1990er Jahre angewandt und die Dynamiken Abschließend werden in Kapitel 5 die aufge- herausgearbeitet werden, die zum Ausbruch worfenen Forschungsfragen beantwortet und der beiden rezenten Tschetschenienkriege die gewonnenen Erkenntnisse zusammenge- geführt haben. Dabei kommen die folgenden fasst. Zudem werden noch Versöhnungsinitia- drei Kriterien, die laut Kaufman zu einem Aus- tiven und Lösungsansätze für die Verbesse- bruch eines „ethnischen Krieges“ führen, beim rung der interethnischen Beziehungen zwi- Fallbeispiel Tschetschenien zur Anwendung: schen TschetschenInnen und RussInnen skiz- die Möglichkeit zur Mobilisierung, ethnische ziert und ein Ausblick auf die weitere Entwick- Ängste vor der Auslöschung der eigenen lung dieses Verhältnisses gegeben. Gruppe und die Instrumentalisierung nationaler Mythen und Symbole (myth-symbol-complex). Nach einer Analyse, inwiefern nationale My- 1.3. Theoretisch-methodische Über- then und angeblich „ewige Feindschaften“ legungen („ancient hatreds“) zum tschetschenischen Mobilisierungsprozess beigetragen haben, wird Die Inhalte der vorliegenden Arbeit werden auf die relevantesten Mythen und Symbole gemäß theoretisch-methodischer Überlegun- noch einmal gesondert eingegangen. Eine gen der Kultur- und Sozialanthropologie erar- zentrale Rolle in der tschetschenischen Mytho- beitet, wobei vor allem eine historische Per- logie spielen dabei vor allem das Symbol des spektive verfolgt wird. Vorrangig werden dabei Wolfes sowie der Topos des „ewigen Krieges“ unterschiedliche theoretische Ansätze zu den gegen Russland, der eine Reihe berühmter Themen Ethnizität, Identität, Kolonialismus, Widerstandskämpfer hervorgebracht hat. Krieg und Frieden herausgearbeitet und auf Nach dieser Darlegung der politischen Konflik- den Tschetschenienkonflikt angewandt. Als te und Differenzen werden in Kapitel 4 die „empirisches Material“ dient dazu eine große komplexen interethnischen Beziehungen zwi- Anzahl an primären und sekundären Textquel- schen TschetschenInnen und RussInnen be- len über Tschetschenien, die von Anthropolo- handelt. In diesem Rahmen sollen neben ab- gInnen, SozialwissenschaftlerInnen, Journalis- grenzenden Merkmalen auch kulturelle Ge- tInnen und KaukasusexpertInnen verfasst und meinsamkeiten hervorgehoben werden, die in einer quellenkritischen Herangehensweise in sich im Laufe der letzten Jahrhunderte heraus- die Arbeit integriert wurden. Die Wahl dieser gebildet haben. Zunächst wird in jedem Unter- Methode ist damit zu begründen, dass sich kapitel kurz auf elementare Aspekte von Ethni- aufgrund der politisch angespannten und ge- zität eingegangen – wie etwa die Abgrenzung fährlichen Lage in Tschetschenien eine Feld- und Stereotypisierung von anderen Gruppen, forschung vor Ort äußerst schwierig gestaltet, das Verhältnis von Kultur und Ethnizität und nachdem überdies seit der Ermordung von die Situationsbezogenheit von Ethnizität – und MenschenrechtsaktivistInnen im Nordkaukasus in weiterer Folge werden diese theoretischen in den letzten Jahren mehrere NGOs ihre Tä- Darlegungen auf die tschetschenisch- tigkeit in Tschetschenien eingestellt haben. russischen Ethnizitätsbeziehungen angewandt. Aufgrund von Sprachbarrieren ist auch der Aus einer historischen Perspektive werden Zugang des Autors zu tschetschenischen dabei u.a. die Kolonisierung des Kaukasus, Flüchtlingen in Österreich äußerst einge- das Verhältnis der TschetschenInnen zu be- schränkt. Darüber hinaus sind diese oft schwer nachbarten kaukasischen Völkern und konkur- traumatisiert und befürchten, sich durch ent- rierende nationale Narrative thematisiert. Da sprechende Aussagen über die politische Situ- auch Religion zeitweise eine wichtige Rolle für ation und den Krieg in Tschetschenien in Ge- die gegenseitige ethnische Abgrenzung zwi- fahr bringen zu können. Dass MitarbeiterInnen schen TschetschenInnen und RussInnen ge- des tschetschenischen Präsidenten Ramzan spielt hat und auch der rezente Konflikt zwi- Kadyrow und des russischen Geheimdienstes 9

FSB auch in Österreich bestimmte Tsche- tschenInnen im Visier haben, ist nicht erst durch das Aufkommen einer „Todesliste“ und den Mord an Umar Israilov in Wien im Jänner 2009 bekannt. Angesichts dieser Umstände soll deshalb in dieser Arbeit die reichhaltige englisch- und deutschsprachige Literatur über Tschetschenien bearbeitet werden, um sie mit Hilfe mehrerer theoretischer Ansätze zu analy- sieren. Zudem wurden drei ExpertInneninter- views geführt, die thematisch codiert, verglei- chend analysiert und im Rahmen der vorlie- genden Arbeit kontextualisiert wurden. Die Wahl der InterviewpartnerInnen fiel dabei auf einen Russland- und Kaukasusexperten aus dem universitären Bereich, eine Journalistin und Russland-Korrespondentin, die sich inten- siv mit TschetschenInnen auseinandergesetzt hat, und einen in Österreich für eine NGO täti- gen Tschetschenen, der eine indigene Per- spektive in die Arbeit einbringt.

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2. Das Konzept der Ethnizität intolerante und exklusive Natur späterer Natio- nalismen. Aufgrund dieser Ambivalenz – und und die Kategorisierung der wohl auch in Ablehnung einer humanistischen tschetschenischen Ethnie Kulturdefinition – propagierten etwa die An- hängerInnen der britischen Sozialanthropolo- Im folgenden Kapitel wird nun auf unterschied- gie Mitte des 20. Jahrhunderts deshalb das liche anthropologische Ethnizitätstheorien ein- Studium von Sozialstrukturen anstatt von Kul- gegangen und mit Hilfe des erarbeiteten theo- turen. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Debat- retischen Instrumentariums das tschetscheni- te lieferte der Anthropologe Clifford Geertz, sche Volk definiert und konzeptuell eingeord- welcher – in Anlehnung an den Soziologen net. Talcott Parsons – Kultur als eine „Domäne von Symbolen und von Bedeutungen“ definierte, die es interpretativ zu erschließen gilt (Bar- 2.1. Über die allgemeine Bedeutung nard/Spencer 2004: 136-142). Im Wörterbuch der Völkerkunde (1999: 220) definiert Hartmut von Ethnizität und die Problematik Lang Kultur als die materiellen Hervorbringun- des Kulturbegriffes gen und Handlungs- und Denkweisen mensch- licher Gemeinschaften, in denen die Mitglieder In den letzten Jahrzehnten wurden Begriffe wie dieser Gemeinschaften übereinstimmen. Im Ethnizität und begriffliche Abwandlungen wie Rahmen dieser Arbeit soll Kultur im Sinne „ethnische Gruppen“ oder „ethnische Konflikte“ dieser Definition und unter Berücksichtigung zunehmend präsenter in öffentlichen, medialen der eben genannten kritischen Aspekte des und wissenschaftlichen Diskursen. Die Diszip- Kulturbegriffes verstanden werden. lin der Kultur- und Sozialanthropologie be- Das Konzept der Ethnizität trug dem Paradig- schäftigte sich bereits seit den 1960er Jahren menwechsel hin zu einem prozessualen Kul- vermehrt mit der Ethnizitätsthematik, was unter turverständnis insofern Rechnung, als es das anderem auf einen paradigmatischen Wandel Verhältnis zwischen ethnischen Gruppen als innerhalb der Disziplin zurückzuführen ist. dynamisch und wandelbar betrachtete, anstatt Während bislang Kulturen und Gesellschaften dieses als festgeschrieben im Sinne eines oftmals in essentialistischer Art und Weise als statischen Kulturbegriffes zu definieren. Dar- unveränderbar und konstant betrachtet wur- über hinaus führten mehrere historische Ent- den, ist es die heute vorherrschende Einsicht, wicklungen zur Herausbildung neuer For- dass man diese als im Wandel begriffen und schungsfelder für die anthropologische Diszip- prozessual sehen und analysieren müsse lin. So kam es im Rahmen der Dekolonisierung (Eriksen 2002: 10). nach dem Zweiten Weltkrieg zur Herausbil- Der Kulturbegriff war in der Geschichte der dung neuer Nationalstaaten, was zu dem Um- ethnologischen Disziplin immer äußerst um- stand geführt hat, dass von AnthropologInnen stritten, und es stellte sich als schwierig her- oft untersuchte Gruppierungen wie „Stämme“ aus, diesen adäquat zu definieren. Im 19. und oder „UreinwohnerInnen“ innerhalb der ehema- frühen 20. Jahrhundert kristallisierten sich zwei ligen kolonialen Gebiete zu ethnischen Min- unterschiedliche Bedeutungen von Kultur her- derheiten innerhalb der neu entstandenen aus. Während das humanistische Interpretati- Länder geworden sind (Eriksen 2002: 9f).2 onsmuster in dieser eine Art „Hochkultur“ sah, Überdies führten Migrations- und Flüchtlings- manche Menschen „kultivierter“ als andere bewegungen globalen Ausmaßes zu sozialen betrachtete und „kulturelle Produkte“ über Phänomenen wie etwa Multikulturalismus, Kunst, Musik und Literatur definierte, so wurde Transnationalität, Hybridität und zur Entste- die anthropologische Definition von Kultur zu- hung von Diasporas, welche seitens der Kul- nehmend pluralistischer und betrachtete die tur- und Sozialanthropologie aus verschiede- Menschen als Produkte verschiedener Kultu- nen Perspektiven und in unterschiedlichen ren, die weltweit existieren und jede auf ihre lokalen Kontexten behandelt und analysiert eigene Art und Weise wertvoll und einzigartig wurden (ebd.: 143ff). sind. Johann Gottfried von Herder postulierte bereits, dass man Menschen einer Kultur nicht an den Maßstäben einer anderen messen 2 In seinem bedeutenden Artikel „The Politics of Ethnicity“ sollte bzw. jemandem nicht eine „fremde Kul- beschreibt der Anthropologe Stanley Tambiah (1994), wie die Kolonialpolitik europäischer Großmächte durch willkür- tur“ aufzwingen sollte. Obwohl er gemäß die- liche Grenzziehungen und die Einteilung mehrerer ethni- ser Sichtweise die europäische Kolonialpolitik scher Gruppen in größere Einheiten zu deren Interaktion und die Denunzierung „nicht-europäischer“ und zum Abbau von Unterschieden beigetragen hat. Somit Völker stark kritisierte, so schuf er durch die sind durch diese Politik oft neue ethnische Gruppen erst entstanden: „Some such groups were ‚artificial‘ creations Forderung der „ethnischen Reinheit“ einer of colonial authorities and missionaries, who catalyzed the Gruppe auch bereits einen Entwurf für die slow merger of related peoples into coherent entities“ (Horowitz 1985: 66f). 11

Abgesehen von diesen Entwicklungen ist die 2.2. Theoretische Überlegungen zunehmende Beschäftigung und Auseinander- zum Thema Ethnizität setzung mit Ethnizität – auch außerhalb der Sozialwissenschaften – auf mehrere andere Eine nähere Auseinandersetzung mit Ethnizität tiefgreifende historische, politische und soziale macht jedoch zunächst eine ausführliche Defi- Veränderungen im Laufe des 20. Jahrhunderts nition des Begriffes vonnöten. Das Wort „eth- zurückzuführen. Aufgrund der Entstehung nisch“ stammt vom griechischen Begriff neuer Nationalstaaten im Zuge von Dekolonia- ethnos, was ursprünglich soviel wie „heidnisch“ lisierungsprozessen kam es in diesen postko- bedeutete. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts lonialen Staaten in mehreren Fällen zu sozia- näherte er sich dessen heutiger Bedeutung an len Spannungen und dem Ausbruch ethnischer und bezeichnete Merkmale, die sich auf die Konflikte (ebd.: 2ff). Tambiah (1994: 435) un- Herkunft bestimmter Menschen bezogen. In terscheidet dabei drei Phasen, die nach der der anthropologischen Disziplin wird vor allem Unabhängigwerdung mehrerer Länder der so der Aspekt der Beziehung zwischen zwei genannten „Dritten Welt“ zum Ausbruch von Gruppen herausgestrichen; somit bezieht sich ethnischen Konflikten geführt haben. Die erste Ethnizität auf „(…) aspects of relationships Phase stellt den Prozess der Dekolonisierung between groups which consider themselves, und die Übergabe der Macht von den westli- and are regarded by others, as being culturally chen Imperialmächten an die lokalen Eliten distinctive“ (Eriksen 2002: 4). Diese wechsel- dar. Die darauffolgende Stufe – welche Ende seitige Beziehung zeigt sich vor allem auch in der 1950er und Anfang der 1960er Jahre an- täglichen Situationen, in denen die Mitglieder zusetzen ist – ist geprägt von den optimisti- unterschiedlicher ethnischer Gruppen aufein- schen Versuchen, eine gemeinsame Nation zu andertreffen: „Ethnicity emerges and is made schaffen, interne Unterschiede zu überwinden relevant through social situations and encoun- und das Ideal einer westlich geprägten Vorstel- ters, and through people’s ways of coping with lung von Demokratie zu implementieren. In der the demands and challenges of life“ (ebd.: 1). abschließenden Phase, die ab 1960 einsetzte, Die meisten AnthropologInnen kritisieren An- kam es in vielen Fällen zu einer Desillusionie- sätze, die auf eine bloße Aufzählung kultureller rung aufgrund des Scheiterns des hochge- Eigenschaften und Merkmale – wie etwa eine steckten Zieles, innerhalb kurzer Zeit eine gemeinsame Sprache, Religion, Abstammung Nation und staatliche Strukturen zu schaffen. und Kultur – abstellen, um eine ethnische Oft folgte daraufhin der Ausbruch ethnischer Gruppe zu definieren. Viel wichtiger erscheint Konflikte entlang sprachlicher und religiöser – dem Anthropologen Richard Jenkins zufolge Linien sowie aufgrund von Territorialstreitigkei- – ob eine Gruppe von seinen eigenen Mitglie- ten. dern als unterschiedlich wahrgenommen wird Auch in den 1990er Jahren kam es zu etlichen und vor allem ob sie von anderen als Gruppe kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen anerkannt und als markant gesehen wird (Jen- Ethnizität instrumentalisiert wurde, wie etwa kins 2002: 225f). Auch der norwegische Anth- beim Genozid in Ruanda 1994, bei den „ethni- ropologe Frederic Barth (1969: 11) kritisiert schen Säuberungen“ im Rahmen der Kriege im solche idealtypischen, auf kulturelle Merkmale ehemaligen Jugoslawien sowie bei den Sezes- abzielenden Definitionen von Ethnizität, da sionskonflikten, die durch Auflösung der Sow- diese die Schlussfolgerungen nahelegen, dass jetunion ausgelöst wurden und zu denen auch sich die Aufrechterhaltung ethnischer Grenzen der Krieg in Tschetschenien zu rechnen ist. unproblematisch gestaltet und dass Gruppen Doch die öffentliche Auseinandersetzung mit als isoliert zu betrachten sind. Da dies jedoch Ethnizität beschränkt sich nicht nur auf Konflik- nicht der Fall ist, plädiert er dafür, den Fokus te, sondern lässt sich auch anhand der con- 3 auf die soziale Organisation, Interaktion und tested identities von ArbeitsmigrantInnen und die Grenzen einer ethnischen Gruppe zu le- Flüchtlingen in den westlichen Industriestaaten gen, anstatt sich mit dem „cultural stuff“, der oder anhand der Entstehung neuer supra- eine solche Gruppe umschließt, auseinander- nationaler Identitäten wie der Europäischen zusetzen. In einer oft zitierten Definition von Union beobachten (ebd.: 2ff). Ethnizität erklärt Barth diese deshalb als „the social organization of cultural difference“ (Barth 1969). Der terminologische Wandel in der anthropolo- gischen Disziplin und die damit einhergehende Bezeichnung von „Stämmen“ als „ethnische Gruppen“ transzendiert in einer gewissen Wei- 3 Dieser Begriff bezieht sich auf die unterschiedlichen se den in der Anthropologie in der Vergangen- potentiellen Identitäten, zwischen denen MigrantInnen oft heit oft vorherrschenden Euro- und Ethno- wählen können, und auf die damit einhergehende Schwie- rigkeit ihre Identität zu definieren. zentrismus gegenüber den untersuchten 12

Gruppen. Deren Klassifizierung durch den 2.2.1. Die TschetschenInnen als ethnische Begriff „Stamm“, welcher mit negativen Stereo- Gruppe typen wie Unterentwicklung und Primitivität assoziiert war und noch immer ist, implizierte Das tschetschenische Volk4 lässt sich nicht eine Abgrenzung zwischen Forscher/in und ausschließlich in eine der von Eriksen vorge- Erforschtem/en. Die Verwendung des Begriffes schlagenen Kategorien einordnen. Die Tsche- „ethnische Gruppe“ dagegen relativiert die tschenInnen waren schon lange vor der An- Grenzen zwischen „Uns“ und „Ihnen“, da eth- kunft der RussInnen im 16. Jahrhundert im nische Gruppen auch in den westlichen Indust- Kaukasus sesshaft, was sie somit zu „ur- riestaaten vorhanden sind und somit eine ge- sprünglichen“ indigenen BewohnerInnen des wisse Verbundenheit hervorgehoben wird Territoriums macht. Eine Integration ihrerseits (Eriksen 2002: 10f). in die dominanten staatlichen Strukturen kann Trotz der oft sehr unterschiedlichen Manifesta- ihnen nur teilweise attestiert werden, da die tionen ethnischer Gruppen lassen sich laut tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbezie- Eriksen grundsätzlich fünf Arten ethnischer hungen auch immer wieder vom tschetscheni- Beziehungen unterscheiden (Eriksen 2002: schen Widerstand gegen russische Integrati- 14f): ons- und Assimilationsversuche gekennzeich- net waren. Darüber hinaus kann das kaukasi- 1. Urbane ethnische Minderheiten, welche sche Volk auch als eine ethnische Gruppe beispielsweise durch nicht-europäische innerhalb eines kulturell heterogenen, von der MigrantInnen in europäischen Großstädten russischen Kolonialmacht geschaffenen „plura- verkörpert werden. len“ Staates gesehen werden. Das russische Zarenreich, sowie auch die Sowjetunion und 2. Indigene Völker, welche als „ursprüngli- die heutige Russische Föderation, konstituier- che“ Bewohner eines Territoriums ver- ten damals wie heute ein Vielvölkerreich, wel- standen werden und nur teilweise in die ches sich durch seine große Anzahl an unter- dominanten nationalstaatlichen Strukturen schiedlichen ethnischen Gruppen auszeichnet integriert sind. (siehe bspw. Kappeler 1993). Seit dem 20. Jahrhundert entwickelte sich unter den Tsche- 3. Proto-Nationen beziehungsweise so ge- tschenInnen zunehmend ein nationales Zu- nannte ethnonationalistische Bewegungen, sammengehörigkeitsgefühl, welches sich auch deren politische AnführerInnen einen eige- in dem zunächst nationalen Widerstand gegen nen Nationalstaat beanspruchen. Russland Anfang der 1990er Jahre manifes- tierte. Dieser ist vor allem auf die traumatische 4. Ethnische Gruppen in „pluralen Gesell- Erfahrung der Deportation unter Stalin – wel- schaften“, welche normalerweise durch ches als chosen trauma des tschetscheni- ehemalige Kolonialmächte konstruiert schen Volkes angenommen wurde – zurückzu- worden sind und sich aus einer kulturell führen (vgl. Kapitel 2.2.3.). Ende der 1980er heterogenen Bevölkerung zusammenset- Jahre setzte sich zunehmend ein politischer zen. Nationalismus in Tschetschenien durch, und es wurde die nationale Unabhängigkeit von 5. Post-slavery minorities, welche sich aus Russland gefordert, wie James Hughes (2007) den Nachfahren ehemaliger SklavInnen überzeugend argumentiert. Im Hinblick auf die konstituieren und vorwiegend in der „Neu- letzten Jahrzehnte können die TschetschenIn- en Welt“ zu finden sind. nen somit auch als eine „Proto-Nation“ bzw. ethnonationalistische Gruppierung, welche In weiterer Folge wird nun darauf eingegan- einen eigenen Staat beansprucht, definiert gen, inwiefern die TschetschenInnen als ethni- werden. sche Gruppe bzw. als (Proto-)Nation definiert Bedingt durch die dramatischen Erfahrungen werden können, welche potentiellen Identitäten und Vertreibungen im Zarenreich und in der in diesem Kontext eine Rolle spielen und wie Sowjetunion bildeten sich zudem auch Diaspo- sich die komplexen Zusammenhänge zwi- ragemeinschaften außerhalb Russlands. Auf- schen Ethnizität und Nationalismus gestalten. grund der Kaukasuskriege im 19. Jahrhundert und in Folge der Russischen Revolution flüch- teten viele TschetschenInnen in das benach- barte Osmanische Reich, die NachfahrInnen dieser Flüchtlinge formen eine heute fünf bis sieben Millionen starke Diasporagesellschaft in

4 Eine Landkarte von Tschetschenien findet sich im An- hang, Abbildung 1. 13 der Türkei (Halbach 2003a: 46). Auch im Mitt- riffen zu verstehen. Der Soziologe Zygmunt leren Osten bildete sich eine große nordkau- Bauman, welcher Identität als eine notwendige kasische Diaspora heraus, welche den Tsche- soziale Konvention bezeichnet, meint dies- tschenInnen im Zuge der rezenten Kriege be- bezüglich, dass „(…) recourse to identity trächtliche Finanzleistungen zukommen ließ should be considered an ongoing process of (Halbach 2003c: 161). Aufgrund des opferrei- redefining oneself and of the invention and chen Konfliktes suchten seit den 1990er Jah- reinvention of one’s own history“ (Bauman ren zudem auch viele tschetschenische Flücht- 2004: 7). Diese Prozesshaftigkeit macht somit linge in der Europäischen Union Schutz, wo es eine längerfristige Analyse der historischen ebenfalls zur Errichtung mehrerer Diasporage- Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen sellschaften gekommen ist (Janda/Leitner/Vogl notwendig, weshalb im Rahmen dieser Arbeit 2008). Aber auch in Russland selbst – vor die interethnischen Beziehungen zwischen allem in Moskau – lebt eine große Anzahl von TschetschenInnen und RussInnen von den TschetschenInnen (Interview mit Szyszkowitz, ersten Kontakten im 16. Jahrhundert bis zu Wien-Moskau 2009). den gegenwärtigen gewalttätigen Auseinan- Die konfliktreichen historischen tschetsche- dersetzungen behandelt werden sollen. nisch-russischen Beziehungen führten u.a. In Zeiten einer „flüssigen Moderne“, in der dazu, dass sich „die TschetschenInnen“ als Bauman zufolge soziale Institutionen zuneh- Volk – abgesehen von den benachbarten mend in Auflösung begriffen sind, bieten sich nordkaukasischen Ethnien – vor allem gegen- Individuen in bestimmten Fällen oft mehrere über den RussInnen abgegrenzt haben, und Identitäten an: somit Eriksen zufolge ein Ethnizitätsverhältnis geschaffen wurde, in welchem beide Gruppen „From the citizen’s point of view, nationalism einander als kulturell unterschiedlich vonein- may or may not be a viable alternative to kin- ander betrachten. Nichtsdestotrotz gab es ship or ethnic ideology (or there may be two auch viel Kontakt und kulturellen Austausch nationalisms to choose between, e.g. a Soviet zwischen den beiden ethnischen Gruppen, and a Lithuanian one) – and she will choose was in weiterer Folge dieser Arbeit näher her- the option best suited to satisfy her needs, be ausgearbeitet werden soll. Die Behauptung, they of a metaphysical, economic or political dass RussInnen und TschetschenInnen seit nature“ (Eriksen 1991: 268).5 Jahrhunderten als abgeschlossene Ethnien existieren und aufgrund dieser Unterschiede Ähnlich verhielt es sich auch mit den nationa- ein friedliches Zusammenleben nicht möglich len und religiösen tschetschenischen Führerfi- sei, wurde vor allem von tschetschenischen guren der letzten zwei Jahrzehnte. Der 1991 NationalistInnen propagiert. Diese sind der zum tschetschenischen Präsidenten gewählte Überzeugung, dass die „historische Gerechtig- Dschochar Dudajew6 etwa verleugnete lange keit“ auf ihrer Seite sei, wodurch Geschichte zu Zeit seine tschetschenische Herkunft und Iden- einem „Kampfinstrument“ mutiert. Der Kauka- tität, um in der sowjetischen Armee Karriere zu susexperte Uwe Halbach bezeichnet diese machen und bis zum Rang des Generals auf- Denkweise als eine „Geschichtsfalle“, welche zusteigen. Erst im Zuge eines Einsatzes in zusammen mit dem Bewusstsein, einen ge- Estland begeisterte er sich für deren nationa- schichtlich legitimierten Anspruch auf ein be- len Widerstandskampf und entwickelte sich so stimmtes Territorium zu haben, eine friedliche zu einem tschetschenischen Separatisten. Koexistenz zwischen ethnischen Gruppen Somit hob Dudajew zunächst seine russische besonders erschwert (Halbach/Müller 2001: bzw. sowjetische Identität hervor, da ihm dies 12). Dabei zeichneten sich in der Vergangen- politisch opportun erschien, nur um sich später heit gerade das russische Vielvölkerreich und umso entschlossener gegen Russland zu der Kaukasus durch ihre ethnische Vielfalt aus: wenden und sich als „echter“ Tschetschene zu profilieren. Der 1997 zum tschetschenischen „Die Fähigkeit, sich in den Konfliktgegner hin- Präsidenten gewählte und einzuversetzen, geht im Gezerre um ‚histori- der islamistisch geprägte Rebellenführer sche Argumente‘ verloren. Verloren geht dabei auch ein wesentlicher Grundzug kaukasischer 5 Geschichte: daß nämlich hier der größte Teil Wobei an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden muss, dass einem nicht immer mehrere Identitäten zur historischer Erfahrung die von Vielvölkerge- Auswahl stehen, bzw. dass es in manchen Situationen gar meinschaften war und kein einziger Gebietsteil nicht möglich ist, sich bewusst eine bestimmte Identität bis in die tiefste Vergangenheit hinein auf eine anzueignen. Ein Beispiel hierfür ist etwa, wenn eine ethni- Nationalität fixierbar ist“ (ebd.). sche Gruppe stigmatisiert wird und deren Mitglieder dieser zugeschriebenen Rolle nicht entkommen können (Eriksen 2002). Ethnizität sowie auch ethnische Identitäten 6 Dschochar Dudajew war der erste tschetschenische sind somit als prozessual und im Wandel beg- Präsident und regierte von der nationalen Revolution in Tschetschenien 1991 bis zu seinem Tod 1996. 14

Schamil Bassajew dienten ursprünglich auch schen nationaler und ethnischer Zugehörigkeit, dem Sowjetsystem, bevor sie sich für den wie etwa mexikanische WanderarbeiterInnen, tschetschenischen Unabhängigkeitskampf die sich in den USA und in Mexiko in einer engagierten. Der tschetschenische Mufti Ach- jeweils unterschiedlichen Rolle wiederfinden. mad Kadyrow dagegen kämpfte im ersten Schließlich werden beide Begriffe in den Mas- Tschetschenienkrieg gegen Russland und rief senmedien bzw. auch im öffentlichen Diskurs sogar zum „heiligen Krieg“ gegen dieses auf. oft nicht konsistent verwendet. Wenn etwa von Unter anderem aufgrund des zunehmenden den „104 nations“ der ehemaligen Sowjetunion Einflusses der IslamistInnen in Tschetschenien die Rede war, bezog man sich dabei in der distanzierte er sich jedoch von der Wider- Regel auf ethnische Gruppen (ebd.).8 standsbewegung und stellte sich im zweiten Nationalismus wie auch ethnische Identitäten Tschetschenienkrieg auf die Seite des Kremls. sind als Ideologien zu verstehen, welche von Somit wechselte das Zugehörigkeitsgefühl einer kulturellen Gleichheit der Gruppenange- dieser – inzwischen alle ermordeter – tsche- hörigen ausgehen, und beide heben in konflik- tschenischen Führer zwischen Identifizierung tiven Situationen die kulturellen Differenzen mit Russland einerseits und radikalem Abgren- gegenüber der anderen Gruppe hervor. Erik- zungsbedürfnis diesem gegenüber anderer- sen (1991) kommt somit in dem Artikel „Ethni- seits (Szyszkowitz 2008: 125-132). Als Tsche- city vs. Nationalism“ zu dem Schluss, dass der tschene/in hat man laut Amjad Jaimoukha Unterschied zwischen den beiden Ideologien ohnehin unzählige potentielle Identitäten, wel- einer der Grades und nicht einer der Art ist – che in bestimmten Situationen hervorgehoben insbesondere da sich viele politische Bewe- werden können: gungen gleichzeitig als ethnisch und national verstehen. Schlussendlich liegt die Unter- „A Chechen is caught in a web of supra- scheidung im Auge des Betrachters/der Bet- national, ethnic, national and a plethora of sub- rachterin bzw. in dem Verhältnis der entspre- national identities: Caucasian, Mountaineer, chenden Gruppe zum Staat. Wenn ein tsche- North Caucasian, Northeast Caucasian, Nakh, tschenischer Nationalist behauptet, dass – Vainakh, Nokhcho (Chechen), member of nach der Definition des Anthropologen Ernest tukhum, taip, aul, vaer, gar, neqe and dooezal. Gellner (1983) – die staatlichen Grenzen der Religion adds another identity complex: Mus- eigenen Gruppierung kongruent mit den kultu- lim, Sunni, Shafii, Sufi, tariqat adept, vird fol- rellen sein sollten und Tschetschenien somit lower” (Jaimoukha 2005: 14).7 eine Nation ist, wird dies wahrscheinlich vom russischen Staat nicht anerkannt werden und die TschetschenInnen eher als ethnische 2.2.2. „Ethnicity vs. Nationalism” Gruppe definiert werden. Erfolglose Nationa- lismen tendieren laut Eriksen somit dazu, zu Die Frage, ob die TschetschenInnen nun als ethnischen Gruppierungen transformiert zu ethnische Gruppe oder als eine Nation im Sin- werden; eine Erfahrung, die neben den Tsche- ne eines westeuropäischen Nationalstaates zu tschenInnen auch viele andere Völker mit Au- verstehen sind, ist insofern schwierig zu be- tonomiebestrebungen auf dem Territorium der antworten, als vielen Nationalismen eine ethni- ehemaligen Sowjetunion machen mussten sche Basis zugrunde liegt: „A nationalist (Eriksen 1991: 264f). In diesem Sinne sieht ideology is an ethnic ideology, which demands auch Bauman Identität als ein „zweischneidi- a state on behalf of an ethnic group. However, ges Schwert“: in practice the distinction can be highly prob- lematic“ (Eriksen 2002: 119). „You could see the sword of identity bran- Zum einen kann Nationalismus als eine supra- dished by both sides and cutting both ways in ethnische Ideologie fungieren und dadurch the times of ‚nation-building‘: wielded in de- ethnische Trennungen zwischen Gruppen fence of smaller, local languages, memories, transzendieren, wie etwa das Beispiel Mauriti- customs and habits against ‚those in the capi- us zeigt. In polyethnischen Gesellschaften tal’ who promoted homogeneity and demanded muss eine nationale Identität somit nicht unbe- uniformity – as well as in the ‚cultural crusade’ dingt auf gemeinsame ethnische Ursprünge waged by the advocates of national unity who zurückführbar sein. Darüber hinaus finden sich aimed to extirpate the ‚provinciality’, parochial- viele Menschen oft in einer Grauzone zwi- ism (…) of local communities or ethnicities” (Bauman 2004: 77).

7 Barth weist jedoch auch auf die Beschränkungen hin, welche übergeordnete ethnische Identitäten auf die poten- 8 Valery Tishkov (2005: 160f) verweist ebenfalls darauf, tiellen Rollen eines Individuums ausüben können: „(…) dass es sich bei den „Völkern der Sowjetunion“ eher um regarded as a status, ethnic identity is superordinate to ethnische Gruppen handelt, erstere Bezeichnung jedoch in most other statuses, or social personalities, which an Russland traditionellerweise in der akademischen Sprache individual with that identity may assume“ (Barth 1969: 17). geläufig ist. 15

In jedem Fall handelt es sich somit bei Identität führung ist wohl darin zu finden, dass die um ein heiß umkämpftes Konzept, welches Schaffung von Feindbildern und das Führen gerade durch solche Auseinandersetzungen von Kriegen auch eine konsolidierende Wir- an Bedeutung gewinnt: „Identity comes to life kung hat, indem es den nationalen Zusam- only in the tumult of battle; it falls asleep and menhalt innerhalb eines Landes stärkt. Eriksen silent the moment the noise of the battle dies hierzu: down“ (ebd.). So ist es auch kaum verwunderlich, dass eine „The ideological power of nationalism is often bestimmte Interpretation der „tschetscheni- (but not always) expressed in the official identi- schen Identität“ besonders in Zeiten des Krie- fication of enemies, and as has been noted ges und Konfliktes mit Russland besonders many times by analysts, warfare can serve as hervorgehoben und zwecks ethnischer Mobili- a nationally integrating force. Any segmentary sierung instrumentalisiert wurde, während sie opposition (…) within the polity may be post- in Friedenszeiten in den Hintergrund getreten poned and ‚forgotten’ when an external enemy ist und eher die Kooperation mit anderen eth- encourages the realization of the highest, un- nischen Gruppen im Vordergrund stand. Die ambiguously binary level of the system of op- tschetschenische Psychologin Raissa Tagiro- positions (…) Similarly, the identification and wa hat diesbezüglich 250 Interviews mit prosecution of internal enemies has been a TschetschenInnen der letzten drei Generatio- familiar technique of integration for centuries” nen geführt. Sie ist dabei zu dem Schluss ge- (Eriksen 1991: 274f). kommen, dass die älteste Generation, welche die Deportation unter Stalin miterlebt hatte, So diente die Schaffung des Feindbildes sowie die jüngere Generation, welche in der “Tschetschene/in” laut Michail Ryklin vor allem Zeit der rezenten Tschetschenienkriege auf- dazu, von der großen Zahl innerrussischer gewachsen ist, den RussInnen ein besonders Probleme nach dem Zerfall der Sowjetunion geringes Vertrauen entgegenbringen. Die mitt- abzulenken (Ryklin 2003). Der damalige russi- lere Generation der 1960er bis 1980er Jahre, sche Präsident Boris Jelzin, hinter welchem welche in einer Phase der relativen Stabilität vor allem aufgrund der schlechten ökonomi- aufgewachsen ist, hatte dagegen viel zivilen schen Situation im Oktober 1994 nur mehr Kontakt mit RussInnen und begegnete diesen 16% der russischen Bevölkerung standen, mit mehr Vertrauen (Szyszkowitz 2008: 108f). versuchte etwa durch den ersten Tschetsche- Weiters lässt sich auch eine Ambivalenz zwi- nienkrieg 1994 seine Popularität zu steigern schen Nationalismus und Ethnizität feststellen, (Starovoitova 1995: 11f). Auch der Anfang der ein Phänomen, das Nairn auch als „janusge- 1990er Jahre amtierende tschetschenische sichtige Manifestation von Nationalismus“ be- Präsident Dudajew verlor aufgrund von Korrup- zeichnet und welches sich auf das Verhältnis tionsvorwürfen stark an Rückhalt in Tsche- zwischen einer dominierenden und einer do- tschenien und wäre wohl auch abgesetzt wor- minierten ethnischen Gruppe innerhalb eines den, wäre nicht die russische Armee 1994 in modernen Nationalstaates bezieht (Eriksen der nordkaukasischen Provinz einmarschiert 2002: 119f). So besteht Moskau einerseits mit und hätte so die tschetschenische Bevölkerung allen (militärischen) Mitteln auf dem Verbleib in Zeiten des Krieges hinter ihrem Präsidenten Tschetscheniens innerhalb der Russischen konsolidiert (Arutiunov 1995: 17; Payin 1995: Föderation und sieht dieses als einen „integra- 24). len Bestandteil“ des Landes, andererseits je- doch werden TschetschenInnen als Feindbil- der konstruiert, diskriminiert und bekämpft. 2.2.3. Eine tschetschenische Nation?9 Eriksen führt dies darauf zurück, dass Nationa- lismus sowohl eine inklusive wie auch eine Laut Sokirianskaia (2008: 103) stellen die exklusive Funktion haben kann: TschetschenInnen eine der jüngsten und zugleich eine der ältesten „Nationen“ der Welt „(…) nationalism may have socio-culturally dar. Einerseits waren die Vorfahren der tsche- integrating as well as disintegrating effects; it tschenischen Volksgruppe schon seit 4.000 – sometimes serves to identify a large number of 6.000 Jahren in dem heutigen Territorium an- people as outsiders, but it may also define an sässig, andererseits konnte diese erst nach ever increasing number of people as insiders dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 and thereby encourage social integration on a den Versuch unternehmen, eine moderne nati- higher level than that which is current” (Eriksen onale Staatlichkeit im Rahmen des internatio- 1991: 266). nalen Staatensystems zu errichten. Dennoch

Der Grund für diese auf den ersten Blick wi- dersprüchliche Politik der russischen Staats- 9 Teile dieses Unterkapitels sind der Publikation Leitner 2006 entnommen worden. 16 lassen sich nach nationalismustheoretischen eigener Sprache, eigener Religion – nicht Gesichtspunkten mehrere Aspekte aufzählen, alle Kaukasier waren Moslems und nicht welchen zufolge die TschetschenInnen – spä- alle moslemischen Kaukasier Anhänger testens seit den 1920er Jahren – durchaus des Kunta-Hadschi-Nakschbandija- eine Nation im Sinne des westeuropäischen Sufismus“ (Szyszkowitz 2008: 151).10 Nationalstaatskonzeptes konstituieren. Diese sollen nun in weiterer Folge diskutiert werden:  Die Bedeutung einer gemeinsamen Spra- che: Von großer Wichtigkeit war zudem  Die Abgrenzung von Russland: Die oft auch die Verschriftlichung der tschetsche- konflikthaften tschetschenisch-russischen nischen Sprache zur Zeit der Sowjetunion, Beziehungen hatten einen großen Einfluss welche das Arabische, auf welches nur auf die Entwicklung eines nationalen Zu- wenige islamische Gelehrte Zugriff hatten, sammenhaltes unter den TschetschenIn- ersetzte (Lieven 1998: 334). So gab es im nen. Vor allem die Eroberung und die As- Jahre 1914 nur rund 154 Schulen in similierungsversuche durch das Zarenreich Tschetschenien und weniger als ein Pro- und später durch die Sowjetunion ermutig- zent der ansässigen Bevölkerung war des ten die TschetschenInnen, sich zusam- Lesens und Schreibens mächtig. Bis in die menzuschließen, Widerstandsstrategien 1920er existierten in der nordkaukasischen zu entwickeln und gemeinsam gegen den Republik mehrere Dialekte, für die Schaf- „äußeren Feind“ vorzugehen (Lieven 1998: fung einer einheitlichen tschetschenischen 332). Dieses Argument schließt auch an Sprache wurde dann in weiterer Folge ein die Argumentation von Eriksen an, dass Dialekt aus und Umgebung heran- das Führen von Kriegen eine integrierende gezogen. Im Jahre 1925 ist die lateinische und konsolidierende Funktion innerhalb ei- Schrift zur offiziellen Schriftform in Tsche- ner ethnischen Gruppe haben kann. Auch tschenien ernannt worden, welche dann in die These von Bauman, welcher zufolge den 1940er Jahren durch die kyrillische Identität vor allem dann zum Vorschein Schrift ersetzt wurde. Im Zuge der zuneh- tritt, wenn sie umkämpft ist, kommt an die- menden Alphabetisierung in Tschetsche- ser Stelle zur Geltung (Bauman 2004: 77; nien und der Entwicklung einer eigenstän- Eriksen 1991: 274f). digen Sprache wurde dann 1927 die erste tschetschenische Zeitung mit dem Titel  Die Bedeutung der Religion: Seit dem 16. „Serlo“ („Licht“) in lateinischer Schrift pub- Jahrhundert verbreitete sich auch der Is- liziert. In weiterer Folge wurde 1928 der lam im Nordkaukasus, welcher für die In- erste tschetschenische Radiosender und spiration und Formation eines konsolidier- 1929 der tschetschenische SchriftstellerIn- ten tschetschenischen Widerstandes von nenverband ins Leben gerufen. Im Jahre großer Bedeutung sein sollte. Jedoch ver- 1930 erfolgte die Einführung der allgemei- wurzelte sich der islamische Sufismus erst nen Schulpflicht und 1931 wurden die durch die russische Kolonisierung des Pforten des ersten nationalen Theaters in Kaukasus Ende des 18. Jahrhunderts Grozny geöffnet (Szyszkowitz 2008: 53ff). nachhaltig bei den TschetschenInnen – Einen großen Einfluss auf die Entwicklung dabei entstand zwar kein „nationalisti- eines tschetschenischen Nationalbewusst- scher“ Zusammenhalt in einem modernen seins hatte auch der 1970 erschienene Sinn, sondern laut Lieven (1998: 332, 359) Roman „Lange Nächte“ von Abusar Aida- eher ein „prä-“ oder „protonationalisti- mirow, welcher die tschetschenisch- sches“ Zusammengehörigkeitsgefühl. russischen Kriege im 19. Jahrhundert the- Durch die Schaffung eines islamischen matisierte. So griff etwa auch der Text der Imamats unter Imam Schamil im 19. Jahr- tschetschenischen Nationalhymne auf die- hundert wurden zudem erstmals Konzepte ses Buch zurück (ebd.: 87). von Staat und Staatsbürgerschaft im Der bekannte Politologe Benedict Ander- Nordkaukasus eingeführt und der Versuch son verweist in diesem Zusammenhang unternommen, eine kohärente Sozialord- auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen nung herzustellen (Zelkina 2000: 235-238). Schrift und Sprache, um so einen imagi- Diese damals eingeführte spezifische nierten Zusammenhalt zwischen den Mit- Form des sufistischen Islam hebt die gliedern einer Nation herzustellen (Ander- TschetschenInnen laut Szyszkowitz auch son 1996).11 Durch die Schaffung einer von anderen kaukasischen Völkern ab: 10 Auf den Unterschied zwischen dem Naqschbandiyya- „Die Tschetschenen hatten sich sehr wohl und dem Qadiriyya-Sufismus wird in Kapitel 3.1.3. noch seit einigen Jahrhunderten als eigenes näher eingegangen werden. 11 Volk verstanden, mit eigenen Traditionen, Anderson versteht Nationen als imaginierte, begrenzte und souveräne politische Gemeinschaften. Sie sind inso- 17

einheitlichen tschetschenischen Schrift chosen trauma des tschetschenischen und Sprache konnte nun eine tschetsche- Volkes bezeichnet, das sich in dessen kol- nische Nationalgeschichte geschrieben lektivem Gedächtnis festgesetzt hat. Cho- werden, mit der sich die Mitglieder dieser sen traumas sind als Katastrophen zu ver- Nation identifizieren konnten und welche stehen, „(…) deren Auswirkungen den na- durch Zeitungen, Bücher und Radiosen- tionalen Einigungsprozess – emotionell dungen reproduziert wurde. wie politisch – stärken“ (Szyszkowitz 2008: 10). Besonders traumatisch wirkten sich  Die Deportation 1944: Die Deportation der die Massaker der sowjetischen Truppen an TschetschenInnen unter Stalin und das der lokalen Bevölkerung im tschetscheni- damit einhergehende Exil in Zentralasien schen Dorf Khaibakh aus, welches zu ei- von 1944 bis 1957 war eines der zentralen nem Symbol für die Gräueltaten des Jah- Ereignisse in der tschetschenischen Ge- res 1944 geworden ist. Im Zuge der De- schichte und im kollektiven Gedächtnis portation wurden dort die EinwohnerInnen des nordkaukasischen Volkes. Der Trans- des Dorfes – welche 600 bis 700 Men- port des gesamten tschetschenischen Vol- schen ausmachten – in Ställen einge- kes forderte viele Opfer und dadurch ent- schlossen und verbrannt, diejenigen die stand auch ein starkes Zusammengehö- flüchten wollten wurden von den sowjeti- rigkeitsgefühl unter den TschetschenIn- schen Truppen erschossen (ebd.: 64; sie- nen. Da man sich in diesen schweren Zei- he auch Kap. 3.3.2.). Dieses erlittene ten auf die gemeinsame Kultur, Sprache Trauma – obwohl es schon mehr als 60 und Identität zurückbesonnen hat, konnte Jahre zurückliegt – wirkt sich auch heute sich somit gerade im Exil ein ausgeprägtes noch nachhaltig auf die tschetschenische nationales Selbstbewusstsein entwickeln Identitätsbildung aus: (Lieven 1998: 321). Ernest Renan be- zeichnete schon im 19. Jahrhundert das „The ‘memories,’ [sic!] perceptions, expec- gemeinsame Erbringen von Opfern als ei- tations, wishes, fears, and other emotions ne wichtige Voraussetzung für das Entste- related to shared images of the historical hen von Nationen. Für ihn stellte die Nati- catastrophe and the defenses against on „(…) eine große Solidargemeinschaft, them – in other words, the mental repre- getragen von dem Gefühl der Opfer, die sentation of the shared event – may be- man gebracht hat, und der Opfer, die man come an important identity marker of the noch zu bringen gewillt ist“ dar (Renan affected large group. Years, even centu- 1993: 309). Zudem betonte er hierbei auch ries, later, when the large group faces new den Willen und den Wunsch, das gemein- conflicts with new enemies, it reactivates same Leben in der Gegenwart fortzuset- its chosen trauma in order to consolidate zen (ebd.: 308), welcher sich im Falle des and enhance the threatened large group tschetschenischen Volkes aufgrund der identity” (Volkan 2004: 483). außerordentlich hohen Geburtenrate im Exil manifestierte. So kehrten trotz des Schließlich spielte dann auch die Anfang strapaziösen Transportes nach Zentral- der 1990er Jahre vom tschetschenischen asien und den harten ersten Jahren im Präsidenten Dudajew geschürte Angst vor Exil, welche viele Menschenleben gekostet einer erneuten Deportation und die Reakti- hatten, 1957 mehr TschetschenInnen in ihr vierung dieses chosen trauma eine wichti- angestammtes Territorium zurück als im ge Rolle im nationalistischen Mobilisie- Jahre 1944 deportiert wurden (Lieven rungsprozess in Tschetschenien (siehe 1998: 321). Auch Tessa Szyszkowitz Kap. 3.3.). kommt diesbezüglich zu einem ähnlichen Schluss, wenn sie die Deportation als ein  Das Aufkommen ethnonationalistischer Tendenzen Ende der 1980er Jahre: Einen weiteren externen Faktor für die Entste- fern vorgestellt, als sich die meisten ihrer Mitglieder nicht hung eines tschetschenischen National- persönlich kennen, aber dennoch in ihren Köpfen eine bewusstseins stellt der in vielen sowjeti- Vorstellung von einer Gemeinschaft existiert. Nationen schen Regionen aufkeimende Ethnonatio- werden als begrenzt imaginiert, da man sich gezwunge- 12 nermaßen von anderen Gruppen und Nationen abgrenzen nalismus im Zuge des Zerfalls der Sow- muss, um als eigenständige nationale Einheit wahrge- jetunion dar. Der sowjetische Staat unter- nommen zu werden. Der Aspekt der Souveränität ist auf teilte sein Territorium in mehr als 50 natio- den Ursprung des Nationsbegriffes zurückzuführen, der sich in der Zeit der Aufklärung und der Französischen nale Einheiten und die Bevölkerung in Revolution herausgebildet hat. Schließlich wird eine Nation in einer essentialisierenden Art und Weise als eine Ge- meinschaft von Gleichgesinnten gesehen, für welche man 12 Tishkov (1994: 443) definiert Ethnonationalismus als bereit ist sein Leben zu opfern (Anderson 1996: 14-17). „(…) the entwining of nationalism with ethnic identity (…)“. 18

mehr als 100 ethnische Nationalitäten. und Zwang, um als einzig denkbare Form so- Durch diese Politik wurde bestimmten zialer Existenz wahrgenommen und akzeptiert Gruppen eine bestimme nationale Identität zu werden. Zudem gestalten sich nationale zugeschrieben, und es kam durch diese Identitäten als äußerst exklusiv, da nur durch administrative Unterteilung zu einer Institu- den Ausschluss von anderen und die Errich- tionalisierung von ethnischer Nationalität, tung einer Grenze zwischen us und them de- zur Schaffung gemeinsamer politischer In- ren integrative Funktion erhalten bleibt (Bau- teressen und in weiterer Folge auch zur man 2004: 18-23). Um die Vorstellung lokaler Entstehung einer gemeinsamen politi- Identitäten zu transzendieren und die Herr- schen Identität (Brubaker 1996: 17f): „In schaft des modernen Staates über dessen doing so, they [these concepts, G.L.] UntertanInnen zu legitimieren, wurde somit das contributed powerfully to the breakup of Konzept der Nation eingeführt: the Soviet Union and to the structuring of nationalist politics in its aftermath“ (ebd.: „Unlike the ‚mini-societies of mutual familiarity‘, 18). those localities in which the lives of most men Weiters stellte das sowjetische System and women of premodern and premobility keine zivilen Institutionen zur Verfügung, times were spent from cradle to grave, ‚nation‘ durch welche die einzelnen ethnischen was an imagined entity that could enter the Gruppen und deren Mitglieder ihre spezifi- Lebenswelt only if mediated by the artifice of a schen Interessen und Rechte zum Aus- concept“ (ebd.: 23).13 druck hätten bringen können. Daraus re- sultierte, dass der Zusammenhalt in der Auch bei den TschetschenInnen war Identität ethnischen Gruppe und das Konzept des für die längste Zeit über lokale Clanstrukturen Nationalismus naheliegende Alternativen definiert: „Erst in der Deportation begannen die zum stark zentralisierten Staat und eine Tschetschenen ein modernes Nationsver- Basis für kollektives Handeln darstellten. ständnis zu entwickeln. War bis dahin die So erhielten ethnonationalistische Bewe- Clanstruktur der stärkste Faktor der Identität gungen immer mehr Zulauf und ethnische gewesen, so änderte sich dies unter den äu- Eliten forderten in weiterer Folge vom ßerst schwierigen Bedingungen der Verban- Zentralstaat, als eigene Nationen aner- nung“ (Szyszkowitz 2008: 151). kannt zu werden. Die Reformen von Glas- Wann genau jedoch eine alle Clans und teips14 nost und Perestroika (siehe Fußnote 23) umfassende tschetschenische überethnische trugen in den 1980er Jahren weiter dazu Identität geschaffen wurde, lässt sich aus ge- bei, diesen Prozess zu beschleunigen genwärtiger Sicht unmöglich rekonstruieren. (Tishkov 1994: 448-50). In diesem Klima Feststellen lassen sich jedoch bestimmte histo- des sozialen und politischen Umbruchs er- rische Tendenzen und Ereignisse, wie sie klärten dann auch die TschetschenInnen oben beschrieben wurden, die zur Herausbil- 1991 ihre Unabhängigkeit (siehe auch dung einer überlokalen ethnischen Identität Kap. 3.3.1.). und eines Nationsverständnisses bei den TschetschenInnen auf jeden Fall beigetragen haben. 2.2.4. Über die angebliche „Konstruiertheit“ Weiters sieht Bauman in ethnischen Gruppen einer tschetschenischen ethnischen Identi- – welche die eigene Unabhängigkeit und Sou- tät veränität einfordern – nicht das Wiederaufle- ben oder die Wiedergeburt „ursprünglicher“ Die oben genannten Kriterien für die Konstitu- Nationen, sondern führt diese Autonomiebe- tion einer tschetschenischen Nation zeigen strebungen eher auf die oftmalige Erosion somit, dass diese – sowie auch die meisten staatlicher Souveränität zurück.15 Da der Nati- Nationalstaaten – eine relativ neue „Erfindung“ ist und dass deren Ursprung wohl im frühen 13 So weist Bauman auch darauf hin, dass man etwa im 20. Jahrhundert zu finden ist. So waren soziale „vor-mobilen“ 18. Jahrhundert für eine Reise von Paris Identitäten für die längste Zeit der Mensch- nach Marseille genauso lange brauchte wie zu Zeiten des heitsgeschichte vor allem lokal definiert und Römischen Reiches, was für die lokal verankerten Bürge- bezogen sich nur auf das unmittelbare Umfeld. rInnen die Imagination einer französischen Nation erheb- lich erschwerte (Bauman 2004: 18) Nationale Identitäten entwickelten sich somit 14 Auf die spezifische tschetschenische Sozialstruktur soll nicht „natürlich“ aus der menschlichen Erfah- in Kapitel 4.3.3. noch ausführlicher eingegangen werden. rung heraus, sondern es handelt sich bei die- 15 Ähnlich sieht dies Gellner, der konstatiert: „Nationalis- sen um Konzepte – Fiktionen, welche im mo- mus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein: man erfindet Nationen, wo es sie dernen Zeitalter in die Lebenswelt der Men- vorher nicht gab“ (Gellner 1964: 169). Jedoch muss in schen eingeführt worden sind. Solche Identitä- diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, ten bedurften erst vieler Überzeugungsarbeit dass Nationen nicht einfach „erfunden“ werden, sondern dass dabei auf gewisse historische und kulturelle Elemen- 19 onalstaat heutzutage oft nur wenig Schutz vor zen. Jenkins meint hierzu, dass, wenn man den negativen Auswirkungen von Globalisie- bestimmte Situationen als real definiert, diese rungsprozessen und zudem immer weniger auch real in ihren Konsequenzen sind. Identität Anreize für seine BürgerInnen bietet, sich ihm wird von uns als real angesehen, weshalb er gegenüber loyal zu verhalten, suchen diese oft zu dem Schluss kommt, dass „(…) community Zuflucht bei anderen (ethnischen) Gruppierun- and belonging are thus imagined but not ima- gen (Bauman 2004: 55-59). Dieser Umstand ginary“ (Jenkins 2002: 118, eigene Hervorhe- veranlasst Bauman dazu festzustellen, dass bung). Ähnlich betont Szyszkowitz (2008: 104), „(…) indeed, ‚identity‘ is revealed to us only as dass, wenn innerhalb einer Gruppe ein natio- something to be invented rather than discov- naler Zusammenhalt entstanden ist, dies als ered“ (ebd.: 15). Auch das russische Zaren- ein „fait accompli“ zu verstehen ist, das nie- reich, die Sowjetunion und die heutige Russi- mandem mehr abgesprochen werden kann. sche Föderation boten den TschetschenInnen Abschließend kommentiert Bauman die ange- kaum vielversprechende Anreize für die Integ- bliche Konstruiertheit von Identitäten und die ration in ihr Staatsgebiet – welche zudem noch Versuche, diese als „erfunden” darzustellen, mit Gewaltanwendung erzwungen wurde. Wie treffenderweise folgendermaßen: „It [identity, oben erwähnt gab es für die ethnischen Grup- G.L.] can perhaps be wished away (and com- pen der Sowjetunion auch kaum die Möglich- monly is, by philosophers striving for logical keit, ihre (politischen) Interessen auf lokaler elegance), but it cannot be thought away, and Ebene durchzusetzen. In diesem Sinne lassen even less can it be done away with in human sich somit auch der Rückgriff auf die eigene practice“ (Bauman 2004: 77). tschetschenische ethnische Identität und die In diesem Sinne soll im Rahmen dieser Arbeit Forderungen nach Unabhängigkeit Anfang der die tschetschenische ethnische Identität nicht 1990er Jahre erklären. als „unecht” entlarvt, sondern deren Interpreta- Jedoch muss man sich als Anthropologe/in tion und Instrumentalisierung durch tsche- und Sozialwissenschaftler/in immer darüber im tschenische NationalistInnen kritisch hinterfragt Klaren sein, dass es sich bei Ethnizität und werden. Nationalismus nur um unsere eigenen, erfun- denen Kategorien handelt und die AkteurInnen sich selber oft ganz anders wahrnehmen bzw. sich – wenn überhaupt – mit Hilfe eigener emi- scher16 Kategorien definieren (Eriksen 2002: 16f). Zudem kann eine zu enge Fokussierung auf den Ethnizitätsbegriff die Sicht auf andere relevante Formen sozialer Identität, wie bei- spielsweise nicht-ethnische Identitäten oder andere Prinzipien sozialer Differenzierung verstellen. Weiters gibt es die Möglichkeit un- terschiedliche Identitäten zu besitzen, welche situativ unterschiedlich hervorgehoben werden. In diesem Sinne ist Eriksen der Meinung, dass, wenn man Ethnizität sucht, diese auch im Feld finden wird und zu ihrer Reproduktion beiträgt. Insofern kann die Auseinandersetzung mit nicht-ethnischen Dimensionen auch ein hilfrei- ches Korrektiv sein (ebd.: 173-78). Darüber hinaus ist es müßig, ethnische Identi- täten zu dekonstruieren und diesen aufgrund ihrer angeblichen „Konstruiertheit“ die Exis- tenzberechtigung abzusprechen, obwohl sie für viele Leute offensichtlich Bedeutung besit- te einer Gruppe zurückgegriffen werden muss, damit eine nationale Identität auch plausibel erscheint (Eriksen 2002; siehe auch Kap. 4.3.). 16 Zur Definition des Wortes „emisch“ findet man im Wör- terbuch der Völkerkunde folgenden Eintrag: „Als emisch werden solche Merkmale und Konzepte bezeichnet, die in der untersuchten Kultur bedeutungsunterscheidend wirken bzw. nur für diese eine spezifische Bedeutung haben, als etisch dagegen solche Merkmale und Kategorien von kulturübergreifender, ggf. universaler Bedeutung“ (Wörter- buch der Völkerkunde 1999: 92). 20

3. Der nationalistische Mobili- Revolte (auch ghasawat17 genannt) unter sheikh18 Mansur Ushurma gegen die russische sierungsprozess und die In- Besatzung, welche 1791 niedergeschlagen strumentalisierung von „an- wurde. Dieser erste ghasawat vereinte viele Völker im Nordkaukasus unter der Führung cient hatreds“ und nationalen von Mansur, der dabei versuchte, lokale Identi- Mythen in den rezenten Tsche- täten zugunsten einer überethnischen islami- tschenienkriegen schen Solidarität zu überwinden. Die Jahre zwischen 1791 und 1818 waren dann von ei- Nachfolgend soll zunächst in einem histori- nem unbehaglichen Frieden gekennzeichnet, schen Rückblick auf die ersten kriegerischen bis der russische General Alexei Yermolov mit Auseinandersetzungen zwischen Tschetsche- großer Brutalität gegen die TschetschenInnen nInnen und RussInnen Ende des 18. Jahrhun- vorging um diese zu unterwerfen (Lieven 1998: derts bis hin zu den Kriegen der 1990er Jahre 304f; Halbach 1995: 205f). eingegangen werden, um die Instrumentalisie- Im Jahre 1824 kam es dann zur zweiten und rung von „ancient hatreds“ in der Gegenwart auch wichtigsten Widerstandsperiode der besser kontextualisieren zu können. Das Kern- TschetschenInnen gegen die russischen Un- terwerfungsversuche, welche als Muridenkrie- stück dieses Kapitels bilden der nationalisti- 19 sche Mobilisierungsprozess und die Manipula- ge bezeichnet werden und bis 1859 andauer- tion nationaler Mythen in den letzten beiden ten. Eine große Rolle bei der Organisation und Tschetschenienkriegen, welche mithilfe der Mobilisierung des Widerstandes spielten dabei „Symbolic Politics Theory“ von Stuart Kaufman die sufistischen Bruderschaften – und hierbei analysiert und erklärt werden sollen. In Darle- vor allem der Naqschbandi-Orden und der gung dieses Theoriegebildes wird folgende Zweig der Khalidiyya –, welche erst im späten 18. Jahrhundert in der Region Fuß gefasst einleitende Forschungsfrage beantwortet: Wel- 20 che Kriterien und Mechanismen führen laut hatten. Unter der Führung des legendären Stuart Kaufman zu einem bewaffneten Konflikt Imam Schamil wurden Tschetschenien und der zwischen ethnischen Gruppen? Nach der Er- größte Teil Dagestans im Kampf gegen Russ- läuterung dieses theoretischen Konzeptes soll land konsolidiert. Schamil schuf darüber hin- dieses auf Tschetschenien angewandt werden aus auf diesem Gebiet ein Imamat, einen isla- und die zweite Frage erarbeitet werden, näm- mischen Staat, der auf verschiedenen ideolo- lich inwiefern die Instrumentalisierung nationa- gischen Grundlagen basierte. Zunächst propa- gierte er eine Re-Islamisierung durch die Ver- ler Mythen zum tschetschenischen Mobilisie- 21 rungsprozess Anfang der 1990er Jahre beige- bindung von innerem und äußerem dschihad , tragen hat. Abschließend wird auf die tsche- tschenischen Symbole, Mythen und nationalen 17 Ghasawat bedeutet im Kontext des Nordkaukasus soviel Narrative eingegangen, die in diesem Kontext wie „heiliger Krieg” und stammt aus dem Arabischen für besonders relevant erscheinen. ghaswa (Offensive, Überfall). Dieser Begriff findet sich auch in der Bezeichnung Razzia wieder (Halbach 1995: 198). 18 Sheikh ist ein/e sufistische/r Meister/in (Gammer 2006: 3.1. Der tschetschenische Wider- xvi). 19 stand gegen Russland: ein histori- Murid bedeutet soviel wie „Suchende/r” und bezeichnet NovizInnen eines islamischen Sufi-Ordens (tariqa) bzw. scher Aufriss SchülerInnen sufistischer MeisterInnen und LehrerInnen (Halbach 1995: 208). 20 3.1.1. Widerstand zur Zeit des Zarenreiches Der sehr heterogene Sufismus ist schon in frühislami- scher Zeit entstanden und basierte ursprünglich auf Welt- und der Sowjetunion entsagung und mystischen Gotteserfahrungen. Im Laufe der Zeit jedoch übernahmen verschiedene sufistische Die ersten aufgezeichneten Kontakte zwischen Strömungen zunehmend auch politische und soziale Auf- TschetschenInnen und RussInnen erfolgten im gaben und spielten dann besonders bei der Konsolidierung von Widerstand gegen äußere, nicht-islamische Mächte frühen 16. Jahrhundert, als sich die KosakIn- eine bedeutende Rolle. Der im 14. Jahrhundert in Buchara nen erstmals in der Terek-Region niedergelas- entstandene Naqschbandi-Orden forderte darüberhinaus sen haben. Abgesehen von gelegentlichen auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Raubzügen beider Gruppen gestalteten sich Beteiligung an der politischen Macht, eine Rückbesinnung auf den Propheten und eine besondere Intensivierung des deren Beziehungen durchaus friedlich. Erste Verhältnisses zwischen MuridInnen und ihren MeisterIn- kriegerische Auseinandersetzungen kamen nen (Halbach 1995: 208f). Ende des 18. Jahrhunderts auf, als die russi- 21 Bereits TheologInnen in frühislamischer Zeit haben sche Armee unter der Zarin Katharina der differenziert zwischen einem „großen dschihad“, welcher den inneren Kampf gegen eigene unlautere Eigenschaften Großen erstmals die nordkaukasischen Völker bzw. gegen den „inneren Schweinehund“ bezeichnet und unter die Herrschaft des Zarenreiches bringen dem „kleinen dschihad“, welcher einen militärischen „heili- wollte. Dies führte daraufhin 1785 zur ersten gen“ Kampf für Gott gegen eine/n äußeren Feind/in be- schreibt (Damir-Geilsdorf 2005: 216f). 21 d.h. dass der Widerstand gegen den äußeren des militärischen Erfolges der russischen Feind (Russland) verbunden wurde mit der Truppen aufgeben. Die russische Taktik war Verfestigung des eigenen Glaubens und des hierbei zuerst Tschetschenien zu attackieren, islamischen Rechts der scharia. Diese Aspekte da dieses einerseits für die Nahrungsmittelver- sollten vor allem eine integrierende und mobili- sorgung der Truppen Schamils eine wichtige sierende Funktion im Kampf gegen das Zaren- Rolle spielte und sich andererseits dort die reich erfüllen. Die Einführung der scharia und besten KämpferInnen Schamils befanden. Die der Doktrin der Naqschbandi führte jedoch russische Eroberung des tschetschenischen auch zu einer Verdrängung des traditionellen Flachlandes führte dann auch zu großen Hun- Gewohnheitsrechtes (adat), welches bislang in gersnöten und brachte zudem die russischen Tschetschenien vorherrschte. Lieven zufolge Truppen näher an die tschetschenischen Ber- versuchte Schamil bewusst durch die Einfüh- ge heran. Nachdem auch die erhoffte Unter- rung des islamischen Rechts jene Aspekte stützung seitens des Osmanischen Reiches tschetschenischer Tradition „auszumerzen“, ausgeblieben war und Tschetschenien einge- welche die Effizienz der Kriegsführung beein- nommen wurde, kapitulierte Schamil im Jahre flussen und zu Spaltungen innerhalb der 1859 (ebd.: 60-64). TschetschenInnen führen hätten können. Ein Was die Naqschbandi-Khalidiyya betrifft, so Beispiel hierfür bildet etwa die Blutrache oder wurde diese rund 40 Jahre nach ihrer Einfüh- der Konsum von Alkohol (Halbach 1995: 207- rung in den späten 1850er Jahren von einem 211; Lieven 1998: 366). anderen sufistischen Orden, der Qadiriyya Die Vorherrschaft der Naqschbandi-Orden ersetzt. Der von Kunta Hadschi nach Tsche- führte durch die Errichtung von sufistischen tschenien gebrachte Orden kam bald in Kon- Logen, muslimischen Schulen und der Einfüh- flikt mit der Naqschbandi-Bewegung und mit rung der arabischen Sprache auch zu einer Schamil, da sich beide sufistische Ausrichtun- nachhaltigen Islamisierung Tschetscheniens gen in wesentlichen Punkten voneinander und Dagestans. Das Imamat brachte erstmals unterschieden. Neben dem lauten anstatt des das Konzept eines „Staates“ in den Nordkau- leisen dhikr (ein Ritual, das durch Gesang und kasus. Die Einführung einer Armee, von Be- Tanz aufgeführt wird) und der Propagierung steuerung, einer Verwaltung und einer Innen- von individueller anstatt kollektiver Erlösung und Außenpolitik brachte ein Konzept von rief Kunta vor allem zu einem Ende des Wider- „Staatsbürgerschaft“ hervor, welches sich im standes gegen Russland auf, der ihm zufolge Gegensatz zu den russischen Versuchen der nicht nur sinnlos, sondern auch ein Verbrechen Errichtung von Staaten im Nordkaukasus als gegen Gott war. Den von jahrzehntelangem weit durchsetzungsfähiger erwiesen hat (Zelki- Kampf und Leiden gezeichneten Tschetsche- na 2000: 235-238). Laut Zelkina stellte somit nInnen gab die Qadiriyya somit die religiöse die Naqschbandi-Bewegung den ersten ernst- Legitimation, den bewaffneten Kampf zu been- zunehmenden Versuch dar, die Gesellschaften den, und eröffnete zudem die Hoffnung auf des Nordkaukasus zu modernisieren, Konzep- Erlösung. Insofern versuchten zunächst auch te von Staat und Staatsbürgerschaft einzufüh- die russischen Autoritäten die „pazifistischen“ ren und eine kohärente soziale Ordnung her- Ansichten Kuntas zu verbreiten. Nichtsdesto- zustellen: „Divided by tribal codes, clan and trotz wurde einige Jahre später diese Glau- territorial affiliations and by the geographic bensausrichtung verboten und Kunta Hadschi terrain itself, this fragmented society was for 1864 in Gefangenschaft genommen, in der er the first time united under the Naqshbandi drei Jahre später angeblich auch starb. Im imams“ (ebd.: 235). Zuge der Muridenkriege wurden an die 20.000 TschetschenInnen, vor allem AnhängerInnen Einen Grund für den durchschlagenden Erfolg von Kunta Hadschi, in das Osmanische Reich des Sufismus in Teilen des Nordkaukasus seit deportiert. Aufgrund der Unterdrückung der dem Ende des 18. Jahrhunderts sieht Gammer Qadiriyya-Bewegung – welche ja ursprünglich durch den günstigen Zeitpunkt seines Auftre- gegen den tschetschenischen Widerstand tens bedingt, als Russland zunehmend ag- Position bezogen hatte – und der brutalen gressiver eine Eingliederung des Nordkauka- Verfolgung ihrer AnhängerInnen richtete sich sus in das Zarenreich verfolgte und die diese jedoch zunehmend gegen die russische Naqschbandi-Bewegung für die indigene Be- Herrschaft und sollte auch in den kommenden völkerung immer mehr eine effektive Wider- Konflikten mit Russland immer wieder eine standsstrategie darstellte (Gammer 2006: 45f). entscheidende Rolle für den Widerstand spie- Nichtsdestotrotz musste Schamil nach fast 30 len. Wäre die russische Führung im Umgang Jahren Widerstandskampf – welcher vor allem mit der Kunta Hadschi-Sekte etwas toleranter von Guerillataktiken geprägt war22 – aufgrund und moderater vorgegangen, hätten sicher viele zukünftige konfliktive Situationen verhin- dert werden können. So sind auch viele der 22 Vgl. diesbezüglich Leitner 2010. 22 vereinzelten tschetschenischen Revolten bis durchgeführt, was speziell auch die gerade hin zur Oktoberrevolution auf die staatliche erst aufgekommene junge tschetschenische Repression der islamischen Glaubensaus- Intelligentsia hart getroffen hat (ebd.: 148-156). übung zurückzuführen (ebd.: 73-86). In weiterer Folge war auch die Deportation der TschetschenInnen 1944 – wie schon in Kapitel Dennoch kam es zwischen 1878 und 1918 2.2.3. diskutiert – ein traumatisches Erlebnis, kaum zu nennenswerten Aufständen im Nord- welches heute noch seine Auswirkungen zeigt. kaukasus. Als im März 1917 das „Vizekönig- Nichtsdestotrotz waren vor dem Zweiten Welt- reich“ des Kaukasus aufgelöst wurde, bildete krieg die meisten TschetschenInnen und Ingu- sich – in dem Bestreben, eine pan- schInnen zu sehr damit beschäftigt, mit den kaukasische Organisation zu gründen – die gegebenen Umständen und sozialen Umbrü- „Alliance of the Mountaineers of the North chen zurechtzukommen, als sich gegen das Caucasus“ (AUMNC). Anfangs war diese sehr sowjetische Regime aufzulehnen oder sich anti-bolschewistisch eingestellt und errichtete diesem aktiv anzuschließen. Auch zu Beginn nach einigen Konflikten mit den ortsansässigen des Zweiten Weltkrieges dienten die meisten Terek-KosakInnen im Mai 1918 eine eigene TschetschenInnen und InguschInnen in der Bergrepublik im Nordkaukasus. 1919 erreichte sowjetischen Armee, und nur wenige desertier- jedoch der berüchtigte General Anton Denikin ten – was ebenso auf den sowjetischen Krieg mit seiner Freiwilligenarmee (Dobrarmiia) – in Afghanistan in den 1980er Jahren zutrifft. welche vorwiegend aus „weißen“ OffizierInnen Diese Tatsache steht somit im Gegensatz zu bestand – die Region, versuchte im Kampf der Annahme, dass TschetschenInnen sich gegen die Rote Armee wieder ein geeintes, über Jahrhunderte hinweg stets gegen jedwe- ungeteiltes Russland herzustellen und ging de Autorität aufgelehnt haben (Tishkov 2004: gewaltsam gegen die Bergvölker vor. Für die 24f). In diesem Sinne kommt Tishkov zu dem meisten NordkaukasierInnen stellte die Rote Schluss, dass „(…) [t]here are few data to sup- Armee nun das geringe Übel dar, woraufhin sie port the image of as ‚eternal rebels‘ mit dieser gemeinsam gegen Denikins Trup- in the period before or during World War II“ pen kämpften. Vier Monate nach der „Befrei- (ebd.: 25). ung“ durch die bolschewistischen Truppen Im folgenden Unterkapitel wird nun ausführlich regte sich jedoch Widerstand unter den Berg- auf den Ablauf der tschetschenischen nationa- völkern gegen die einstigen KampfgenossIn- len Revolution und die Kriegsursachen des nen, da diese sich mit großer Arroganz wie ersten Tschetschenienkrieges eingegangen, eine Besatzungsmacht im Kaukasus aufspiel- welche auch für die spätere Analyse der natio- ten. So wurden u.a. islamische Traditionen nalen Mythen von Bedeutung sind. angegriffen, es kam zum Diebstahl von Nah- rungsmitteln und Tieren und zu erzwungenen Rekrutierungen für die sowjetische Armee. 3.1.2. Die nationale Revolution und der Be- Eine der Auswirkungen der Kampfhandlungen ginn des ersten Tschetschenienkrieges – welche von kaukasischer Seite in Form eines Partisanenkrieges geführt wurde – war wie Als Reaktion auf die Öffnung unter Michail auch schon im 19. Jahrhundert das Aufkom- Gorbatschows23 Perestroika Ende der 1980er men einer großen Hungersnot und die Verbrei- Jahre entwickelten sich in weiten Teilen der tung von Armutsverhältnissen. Um die Bevöl- Sowjetunion nationalistische Bewegungen und kerung auf ihre Seite zu ziehen, verteilte die „informelle Gruppen“, welche verschiedene Rote Armee Essen und erbrachte andere Hilfs- politische, ökonomische, soziale und kulturelle leistungen. Zudem konnte sie auch die Unter- Ziele verfolgten. In diesen Bewegungen spiel- stützung einflussreicher sufistischer sheikhs ten vor allem Intellektuelle eine bedeutsame gewinnen. Diese Faktoren – sowie die Kriegs- Rolle. In Tschetschenien hat etwa die akade- müdigkeit der NordkaukasierInnen – führten mische Organisation „Kavkaz“ etliche solcher 1923 zu einem Ende des Krieges, obwohl es Gruppen hervorgebracht. Der erste größere auch in den darauffolgenden Jahren immer Protest in diesem Rahmen richtete sich gegen wieder vereinzelt zu Aufständen gekommen ist die Errichtung einer biochemischen Fabrik in (Gammer 2006: 100; 119-140). der tschetschenischen Stadt Gudermes im Ab 1928 kam es in der gesamten Sowjetunion zu Zwangskollektivierungen und zu einem 23 Michail Gorbatschow war von 1985 bis 1991 General- generellen Angriff auf die unterschiedlichen sekretär des Zentralkomitees der KPdSU. Die unter ihm Religionen – 1929 wurden deswegen im Kau- eingeleiteten Reformen der Perestroika („Umbau“) und kasus alle Moscheen und „arabischen“ Schu- Glasnost („Offenheit“) sahen eine Modernisierung und Demokratisierung des sozialistischen Systems vor und len geschlossen. Im Jahre 1937 wurden dann manifestierten sich u.a. durch zunehmende Meinungs- und im Zuge des Stalinismus weitgehende „Säube- Pressefreiheit, die Einführung marktwirtschaftlicher Me- rungen“ von „anti-sowjetischen Elementen“ chanismen und eine Lockerung der zentralistischen Ver- waltung. 23

Jahre 1987-88. Die tschetschenische Sezessi- Der damalige russische Präsident Jelzin ver- onsbewegung manifestierte sich erstmals 1988 hängte daraufhin den Ausnahmezustand über in Form einer Volksfront (Hughes 2007: 18). Tschetschenien und diffamierte diese „nationa- Bedeutsam war hierbei zunächst der junge le Revolution“ als die Machtergreifung von radikale Zelimkhan Yandarbiev, welcher – „Kriminellen“. Die in den kommenden Monaten beeindruckt von den Volksfronten in den balti- und Jahren folgenden Versuche Jelzins, Duda- schen Staaten – die Führung der kleinen nati- jew zu stürzen, scheiterten jedoch und stärkten onalistischen Bart-Partei übernahm und das dessen Unterstützung in der tschetscheni- Konzept einer „kaukasischen Solidarität“ ge- schen Bevölkerung nur noch zusätzlich. Aber gen den „russischen Imperialismus“ propagier- auch die Mobilisierung der innertschetscheni- te. Der regionale Parteiführer Doku Zavgaev, schen Opposition gegen Dudajew, welche v.a. der erste Tschetschene in der Sowjetunion, aus ehemaligen tschetschenischen Sowjet- der diesen Posten innehatte, wurde von Yan- funktionärInnen bestand, war erfolglos (ebd.: darbiev zunehmend unter Druck gesetzt. Im 26-28). Der damalige Menschenrechts- November 1990 wurde dann der erste „Che- beauftrage unter Jelzin, Sergei Kowaljow, ist chen National Congress“ (CNC) einberufen, der Meinung, dass die Unterstützung und Be- welcher den Obersten Sowjet der Tschetsche- waffnung der Dudajew-kritischen Opposition no-Inguschischen Republik dazu brachte, einer zudem stark kontraproduktiv wirkte, da sie „Deklaration über die staatliche Souveränität“ dadurch ihren Rückhalt in der Bevölkerung zuzustimmen. Diese enthielt bereits ein radika- verlor und Russland seine moralische Autorität les Programm für die nationale Unabhängigkeit nun endgültig eingebüßt hatte (Kowaljow 1997: und strich – so wie auch die Deklarationen der 180). baltischen Republiken – die historischen Unge- rechtigkeiten hervor, die von Russland verübt In der Jahren 1992-93 kollabierte dann in wurden, um der Forderung nach Unabhängig- Tschetschenien der staatliche Dienstleistungs- keit moralische Legitimität zu verleihen (ebd.: bereich, da der junge de facto-Staat keine 18-21). Gehälter zahlen konnte und viele ethnische In einem nächsten Schritt übertrug Yandarbiev RussInnen – welche vorwiegend im staatlichen dem ehemaligen sowjetischen Luftwaffengene- Sektor beschäftigt waren – vertrieben wurden ral Dschochar Dudajew die Führung über die bzw. nach der Machtergreifung Dudajews ge- nationale Bewegung. Die Wahl fiel auf Duda- flüchtet sind. Auch die Bewaffnung weiter Teile jew, da dieser keinem tschetschenischen Clan der männlichen tschetschenischen Bevölke- direkt zugeordnet war und so unabhängig zwi- rung durch Dudajew führte – gepaart mit der schen diesen vermitteln konnte. Zudem konnte schlechten ökonomischen Situation – zu Cha- er seine militärische Erfahrung und seine Or- os und Missbrauch. Die Errichtung staatlicher ganisationsfähigkeiten in die nationalistische Institutionen – die in Tschetschenien ohnehin Bewegung einbringen. Als nun Zavgaev eine nie stark ausgeprägt waren – wurde zusätzlich Reintegration Tschetscheniens in eine neue durch die schlechte sozioökonomische Lage, Russische Föderation verfolgte, löste Dudajew interne Zersplitterungstendenzen und die stän- – getragen von einer Woge nationalistischer dige externe Bedrohung durch Russland er- Begeisterung in der Bevölkerung – im Mai heblich erschwert (Hughes 2007: 63ff). Obwohl 1991 den von Zavgaev geführten Obersten Tschetschenien einst eine einigermaßen wohl- Sowjet auf und setzte den von ihm geführten habende Region war, wurde sie innerhalb von „Common National Congress of the Chechen nur zwei Jahren zu einer der ärmsten in Russ- People“ (OKChN)24 ein. Während sich Ende land. Mehr als zwei Drittel der industriellen 1991 die Tschetscheno-Inguschische Republik Produktion waren an die Öl- und Gasindustrie auflöste – da sich Inguschetien in die neu ent- gebunden, welche vorwiegend in der Hand standene Russische Föderation integrierte – ethnischer RussInnen war. Deren Exodus – hielten Dudajew und der OKChN dagegen im laut Statistiken verließen zwischen 1991 und Oktober Wahlen ab und gewannen erwar- 1993 mehr als 90.000 Menschen die tsche- tungsgemäß 85% der Stimmen (bei einer tschenische Republik – wirkte sich somit über- Wahlbeteiligung von 77%), obwohl diese laut aus negativ auf die Industrie wie auch auf die Hughes kaum als fair und frei bezeichnet wer- staatlichen Kapazitäten aus. Die öffentliche den konnten. Als erste Amtshandlung erklärte Gesundheitsversorgung kollabierte, viele der neue Präsident Dudajew am 1. November Schulen schlossen und aufgrund der hohen 1991 formal die Unabhängigkeit der „Tsche- Arbeitslosigkeit war die Teilnahme an der Re- tschenischen Republik Ichkeria“ (ebd.: 21-25). volution für viele junge Menschen die „nahelie- gendste“ Beschäftigung (Tishkov 2004: 65f). In weiterer Folge bildete sich – in Ermangelung 24 In diesem spielten neben Yandarbiev auch Yusup Sos- fehlender staatlicher Kapazitäten – eine blü- lambekov, Beslan Gantemirow und Yaragi Mamodayev hende Schattenökonomie heraus, in welcher eine wichtige Rolle (Tishkov 2004: 58). 24 sich bestimmte Teile der Gesellschaft betätig- in der tschetschenischen Bevölkerung stark ten. Besonders ertragreich war das illegale zurückgegangen. Jedoch war die Anti- Abzapfen von Rohöl und dessen Weiterverar- Dudajew-Opposition zu fragmentiert und hatte beitung zu Treibstoff, woran sich unterschiedli- nicht die nötigen Kapazitäten, um gegen die- che Gruppierungen – neben der tschetscheni- sen vorzugehen. Weiters war Dudajew immer schen Regierung auch Angehörige des russi- noch überzeugt von der moralischen Notwen- schen Parlamentes – bereicherten. Die wirt- digkeit der tschetschenischen Unabhängigkeit schaftliche Blockade und Isolierung Tsche- und nicht bereit, jedwede Kompromisse mit tscheniens durch Russland förderten diese Russland über den Status Tschetscheniens Tendenzen, sodass in der regulären Wirt- einzugehen.25 Auch innerhalb der russischen schaftssphäre agierende UnternehmerInnen Führung hatte sich eine Gruppe von Hardlinern vom Handel mit Russland abgeschnitten wur- – die sogenannte „Party of War“ – herausge- den (Smith 1998: 129-133). Der Journalist und bildet, was eine friedliche Lösung des Konflik- Kriegsreporter Sebastian Smith bringt die tes zusätzlich erschwerte (Hughes 2007: 71- damals vorherrschende Stimmung gut auf den 76). Punkt: „There was a minister of economics, but Die russische Entscheidung, 1994 in Tsche- no economy, a foreign minister, but no diplo- tschenien einzumarschieren, ist jedoch nicht matic recognition, mountains of presidential nur auf die erwähnte Inkompatibilität der jewei- decrees on law and order, but only the rule of ligen Führungszirkel zurückzuführen, sondern the gun“ (ebd.: 129). ist auch durch verschiedene Interessen be- Für Jelzin war nicht nur die Sezession Tsche- dingt. So war etwa Jelzins Popularität aufgrund tscheniens ein großes Problem, sondern vor der schlechten sozioökonomischen Lage in allem auch die diffuse Angst, dass Dudajew Russland äußerst gering, und die Idee eines eine „Islamische Republik“ gegründet hätte. „kurzen, erfolgreichen Krieges“ sollte dies kor- Huntingtons „Clash of Civilizations“-These rigieren. Neben der Befürchtung, dass die lieferte dabei eine wichtige akademische Bes- Unabhängigkeit Tschetscheniens einen Domi- tätigung, dass der „islamische Faktor“ im noeffekt und die Loslösung anderer nordkau- Nordkaukasus eine große Bedrohung darstellt kasischer Republiken zur Folge haben könnte, (vgl. Kapitel 4.1.5.). Jedoch waren Dudajews gab es aber auch einen starken nationalisti- Unabhängigkeitsbestrebungen vorrangig von schen Impuls, Russlands Rolle als Hegemoni- nationalistischen Zielen geprägt, was sich auch almacht in der Region sowie den russischen an der säkularen parlamentarischen Verfas- Nationalstolz wiederherzustellen und nach sung der Republik Ichkeria ablesen lässt. Inso- dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder fern plante der tschetschenische Präsident die Rolle einer Großmacht (derzhava) einzu- keine Islamisierung Tschetscheniens, sondern nehmen. Zudem waren auch geopolitische und instrumentalisierte kurz vor der Invasion Russ- wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend, lands 1994 den Islam für seinen säkularen da durch Tschetschenien die ökonomisch be- nationalistischen Kampf, da Religion auch deutsame Baku-Novorossiisk-Ölpipeline führt, schon in den Konflikten der letzten Jahrhun- welche nun nicht mehr genutzt werden konn- derte eine wichtige mobilisierende Funktion te.26 Schließlich war auch der damalige russi- hatte (vgl. Kapitel 3.1.1.). In diesem Sinne ist sche Verteidigungsminister Grachev in illegale der ghasawat des 18. und 19. Jahrhunderts Schwarzmarktaktivitäten in Tschetschenien auch keineswegs mit dem nationalen Befrei- involviert – vor allem in den Handel mit Öl und ungskampf Anfang der 1990er Jahre gleichzu- Waffen, die er nach Serbien, Kroatien, aber setzen (Hughes 2007: 65-69; Lieven 1998: auch an Dudajew lieferte. Durch einen Krieg 357; Seierstad 2008: 108; Wilhelmsen 2005: konnte somit viel Kriegsmaterial abgeschrie- 36). ben und die korrupten Aktivitäten in Teilen des Dass keine einvernehmliche Lösung zwischen russischen Militärs verdeckt werden. Tsche- Jelzin und Dudajew gefunden werden konnte, tschenien stellte aber auch einen wichtigen ist auch auf den konstanten Druck auf die bei- Umschlagplatz für die geheime Bewaffnung den Präsidenten seitens parlamentarischer von russischen Verbündeten im Kaukasus dar, und populärer nationalistischer Gruppen zu- und durch eine Rückeroberung konnte man rückzuführen. Vor allem Oppositionsgruppen nun weiterhin Regionen wie Abchasien, Süd- im tschetschenischen Parlament forderten eine Kompromisslösung mit Russland, woraufhin 25 So kam eine Fact-Finding-Mission der britischen NGO Dudajew im April 1993 das Parlament und den „International Alert” im Jahre 1992 zu dem Schluss, dass Stadtrat von Grozny auflöste und, Hughes Dudajew kein klares politisches Konzept für Tschetsche- zufolge, quasi als „Diktator“ in Tschetschenien nien hatte, zunehmend selbst in mafiöse Strukturen verwi- ckelt war und einen vernünftigen Verhandlungsprozess mit regierte. Aufgrund der katastrophalen sozio- Russland unterminierte (Tishkov 2004: 65). ökonomischen und politischen Situation ist 26 Bezüglich der Auswirkung des Wettstreits um fossile Ende 1993 und 1994 auch Dudajews Rückhalt Rohstoffe in der Kaspischen Region auf ethnische Konflik- te im Kaukasus siehe Leitner 2008. 25 ossetien und Nagorno-Karabach mit Waffen 3.1.3. Die Islamisierung des Widerstandes beliefern (Hughes 2007: 76-81). und der Ausbruch des zweiten Tschetsche- Trotz der Anzeichen eines nahenden Krieges nienkrieges waren sich viele TschetschenInnen nicht der Intensität der folgenden Kampfhandlungen Der Einfluss islamistischer Ideologien in bewusst. Viele in der Bevölkerung sahen sich Tschetschenien manifestierte sich bereits wäh- trotz Dudajews Propaganda weiterhin als Rus- rend des ersten Tschetschenienkrieges. So sInnen und dachten, dass Russland nur seine absolvierte etwa der berüchtigte tschetscheni- militärische Macht demonstrieren wolle – wie sche Warlord Schamil Bassajew im Sommer etwa bei den Militärparaden am Roten Platz 1994 ein militärisches Training in Khost, der oder aber auch bei der Niederschlagung des Hauptbasis von Al Kaida in Afghanistan, und Prager Frühlings 1968. Als dann die russi- schloss sich vermutlich schon zu dieser Zeit schen Truppen im Dezember 1994 brutal ge- dem wahhabitischen27 dschihad an. Nach Be- gen die tschetschenische Bevölkerung und ginn des ersten Tschetschenienkrieges wurde somit gegen die BürgerInnen des eigenen Bassajew Anfang 1995 von Ibn al-Khattab Staates vorgingen, untergrub der russische unterstützt, welcher mit finanzieller Unterstüt- Staat Tishkov zufolge seinen eigenen An- zung und einer Gruppe gut trainierter Kämpfe- spruch auf Legalität (Tishkov 2004: 132-135). rInnen mit dem Namen „Islamic International Nach zwei Jahren Krieg, der zahlreiche Opfer Brigade“ in den Konflikt eingriff (Hughes 2007: und Flüchtlinge hervorbrachte, wurde im Au- 101f). Khattab stand stellvertretend für eine gust 1996 das Khasavyurt-Abkommen zwi- neue Welle von „globalen DschihadistInnen“, schen dem sieglosen Russland und Tsche- die in den 1980er Jahren für die afghanischen tschenien abgeschlossen, welches den Abzug Mujahidin gegen die Sowjets gekämpft und der russischen Truppen aus der tschetscheni- sich nach dem Ende dieses Konfliktes nun in schen Republik vorsah und die Frage der Un- andere Kriege mit muslimischer Beteiligung – abhängigkeit auf den 31. Dezember 2001 ver- wie Kaschmir, Aserbaidschan und am Balkan – tagte. Jedoch hatte dieses zu wenig inhaltliche „eingebracht“ haben. Als die russischen Trup- Substanz, um wirklich ein geregeltes Verhält- pen 1994 in Tschetschenien militärisch inter- nis zwischen den beiden Konfliktparteien zu venierten, war dieses Szenario dem Einmarsch fördern. Weiters wurde dieses Übereinkommen der sowjetischen Armee in das muslimisch im Nachhinein in russischen politischen Krei- dominierte Afghanistan sehr ähnlich. Zudem sen zunehmend negativ gesehen, da man der war der Ruhm des tschetschenischen Wider- Meinung war, den TschetschenInnen gegen- standes gegen das „ungläubige“ Russland bis über zu viele Zugeständnisse gemacht zu ha- in den Mittleren Osten vorgedrungen und idea- ben und durch den Abzug der russischen lisierte „die TschetschenInnen“ als unbeugsa- Truppen erniedrigt worden zu sein. 1997 wur- me WiderstandskämpferInnen (Williams 2008: de dann in einer von der OSZE überwachten 158-161). Insofern war auch eine Beteiligung Wahl Aslan Maskhadov mit 60% der tsche- islamistischer KämpferInnen im ersten Tsche- tschenischen Stimmen zum Präsidenten der tschenienkrieg naheliegend. Republik gewählt, jedoch wurden seine nach- Nach Ende des Krieges wurden die ausländi- folgenden Versuche, in dem vom Krieg zerstör- schen dschihad-KämpferInnen jedoch – wie ten Tschetschenien staatliche Kapazitäten und etwa in Bosnien nach dem Dayton-Akkord – Stabilität zu errichten, von russischer Seite nicht aus dem Land geworfen, sondern blieben unterminiert. Diese kehrte zu ihrer Politik der in Tschetschenien und errichteten vor allem in wirtschaftlichen Blockade zurück, verfolgte die der Urus Martan-Region eine starke Basis. Die internationale Isolation Tschetscheniens und Protektion der WahhabitInnen durch radikale untersagte diesem die versprochene wirt- tschetschenische KämpferInnen war für deren schaftliche und Wiederaufbauhilfe (Hughes Fortbestand in der Region von großer Wichtig- 2007: 91-93). keit, da diese fremde Ideologie unter der loka- In weiterer Folge gewannen unter diesen len Bevölkerung, welche traditionell der schwierigen Bedingungen islamistische Grup- Naqschbandi- oder Qadiri-tariqa anhängig war, pierungen aus dem Ausland zunehmend an nur wenig Unterstützung fand. Überdies ver- Einfluss in Tschetschenien, worauf im nächs- ten Kapitel eingegangen werden soll. 27 Der Wahhabismus geht auf die puristische Lehre des „reinen Islam“ von Ibn Abd al Wahhab im 18. Jahrhundert zurück und ist geographisch auf der arabischen Halbinsel zu verorten, wo dieser heute die ideologische Grundlage des saudischen Staates bildet. Das wahhabitische Schrift- tum definiert den Begriff des dschihad äußerst eng und bezieht diesen auf den bewaffneten Widerstand gegen Ungläubige, wobei all jene als Ungläubige gelten, die die eigene militante Interpretation des Islam nicht praktizieren (Halbach 2003a: 43f). 26 suchten die WahhabitInnen mehrere neue Ausbildung erhielten islamistische Kombattan- Bräuche einzuführen und tschetschenische tInnen zudem monetäre Unterstützung aus Traditionen abzuschaffen. So wollte man etwa verschiedenen arabischen Ländern bzw. von traditionelle Musik, Feste, Heiratszeremonien islamischen Organisationen und Netzwerken und das Trinken von Alkohol verbieten sowie im Mittleren Osten und Asien. Schließlich muss einen bestimmten Dresscode für Frauen und die Übernahme dieser Ideologie auch im Hin- Männer festlegen. Da die ausländischen blick auf die brutale, menschenrechtswidrige KämpferInnen jedoch finanzielle Mittel mit sich Vorgangsweise der russischen Truppen ge- gebracht hatten, fanden diese auch unter den genüber der tschetschenischen Bevölkerung jungen, arbeitslosen TschetschenInnen Zu- und die historische Idee des ghasawat im spruch. Im August 1996 wurden zudem mehre- Kampf gegen die „russische Unterdrückung“ re tschetschenische KombattantInnen in Tali- gesehen werden. Somit war der Wahhabismus ban-Camps geschickt, wo sie neben einer nicht nur ein pragmatisches Werkzeug um militärischen auch eine ideologische Ausbil- finanzielle Unterstützung zu erhalten, sondern dung erhielten. Nichtsdestotrotz manifestierte ist auch im Kontext des brutalen Tschetsche- sich der Islamismus in Tschetschenien vorran- nienkrieges zu sehen. Der Umstand, dass gig in der Allianz zwischen tschetschenischen diese Ideologie für partikulare Interessen in- Warlords und ausländischen KämpferInnen, strumentalisiert wurde, schließt jedoch nicht welche ihre Position gegenüber dem eher mo- aus, dass die islamistisch geprägten FührerIn- deraten Maskhadov vor allem aufgrund ihrer nen nicht auch von dieser ernsthaft überzeugt finanziellen Kapazitäten stärken konnten (Wil- waren (ebd.: 38-41). helmsen 2005: 42ff). Um den zunehmenden Einfluss des Islamis- Die Verbreitung dieser extremen Ideologie in mus verstehen zu können, muss man auch die Tschetschenien hat mehrere Ursachen. Einer- generelle sozioökonomische und politische seits suchen Menschen in Konfliktsituationen, Situation in Tschetschenien in der Zwischen- wie vor allem im Krieg, den Rückhalt bei Gott, kriegszeit (1996 bis 1999) mit in Betracht zie- um diese extreme Situation so gut wie möglich hen. So war Maskhadov nicht im Stande ein zu bewältigen. Zudem förderte diese striktere staatliches Gewaltmonopol durchzusetzen, Interpretation des Islam auch Disziplin und welches ja laut Max Weber eine der Grundla- Ordnung, wie dies vor allem in Zeiten des gen für einen stabilen Staat bilden sollte. Der Krieges von großer Bedeutung ist. Die Einfüh- tschetschenische Präsident vermochte nicht, rung von scharia-Gerichten sollte in diesem die vielen bewaffneten Gruppen in der Repu- Sinne auch die SoldatInnen disziplinieren. blik zu entwaffnen und der wachsenden Macht Aufgrund des Zusammenbruches der staatli- der IslamistInnen unter der Führung von Bas- chen Strukturen versuchte Yandarbiev mit Hilfe sajew etwas entgegenzusetzen (Hughes 2007: des Islam den Staat „wiederzubeleben“. Der 96). Die „OSCE Assistance Group in Chech- Islamismus diente darüber hinaus in der Zwi- nya“ beschrieb die Situation in Tschetschenien schenkriegszeit einzelnen Individuen als nütz- in den Jahren 1998 und 1999 als eine, in der liche Ideologie in ihrem Kampf um Macht und „(…) crime, unrest and acts of terrorism have Einfluss in Tschetschenien.28 Yandarbiev etwa acquired endemic proportions, adding to a setzte auf die wahhabitische Ideologie, um sich volatile political situation and a general break- 1997 im Präsidentschaftswahlkampf gegen down of law and order“ und in der „(…) the den moderaten Maskhadov abzugrenzen und deprivation of rights had become a ‚norm of zu profilieren. Eine Hauptmotivation für die life’, with routine abductions, murders, rob- Übernahme eines radikalen Islam von Teilen beries, and provocative attacks on neighboring des tschetschenischen Widerstandes waren North Caucasian Republics” (ebd.). jedoch vor allem auch die finanziellen und Bereits Ende 1997 waren Tschetschenien und menschlichen Ressourcen, die seitens der Russland bereits in eine Sackgasse bezüglich ausländischen KämpferInnen zur Verfügung der Verhandlungen über den finalen Status der gestellt wurden. Neben der Bereitstellung von nordkaukasischen Republik geraten. Zu die- RekrutInnen und der Möglichkeit militärischer sem Zeitpunkt war bereits klar, dass es keine Wiederaufbauhilfe seitens Russlands geben

28 würde, was Maskhadovs Position unterminiert Unter den islamistisch geprägten Anführern in Tsche- und die IslamistInnen gestärkt hat. Aufgrund tschenien gab es jedoch auch unterschiedliche Motivatio- nen und Weltanschauungen. Während Zelimkhan Yandar- dieser ökonomischen Blockade und der inter- biev und den dschihad im Rahmen eines nationalen Isolation war Maskhadov auch auf globalen Kampfes gegen einen „abstrakten Feind“ inter- finanzielle Unterstützung aus der arabischen pretierten, war Bassajew eher von der Idee getrieben, den Welt angewiesen, welche durch wahhabitische Kaukasus zu „befreien“. Für Salman Radujew und Arbi und Movsar Barajew dagegen diente die Rhetorik des dschihad Organisationen aus Afghanistan, Saudi Ara- wohl nicht mehr als für nützliche Slogans (Wilhelmsen bien und Katar nach Tschetschenien gelangte. 2005: 37f). Die IslamistInnen strebten nicht wie Maskha-

27 dov direkt einen unabhängigen tschetscheni- Putin den Anlass, Maskhadovs Regime mit schen Staat an, sondern wollten ein „islami- dem internationalen Terrorismus gleichzuset- sches Kalifat“ im Nordkaukasus ins Leben zen und unter Mobilisierung der öffentlichen rufen, welches in etwa dem Imamat von Meinung und der Massenmedien am 1. Okto- Schamil im 19. Jahrhundert gleichen sollte.29 ber 1999 erneut in Tschetschenien einzumar- Maskhadov sah sich seitens der IslamistInnen schieren. Besonders erschreckend ist dabei starkem inneren und seitens der russischen die pauschale Dehumanisierung von Tsche- Führung auch äußerem Druck ausgesetzt, zu tschenInnen als „TerroristInnen“, welche im nachgiebig mit der jeweils anderen Konfliktpar- Zuge dieser „anti-terroristischen Operation“ tei umzugehen. Diese Situation stellte ihn vor seitens der russischen Führung betrieben wur- die Wahl, entweder einen Bürgerkrieg zu ris- de. So wollte Putin den „Terroristenstaat“ kieren oder Konzessionen gegenüber den Tschetschenien zerstören und bezeichnete WahhabitInnen zu machen – wofür er sich diesen als einen „Außenposten des internatio- schließlich auch entschieden hat. In weiterer nalen Terrorismus“ und eine „kriminelle Enkla- Folge wurde im Februar 1999 in Tschetsche- ve“ für ausländische islamistische Fundamen- nien die scharia eingeführt und das Parlament talistInnen (ebd.: 107-112). aufgelöst, um schließlich eine rein islamische Was bei dieser Vorgehensweise jedoch außer Verfassung zu installieren. Die Bilder von unter Acht gelassen wurde, war dass Maskhadov islamischem Recht durchgeführten öffentlichen starke Vorbehalte gegen die politischen Aktivi- Exekutionen im russischen Fernsehen nährten täten von Bassajew hatte und nach dem von dann in Russland die Wahrnehmung einer Bassajew und Khattab inszenierten Angriff auf „islamischen Bedrohung“ im Nordkaukasus Dagestan im August 1999 in Grozny eine (ebd.: 102ff). 5.000 Menschen starke Demonstration gegen die Dagestanoffensive inszenierte. Jedoch ließ Unterdessen gab es in bestimmten Kreisen der Moskau den vergleichsweise moderaten Kräf- russischen Führung die Tendenz, durch einen ten unter Maskhadov im Kampf gegen die erneuten Einmarsch in Tschetschenien die ExtremistInnen keine Unterstützung zukom- „Ordnung wiederherzustellen“. Einerseits be- men, erkannte diesen nicht mehr als legitimen stand das russische Militär, gedemütigt durch Präsidenten der Republik an und diffamierte den Abzug im ersten Tschetschenienkrieg und den gesamten tschetschenischen Widerstand stark betroffen durch Budgetkürzungen, auf pauschal als „TerroristInnen“ und „BanditIn- einen neuerlichen militärischen Einsatz, um die nen“. Als schließlich Russland die militärische „Moral wiederherzustellen“. Führende russi- Offensive gegen Tschetschenien startete, sche Generäle drohten mit ihrem Rücktritt, schloss sich Maskhadov im Kampf gegen sollte nicht in ihrem Sinne ent- Russland mit den IslamistInnen zusammen scheiden. Darüber hinaus gab es – wie schon und sollte innerhalb der folgenden Jahre auch im ersten Krieg – auch starke nationalistische immer stärker mit dem radikalisierten Flügel Impulse in den „Machtministerien“ und der des tschetschenischen Widerstandes koope- politischen Elite der so genannten siloviki im rieren. Williams zufolge hätte wohl ein Krieg Kreml. Da im März 2000 erneute Präsident- verhindert werden können, wenn der Kreml mit schaftswahlen geplant waren, Jelzins Nachfol- Maskhadov zusammen gegen die IslamistIn- gekandidat Vladimir Putin jedoch nur äußerst nen vorgegangen wäre. Was der russische geringe Popularitätswerte aufweisen konnte, Einmarsch jedoch nahelegt, ist, dass die russi- versuchte man durch einen erneuten Krieg sche Führung nicht nur die ausländischen abermals die öffentliche Zustimmung zuguns- KämpferInnen loswerden, sondern vor allem ten des Präsidentschaftskandidaten zu stei- die Unabhängigkeit Tschetscheniens beenden gern. Der militärische Angriff tschetschenischer wollte. In diesem Sinne ist der seit Ende des IslamistInnen auf Dagestan – wo die neue ersten Krieges zunehmende Einfluss islamisti- russische Transneft-Pipeline verlief – sowie die scher Kräfte in Tschetschenien durchaus auch Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau und auf die fehlgeleitete Politik der russischen Füh- Buinaksk, bei denen mehr als 300 ZivilistInnen rung – vor allem auf die Isolation Maskhadovs verstümmelt oder getötet wurden30, gaben in der Zwischenkriegszeit – zurückzuführen (Wilhelmsen 2005: 49-52; Williams 2008: 170f). 29 Diese „Islamische Republik“ sollte folgende Regionen beinhalten: die tschetschenische Republik Ichkeria, Da- In weiterer Folge basierte die russische Strate- gestan, Kabardinien, Balkarien, Inguschetien, Karatschai- gie in Tschetschenien einerseits auf der An- Tscherkessien sowie auch Aserbaidschan (Williams 2008: wendung militärischer Gewalt und andererseits 168). 30 Wobei bei diesen Anschlägen bis heute noch nicht geklärt ist, wer dafür verantwortlich ist. Es gibt auch Positi- onen, die behaupten, dass der russische Geheimdienst Krieg in Tschetschenien zu legitimieren (Hughes 2007: FSB diese Bomben selbst gelegt hätte, um einen erneuten 110). 28 auf der Kooptierung lokaler KollaborateurIn- Nach Achmad Kadyrows Ermordung im Jahre nen, was auch unter dem Begriff „Tschetsche- 2004 regiert seit 2007 sein Sohn Ramzan als nisierung“ bekannt wurde. Diese versuchte Präsident die tschetschenische Republik, und man praktisch schon seit 1991 umzusetzen, die ungefähr 3.000 Mann umfassenden para- jedoch hatten die kollaborierenden Eliten stets militärischen „Kadyrowzy“ begehen im Namen zu wenig Rückhalt in der tschetschenischen des „Kampfes gegen den Islamismus“ weiter- Bevölkerung. Erst durch den Wechsel des hin schwerste Menschenrechtsverletzungen an damaligen tschetschenischen Großmuftis der Bevölkerung. Putin hat unterdessen den Achmad Kadyrow – welcher im ersten Krieg russischen Staat zentralisiert und fundamenta- noch auf der Seite der Rebellen/innen ge- le demokratische Rechte soweit eingeschränkt, kämpft hatte – auf die Seite Moskaus trug die- dass nun in Russland quasi nur eine Partei se russische Strategie Früchte. Für Kadyrow („Edinaja Rossiia“) an der Macht ist und sich waren wohl einerseits die Aussicht auf einen das Parlament, die lokalen Regierungen, der einflussreichen Posten und die überlegenen Wahlvorgang, das Rechtssystem und die Mas- militärischen Kapazitäten der russischen senmedien mehr oder weniger in der Hand der Streitkräfte für das Überlaufen auf die russi- siloviki befinden (ebd.: 124). Durch die Politik sche Seite ausschlaggebend, andererseits der „Tschetschenisierung“ kam es – trotz eini- befremdete ihn als religiösen Führer auch der ger Fortschritte im Wiederaufbau – bis heute zunehmende Einfluss des Islamismus in zu keiner Stabilisierung der Lage in Tsche- Tschetschenien.31 Im Juni 2000 wurde er tschenien, und es herrscht nach wie vor kein schließlich an der Spitze der pro-russischen positiver Frieden, welcher über die bloße Ab- tschetschenischen zivilen Regierung einge- wesenheit von „Krieg“ hinausgeht. Obwohl der setzt. Seine berüchtigte Miliz der „Kadyrowzy“ damalige russische Präsident Dimitri Medwe- sowie auch Teile der russischen Truppen gin- dew im April 2009 Tschetscheniens Status als gen jedoch brutal gegen die tschetschenische „Zone für die Durchführung antiterroristischer Zivilbevölkerung vor, die oft unter Verdacht Operationen“ aufgehoben hat und 20.000 rus- gestellt wurde, die Rebellen/innen zu unter- sische SoldatInnen aus der Region abberufen stützen. So wurden tausende „Verdächtige“ in wurden, tat dies der Gewalt keinen Abbruch so genannten „Säuberungsaktionen“ (za- und es kam zu weiteren Terroranschlägen in chistki) verschleppt und in Filtrationslagern Tschetschenien und Russland. Im Sommer oder „Foltergruben“ (zindany) eingesperrt, in 2010 starteten etwa islamistische RebellInnen denen außerhalb der russischen Rechtssys- Angriffe auf das – beinahe zu einer Festung tems agiert wurde. Dörfer, die nicht kooperier- ausgebauten – Dorf Zentoroi, in dem der Clan ten oder in denen Rebellen/innen gefunden von Ramzan Kadyrow beheimatet ist, gefolgt wurden, wurden oft kollektiv in Form von ex- von einem Überfall auf das tschetschenische emplarischen Hinrichtungen und Massakern Parlament in Grozny. Im Februar 2012 kam es bestraft. Es kam auch zu einer Welle von Ent- in der Grenzregion zwischen Dagestan und führungen von TschetschenInnen durch russi- Tschetschenien zu den schwersten Gefechten sche SoldatInnen und durch pro-russische seit Jahren, bei denen 23 Menschen – darun- tschetschenische Truppen, um die Geiseln erst ter v.a. kremltreue Truppen und islamistische gegen hohe Lösegeldforderungen wieder frei- Rebellen/innen – ums Leben kamen. Außer- zulassen (Hughes 2007: 118ff). Die Reaktion halb Tschetscheniens waren v.a. der Terroran- tschetschenischer IslamistInnen auf diese schlag auf den Moskauer Flughafen „Domode- groben Menschenrechtsverletzungen äußerte dowo“ im Jänner 2011 mit 37 Toten sowie die sich dann u.a. auch in Form von Terroran- Anschläge auf die Moskauer U-Bahn im März schlägen und Geiselnahmen außerhalb Tsche- 2010 mit 40 Toten Zeichen dafür, dass der tscheniens. Besonders opferreich waren hier- Tschetschenienkonflikt keineswegs „beendet“ bei die Geiselnahmen im Moskauer Dubrovka- und die Lage vor Ort „normalisiert“ sei. Im Zu- Theater im Jahre 2002 und in einer Schule in ge einer Umfrage des unabhängigen Moskauer Beslan 2004, bei der nach der Stürmung des Lewada-Zentrums im Jänner 2012 im Rahmen Gebäudes durch russische Sondereinheiten der russischen Präsidentschaftswahlen gaben mehr als 300 Menschen ums Leben kamen in diesem Sinne auch 18 % der Befragten an, (ebd.: 151). der zukünftige russische Präsident müsse „den Krieg in Tschetschenien beenden“. (Der Stan- dard 2012a; Der Standard 2012b; Der Stan- dard 2012 c; Quiring 2011; Schönfeld- 31 Mit dem zunehmenden Einfluss der IslamistInnen im Pfennigbauer 2011).32 tschetschenischen Widerstand endete mit dem Beginn des zweiten Krieges auch mehr oder weniger die Unterstüt- zung der Qadiriyya für die Nationalbewegung. Die Qadi- 32 Einen besonders eindringlichen Einblick in die gegen- riyya unterstützte nun großteils die russischen Autoritäten, wärtige Menschenrechtssituation in Tschetschenien ver- was vor allem auf das Überlaufen von Kadyrow zurückzu- mittelt der Film „Barzakh“ von Mantas Kvedaravicius aus führen ist (Gammer 2006: 216f). dem Jahre 2011, in dessen Rahmen auch in tschetscheni- 29

Als besonders beunruhigend erweist sich auch ethnic group has existed for millenia, and has die Tatsache, dass sich die Gewalt innerhalb always yearned for a country of its own; this is der letzten Jahre vermehrt in den Nachbarre- the ‚primordialist‘ theory of ethnicity“ (Kaufman gionen Tschetscheniens – v.a. in Dagestan 2001: 4). und Inguschetien – ausgebreitet hat, wie Man- In Anspielung auf verschiedene ethnische fred Quiring feststellt: „Auf Gewalt folgt weiter- Gruppierungen am Balkan und im Südkauka- hin Gegengewalt durch staatliche Komman- sus bezeichnet er die dort vorhandenen Aus- dos. Der Nordkaukasus wird zu einem einzigen prägungen von ethnischem Nationalismus ‚Gewaltraum’, in dem von der russischen Re- dagegen eher als eine moderne Ideologie: gierung installierte Despoten wie Kadyrow „(…) it is only in the twentieth century that they selbstherrlich und brutal herrschen“ (Quiring were convinced to adopt these identities on the 2011: 24). Als Reaktion auf die Zunahme von basis of a shared language, religion, and histo- Gewalt und Terror in der nordkaukasischen rical mythology. Before that, identities were Region hat die russische Armee Ende März typically much more local. Ethnic groups are 2012 30.000 SoldatInnen nach Dagestan ver- not necessarily ‚primordial‘ at all“ (ebd.: 5). legt. Aufgrund der Olympischen Spiele in Sot- Basierend auf solchen Vorstellungen von der schi 2014 hat die russische Führung überdies „Ursprünglichkeit” ethnischer Gruppen werden ein spezielles Interesse daran, die Situation kriegerische Auseinandersetzungen zwischen vor Ort soweit wie möglich unter Kontrolle zu solchen in öffentlichen wie auch wissenschaft- bringen – v.a. auch im Hinblick darauf, dass lichen Diskursen oft als das Resultat von „an- diese Großveranstaltung von den Rebel- cient hatreds“ – also von seit langem beste- len/innen im Nordkaukasus dafür genutzt wer- henden, historischen Feindschaften – darge- den könnte, um für ihre politischen Anliegen stellt. Dass diese Auffassung von ununterbro- weltweite Aufmerksamkeit zu erhalten (Der chenem, uraltem Hass in der Regel nicht der Standard 2012d; Quiring 2011). Wahrheit entspricht, exemplifiziert Kaufman Nach diesem geschichtlichen Überblick wird am Beispiel der Kriege zwischen Serbien und nun anschließend näher auf die „Symbolic Kroatien im Rahmen des Jugoslawienkonflik- Politics Theory“ von Stuart Kaufman einge- tes in den 1990er Jahren. So zeichnete sich gangen, welche in weiterer Folge für eine Er- etwa Bosnien aus einer historischen Perspek- klärung des Ausbruchs der rezenten Tsche- tive für die längste Zeit durch die friedliche tschenienkriege herangezogen werden soll. Koexistenz verschiedener ethnischer Gruppen aus. Darüber hinaus sind die Ursprünge der rezenten Konflikte am Balkan und im Südkau- 3.2. Die „Symbolic Politics Theory“ kasus das Produkt von Auseinandersetzungen, die im 20. Jahrhundert ihren Ursprung haben, Stuart Kaufman (2001) versucht in seiner und nicht auf uralte Feindschaften zurückzu- „Symbolic Politics Theory“ herauszuarbeiten, führen – obwohl dies von den Kriegsparteien welche Voraussetzungen zum Ausbruch krie- oft behauptet wird (ebd.: 3ff). gerischer Auseinandersetzungen zwischen Auf der anderen Seite ist aber auch eine rein ethnischen Gruppen führen und durch welchen instrumentell begründete Auffassung von Mechanismus diese mobilisiert werden, um für Ethnizität zu hinterfragen, welcher zufolge ihre eigene Ethnie zu kämpfen und zu sterben. ethnische Gruppen von manipulativen Füh- In der Auseinandersetzung zwischen instru- rungspersonen nur „konstruiert“ werden um mentalism und primordialism33 positioniert sich politische und ökonomische Ziele zu erreichen. Kaufman zwischen diesen beiden theoreti- Durch diesen Fokus übersieht man nämlich schen Auffassungen über die Ursprünge von leicht die Bedeutung historischer und situativer ethnischen Gruppen. So kritisiert er die Be- Faktoren. Überdies erklären instrumentelle hauptungen der AnführerInnen und IdeologIn- Theorien kaum, warum ethnische Gruppen nen ethnischer Gruppen, dass diese in ihrer zusammenhalten und wie und wodurch die gegenwärtigen Form schon seit Jahrhunderten Mitglieder einer ethnischen Gruppe mobilisiert bestehen: „In ethno-nationalist mythology, the werden, um für diese zu kämpfen. Diese An- sätze gehen in der Regel davon aus, dass ethnische Gewalt darauf zurückzuführen ist, schen Foltergefängnissen gefilmt wurde (siehe auch: dass Menschen rational handeln und sich der http://www.barzakhfilm.com, Zugriff: 30.3.2012). 33 Innerhalb der Sozialwissenschaften gibt es eine kontro- Gewalt bedienen, um ihre eigenen (ökonomi- versielle Debatte über die Ursprünge ethnischer Gruppen. schen) Interessen durchzusetzen. Jedoch ist Die AnhängerInnen des primordialism gehen davon aus, die Partizipation in einem Bürgerkrieg – für die dass ethnische Gruppen schon seit Ewigkeiten bestehen. breite Masse – nicht wirklich als ökonomisch Laut der Theorie des instrumentalism dagegen werden ethnische Gruppen von ethnischen AnführerInnen kon- rational zu betrachten, da durch diesen oft die struiert, um dadurch ihre partikularen Interessen – die oft Nationalökonomie und der für diese notwendi- ökonomischer Natur sind – zu erreichen. Auf diese Debat- ge Handel zum Erliegen kommt, Fabriken und te wird in Kapitel 4.3. noch ausführlicher eingegangen. 30

Infrastruktur zerstört werden und potentielle menhang zwischen ethnischer Identität einer- Arbeitskräfte zu KämpferInnen, Flüchtlingen seits und dem myth-symbol complex anderer- und Opfern werden (ebd.: 7ff; 18f). seits:

Kaufman dagegen kombiniert die Argumente „The core of ethnic identity is the ‚myth-symbol von instrumentellen und „primordialen“ Theo- complex‘ – the combination of myths, memo- rien zu seiner „Symbolic Politics Theory of ries, values and symbols that defines not only Ethnic War“. Er argumentiert, dass Menschen who is a member of the group but what it „reluctant decision makers“ sind, da sie oft means to be a member. The existence, status, Angst haben, eine falsche Entscheidung zu and security of the group thus come to be seen treffen. Aus diesem Grund entscheiden sich to depend on the status of group symbols, Menschen – besonders wenn es darum geht which is why people are willing to fight and die zu handeln – bei der Wahl zwischen unter- for them – and why they are willing to follow schiedlichen Optionen eher für diese, welche leaders who manipulate those symbols for sie emotional anspricht anstatt gemäß einer dubious or selfish purposes” (ebd.: 25). Kosten-Nutzen-Kalkulation Entscheidungen zu treffen (Kaufman 2001: 27). Somit beeinflus- Dadurch ergibt sich auch die von Kaufman sen Emotionen die Präferenzen und dadurch propagierte Synthese zwischen primordialism auch die Entscheidungen von Individuen. In und instrumentalism: Ethnische oder nationale der Politik geht es in der Regel darum, die FührerInnen entwerfen nationalistische Identi- Emotionen von Menschen zu manipulieren, täten, instrumentalisieren aber Symbole und und Symbole liefern das Werkzeug für diese Stichwörter, welche stark mit der kulturellen Manipulation – die Hauptaussage der „Symbo- Vergangenheit der Gruppe zusammenhängen lic Politics Theory“ lautet somit: „(…) people und ursprünglich die Verteidigung der eigenen make political choices based on emotion and kinship-Gruppe gegen äußere Gefahren akti- in response to symbols (…)“ (ebd.: 29). viert haben. Wie schon erwähnt muss somit Diese Symbole erlangen ihrerseits ihre Bedeu- die Definition von ethnischer Identität innerhalb tung von emotional aufgeladenen Mythen, eines gewissen historischen und kulturellen welche bestimmten Ereignissen und Handlun- Frameworks stattfinden, um als plausibel gen einen besonderen Sinn geben – wie etwa wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Um durch die Zuschreibung, wer als Feind/in oder die Verbindung zwischen Ideen wie „Heimat- Held/in zu betrachten ist.34 Ob diese Mythen land“ und „Familie“ herzustellen, werden von objektiv gesehen wahr sind oder nicht, ist da- NationalistInnen auch oft Symbole wie das des bei irrelevant: Entweder diese objektiven Fak- „Vaterlandes“ verwendet (ebd.: 24f). ten bestätigen den Mythos ohnehin und sind Somit nimmt das Konzept der Ethnizität einen somit überflüssig, oder sie widersprechen ihm zentralen Stellenwert in der „Symbolic Politics und werden somit als unglaubwürdig angese- Theory“ und bei der Mobilisierung von ethni- hen und abgelehnt (ebd.: 28). schen Gruppen generell ein: Dieses Netz von Mythen und den dazugehöri- gen Symbolen bezeichnet Kaufman als den „Ethnicity is a rich resource for politicians en- myth-symbol complex, welcher laut Anthony gaged in symbolic politics because it is so Smith (1986) alle Elemente, die eine ethnische emotionally laden (…) Furthermore, a threat- Gruppe ausmachen, umschließt (Kaufman ened ethnic symbol can be used to tap a num- 2001: 16).35 Somit besteht ein enger Zusam- ber of values and emotions simultaneously – especially fellow-feeling among those in the

34 group, shared feelings of superiority over and Laut Kaufman ist ein Mythos eine Vorstellung, die von einer Gemeinschaft geteilt wird und bestimmten Ereignis- threat from the out-group – in addition to per- sen und Handlungen eine besondere Bedeutung gibt. Ein ceptions of conflict of interests (…) if ethnicity Symbol dagegen ist ein emotional aufgeladener Verweis is an emotional bond evoking kinship feelings, auf einen Mythos (Kaufman 2001: 16). 35 then emotional appeals to that bond should be Laut Anthony Smith (1986: 22-28) definiert sich eine ethnische Gruppe über fünf Eigenschaften: einen Grup- the basic mechanism by which ethnic mobiliza- pennamen, eine angenommene gemeinsame Abstam- tion works” (ebd.: 29). mung, gemeinsame historische Erinnerungen, Elemente einer gemeinsamen Kultur wie etwa Sprache oder Religion und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten (historisch oder fiktiv definierten) Territorium. Kaufman (2001: 16) greift in seiner Theorie auf diese Definition zurück; in Anbetracht der unter Kapitel 2.2. bereits diskutierten Ethni- zitätstheorien soll an dieser Stelle jedoch auch auf die Konstruiertheit und die situationsbezogene Relevanz und Wandelbarkeit unterschiedlicher ethnischer „Eigenschaf- ten“ hingewiesen werden. Weiters ist auch die Akzeptanz ren Anwendung der „Symbolic Politics Theory“ sind somit der selbstdefinierten ethnischen Identität seitens anderer die Begriffe „ethnische Gruppe“ und „Ethnizität“ im Sinne Gruppen vonnöten, damit diese wirksam ist. In der weite- der unter Kapitel 2.2. angeführten Theorien zu verstehen. 31

3.2.1. Voraussetzungen für den Ausbruch kriege führen – die eigene Gruppe als be- eines ethnic war36 droht dar, um gewalttätige Handlungen un- ter dem Vorwand der Selbstverteidigung Laut Kaufman gibt es drei Grundvorausset- zu legitimieren. zungen, die für den Ausbruch eines ethnic war Oft kommt es im Vorfeld des Ausbruches gegeben sein müssen (ebd.: 30-34): ethnischer Konflikte auch zu einem so ge- nannten security dilemma – welches da-  Myth-Symbol Complex: Zunächst sind durch entsteht, dass eine Gruppe aufgrund Mythen, die Feindseligkeiten gegen eine von Ängsten vor der Auslöschung der ei- andere Gruppe rechtfertigen, von großer genen Existenz durch die feindliche Grup- Bedeutung. Die Mobilisierung ethnischer pierung immer mehr aufrüstet, um sich vor Gruppen mittels ethnischer Symbole setzt dieser zu schützen. Da sich dadurch wie- somit einen myth-symbol complex voraus, derum die andere Gruppe bedroht fühlt, welcher Feindseligkeiten gegenüber einer rüstet auch diese auf um sich adäquat zur anderen ethnischen Gruppe legitimiert – Wehr setzen zu können. Somit steigt auch dies kann etwa dadurch geschehen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Situation ein bestimmtes Territorium als das Hei- zwischen den beiden Opponenten eska- matgebiet der eigenen Gruppe definiert liert und es zu einem Ausbruch von Gewalt wird und somit verteidigt und politisch do- kommt (ebd.: 9f).37 miniert werden muss, oder dadurch, dass ein mythisches Feindbild konstruiert wird,  Die Gelegenheit zur Mobilisierung (oppor- mit dem man die andere Gruppe identifi- tunity): Schließlich muss auch die Gele- ziert. genheit (opportunity) und Möglichkeit ge- geben sein, ethnische Gruppen mobilisie-  Ethnic fears: Zweitens müssen Ängste vor ren zu können. So lange übergeordnete, der Auslöschung der eigenen ethnischen starke staatliche Strukturen vorhanden Gruppe gegeben sein. Solche extremen sind, kann ethnische Mobilisierung und ein Ängste rechtfertigen in weiterer Folge eine Ausbruch von Gewalt nur in geringem Ma- feindselige Haltung gegenüber der ande- ße stattfinden, da diese Tendenzen vom ren, feindlichen Gruppe sowie auch die staatlichen Gewaltmonopol unterdrückt Ergreifung außerordentlicher Maßnahmen würden. Sobald jedoch die staatlichen Re- zwecks Selbstverteidigung. Der myth- pressionsmechanismen und das staatliche symbol complex dient dabei oft als Urhe- Monopol geschwächt werden – wie etwa in ber dieser Ängste, indem er die eigene der Sowjetunion durch die Einführung von Gruppe als besonders bedroht und als po- Perestroika und Glasnost unter Gorbat- tenzielles Opfer darstellt. HistorikerInnen schow – ergibt sich für ethnische Gruppen und nationalistische FührerInnen überbe- dadurch eher die Möglichkeit ihre nationa- tonen dabei besonders das durch die an- len Interessen zu formulieren und durch- dere Gruppe erlittene Unrecht – wobei es zusetzen. Neben diesen internen Faktoren in den meisten Fällen von ethnic wars tat- können aber auch externe Faktoren die sächlich der Fall war, dass eine Gruppe in Dynamik hin zu einem ethnic war verstär- der Vergangenheit von der anderen domi- ken, beispielsweise durch die Unterstüt- niert und unterdrückt wurde, was die Ängs- zung extremistischer Eliten durch externe te vor der Auslöschung der eigenen Grup- Mächte und Gruppen. Diese Hilfestellung pierung umso plausibler erscheinen lässt. kann sich etwa in Form von Geldüberwei- Demographische Bedrohungen können sungen, Waffenlieferungen, logistischer dabei auch ein Auslöser von solchen Ängsten sein, besonders wenn es sich bei 37 der eigenen Gruppe um eine Minderheit in Im Kontext des Tschetschenienkonfliktes identifiziert auch Ekaterina Sokirianskaia (2008: 115) in der Periode einem von einer Mehrheit dominierten Ter- vor dem Ausbruch des ersten Krieges 1994 ein security ritorium handelt – wie dies auch das Bei- dilemma, welches von Dudajew zwecks Mobilisierung der spiel der PalästinenserInnen in Israel ver- eigenen Gruppe instrumentalisiert wurde. Sie definiert anschaulicht. Somit stellen nationalistische security dilemma folgendermaßen:

FührerInnen – selbst wenn diese Angriffs- „Security dilemma is, according to the theory of interna- tional relations, the situation when a state starts to per- ceive another state as a security threat and develops a 36 Laut Kaufman ist ein ethnic war zu definieren als ein hostile image of that state by seeing as aggressive the „(…) war in which the key issues at stake (…) involve behavior others might see as neutral, ignoring or distorting either ethnic markers such as language or religion or the gestures others might consider as friendly, and overstress- status of ethnic groups themselves. A war is an organized ing unfriendly and hostile actions and incompatible inter- armed combat between at least two belligerent sides in ests. Having done so, the state starts to prepare its military which at least one thousand people are killed” (Kaufman and population for war, which oftentimes spirals into a 2001: 17). military confrontation” (ebd: 137). 32

und auch propagandistischer Unterstüt- von Geoffrey Hosking und George Schöpflin zung äußern. herausgegebenen Sammelband „Myths and Nationhood“ wird die Rolle von Mythen aus Durch eine Zunahme von ethnischen Ängsten, einer anthropologischen Perspektive betrach- von durch Mythen gerechtfertigten Feindselig- tet, welche nachfolgend kurz dargestellt wer- keiten und von opportunity kommt es dann laut den soll. Joanna Overing verweist zunächst Kaufman ziemlich wahrscheinlich zum Aus- auf die ursprüngliche Unterscheidung in der bruch eines ethnic war. Ängste und Feinselig- griechischen Philosophie im 5. Jahrhundert v. keiten können etwa aktiviert werden durch Chr. zwischen den Begriffen logos, welcher auf einen gewalttätigen Vorfall, der negative ethni- die Wahrheit basierend auf logische Kriterien sche Stereotype bestätigt, durch die Manipula- abzielt, und dem des muthos, welcher eher mit tion ethnischer Symbole durch eine Führungs- dem Märchenhaften und Phantastischen asso- person oder durch eine als bedrohlich empfun- ziiert wurde. In der anthropologischen Disziplin dene Umverteilung politischer Macht (ebd.: ist diese Unterscheidung ursprünglich über- 34). Diese drei Faktoren verstärken einander nommen worden und Mythen wurden als er- somit und resultieren in einem Teufelskreis, fundene Geschichten über die Vergangenheit der zum Ausbruch ethnisch motivierter Gewalt angesehen, als Narrative, welche oft auch die führen kann: phantastischen Ursprünge eines Volkes zum Ausdruck bringen. Hier ergibt sich jedoch das „The symbolic politics theory therefore holds methodologische Dilemma in der Anthropolo- that if the three preconditions – hostile myths, gie: Einerseits untersucht man in einer gewis- ethnic fears and opportunity – are present, sen Weise die Realitätskonstruktionen anderer ethnic war results if they lead to rising mass Völker, andererseits muss man diese jedoch hostility, chauvinist mobilization by leaders mit den eigenen Interpretationen in Einklang making extreme symbolic appeals, and a secu- bringen. Einer der Gründungsväter der Diszip- rity dilemma between groups“ (ebd.). lin, Bronislaw Malinowski, bemerkte diesbe- züglich, dass die Menschen, die über die My- Falls jedoch eine dieser drei Voraussetzungen thologie des eigenen Volkes erzählen, diese nicht gegeben ist, kann Kaufman zufolge eine oft als gelebte Realität empfinden. Da die Sicht kriegerische Auseinandersetzung prinzipiell der Einheimischen in der Regel als rational verhindert werden (ebd.). Abschließend unter- betrachtet wird, stellt sich somit die Frage, wie scheidet Kaufman noch zwischen zwei Arten man ihre oft seltsam anmutenden Äußerungen von ethnischer Gewalt: mass-led violence und bezüglich der eigenen Mythologie interpretie- elite-led violence. Wenn Vorurteile und ethni- ren soll (Overing 1997: 4ff). sche Feindseligkeiten besonders ausgeprägt Trotz der teilweisen Überschneidungen zwi- sind, bricht ethnische Gewalt oft schon aus, schen den beiden Theoriesträngen unterschei- wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. In die- det Overing grundsätzlich zwischen zwei An- sem Fall gibt es schon viele extremistische sätzen bezüglich Mythen in der anthropologi- AnhängerInnen innerhalb einer ethnischen schen Disziplin. Im von Émile Durkheim ge- Gruppe und die ethnische Bewegung ist somit prägten britischen Funktionalismus wird kons- als mass-led zu bezeichnen. Wenn diese je- tatiert, dass die Funktion eines Mythos nicht doch nur in geringem Maße vorhanden sind auf die Erklärung einer „metaphysischen und ethnische Existenzängste vor allem von Wahrheit“ abzielt, sondern vor allem den sozia- manipulativen Führungspersonen propagiert len Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe werden, spricht man dagegen von elite-led sowie die traditionelle Ordnung stärkt. Ob die violence (ebd.: 12; 36ff). betroffenen Mitglieder der Gruppe den oft irra- Bevor in Kapitel 3.3. die „Symbolic Politics tionalen Inhalt der Mythen glauben, ist irrele- Theory“ auf die rezenten Tschetschenienkriege vant, da die Symbole des Mythos einen meta- angewendet wird, wird zunächst noch auf die phorischen Wert haben und vorrangig der sozialanthropologische Bedeutung und die Funktion der Aufrechterhaltung der vorherr- Funktionen von Mythen eingegangen. schenden sozialen Ordnung dienen. Mali- nowski weist in diesem Kontext auch auf die soziale Macht von Mythen hin, durch welche 3.2.2. Über die allgemeine Bedeutung und Ungleichheiten und Privilegien fortgeschrieben die Funktionen von Mythen werden können. Der von Claude Lévi-Strauss stark geprägte französische Strukturalismus Spätestens seit Claude Lévi-Strauss (u.a. sieht dagegen die Bedeutung des Mythos auf 1967) wird in der anthropologischen Disziplin einer unterbewussten Ebene und in der Bezie- der Mythos als eine Sprache gesehen, die hung der mythischen Elemente zueinander zwar über die Wirklichkeit spricht, diese jedoch verankert, weshalb auch die Ebene der Narra- nicht linear widerspiegelt. Auch in dem 1997 tive für Lévi-Strauss nur wenig bedeutsam ist. 33

Ungeachtet der verschiedenen theoretischen rung zu rufen, ohne das dazugehörige Ritual Interpretationsmuster ist es Malinowski zufolge ausüben zu müssen (ebd.: 19f). In diesem jedoch von größter Wichtigkeit, die Bedeutung Erklärungsmodell lassen sich auch viele Ähn- von Kultur und Mythen aus einer indigenen lichkeiten mit dem myth-symbol complex er- Sicht zu verstehen (ebd.: 4-9). kennen. Da sich Mythen in der Regel mit den Schlach- Mythen können auch ein Instrument sein um ten von HeldInnen und GöttInnen sowie der sich selbst zu definieren, da man durch das Konstruktion des eigenen Universums ausei- Akzeptieren der Überzeugungen, welche im nandersetzen, beziehen sie sich auch zwangs- Mythos enthalten sind, auch den Regeln der läufig auf FeindInnen, vor denen man sich in Gruppe zustimmt, die diese Weltanschauung Acht nehmen muss. Somit implizieren Identitä- vertritt. Der Mythos spricht dieser Gruppe be- ten, die auf Mythen basieren, auch Abgren- sondere Eigenschaften zu und schafft somit zung und das Konzept von „Andersheit“. Inso- eine Abgrenzung gegenüber anderen Gruppie- fern sind diese oft nicht subtil angelegt, son- rungen. Weiters vereinfacht er Komplexität, dern übertreiben oft die Maßlosigkeit und die und durch die Standardisierung von Kognitio- Bedrohung durch den verachteten „Anderen“ nen wird Zusammenhalt hergestellt und eine (ebd.: 16). Zusammenfassend weist Overing kollektive Reaktion möglich gemacht (ebd.: darauf hin, dass Mythen von den betroffenen 22ff). Somit verwundert es kaum, dass vor Völkern oft als wahr empfunden werden und allem im Bereich der Politik Mythen der Kollek- dieses Faktum auch durch die Wissenschaft tivität eine wichtige Rolle einnehmen und die nicht geändert werden kann: Kontrolle über diese von großer Bedeutung ist: „Those who can evoke myth and establish „The power of mythic schemes of alterity resonance can mobilize people, exclude should not be underestimated, for people and others, screen out certain memories, establish nations act in accordance with such myths. solidarity or, indeed, reinforce the hierarchy of This is one reason that I find it unhelpful to status and values” (ebd.: 22). speak of ‚the mythic’ as an illusory and irra- In der Regel kontrollieren die politischen und tional way of thinking. To categorize it as such intellektuellen Eliten innerhalb einer Gesell- does not reduce its strength in the ordering of schaft diese Mythen, da sie über einen Zugang people’s actions, whether of the everyday or zur Öffentlichkeit verfügen und mit dieser on a grander scale” (ebd.: 18). kommunizieren können. Wichtig sind deshalb auch die elektronischen Medien, da diese nicht Laut George Schöpflin können Mythen für nur eine große Zahl von Menschen erreichen, ethnische Gruppen und Nationen auch ver- sondern auch ein visuelles Bild von Mythen schiedene vitale Funktionen einnehmen. So und somit auch eine mythische Realität insze- sind diese für Kollektive wichtig, um die Grund- nieren können. Wie auch bei der Konstruktion lage ihrer Existenz zu begründen und ihre von ethnischer Identität ist bei der Schaffung Moral- und Wertesysteme zu bestimmen. von Mythen jedoch immer ein gewisser Bezug Schöpflin definiert in diesem Sinne einen My- zu Ereignissen im kollektiven Gedächtnis von- thos als ein „(…) set of beliefs, usually put forth nöten, um plausibel zu erscheinen und akzep- as a narrative, held by the community about tiert zu werden. Dabei sind auch das Verges- itself“ (Schöpflin 1997: 19). Zudem schaffen sen und Verdrängen bestimmter Aspekte und Mythen ein intellektuelles und kognitives Mo- das Überbetonen anderer von großer Bedeu- nopol, indem sie versuchen die einzig zulässi- tung (ebd.: 25f). ge Weltanschauung darzustellen, was auch Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Mythen äußerst wichtig für den Zusammenhalt inner- auch in die Kultur eingeschrieben sind, was halb einer Gemeinschaft ist. Durch sie werden einem Kollektiv die Möglichkeit gibt, in ver- Grenzen innerhalb einer Gruppe wie auch schiedenen Situationen auf unterschiedliche gegenüber äußeren Kollektiven gezogen. Wei- Mythen zurückzugreifen. Schöpflin definiert ters weist Schöpflin auf den engen Zusam- Kultur als ein System kollektiv geteilter Ideen, menhang zwischen Mythen, Ritualen und Überzeugungen, Dispositionen und Überein- Symbolen hin. Während der Mythos ein Narra- künfte, welchem durch Mythen eine Struktur tiv darstellt, ist ein Ritual als dessen Artikulati- gegeben wird. Somit wird dieses kulturelle on und Ausübung zu verstehen; Symbole da- System von geteilten Mythen und Symbolen gegen stellen die Grundbausteine für Mythen verkörpert, durch welche Menschen wiederum dar, und die Akzeptanz und Verehrung von ihre Weltanschauungen kommunizieren kön- Symbolen ist wiederum ein wichtiger Aspekt nen. Schöpflin identifiziert weiters mehrere von Ritualen. Mythen sind somit in Ritualen, Arten von Mythen, wie beispielsweise Mythen Liturgien und Symbolen verschlüsselt enthal- des Territoriums, des Leidens, der Ohnmacht, ten, und der Verweis auf ein Symbol kann oft der ungerechten Behandlung, der Erwählung, ausreichend sein, um einen Mythos in Erinne- der militärischen Tapferkeit, der Wiedergeburt, 34 der Gründung und der Ethnogenese (ebd.: 27- 3.3.1. Die Gelegenheit zur Mobilisierung 35). Diese können eng miteinander verbunden (opportunity) sein und sich teilweise auch überschneiden, nichtsdestotrotz liegt ihnen allen eine Wie schon im Kapitel 3.1.2. angedeutet ermög- grundlegende Funktion zugrunde: „(…) to en- lichten Gorbatschows Reformen und die damit sure that the integrity of the group is safe- einhergehende Liberalisierung Ende der guarded, that cultural reproduction is not prej- 1980er Jahre die Bildung unzähliger politisch udiced, and that the collective world made motivierter Gruppierungen und in weiterer Fol- simple by myth remains, so that individuals ge auch von Sezessionsbewegungen. Zudem may construct their identities as individuals and war Gorbatschows Politik gegenüber nationa- simultaneously as members of a community“ listischen Protesten äußerst inkonsistent und (ebd.: 35). schwankte zwischen Übertoleranz bis hin zur Nach der Erläuterung der „Symbolic Politics brutalen Niederschlagung von Aufständen, wie Theory” und anthropologischer Konzeptionen etwa 1989 in Tiflis, 1990 in Baku und 1991 in von Mythen werden diese theoretischen An- Vilnius und Riga – was wiederum noch größe- sätze nachfolgend auf die rezenten Tsche- re Widerstände hervorrief. Weiters ging der tschenienkriege angewandt. Autoritätsverlust im Zentrum einher mit dem Überlaufen sowjetischer Eliten von der kom- munistischen Partei zu den Nationalbewegun- 3.3. Anwendung der „Symbolic Poli- gen in den einzelnen Republiken. Schließlich tics Theory“ auf das Fallbeispiel führten die wirtschaftliche Stagnation und die Destabilisierung der institutionellen Strukturen Tschetschenien – welche sich vor allem in der Unfähigkeit äu- ßerte, das multinationale sowjetische Reich Zunächst muss angemerkt werden, dass der zusammenzuhalten – zum Zusammenbruch nationalistische Mobilisierungsprozess im Zuge des sowjetischen Systems. In solchen Zeiten der nationalen Revolution 1991 in Tschetsche- des radikalen politischen und sozialen Um- nien nicht direkt zum Ausbruch eines ethnic bruchs kommt es vermehrt zum Ausbruch eth- war geführt hat und dass es 1994 Russland nischer Konflikte (Hughes 2007: 166ff); eine war, das in der abtrünnigen Republik einmar- Einschätzung, die auch Boris Jelzin im Hinblick schiert ist und somit den ersten Tschetsche- auf die multiethnische Sowjetunion teilte: „Die nienkrieg vom Zaun gebrochen hat. Dennoch schreckliche Wahrheit besteht darin, daß der ist die „Symbolic Politics Theory“ sehr gut dafür Totalitarismus Zeitzünderminen in die Bezie- geeignet, den ethnischen Mobilisierungspro- hungen zwischen den Nationalitäten gelegt zess von der einseitigen Unabhängigkeitser- hat. Leider beginnen diese in unserer Zeit der klärung Tschetscheniens 1991 bis hin zur Mo- Umbildungen zu explodieren“ (Rossijskaja bilisierung für den bewaffneten Widerstand in 38 Gazeta, 24.2.1994, S. 1 zit. nach Halbach den darauffolgenden Kriegen zu erklären. In 1995: 201). diesem Kontext spielte nämlich vor allem auch In diesem Sinne war die einseitige Unabhän- die Instrumentalisierung der tschetschenischen gigkeitserklärung Tschetscheniens im Kontext Mythologie, welche zu weiten Teilen auf den der damaligen Zeit keineswegs ungewöhnlich historischen Widerstand gegen Russland Be- oder „irrational“. Speziell in Zeiten des Um- zug nimmt, eine wichtige Rolle. Schließlich bruchs ist der Bezug auf ethnische Symbole, erzeugten die Politik der tschetschenischen Sprache, Religion und kinship notwendig, um Führung Anfang der 1990er Jahre sowie die ethnische Identitäten aufrecht erhalten zu kön- provozierenden Militäraktionen Russlands ein nen. Zudem werden soziale Identitäten am security dilemma, führten zu einer Verschlech- meisten hervorgehoben, wenn sie gefährdet terung der tschetschenisch-russischen Bezie- scheinen (Eriksen 2002: 68). Aufgrund dieser hungen und schufen ein radikalisiertes Klima, Dynamiken in Zeiten sozialer und politischer in welchem schließlich der erste Tschetsche- Veränderungen behauptet Hughes (2007: 198) nienkrieg ausbrach. sogar, dass „Dudaev did not mobilize Chech- Anschließend soll auf die drei Kriterien einge- nya’s national revolution in 1990-91, it mobili- gangen werden, die laut der „Symbolic Politics zed him“. Dies würde auch für das Vorhanden- Theory“ zum Ausbruch eines ethnischen Kon- sein von mass-led violence nach Kaufman fliktes führen. sprechen, da gewisse nationalistische Ten- denzen und ethnische Antagonismen bereits durchaus in der Bevölkerung vorhanden wa-

38 ren. So hat der rezente Konflikt mit Russland laut tsche- tschenischem nationalem Narrativ nicht erst 1994 begon- Darüber hinaus ging der Zusammenbruch der nen, sondern schon 1991, als russische Truppen versuch- Sowjetunion so schnell vor sich, dass sich ten Dudajew seines Präsidentenamtes zu entheben auch der russische Staat nicht rechtzeitig auf (Gammer 2002: 122). 35 eine neue Ordnung der interethnischen Ver- der tschetschenischen Bevölkerung gesehen hältnisse einstellen konnte. Da sich das Zaren- werden: reich und die Sowjetunion – im Gegensatz zu europäischen Kolonialmächten – durch eine „ was one of the most peaceful and weit nähere Verbindung zwischen Zentrum und stable parts of the former USSR on the eve of Peripherie auszeichneten und sich somit im the USSR’s dissolution in the late 1980ies. It Laufe der Zeit viele Mischidentitäten, kulturelle was the context of the rise of nationalism in the Nähe und starke ökonomische Interdependen- Soviet Union under Gorbachev’s liberalization, zen unter den Völkern des Russischen Rei- followed by the systemic collapse and a selec- ches herausgebildet hatten, gestaltete sich tive application of the principle of national self- auch der Zusammenbruch der Sowjetunion als determination, that provided the conditions for umso destabilisierender. Als Tschetschenien the conflict” (Hughes 2007: 184) 1991, begünstigt durch den Zerfall des Sowje- tischen Reiches, die Möglichkeit ergriff, unab- Weiters begünstigte das Vorhandensein eines hängig zu werden, verfolgte Russland das Ziel großen Waffenarsenals in Tschetschenien den seinen hegemonialen Einfluss in den post- ethnischen Mobilisierungsprozess Anfang der sowjetischen Regionen sowie das nationalisti- 1990er Jahre und führte so zu einem security sche Selbstbild einer Großmacht (derzhava) dilemma. Aufgrund der Schwächung der zent- aufrechtzuerhalten und jeglichen Sezessions- ralen Kontrolle von Waffenbeständen im post- bestrebungen entgegenzuwirken (Hughes kommunistischen Kontext ging eine große 2007: 177-180). Menge an leichtem und schwerem Kriegsmate- Aber auch das kommunistische Konzept des rial von der Sowjetunion an Tschetschenien Föderalismus förderte längerfristig den Zerfall über. Im Juni 1992 konnte Dudajew den Abzug des Systems, da dieser einerseits eine Homo- der föderalen Truppen aus Tschetschenien genisierung und die Schaffung einer „sowjeti- erzwingen, die ein großes Waffenarsenal zu- schen Identität“ propagierte, andererseits je- rückließen. Jedoch verkauften auch russische doch auch nationale Identitäten geschaffen Militärs in großen Mengen Waffen an Dudajew und institutionalisiert wurden (ebd.: 189; vgl. und seine Truppen. Ebenso unterstützte Russ- auch Kapitel 2.2.3.). Im Zuge der Perestroika land die „Internationale Brigade“, das damalige setzten sich dann zudem auch viele Völker des Bataillon von Bassajew, in ihrem Kampf in Reiches mit der eigenen Geschichte ausein- Abchasien Anfang der 90er Jahre; später sollte ander, was ja unter der Sowjetherrschaft zu diese Kampfeinheit eine der erfahrensten und unterbinden versucht wurde. Im Rahmen die- besten im ersten Tschetschenienkrieg im ser Vergangenheitsbewältigung sahen sich Kampf gegen die russischen Truppen sein viele dieser Gruppen als Opfer Russlands, was (Hughes 2007: 179-183; Tishkov 2004: 64). oft zu anti-russischen Einstellungen und damit Diese Fakten legen auch den Schluss nahe, einhergehend zu einem steigenden Nationa- dass Tschetschenien von der russischen Füh- lismus geführt hat. Viele AutorInnen und Intel- rung und dem Militär nicht als „ewiger Feind“ lektuelle versuchten nun, die nationalen Narra- gesehen wurde, denn sonst wäre dieses mit tive ihrer Völker neu zu überarbeiten und ge- Sicherheit nicht mit Waffen und logistischer gen russische Geschichtskonstruktionen der Unterstützung versorgt worden. Somit hat die „großen Völkerfreundschaft“ und ihrer angeb- Bewaffnung des Dudajew-Regimes die Situati- lich „freiwilligen Integration“ in das Russische on und die Dynamiken hin zu einer kriegeri- Reich anzuschreiben. 1989 kam es so etwa in schen Auseinandersetzung zusätzlich ver- der Zeitschrift „Fragen der Geschichte“ schärft: „The possession of an enormous mili- („Woprosy Istorii“) zu einer angeregten Diskus- tary arsenal radically changed the internal sion unter sowjetischen HistorikerInnen über dynamics in the republic. Local military group- die Nationalitätenfrage und den Anschluss ings emerged, headed by charismatic leaders, nicht-russischer Völker an das Russische and an emotionally charged climate of ‚the Reich (auf Russisch wird dieser Diskurs priso- people’s war’ took hold in Chechnya” (Tishkov jedinenije genannt), wobei WissenschaftlerIn- 2004: 64). nen aus dem Kaukasus und Zentralasien für Ein letzter wichtiger externer Faktor, der die die historische Anerkennung der kolonialen ethnische Mobilisierung und den Ausbruch Gewalt Russlands plädierten (Gökay 1998: gewaltsamer Auseinandersetzungen begüns- 49f; Halbach 1995: 196; Layton 1994: 293; tigt hat, war die finanzielle und militärische Szyszkowitz 2008: 93). Zusammenfassend Unterstützung des tschetschenischen Wider- kann der Zusammenbruch der Sowjetunion standes durch islamistische Gruppen und und die abnehmende Repression des Staates Staaten. Vor allem in der Zwischenkriegszeit somit durchaus als Mitursache für den wach- flossen große Summen aus der islamischen senden Nationalismus in bestimmten Teilen Welt nach Tschetschenien (siehe Kapitel 3.1.3.). 36

3.3.2. Ethnische Ängste vor der Auslö- Unabhängigkeit notwendig wäre. Laut Tishkov schung der eigenen Gruppe hat zur Zeit der tschetschenischen Revolution dieses „kollektive Leiden der TschetschenIn- Anfang der 1990er Jahre wurden seitens des nen“ in der Vergangenheit mehr noch als etwa Dudajew-Regimes auch Ängste geschürt, dass Religion, Sprache und Kultur die tschetscheni- Russland die TschetschenInnen erneut unter- sche Identität definiert und verfestigt (Tishkov drücken würde und behauptet, dass somit eine 2004: 53, 78-83). friedliche Koexistenz innerhalb der Russischen Föderation nicht möglich sei. Aufgrund der Tschetschenischen NationalistInnen zufolge jahrhundertelangen konfliktreichen historischen versuchte Russland seit seinem Vordringen in Beziehung zwischen Tschetschenien und den Kaukasus das tschetschenische Volk zu Russland konnte Dudajew dabei auf viele vernichten. Die konfliktreiche tschetschenisch- traumatisierende Massaker und russische russische Geschichte wird dabei laut Gammer Versuche des Genozids an den Tschetsche- (2002) in vier unterschiedliche Phasen einge- nInnen zurückgreifen und diese instrumentali- teilt, wobei die Deportation unter Stalin beson- sieren. In diesem Zusammenhang lässt sich ders hervorgehoben wird.40 auch das von der „Copenhagen School in Se- Zunächst sind die ersten russischen Versuche curity Studies“ entworfene Konzept der securi- im 18. und 19. Jahrhundert, den Kaukasus zu tization gut anwenden, da dieses erklärt, wie unterwerfen, zu nennen. Im Zuge des gewalt- ein bestimmtes Objekt – sei dies ein Staat, samen Vorgehens der russischen Truppen eine ethnische Gruppe oder etwa die globale gegen die Kaukasusvölker kam es häufig zu so Marktwirtschaft – als bedroht dargestellt wird genannten „Strafexpeditionen“, in welchen und somit außerordentliche Maßnahmen ge- ganze Dörfer, Wälder, Gärten und Felder nie- rechtfertigt werden, um es zu verteidigen.39 Da dergebrannt sowie Viehbestand und bewegli- diese angenommene Bedrohung existenzge- che Güter geplündert wurden. Durch diese fährdend ist, muss somit schnell gehandelt Politik wurden viele TschetschenInnen von den werden und denen, die mit der Beseitigung fruchtbaren Gegenden in die Berge vertrieben, dieses Problems betraut sind, extensive Voll- wo diese oft an Hunger gestorben sind. Nach machten übertragen werden, um die Bedro- Ende der Muridenkriege Ende der 1850er Jah- hung abzuwenden. Laut Vetlesen arbeiten die re wurden viele TschetschenInnen in das Inne- meisten Ideologien mit dem Konzept der secu- re Russlands bzw. auch um die 23.000 Be- ritization, welches eine potente Quelle für poli- wohnerInnen auch in das Osmanische Reich tische Mobilisierung darstellt, um einerseits deportiert. Unter den genannten Strafexpediti- das entsprechende Objekt zu schützen und onen wird in vielen tschetschenischen Narrati- andererseits diejenigen zu bekämpfen, die ven und Liedern vor allem die Zerstörung des angeblich eine Gefahr dafür darstellen. Meis- Dorfes Dadi Yurt im September 1819 durch tens werden diese oft konstruierten Ängste von den russischen General Yermolov hervorge- Intellektuellen aller Art geschürt, worauf später hoben. Dieses Dorf soll der Legende zufolge noch einzugehen sein wird (Vetlesen 2005: von den tschetschenischen Männern helden- 167-170). haft verteidigt worden sein, während diese von Dudajew bediente sich wie gesagt ebenfalls den Mädchen im Dorf besungen wurden. Nach der securitization und behauptete im August der Ermordung aller Männer sollen sich alle 1991, dass eine erneute Deportation der tschetschenischen Frauen – um nicht als Ge- TschetschenInnen geplant sei. Im Hinblick auf fangene genommen zu werden – mit Dolchen die nationalistische Agitation des tschetscheni- ihr Leben genommen haben. Die wenigen schen Präsidenten konstatierte auch die NGO Frauen, die von russischen Offizieren festge- „International Alert“, dass Dudajew auf jegliche nommen wurden, sollen dann von einer Fähre Kritik an seinem Regime nur mit dem weiteren in den Fluss gesprungen sein und den jeweili- Schüren von Ängsten bezüglich einer russi- gen Offizier mit in den Tod gerissen haben. In schen Invasion reagierte – was jedoch eine diesem Sinne war die Schlacht von Dadi Yurt vernünftige Einigung mit Russland ungemein eines der einflussreichsten Ereignisse, das die erschwerte. Viele Leute dachten nun, dass – Wahrnehmung der TschetschenInnen von um jegliche zukünftige Diskriminierung gegen Russland geformt hat, und sie spielt auch heu- das tschetschenische Volk zu unterbinden – te noch eine wichtige Rolle als Symbol von die Kontrolle über die Republik in Form der

39 Laut den dänischen Politikwissenschaftlern Bagge 40 Die Tatsache, dass die historischen russischen Kriegs- Laustsen und Waever ist securitization folgendermaßen zu verbrechen an TschetschenInnen von NationalistInnen in definieren: „(…) securitization is the intersubjective estab- den 1990er Jahren instrumentalisiert wurden, soll jedoch lishment of an existential threat with a saliency sufficient to keinesfalls die schrecklichen und aufs schärfste zu verur- have substantial political effects“ (Bagge Laustsen/Waever teilenden Massaker an der tschetschenischen Bevölkerung 2000: 708). relativieren oder in Frage stellen. 37

Genozid und Widerstand (Gammer 2002: 128f; Zentrum von Grozny wurde 1994 zum 50. Jah- Gammer 2006: 35f). restag der Deportation ein Mahnmal gebaut, Die zweite Phase war von der sowjetischen welches hauptsächlich aus alten tschetscheni- Repression in den 1920er und 1930er Jahren schen Grabsteinen bestand, die in der Zeit des geprägt. Neben Staatsterror, Massenverhaf- Exils von sowjetischen Autoritäten und zuge- tungen und dem Transport in die GULAGs kam wanderten RussInnen als Baumaterial ver- es in dieser Periode auch zu religiöser Verfol- wendet wurden, um Straßen und Häuser zu gung und der zweimaligen Änderung des errichten. In der Mitte des Denkmals befanden tschetschenischen Alphabetes (zuerst in die sich ein aus Stein gemeißelter Koran und eine lateinische, dann in die kyrillische Schrift). große Faust, die ein aufgerichtetes Schwert Diese „Russifizierungs“- bzw. „Ent- nach oben hält. Die darunter stehende Inschrift tschetschenisierungs“-versuche werden von in tschetschenischer Sprache lautet in etwa: Seite tschetschenischer NationalistInnen als „We will not weep; we will not weaken; we will spiritueller und kultureller Genozid bewertet not forget“ (siehe Anhang, Abbildung 2). Dass (Gammer 2002: 129). dieses Denkmal im ersten Tschetschenien- Die schlimmste Katastrophe im kollektiven krieg zerstört wurde, 1997 wiederaufgebaut Gedächtnis der TschetschenInnen stellt jedoch und dann im zweiten Krieg wiederum zerstört deren Deportation unter Stalin 1944 dar, wel- worden ist, steht Gammer zufolge auch in ei- che laut nationalistischem Narrativ den weitge- ner gewissen Weise stellvertretend für das hendsten und offensichtlichsten Versuch dar- Schicksal des tschetschenischen Volkes stellt, die TschetschenInnen als Nation zu ver- (Gammer 2002: 130f; Gammer 2006: 170-176; nichten. Offiziell begründet wurde die Deporta- Lieven 1998: 319f). Schließlich kam es erst in tion mit der angeblichen Kollaboration der den späten 1980er Jahren innerhalb der tsche- TschetschenInnen mit der deutschen Wehr- tschenischen und auch der sowjetischen Ge- macht, obwohl diese kaum bis Tschetschenien sellschaft zu einer Aufarbeitung der Deportati- vorgedrungen war. Schon während des wo- on. Diese fand vor allem in literarischer, poeti- chenlangen Transportes nach Zentralasien scher und musikalischer Form ihren Ausdruck starben viele aufgrund von Krankheiten, Hun- und war oft auch mit starken anti-russischen ger und den extremen Temperaturen. Nach Gefühlen verbunden (Tishkov 2004: 30).42 ihrer Rückkehr in ihr Heimatterritorium 1957 Die letzte Phase des versuchten Genozids an wurde in allen Schulen in Grozny nur Russisch den TschetschenInnen sind die rezenten unterrichtet und das tschetschenische Volk Tschetschenienkriege, in welchen vor allem wurde aus öffentlichen Publikationen und durch die massiven Luftangriffe gesamte Dör- Textbüchern entfernt. Während der Zeit im Exil fer ausgelöscht und tausende angebliche „Re- wurden die Häuser der TschetschenInnen bellen/innen“ in „Konzentrationslagern“ gefol- hauptsächlich von RussInnen und UkrainerIn- tert wurden. Darüber hinaus sind bei der Bom- nen besetzt und zudem Moscheen und Fried- bardierung von Grozny 1995 wichtige kulturelle höfe zerstört – was angesichts der großen und historische Institutionen und unersetzbare Bedeutung der VorfahrInnen in der tsche- Sammlungen von Dokumenten und Manuskrip- tschenischen Kultur besonders grausam war. ten zerstört worden, was auch als Versuch Auch in dieser Phase gab es ein schreckliches interpretiert wurde, die tschetschenische Kultur Massaker; nämlich in Khaibakh, von wo die zu vernichten (Gammer 2002: 132). Das tsche- rund 770 dort lebenden TschetschenInnen tschenische Dorf Samashki wurde zwischen aufgrund der Abgelegenheit des Bergdorfes 1995 und 1999 dreimal von den russischen nicht zu den nach Zentralasien fahrenden Zü- Truppen militärisch angegriffen und über 800 gen gebracht werden konnten und kollektiv in ZivilistInnen kamen dabei ums Leben. Die einer Scheune zusammengepfercht und samt Stadt stand 1995 für fünf Tage unter Be- dieser verbrannt wurden. Dieses Ereignis ver- schuss, und diejenigen Männer, welche die stärkte die Verbrechen in Dadi Yurt noch und Stadt verlassen wollten, wurden in ein Filtrati- gab ihnen eine zusätzliche Bedeutung.41 An- onslager nach Mozdok gebracht und gefoltert fang der 1990er Jahre wurden die übriggeblie- (Akhtaeva 2005: 16-19). Somit steht Samashki benen Gebeine der Opfer neu begraben und in in einer Reihe mit Dadi Yurt und Khaibakh als Khaibakh eine Gedenkstätte errichtet. Auch im ein Symbol des russischen Genozids an den TschetschenInnen. Dieser Umstand schreibt 41 Wobei Anatol Lieven darauf hinweist, dass das Massa- bedauerlicherweise den Konflikt nur weiter fort, ker von Khaibakh vor allem von drei ethnischen Georgiern wie Kaufman aufzeigt: „Massacres suffered zu verantworten ist, nämlich dem sowjetischen Oberst and battles fought – whether won or lost – Gveshiani, seinem Vorgesetzten Beria und in letzter In- provide new myths and symbols to be used in stanz von Stalin. Insofern sieht Lieven Khaibakh – im Gegensatz zu den anderen russischen Verbrechen an TschetschenInnen – nicht als eine spezifisch „russisches“, 42 Vgl. hierzu beispielsweise die Gedichte des heute in sondern vorwiegend als ein „stalinistisches“ und „sowjeti- Europa lebenden Tschetschenen Apti Bisultanov, welche sches“ Massaker (Lieven 1998: 319). 2004 gesammelt in deutscher Sprache erschienen sind. 38 further demonizing the enemy, justifying further entsprechende Amt verfügten. Auch Dudajew fighting and delegitimating the idea of a com- verfügte als ehemaliger Militärgeneral nicht promise peace” (Kaufman 2006: 205). über das notwendige Know-how, um einen Somit erfüllte das Thema des Genozids zwei Staat aufzubauen, propagierte in Zeiten der unmittelbare, politische Funktionen: Einerseits Instabilität und des Umbruchs unrealisierbare wollte man auf internationaler Ebene durch Projekte und ging gegenüber Russland auch einen Appell an moralische und emotionale keine Kompromisse bezüglich der Unabhän- Grundsätze die Anerkennung der tschetsche- gigkeit Tschetscheniens ein. Durch die Propa- nischen Unabhängigkeit seitens der internatio- gierung von Mythen des Kampfes und Sieges nalen Gemeinschaft erreichen. Andererseits sowie der Feindschaft und Rache formte er so hatte dieses auch eine starke mobilisierende die Wahrnehmungen seiner AnhängerInnen Wirkung innerhalb Tschetscheniens, so etwas und entwarf ein heroisches Bild von sich wie die Deportation nicht wieder zuzulassen selbst. Aber Dudajew verfolgte auch ökonomi- und deswegen gegen Russland erbitterten sche Interessen, was etwa das Geheimab- Widerstand zu leisten (Gammer 2002: 132). kommen mit VertreterInnen der russischen Nach der Diskussion dieses Motivs des Geno- Ölindustrie zeigt, in dem festgelegt wurde, zids wird nun im nächsten Kapitel mit dem dass 80% der Öleinnahmen aus Grozny nach myth-symbol-complex die dritte Voraussetzung Moskau überstellt werden und 20% im Besitz für den Ausbruch eines ethnischen Krieges der tschetschenischen Führung bleiben sollten. herausgearbeitet. Der wahre „Sündenfall“ Dudajews, der einen bewaffneten Konflikt unvermeidlich machte, war jedoch Gakayev zufolge, dass dieser eine 3.3.3. Die Instrumentalisierung des tsche- Aufteilung der Öleinnahmen im Verhältnis von tschenischen myth-symbol complex in den 50:50 zwischen Moskau und Grozny forderte. rezenten Tschetschenienkriegen Aber auch andere Führungspersonen in Tschetschenien profitierten von der instabilen Um potentielle AnhängerInnen zu mobilisieren Situation in der Republik bzw. von den beiden kommt es laut Eriksen oft zu einer Manipulati- Kriegen und überwiesen große Geldmengen on, Selektion und Reinterpretation geschichtli- auf ausländische Konten. Somit war der an- cher Ereignisse und der Verwendung „primor- geblich „mythologische Kampf“ gegen Russ- dialer“ Symbole seitens ethnischer AnführerIn- land durchaus auch auf finanzielle Anreize nen (Eriksen 2002: 54, 90). Die Instrumentali- zurückzuführen (Tishkov 2004: 88-105). Dies sierung ethnischer Identität ist für ethnische erklärt auch die Wahrnehmung eines Teiles Eliten oft der schnellste und „komfortabelste“ der tschetschenischen Bevölkerung, Anfang Weg, um an die Macht zu gelangen, und sie ist der 1990er Jahre von politischen FührerInnen auch in den meisten Fällen erfolgreich. Dabei mithilfe von Slogans und leeren Versprechun- gibt es vor allem die Tendenz, relative Unter- gen manipuliert und gegen ihren Willen zum schiede zwischen ethischen Gruppen in abso- Kampf gegen Russland angestiftet worden zu lute zu verwandeln, indem man jemandem sein (ebd.: 142ff). entweder die Identität als Tschetschene/in Obwohl nationale Mythen und historische An- oder die als Russe/in zuschreibt, welche je- tagonismen nicht als ursächlicher Grund für die doch als exklusive und einander ausschlie- Kriege der 1990er heranzuziehen sind, so ßende Kategorien dargestellt werden. Somit haben sie doch eine große Rolle in der Mobili- enthalten ethnopolitische Konflikte ein Element sierung von Teilen der tschetschenischen Be- der Manipulation, welches von „ethnischen völkerung gespielt. So konstatiert etwa Willi- UnternehmerInnen“ dazu genutzt wird, um ihre ams (2008: 156), dass die Kampfmotivation partikularen Interessen zu verfolgen (Barbas- der tschetschenischen KämpferInnen (bojeviki) hin 2008: 13-16). Auf die Rolle des myth- von einem von der baltischen Nationalbewe- symbol complex bezugnehmend formuliert gung inspirierten Nationalismus bis hin zu dem Hughes diesen Prozess folgendermaßen: Bestreben reicht, sich an Russland für das „Elites, intellectuals in particular, tend to be erlittene Leid der VorfahrInnen und die Depor- seen as the key purposeful agents, organizing tation 1944 zu rächen. Auch Smith (1998: the political mobilization of nationalism and 153f) kommt zu dem Schluss, dass die meis- propagating and manipulating the growth of ten bojeviki mobilisiert wurden durch die natio- political myths and symbols to construct a na- nale Kriegsmythologie, die Verteidigung der tionalist ideology and identity“ (Hughes 2007: Freiheit und die Überzeugung, die Kriege und 166). Deportationen der Vergangenheit in Zukunft zu Tishkov zufolge hat der Zusammenbruch der verhindern. Stellvertretend für diese These Sowjetunion zum Aufstieg mehrerer charisma- verweist Smith auf folgendes Zitat eines tsche- tischer AnführerInnen geführt, welche jedoch tschenischen Kämpfers: „(…) We’re not oft nicht über die nötige Kompetenz für das fighting for Dudajew and we’re not interested in 39 politics – we’re fighting for our land. We know tschetschenisch-russischen Konflikt in der what happened in 1944 and about the 19th Vergangenheit zurückzuführen und stellen mit century. All our history we’ve fought with the diesem eine Art Kontinuität dar. Solch histori- Russians and we just don’t want them here” zistische Ansätze konservieren die Verhal- (ebd.: 164). tensmuster der TschetschenInnen im 18. und Angesprochen auf die Rolle der tschetscheni- 19. Jahrhundert und projizieren diese oft unre- schen Mythologie im Mobilisierungsprozess flektiert auf die heutige Konfliktsituation, ohne Anfang der 1990er meinte auch die Profil- auf die weitgehenden sozioökonomischen Korrespondentin Tessa Szyszkowitz: Interdependenzen und die Vermischung von Identitäten zwischen RussInnen und Tsche- „Der psychische Zustand des gesamten Volkes tschenInnen einzugehen (Hughes 2007: 1f, äußerte sich insofern, dass innerhalb kürzester 7f).44 In diesem Zusammenhang stellt Hughes Zeit die Bilder der generationenlangen Verfol- folgende berechtigte Frage in den Raum: gung der Tschetschenen durch die Russen an die Oberfläche gebracht wurden und viele „The question is whether we should view this Leute sofort bereit waren diesen Krieg zu füh- and other historical episodes of the colonial era ren, um ihre seit Jahrhunderten in Frage ge- as having an ongoing hold over Russian- stellte Unabhängigkeit zu verteidigen. Dudajew Chechen relations, or as providing a pool of brauchte nur an diese psychische Vorbedin- symbolic referents that could be selectively gung anzutippen und die Sache hat sich sofort revitalized to assist the nationalist mobilization explosiv entwickelt – das ist die Gefahr, wenn in the specific context of 1990-91” (ebd.: 8). diese Mythenbildungen nicht kontrolliert wer- den (…) Aber aufgrund der Geschichte und der Zudem vernachlässigen historizistische Erklä- gepflegten nationalen Mythen über große und rungsversuche durch die Fokussierung auf stolze Schlachten – die alle in Wirklichkeit „ancient hatreds“ zwischen Russland und furchtbare, blutige Niederlagen waren – dach- Tschetschenien gegenwärtige Faktoren des ten die Tschetschenen, sie hätten irgendeine Konfliktes, wie etwa den strukturellen Kontext Chance gegen Russland – was jedoch ange- des Zusammenbruchs der Sowjetunion und die sichts der Größe der tschetschenischen Nation unzähligen kontemporären Kriegsinteressen, und der russischen Armee äußerst unwahr- AkteurInnen, Strategien und Dynamiken. Auch scheinlich war. Insofern haben die nationalen ist der gegenwärtige Konflikt nicht statisch Mythen eine große Rolle gespielt, und nicht geblieben, sondern hat sich mehrfach trans- gerade die beste“ (Interview mit Szyszkowitz; formiert: War er ursprünglich von einem säku- Wien-Moskau 2009). laren Nationalismus geprägt, so kam es mit der Zeit zu einer Islamisierung des Widerstandes Der von Szyszkowitz erwähnte Aspekt, dass und kürzlich zur „Tschetschenisierung“ des Dudajew nur an diese „psychische Vorbedin- Konfliktes auf einer innertschetschenischen gung antippen musste“, spricht auch für das Ebene. Auch wurde der Konflikt von Putin, Vorhandensein einer mass-led violence, da Jelzin und Dudajew benutzt, um ihre eigenen gewisse historical grievances in der tsche- politischen Interessen zu verfolgen (ebd.: tschenischen Bevölkerung durchaus schon 200f). Tishkov ist ebenfalls der Meinung, dass weitverbreitet waren und die Person des ethni- die Vergangenheit – vor allem die, die nicht schen Anführers somit eine vergleichsweise persönlich erlebt worden ist – keineswegs als untergeordnete Rolle spielte. ursächlicher Grund für den rezenten Konflikt herangezogen werden kann, sondern dass Bei der Auseinandersetzung mit dem Tsche- eher kontemporäre AkteurInnen mit ihren kon- tschenienkonflikt und angeblichen „ancient temporären Problemen und Zielen dafür ver- hatreds“ ist es einerseits von großer Bedeu- antwortlich zu machen sind: „Can’t we use tung, dass man die historischen Faktoren des history as a tool for understanding a conflict, Konflikts nicht negiert oder vernachlässigt, rather that seeing it as a primordial force andererseits darf man aber auch nicht einer predetermining it?“ (Tishkov 2004: 17). historizistischen Interpretation der Ursachen Eine überzeugende Argumentation gegen der rezenten Kriege verfallen.43 Dieser zufolge historizistische und auf „ancient hatreds“ basie- sind die kriegerischen Auseinandersetzungen rende Erklärungsmodelle liefert auch Robert der Gegenwart auf den jahrhundertelangen Bruce Ware (2005: 88f). Dieser weist darauf hin, dass auch die tschetschenische Nachbar-

43 republik Dagestan in den Muridenkriegen ge- Diese wird vor allem von Seiten internationaler Journa- meinsam mit den TschetschenInnen gegen listInnen, aber auch von PolitikerInnen und Wissenschaft- lerInnen vertreten. Tishkov spricht sich dagegen eher für einen konstruktivistischen Ansatz aus, der auch im Rah- men dieser Arbeit verfolgt wird (Hughes 2007: 172; Tish- 44 Diese sollen im Kapitel 4 noch ausführlicher behandelt kov 2004: 49). werden. 40

Russland gekämpft hat – Imam Schamil war ja Kritik an ihm verstummte zunehmend (ebd.: Dagestaner –, sich nach diesen Mitte des 19. 77-86). Dementsprechend pathetisch und Jahrhundert jedoch mit dem russischen Staat symbolhaft waren auch seine angeblich letzten arrangiert hat und seitdem gute Beziehungen Worte: „Continue the fight till the end…“ (Sei- mit diesem pflegt. Weiters wurden im Jahre erstad 2008: 55). 1944 unter Stalin neben den TschetschenIn- Dudajew suchte für seinen nationalen Unab- nen auch andere Völker des Kaukasus und der hängigkeitskampf darüber hinaus die Unter- Sowjetunion deportiert – wie bspw. das Nach- stützung seitens des einflussreichen islami- barvolk der InguschInnen, die KrimtatarInnen, schen Führers Abdul-Baki, um seine Bewe- die KalmückInnen und die Wolgadeutschen. gung auch religiös zu legitimieren. Als dieser Für diese stellte die Deportation jedoch kein jedoch 1993 nach Tschetschenien eingeladen chosen trauma dar und es kam auch zu keinen wurde und einige Tage durch die Republik Sezessionsbestrebungen Anfang der 1990er gereist war, kritisierte er deren Zustand scharf. Jahre. Dieses Argument spricht somit einmal Vor allem wies er auf die Armut weiter Teile mehr für die Bedeutung von nationalen Mythen der Bevölkerung hin, während die tschetsche- und deren Instrumentalisierung durch ethni- nische Führung dagegen relativ wohlhabend sche Eliten im Kontext des Tschetschenien- war. Auf drastische Weise klagte er die vor- konfliktes. herrschende Situation und die „Zerstörung von Gesellschaft, Recht und Ordnung“ durch Duda- Zunächst startete der Mobilisierungsprozess in jew an. In weiterer Folge wurde er als russi- Tschetschenien Anfang der 1990er mit der scher Spion diffamiert und ihm die kurz zuvor Propagierung von Slogans über die „nationale verliehene Ehrenbürgerschaft aberkannt (Tish- Revolution“ und der Anprangerung des „russi- kov 2004: 79). Da Dudajew nicht die Unterstüt- schen Imperialismus“. Zahlreiche tschetsche- zung aller TschetschenInnen erhielt, richtete er nische und auch russische AutorInnen verfass- sich vor allem gegen Russland und schürte ten nationalistische Broschüren über die heroi- Ängste vor einer russischen Invasion oder sche Geschichte der TschetschenInnen; es einer erneuten Deportation, um so potentielle fanden aber auch wissenschaftliche Konferen- AnhängerInnen auf seine Seite zu ziehen. So zen statt, in denen die Unabhängigkeit Tsche- meint auch Payin (1995: 24), dass der tsche- tscheniens gefordert wurde. Die UrheberInnen tschenische Präsident nicht bereit war, einen dieser moralischen und ideologischen Argu- Vertrag mit Russland über den Status der Re- mente für die Abspaltung von Russland kämpf- publik zu unterzeichnen, da dieser das russi- ten in der Regel jedoch nicht selber – diese sche Feindbild und die Bedrohung durch eine Aufgabe wurde eher von jungen Männern in äußere Macht dringend benötigte, um seine ländlichen Regionen oder in der städtischen eigene Macht abzusichern. Zu diesem Schluss Peripherie übernommen. Nach der Transfor- kommt auch Smith (1998: 128): „(…) Dudajew mation dieser verbalen in physische Gewalt discovered that setting his countrymen against und dem Ausbruch kriegerischer Handlungen the Russian bogeyman was the key to his wurden die ursprünglichen Slogans jedoch popularity“. Dies zeigt auch, dass die Macht nicht nur transformiert, sondern oft auch ein- und der Einfluss von Nationalismus oft von der fach vergessen (Tishkov 2004: 150). Fähigkeit abhängen, offizielle Feinde zu identi- Eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung spiel- fizieren. Auch dem Führen von Kriegen wird in te Dudajew, der zeit seines Lebens kaum in diesem Zusammenhang eine integrative und Tschetschenien war, eine Russin geheiratet konsolidierende Funktion auf nationaler Ebene und in der sowjetischen Armee Karriere ge- zugeschrieben (Eriksen 1991: 274f) (siehe v.a. macht hatte. Aus diesem Grund kam es zu auch Kapitel 2.2.2.). einer Überkompensierung dieser Tatsachen, Daher verwundert es kaum, dass sich die nati- und er stellte sich nun nur umso mehr als onalistische Rhetorik der damaligen tsche- tschetschenischer Nationalist in den Vorder- tschenischen Führung sehr stark gegen Russ- grund. Dudajew verwendete vor allem einfache land richtete. Hughes (2007: 28) verweist dar- und emotionale Themen wie Freiheit, Vater- auf, dass Dudajew und seine MinisterInnen land und Widerstand, um die Leute zu mobili- ihre anti-russische Rhetorik mit dem histori- sieren, obwohl tschetschenische KämpferIn- schen Narrativ des „ewigen Widerstandes“ nen oft eher ihren KommandantInnen – wie gegen die „russische Kolonialmacht“ verban- bspw. Maskhadov – folgten. Trotz der oft den, jedoch dabei zu oft rassistische Äußerun- wechselhaften Akzeptanz seiner Person in der gen tätigten und „die RussInnen“ mit den Nazis Bevölkerung kam es nach seiner Ermordung gleichsetzten. So negierte etwa Dudajew die im April 1996 durch eine russische Rakete zu Vermischung von tschetschenischen und rus- einer Glorifizierung Dudajews. Russische und sischen Identitäten und stellte diese als eth- tschetschenische SchriftstellerInnen und Poe- nisch homogene, abgeschlossene Einheiten tInnen lobten seine Heldentaten, und jedwede dar: „(…) Chechnya was never part of , 41 and the Chechens never thought of them- beziehen sich in großem Maße auf die in selves as citizens of Russia (…)” (Dudayev Kapitel 3.3.2. dargestellten „Versuche des 1992: 54 zit. nach Tishkov 2004: 51). Auch das Ethnozids“ an den TschetschenInnen. Regime von Jelzin wurde verteufelt, was sich in Aussagen äußerte wie „Russianism is worse  Einen zweiten Cluster von Erinnerungen than nazism“, „ heads a gang of stellen die memories of success dar, wel- murderers“ und dass sein Regime ein „diabolic che sich vor allem in Zeiten der Liberalisie- heir to a totalitarian monster“ sei (Seierstad rung des russischen Regimes herausge- 2008: 51). Yandarbiev propagierte ebenfalls bildet haben. Im späten 19. Jahrhundert die nationale Unabhängigkeit, stellte eine Ver- nahm die Repression des Militärregimes bindung zur nationalen Mythologie her und rief im Nordkaukasus ab, die ersten russi- die Bevölkerung zum bewaffneten Kampf und schen Schulen wurden in Grozny gegrün- zu großer Opferbereitschaft auf: „(…) A people det, die Extraktion und Weiterverarbeitung wishing to be free and build its independent von Öl begann, eine Eisenbahninfrastruk- state should be able to act resolutely and be tur und Fabriken wurden aufgebaut und es ready for sacrifices. Each father and each bildeten sich pro-russische Gruppen unter mother should be prepared, as in our epic den TschetschenInnen heraus. Weiters songs, to give their sons for the cause of the nahmen nach der Annexion durch Russ- people“ (Yandarbiyev 1996: 43 zit. nach land TschetschenInnen aktiv an allen dar- Tishkov 2004: 13). auffolgenden russischen Kriegen teil, wie etwa in den Russisch-Japanischen und Aber es gab auch andere Wahrnehmungen Russisch-Deutschen Kriegen. Das Fak- bezüglich des Status der tschetschenischen tum, dass sie die höchsten Kriegsaus- Republik, und bestimmte Teile der tschetsche- zeichnungen erhielten und von den russi- nischen Bevölkerung konnten sich – wie auch schen HerrscherInnen für ihre Leistungen die Nachbarrepublik Inguschetien – durchaus gelobt wurden, ist auch heute noch ein einen Verbleib innerhalb der neu entstandenen wichtiger Teil des tschetschenischen kol- Russischen Föderation vorstellen. Laut Sokiri- lektiven Gedächtnisses. Anfang der anskaia (2008: 102ff) basierte die tschetsche- 1920er Jahre kam es bis zu Lenins Tod nische nationale Identität vor 1994 auf zwei zudem zu einer „De-Russifizierung“ und gleichermaßen ausgeprägten Mechanismen: Dezentralisierung, und innerhalb der auto- einerseits auf der Ablehnung von Russland nomen Bergrepublik wurde den Völkern und andererseits auf dem Bestreben, mit die- Autonomie zugestanden und die scharia sem eine gemeinsame Identität aufrechtzuer- und religiöse Schulen zugelassen. Durch halten. Während erstere Variante von der nati- Bildungskampagnen gegen Analphabetis- onalistischen Bewegung in Tschetschenien mus nahm die Anzahl an gebildeten Bür- gefördert wurde, wurde die zweite, friedlichere gerInnen zu und erhöhten sich auch die Option durch die Politik der russischen Füh- sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Somit rung untergraben. Die Vergangenheit stellt entstand erstmals eine lokale säkulare In- eine wichtige Quelle für die Konstruktion von telligentsia und Arbeiterklasse, die ihren Identität und für die Mobilisierung von ethni- Aufstieg dem Regime zu verdanken hatten schen Gruppen dar. Insofern lassen sich Soki- und diesem dementsprechend loyal erge- rianskaia zufolge (ebd.: 104-111) aus der Ver- ben waren. In den 1970er Jahren betrug gangenheit drei Interpretationen der interethni- die Alphabetisierungsrate beinahe 98%, schen Beziehungen zwischen Russland und und die Anzahl der Spitäler und ÄrztInnen Tschetschenien ableiten, die je nach den ge- war ebenfalls stark angestiegen. In diesem gebenen Umständen und persönlichen Motiva- Sinne wurde das Leben in Tschetschenien tionen aktualisiert werden und in weiterer Fol- aufgrund der sozialen Absicherung auch ge das individuelle Verhalten in der interkultu- angenehmer, was vielen BewohnerInnen rellen Kommunikation bestimmen können45: immer noch in Erinnerung ist.

 Zunächst gibt es die memories of grievan-  Schließlich gibt es noch die memories of ce, die eine sehr wichtige Rolle für die multicultural existence, welche sich in den tschetschenische Selbstzuschreibung ge- 1970er und 1980er Jahren in der täglichen spielt haben und vor allem auf die Kauka- Routine eines multikulturellen Umfeldes sischen Kriege im 18./19. Jahrhundert und manifestierten. Vor allem tschetschenische die Deportation 1944 zurückgehen. Diese BewohnerInnen in urbanen Gebieten erin- nern sich nostalgisch an das multikulturelle 45 Diese Ansicht deckt sich auch mit der in Kapitel 3.2.2. Klima in sowjetischen Zeiten; viele haben erläuterten Konzeption von Mythen, die in einer Kultur auch positive Erinnerungen an RussInnen verankert sind und gemäß der entsprechenden Situation während der Zeit im Exil. Insofern selektiv hervorgehoben werden können (Schöpflin 1997). 42

widerlegt Sokirianskaia das nation complex‘; and (2) to use ‚the security Vorhandensein von „ancient hatreds“: dilemma‘ to mobilize support (…) Also, it [the „Contrary to a widespread perception, strategy, G.L.] intended to intensify the shared there has never been an innate hatred be- feeling of injustice and injured dignity, and to tween Chechens and Russians” (ebd.: rally support for collective action against Mos- 109). cow” (Sokirianskaia 2008: 115).48

Laut Eriksen (2002: 123f) gibt es in der Bezie- Nichtsdestotrotz gab es selbst nach der natio- hung zwischen dem Staat und seinen Minder- nalen Revolution von 1991 immer noch tsche- heiten drei Möglichkeiten für ethnische Min- tschenische NationalistInnen, die eine Integra- derheiten, dem Staat zu begegnen: Entweder tion Tschetscheniens in die Russische Födera- kann sich die Gruppe assimilieren – was je- tion – unter der Bedingung einer extensiven doch nicht immer möglich ist, wie etwa die Autonomie – forderten. Diese oppositionellen damalige Situation von African Americans in Kräfte gewannen aufgrund der sinkenden Po- den USA zeigt. Dann gibt es noch die Option, pularität von Dudajew im Laufe des Jahres eine friedliche Koexistenz anzustreben, und 1993 immer mehr an Zuspruch. Durch den schließlich die Möglichkeit der Abspaltung und russischen Einmarsch von 1994 und die unter- Sezession, welche jedoch immer inkompatibel schiedslose Bombardierung der tschetscheni- mit der staatlichen Politik ist.46 Die tschetsche- schen Bevölkerung nahm jedoch gleichsam nische Führung entschied sich für letztere auch die gemeinsame tschetschenisch- Variante und instrumentalisierte memories of russische Identität schweren Schaden. Die grievance um die tschetschenische Unabhän- Nicht-Unterscheidung zwischen KombattantIn- gigkeit zu legitimieren.47 Jedoch erfolgte die nen und ZivilistInnen unterminierte die Idee Konsolidierung des separatistischen Regimes eines Verbleibs innerhalb Russlands und nicht unmittelbar, sondern war ein Prozess, der schwächte die memories of multicultural erst durch die russische Invasion zu einem existence nachhaltig. Nach dem Ende des Abschluss gekommen ist. Der schlecht vorbe- ersten Krieges diskreditierten jedoch der Zer- reitete und erfolglose Versuch russischer fall der staatlichen Strukturen, die schlechte Truppen 1991 die Macht in Tschetschenien zu sozioökonomische Situation und das Vorherr- ergreifen, regelmäßige russische Militärmanö- schen einer Schattenökonomie die Idee eines ver an der tschetschenischen Grenze und unabhängigen Staates in den Augen vieler weitere Episoden, die einen möglichen militäri- TschetschenInnen. Aufgrund der Angst vor schen Angriff Russlands nahelegten, bestätig- einer drohenden Islamisierung und der vor- ten nur die Stereotype der Aggressivität des herrschenden Instabilität wurden memories of russischen Staates und spielten der Dämoni- multicultural existence revitalisiert und viele sierung Russlands durch Dudajew in die Hän- Menschen erinnerten sich nostalgisch an das de (Gökay 1998: 53, Sokirianskaia 2008: 111- weitgehend friedliche Leben in der Vorkriegs- 115). Dieser verfolgte nun eine zweifache zeit zurück. Doch anstatt diese Chance zu Strategie: ergreifen um große Teile der tschetscheni- schen Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen, „(…) (1) to promote internal consolidation benutzten die russischen Autoritäten Achmad through an aggressive nationalist discourse Kadyrow um gegen Maskhadov vorzugehen based on the ‚memories of grievance‘, the und gewannen Kadyrow im Zuge der „Tsche- ‚deportation syndrome‘ and the ‚persecuted tschenisierung“ für den zweiten Tschetsche- nienkrieg.49 Auch in diesem Krieg unterschie-

46 den die russischen Truppen nicht zwischen Auf ein ähnliches Argument bezieht sich auch Frederic Barth (1969: 33). kämpfenden und nicht-kämpfenden oder zwi- 47 Schöpflin (1997: 24) verweist darauf, dass Mythen der schen separatistisch eingestellten und pro- Koexistenz weit seltener von PolitikerInnen propagiert russischen TschetschenInnen, was wie schon werden, da man durch die Konstruktion eines Feindbildes 1944 das Gefühl beförderte, aufgrund der Zu- und den Ausschluss von „Anderen“ viel leichter Menschen mobilisieren kann. Auch kann man anhand der drei darge- gehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen stellten Erinnerungsmuster von Sokirianskaia sehen, dass bestimmte Aspekte der interethnischen Beziehungen jeweils vergessen und verdrängt bzw. auch überbetont 48 Auf die Rolle der verletzten Ehre, welche in der tsche- werden, was ja laut Schöpflin (1997) einen wichtigen tschenischen Kultur eine besonders wichtige Rolle spielt, Aspekt bei Mythenbildungen darstellt. In den memories of soll in Kapitel 3.4.5. noch einmal gesondert eingegangen grievance werden etwa memories of multicultural existen- werden. ce ausgeblendet, was auch vice versa der Fall ist. Durch 49 So hätte sich Achmad Kadyrow etwa mit Maskhadov dieses bewusste Auslassen bestimmter Ereignisse kommt und den „moderaten NationalistInnen“ zusammenschlie- es somit zu einer Reduktion von Komplexität und einer ßen können, um gemeinsam gegen die IslamistInnen Standardisierung von Kognitionen, welche den sozialen vorzugehen (Sokirianskaia 2008: 124). Immerhin wurde Zusammenhang stärkt und eine kollektive Reaktion – in Maskhadov 1997 von 60% der TschetschenInnen zum diesem Fall das Verfolgen der nationalen Unabhängigkeit Präsidenten gewählt und verfügte somit damals über einen – ermöglicht (siehe Kapitel 3.2.2.). großen Rückhalt in der Bevölkerung. 43

Gruppe leiden zu müssen. Dieses brutale Vor- auch tschetschenische Mythen, die positive gehen der russischen Truppen unterminierte nationale Qualitäten hervorheben: Es sind dies abermals die memories of multicultural Mythen des Widerstandes, in denen die Tsche- existence (ebd.: 114-125). tschenInnen nicht nur als Opfer dargestellt Seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien- werden, sondern auch ihre historische agency krieges nahm der Einfluss des nationalisti- betont wird (Huysseune/Coppieters 2002: schen Elementes auf den tschetschenischen 290f). Die zwei Motive des Genozids und des Widerstand stark ab, welcher von nun an stark Widerstandes sind somit Sonderfälle der all- islamistisch geprägt war. Die soziale Basis der gemeineren Themen von Viktimisierung und tschetschenischen KombattantInnen in den Heroismus. Im Falle Tschetscheniens verstär- Jahren 2002-2006 bestand vor allem aus 17 ken sich diese beiden Topoi gegenseitig und bis 25-jährigen jungen Männern, deren Motiva- sind als zwei Seiten derselben Münze zu ver- tion zu kämpfen vor allem auf drei Motive zu- stehen: rückzuführen ist: Rache für getötete Verwand- te, die vorherrschende unsichere Lage in „(…) the memory of genocide brings to the fore Tschetschenien und der Einfluss islamistischer the sense of victimization and thus stiffens the Propaganda. Diese TschetschenInnen waren resolve to resist. The memory of resistance, zu Beginn des ersten Krieges noch Kinder, especially in face of genocide, generates pride erlitten oft schwere Kriegstraumata und hatten and sets a standard of behaviour to be fol- in der zerstörten Republik auch keine Jobmög- lowed. And that, according to the Chechen lichkeiten. Zudem sind sie in einem monoeth- narrative, is what makes the Chechens unique nischen Umfeld aufgewachsen, beherrschen in history (…)” (Gammer 2002: 132f). kaum die russische Sprache und können somit auch auf keine memories of multicultural Im nächsten Kapitel sollen diese tschetscheni- existence oder memories of success zurück- schen Mythen des Widerstandes näher erläu- greifen. Stattdessen konstruierten sie ihre tert werden. Identität im Gegensatz zur tschetschenopho- ben Propaganda, die in den russischen Medien und auch im öffentlichen Diskurs in Russland 3.4. Der tschetschenische myth- kursiert. Tschetschenische IslamistInnen ver- symbol-complex banden bei der Rekrutierung von neuen Kämp- ferInnen geschickt memories of grievance, die 3.4.1. Der Mythos der „ancient nation“ Glorifizierung des Kampfes um Freiheit, die Romantisierung des Todes sowie die Wieder- Laut Anthony Smith (1997: 36-41) ist für Natio- herstellung verletzter Ehre mit dem allgemei- nalistInnen der Rückbezug auf eine würdige neren Konzept des dschihad. Diese „anti- kommunale Vergangenheit notwendig, um koloniale“ Agenda verbreitete sich zusammen Massen mobilisieren zu können. Diese propa- mit den islamistischen KämpferInnen im ge- gierte gemeinsame Vergangenheit ist dabei samten Nordkaukasus, wo auch heute noch eine Konstruktion der gegenwärtigen Genera- immer wieder Anschläge verübt werden. tionen, die diese gemäß ihren kontemporären Nichtsdestotrotz existiert Sokirianskaia zufolge und spezifischen Interessen und Zielen inter- der tschetschenische politische Nationalismus pretieren. Speziell der Bezug auf geteilte Erin- und Separatismus weiter und wird – solange nerungen an ein „Goldenes Zeitalter“51 trägt in man sich mit diesem nicht ernsthaft auseinan- großem Maße zur Formation von Nationen bei. dersetzt – auch wieder an die Oberfläche tre- 50 Je größer und glorreicher die Vergangenheit ten (ebd.: 129-134). dargestellt wird, desto größer sind auch das Mythen und Narrative der Viktimisierung – wie Mobilisierungspotential und die Fähigkeit, un- sie auch in Kapitel 3.3.2. diskutiert worden sind terschiedliche Gruppen unter einer gemeinsa- – sind besonders wichtig für den Zusammen- men nationalen Identität zu vereinen. Smith halt in einer nationalen Gemeinschaft, und im verweist dabei vor allem auf die Motivation von Falle Tschetscheniens sind diese auf eine nationalistischen Intellektuellen, die Vergan- lange Geschichte brutaler Unterdrückung genheit einer ethnischen Gruppe zu „entde- durch Russland zurückzuführen. Aber es gibt

51 Smith (1997: 42) zufolge lassen sich unterschiedliche 50 Auch Ware (2005: 104) schließt sich dieser Meinung an Arten von „Goldenen Zeitaltern“ erkennen: diese können und konstatiert, dass solange eine ökonomisch schlechte gekennzeichnet sein etwa durch ökonomische Prosperität, und politisch instabile Situation in Tschetschenien vor- durch große militärische Erfolge und imperiale Ausdeh- herrscht und internationale islamistische Organisationen nung, aber auch durch eine Art ursprünglicher Rousseau- weiterhin den Widerstand finanzieren, dieser immer wieder scher Unberührtheit, welche später durch den Einfluss der neue RekrutInnen hervorbringen wird. Eine wahre „Befrie- „verdorbenen modernen Zivilisation“ zerstört worden ist. dung“ der Situation kann ihm zufolge nur durch demokrati- Beliebte Themen sind weiters Zeitalter der religiösen sche Reformen und eine nachhaltige wirtschaftliche Ent- Heiligkeit und Reinheit sowie auch der kulturellen, philoso- wicklung erreicht werden. phischen, literarischen und kreativen Hochblüte. 44 cken“, um für diese die politische Anerkennung in Grozny, Vakhit Akayev, dass sein Institut als Nation in der Gegenwart zu legitimieren. Beweise dafür sammeln sollte, dass die Tsche- Diese versuchen darüber hinaus die Mitglieder tschenInnen das älteste Volk der Welt seien, einer ethnischen Gruppe davon zu überzeu- da er selbst viele alte tschetschenische Denk- gen, dass die entsprechende Nation immer mäler in verschiedenen Ländern der Welt mit schon bestanden hat, unter den „Trümmern eigenen Augen gesehen hätte. Zudem sollte der Ewigkeit“ verborgen war und nun durch die das sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut Wiederentdeckung des „authentischen Selbst“ die koloniale Unterwerfung durch Russland wiedergeboren wurde. Um plausibel zu er- offenlegen (ebd.: 197). scheinen, ist es für solche Konstruktionen von Neben Mythen der „ancient nation“ wurden großer Bedeutung, eine Kontinuität zwischen aber auch „Mythen der Erwählung durch Gott“ den Generationen herzustellen, etwa durch propagiert, auf welche auch Schöpflin (1997: den Verweis auf Namen, Orte, Sprache oder 31f) Bezug nimmt. Diesen zufolge wird ein Symbole. Die Vision des „Goldenen Zeitalters“ Volk oder eine Nation angeblich von Gott dazu einer Gruppe deutet auf ein glorreiches auserwählt, aufgrund seiner einzigartigen Ei- Schicksal in der Zukunft hin und soll die Ge- genschaften bestimmte Aufgaben zu erledigen. meinschaft zu kollektivem Handeln animieren, Dieser Mythos soll auch die Wahrnehmung der um diese Zukunft Wirklichkeit werden zu las- moralischen und kulturellen Überlegenheit sen (ebd.: 48-52). gegenüber anderen Völkern und Rivalen legi- Im Falle der TschetschenInnen wurden diese timieren. Auch Maskhadov behauptete, dass laut nationalistischem Narrativ der 1990er Jah- die TschetschenInnen aufgrund ihrer „Erwählt- ren als antike zivilisierte Nation dargestellt, die heit“ den anderen Völkern des Kaukasus – vor als WainachInnen (zusammen mit den Ingu- allem den christlich-orthodoxen OssetierInnen schInnen) seit dem 4. Jhdt. v. Chr. ununterbro- – überlegen seien. Da das tschetschenische chen – mit Ausnahme der Deportation 1944 – Volk laut Dudajew das älteste des gesamten in ihrem angestammten Gebiet lebten. Diese Kaukasus ist, sollte diesem auch das Recht Version der Vergangenheit geht davon aus, der pan-kaukasischen Führung zugesprochen dass sich „die TschetschenInnen“ niemals werden (Tishkov: 2004: 198; Tishkov 2005: einer fremden Herrschaft unterworfen haben 165). Ältere Mythen, die den tschetscheni- und immer in dieser Form seit damals weiter- schen Ursprung auf die Zivilisationen der Su- bestanden haben, was aber die Tatsache ver- mererInnen und der HuriterInnen zurückführ- nachlässigt, dass Generationen von ihnen mit ten, waren nun nicht mehr alt genug; die Zeit- RussInnen zusammengelebt haben und es schrift des tschetschenischen Führers Movladi während dieser 6.000-jährigen Geschichte Ugudov „Islamskaya natsia“ verkündete, dass zweifelsfrei zu gewissen interkulturellen Vermi- die von 35000 bis 10000 v. Chr. lebenden Cro- schungen gekommen ist (Gammer 2002: Magnon-Menschen KaukasierInnen und Vor- 121).52 Vor allem Dudajew versuchte die an- fahrInnen der WainachInnen waren. Aber auch geblich uralten Ursprünge des tschetscheni- Theorien von „Nazi-AnthropologInnen“, welche schen Volkes dazu zu benutzen, um dessen die arische „Rasse“ auf den Kaukasus zurück- politische Unabhängigkeit in der Gegenwart zu führen, waren äußerst populär unter der tsche- legitimieren. So identifizierte er die Ursprünge tschenischen Elite. Laut dem damaligen des Islam nicht in der arabischen Wüste, son- Staatssekretär der tschetschenischen Republik dern im „Garten Eden“ von Tschetschenien, Akbulatov haben die TschetschenInnen den wo die wainachischen Völker angeblich den ältesten Staat der Welt sowie auch das frühes- islamischen Glauben gegründet haben sollen – te demokratische System gegründet, und we- der damalige tschetschenische Mufti Alsabe- der die alten GriechenInnen oder RömerInnen kov weigerte sich jedoch verständlicherweise, – noch moderne Nationen – waren imstande diese revisionistische Geschichtsinterpretation bessere Gesetze zu schaffen (Tiskhov 2004: anzuerkennen. Bei einem Besuch in Frank- 198f). reich erzählte Dudajew zudem seine Version Aber auch die IslamistInnen in Tschetschenien der Geschichte der Arche Noah, welcher zu- versuchten in den 1990er Jahren und auch folge die Arche in den Bergen von Tsche- heute noch ein mehrere Regionen umfassen- tschenien gelandet ist und Noah und seine des islamisches Kalifat aus dem Nordkaukasus Familie direkte VorfahrInnen der WainachIn- „herauszubrechen“ (siehe Kapitel 3.1.3.), das nen gewesen sein sollen (Tishkov 2004: 51f). dem „Goldenen Zeitalter“ des Imamats von Dudajew beauftragte auch den damaligen Imam Schamil im 19. Jahrhundert entsprechen Leiter des Tschetscheno-Inguschischen Insti- sollte. Dieses wird von säkularen NationalistIn- tuts für Geschichte, Soziologie und Philologie nen wie von IslamistInnen gleichermaßen auf- grund der effizienten sozialen Organisation 52 Eine Gegenüberstellung dieses tschetschenischen und der ideologischen Ausrichtung bewundert. nationalistischen Narrativs und des entgegengesetzten Dies hat wohl auch mit dem Umstand zu tun, russischen Narrativs wird in Kapitel 4.3.2. vorgenommen. 45 dass die beiden sufistischen Strömungen – die  Die Revolte von 1929-30, die als Reaktion zur Zeit des Imamats in Tschetschenien Ein- auf die sowjetische Kollektivierungspolitik zug gehalten haben – sich auch heute noch und die Einschränkung der Religionsfrei- großer Beliebtheit erfreuen (Hughes 2007: heit unter Stalin ausgebrochen ist 102f; Zelkina 2000: 237f). Zusammenfassend spielte somit der Mythos  Die Israilov-Revolte (1940-42), welche von der „ancient nation“ – welche sich dem natio- dem Poeten Hasan Israilov geleitet wurde nalistischen Narrativ zufolge nie einer anderen Macht unterworfen hat – eine wichtige Rolle  Der gegenwärtige Konflikt, welcher durch bei der Konzeption einer ethnisch homogenen den russischen Versuch, den neu gewähl- Nation durch die tschetschenische Führungs- ten tschetschenischen Präsidenten Duda- elite. Weiters wurde durch eine selektive Inter- jew im November 1991 abzusetzen, be- pretation der Vergangenheit und durch die gonnen hat. Herstellung von Kontinuität mit dieser versucht, das pragmatische kontemporäre Ziel der Un- Zwischen diesen Aufständen und Kriegen hat abhängigkeit zu legitimieren. sich der tschetschenische Widerstand laut Narrativ auf einer weniger intensiven Ebene manifestiert, ist aber nie zum Stillstand ge- 3.4.2. Der Mythos des „ewigen Krieges“ kommen. Das politische Ziel dieses Mythos gegen Russland des „ewigen Krieges“ ist eindeutig: da sich das tschetschenische Volk nie der russischen Dem tschetschenischen nationalistischen Nar- Macht unterworfen hat, ist auch die Unabhän- rativ zufolge sind die rezenten Kriege nur die gigkeitserklärung Tschetscheniens nicht als letzte kriegerische Auseinandersetzung in Sezession zu werten. Im Gegenteil sind die einem seit 300 Jahren andauernden Konflikt russischen Versuche, diese Unabhängigkeit zu zwischen Russland und Tschetschenien. Seit verhindern, als blanker Imperialismus und pure dem ersten gewaltsamen Vorrücken der russi- Aggression zu verstehen. Aber dieser Mythos schen Truppen in den Kaukasus unter dem verfolgte auch interne politische Zwecke. Zu- Zaren Peter der Große in den 1720er Jahren nächst sollte er das nationalistische Regime werden zumindest neun Höhepunkte des unter Dudajew, Yandarbiev und Maskhadov tschetschenischen Widerstandes identifiziert sowie deren Politik – nämlich das sture Behar- (Gammer 2002: 121ff): ren auf der Unabhängigkeit, auch unter dem Risiko einer militärischen Konfrontation mit  Der erste ghasawat (1785-92) unter Imam Russland – legitimieren. Eine weitere Funktion Mansur gegen den ersten systematischen war – wie schon ausführlich dargestellt – die Versuch der Unterwerfung der Kaukasus- Herstellung von internem Zusammenhalt und völker durch Katherina die Große nationalem Stolz, um die Massen zu mobilisie- ren (ebd.).  Die Revolte von 1825-27 unter dem sheikh Dass die russisch-kaukasischen Beziehungen Muhammad von Mayortup gegen das bru- seit dem 18. Jahrhundert von Dudajew als ein tale Vorgehen des russischen Generals „ewiger Krieg“ aufgefasst wurden, zeigt auch Yermolov seine Forderung vom Juni 1991, dass jedwe- den Verhandlungen zwischen Grozny und  Der große ghasawat (1829-59) unter der Moskau zuerst ein „Friedensvertrag“ voraus- Führung der drei aus Dagestan stammen- gehen müsse. Auch der damalige Präsident den Naqschbandi-Imame Ghazi Muham- der „Konföderation kaukasischer Bergvölker“, mad, Hamzat Bek und Schamil Musa Schanibow, bezeichnete den gegenwär- tigen Konflikt als den „zweiten kaukasischen  Der Aufstand von 1863 unter der Führung Krieg“, während der Muridenkrieg im 19. Jahr- der sufistischen Qadiri-tariqa hundert ihm zufolge den „ersten kaukasischen Krieg“ darstellte. An das Ende dieses Krieges  Der „kleinere“ ghasawat (1877-78), in wel- 1864 – welches auch die Unterwerfung des chem der Versuch gestartet wurde, Scha- Kaukasus unter russische Herrschaft markierte mils Imamat unter dagestanischer Führung – wurde auch am 21. Mai 1994 auf Initiative wiederherzustellen Tschetscheniens in Form einer nationalen Trauerfeier in den nordkaukasischen Republi- 53  Der letzte ghasawat (1918-21) gegen die ken erinnert. Dieses Datum wurde nun zum „weiße“ Armee Denikins und später gegen die sowjetische Armee 53 An dieser Trauerfeier nahm neben VertreterInnen aus den postsowjetischen Nachfolgestaaten, dem Nahen Osten, aus Europa und aus den USA aber auch eine Delegation aus Russland teil (Halbach 1995: 197). 46

„Tag der Wiedergeburt der kaukasischen Völ- sche Kampflied der 1990er Jahre war und ker“ erklärt und die Gründung eines „internati- geschickt viele Themen tschetschenischer onalen kaukasischen Gerichtshofes“ ange- Mythologie miteinander verband: das Symbol dacht, welcher die „Henker der kaukasischen des Wolfes (siehe Kapitel 3.4.4.), das Konzept Völker“ offiziell verurteilen sollte (Halbach der Ehre und Würde (Kapitel 3.4.5.) und den 1995: 197). Somit propagierten bestimmte „historischen“ Unwillen, sich zu unterwerfen NationalistInnen wie Yandarbiev auch noch im und stattdessen heldenhaft bis in den Tod für Jahre 1997 die „Befreiung“ nicht nur Tsche- sein Vaterland zu kämpfen. Aufgrund seines tscheniens, sondern des gesamten Kaukasus Symbolgehaltes soll dieses Kampflied (in eng- vom russischen „Imperialismus“: lischer Übersetzung) deshalb in voller Länge zitiert werden (Lieven: 358f): „The Caucasus has been oppressed for centu- ries by the Russian empire. It is not free yet. „We were born at night when the she-wolf We have no right to pretend we see nothing whelped, around us now that we have our freedom at In the morning to the roar of lions we were last. We can’t truly be free if the rest of the given our names. Caucasus is not. All its people – the In eagles’ nests our mothers nursed us. Dagestanis, Azeris, Ingushi, Georgians, To tame the wild bulls our fathers taught us. Circassians, Cossacks – of whatever faith, are our brethren, we are all a single Caucasian There is no God but Allah. (…) nation (…) We are opening a new era in build- ing a Common Caucasian Home free of slav- Our mothers pledged us to our people and our ery. Ichkeria plays the main role in that pro- homeland. cess, since we have shown ourselves as the And if they need us – we know to fight hard. most intrepid and dedicated fighters in five With the eagles of the mountains we grew up years of jihad” (Yandarbiyev 1997: 1 zit. nach free together. Tishkov 2004: 201). With dignity we have overcome every obstacle in our way. Diese Rede, welche wohl die Gründung des von den IslamistInnen angestrebten „nordkau- There is no God but Allah. kasischen Kalifats” propagiert, vernachlässigt jedoch, dass sich die InguschInnen Anfang der Granite rocks will sooner fuse like lead, 1990er Jahre bewusst für eine Integration in Than we will lose our dignity in life and strug- die Russische Föderation und gegen einen gle. „wainachischen Staat“ zusammen mit den The earth will sooner be consumed by the fire TschetschenInnen ausgesprochen haben. of the sun, Auch die bereits unabhängig gewordenen Than we will face the world, having lost our Staaten Georgien und Aserbaidschan vertreten honour. wohl kaum die Meinung, dass sie immer noch durch Russland „versklavt“ werden. Interessant There is no God but Allah. ist hierbei, dass auch die KosakInnen – die ja ursprünglich immer mit dem Russischen Reich We will never submit to any man or force. assoziiert worden sind – von Yandarbiev in die Freedom or Death – for us that is the only Reihe der „unterdrückten“ Völker aufgenom- choice. men werden. Schließlich lässt sich anhand des Our sisters heal our wounds with their songs. letzten Satzes wiederum der schon im letzten The eyes of our beloved inspire us to feats of Kapitel erwähnte „Mythos der Auserwählung“ arms. erkennen, welchem zufolge den Tschetsche- nInnen als ältestem Volk des Kaukasus das There is no God but Allah. Vorrecht der pan-kaukasischen Führung zu- steht. If hunger torments us – we will eat the roots of Kurz vor Ausbruch des ersten Tschetsche- trees. nienkrieges stellte dann auch Dudajew in einer If thirst troubles us – we will drink dew from the TV-Rede eine Verbindung zu den Kaukasus- grass. kriegen im 19. Jahrhundert her, indem er das For we were born at night when the she-wolf tschetschenische Volk aufforderte sich „zum whelped. ghasawat zu erheben“ und mit den Worten And to God, people and homeland, „Allahu akbar!“ schloss (Hughes 2007: 85). We owe our lives and our duty. Eine bestimmte mobilisierende Wirkung hatte wohl auch das Lied „Freedom or Death“, wel- ches das berühmteste nationale tschetscheni- 47

There is no God but Allah”.54 sche System integriert und hatten auch engere Kontakte mit Russland. Jedoch lässt sich auch Bei der Unterzeichnung des Friedensvertrages hier keine klare Trennung zwischen „den im Mai 1997 zwischen Jelzin und Maskhadov BergbewohnerInnen“ und den „Flachlandbe- wurde dann schließlich auch offiziell die „400- wohnerInnen“ ziehen, da viele teips sich über jährige Feindschaft“ zwischen Russland und beide Regionen erstrecken. Dennoch haben Tschetschenien beendet, was von Seiten der sich die Spannungen zwischen diesen beiden nationalistischen tschetschenischen Führung Gruppen im Laufe der rezenten Kriege vergrö- als großer Erfolg gewertet wurde. Jedoch auch ßert (Tishkov 2004: 54f, 229). für die tschetschenische Online-Plattform Aber auch im Hinblick auf die kontemporären Chechnyafree.ru entbehrt dieser Verweis auf Kriege gab es innerhalb Russlands und Tsche- den angeblich zeitlosen Kampf des tsche- tscheniens unterschiedliche Ansichten und tschenischen Volkes für seine Unabhängigkeit Einstellungen. So konnte man auf der russi- und die ewige Feindschaft zwischen RussIn- schen Seite zwischen einem pro- nen und TschetschenInnen jeglicher Grundla- interventionistischen Lager, das für den ersten ge. Ihrer Meinung nach wurde dieser Mythos Krieg stimmte, und einem anti- hauptsächlich von Dudajew ins Leben gerufen, interventionistischen Lager unterscheiden, das da weder in tschetschenischen noch in russi- diesen ablehnte. Auf Seite der TschetschenIn- schen historischen Quellen von einem „ewigen nen gab es neben den NationalistInnen um Krieg“ die Rede ist. So benutzten Jelzin und Dudajew ebenfalls eine starke Opposition, die Maskhadov diesen Mythos, um der Unter- eine Integration in die Russische Föderation zeichnung des Friedensvertrages eine zusätz- bzw. eine friedliche Lösung mit Russland an- liche Bedeutung zu verleihen und vor allem strebte. Im Laufe der Zeit kam es wie schon über ihre vorschnellen Entscheidungen Anfang erwähnt zu einer Spaltung des tschetscheni- der 1990er Jahre – der russische Einmarsch in schen Widerstandes in einen moderaten natio- Tschetschenien 1994 und die einseitige Erklä- nalistischen Flügel unter Maskhadov und einen rung der tschetschenischen Unabhängigkeit extremistischen und islamistischen unter der 1991 – hinwegzutäuschen anstatt Verantwor- Führung von Bassajew, die beide unterschied- tung für diese zu übernehmen liche Ziele verfolgten (Hughes 2005: 267f). (http://www.chechnyafree.ru/index.php?lng=en Aber auch das Überlaufen Achmad Kadyrows g§ion=mifcheeng&row=2, Zugriff: und seines Clans auf die Seite Russlands 25.1.2006). zeigt, dass man in diesem komplexen Konflikt Darüber hinaus können „die RussInnen“ und keineswegs von einer einheitlichen, homoge- „die TschetschenInnen“ nicht entsprechend nen „russischen“ und „tschetschenischen“ einer kulturessentialistischen Perspektive als Gruppe ausgehen kann.55 (ethnisch) homogene Einheiten gesehen wer- Insofern kann man zusammenfassend auch den, zwischen denen sich „ancient hatreds“ nicht von einem „ewigen Krieg“ zwischen entwickeln oder ein „ewiger Krieg“ hätte aus- Russland und Tschetschenien sprechen, und brechen können. Zunächst verändern sich es lässt sich auch keine Kontinuität des „anti- Menschen und Völker selbstverständlich über kolonialen Widerstandes“ von Imam Mansur Jahrhunderte hinweg und werden durch große bis Dudajew in die Gegenwart konstruieren, soziale, kulturelle, ökonomische, politische und obwohl beide die Idee des ghasawat benutz- historische Veränderungen und Umbrüche ten. Halbach betont mehrmals, dass für die sowie durch Modernisierungsprozesse stark heutigen Kriege andere Voraussetzungen, geprägt. Weiters gibt es innerhalb Tschetsche- Grundlagen und Motive ausschlaggebend niens eine Kluft zwischen BergbewohnerInnen waren als im 18. Jahrhundert. Von Bedeutung (gornye) und den im Flachland lebenden ist dabei auch die durch die Sowjetisierung TschetschenInnen (ploskostnye). Erstere wur- bedingte Verschiebung vom religiösen zum den von letzteren oft als tieferstehend gese- ethnischen Prinzip (Halbach 1995: 213). Auch hen, da sie eher abgeschieden in den Bergen in den vom Autor der vorliegenden Arbeit ge- leben und weniger „modernisiert“ wurden – führten Interviews wurden Konzepte des „ewi- aufgrund des geringeren Kontaktes mit den gen Krieges“ als Konstrukte betrachtet. Den- RussInnen befanden sich historisch gesehen noch darf man nicht die kriegerischen Aspekte somit auch immer die Hochburgen des tsche- in den interethnischen Beziehungen zwischen tschenischen Widerstandes gegen Russland in den kaukasischen Bergen. Die BewohnerInnen 55 Es liegt jedoch in der Natur von Mythen, die oft von im Flachland um Grozny und die Nadterechny- HeldInnen und Schlachten handeln und somit auch auf Region waren dagegen stark in das sowjeti- Abgrenzung und dem Konzept von „Andersheit“ basieren, eine/n Feind/in und die Bedrohung durch diese/n übertrie- ben darzustellen. Weiters werden durch Mythen auch 54 Dieses Lied wurde zudem – in abgeänderter Form – Grenzen gegenüber äußeren Kollektiven gezogen und 1992 zur offiziellen Nationalhymne der unabhängigen somit innere Grenzen vernachlässigt (Overing 1997; tschetschenischen Republik Ichkeria ernannt. Schöpflin 1997) (siehe Kapitel 3.2.2.). 48

RussInnen und TschetschenInnen vernachläs- lehnte. Diese unnachgiebige Haltung verun- sigen und vor allem auch nicht ihr Mobilisie- möglichte jedoch auch eine gütliche Einigung rungspotential unterschätzen. Andreas Kappe- mit Russland und trug letztendlich auch zum ler diesbezüglich: Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges bei (Hughes 2005: 279). „Das sind natürlich nationale Narrative, wie es sie bei allen Staaten, Gruppen und Nationen gibt. So etwas wie ewige Konflikte gibt es 3.4.3. Der Mythos der Imame Schamil und nicht, jedoch muss man beachten, dass die Mansur politische Wirksamkeit solcher Ideologien sehr groß ist (…) Das Entscheidende sind die Die lange tschetschenische Widerstandstradi- Tschetschenienkriege seit 1994, aufgrund tion gegen Russland ist auch mit entsprechen- dieser wird die Auseinandersetzung mit Russ- den Heldenfiguren verbunden, um welche sich land bei einer Mehrheit der Tschetschenen nationale Mythen gebildet haben. Die zwei ganz sicher als ein ewiger Konflikt gesehen. prominentesten Widerstandskämpfer sind Ob die Leute, die mit Kadyrow zusammenar- Imam Mansur und Imam Schamil, die in den beiten, dies auch so sehen oder nicht (…) Kaukasuskriegen des 18. und 19. Jahrhun- können wir nicht wissen. Aber den historischen derts gegen das Zarenreich gekämpft haben Realitäten entspricht diese Ideologie des ‚ewi- und dementsprechend in den 1990er Jahren gen Krieges‘ zweifellos nicht, das ist klar“ (In- von der tschetschenischen Nationalbewegung terview mit Kappeler, Wien 2009). verehrt wurden. Imam Mansur gilt als der Initia- tor des angeblich „300-jährigen Krieges“, als Tessa Szyszkowitz sieht dies ähnlich und ver- Gründer der nationalen tschetschenischen weist noch einmal auf die Rolle Dudajews im Befreiungsbewegung sowie der pan- nationalistischen Mobilisierungsprozess: kaukasischen Bewegung gegen die russische Herrschaft. Obwohl seinem siebenjährigen „Das Klischee vom ‚ewigen Krieg‘ wurde dazu Widerstandskrieg gegen die russischen Trup- genutzt einen Konflikt zu legitimieren, den die pen eher geringer Erfolg beschieden war, so Leute unter Umständen so gar nicht gewollt führte er doch den ersten „heiligen Krieg“ ge- hätten. Das fiel bei den Tschetschenen auf gen das „ungläubige“ Russland und bereitete besonders fruchtbaren Boden, da sie tatsäch- so den Weg für den großen ghasawat im 19. lich eine von blutigen Auseinandersetzungen Jahrhundert. Seit der tschetschenischen Un- geprägte Geschichte mit den Russen haben. abhängigkeitserklärung 1991 ist er – neben Wenn man diese Instrumentalisierung von Schamil – zum wichtigsten Nationalhelden Geschichte nicht dazu benutzt hätte, sich 1991 Tschetscheniens ernannt worden und es ist ein mit allen Mitteln von Russland loszusagen, regelrechter nationaler Kult um ihn entstanden. dann wäre es unter Umständen zu einem ganz So wurden damals etwa der Flughafen von anderen Verlauf des Konfliktes gekommen. Die Grozny sowie auch einer der zwei Hauptplätze Russen sind bekannterweise nicht zimperlich der Stadt nach ihm benannt (Gammer 2002: und schlagen gerne und schnell zu, aber gera- 123ff; Gammer 2006: 27). de zu Beginn der 1990er Jahre waren sie gar Die enorme Popularität des aus Dagestan nicht in der Lage, all ihre Konflikte gleichzeitig stammenden Imam Schamil ist dagegen dar- mit Waffengewalt zu lösen. Wenn somit nicht auf zurückzuführen, dass er der erfolgreichste Dudajew an der Spitze der tschetschenischen und am längsten herrschende Widerstandsfüh- Führung gewesen wäre, sondern es einen rer der TschetschenInnen war (ein Portrait von moderateren, weniger von seinen eigenen ihm findet sich im Anhang, Abbildung 3). Zu- Komplexen getriebenen Führer gegeben hätte, dem gründete er das auf der scharia beruhen- dann hätte sich die Situation unter Umständen de Imamat im Nordkaukasus und war zu Zei- nicht so entwickelt“ (Interview mit Szyszkowitz, ten der Sowjetunion der einzige tschetscheni- Wien-Moskau 2009). sche Nationalheld, den das tschetschenische Volk öffentlich verehren durfte. Wie auch Man- Schließlich war es dann aber auch die kom- sur wurde Schamil in der Gegenwart heroisiert promisslose Haltung gegenüber Russland, die und im Juli 1997 in Tschetschenien sein zwei- Dudajew zum Anführer der nationalistischen hundertjähriger Geburtstag gefeiert. In Wede- Bewegung gemacht hat. Besonders beein- no, wo sich damals das Hauptquartier von druckt hat die tschetschenischen NationalistIn- Schamil befand, ließ Maskhadov eine Ge- nen dabei Dudajews charismatische Rede im denkanlage für ihn errichten, die aus einer Juni 1991 beim Treffen des tschetschenischen Moschee mit einem 25 Meter hohen Minarett Nationalkongresses, bei der er die „koloniale besteht – welche die 25 Jahre seines Wider- Freiheit“ unter Russland sowie jede andere standskampfes symbolisieren sollen –, aus „hybride“ Version von Souveränität strikt ab- einem traditionellen muslimischen Bildungsin- 49 stitut (madrassa) sowie aus einer Wand seiner KPdSU von 1953 bis 1964 – kam es im Zuge Festung, welche damals von der russischen der sowjetischen Invasion Afghanistans 1979 Armee zerstört wurde. Im Rahmen dieser Ge- zu einer großen anti-islamischen Propaganda- denkfeier lobte Maskhadov auch Schamils welle in den sowjetischen Massenmedien. Verdienste im „Befreiungskampf der kaukasi- Manche TschetschenInnen und DagestanerIn- schen Völker“ und erinnerte die Anwesenden nen waren bezüglich dieses Krieges auch eher daran, dass der gesamte Kaukasus immer zurückhaltend, da sie mit den AfghanInnen noch eine geeinte Nation darstellt. In diesem sympathisierten. Das „aggressive“ Vorgehen Sinne wurden Mansur und Schamil in den der Bewegung von Schamil im 19. Jahrhundert 1990er Jahren für die Legitimierung des tsche- wurde somit wieder einmal von russischer tschenischen Unabhängigkeitskampfes und Seite scharf verurteilt und als „reaktionär“ ein- der tschetschenischen Führung instrumentali- gestuft. Erst Gorbatschows Reformen Ende siert (Gammer 2002: 125ff).56 der 1980er Jahre und die damit einhergehende Interessant zu verfolgen ist jedoch auch der Entwicklung von freier Meinungsäußerung politische Diskurs über Schamil in der Sowjet- führten zu einer erneuten Rehabilitation Scha- union und im heutigen Russland, der häufigen mils. Die oft unterschiedliche Interpretation der Änderungen unterworfen war. Karl Marx sym- Rolle des Imams reflektierte somit in einer pathisierte schon zu Schamils Lebzeiten mit gewissen Weise auch immer die Beziehungen dem Imam, dessen Widerstandskampf gegen zwischen Moskau und dem Islam bzw. den die zaristischen Truppen Marx stark beein- nordkaukasischen MuslimInnen (Gökay 1998). druckte. Diese Ansicht wurde auch von den Der heutige Diskurs um die Bedeutung Scha- ersten Führungspersonen der Sowjetunion mils variiert ebenfalls stark, und unterschiedli- geteilt, welche Schamils Truppen als ein vor- che ethnische und religiöse Gruppen definie- bildliches Beispiel für eine progressive nationa- ren und instrumentalisieren den „Mythos le Befreiungsbewegung sahen, die sich gegen Schamil“ gemäß ihren politischen Interessen. den „zaristischen Imperialismus“ zur Wehr Gammer (1999) hat diesbezüglich sieben ver- setzte. Sogar Stalin sprach sich damals für die schiedene Narrative zusammengefasst, wel- Selbstbestimmung der nordkaukasischen Mus- che das Wirken des Imams jeweils unter- limInnen aus und akzeptierte kurzzeitig sogar schiedlich bewerten: die scharia – wohl auch, weil er sich der Be- deutung der muslimischen Völker für den Sieg  Im tschetschenischen Narrativ stellt im damaligen Bürgerkrieg bewusst war. Bis Schamil – wenig verwunderlich – einen zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde herausragenden Führer und ein wichtiges Schamil in Biographien, Geschichts- und Kin- Symbol für den „300-jährigen Unabhängig- derbüchern als talentierter Führer der Bergvöl- keitskrieg“ dar, auch wenn seine Bedeu- ker dargestellt, der gegen die zaristische Kolo- tung nicht an die des Tschetschenen Man- nialmacht gekämpft hat. Im Zweiten Weltkrieg sur heranreicht. Der wahre „Held“ dieses wurden die Völker des Nordkaukasus durch Narrativs ist jedoch das tschetschenische die Verbreitung von Pamphleten sogar zu ähn- Volk, welches Schamil mit den „tapfersten“ lichen Heldentaten – wie sie damals Schamil und „besten“ KämpferInnen versorgt hat. verübte – aufgerufen, nur diesmal im Kampf Weiters wird auch betont, dass Schamil gegen die Nazis. Mit dem Beginn des Kalten nur ein Anführer in diesem mehrere hun- Krieges – eine Periode, die von großem russi- dert Jahre langen Krieg ist. In manchen schen Patriotismus und Chauvinismus geprägt Fällen wird Schamil deshalb sogar als Ver- war – kam es jedoch zu einer Diffamierung räter diffamiert, da er sich in diesem „ewi- aller damaligen anti-kolonialen Bewegungen gen“ Unabhängigkeitskrieg Russland er- gegen das Zarenreich als „reaktionär“, und geben hat – alternativ wird deshalb auch Schamil wurde als Agent des Osmanischen auf einen von Schamils Befehlshabern, und Britischen Reiches gebrandmarkt. Nach Baysungur, verwiesen, der nach Schamils einer Phase der Rehabilitation Schamils unter Gefangennahme noch ein Jahr lang gegen Nikita Chruschtschow – dem Parteichef der die russischen Truppen kämpfte.57 Durch diese Interpretation soll darauf hingewie-

56 An dieser Stelle soll auch auf die Bedeutung des sheikh Kunta Hadschi hingewiesen werden, der im 19. Jahrhun- 57 So wurde Baysungur in den 1990er Jahren von be- dert die sufistische Qadiriyya-Bruderschaft in Tschetsche- stimmten nationalistischen Gruppen in Tschetschenien als nien etabliert hat (siehe auch Kapitel 3.1.1.). Für viele Nationalheld propagiert, der – im Gegensatz zu Schamil – TschetschenInnen ist Kunta bedeutsamer als Mansur, bis zu seinem Ende kämpfte. Einem kontemporären tsche- Schamil und Dudajew zusammen, da er als spiritueller tschenischen Schriftsteller zufolge war Baysungur schwer Führer und Meister (ustadh) gilt. Ein Grund für seine Popu- verkrüppelt, nahm aber trotzdem – an sein Pferd gebun- larität mag auch darin liegen, dass die Qadiriyya die antire- den – an Schlachten teil, und repräsentierte somit „a mo- ligiösen Kampagnen unter sowjetischer Herrschaft über- del symbol of the Chechen people’s physical condition and standen hat und auch heute noch in Tschetschenien vor- refusal to submit at that period of time(…)“ (Usmanov herrscht (Gammer 2002: 127f). 1997: 71 zit. nach Gammer 2006: 70). 50

sen werden, dass Schamils Kapitulation blik“ von 1918 oder der 1989 gegründeten nicht eine Billigung der russischen Herr- „Konföderation der kaukasischen Bergvöl- schaft bedeutet hat und somit der Unab- ker“ ihren Ausdruck fand (siehe auch Kapi- hängigkeitskampf mit 1859 nicht zu Ende tel 4.2.2.). Diese Version hebt besonders war. das gemeinsame Vorgehen der Kauka- susvölker – unter der Führung der Tsche-  Im Oktober 1997 unterstützte die russische tschenInnen – hervor. Regierung die Veranstaltungen und Feier- lichkeiten bezüglich Schamils 200-  Das von der sufistischen Elite geschaffene jährigem Geburtstag; seitdem wird das muslimische konservative Narrativ bezieht neue, offizielle Narrativ von russischer Sei- sich vor allem auf die religiöse Bedeutung te propagiert. Dieses betont vor allem die des Wirkens von Schamil und die religiöse Rolle Schamils nach dessen Kapitulation Legitimität seiner Führung. Die sufistische 1859, als dieser – laut Narrativ – eine Naqschbandi-Bruderschaft spielte damals „Wiederversöhnung“ mit dem ehemaligen eine wichtige Rolle bei der Konsolidierung Feind Russland anstrebte, ein glühender des Widerstandes und der Schaffung des Bewunderer der russischen Kultur wurde Imamats, und deshalb könnte die Naqsch- und den zukünftigen Generationen von bandiyya auch in Zukunft wieder eine füh- DagestanerInnen die Möglichkeit eröffnet rende Stellung einnehmen. hat, in einem „ewigen Frieden“ mit dem Russischen Reich zu leben. In diesem  Das muslimische revolutionäre Narrativ Sinne wurde der Widerstandskämpfer schließlich wird von islamistischen Grup- auch in die „Ruhmeshalle“ der russischen pen hervorgebracht, da der Imam Schamil HeldInnen aufgenommen. ein archetypischer islamischer Revolutio- när war, dem der „wahre Islam“ wichtiger  Das dagestanisch-awarische Narrativ: Für war als die Befreiung von der Fremdherr- die AwarInnen – die zahlenmäßig größte schaft, und der vor allem die Einführung ethnische Gruppe in Dagestan – war der scharia durchgesetzt hat. Weiters rich- Schamil immer schon ein Nationalheld, da tete sich Schamil – laut dem Narrativ – in er ja auch selbst Aware war. Dieses Narra- geringerem Maße gegen die „ungläubigen“ tiv – welches vor allem von der awarischen RussInnen als vor allem gegen die „An- Elite und vom Mainstream der awarischen dersgläubigen“ innerhalb der eigenen Nationalbewegung getragen wird – betont Gruppe – d.h. „kollaborierende“ lokale vorwiegend Schamils heroische Erfolge MachthaberInnen und „irrende“ religiöse mit großem Stolz, vermeidet es jedoch von FührerInnen, welche die Menschen vom dem russischen Gegner zu sprechen. Das „rechten Weg“ abgebracht haben. ist einerseits darauf zurückzuführen, dass Dagestan ein Mitglied der Russischen Fö- Für viele TschetschenInnen war Schamil nicht deration und ökonomisch abhängig von nur deshalb von Bedeutung, da er den Wider- Moskau ist. Zudem dient diese historische standskampf gegen Russland trotz geringer Interpretation dem Zweck, die territoriale Erfolgschancen über beinahe 30 Jahre auf- Integrität gegenüber separatistischen rechterhalten und somit unbewusst zur Schaf- Gruppierungen zu wahren sowie auch die fung einer reichhaltigen nationalen Mythologie dominante Position der AwarInnen in Da- beigetragen hat. Vor allem schuf er als Erster gestan abzusichern. „staatliche“ Institutionen in Tschetschenien, auf welche selbst die russischen Autoritäten nach  Das awarische revolutionäre Narrativ be- seiner Kapitulation aufbauten. Dennoch war tont vor allem den Widerstand gegen und ist er noch immer – wie oben angedeutet – Russland und wird von awarischen extre- recht umstritten in Tschetschenien – nicht nur mistischen Gruppen mit dem Ziel propa- aufgrund seiner Aufgabe, sondern auch da er giert, Dagestan von der Russischen Föde- zwecks Konsolidierung des Imamats brutal ration abzuspalten. Diese Gruppe ist zwar gegen die tschetschenischen und dagestani- noch zahlenmäßig relativ klein, könnte je- schen Clans58 vorgegangen ist, die sich ihm doch aufgrund der schlechten sozioöko- nicht angeschlossen haben. Dies war vor allem nomischen Situation in Dagestan an Zu- für die TschetschenInnen besonders hart, die wachs gewinnen. traditionell keine Aristokratie welcher Art auch immer besaßen und somit manche von Scha-  Das Narrativ des vereinten Kaukasus be- zieht sich auf die Schaffung einer „pan- 58 kaukasischen Identität“ unter Schamil, Einer dieser Rivalen war Hadschi Murat, über dessen Schicksal Lew Tolstoj (2000) im gleichnamigen Buch welche etwa in der kurzlebigen „Bergrepu- erzählt. 51 mils StellvertreterInnen zutiefst verachteten – 4).59 So wie der Wolf sind auch die Tsche- zudem diesen von Schamil auch Landbesitz tschenInnen laut dieser Metapher freiheitslie- übertragen wurde. In diesem Sinne hatten bend, furchtlos und bereit, einen größeren und auch in den 1990er Jahren bestimmte Grup- stärkeren Feind anzugreifen. Zudem sind sie pen unter den TschetschenInnen – vor allem ihrer Verwandtschaft gegenüber loyal und die pro-russisch eingestellten – ein negatives opfern für sie ihr Leben. Vor allem kann ein Bild von Schamil und verurteilten den von ihm Wolf nicht gezähmt werden und würde eher mitgeschaffenen Mythos des sturen Wider- sterben, als sich zu ergeben – eine Richtlinie, standes gegen Russland (Lieven 1998: 304- der im Kontext des nationalistischen Narratives 309). Umar Avturkhanov – ein Mitglied des das tschetschenische Volk über die letzten 1995 von der russischen Führung unterstütz- Jahrtausende hinweg treu geblieben sei. So ten Übergangsrates in der tschetschenischen haben „die TschetschenInnen“ immer ihre Stadt Znamenskoye – kritisierte neben dem Freiheit gegen äußere Feinde verteidigt, sei es Vorgehen Dudajews und dem der russischen gegen die SassanidInnen, das Byzantinische Armee auch die Rolle Schamils im gegenwär- Reich, das Arabische Kalifat, die ChasarInnen, tigen Konflikt: die TschingisidInnen, Timur Leng, Nadir Shah oder in den letzten Jahrhunderten gegen das „They talk about the tradition of Shamil, but Zarenreich, die Sowjetunion und die Russische what did Shamil do for Chechnya in fact? He Föderation. Diese Sichtweise spiegelt sich brought us only decades of unnecessary war, auch stark im Mythos der „ancient nation“ so- the ruin of the country and the death of half its wie dem Mythos des „ewigen Krieges“ wider. people. And he wasn’t even a Chechen. He Stark mit dem Symbol des Wolfes ist auch der came here from Dagestan, preaching his crazy Topos der Freiheit (marsho) verbunden, wel- religious fanaticism, hatred of the Russians cher über die traditionelle westliche oder isla- and holy war, and we behaved like fools as mische Bedeutung hinausgeht und soviel wie usual, and followed him, to our destruction” „Frieden“ und „Wohlbefinden“ bedeutet. Dies (zit. nach Lieven 1998: 303f). findet u.a. auch in folgenden täglichen Gruß- formeln und Ausdrücken in Tschetschenien Dudajew stellte sich im Zuge der nationalen seinen Ausdruck: „Tritt ein in Frieden“ (marsha Revolution 1991 in eine Reihe mit Imam woghiyla), „Gehe in Frieden“ (marsha ghoyla), Schamil und Mansur, um so die Kontinuität des „jemandem Frieden wünschen“ (marshalla tschetschenischen Widerstandskampfes zu doiytu) oder in dem Spruch „möge Gott für betonen. Besonders aussagekräftig war dabei Frieden sorgen“ (dala marshall doila). Konzep- die Herausgabe eines dreiteiligen Briefmar- te von Frieden, Freiheit und der Ablehnung von kensets im Herbst 1991, auf denen Portraits auferlegter Autorität sind auch stark mit den von Mansur, Schamil und Dudajew abgebildet Begriffen Ehre und Männlichkeit verbunden, waren. Jedoch ist Halbach zufolge letzterer auf die im nächsten Kapitel (3.4.5.) eingegan- keinesfalls in einem Atemzug mit den beiden gen werden soll (Gammer 2002: 120f; Gam- Imamen zu nennen, da Dudajew eher eine der mer 2006: 5f). Folgende Beschreibung des zahlreichen nationalistischen Karrieren nach tschetschenischen Politikers Lema Usmanov dem Zusammenbruch der Sowjetunion verkör- fasst die positiven Eigenschaften des Wolfes perte und einen säkularen nationalen Staat zusammen: gründen wollte. Auch der islamistisch geprägte tschetschenische Widerstandskämpfer Scha- „The lion and the eagle are both embodiments mil Bassajew verwies öfters auf seine Herkunft of strength, but they attack only the weak. The aus Wedeno – wo sich das ehemalige Haupt- wolf is the only creature that dares to take on quartier des Imam Schamil befand. Bis zu someone stronger than himself. The wolf’s seinem Tod 2006 spielte er auch oft auf die insufficient strength is compensated for with Muridenkriege unter Schamil an und genoss im limitless audacity, courage and adroitness. If, Kaukasus den Ruf eines „zweiten Schamils“ however, he has lost the battle he dies silently, (Halbach 1995: 196, 214). expressing neither fear nor pain. And he al- ways dies facing his enemy” (Usmanov 1997: 42 zit. nach Gammer 2006: 5). 3.4.4. Das Symbol des Wolfes Diese Darstellung vernachlässigt jedoch die Die TschetschenInnen vergleichen ihren „nati- negativen Attribute, die einem Wolf zuge- onalen Charakter“ oft mit dem eines Wolfes schrieben werden können, wie etwa die gna- (borz), weshalb dieser auch nach der nationa- denlose und brutale Jagd auf schwächere, len Revolution auf dem Wappen der unabhän- gigen tschetschenischen Republik Ichkeria 59 So meinte etwa auch ein russischer Beobachter im 18. abgebildet wurde (siehe Anhang, Abbildung Jahrhundert, die TschetschenInnen wären „so frei wie Wölfe“ (Fowkes 1998: 3). 52 wehrlose Tiere. Diese Eigenschaft setzt Gam- For a crust of bread. mer gleich mit der Erosion sozialer traditionel- But the leash and chain ler Normen durch die letzten beiden Kriege, Are your prize – and well deserved! welche zu Entführungen, Geiselnahmen und Tremble in your cages Sklavenhandel durch und von TschetschenIn- When we are out hunting! nen geführt hat (siehe auch 4.5.2.) (ebd.: 5f). Because, more than any bear, Die tschetschenische Sozialstruktur war tradi- We wolves hate tionell egalitär organisiert, d.h. dass die Tsche- Dogs”. tschenInnen jegliche Autoritäten wie etwa ein- heimische und auch fremde Machthaber und Zu vergleichen mit dem Symbol des Wolfes ist Adelige vertrieben haben. Die tschetscheni- auch das der Distel, mit welcher Tolstoj in sei- sche Folklore erzählt vom Prinzen Sepa, der in nem „Hadschi Murat“ die TschetschenInnen Tschetschenien das droit de seigneur einfüh- gleichgesetzt hat. Als der Erzähler in dem Ro- ren wollte – das „Recht der ersten Nacht“, dem man bei einem Spaziergang eine abgebroche- zufolge bei der Heirat von Personen, die einem ne Distel am Wegrand findet, sinniert er über Gerichtsherrn unterstehen, dieser das Recht deren Energie und „Zählebigkeit“ und den Um- hat die erste Nacht mit der neuen Braut zu stand, dass sich diese allen Widerständen zum verbringen. Dieser Prinz wurde schließlich von Trotz doch nicht „ergibt“ und immer noch Wi- einem der Brüder der betroffenen Frauen getö- derstand leistet. In weiterer Folge geht er dann tet, woran auch heute noch die Ruinen des auf die Geschichte des heldenhaften und eh- Befestigungsturms von Tsoi-Pkheda erinnern. renvollen Tschetschenen Hadschi Murat ein Dieser Aspekt findet auch heute noch seinen und stellt so eine Verbindung zwischen den Ausdruck im tschetschenischen Sprichwort „we „unzähmbaren“ und ständig Widerstand leis- are free and equal as the wolves“ (Lieven tenden TschetschenInnen und der Distel her 1998: 339). Weiters gibt es in Tschetschenien (Tolstoj 2000: 9ff). Auf die Bedeutung dieses ein berühmtes Gedicht, das die Konfrontation Werkes für die Konstruktion einer gegen Russ- mit Russland thematisiert indem es die Tsche- land gerichteten „tschetschenischen ethni- tschenInnen als edle Wölfe und die RussInnen schen Identität“ wird in Kapitel 4.1.4. einge- als verachtenswerte Hunde darstellt (Gammer gangen. 2006: v): Aber auch in den 1990er Jahren wurden ver- mehrt Bezüge zum Symbol des Wolfes herge- „We are wolves stellt. So wurde Schamil Bassajew etwa der Compared to dogs, we are few. Name „der Wolf“ gegeben, bzw. war der tsche- To the sound of double-barrelled guns tschenische Warlord Salman Radujew auch We have declined over time. unter dem Namen „der einsame Wolf“ bekannt As in an execution (Seierstad 2008: 42ff). Weiters wurde in We soundlessly fell to the ground Tschetschenien eine Maschinenpistole mit But we have survived, dem Namen borz hergestellt (Smith 1998: Even though we are banned. 130). Schließlich wurde der Wolf auch – wie We are wolves. schon erwähnt – im Wappen und in der Flagge We are few. der tschetschenischen unabhängigen Republik There are hardly any on us. Ichkeria verwendet. Dieses Emblem des unter We, wolves and dogs, share one mother, einem Vollmond liegenden Wolfes ging angeb- But we refused to surrender. lich auf eine Zeichnung von Dudajews russi- Your lot is bowls with food, scher Frau Alla zurück, welche dabei eher von Ours is hunger on frozen ground der alten animistischen Tradition Tschetsche- Animals’ tracks, niens inspiriert wurde als von dem erst seit Snowfall under silent stars. dem 16. Jahrhundert vorherrschenden Islam. In the January frosts Auch im Hinblick auf das Symbol des Wolfes You are allowed inside, wurde somit wieder bewusst eine Verbindung While we are surrounded by zum „300-jährigen Krieg“ gegen Russland A tightening of red lights. gezogen. Unter der pro-russischen Verwaltung You peep out through a crack in the door, hingegen wurde die Abbildung des Wolfes aus We roam in the woods. der offiziellen Flagge entfernt, da angeblich die You are really wolves „muslimische Tradition“ solche Bilder verbietet But you had not the guts for it. (Hughes 2007: 67; Malek 2008: 45f). You were grey, Once you were brave, But you were handed scraps And became slaves. You are glad to serve and flatter 53

3.4.5. Der Mythos der militärischen Tapfer- Eng verbunden mit dem Mythos der militäri- keit und der abreks schen Tapferkeit, der wie erwähnt tief in der tschetschenischen Kultur verankert ist, ist auch Nationale Mythen bekräftigen nicht nur eine das Konzept von jach. Dieses ist auch im tradi- ethnische Identität, sondern weisen auch auf tionellen tschetschenischen Normen- und Wer- positive Werte und Eigenschaften hin, die die- tecode (nokhchallah) vorhanden, welcher vor se verkörpern sollte. Mythen des Widerstandes allem die Werte der Freiheit und Ehre hoch- können etwa die militärischen Werte einer hält. Zudem umschließt dieser u.a. neben der Gruppe hervorheben, was auch bei den Tsche- Pflicht der Gastfreundschaft, Freundlichkeit tschenInnen der Fall ist (Huysseu- und der Bereitschaft zu Kompromissen auch ne/Coppieters 2002: 291). Laut Kaufman die Ablehnung jeder Art von Unterwerfung und (2001: 30) ist eine Gruppe anfälliger für ethni- Unterdrückung (Malek 2008: 44f). Letzterer sche Gewalt, wenn diese ein Krieger-Ethos Punkt zeigt sich auch in Dudajews Aussage, besitzt und propagiert; auch Ware (2005: 89) dass „A slave who does not try to shake off his weist darauf hin, dass die Instrumentalisierung fetters deserves double slavery!“ (Put’ Dzhok- von Geschichte und der nationalistische Mobi- hara zit. nach Tishkov 2004: 86). Der Begriff lisierungsprozess im Tschetschenienkonflikt des jach umfasst ebenfalls diese Werte, wie durch die tschetschenische Kriegsmythologie der tschetschenische Historiker Juri Seschil noch um einiges verstärkt worden sind, die in dies in folgendem Zitat zum Ausdruck bringt: Zyklen der Konfliktes immer weiter fortge- schrieben und bestätigt wird. „Jeder Tschetschene kennt ‚jach‘, diesen un- Schöpflin (1997: 27, 32) weist bei seiner Taxo- übersetzbaren Begriff, der in etwa heißt: Hel- nomie von Mythen auch auf die Mythen der dentum, Ehre, Mut, Edelmut, Opferbereit- militärischen Tapferkeit hin, in welchen eine schaft, Wagemutigkeit. Es ist ein geistiger und ethnische Gruppe den wahren Ausdruck ihres körperlicher Zustand. Alle Tschetschenen sind Wesens im Kampf gegen eine untragbare ty- gleich (…) ‚jach‘ ist der Weg eines Mannes von rannische Macht findet. Dabei handelt es sich der Geburt bis zum würdevollen Tod, der inne- vor allem um einen homogenisierenden My- re Code jedes Tschetschenen. Wo ‚jach‘ ist, thos, welcher die Rolle des Individuums mini- kann der Wille nicht gebrochen werden“ (Se- miert und sie ins Kollektive transferiert. Diese schil 2002: 50f zit. nach Szyszkowitz 2008: Mythen können vor allem dafür verwendet 51). werden, um Gewalt als ein Mittel zur Verände- rung etwa einer ungerechten Situation zu legi- Der Vize-Präsident der Europäisch- timieren, um ein bestimmtes Regime als tyran- Tschetschenischen Gesellschaft Khawasch nisch darzustellen oder auch um Kompromisse Bisaev differenziert hierbei jedoch zwischen und Verhandlungen mit der anderen Gruppe jach und dem Begriff des nokhchallah, welchen als inakzeptabel und unehrenhaft abzuwerten. er eher als „nationalistisch“ einstuft. Ihm zufol- Weiters kommt hier auch der Aspekt zu tragen, ge muss man – wenn man jach besitzt – seine dass Mythen einer Kultur eingeschrieben sind eigene Angst überwinden, jedwedem Risiko und je nach spezifischer Situation wiederbelebt trotzen, sich mit seinem Leben einsetzen und und hervorgehoben werden können. Der My- darf auch nicht kalkulierend handeln. Mit einem thos der militärischen Tapferkeit wurde auch Menschen, der kein jach besitzt, hat man da- von TschetschenInnen Anfang der 1990er gegen nicht gerne zu tun. So findet man dieses Jahre besonders betont, um auf den Helden- Konzept auch in vielen Alltagssituationen, wie mut der VorfahrInnen hinzuweisen und das Bisaev beschreibt: tschetschenische Volk im Kampf gegen den „russischen Tyrannen“ zu mobilisieren. Auch „Wir waren heute in Österreich mit den öffentli- wurden von Dudajew jegliche Kompromisse chen Verkehrsmitteln zu dritt oder zu viert un- mit Russland über den Status Tschetscheniens terwegs. Wenn ich ein Ticket kaufe, dann kau- abgelehnt, da dies wohl als unehrenhaft gegol- fe ich dieses für alle und niemand erfährt da- ten hätte und dementsprechend auch seine von – das wäre ein Beispiel für jach. Oder Legitimität als tschetschenischer Widerstands- wenn man sich – auch unter Gefahr – für anführer in einem „300-jährigen Krieg“ unter- Frauen, Kinder oder Schwache einsetzt, ist graben hätte. Dies belegt auch folgende Aus- das jach. Wenn man das nicht tut, bringt dies sage des damaligen tschetschenischen Präsi- Schande über einen – so sind die tschetsche- denten: „I wasn’t looking for power, riches or nischen Gewohnheiten und Traditionen. Auch duties. I’ve always had just one idea – to fight heute gehen in Tschetschenien viele ins Ge- for the Chechen people’s right to independ- birge und kämpfen, da sie die Verhältnisse im ence. That’s my life’s goal and I will not shy Land nicht akzeptieren wollen. Das ist jach – away from it. Not under any conditions, or any ihre Ehre, ihre Einstellungen und ihre Prinzi- pressure” (Dudajew zit. nach Smith 1998: 128). 54 pien haben Vorrang“ (Interview mit Bisaev, Männer in einer Zeit der persönlichen und Wien 2009). nationalen Umbrüche. Laut Smith (1998: 18) trugen viele GuerillakämpferInnen im ersten Aufgrund der unwirtlichen Bedingungen im Krieg neben ihren Gewehren, Granaten und Kaukasusgebirge und der Angriffe seitens der Kalaschnikow-Munition auch einen kinjal äußerer Mächte hat sich im Nordkaukasus ein mit sich, um so zu symbolisieren, dass sie den „Kult des wagemutigen Mannes“ herausgebil- Kampf ihrer Vorväter weiterführen. det, für den Angst und Gefahr nicht existieren. Dieses Ethos diente der Funktion, den Zu- In der tschetschenischen Mythologie ist auch sammenhalt innerhalb der Verwandtschaft zu von den narts – den sagenumwobenen Rie- stärken und stets auf der Hut zu sein. Männli- sInnen des Nordkaukasus – die Rede. Diese che Tschetschenen wurden traditionell als entsprechen den TitanInnen in der griechi- Krieger ausgebildet, um ihr Land und ihre Fa- schen Mythologie und werden heute noch in milie zu verteidigen, und trugen oft den ganzen Form von epischen Gedichten als Rebel- Tag über ihre tschetschenischen Dolche (kin- len/innen, HeldInnen und Gesetzlose verehrt. jals) bei sich. Diese ständige Kampfbereit- Sie bildeten wohl auch die Grundlage für den schaft, um andere zu schützen, ist auch Teil Mythos der abreks – den ehrenvollen Bandi- des nokhchallah. Die TschetschenInnen waren tInnen im Nordkaukasus, die damals oft vor auch immer als herausragende JägerInnen, einer Vendetta in die dicht bewaldeten Berge SoldatInnen, ErbauerInnen von Befestigungs- flüchteten. Zur Zeit des „großen ghasawat“ anlagen und WaffenschmiedInnen bekannt. wurden sie von den TschetschenInnen als Somit spielten auch Waffen immer eine wichti- nationale HeldInnen gefeiert, da sie sich dem ge Rolle und die Herstellung von Schwertern russischen Gesetz entzogen und in den Ber- und kinjals aus Damaskus-Stahl – welcher gen die russischen Truppen bekämpften. Die- zwischen 1100 und 1700 n. Chr. im Mittleren se Robin Hood-ähnlichen Gestalten genossen Osten zur Fertigung von Schwertern verwen- die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung det wurde – war eine prestigeträchtige Er- und zerstörten staatliche Einrichtungen, raub- werbstätigkeit. Dieser „Waffenkult“ zeigt sich ten Reisende auf der Straße und in Zügen aus auch darin, dass Säbel und Gewehre reprä- und eigneten sich Privateigentum an. Als wah- sentativ in beinahe jedem Haus an die Wand re HeldInnen und Symbole des Widerstandes gehängt und zur Schau gestellt wurden. Der kämpften sie den Legenden zufolge auch wa- tschetschenische Begriff für Damaskus-Stahl gemutig bis zu ihrem Tod und konnten nur (bulat) manifestierte sich auch in lokalen Na- durch den Verrat der eigenen Landsleute oder men wie etwa Shchokbulat („Schneeleopar- durch eine überwältigende Anzahl russischer den-Bulat), Hasbulat („schöner Bulat“), Dzam- SoldatInnen bezwungen werden. Der berühm- bulat („Kampfaxt-Bulat“) oder Beibulat („be- teste abrek war Zelimkhan Gushmazukayev sonderer Bulat“). Dieser im Nordkaukasus von Kharachoy, der Anfang des 20. Jahrhun- weitverbreitete „Kult des starken Mannes“ fin- derts gegen die zaristischen Truppen gekämpft det gegenwärtig auch in der Sportart des Ring- hat und in mündlich überlieferten Geschichten kampfes seinen Ausdruck, welcher angeblich als Held gefeiert wird. Die breite Unterstüt- einer der traditionellen Sportarten der Waina- zung, die Zelimkhan und die abreks in Teilen chInnen war. Die besten und erfolgreichsten der tschetschenischen Bevölkerung erhalten RingkämpferInnen der Sowjetunion und der haben, soll auch in einer gewissen Weise die Russischen Föderation stammten aus dem Ablehnung der russischen Herrschaft im Kau- Nordkaukasus und speziell aus Tschetsche- kasus symbolisieren. Zuletzt soll Zelimkhan nien (Malek 2008: 47). verraten worden und im Jahre 1913 gestorben Diese Traditionen waren laut Tishkov (2004: sein. Auch heute noch zeugt eine Statue von 98f, 160) auch ein Mitgrund für die Beteiligung ihm auf einem Pferd in Serzhen Yurt von sei- junger TschetschenInnen im Kampfgeschehen nen damaligen Heldentaten gegen Russland des ersten Krieges. Angestachelt durch die (Gammer 2006: 114-117; Smith 1998: 12-15). traditionelle heroische Mythologie und durch Der letzte der legendären abreks war Khasukhi das Sowjetsystem – welches sportliche Wett- Magamadov, welcher der Deportation 1944 kämpfe sowie auch patriotische Agitation för- entkommen konnte, in den Bergen Tsche- derte – war der Kampf im Krieg für viele auch tscheniens einen Guerilla-Kampf gegen die ein Ventil, um Aggressivität abzulassen und russischen Truppen geführt hat und schließlich die alte Nomenklatura zu ersetzen, die die 1979 im Kampf gestorben ist (Jaimoukha soziale Mobilität der jungen Menschen stark 2005: 147). eingeschränkt hatte. Aber auch die Propagan- In den 1990er Jahren ist der Mythos der da von Yandarbiev, dass jede/r Tschetsche- abreks dann wiederbelebt worden. Der Tsche- ne/in für die Freiheit und Unabhängigkeit des tschene Alaudi Khamzatov, der sein kriminell Landes kämpfen sollte, mobilisierte viele junge gewonnenes Geld in den Kauf von Waffen 55 investierte, verteidigte etwa die tschetscheni- sche Stadt Argun zu Beginn des ersten Krie- ges heldenhaft und starb schließlich im Kampf. Auch Ruslan Labazanov, dessen Privatarmee sich stets mit BMWs und japanischen Autos fortbewegt hat, ist als ein abrek bezeichnet worden – obwohl er sich nach einem Streit mit Dudajew den russischen Truppen angeschlos- sen hat. Dennoch verteilte er Geld an die stark von Armut betroffenen BewohnerInnen seiner Heimatstadt Tolstoy Yurt in Nordtschetsche- nien und kämpfte laut eigenen Aussagen auf der „Seite der Armen“. Schließlich wurde er jedoch von den UnabhängigkeitskämpferInnen als Verräter gebrandmarkt und 1996 ermordet. Smith kommt schließlich zu dem treffenden Vergleich, dass die Pferde und kinjals von damals in der Gegenwart ersetzt wurden durch BMWs und Kalaschnikows (Smith 1998: 15f). Erst im Zuge des rezenten Konfliktes wurde der Mythos des abrek wieder in den Mittel- punkt gerückt und haben tschetschenische Familien versucht, genealogische Verbindun- gen mit diesen mythologischen Heldenfiguren herzustellen. Die Propagierung dieser HeldIn- nen sollte somit abermals unterstreichen, dass die TschetschenInnen sich niemals einer Auto- rität unterworfen und sich dieser stets wider- setzt haben (Tishkov 2004: 21).

An dieser Stelle muss jedoch abschließend darauf hingewiesen werden, dass auch Russ- land bzw. das russische Militär über ein teils gewaltverherrlichendes Geschichtsverständnis verfügt, was jedoch im Rahmen dieser Arbeit – die ihren Schwerpunkt auf tschetschenische Mythen und Symbole richtet – nicht näher be- handelt werden kann. Dieses Verständnis ist mit Sicherheit auch auf die Glorifizierung des Militärs in der Sowjetunion zurückzuführen und zeigte sich wohl auch anhand des Drucks des Militärs auf die russische Führung, 1994 und 1999 in Tschetschenien einzumarschieren. Dieser Umstand begünstigte bedauerlicher- weise den Ausbruch des ersten Tschetsche- nienkrieges, wie auch Szyszkowitz feststellt:

„Wenn sich Russland demokratischer entwi- ckelt hätte, dann hätten eventuell alle Völker mehr oder weniger im ‚großen Frieden‘ und unter demokratischen Bedingungen miteinan- der leben können (…) Beispielsweise hätte man bessere Autonomieverträge aushandeln können (…) Da beide Seiten jedoch in archai- schen Kriegskonzepten und psychotischen Gewaltutopien gefangen sind, hat sich dies bedauerlicherweise nicht realisieren lassen“ (Interview mit Szyszkowitz, Wien-Moskau 2009).

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4. Über die interethnischen Be- tität geprägt, weshalb abschließend folgende untergeordnete Forschungsfrage beantwortet ziehungen zwischen Tsche- werden soll: „Welche Rolle spielten die tsche- tschenInnen und RussInnen tschenisch-russischen Ethnizitätsbeziehungen für die Herausbildung einer tschetschenischen und die Konstruktion einer nationalen Identität?“ „tschetschenischen nationalen Identität“ 4.1. Die Abgrenzung und Stereoty- Nach einer Auseinandersetzung mit den kon- pisierung von anderen Gruppen fliktträchtigen Aspekten der tschetschenisch- russischen Geschichte soll nun auch auf die Da es sich bei Ethnizität um ein relationales komplexen interethnischen Beziehungen zwi- Phänomen handelt, ist somit auch eine gewis- schen TschetschenInnen und RussInnen ein- se Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen gegangen werden, um Gemeinsamkeiten und vonnöten, um die Grenzen der eigenen Grup- Formen von Hybridität herauszuarbeiten. Die pe festzulegen: „Defining us implies – if zentrale Forschungsfrage dieses Abschnittes nothing stronger – an image of them“ (Jenkins lautet somit: „Wie gestalteten sich die intereth- 2002: 121). Ethnische Stereotype helfen dabei nischen Beziehungen zwischen Tschetsche- den Mitgliedern von ethnischen Gruppen die nInnen und RussInnen seit den ersten aufge- eigene Gruppe in Relation zu einer anderen zeichneten interethnischen Kontakten?“ Nach definieren. Der Prozess der Stereotypisierung der kurzen Übersicht über Definitionen von bezieht sich auf die Schaffung und auf die Ethnizität in Kapitel 2 werden nun in weiterer kontinuierliche Anwendung standardisierter Folge verschiedene Merkmale von Ethnizität – Ideen über die kulturelle Einzigartigkeit ethni- wie beispielsweise die Abgrenzung von ande- scher Gruppen. Diese Stereotype müssen ren Gruppen und deren Stereotypisierung, das nicht gezwungenermaßen einer objektiven umstrittene Verhältnis zwischen Kultur und Wahrheit entsprechen, aber deren Anwendung Ethnizität und die Rolle von Modernisierungs- erfüllt verschiedene Funktionen. Einerseits prozessen für die Entstehung ethnischer helfen sie, Ordnung in einem oft sozial kom- Gruppen – herausgearbeitet und am Beispiel plexen Umfeld zu schaffen, indem man dieses der tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbe- in sich voneinander unterscheidende Gruppen ziehungen illustriert. An dieser Stelle soll – im einteilt. Darüber hinaus sind ethnische Stereo- Hinblick auf obenstehende Forschungsfrage – type sehr nützlich, um die Grenzen der eige- darauf hingewiesen werden, dass „die Tsche- nen Gruppe zu definieren. Oft werden dabei tschenInnen“ und „die RussInnen“ nicht als die Vorzüge der eigenen Gruppe den vermeint- homogene ethnische Einheiten zu verstehen lichen Lastern der anderen Gruppe gegen- sind und sich im Laufe der Jahrhunderte auf- übergestellt, um so eine positive Gruppeniden- grund unterschiedlichster Einflüsse stark ver- tität zu schaffen. Weiters können sie auch ändert haben (siehe auch Kapitel 3.4.2.). Wei- dazu dienen, den Zugang der eigenen Gruppe ters stehen im Rahmen dieses Kapitels vor- zu Privilegien und zu den Ressourcen einer rangig die tschetschenische Ethnie und ihre Gesellschaft zu gewährleisten (Eriksen 2002: Beziehungen zu Russland im Vordergrund. Auf 23ff).60 das interethnische Verhältnis von RussInnen Überdies ist für die Schaffung und Aufrechter- zu TschetschenInnen wird jedoch immer auch haltung einer eigenen Gruppenidentität die implizit eingegangen, da es sich bei Ethnizität Abgrenzung gegenüber „Anderen“ unabding- um ein relationales Phänomen handelt. bar: Da die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Gruppierungen oft auch als ein interre- „The construction of identity (…) involves the ligiöser Konflikt dargestellt worden ist, wird construction of opposites and ‚others‘ whose auch auf die Rolle der Religion in den Ethnizi- actuality is always subject to the continuous tätsbeziehungen Bezug genommen und diese interpretation and re-interpretation of their dif- kritisch hinterfragt, woraus sich folgende un- ferences from ‚us‘. Each age and society re- tergeordnete Forschungsfrage ergibt: „Welche creates its ‚Others’. Far from a static thing Bedeutung kommt dem Faktor ‚Religion‘ in then, identity of self or of ‚other’ is a much diesen interethnischen Beziehungen zu?“ Das worked-over historical, social, intellectual, and tschetschenisch-russische Ethnizitätsverhältnis political process that takes place as a contest hat zudem in vielerlei Hinsicht – wie etwa durch die Schaffung ethnischer Kategorien, 60 Laut dem Sozialpsychologen Rupert Brown kann es durch Abgrenzungsmechanismen und durch beispielweise in Kriegssituationen überlebenswichtig sein, Versuche der „Russifizierung“ – die Herausbil- Menschen in Kategorien einzuteilen, um so zu wissen, wer zu welcher Gruppierung gehört und wie man sich gegen- dung einer tschetschenischen nationalen Iden- über dieser Person verhalten sollte (Brown 1995: 41f). 57 involving individuals and institutions in all soci- 4.1.1. Das Orientalismus-Konzept von Ed- eties” (Said 2003: 332). ward Said

Dieser Abgrenzungsprozess muss jedoch nicht Als die Truppen des russischen Zarenreiches automatisch konfliktiv verlaufen und zu negati- im 16. Jahrhundert in den Kaukasus vorgesto- ven Auseinandersetzungen zwischen ethni- ßen sind, trafen sie verschiedene Gruppen an, schen Gruppen führen. So gibt es neben dem von denen sie sich kulturell sehr unterschieden Prozess der dichotomisation – welcher auf haben. Aufgrund der oft grundlegenden kultu- gegenseitiger Abgrenzung und dem Betonen rellen Unterschiede sind diese in der Regel von Konflikt und Wettstreit beruht – auch den von russischer Seite aus als „unzivilisiert“ und dazu komplementären Vorgang der comple- „barbarisch“ wahrgenommen und dargestellt mentarisation, welcher von gegenseitiger An- worden, im Gegensatz zur eigenen russischen erkennung und Akzeptanz der anderen Gruppe Ethnie, welche sich dagegen als „zivilisiert“ und deren kultureller Unterschiede ausgeht. profiliert hat. Der Historiker Edward Said Um in eine interethnische Beziehung mit einer (2003) hat in seinem einflussreichen Werk anderen Gruppierung zu treten ist es nämlich „Orientalism“ eben diese Dynamiken heraus- auch notwendig ein Feld der Komplementarität gearbeitet. In seinen Ausführungen bezieht er zu schaffen, beispielsweise durch eine ge- sich dabei auf die Wahrnehmung der koloni- meinsame Sprache in welcher diese Interakti- sierten Gebiete des „Orients“ durch die ent- on ablaufen kann (Eriksen 2002.: 27f).61 sprechenden ehemaligen Kolonialmächte Zudem unterscheidet man nicht nur zwischen Großbritannien, Frankreich und USA. Unter ethnischen Gruppen unterschiedlicher Art, „Orientalismus“ versteht Said die Auseinander- sondern oft auch nach dem Grad der Unter- setzung westlicher Kolonialreiche mit und die schiedlichkeit. Somit werden – vor allem in Wissensproduktion über den „Orient“, welcher komplexen multi-ethnischen Umfeldern – be- oft pauschal als das Gebiet der „arabischen stimmte ethnische Gruppen oftmals gemäß Welt“ bis hin zum indischen Subkontinent defi- einer gewissen Abstufung klassifiziert, je niert wurde.62 Die Unterscheidung zwischen nachdem ob man diesen näher steht oder „dem Orient“ und „dem Okzident“ wurde dabei nicht. Wenn solche Kategorisierungsmecha- von einer großen Zahl von SchriftstellerInnen, nismen, die eine graduelle Unterscheidung PoetInnen, PhilosophInnen, politischen Theo- ermöglichen, vorherrschend sind, so bezeich- retikerInnen, ÖkonomInnen und Kolonialver- net man diese als analog. Wenn dagegen alle walterInnen fortgeschrieben und hat so zur anderen ethnischen Gruppen pauschal als Schaffung eines „orientalischen Diskurses“ gleich fremd und unterschiedlich von der eige- geführt, durch welchen westliche Mächte ihre nen Gruppierung wahrgenommen werden, so Vorherrschaft über „den Orient“ ausübten: spricht man von einer digitalen Kategorisierung (ebd.: 66). „Orientalism can be discussed and analysed Im Bezug auf die russisch-tschetschenischen as the corporate institution for dealing with the Ethnizitätsbeziehungen ist es seit den ersten Orient – dealing with it by making statements aufgezeichneten interethnischen Kontakten im about it, by teaching it, settling it, ruling over it: 16. Jahrhundert zu einer Abgrenzung von der in short, Orientalism as a Western style for jeweils anderen Gruppe gekommen, was in dominating, restructuring, and having authority weiterer Folge anhand der zaristischen Koloni- over the Orient“ (Said 2003: 3). alpolitik im Kaukasus, der Darstellung von

TschetschenInnen in der russischen Literatur 62 Said (2003: 300f) arbeitet vier zentrale Dogmen des sowie auch im Hinblick auf die unterschiedli- „Orientalismus“ heraus: chen religiösen Glaubensvorstellungen der  Zum einen propagiert dieser die fundamentale beiden Gruppen herausgearbeitet werden soll. Differenz zwischen dem Westen – welcher als „rational“, „entwickelt“, human und „überlegen“ gilt – und dem „Orient“, welcher als „anomal“, „unterentwickelt“ und dem Westen unterlegen wahrgenommen wird.  Weiters werden von OrientalistInnen Abstraktio- nen über den „Orient“ – welche vor allem in Form von Texten über eine „klassische“ orienta- lische Zivilisation produziert und reproduziert werden – den tatsächlichen empirischen Gege- 61 Eine weiterführende Differenzierung hat Jean-Paul benheiten vor Ort vorgezogen. Sartre vorgenommen, welcher zwischen us-hood und we-  Drittens wird der „Orient“ als unveränderlich und hood unterscheidet. Unter us-hood versteht er die soziale einheitlich, und dessen Repräsentation durch Integration innerhalb einer Gruppe in Abgrenzung zu einer den Westen als unvermeidlich und zudem wis- anderen. We-hood beschreibt dagegen die Integration und senschaftlich objektiv angesehen. den Zusammenhalt in einer Gruppe aufgrund von gemein-  Schließlich ist der „Orient“ auch grundsätzlich samen Aktivitäten innerhalb des Kollektivs (Eriksen 2002: etwas, das man fürchten muss oder das kontrol- 67). liert und beherrscht werden muss. 58

Frankreich und Großbritannien dominierten Somit entwarfen die westlichen Kolonialmäch- den „Orient“ und den „Orientalismus“ seit dem te, sowie auch das zaristische Russland, Bilder Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende von den kolonisierten Völkern, ohne dass die- des Zweiten Weltkrieges, danach übernahmen se diesen willkürlichen Zuschreibungen „zu- die USA diese Rolle. Abgesehen von diesen stimmten“ oder diese „anerkannten“ – sie wur- Ländern leisteten auch Deutschland, Italien, den somit vom „Westen“ repräsentiert, da sie Spanien, Portugal und Russland wichtige Bei- dazu – OrientalistInnen zufolge – selber nicht träge zur orientalistischen Disziplin; auf letztere in der Lage waren. wird in weiterer Folge noch näher einzugehen Im Konzept des „Orientalismus“ kommt auch sein. Der „Orient“ und der „Okzident“ stehen in das schwierige Verhältnis Europas gegenüber einer Wechselbeziehung zueinander, in wel- dem Islam zum Ausdruck. Vom 7. bis zum 16. cher beide geographische Einheiten die jeweils Jahrhundert stellte der islamische Glaube – andere reflektieren. Diesem Verhältnis ist auch manifestiert in Form der AraberInnen, der Os- ein starkes Machtgefälle eingeschrieben, und manInnen und der Völker Nordafrikas – eine der Westen übt durch die ständige Reprodukti- „Bedrohung“ für das europäische Christentum on von Repräsentationen über den „Orient“ dar, was wiederum im orientalistischen Diskurs eine gewisse Hegemonie über diesen aus: seinen Niederschlag fand. Dieser versucht die „There is in addition the hegemony of Europe- wahrgenommene Fremdartigkeit und Feindse- an ideas about the Orient, themselves reitera- ligkeit des „Orients“ und des Islams zu absor- ting European superiority over Oriental back- bieren, zu reduzieren und den Repräsentatio- wardness, usually overriding the possibility that nen der OrientalistInnen zu unterwerfen. Zu- a more independent, or more skeptical, thinker erst wurde der Orient von westlichen Kolonial- might have had different views on the matter“ mächten erobert, dann wurde von ihm Besitz (ebd.: 7). Dabei sollte man sich immer bewusst ergriffen und schließlich dessen Wahrnehmung sein, dass es sich bei solchen Darstellungen unter anderem durch Gelehrte und Schriftstel- des „Orients“ nicht um anerkannte „Wahrhei- lerInnen neu erschaffen. Zudem wurde diese ten“ über diesen äußerst heterogenen Raum von OrientalistInnen propagierte Darstellung handelt, sondern um Repräsentationen, die der kolonisierten Gebiete oft politisch instru- auch durch den eigenen kulturellen Hinter- mentalisiert, um die Herrschaft über diese grund geprägt werden (ebd.: 4-21). Völker zu rechtfertigen. Dies gelang unter an- Die bei Ethnizität oft vorherrschende us-them- derem durch deren Dehumanisierung und die Dichotomie lässt sich in weiterer Folge auch behauptete Notwendigkeit, diese zu ihrem auf das Konzept des „Orientalismus“ übertra- eigenen Wohle zu „zivilisieren“ und einem gen. So wird bei diesem auch eine Unterschei- westlichen Entwicklungsschema zu unterwer- dung gemacht zwischen dem Vertrauten – wie fen (ebd.: 74-108). Obwohl diese Mission der beispielsweise Europa, der Westen, bzw. us – „Zivilisierung“ der „wilden“ und „unterentwickel- und dem Fremden, welches durch den „Ori- ten“ Völker offiziell im Sinne eines westlichen, ent“, den „Osten“ oder them bezeichnet wird aufgeschlossenen und aufgeklärten Geistes (ebd.: 43). Auch die menschliche Notwendig- erfolgte, so entpuppte sich diese als nichts keit der Einteilung und Kategorisierung der anderes als eine weitere Form von Unterdrü- sozialen Umwelt – um sich in dieser besser ckung und Bevormundung fremder Kulturen zurechtzufinden – lässt sich anhand des Bei- (ebd.: 254). spiels des „Orientalismus“ veranschaulichen:

„(…) this universal practice of designating in 4.1.2. Russischer „Orientalismus“, die Ko- one’s mind a familiar space which is ‚ours‘ and lonisierung des Kaukasus und die Kon- an unfamiliar space beyond ‚ours‘ which is struktion ethnischer Kategorien ‚theirs‘ is a way of making geographical distinc- tions that can be entirely arbitrary. I use the Eine vergleichbare Herangehensweise lässt word ‚arbitrary‘ here because imaginative ge- sich anhand des Umganges des russischen ography of the ‚our land-barbarian land’ variety Zarenreiches mit den Völkern an dessen Peri- does not require that the barbarians pherie erkennen. In Analogie zum westlichen acknowledge this distinction. It is enough for „Orientalismus“ hat sich auch in Russland die ‚us’ to set up these boundaries in our own Disziplin der „oriental studies“ (auf Russisch minds; ‚they’ become ‚they’ accordingly, and vostokovedenie) herausgebildet, welche sich both their territory and their mentality are des- an der europäischen Tradition orientierte. Der ignated as different from ‚ours’ (…) All kinds of Status, den diese Völker innehatten, war dem suppositions, associations and fictions appear der unterworfenen Gruppen in den Kolonien to crowd the unfamiliar space outside one’s der britischen und französischen Kolonial- own” (ebd.: 54). mächte sehr ähnlich: man grenzte sich von ihnen ab, indem man sie als exotisch, unter- 59 entwickelt und „orientalisch“ definierte. Auch Handels- und auch militärische Allianzen mit lassen sich Parallelen feststellen zwischen den dem Zarenreich zu schließen (Khodarkovsky kulturellen Repräsentationen von MuslimInnen 1999: 395). Alle nicht-christlichen Gruppen in den europäischen und russischen Kolonial- wurden als inorodtsy bezeichnet, als nicht- gebieten. In beiden Fällen wurden diese als christliche beziehungsweise nicht-russische rückständig gegenüber der eigenen ange- UntertanInnen des Zarenreiches. Dabei wurde nommenen zivilisatorischen Überlegenheit die Abgrenzung von diesen als digital im Sinne dargestellt. Die gedachte Grenze zwischen von Eriksen wahrgenommen, d.h. es wurde dem russischen „Westen“ und seinem „Orient“ dabei keine graduelle Unterscheidung ge- war jedoch nicht so klar definiert und änderte macht, sondern die inorodtsy wurden als eine sich im Laufe der Jahrhunderte. Manche west- Gruppe anderer Art klassifiziert: lich orientierte RussInnen distanzierten sich auch von der Kultur des eigenen Volkes, da sie „(…) the political universe of the Russian offi- Russland als genauso unzivilisiert wie die neu cials was limited to a clear-cut, bipolar world in entdeckten Völker in den südlichen und östli- which non-Christian nomads represented the chen Gebieten des Zarenreiches wahrgenom- savage, the brutish, the unreliable, and the men haben – im Gegensatz zur europäischen unruly, while Russia stood for civilization, mo- Idealvorstellung von Zivilisation (Bro- rality, and a stately order, like a ‚pillar of stabil- wer/Lazzerini 1997: xi-xix). ity‘ untouched by the ‚steppe winds‘“ Durch die kolonialen Eroberungen des Zaren- (Khodarkovsky 1997: 10). reiches und die Unterdrückung der ansässigen Völker wurden auch die Ethnizitätsbeziehun- Von Beginn an waren die Beziehungen zwi- gen zwischen den unterschiedlichen Gruppen schen Russland und den neu entdeckten Völ- besonders hervorgehoben. Durch das Wirken kern von Missverständnissen geprägt. Wäh- von SoldatInnen, MissionarInnen, HändlerIn- rend die ansässigen Einheimischen in Moskau nen, ÄrztInnen und LehrerInnen kam es zur lediglich einen militärischen und Handelspart- direkten Auseinandersetzung zwischen den ner sahen, wurden diese von russischer Seite Kolonisierten und den Kolonialherren. Durch aus wiederum als UntertanInnen des Zaren die Einteilung, Kategorisierung und Erfor- betrachtet. Die sogenannten Friedensverträge schung der unterschiedlichen Völker seitens (shert‘), die zwischen Russland und den unter- des Russischen Reiches – dessen Machthabe- schiedlichen Gruppen geschlossen wurden, rInnen sich durch dieses Wissen erhofften, ihre folgten dem Schema lokaler Bräuche, weshalb „UntertanInnen“ besser beherrschen zu kön- sie auch für die Eingeborenen eine andere nen – wurden diesen bestimmte ethnic labels Bedeutung hatten. Ein weiteres Beispiel für zugeschrieben. Die Bevölkerung wurde so – dieses Missverständnis zeigt sich in der Zah- wie auch schon Benedict Anderson (1996) lung von Tributzahlungen (iasak) durch die bemerkte – durch Bevölkerungszählungen, die einheimische Bevölkerung. Nach deren Zah- Erstellung geographischer Karten und die Dar- lung an die russischen Autoritäten erhielten die stellung der Völker in Museen in unterscheid- entsprechenden Völker verschiedene Güter bare Gruppen eingeteilt, und die Kolonialmacht wie beispielsweise Äxte, Messer, Töpfe, Flin- konnte so ihre Herrschaft und ihren Einflussbe- ten und Tabak – was sie annehmen ließ, dass reich definieren und imaginieren (Bro- es sich dabei um gewöhnliche Handelstransak- wer/Lazzerini 1997: xi-xix). Die Reaktion dieser tionen handelte. Moskau dagegen interpretier- Völker auf den Kontakt mit den RussInnen te die Darbringung von iasak als Tributzahlung führte somit zu einer Konstruktion und Auf- an den russischen Souverän. Als dieser der rechterhaltung der eigenen Identität und Ab- Erbringung von Gütern nicht mehr regelmäßig grenzung gegenüber der Kolonialmacht: „Their nachkam, kam es erwartungsgemäß zu Kon- response entailed refining, redefining, and flikten mit den Völkern (ebd.: 11-17). Oft waren codifying their own markers of identity, and in auch falsche Übersetzungen eine Ursache the process shaped their own history as a dieser weitgehenden Missverständnisse. Bei- people“ (ebd.: xvi). spielsweise wurden Briefe von lokalen Chiefs Als das Russische Reich ab dem 15. Jahrhun- an den Zaren/die Zarin so übersetzt, dass der dert zu expandieren begann, kam es zu inten- Eindruck entstand, dass sich erstere dem/der siven Kontakten mit den verschiedenen Völ- russischen Herrscher/in unterordnen würden. kern im Osten und Süden des Reiches. Nach So entwarfen beide Seiten Bilder und Wahr- der Eroberung von Kazan und Astrakhan nahm nehmungen des anderen, die ihrem eigenen sich der russische Zar der Gebiete an, die Weltbild entsprachen, von der eigenen Kultur vormals unter Kontrolle der „Goldenen Horde“ geprägt waren und entsprechend den eigenen standen, weshalb zahlreiche EinwohnerInnen Interessen auch verändert wurden. So wurden von Sibirien bis in den Nordkaukasus ihre etwa die Eingeborenen zuerst als „Ungläubige“ VertreterInnen nach Moskau schickten, um dargestellt, in weiterer Folge aber – vor allem 60 die NordkaukasierInnen – als „unehrenhafte Maß an politischer Macht impliziert. Gegenwär- Wilde“, die man zivilisieren musste. Russland tige und von der Kolonialmacht geschaffene dagegen stellte für viele indigene Völker eine ethnic labels stimmen dabei nur in den seltens- verbündete Militärmacht im Kampf etwa gegen ten Fällen mit den vorkolonialen Identitäten andere Clans dar. Nachdem jedoch das russi- überein (Eriksen 2002: 87-90). Die kontinuierli- sche Militär begonnen hatte, die Nordkaukasie- che Anwendung solcher Namen führt somit – rInnen in das Russische Reich zu inkorporie- wie Khodarkovsky anhand der russischen Völ- ren, wurden die RussInnen als „ungläubige ker aufgezeigt hat – auch oft dazu, dass diese ChristInnen“ bezeichnet und im Namen des von den betroffenen Gruppen selbst akzeptiert Islams bekämpft (Khodarkovsky 1999: 399- werden: „The establishment of clear labels for 405).63 large categories of people may thus have a Die russischen Autoritäten konnten sich nur conceptually, but also socially reifying effect on schwer vorstellen, dass die unterschiedlichen groups as they become official names and Völker – ohne einen Staat und eine/n einzel- their members start using them in their self- nen Herrscher/in zu haben – existieren konn- identification“ (ebd.: 89).64 ten. Ein Beispiel dafür liefert etwa die Einsicht des russischen Generalgouverneurs im Kau- Dadurch, dass das Russische Reich mit vielen kasus Potemkin im Hinblick auf die Tsche- nicht-christlichen Völkern in Kontakt getreten tschenInnen: „[T]he peoples referred to as ist, wurde die eigene Wahrnehmung als christ- Chechens and Kumyks do not comprise real lich-orthodoxer Staat besonders hervorgeho- nations (natsiia) under such names, but every ben. Religion wurde im Laufe der Zeit das village has its own chief (vladelets) and is go- wichtigste Unterscheidungsmerkmal gegen- verned by its own laws“ (Kabardino-russkie über den ansässigen Völkern. Religiöse Kon- otnosheniia, 2: 364, No. 256 zit. nach Khodar- vertierung zum christlichen Glauben stellte kovsky 1999: 404). somit das wichtigste Mittel dar, um die nicht- Um jedoch die unzähligen Völker des Russi- russischen Völker zu assimilieren und in das schen Reiches kategorisieren und imaginieren Russische Reich zu integrieren. Ein Grund für zu können, mussten diesen bestimmte Namen die Überbetonung von Religion als Zugehörig- gegeben werden, um sie nicht nur von den keitsmerkmal und die Notwendigkeit der Kon- RussInnen, sondern auch untereinander unter- vertierung ist auch die Angst des Zarenreiches scheiden zu können. Auf diese Art und Weise gewesen, dass sich die muslimischen Völker wurden verschiedene Gruppierungen in ver- Russlands mit dem Osmanischen Reich ver- schiedene Völker zusammengefasst, obwohl bünden und so gemeinsam eine Opposition diese sich oft nicht als ein gemeinsames Volk gegen das Zarenreich bilden könnten. Unab- wahrgenommen haben und dementsprechend hängig von solch geopolitischen Überlegungen auch keine Eigenbezeichnung für diese kon- wurde der Übergang zum Christentum und struierte Identität hatten. Diese wurde ihnen somit die „Zivilisierung der Wilden“ aber auch dafür von den russischen Autoritäten als eine moralische Pflicht angesehen. Die zugeschrieben und dann meistens auch von Konvertierung stellte überhaupt den wichtigs- den Betroffenen übernommen: „In the nine- ten Ritus für die Inkorporation von „Nicht- teenth century, when many of the non- RussInnen“ in das Zarenreich dar. Zusammen- Christian peoples emerged with the sense of fassend lässt sich feststellen, dass – trotz der collective identity, they began to use as their Konstruktion verschiedener politischer, öko- self-designation those exact terms, which were nomischer, ethnischer und religiöser Identitä- originally both alien to their language and im- ten durch das Russische Reich – für „Nicht- posed on them by others“ (Khodarkovsky ChristInnen“ kinship, Sprache, Territorium und 1997: 14). lokale Gottheiten zunächst weit bedeutender Eriksen sieht in diesen Prozess der Namens- waren als die ihnen fremden Konzepte, die gebung auch ein Machtgefälle eingeschrieben, ihnen von Moskau aus auferlegt wurden (Kho- da die Fähigkeit, bestimmten ethnischen darkovsky 1997: 15-22). Gruppen einen Namen zuzuschreiben und Während der russische Staat weiterhin seine somit ein System sozialer Klassifikation rele- UntertanInnen gemäß religiöser Kriterien be- vant zu machen, auch immer ein gewisses stimmte, versuchten im 18. Jahrhundert vom

63 Der Nordkaukasus muss als eine äußerst umkämpfte 64 Für Stuart Kaufman ist die Schaffung von Namen für Region verstanden werden, in welcher das Osmanische, ethnische Gruppen durch externe AkteurInnen ein weiterer Persische und Russische Reich miteinander um Einfluss Beweis für die oftmalige Konstruiertheit von Ethnizität: „In kämpften. Somit ist auch die russische Kolonisierung des some parts of Africa and the Soviet Union, even ethnic Kaukasus nicht ausschließlich – wie dies etwa bei den labels and literary languages were first created by outsid- meisten europäischen Kolonialmächten in ihren Kolonien ers such as missionaries and anthropologists, and the der Fall war – auf ökonomische Gründe, sondern auch auf resulting identity came to be accepted by the groups only geopolitische Überlegungen zurückzuführen (Khodar- after the governments began applying to label them“ kovsky 1999: 389f). (Kaufman 2001: 23). 61

Staat geförderte WissenschaftlerInnen die das Osmanische Reich. Gegenüber den „wahre Natur“ der Völker Russlands zu erfor- TschetschenInnen, unter welchen die Ableh- schen. Unter dem Zaren Peter I, der auch für nung der russischen Herrschaft besonders seine weitgehenden Reformen bekannt war, groß war, verfolgte man dagegen eine andere wurden mehrere – darunter auch deutsche – Strategie. Der Kommandant des „Terek WissenschaftlerInnen engagiert, um die diver- oblast“, in den Jahren zwischen 1863-1875 sen Gruppen zu katalogisieren und zu be- Mikhail T. Loris-Melikov, versuchte die soge- schreiben. So wurden etwa die Sitten und Ge- nannte „TschetschenInnenfrage“ durch ver- bräuche der einzelnen Volksgruppen – welche schiedene Maßnahmen zu lösen, und zwar alle Lebenssphären der entsprechenden Völ- durch eine Mischung aus freiwilligem Exil, ker umschlossen haben – genauestens unter- Bevölkerungsbewegungen von den Bergen in sucht. Darüber hinaus schufen diese Wissen- das Flachland, die Kooperation mit bestimmten schaftlerInnen auch ethnische Stereotype, Bergvölkern und die Erweiterung der Kossa- welche unter den Begriff Gemuethsbeschaf- kInnensiedlungen an den Ausläufen des Kau- fenheit fielen und die etwa hinwiesen auf die kasusgebirges.65 Anstatt der kompletten er- „besonnenen“ TatarInnen oder die „rauen“ und zwungenen Umsiedelung der TschetschenIn- „starrsinnigen“ KosakInnen. Ein weiteres nen – wie sie rund 80 Jahre später unter der Merkmal war die Leibesbeschaffenheit dieser Herrschaft Stalins geschehen ist – setzte man Gruppen, durch welche u.a. Größe, Hautfarbe, somit auf eine Kombination mehrerer Maß- Haare und Schönheit der Frauen kategorisiert nahmen, um sich so im Sinne einer aufgeklär- wurden. Somit verlagerte sich in der zweiten ten Monarchie und als Verbreiter von grazh- Hälfte des 18. Jahrhunderts der Schwerpunkt danstvennost‘ gerieren zu können (ebd.: bei der Klassifizierung von Völkern vom Krite- 103ff). rium der Religion hin zum Kriterium der Kultur. Weiters versuchte Boris-Melikov den Tsche- Aufgrund der kulturell äußerst unterschiedli- tschenInnen durch die Einführung administrati- chen Gruppierungen innerhalb des enorm ver Strukturen die Idee von zivilen Pflichten weitläufigen russischen Gebietes gestaltete es näherzubringen. Jedoch zahlten diese weiter- sich jedoch als äußerst schwierig, das Russi- hin keine Steuern, beteiligten sich nicht an den sche Reich als eine ursprüngliche Einheit von Kosten für das Bau- und Transportwesen und Territorium, Völkern, Sprache und Staat darzu- leisteten auch keinen Militärdienst für das Za- stellen (Slezkine 1997). renreich. Bis kurz vor Beginn des Ersten Welt- krieges konnten die TschetschenInnen immer noch nicht dazu bewegt werden, im russischen 4.1.3. Die „Zivilisierung“ des Kaukasus und Heer zu dienen, und die Aufstände in Tsche- die „TschetschenInnenfrage“ tschenien und Dagestan in den 1860ern und 1870ern sind auch zum Teil auf die damals Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine neue bevorstehende Einführung des Militärdienstes Methode eingeführt, um die Bevölkerung an in diesen Regionen zurückzuführen. Weitere Russlands Grenzen unter Kontrolle zu bringen. Maßnahmen zur „Zivilisierung“ der Tsche- Das Konzept einer einheitlichen Staatsbürger- tschenInnen umfassten die Einführung von schaft (grazhdanstvennost‘) sollte eine stärke- landwirtschaftlicher Arbeit und die Errichtung re Bindung an und eine bessere Integration von speziellen Schulen für BergbewohnerIn- von nicht-russischen Völkern in das Zarenreich nen, in denen diesen das speziell für sie ent- mit sich bringen. Dieses definierte sich ideal- worfene „Kaukasische Alphabet“ in kyrillischer erweise durch ein hohes Maß an Moralität, Schrift sowie die russische Sprache, Literatur Ehrlichkeit und Anstand gegenüber seinen und Kultur nähergebracht werden sollte. Zu Vorgesetzten sowie ein gewisses Bildungsni- diesem Zweck wurde auch in der Tradition des veau, welches für die Mitgliedschaft in der beliebten Theaters in Tiflis ein russisches The- „Zivilgesellschaft“ erforderlich war. Die von ater im nordkaukasischen Vladikavkaz errich- russischen Autoritäten angenommene „Wild- tet. Der damalige „minister of national enligh- heit“ muslimischer BergbewohnerInnen im tenment“, S.S. Uvarov, war der Meinung, dass Kaukasus ließ sich jedoch ihrer Meinung nach Bildung und Wissen automatisch das Interesse nicht mit dem Ideal von grazhdanstvennost‘ der BergbewohnerInnen für den christlichen vereinbaren, weshalb die Kaukasusbewohne- rInnen in der Regel entweder exiliert oder mili- 65 Bei der Errichtung dieser neuen Siedlungen sollte darauf tärisch unterworfen wurden (Jersild 1997: geachtet werden, dass russische Truppen zumindest ein 101ff). Drittel dieser Siedlungen ausmachen und deren Bewohne- So kam es etwa zwischen 1861-64 zu einer rInnen auch erlaubt sein sollte, untereinander zu heiraten. Durch diese Taktik erhoffte man sich, dass „(…) their way massiven Vertreibung der im Westkaukasus of life, customs, and language will wither away painlessly ansässigen TscherkessInnen (russischen An- and easily, and they will become the full subjects of Her gaben zufolge an die 500.000 Menschen) in Imperial Majesty“ (Kabardino-russkie otnosheniia 2: 313- 15, No. 220 zit. nach Khodarkovsky 1999: 416). 62

Glauben wecken würde. Aus diesem Grund 4.1.4. Die Konstruktion von Stereotypen waren die orthodoxen Missionarsgesellschaf- über TschetschenInnen in der russischen ten im Nordkaukasus zunächst vorwiegend auf Literatur und in kontemporären russischen säkulare Tätigkeiten ausgerichtet. So lud etwa Medien die 1860 gegründete „Gesellschaft für die Res- taurierung der Orthodoxie im Kaukasus“ Der aggressive Vorstoß der zaristischen Trup- TschetschenInnen, AdygejerInnen und Da- pen in den Kaukasus Anfang des 19. Jahrhun- gestanerInnen dazu ein, sich zu bilden und derts ging einher mit dem Aufkommen der unabhängig von ihrem Glauben Theater, literarischen russischen Romantik, welche in Opern und Schulen zu besuchen (ebd.: 106- engem Zusammenhang mit der europäischen 109). Folgende Äußerung des Russen A. „renaissance orientale“ stand. Die vier berühm- Viskovatov fasst die Haltung der russischen testen russischen Autoren, die über den Kau- Autoritäten bezüglich der „Zivilisierung“ der kasus und speziell über dessen Bergvölker Kaukasusvölker gut zusammen: „Rossini, Mo- schrieben, waren Alexandr Puschkin, Lew zart, and Bellini can force a mountaineer to Tolstoj, Alexandr Bestuzhev-Marlinsky und stop dead in his tracks for an entire hour“ Mikhail Lermontov. Diese Schriftsteller stehen (Viskovatov 1860, zit. nach Jersild 1997: 101). stellvertretend für die unterschiedlichen Aus- Rund 250 Jahre nach der Ankunft der russi- prägungen russischer literarischer Darstellun- schen Truppen im Nordkaukasus hatte sich die gen über den Kaukasus, und deren Werke sind Region schließlich stark verändert. Kollektiv – mit der Ausnahme von Tolstojs Spätwerk bewirtschaftetes Weideland wurde in Acker- „Hadschi Murat“ – großteils zwischen 1822 und land transformiert, welches sich nun im Besitz 1863 entstanden. Obwohl Edward Saids Kon- von RussInnen befand. Die weitläufigen und zept des „Orientalismus“ sich prinzipiell auch einst spärlich besiedelten Steppen und Flach- auf den russischen Kolonialismus und Imperia- länder wurden übersät mit russischen Siedlun- lismus anwenden lässt, so gibt es jedoch in gen und Städten und dienten dem Zarenreich diesem russischen Kontext drei Aspekte, die als militärisch gesichertes Grenzland. Die Kon- dem „Orientalismus“ europäischer Prägung zepte von Christentum, Aufklärung und der zuwiderlaufen. Obwohl durch russische literari- „Zivilisierung der Wilden“ waren dabei un- sche Beschreibungen über den Kaukasus ein trennbar miteinander verbunden und rechtfer- ideologisch aufgeladener Diskurs entstand und tigten somit die russische Kolonisierung des oft eine Dichotomie zwischen us und them Nordkaukasus – wie Edward Said dies auch propagiert wurde, so gab es doch auch Schrift- schon bei der Kolonialpolitik europäischer stellerInnen, die sich nicht auf die Seite der Großmächte festgestellt hat. Die Verbindung russischen Kolonialmacht stellten, sondern der Kolonisierung mit der Konvertierung zum deren Aggression gegen die Bergvölker in Christentum führte jedoch dazu, dass die an- ihren Romanen offen anprangerten und kriti- sässigen Bergvölker immer mehr in die Arme sierten (Layton 1994: 1-10).67 Darüber hinaus des politischen Islam getrieben wurden, wel- war auch die Trennungslinie zwischen dem cher schließlich auch als eine alle Bergvölker angeblich „zivilisierten westlichen Russland“ verbindende Ideologie im gemeinsamen Wi- auf der einen Seite und den „unzivilisierten derstand gegen die russischen Kolonialherren edlen Wilden“ auf der anderen nicht so eindeu- diente (Khodarkovsky 1999: 426-430). Durch tig. Mehrere russische RomantikerInnen zeig- diese russische Politik der Aufklärung kam es ten auf, wie nutzlos es aufgrund der histori- darüber hinaus auch zur Entstehung einer schen Gemeinsamkeiten war, solch eine ideo- lokalen Intelligentsia, welche zwar in kolonialen logische Trennung vorzunehmen: Schulen ausgebildet wurde, der aber der Zu- gang zu höheren und verantwortungsvolleren „(…) Russia could not encompass itself in Posten innerhalb des Kolonialreiches verwehrt Western civilization and declare the orient its wurde. Dadurch hinterfragte diese in weiterer Other because the orient comprised an ‚organ- Folge die angeblichen Vorteile der russischen ic part of Russia’. Medieval Russia had cultural Kolonialherrschaft bzw. die russische Kolonial- politik im Allgemeinen, und Ende des 19. Jahr- hunderts begannen sich langsam, aber sicher 67 Im Rahmen des Dekabristenaufstandes Anfang des 19. „nationalistische“ Widerstandsbewegungen Jahrhunderts fanden sich hier auch mehrere Schriftstelle- rInnen, die sich in ihren Werken generell kritisch über die gegen das Zarenreich herauszubilden (Jersild repressive Politik des Zarenreiches äußerten (Layton 66 1997: 109ff). 1997: 89). Layton spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit eines dynamischen Austausches zwischen Individuen und den komplexen Prozessen der Errichtung des Zarenreiches. Diese Ansicht ermöglicht es einzelnen 66 Auf die Rolle von Modernisierungsprozessen für die SchriftstellerInnen, sich der politischen Agenda des Staa- Herausbildung einer tschetschenischen ethnischen Identi- tes zu widersetzen, gegen einen machtvollen Diskurs tät soll nachfolgend in Kapitel 4.5. noch näher eingegan- anzuschreiben und diesen sogar zu verändern (Layton gen werden. 1994: 9). 63 and political roots in Asia, Asian people had sentationen der nordkaukasischen Bergvölker comprised part of the tsarist empire since the wurden nur selten hinterfragt, sondern zumeist sixteenth century, and the names of Tatar an- als „authentisch“ wahrgenommen (Layton cestry among the aristocracy of Pushkin’s time 1994: 10, 291). Besonders bekannt für die attested vividly to the vast country’s unique Darstellung des „bösen“ und „gefährlichen blend of East and West” (ebd: 74). Tschetschenen“ ist folgende Strophe des 1840 entstandenen Gedichts „Kosakisches Wiegen- Auch in westlicher Literatur wurden seit der lied“ von Lermontov (2000: 89ff): Zeit von Iwan IV RussInnen oft als “unzivili- siert” und den „kultivierten“ EuropäerInnen „Über die Steine strömt der Terek, / plätschert gegenüber als unterlegen dargestellt und das die trübe Welle; / russische Zarenreich als „grausames“ und der böse Tschetschene kriecht ans Ufer, / er „barbarisches“ Königreich porträtiert (ebd. schärft seinen Dolch; / 79).68 aber dein Vater ist ein alter Krieger, / im Kamp- Schließlich muss man im Hinblick auf die Kon- fe gestählt: / struktion der „edlen Wilden“ im Kaukasus dar- Schlafe mein Kleiner, sei ruhig, / eiapopeia”.69 auf hinweisen, dass bei der Darstellung von others diese nicht gezwungenermaßen als Somit oszillierte die Darstellung der nordkau- „unterlegen“ und fremd definiert werden müs- kasischen Bergvölker in der russischen Litera- sen, wie dies Said behauptet. Die Werke russi- tur zwischen freiheitsliebenden „edlen Wilden“ scher SchriftstellerInnen zeigen hier, dass und zu zivilisierenden, „barbarischen Wilden“. KaukasierInnen durchaus auch nobel und eh- Die Gefangennahme des berüchtigten kauka- renhaft im Gegensatz zur eigenen russischen sischen Widerstandskämpfers Imam Schamil Gesellschaft dargestellt wurden. Der Kaukasus in den 1860er Jahren führte zu einer großen galt dabei oft als „Wiege der Freiheit“ im Kon- Ernüchterung in Teilen der russischen Gesell- trast zur „fremden“ Institution des russischen schaft, da durch diese der Widerstand der Staates, weshalb seit Mitte der 1820er Jahre Kaukasusvölker niedergeschlagen wurde und zunehmend touristische Ausflüge in das kau- somit das Ideal der „unbegrenzten Freiheit“ der kasische Grenzland organisiert wurden, wo die BergbewohnerInnen verloren gegangen ist. LeserInnen russischer Werke sich von den Die russische Führung versuchte indes Scha- weitläufigen Landschaften und den tapferen mil als Symbol für die Großmut und die Macht „Stammesangehörigen“ selber ein Bild machen des Zarenreiches zu instrumentalisieren (siehe konnten. Auch schrieben sich immer mehr Kap. 3.4.3.) und einen Mythos über den glor- russische Männer in die russische Kaukasus- reichen russischen Sieg über die „asiatischen“ armee ein, um den bedrückenden Großstädten Feinde zu kreieren. Der alte Tolstoj versuchte zu entkommen und die in den Romanen dar- deshalb Ende des 19. Jahrhunderts durch gestellte „Freiheit“ und Schönheit des Kauka- seinen Roman „Hadschi Murat“ solch blindem sus erleben zu können (Layton 1997: 82-93). Patriotismus die Darstellung der russischen Nichtsdestotrotz schrieben auch viele russi- „imperialistischen“ Brutalität gegen die Kauka- sche AutorInnen die Trennung zwischen Russ- susbewohnerInnen entgegenzustellen (Layton land und dem „Orient“ fort und das Zarenreich 1997: 94ff). In diesem Werk geht es um die griff sehr wohl auf bestimmte Werke von tschetschenische Führungsfigur Hadschi Mu- Puschkin, Bestuzhev-Marlinsky und Lermontov rat, der in den Zeiten des Kaukasuskrieges zurück, um in der Zeit nach den Kaukasuskrie- aufgrund seiner Feindschaft zu Imam Schamil gen sein Vorgehen als eine notwendige „Zivili- zu den RussInnen überläuft. In einer Episode sierungsmission“ zu legitimieren. Das Bild des des Buches wird dabei über die sinnlose und „edlen Wilden“ kann dabei als eine Art „Fe- brutale Zerstörung eines tschetschenischen tisch“ betrachtet werden, welcher von vielen auls – d.h. eines kaukasischen Dorfes – be- RussInnen verehrt wurde, oft in dem Unwis- richtet und anschließend die Gefühle und die sen, dass dieser die Position des russischen Wahrnehmung der DorfbewohnerInnen ge- Imperialismus gefestigt hat. Weiters akzeptier- genüber den russischen Truppen zum Aus- ten weite Teile der Leserschaft die Autorität druck gebracht: dieser SchriftstellerInnen, ohne jemals selbst im Kaukasus gewesen zu sein, und die Reprä- „Ringsum fiel kein Wort des Hasses gegen die Russen. Das Gefühl, das alle Tschetschenen, 68 Manche SchriftstellerInnen sahen jedoch dieses asiati- klein und groß, empfanden, war stärker als sche Erbe auch als etwas Positives und einen Gewinn für Haß. Es war nicht Haß, sondern ein Nichtaner- Russland, wie beispielsweise Bestuzhev-Marlinsky: „A kennen dieser russischen Hunde als Men- two-faced Janus, ancient Russia simultaneously looked toward Europe and Asia. Its way of life comprised a link between the settled activity of the West and the nomadic 69 Bezüglich einer graphischen Darstellung der angenom- indolence of the Orient“ (Bestuzhev-Marlinsky zit. nach menen „Wildheit“ und „Unzivilisiertheit“ der kaukasischen Layton 1994: 84). Bergvölker, siehe Anhang, Abbildung 5. 64 schen und ein derartiger Widerwille und Ekel grund der Krise des sowjetischen Systems und und ein so völliges Nichtverstehen der sinnlo- der Betätigung von KaukasierInnen in schat- sen Grausamkeit dieser Geschöpfe, daß der tenwirtschaftlichen Bereichen entwickelte sich Wunsch, sie zu vernichten, wie der Wunsch oft diesen gegenüber Sozialneid und Eifer- nach Vernichtung von Ratten, Giftspinnen und sucht. Dies äußerte sich wiederum in der Ver- Wölfen zu einem völlig instinktiven Gefühl, wie weigerung von Dienstleistungen, übertriebenen der Selbsterhaltungstrieb, wurde“ (Tolstoj Kontrollen durch staatliche Autoritäten und 2000: 121). deren Ablehnung und Übergriffe in der sowjeti- schen Armee (Auch 2006: 33-36). Erwartungsgemäß erfuhr „Hadschi Murat“ – Nach dem Zerfall der Sowjetunion griffen in obwohl von einem Russen geschrieben – von Russland Schattenwirtschaft und Wirtschafts- den TschetschenInnen am meisten Lob und kriminalität in großem Maße um sich und brei- Wertschätzung und spielte somit auch eine teten sich vor allem auch im 1991 als unab- Rolle in der Selbstwahrnehmung des tsche- hängig erklärten Tschetschenien aus, das tschenischen Volkes (Layton 1994: 293). deshalb oft als „kriminelle Freihandelszone“ Tishkov meint sogar: „Through the power of his bezeichnet wurde. Durch das Aufkommen pen Tolstoy presented ‚an image of a people‘ mafiöser Strukturen in der tschetschenischen to the modern generation of Chechen readers, Provinz wurde das Bild des „räuberischen who in time became part of their mass con- Tschetschenen“ – welches im 19. Jahrhundert sciousness“ (Tishkov 2005: 165).70 Lieven oft propagiert wurde – erneut aktiviert (ebd.).71 zufolge wurde „Hadschi Murat“ deshalb so Seit dem ersten und vor allem seit dem Beginn enthusiastisch von manchen TschetschenIn- des zweiten Tschetschenienkrieges werden nen angenommen, da Tolstoj den Kampf der TschetschenInnen auch zunehmend als „isla- nordkaukasischen BergbewohnerInnen derart mistische TerroristInnen“ gebrandmarkt. Durch kraftvoll dargestellt und idealisiert hat, ande- die Einmischung ausländischer islamistischer rerseits aber auch aus dem Grund des Fehlens Gruppierungen in den Tschetschenienkonflikt einer repräsentativen Literatur über den tsche- seit Mitte der 1990er Jahre und aufgrund der tschenischen Widerstandskampf (Lieven 1998: durch tschetschenische Rebellen/innen verüb- 333). ten und oft opferreichen Terroranschläge in Russland – wie beispielsweise die Geiselnah- Zu Beginn der Sowjetzeit traten dagegen diese me im Moskauer Dubrovka-Theater 2002 und Stereotype eher in den Hintergrund und es in einer Schule in Beslan 2004 oder die Ter- wurde eine „Freundschaft der Völker der Sow- roranschläge auf die Moskauer U-Bahn 2010 jetunion“ von Seiten der Staatsmacht propa- und den Moskauer Flughafen „Domodedowo“ giert. Durch Alphabetisierungs- und „Atheis- 2011 – entwickelte sich in der Öffentlichkeit ein mus“-programme wollte man so aus den Kau- negatives Bild von TschetschenInnen als po- kasierInnen „aufgeklärte SowjetbürgerInnen“ tenzielle TerroristInnen. Dieses Stereotyp wur- formen. Als aber gegen Ende der 1920er Jahre de aber in weiterer Folge nicht nur auf Tsche- das sowjetische Regime mit seinen Reformen tschenInnen, sondern oft auch auf russische wie der Kollektivierung der Landwirtschaft im- MuslimInnen im Allgemeinen bezogen. Somit mer stärker in die Lebenssphäre der Kauka- nahmen einer russischen Journalistin zufolge susbewohnerInnen eindrang, wehrten sich im Jahre 2002 90% der Aussagen über den diese dagegen und wurden folglich als „Verrä- Islam in den russischen Medien auf das The- terInnen am Sowjetvolk“ gebrandmarkt. Unter ma des islamistischen Extremismus Bezug. Stalin – der mehrere kaukasische Gruppen der Der Kaukasusexperte Uwe Halbach kommt Kooperation mit Hitlerdeutschland bezichtigte – diesbezüglich zu dem Schluss, dass es durch erfolgte dann 1943/44 die folgenschwere und die „Islamisierung des Tschetschenienkrieges“ opferreiche Deportation dieser Völker nach zu einer „Tschetschenisierung der russischen Zentralasien. Auf den Viehwaggons, in denen Islamperzeption“ gekommen ist. Oft fällt im diese abtransportiert wurden, waren Schilder Zusammenhang mit „tschetschenischen Terro- mit der Aufschrift „Banditen“ und „Volksfeinde“ ristInnen“ auch das Schlagwort „WahhabitIn- zu lesen. Nach dem Tod Stalins kam es zu nen“, welches in Russland stellvertretend für einer Entspannung in der gegenseitigen rus- Islamismus und religiösen Fundamentalismus sisch-kaukasischen Wahrnehmung, doch auf- steht und in einer ähnlichen Art und Weise wie das Schimpfwort „FaschistIn“ in sowjetischen 70 So sah etwa beispielsweise die aus Russland stammen- Zeiten verwendet wird (Halbach 2003a: 42ff). de Ehefrau des ersten tschetschenischen Präsidenten Dudajew ihren Mann vor dem Hintergrund der literarischen Werke über den Kaukasus: „Sein Benehmen erinnerte mich an die Haltung eines Generals aus dem 19. Jahrhun- 71 Jedoch wurden diese kriminellen Wirtschaftstätigkeiten dert (…) Edel und mutig wie ein Held in den Romanen des in den 1990er Jahren auch oft in Zusammenarbeit mit russischen Schriftstellers Michail Lermontov“ (Dudajewa russischen Truppen gemeinsam organisiert (vgl. bspw. 2005: 34 zit. nach Szyszkowitz 2008: 126). Halbach 2003c). 65

In russischen Filmen und Fernsehserien wird rInnen zurückzuführen (Auch 2006: 29). In das Bild von TschetschenInnen als weltweit diesem Sinne könnte man auch konstatieren, aktive islamistische TerroristInnen weiter fort- dass „die Vorstellungen über Nordkaukasien geschrieben. Seit den Terroranschlägen des (...) eine der Konstanten russischen ethnischen 11. September 2001 wird seitens der russi- Bewusstseins [sind]“ (Ulanov zit. nach Auch schen Führung versucht, den Tschetschenien- 2006: 30). Wie schon in Kapitel 4.1. erwähnt ist konflikt als einen Kampf gegen terroristische somit die russische Abgrenzung gegenüber Gruppen zu verkaufen und durch diesen einen und die Stereotypisierung von KaukasierInnen Beitrag zu dem von den USA inszenierten als wichtiger Prozess zu verstehen, um die globalen „war on terrorism“ zu leisten. Aus komplexe soziale Umwelt der russischen diesem Umstand ergibt sich das große Prob- Ethnie zu ordnen und dieser eine positive lem, dass ein eigentlich lösbarer lokaler Kon- Gruppenidentität zuzuschreiben. flikt auf eine imaginäre globale Ebene gehoben und somit zu einem Kampf zwischen „Gut und Böse“ hochstilisiert wird – wodurch dieser je- 4.1.5. Ein „Clash of Civilizations“ zwischen doch nur umso schwerer zu beenden ist. Die „russischer Orthodoxie“ und „tschetsche- russischen Machthaber stigmatisieren und nischem Islam“? stellen TschetschenInnen kollektiv als Terroris- tInnen und BanditInnen dar und machen diese Die russische Staatsführung überhöhte – unter somit – Ryklin zufolge – für den Großteil der Rückgriff auf das Stereotyp des/der „tsche- innerrussischen Probleme verantwortlich, für tschenischen Terroristen/in“ – den Konflikt mit welche diese keine Schuld tragen. Hinzu Tschetschenien als einen „Kulturkampf“ zwi- kommt, dass die russische Staatsmacht und schen dem „russisch-orthodoxen Staat“ und deren Propaganda eine monopolartige Kontrol- dem „muslimischen Volk der TschetschenIn- le über die Sprache des Konfliktes ausüben. nen“. Laut Ryklin (2003) wurde so speziell seit Dies äußert sich darin, dass einerseits Tsche- dem zweiten Tschetschenienkrieg die rus- tschenInnen von den staatlichen russischen sisch-tschetschenische Auseinandersetzung Medien vorschnell als „BanditInnen“ und „in- auf eine globale Ebene transferiert und zu ternationale VerbrecherInnen“ gebrandmarkt einem Kampf zwischen „unterschiedlichen werden, jedoch kaum über die tschetscheni- Zivilisationen“ bzw. zwischen „Gut und Böse“ schen Opfer des Konfliktes oder die schweren hochstilisiert. So meinte etwa der damalige Menschenrechtsverletzungen seitens russi- Vertreter Russlands im Europarat, Dmitrij Ro- scher Soldaten berichtet wird (Ryklin 2003: gosin, dass Russland im Nordkaukasus „(…) 207-214).72 eine islamistische Aggression gegen das Zusammenfassend lässt sich bemerken, dass Abendland (…)“ (zit nach Halbach 2003a: 43) die russische Abgrenzung von den Kaukasie- abwehre. Auch der damalige Präsident Putin rInnen eine lange Tradition hat und seit dem schürte Ängste vor einer Islamisierung des Beginn der ersten interethnischen Begegnun- angeblich „christlichen“ Russlands: „If extrem- gen im 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart ist forces manage to get a hold in the Cauca- eine wichtige Rolle für die Definition einer rus- sus (…) this infection may spread up the Volga sischen Identität spielte. Die Eroberung des River, spread to other republics, and we either Kaukasus fiel zeitgleich mit der nationalen face the full Islamization of Russia, or we will Identitätsbildung des Zarenreiches zusammen, have to agree to Russia’s division into several insofern war die Abgrenzung von den „wilden“ independent states” (Putin zit. nach Waldman KaukasierInnen äußerst bedeutsam für die 2001). nationale Eigenwahrnehmung der RussInnen. Die seit dem Zerfall der Sowjetunion wieder Auch der wachsende Nationalismus in der erstarkte russisch-orthodoxe Kirche – welche heutigen Russischen Föderation ist zu einem in sowjetischen Zeiten starken Repressionen Großteil auf die Errichtung einer us-them- ausgesetzt war – ist seitdem eine pragmati- Dichotomie gegenüber den vorwiegend musli- sche Kooperation mit dem russischen Staat mischen TschetschenInnen und Nordkaukasie- eingegangen. So präsentiert sich auch Vladi- mir Putin öffentlichkeitswirksam bei den wich-

72 tigsten orthodoxen Feiertagen als gläubiger Aufgrund der Stigmatisierung und Diffamierung von Christ. Durch diese Zusammenarbeit zwischen MuslimInnen ist es zu einer Zunahme xenophober Über- griffe seitens bestimmter Teile der russischen Bevölkerung Kirche und Staat wird von beiden AkteurInnen wie auch seitens der Staatsmacht gekommen. Diese versucht, ihre Macht und auch ihre Legitimati- äußern sich etwa in der Durchsuchung von Moscheen on in der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. nach Waffen, der Inspizierung von islamischen Bildungs- Besonders hervorzuheben ist bei dieser Ko- anstalten durch die Polizei und durch Gewalt von Skin- heads vor allem gegenüber KaukasierInnen. Laut Halbach operation die Absegnung von kriegerischen sind anti-muslimische Ressentiments nun sogar stärker Auseinandersetzungen durch die russisch- ausgeprägt als die in Russland seit langem vorherrschen- orthodoxe Kirche, welche zunehmend auf Na- den anti-semitischen Antipathien (Halbach 2003b: 17f, 40). 66 tionalismus und Patriotismus setzt. So betrach- Krieges nun alle Konflikte zwischen Kulturen tet sie die russische Armee als „Verteidiger der und „Zivilisationen“ stattfinden werden und teilt orthodoxen Geistlichkeit“, PriesterInnen seg- in weiterer Folge die Welt in neun unterschied- nen in Kampfflugzeugen russische SoldatInnen liche „Zivilisationen“ ein. Seine Annahmen vor ihrem Fallschirmabsprung in das Kampf- begründet er mit dem Umstand, dass die Un- gebiet, und von der Kirche werden freiwillige terschiede zwischen „Zivilisationen“ schon seit Militärlager organisiert, in welchen Jugendliche Jahrhunderten bestehen, diese nun aufgrund lernen, mit Waffen zu schießen und Geiseln zu von Globalisierungsprozessen immer mehr in nehmen. Darüber hinaus wurden Bildnisse Kontakt miteinander treten und es somit zu eines in Tschetschenien umgekommenen rus- einer Zunahme von gewalttätigen interkulturel- sischen Rekruten namens Jewgenij Rodionow len Konflikten kommt. Weiters behauptet er, seit einigen Jahren in mehreren russischen dass durch die Globalisierung der National- Kirchen aufgehängt. Dieser wird als Märtyrer staat als „Quelle der Identität“ geschwächt und gefeiert, da er 1996 in Tschetschenien in Ge- dieses ideologische Vakuum durch „Religion“ fangenschaft geraten und angeblich umge- gefüllt wird. Während es bei diesem „Kultur- bracht worden ist, da er sich weigerte seinem kampf“ auf einer Mikroebene in der Regel um Glauben abzuschwören – auch heute noch die Kontrolle von Territorium geht, so manifes- tragen russische SoldatInnen in Tschetsche- tiert er sich auf einer Makroebene im Wettstreit nien sein Bildnis bei sich. Wie eng die Kirche um militärische und ökonomische Macht und mit der russischen Politik verbunden ist, zeigt die Kontrolle internationaler Organisationen. sich auch dadurch, dass etwa die NATO- Grundsätzlich kommt es vor allem zu einem Bombardierung Serbiens im Jahre 1999 sowie Konflikt zwischen dem „christlichen Westen“ der Irakkrieg 2003 von kirchlicher Seite stark und dem sogenannten „Rest“ der Welt, dem verurteilt wurden, die Tschetschenienkriege gegenüber sich die westlichen Industriestaaten jedoch kaum eines kritischen Kommentars behaupten und – im Interesse des eigenen gewürdigt wurden. Ein weiterer Aspekt ist, Machterhalts – ihre ökonomische und militäri- dass die orthodoxe Kirche den Anspruch er- sche Vorherrschaft absichern müssen. Beson- hebt, das „wahre Russland“ zu vertreten und ders konfliktiv verläuft dabei das Verhältnis somit eine „ethnische Religion“ zu sein. In den zum „Islam“, welchen Huntington als beson- letzten Jahrhunderten versuchte sie „das or- ders gewaltbereit einstuft und dessen Grenzen thodoxe Christentum“ gegenüber dem vorrü- aus historischen Gründen seiner Einschätzung ckenden asiatischen Islam zu „schützen“, aber nach „blutig“ sind (Huntington 1993).73 auch die anderen christlichen Konfessionen Seinen 1993 in der US-amerikanischen Zeit- werden als Bedrohung für die eigene Identität schrift „Foreign Affairs“ erschienenen Artikel angesehen (Voswinkel 2005). Insofern er- verarbeitete Huntington zu einem Buch, wel- scheinen auch das Engagement und die Un- ches 1996 unter dem Titel „Clash of Civilizati- terstützung der Kirche für die russischen Mili- ons and the Remaking of World Order“ er- täraktionen in Tschetschenien, das zu einem schienen ist und in welchem er diesen „Kultur- Großteil von MuslimInnen bevölkert wird, nur kampf“ auch konkret auf den Tschetschenien- konsequent. konflikt auslegt. Diesen interpretiert er als ei- Die islamistischen KämpferInnen in Tsche- nen fault line conflict, einen lokalen Konflikt, tschenien folgen in ihrer Argumentation einer ähnlichen Linie wie Putin, indem sie den Wi- 73 Dabei geht Huntington jedoch nicht näher darauf ein, derstand gegen Russland als einen Kampf dass andere Religionen – und hier vor allem das Christen- gegen „Ungläubige“ definieren. So wurde etwa tum – sehr wohl auch oft gewaltsam gegen Andersgläubi- auf einer islamistischen pro-tschetschenischen ge vorgegangen sind, was etwa das Beispiel der Kreuzzü- ge zeigt. Zudem geht er grundsätzlich von einem kultures- Website der zweite Tschetschenienkrieg als sentialistischen und statischen Kulturbegriff aus, der je- ein „Kreuzzug der Streitkräfte des Unglaubens doch bei näherer Betrachtung aufgrund der Heterogenität (Christentum, Judentum, Kommunismus, von Kulturen und Religionen kaum haltbar ist. Aufgrund Atheismus) gegen den Islam“ angeprangert dessen definiert er wohl auch nicht näher den von ihm verwendeten Begriff „Zivilisation“ – als einziges Merkmal und so zu Solidarität mit dem dschihad in einer „Zivilisation“ gilt für ihn die jeweilige Religion. Zudem Tschetschenien aufgerufen (Halbach 2003b: fanden viele Konflikte und Kriege sehr wohl auch innerhalb 32). der von ihm angenommenen „Zivilisationen“ statt, was Diese in politischen, religiösen und öffentlichen etwa der Hundertjährige und der Dreißigjährige Krieg sowie vor allem die zwei Weltkriege, der erste Golfkrieg Diskursen in Russland und Tschetschenien zwischen Iran und Irak oder der Genozid in Ruanda ver- propagierte kulturessentialistische Ansicht ist deutlichen. Anstatt auch kulturelle Gemeinsamkeiten, auch weitgehend identisch mit dem Paradigma Hybridität und Kooperationen zwischen unterschiedlichen des „Clash of Civilizations“ von Samuel Hun- Kulturen aufzuzeigen, weist Huntington aus einer teils ahistorischen Sichtweise vorrangig auf die Konflikte zwi- tington, welches seit Mitte der 1990er Jahre zu schen diesen hin, welche gezwungenermaßen gewaltsam vielen Diskussionen geführt hat. Huntington ist verlaufen müssen. Für eine weiterführende kritische Dis- der Meinung, dass nach dem Ende des Kalten kussion von Huntingtons Thesen, siehe u.a.: Riesebrodt 2005, Said 2001, Simhandl 1998. 67 welcher zwischen zwei „Zivilisationen“ stattfin- ren und seit langem bestehenden kulturellen det – in diesem Fall zwischen dem „muslimi- Differenzen nicht aufzulösen sind. schen Tschetschenien“ und dem „russischen Diese Annahme eines Kulturkampfes zwischen Zivilisationsblock“, welcher trotz einer langen Orthodoxie und Islam im Rahmen des Tsche- historischen multi-ethnischen und multi- tschenienkonfliktes, wie sie in dieser Form von religiösen Tradition von Huntington nichtsdes- bestimmten VertreterInnen der russischen totrotz als homogene „orthodoxe Zivilisation“ Staatsführung, von IslamistInnen sowie von definiert wird (Huntington 2003: 163, 252). Auf Huntington propagiert wird, ist jedoch zu hin- den Nordkaukasus bezogen reproduziert er terfragen. So meint Tishkov diesbezüglich: den Mythos, dass „(…) for two hundred years Chechens, Ingush, and other Muslim peoples „It seems that in Chechnya’s case the breach have fought on and off for their independence between civilizations is clear-cut: Orthodox from Russia (…)“74 (ebd.: 255) und unterstellt Russians face Chechen Muslims. My own „den MuslimInnen”, dass sie nicht in der Lage analysis, however, rejects this theory even in sind, friedlich mit ihren NachbarInnen zu its most tenuous form. There are far more simi- koexistieren: “Wherever one looks along the larities between the Chechens and the other perimeter of Islam, Muslims have problems peoples of the Russian federation, most of all living peaceably with their neighbors” (ebd.: the Russians, than there are differences. This 256). Wenn fault line conflicts sich zuspitzen, harmony of values, personal strategies and dann versucht jede Konfliktpartei Unterstüt- even cultural behavior existed before the con- zung von den Gruppen und Ländern zu erhal- flict, and is still in place now” (Tishkov 2005: ten, welche ihrer Zivilisation zugehörig sind, 165f). was Huntington das kin-country syndrome nennt. Am Beispiel des ersten Tschetsche- Unabhängig von diesen Gemeinsamkeiten nienkrieges versucht er zu veranschaulichen, muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass eine überwältigende Mehrheit der Musli- dass sich während der beiden rezenten Tsche- mInnen in und außerhalb Russlands für die tschenienkriege die TschetschenInnen von TschetschenInnen Partei ergriffen hat: manchen anderen ethnischen Gruppen ent- fremdet haben und durch das Leben in einer „(…) Muslims within and without the Russian kriegszerstörten Umgebung ein Gefühl von Federation overwhelmingly sided with the Andersartigkeit gefördert worden ist. Ebenso Chechens. The Islamist International immedi- gibt es auch mehrere offensichtliche kulturelle ately contributed fighters (…) Muslim states Unterschiede gegenüber anderen Gruppen. endorsed the Chechen cause, and Turkey and Nichtsdestotrotz ist es aufgrund der vielen Iran reportedly supplied material help (…) Mus- historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten lims in the Russian Federation rallied behind mit Russland aber schlichtweg falsch, die the Chechens (…) leaders of the six Volga- TschetschenInnen einer anderen „Zivilisation“ Ural republics demanded Russia end its mili- zuzuordnen. So merkt beispielsweise Tishkov tary action (…) The ‚strongest protests against an, dass etwa ein russischer Professor in Mos- the war’ occurred in Chechnya’s two neighbor- kau und sein tschetschenischer Kollege in ing republics of Ingushetia and Dagestan (…) Grozny mehr miteinander gemeinsam haben The Chechen cause was also helped by the als ein tschetschenischer Professor und ein Chechen diaspora (…)” (ebd.: 277). Widerstandskämpfer, die beide aus demselben Bergdorf stammen (ebd.). Darüber hinaus Schließlich sind solche fault line wars wie der wurden die TschetschenInnen zwischen dem Tschetschenienkonflikt kaum zu beenden und 10. und dem 13. Jahrhundert unter dem Ein- können immer wieder ausbrechen, da „(…) fluss Georgiens zum Christentum bekehrt und they are rooted in deep fault line conflicts in- sind erst im 16. Jahrhundert großteils zum volving sustained antagonistic relations be- Islam übergetreten (Götz/Halbach 1994: 332). tween groups of different civilizations“ (ebd.: Insofern handelt es sich hier nicht um einen 291). Da laut Huntingtons Sichtweise „Zivilisa- Kampf zwischen zwei uralten „Zivilisationen“, tionen“ und Identitäten offensichtlich statisch die ursprünglich immer muslimisch bzw. ortho- sind und sich nicht verändern, scheint es somit dox waren, sondern hat sich deren religiöse eine naheliegende Schlussfolgerung, dass Identität erst im Laufe der letzten Jahrhunderte solche Konflikte aufgrund der unüberbrückba- entwickelt. Überdies ist Huntingtons Annahme, dass sich die überwältigende Mehrheit der MuslimInnen

74 in und außerhalb Russlands geschlossen hin- Jedoch entschlossen sich die InguschInnen Anfang der 1990er Jahre – im Gegensatz zu Tschetschenien – ein Teil ter die TschetschenInnen gestellt hat, nicht der Russischen Föderation zu werden und kämpften kei- korrekt. In Russland gestaltet sich nämlich die neswegs um ihre Unabhängigkeit vom „orthodoxen Russ- islamische Glaubensgemeinschaft durchaus land“. 68 nicht als homogen, sondern ist von inneren ander zu treten, sind die Beziehungen Russ- Konflikten geprägt. So existieren in der Russi- lands gegenüber bestimmten Teilen der isla- schen Föderation 50 Muftiate auf regionaler mischen Welt – welche für dieses einen wichti- und ethnischer Basis, die um die Nähe zur gen Absatzmarkt darstellen – eher von einer Staatsgewalt und die damit verbundenen fi- pragmatischen Kooperation geprägt. Zu die- nanziellen Ressourcen konkurrieren, und de- sem Punkt meint Halbach: „Religion, Kultur, ren LeiterInnen sich zu diesem Zweck zeitwei- Ideologie und davon beeinflusste Sympathien se gegenseitig als „WahhabitInnen“ denunzie- oder Antipathien treten besonders in der Au- ren. Aufgrund der Nähe zum russischen Staat ßenpolitik unter Putin hinter pragmatische wirt- fordert dieser etwa von den Muftiaten auch schaftliche und strategische Interessen zurück“ Unterstützung für bestimmte politische Ziele. (Halbach 2003b: 36). Mit bestimmten islami- So stimmten etwa die AnführerInnen der meis- schen Ländern wie der Türkei oder dem Iran ten islamischen Zentren in Russland für die kommt es eher aus geopolitischen Gründen zu Durchführung des vielumstrittenen Verfas- Konflikten, die jedoch nicht auf die Zivilisati- sungsreferendums in Tschetschenien im Jahre onsthematik und den Tschetschenienkrieg 2003, durch welches der Verbleib der tsche- zurückzuführen sind. Die Beziehungen mit tschenischen Republik in der Russischen Fö- Saudi Arabien dagegen sind aufgrund der deration legitimiert wurde (Halbach 2003b: russischen Beschuldigung, dass dieser Staat 23f).75 Dass die tschetschenischen Nachbarre- tschetschenische Rebellen/innen finanziell und publiken Inguschetien und Dagestan den Ein- personell unterstütze, durchaus angespannt. marsch der russischen Truppen verurteilt ha- Jedoch sind hier die Grenzen zwischen staatli- ben, liegt hier wohl weniger an der religiösen chen und nicht-staatlichen religiösen AkteurIn- Einstellung als an der Angst vor der Zerstörung nen fließend, da muslimische Staaten offiziell und den Auswirkungen des Krieges auf die den tschetschenischen Widerstand nicht finan- eigene Region. So weiteten sich die Kampf- zieren, jedoch bestimmte religiöse Organisati- handlungen in den Tschetschenienkriegen onen aus Kuwait, Katar, Bahrain, Jemen und durchaus auch auf die Nachbarrepubliken aus, den Vereinigten Arabischen Emiraten Tsche- welche zudem von den großen kriegsbeding- tschenien durchaus Finanzhilfen und andere ten Flüchtlingswellen aus Tschetschenien – Leistungen zukommen lassen. Weiters kamen welche mitunter mehrere hunderttausende ähnliche Unterstützungen auch aus den nord- Leute umfassten – stark betroffen waren. Zu- kaukasischen Diasporas im Mittleren Osten. dem sind Proteste gegen die militärische „Lö- Darüber hinaus nahmen ausländische Musli- sung“ von Konflikten und gegen Kriege – wie mInnen an den Kampfhandlungen in Tsche- sie auch im Fall der beiden Tschetschenien- tschenien teil, obwohl es zu deren Anzahl kei- kriege in Russland und im Ausland stattgefun- ne gesicherten Quellen gibt (Halbach 2003b: den haben – durchaus nichts „zivilisationsspe- 31, 36-41). Aus der Partizipation einzelner zifisches“, sondern verbinden Menschen un- MuslimInnen, bestimmter religiöser Gruppie- terschiedlicher Herkunft und Religion in ihrem rungen und Diasporaangehöriger aus dem Glauben an Gewaltlosigkeit. Ausland zu schließen, dass der „Großteil der Auch die ausländische Unterstützung Tsche- MuslimInnen“ in und außerhalb Russlands im tscheniens fiel nicht so einheitlich und ge- Sinne des kin-country syndrome die tsche- schlossen aus, wie dies Huntington angenom- tschenische Widerstandsbewegung unterstützt men hat. Mit Ausnahme des damals von den hat – wie dies Huntington behauptet – ist somit Taliban kontrollierten Afghanistan hat keine fragwürdig. Regierung der islamischen Welt in den 1990er Jahren Tschetschenien anerkannt. Weiters war An dieser Stelle soll jedoch nicht der Eindruck die Kritik der meisten Regierungen im Mittleren entstehen, dass Religion und der Einfluss des Osten am zweiten Tschetschenienkrieg durch- Islamismus keine Rolle in den rezenten Tsche- aus geringer, als sie von „christlichen“ westli- tschenienkriegen gespielt haben. Die Ursa- chen Regierungen vorgebracht wurde (Hal- chen des Konfliktes auf rein ökonomische und bach 2003a: 45). Die russischen diplomati- geopolitische Faktoren zu beschränken würde schen Beziehungen gegenüber den Staaten dessen Komplexität auch kaum Rechnung der islamischen Welt haben sich aufgrund der tragen. Es kam sehr wohl Mitte der 1990er zu Tschetschenienkriege auch kaum verschlech- einer Islamisierung des tschetschenischen tert. Anstatt aufgrund der nicht identischen Widerstandes und zu einer Einmischung inter- „Zivilisationszugehörigkeit“ in Konflikt mitein- nationaler islamistischer Netzwerke.76 Obwohl die „WahhabitInnen“ in Tschetschenien als

75 Fremde angesehen wurden und wegen ihres Mit Sicherheit haben sich auch MuslimInnen in Russland auf die Seite des tschetschenischen Widerstandes gestellt, jedoch sind zweifelsfrei nicht alle russischen MuslimInnen geschlossen hinter dem tschetschenischen Unabhängig- 76 Bezüglich der Islamisierung der tschetschenischen keitsprojekt gestanden. Widerstandsbewegung, siehe Kap. 3.1.3. 69

Fanatismus und krimineller Tätigkeiten in der geleistet, und jetzt spielt der Islam für das Bevölkerung verhasst waren, schlossen sich Selbstverständnis der Tschetschenen und für manche TschetschenInnen dennoch dem den Widerstand gegen Russland sehr wohl dschihad an. Dies ist neben dem Drang nach eine wichtige Rolle. Aber das ist eine Folge Rache für die Ermordung von Familienmitglie- des Krieges und nicht auf irgendwelche seit dern und aufgrund der hohen Arbeitslosenrate langem bestehende Traditionen zurückzufüh- vor allem auf die lukrative Möglichkeit zurück- ren“ (Interview mit Kappeler, Wien 2009). zuführen, ökonomischen Profit aus einer durch zwei verheerende Kriege destabilisierten Regi- Trotz der einflussreichen Rolle des Islams im on zu schlagen – beispielsweise in Form von diesem Konflikt ist somit nicht von einem Entführungen und illegalen Ölgeschäften. Ein „Clash of Civilizations“ nach Huntington aus- weiterer Punkt ist, dass in den 1990er Jahren zugehen. Es ist wichtig festzustellen, dass die eine Generation junger TschetschenInnen kulturelle und religiöse Differenz sowie die heranwuchs, die nichts anderes als das Leben Feindbilder zwischen RussInnen und Tsche- in einer von Gewalt geprägten Umgebung tschenInnen kein ursächlicher Kriegsgrund kennengelernt hat und aufgrund des Mangels sind, sondern dass diese von politischen Füh- realer Zukunftsperspektiven umso anfälliger für rerInnen auf beiden Seiten politisch instrumen- extremistische Ideologien geworden ist. Dar- talisiert wurden, um die eigenen Leute zum über hinaus bildete sich aufgrund der Repres- Kämpfen motivieren und mobilisieren zu kön- sion gegenüber allen Religionen zur Zeit der nen. Christian Zürcher bringt dies in folgendem Sowjetunion nach dessen Zusammenbruch ein Zitat treffend zum Ausdruck: „religiöser Analphabetismus“ in mehreren post- sowjetischen Regionen heraus, weshalb die „Solche sorgsam geprägten Feindbilder sind dem Nordkaukasus fremde Glaubensrichtung nicht ursächlich für einen Krieg verantwortlich. des Wahhabismus umso leichteres Spiel hatte, Ohne solche ideologische Halbfabrikate käme Leute anzusprechen. So kamen auch tausen- dem Krieg gegen Tschetschenien jedoch jener de junger Männer, die an religiösen Lehran- Symbolgehalt abhanden, auf den das innenpo- stalten im islamischen Ausland studiert hatten, litische Kalkül der Entscheidungsträger ohne als Prediger und Lehrer mit wahhabitischem Zweifel aufbaute. In einer Konfliktsituation Gedankengut nach Russland zurück, um die- erleichtern solche Fremdwahrnehmungen die ses dort zu verbreiten. Aufgrund der Islamisie- Instrumentalisierung ethnischer-nationaler rung des tschetschenischen Widerstandes und Gefühle“ (Zürcher 1997: 12). der Darstellung des Tschetschenienkonfliktes als einen „Kampf gegen den globalen Terro- Im Zusammenhang mit den diskutierten Ethni- rismus“ durch Russland ist es zu einer Radika- zitätstheorien und der eben erläuterten Rolle lisierung der KonfliktakteurInnen gekommen – von Religion im Tschetschenienkonflikt kann und somit könnte die Rede von einem „Kampf somit Religion durchaus als ein Aspekt von der Kulturen“ doch noch zu einer „self-fulfilling Ethnizität gesehen werden, dessen Bedeutung prophecy“ werden (Halbach 2003a: 43f; Hal- für die eigene Gruppe sich im Laufe der Zeit bach 2003b: 6, 13, 32f; Halbach 2003c: 147). ändern kann: „(…) religion is salient to ethnicity Auch Andreas Kappeler weist darauf hin, dass if it is a defining trait that sets the group apart die Rede von einem „Clash of Civilizations“ in in its own eyes and/or in the eyes of others. diesem Zusammenhang nicht zutrifft, die Be- Also, the extent to which this occurs can deutung des Islams jedoch im Laufe der Kriege change over time“ (Fox 1999: 444). So wurde zugenommen hat: etwa durch die beiden rezenten Tschetsche- nienkriege die Bedeutung von Religion für das „Im Kontext des Tschetschenienkonfliktes ist Ethnizitätsverhältnis zwischen RussInnen und eine solche Erklärung des „Kampfes der Kultu- TschetschenInnen wieder besonders hervor- ren“ Unsinn, weil Russland nicht orthodox ge- gehoben und für nationale Zwecke instrumen- prägt ist – zwar gibt es dort viele Orthodoxe, talisiert, obwohl sie in den vergangenen Jahr- aber es wäre verkehrt, Russland als dominant zehnten kaum eine Rolle für die Abgrenzung orthodoxes Land zu erklären. Genauso verhält zwischen den beiden ethnischen Gruppen es sich mit Tschetschenien, wo der Islam tradi- gespielt hat. tionell keine entscheidende Rolle gespielt hat Aus einer historischen Perspektive kann Russ- (…) Das sind Slogans gewesen – obwohl Du- land auf eine lange Tradition der Kooperation dajew in den 1990er Jahren muslimisches mit anderen Religionen zurückgreifen, ist die- Recht und ähnliche Dinge durchaus gefördert ses doch laut Bestuzhev-Marlinsky als ein hat –, aber natürlich erst in Folge des Krieges Janusgesicht zu bezeichnen, welches gleich- und dieser Ausnahmesituation haben sich zeitig ein Teil Europas wie auch ein Teil Asiens diese islamischen Tendenzen in Tschetsche- ist und sich somit aus vielen kulturell unter- nien verstärkt. Es wurde auch Hilfe von außen schiedlichen Völkern zusammensetzt (siehe 70

Fußnote 68). Durch die rezenten Tschetsche- unterschiedlichen Religionsauffassungen ge- nienkriege ist dieses Bild jedoch aufgrund der prägt, sondern: Diffamierung von MuslimInnen in den Hinter- grund gerückt: „Die beiden Tschetschenien- „(…) neuere westliche Forschung betont dage- kriege (…) wurden zum Hauptkatalysator für gen die pragmatische Zusammenarbeit der eine Islamophobie, die Russland in Wider- ostslawischen Fürsten und der orthodoxen spruch zu seiner eigenen Wirklichkeit als poly- Kirche mit den Khanen der Goldenen Horde, ethnisch-multireligiöse Gesellschaft bringt“ eine Zusammenarbeit, die allerdings von den (Halbach 2003b: 8). Der aus dem arabischen ostslawischen Quellen, die einem exklusiv Raum importierte Wahhabismus, gegen den christlichen Weltbild verpflichtet waren, weit- sich die öffentliche Meinung in Russland richtet gehend verschwiegen worden ist“ (ebd.). und aufgrund dessen viele TschetschenInnen als TerroristInnen stigmatisiert werden, ist eine Nach dem Zerfall der „Goldenen Horde“ im 15. den nordkaukasischen Völkern fremde Ideolo- Jahrhundert fiel erstmals ein souveränes mus- gie, die aufgrund mehrerer Ursachen erst in limisches Reich unter russische Kontrolle und den 1990er Jahren und nur von bestimmten der Moskauer Staat eignete sich dessen ehe- Teilen der tschetschenischen Bevölkerung als malige Gebiete sowie auch die vormaligen Widerstandsideologie angenommen wurde. Länder der Rus‘ im Westen an. Nach der Er- Die Beziehung zwischen den unterschiedlichen oberung des Khanats von Kasan Mitte des 16. Formen des Islam und der russischen Ortho- Jahrhunderts kehrte Iwan IV aber wieder zu doxie war über weite Strecken eher von Ko- einer pragmatischen Politik zurück und integ- operation als Konflikt geprägt, was im Rahmen rierte die loyalen muslimischen Oberschichten des folgenden Kapitels aus einer historischen – welche grundsätzlich als ebenbürtig aner- Perspektive erläutert werden soll. kannt wurden – in die Oberschicht des Zaren- reiches und garantierte ihnen Landbesitz und Privilegien. Trotz der weitgehenden Toleranz 4.1.6. Das interkonfessionelle Verhältnis gegenüber dem Islam waren MuslimInnen den von Islam und Orthodoxie in Russland orthodoxen ChristInnen gegenüber nicht gleichberechtigt – so war etwa die Konvertie- Andreas Kappeler zufolge waren die langen, rung eines/er Christen/in zum Islam streng traditionsreichen russischen Beziehungen zur verboten. Der angesprochene Pragmatismus islamischen Welt stets von einer Spannung kommt dagegen beispielsweise in dem Um- zwischen ideologischem Konflikt und pragma- stand zum Ausdruck, dass orthodoxe Bauern tischer Kooperation geprägt. Der erste Kontakt und Bäuerinnen von muslimischen Gutsbesit- zwischen der alten Rus‘77 und MuslimInnen zerInnen als Leibeigene gehalten wurden, was gestaltete sich grundsätzlich friedlich und fand etwa im „christlichen Europa“ undenkbar ge- mit den WolgabulgarInnen statt. Auch nach- wesen wäre. Unter dem Druck der orthodoxen dem das Reich von Kiew das orthodoxe Chris- Kirche kam es Mitte des 16. Jahrhunderts ge- tentum anerkannt hatte, blieben die vorwie- legentlich zu einer aktiven Missionierungspoli- gend kommerziellen Beziehungen zum Reich tik, welche jedoch eher erfolglos verlief und der WolgabulgarInnen erhalten.78 Die Erobe- dann für mehr als ein Jahrhundert fast ganz rung der Rus‘ durch die MongolInnen und die aufgegeben wurde (ebd.: 118ff). damit einhergehende Konvertierung zum Islam Eine große Wende in den interkonfessionellen im 14. Jahrhundert brachte erstere unter die Beziehungen vollzog sich in der ersten Hälfte Herrschaft muslimischer SteppennomadInnen des 18. Jahrhunderts, als unter der intoleran- (Kappeler 1989: 117). Jedoch war das Ver- ten Christianisierungspolitik von Zar Peter dem hältnis zwischen diesen beiden Gruppen – wie Großen und seinen NachfolgerInnen Musli- in historischen Quellen oft behauptet wird – mInnen im Russischen Reich mit Gewalt, Dis- nicht von dem ständigen Konflikt zwischen den kriminierung und ökonomischen Anreizen für den Übertritt zum Christentum begegnet wur- de. Zurückzuführen ist dieser Kurswechsel vor allem auf den Einfluss der „Verwestlichung“ 77 Die „Kiewer Rus“, ein mittelalterliches Großreich wel- der russischen Elite und auf die Übernahme ches seinen Höhepunkt im 10. Jahrhundert erreichte, europäischer Ideen wie die des Frühabsolu- konstituierte sich im Gebiet der heutigen Staaten Russ- land, Weißrussland und Ukraine und hatte Kiew als Zent- tismus und der Intoleranz gegenüber der rum (http://de.wikipedia.org/wiki/Kiewer_Rus, Zugriff: „nicht-christlichen Welt“. Um das Ideal eines 29.4.2012). 78 „modernen Reiches“ erreichen zu können, Laut der ältesten ostslawischen Chronik wollte Fürst musste dieses somit einen einheitlichen Glau- Wladimir vom Reich der Rus‘ nicht zum Islam übertreten, da dieser u.a. den Genuss von Alkohol verbietet. Diesbe- ben haben und mussten „veraltete“ Rechte und züglich meinte er angeblich: „Die Rus‘ haben Freude am Traditionen der Völker Russlands überwunden Trinken, wir können ohne das nicht sein“ (zit. nach Kappe- werden (ebd.: 120f). Gegenüber der Politik ler 1989: 117). 71 westlicher Mächte erschien die „(…) traditio- doxie und Islam. Oft wurde die Zugehörigkeit nelle Moskauer Toleranz (…) so als ein Ele- zu einer bestimmten Religion von den großen ment der Rückständigkeit gegenüber dem Reichen und den lokalen AkteurInnen nur dazu Westen“ (ebd.: 121). Die in Europa oft selbst benutzt, um ihre eigenen politischen Interes- als „unzivilisiert“ wahrgenommenen RussInnen sen durchzusetzen. Als die Unterstützung von wollten wohl auch durch eine Anpassung an den „religiösen Glaubensbrüdern“ manchmal westliche politische Normen und Praktiken die ausblieb, hatten die Konfliktparteien meist eigene „Aufgeklärtheit“ unter Beweis stellen keine Probleme, andersgläubige AkteurInnen und sich somit von den „wilden“ Völkern in den zu kontaktieren. So wandten sich die „christli- russischen Grenzgebieten abgrenzen. chen“ GeorgierInnen, nachdem die russische Diese aggressive Christianisierungspolitik wur- Hilfe ausgeblieben war, an das Osmanische de jedoch in den 1750er Jahren aufgrund der oder das Persische Reich, um Unterstützung starken Widerstände dagegen wieder aufge- im Kampf gegen benachbarte Gruppen zu geben und unter der Regentschaft von Katha- erlangen. Ebenso forderten muslimische rina II wurde wieder Toleranz gegenüber dem Stammesgesellschaften im Kaukasus die mili- Islam propagiert, die diskriminierenden Erlässe tärische Unterstützung der später oft als „un- gegen MuslimInnen aufgehoben und eine gläubig“ diffamierten RussInnen an, um gegen „Geistliche Behörde“ für die MuslimInnen lokale muslimische Rivalen zu kämpfen. Das Russlands geschaffen. Grundsätzlich lässt sich Osmanische Reich spornte auch die muslimi- jedoch keine einheitliche russische Politik ge- schen KaukasusbewohnerInnen dazu an, ge- genüber MuslimInnen konstatieren, denn die gen die RussInnen zu rebellieren, um so das Voraussetzungen und Traditionen in den un- Zarenreich in dieser Region zu schwächen und terschiedlichen Regionen Russlands waren zu die eigene Position zu stärken. Ende des 18. unterschiedlich und brachten dementspre- Jahrhunderts kam es dann unter sheikh Man- chend unterschiedliche Strategien hervor. So sur auch zu keinem geschlossenen Wider- kam es trotz der prinzipiell toleranten Einstel- stand aller muslimischen Bergvölker gegen lung unter Katharina II – wohl auch durch den Russland, da sich manche von ihnen weiger- Einfluss westlicher kolonialistischer Ideologien ten sich Mansur anzuschließen. Somit handel- – zu den Kaukasuskriegen im 19. Jahrhundert, te es sich nicht um einen geschlossenen „mus- in welchen die muslimischen Bergvölker erbit- limischen Block“, der sich gegen das „orthodo- terten Widerstand gegen die russischen Trup- xe Zarenreich“ auflehnte. Nichtsdestotrotz pen leisteten. Sobald jedoch die russische führten die russische Expansion und das Auf- Herrschaft in einem Gebiet gesichert war, ging kommen von ursprünglich aus Persien stam- man in der Regel wieder zu einer pragmati- menden sufistischen Naqschbandi-Orden in schen Kooperation mit den loyalen islamischen der Region zu einer stärkeren Solidarisierung Eliten über, was der Machterhaltung eher zu- der kaukasischen Bergvölker untereinander träglich war als aggressive Intoleranz, welche und dem Kampf gegen Russland im Namen ohnehin nur Widerstand hervorrief. Nur durch des Islam (Khodarkovsky 1999: 410-414). solch eine pragmatische Politik konnte dieses Nach Jahrzehnten der Verbannung von Religi- multi-ethnische russische Vielvölkerreich zu- on aus den öffentlichen Lebenssphären durch sammengehalten werden (ebd.:121-127).79 In die Sowjetmacht kam Anfang der 1990er Jahre diesem Sinne konstatierte der Liberale Nikolaj ein Diskurs in der russischen Öffentlichkeit Turgenew Mitte des 19. Jahrhunderts, dass über die Rolle des Islam in der russischen „von allen Teilen der Erde nur in Rußland die- Gesellschaft und über die Selbstcharakterisie- se beiden Religionen (gemeint sind Christen- rung Russlands nach dem Zerfall der Sowjet- tum und Islam) in friedlichen, wenn auch nicht union auf.80 Die RepräsentantInnen der musli- ganz freien Beziehungen nebeneinanderleben“ mischen Bevölkerung Russlands81 plädierten (zit. nach Kappeler 1989: 126).

Auch im Bereich der geopolitischen Auseinan- 80 dersetzungen zwischen Russischem, Osmani- Die offene Diskussion über Religionen nach dem Zu- sammenbruch der UdSSR und die in diesem Kontext schem und Persischem Reich kam es nicht aufgekommenen diversen „religiösen Wiedergeburten“ immer zu einer Konfrontation zwischen Ortho- sind hier vor allem auf die sowjetische Liberalisierungspoli- tik Ende der 1980er Jahre und auf neu erlassene Gesetze zugunsten von Glaubens- und Meinungsfreiheit zurückzu- 79 Wobei an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden führen (Halbach 2003b: 19). muss, dass das Russische Reich in das soziopolitische 81 Die Anzahl der MuslimInnen in Russland umfasst, unter- System von NomadInnen und Bergvölkern stärker einge- schiedlichen Quellen zufolge, zwischen acht und mehr als griffen hat als beispielsweise bei den KrimtatarInnen und 20 Millionen Menschen (Stand: 2003), was den Islam zur den MuslimInnen Transkaukasiens, welche eher über eine zweitgrößten Religion Russlands macht. Alleine im Jahr den RussInnen ähnliche Sozialstruktur verfügten (Kappeler 2001 sollen zwei Millionen MuslimInnen aus zentralasiati- 1989: 122). Insofern gestaltete sich auch die Integration schen Staaten nach Russland migriert sein, um dort Arbeit des tschetschenischen Bergvolkes in das Zarenreich zu finden. In Moskau leben auch mehrere hunderttausen- aufgrund der unterschiedlichen Sozialsysteme um einiges de kaukasische muslimische MigrantInnen. Die höchste schwieriger und komplizierter. regionale Konzentration an MuslimInnen in Russland findet 72 hierbei großteils für eine „eurasische Rich- multi-religiöses Russland, das sich als tung“, welche abstellt auf „(…) das jahrhunder- Schnittmenge zwischen Europa und Asien tealte Miteinander christlich-orthodoxer und versteht, kann somit durchaus mit einem kultu- islamischer Kultur als Grundkomponente der rell unterschiedlichen „muslimischen“ Tsche- Geschichte Russlands (…) den kulturellen tschenien koexistieren. In diesem Sinne „(…) Pluralismus und synkretischen Charakter der bedarf Identitätsbildung sicher der Differenzer- Religiosität jener Völker (…), die auf dem Terri- fahrung eines ‚Anderen‘, aber keineswegs torium der heutigen RF [Russische Föderation, eines Feindbildes“ (Riesebrodt 2005: 29). G.L.] leben, und (…) darauf, dass der Islam bei Tataren und kaukasischen Völkern mit dem Islam in der arabischen Welt nicht vergleichbar 4.2. Das Verhältnis von Kultur und sei“ (Halbach 2003b: 7). Ethnizität Gerade jener letzte Punkt unterstreicht die Ablehnung vieler VertreterInnen des islami- Obwohl kulturelle Merkmale und Unterschiede schen Glaubens gegenüber dem Einfluss isla- für die Konstituierung ethnischer Gruppen mistischer Doktrinen aus dem arabischen Aus- wichtig sein können, so sind Ethnizität und land, welche etwa in Form des Wahhabismus Kultur doch nicht gleichzusetzen. Bezüglich in Tschetschenien BefürworterInnen gefunden des kulturellen Inhalts von Ethnizität unter- haben. Vor den beiden Tschetschenienkriegen scheidet Barth diesbezüglich zwischen overt und der Ausbreitung des Wahhabismus wurde signals – welche der Zurschaustellung von „der Islam“ von der politischen Elite des Lan- Identität etwa durch Kleidung, Sprache oder des kaum als konfliktträchtig angesehen. Die Lebensstil dienen – und basic value orientati- Beziehungen zwischen dem russisch- ons – wie zum Beispiel bestimmte kulturell orthodoxen Patriarchat und den Repräsentan- geprägte Moralvorstellungen. Jedoch lässt sich tInnen der russischen MuslimInnen sind auch nicht vorhersagen, welche dieser Merkmale heute prinzipiell nicht konflikthaft, sowie auch besonders hervorgehoben werden und ob sie keine nennenswerten Konflikte gegenüber den organisatorische Relevanz für die Mitglieder als „traditionell“ geltenden russischen Glau- einer ethnischen Gruppe besitzen. Somit bensrichtungen festzustellen sind – zu denen bieten ethnische Kategorien „(…) an organiza- neben Orthodoxie und Islam der Judaismus tional vessel that may be given varying und der Buddhismus zählen. Konfliktiv verhält amounts and forms of content in different so- sich eher das Verhältnis der orthodoxen Kirche cio-cultural systems“ (Barth 1969: 14). Darüber in Russland gegenüber der katholischen Kir- hinaus ist Kultur nicht statisch und kann sich che und anderen „nicht-traditionellen“ Glau- wie auch die Grenzen einer ethnischen Gruppe bensausrichtungen, zu denen etwa islamisti- im Laufe der Zeit ändern: „The cultural features sche und diverse andere christliche Denomina- that signal the boundary may change, and the tionen gehören (ebd.: 13, 21ff). cultural characteristics of the members may likewise be transformed, indeed, even the or- Somit lassen sich zusammenfassend in den ganizational form of the group may change“ tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbezie- (ebd.: 14). hungen neben Prozessen von ethnic dichoto- Treffend bemerkt der norwegische Anthropolo- misation – die sich etwa in Form der negativen ge Eriksen, dass Ethnizität nicht das „Eigen- Abgrenzung gegenüber den „Wilden“ und „Un- tum“ einer bestimmten Gruppe darstellt, son- zivilisierten“ oder auf der anderen Seite ge- dern dass es sich dabei um den Aspekt einer genüber den „kolonialen Unterdrückern“ und wechselseitigen Beziehung zwischen zwei „ungläubigen ChristInnen“ manifestiert – oder mehreren ethnischen Gruppen handelt. durchaus auch Formen von ethnic complemen- Ethnizität existiert somit zwischen und nicht tarisation finden. Diese zeigen sich etwa an- innerhalb von Gruppen. Kultur dagegen kann hand geteilter historischer, kultureller, religiö- sehr wohl das Eigentum einer bestimmten ser und auch sprachlicher Gemeinsamkeiten, Gruppe sein. Weiters können sich bestimmte die sich über Jahrhunderte hinweg herausge- ethnische Gruppen kulturell sehr ähnlich, je- bildet haben und so ein Feld der Interaktion doch die interethnischen Beziehungen zwi- zwischen den unterschiedlichen ethnischen schen ihnen mitunter sogar feindlich sein. Ein Gruppen bildeten. Ein multi-ethnisches und gutes Beispiel hierfür stellt das interethnische Verhältnis zwischen SerbInnen und KroatInnen sich einerseits im Kaukasus und andererseits im Wolga- nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens in Ural-Gebiet. Während erstere sich eher an den Traditionen des arabischen Raumes orientieren, stehen zweitere eher den 1980er Jahren dar, welches ein Jahrzehnt für einen modernen Islam, der mit den „europäischen später zu blutigen Auseinandersetzungen zwi- Grundwerten“ von Modernisierung und Säkularismus schen zwei kulturell ähnlichen, sich jedoch als vereinbar und auf die reformistische Djadiden-Bewegung unterschiedlich wahrnehmenden ethnischen des frühen 20. Jahrhunderts zurückzuführen ist (Halbach 2003b: 19f, 25). Gruppen geführt hat (Eriksen 2002: 12; 58). 73

So wird die Beziehung zwischen SerbInnen tete Narrativ der ständigen Feindschaft zwi- und KroatInnen – auch von westlichen Medien schen den KosakInnen und den kaukasischen – oft als eine jahrhundertelange Feindschaft BergbewohnerInnen (gortsy) an der russisch- dargestellt. Jedoch gab es zur Zeit der Militär- kaukasischen Grenze zu dekonstruieren. Die grenze (16. bis 19. Jahrhundert) – welche eine Handelsbeziehungen mit den Bergvölkern Grenze zwischen dem Osmanischen und dem waren laut Barrett essentiell für die Aufrechter- Habsburgerreich darstellte und von KroatInnen haltung der Wirtschaftsweise der KosakInnen, und SerbInnen gleichermaßen bewohnt wurde und diese Kooperation zeigte somit, dass: „(…) – durchaus auch Kooperation, Solidarität und the boundaries between colonist and native, gemeinsame Traditionen zwischen den beiden between Cossack and ‚enemy‘, indeed bet- ethnischen Gruppen (Grandits/Promitzer ween Russia and ‚the Orient‘, could be rather 2000). Somit spielten auch kulturelle Unter- loose and at times non-existent“ (Barrett 1997: schiede zwischen SerbInnen und KroatInnen 229). Weit entfernt von der Kontrolle des russi- während der Existenz des jugoslawischen schen Zentrums sicherten die KosakInnen Vielvölkerreiches nur eine untergeordnete ihren Lebensunterhalt durch Handel und Dieb- Rolle und wurden erst in den 1980er Jahren stahl. Ursprünglich verfolgte das Zarenreich wieder betont: „Ethnic boundaries, dormant for den Handel mit den Bergvölkern, um diese an decades, were activated; presumed cultural Russland zu binden und abhängig von russi- differences which had been irrelevant for two schen Gütern zu machen. Jedoch geschah das generations were suddenly ‚remembered‘ and Gegenteil, und die KosakInnen wurden immer invoked as proof that it was impossible for the mehr in die Welt der BergbewohnerInnen ge- two groups to live side by side“ (Eriksen 2002: zogen, ihre materielle Kultur von der lokalen 39). Das historische Verhältnis zwischen die- beeinflusst und somit die staatliche Strategie sen beiden ethnischen Gruppen zeigt somit untergraben (ebd.: 227-34). exemplarisch, dass ethnische Grenzen als Bedeutende Plätze der Begegnung bildeten wandelbar und sozial konstruiert verstanden Marktplätze und Bazare, auf denen Bergbe- werden müssen, Ethnizität politisch instrumen- wohnerInnen ihr Vieh, Getreide, tierische Pro- talisierbar ist und in den meisten Fällen situati- dukte, selbst hergestellte Handwerkswaren onsbezogen hervorgehoben werden kann. sowie Pelze und Holz zum Verkauf anboten – viele KosakInnen kauften sogar ihre Waffen von den Bergvölkern. So spezialisierten sich 4.2.1. Die interethnischen Beziehungen etwa bestimmte Völker und Dörfer auf die Pro- zwischen KosakInnen und TschetschenIn- duktion spezifischer Handelsgüter; tschetsche- nen nische Dörfer produzierten beispielsweise Dolche (kinjals), Schwerter (shashka) und Das interethnische Verhältnis zwischen den Gewehre für den interethnischen Handel (sie- Terek-KosakInnen und den kaukasischen he auch Kap. 3.4.5.). Die Atmosphäre auf die- Bergvölkern im 18. und 19. Jahrhundert illust- sen Versammlungsorten gestaltete sich vor- riert sehr gut, dass die Auseinandersetzung wiegend friedlich, da diese für alle Anwesen- zwischen RussInnen und TschetschenInnen den von großer Bedeutung waren. Selbst nach nicht nur konfliktiv verlaufen ist, sondern dass der in den 1820er Jahren begonnenen gewalt- es auch Kooperation, Handel und kulturellen samen Eroberung des Kaukasus und der zu- Austausch zwischen diesen Gruppen gegeben nehmenden Ausbreitung von russischen Forts hat.82 Insofern kann man bei diesen ethnischen entlang der kaukasischen Grenze zogen wie- Gruppierungen nicht von abgeschlossenen, der viele tschetschenische und kumykische digitalen, kulturellen Einheiten sprechen, da es Familien in die Marktzentren, um dort Handel zu einer lebhaften wechselseitigen kulturellen zu treiben (ebd.: 235-41). Die Märkte als Orte Beeinflussung und in vielen Fällen auch zu der interethnischen Begegnung, wo gegensei- einer Anpassung an die Lebensweise der an- tige Annäherung und in einer gewissen Weise deren Gruppe gekommen ist. auch ethnic complementarisation stattgefun- Thomas M. Barrett (1997) geht in seinem Arti- den haben, führten auch zu einer Übernahme kel „Crossing Boundaries: The Trading Fron- von Aspekten der anderen Kultur, wie Barrett tiers of the Terek Cossacks“ näher auf diesen berichtet: Punkt ein und versucht dabei, das weit verbrei- „The Terek Cossacks also traded for and wore 82 Die Greben-KosakInnen siedelten sich ursprünglich the clothes of the gortsy, especially the Mitte des 16. Jahrhunderts im Nordkaukasus an. In weite- papakha (tall sheepskin hat), burka (felt cloak), rer Folge ließen sie sich nun in der Gegend des Terek- and cherkeska (long narrow, collarless coat). Flusses – welcher im heutigen Tschetschenien liegt – nieder, traten 1711-12 in die Dienste des Russischen In fact, they looked so much like the gortsy that Reiches, errichteten russische Festungen und halfen den local peasants and travelers in the Caucasus russischen Truppen bei der Unterwerfung der Kaukasus- völker (Barrett 1997: 244). 74 often mistook approaching Cossacks for hos- grenzung gegenüber den „edlen Wilden“ im tile Chechens and Circassians“ (ebd.: 239).83 Kaukasus propagiert hat. Dennoch merkt Barth an, dass eine kulturelle Annäherung zwischen Ein weiteres Beispiel für interethnische Koope- unterschiedlichen Gruppen – in diesem Fall ration bildet das 1917 – trotz landrechtlichen zwischen TschetschenInnen und KosakInnen – Streitigkeiten zwischen den beiden Gruppen – nicht unbedingt einen Abbau von ethnischen gegründete „Terek-Daghestan Government”, Grenzen mit sich bringen muss: „(…) a drastic welches die „Union of Mountain Peoples” ei- reduction of cultural differences between nerseits und die Terek-KosakInnen anderer- groups does not correlate in any simple way seits umfasste. Dieses währte jedoch nicht with the reduction in the organizational rele- lange, da der Nordkaukasus nach der Macht- vance of ethnic identities, or a breakdown in übernahme der BolschewikInnen in die später boundary-maintaining processes“ (Barth 1969: gegründete Sowjetunion integriert wurde 32f). (Fowkes 1998: 5ff). Durch die russische Kolonialpolitik kam es Bei näherer Betrachtung verschwimmt somit auch zu einer Assimilierung von Teilen der die angenommene „tiefe Feindschaft“ und nordkaukasischen Bevölkerung in das Zaren- scharfe Trennlinie zwischen „russischen Kosa- reich. Man versuchte Adelige verschiedener kInnen“ auf der einen Seite und kaukasischen indigener Völker für sich zu gewinnen – ein Bergvölkern wie den TschetschenInnen auf der Angebot, das häufig aufgrund der angebote- anderen. Die Dynamiken der interethnischen nen (u.a. finanziellen) Anreize angenommen Begegnungen im Nordkaukasus gestalteten wurde. Viele dieser kooptierten Eliten konver- sich oft nicht so, wie man dies im weit entfern- tierten zum Christentum, übernahmen russi- ten Sankt Petersburg erwartete. Somit kam es sche Namen und heirateten innerhalb der rus- auch zur Entstehung von „staatslosen Dörfern“ sischen Adelsschicht. Jedoch wurde auch und zu einer Indigenisierung von lokalen Kultu- versucht, die bürgerliche Bevölkerung in das ren, Gesellschaften und Wirtschaftssystemen Zarenreich zu integrieren, indem man sie über- im nordkaukasischen Grenzland. Wie Kappeler redete, ihre Adelsherren zu verlassen und sich sieht auch Barrett dieses Zulassen und die auf russischem Territorium anzusiedeln. Im Akzeptanz kultureller Diversität als notwendige Zuge dieser Politik ließen sich auch viele Kau- Voraussetzung dafür, dass das russische Viel- kasierInnen in russischen Forts und Städten völkerreich trotz seiner vielen ethnischen nieder. Diese von der russischen Führung Gruppierungen als solches bestehen konnte verfolgte „divide, convert and rule“-Politik führ- (Barrett 1997: 243f). Die KosakInnen befanden te zu einer Verschmelzung von Gruppen un- sich dabei in einer Art „hybriden” terschiedlicher Kulturen über ethnische Gren- Zwischenposition, zwischen „(…) subservience zen hinweg, was einmal mehr aufzeigt, dass and freedom, between loyalty and independ- Kultur und Ethnizität nicht ident sein müssen ence (…) and in the north Caucasus, between und Ethnizität oft nicht statisch, sondern im Russia and the ‚East‘“ (ebd.: 244). Wandel begriffen ist (Khodarkovsky 1999: 417, Auch Ryklin ist der Meinung, dass es zu einer 423, 429). Jedoch muss darauf hingewiesen Art ethnic complementarisation zwischen Ko- werden, dass diese Kolonialisierungspolitik in sakInnen und TschetschenInnen gekommen Tschetschenien und Dagestan weit weniger ist. So sprachen erstere oft nicht nur die tsche- erfolgreich war als beispielsweise bei den Os- tschenische Sprache, sondern verbrüderten setierInnen, KabardinerInnen oder den Kumy- sich mit tschetschenischen Sippen und haben kInnen, da es bei den TschetschenInnen tradi- die kaukasischen Bergvölker oft als ihnen nä- tionellerweise keine feudalen Strukturen gege- herstehend als die russischen SoldatInnen ben hat und somit die russische Führung auch betrachtet (Ryklin 2003: 217). Insofern könnte keine Allianzen mit einer indigenen Adels- man die gegenseitige interethnische Wahr- schicht schließen konnte (Fowkes 1998: 3). nehmung zwischen diesen Gruppen als analog bezeichnen, da sich etwa die KosakInnen den TschetschenInnen oft eher verbunden bzw. 4.2.2. Der multikulturelle Nordkaukasus und „näher“ gefühlt haben als den RussInnen, mit die behauptete ethnische Homogenität „der denen sie gemeinsam die nordkaukasischen TschetschenInnen“ Bergvölker bekämpft haben. Solch eine gradu- elle Unterscheidung – im Gegensatz zu einer Der Nordkaukasus wurde in historischen Quel- Differenzierung nach ihrer Art – steht somit in len oft als „Vielvölkerlabyrinth“ dargestellt, einem starken Kontrast zu den Behauptungen dessen Völker sich kulturell sehr ähnlich sind. und der Propaganda des russischen Zarenrei- In diesem Sinne stellt Ben Fowkes (1998: 1) ches, welches in der Regel eine digitale Ab- die berechtigte Frage: „Should Chechnia [sic!] be distinguished from the North Caucasus as a whole?“ In der Vergangenheit waren das 83 Siehe auch Anhang, Abbildung 6. 75 tschetschenische Schicksal und die bewaffne- Million EinwohnerInnen, davon etwa 715.000 ten Widerstandskämpfe gegen Russland eng TschetschenInnen, 269.000 RussInnen und mit den benachbarten Völkern verbunden. 25.000 InguschInnen. Somit machten rus- Diese anti-russischen Revolten fanden bis sophone SlawInnen 1991 ein Viertel der tsche- 1991 meist unter dem vereinten Banner der tschenischen Bevölkerung aus, welche dann NordkaukasierInnen statt, anstatt der Logik großteils in den Jahren 1991-93 gewaltsam eines „engstirnigen“ lokal begrenzten Nationa- vertrieben wurden – James Hughes spricht in lismus zu folgen.84 Weiters wird auch oft die diesem Zusammenhang auch von „ethnischen kulturelle und religiöse Einheit der nordkauka- Säuberungen“ (Hughes 2005: 271). Auch der sischen Völker betont, welche neben gemein- bis dahin mit den TschetschenInnen eng ver- samen Traditionen (wie Kleidung, Behausung, bundene inguschische Bevölkerungsteil wurde Essen, Gastfreundschaft) größtenteils auch im Zuge eines wachsenden tschetschenischen islamische Werte miteinander gemeinsam Nationalismus zunehmend diskriminiert und haben. Auch sprachlich lassen sich viele Ge- aus Tschetschenien ausgewiesen, um so eine meinsamkeiten herausarbeiten. So teilen die ohnehin illusorische ethnische Homogenität InguschInnen 40% ihres Vokabulars mit den künstlich herbeizuführen (Szyszkowitz 2008: TschetschenInnen, darüber hinaus ist auch die 94, 106). passive Zweisprachigkeit zwischen diesen Ob es sich hierbei um eine „ethnische Säube- beiden Völkern stark ausgeprägt (ebd.: 1f). rung“ im engeren Sinn handelte oder nicht, ist Obwohl sich somit mehrere Gruppen des recht umstritten. Andreas Kappeler etwa ne- Nordkaukasus aufgrund nur geringfügiger kul- giert dies und meint, dass die ethnischen Rus- tureller Unterschiede in vielerlei Hinsicht äu- sInnen zwar verdrängt wurden und ihre Jobs ßerst ähnlich sind, werden diese trotzdem als verloren haben, dass diese aber eher auswan- eigenständige ethnische Gruppen dargestellt derten, da sie mit dem neuen unabhängigen bzw. präsentieren sich selbst als solche.85 Staat und den von ihm verkörperten Werten Auch viele TschetschenInnen forderten unter nichts mehr anfangen konnten (Interview mit Dudajew Anfang der 1990er Jahre die Unab- Kappeler, Wien 2009). Der Kriegsreporter hängigkeit des „tschetschenischen Volkes“ und Smith (1998: 133f) dagegen berichtet, dass die versuchten hierbei eine ethnische Homogenität RussInnen in Tschetschenien ständigen Schi- innerhalb der tschetschenischen Grenzen zu kanen ausgesetzt waren, aus ihren Wohnun- erreichen, die jedoch historisch nicht den kultu- gen geworfen und auch ausgeraubt und um- rellen Gegebenheiten dieser Region ent- gebracht wurden. Da diese – im Gegensatz zu sprach. Laut einer Volkszählung aus dem Jah- den TschetschenInnen – in der Regel keine re 1989 lebten in Tschetschenien rund eine erweiterten Familien hatten und somit aus dem System der Blutrache herausfielen, waren sie 84 Auch 1989 wurde noch von mehreren nordkaukasischen auch ein leichtes Ziel für Kriminelle. Der An- Völkern durch die Gründung des „Kongresses der Berg- fang der 1990er Jahre als Vorsitzender der völker“ eine gemeinsame translokale Identität hervorgeho- Menschenrechtskommission unter Jelzin in ben. 1991 umfasste die nachfolgende „Konföderation kaukasischer Bergvölker“ 16 ethnische Gruppen und war Tschetschenien herumreisende Sergej Kowal- ursprünglich anti-georgisch ausgerichtet, um so die abcha- jow (1997: 175) berichtet ebenfalls von seinen sischen und südossetischen SeparatistInnen zu unterstüt- Erfahrungen in der tschetschenischen Stadt zen. Jedoch wurde die ursprüngliche Einheit dieser Verei- Asinowskaja, welche Grozny und der tsche- nigung dadurch untergraben, dass die TschetschenInnen ihren Feind von nun an eher in Russland sahen und der tschenischen Miliz unterstand. Auch dort wa- damalige tschetschenische Präsident Dudajew gute Be- ren die russischen BewohnerInnen mit Dieb- ziehungen zum damaligen georgischen Präsidenten Gam- stahl, Mord, Vergewaltigung und Erpressung sachurdia unterhielt (Fowkes 1998: 15). Die pan- konfrontiert und konnten keineswegs auf den kaukasischen Vereinigungsbestrebungen gehen dabei auf mehrere historische Vorbilder zurück, wie etwa das Ima- Schutz der tschetschenischen Obrigkeit zäh- mat Schamils im 19. Jahrhundert, die Republik der Berg- len. Tishkov (2004: 131, 214) verweist eben- völker 1918-19, das nordkaukasische Emirat 1919-20 und falls auf die gewalttätigen Übergriffe gegen den die Sowjetrepublik der Bergvölker von 1920-24 (Halbach „nicht-tschetschenischen Teil“ der Bevölke- 1995: 201ff). 85 Ein Interview von Valery Tishkov mit dem 1995 von rung, bezeichnet diese als „ethnische Säube- Tschetschenen entführten Kalmücken und „Moscow rung“ und kritisiert deren Ignoranz durch west- News“-Journalisten Dmitrii Balburov zeigt etwa, dass die liche KommentatorInnen und Menschen- ethnische Abgrenzung zwischen nordkaukasischen Völ- rechtsaktivistInnen. Eriksen weist in diesem kern oft eine des Grades und nicht eine der Art ist. So meinte etwa der tschetschenische Entführer zu Balburov, Zusammenhang darauf hin, dass es eine star- dass sie ihn umgebracht hätten, wenn er ein Russe gewe- ke Diskrepanz gibt zwischen nationalistischen sen wäre. Da er aber Kalmücke war und somit sein Volk Ideologien auf der einen und der sozialen Rea- die gleiche Deportationserfahrung durchgemacht hatte wie lität, auf welche sich diese beziehen, auf der die TschetschenInnen, wurde er vor Folter und einer mög- lichen Ermordung verschont (Tishkov 2004: 114). Dies anderen Seite: zeigt, dass in diesem Fall ein benachbartes und kulturell ähnliches Volk vom Tschetschenen somit in einem analo- gen Sinne wahrgenommen wurde. 76

„Nationalist and other ethnic ideologies hold Dass die TschetschenInnen wohl nie eine ge- that social and cultural boundaries should be schlossene, „ethnisch homogene“ Gruppe unambiguos, clear-cut and ‚digital‘ or binary. gewesen sind, illustrieren neben den oben They should also be congruous with spatial, genannten auch folgende Beispiele aus der political boundaries. This, as we have seen, is tschetschenischen Geschichte. Während der an ideal which is very difficult to uphold in prac- russisch-kaukasischen Kriege im 19. Jahrhun- tice” (Eriksen 2002: 113). dert etwa traten mehrere Polen/innen und Uk- rainerInnen aus der russischen Armee aus, um Die Auswirkungen solch irriger nationalisti- in der kaukasischen Armee unter Imam Scha- scher Annahmen äußerten sich dann bei- mil gegen das Zarenreich zu kämpfen. Manche spielsweise anhand des Holocaust und der von diesen konvertierten in weiterer Folge zum „ethnischen Säuberungen“ in Ruanda und im Islam und gründeten Familien im Nordkauka- ehemaligen Jugoslawien. In diesem Sinne sus (Layton 1997: 92). Dieser Wechsel auf die warnt auch Stuart Hall davor, Kulturen und „tschetschenische Seite“ und die Mitgliedschaft ethnische Gruppen als abgeschlossene Sys- in deren ethnischer Gruppe weist darauf hin, teme zu betrachten: dass es sich bei Ethnien in der Regel nicht um geschlossene Entitäten handelt. Dies „Since cultural diversity is, increasingly, the korrespondiert auch mit der Ansicht von Barth, fate of the modern world (…) the greatest dan- dass „Examples of stable and persisting ethnic ger now arises from forms of national and cul- boundaries that are crossed by a flow of per- tural identity – new and old – which attempt to sonnel are clearly far more common than the secure their identity by adopting closed ver- ethnographic literature would lead us to be- sions of culture or community and by refusal to lieve” (Barth 1969: 21). engage (…) with the difficult problems that Nach der Gründung eines tschetschenischen arise from trying to live with difference” (Hall autonomen Gebietes in der Sowjetunion im 1993 zit. nach Bauman 2004: 98). Jahre 1922 wurde diesem 1929 der von Kosa- kInnen bewohnte Sunzhen-Bezirk sowie mit Als einer der führenden Ideologen der nationa- der Stadt Grozny auch eine große russische listischen Bewegung in Tschetschenien hatte Minderheit zugeschlagen. 1936 wurde dieser auch Yandarbiev eine konkrete Vorstellung Teilstaat dann mit dem der InguschInnen zur des „tschetschenischen Volkes“, welche je- Tschetscheno-Inguschischen ASSR (Autono- doch viele BewohnerInnen Tschetscheniens me Sozialistische Sowjetrepublik) zusammen- per se ausschloss. Wenn man nämlich von gelegt. Nach der Rückkehr der TschetschenIn- Yandarbievs Konzeption des „wahren“ tsche- nen aus dem Exil im Jahre 1957 hatte sich die tschenischen Volkes alle kommunistischen Bevölkerungsstruktur in Tschetschenien durch BürokratInnen, die „faule Intelligentsia mit ihren die Ansiedelung von RussInnen und anderen Anzügen und Krawatten“, die AnhängerInnen nordkaukasischen BewohnerInnen stark ver- des pro-russischen Zavgaev und der Russi- ändert. Zudem wurde der vormals zur Tschet- schen Föderation, die „Feiglinge“, „Trittbrett- scheno-Inguschischen ASSR gehörende Pri- fahrerInnen“ und „ProvokateurInnen“ abzieht, gorodnyi-Bezirk Nordossetien zugeordnet, bleibt nur mehr eine kleine Gruppe übrig, wel- während die kosakischen Bezirke Naur und che die Unabhängigkeit mit Waffengewalt ver- Shelki in die ASSR integriert wurden (Fowkes teidigt und die bis 1996 nicht mehr als 5.000 1998: 9ff). Somit kann man auch nicht von Personen umfasst hat (Tishkov 2005: 171). Die einem durchgehend und ausschließlich von Verdinglichung einer mythologisierten, heroi- TschetschenInnen bewohnten Territorium sierenden und „vormodernen“ tschetscheni- sprechen. schen nationalen Identität fand Tishkov zufolge Sergei Arutiunov weist darauf hin, dass es trotz erst seit Ende der 1980er Jahre statt. Dabei der Konflikte zwischen RussInnen und Tsche- wurde die mythenreiche tschetschenische tschenInnen auch zu vielen Mischehen zwi- Vergangenheit dazu herangezogen, um das schen Mitgliedern beider Gruppen gekommen Bild eines Volkes in der Gegenwart zu formen ist. So hatten aufgrund der gemeinsamen his- – wobei die multiethnische Realität in Tsche- torischen Vergangenheit viele TschetschenIn- tschenien diesem nicht wirklich entsprach. Das nen kosakische Großmütter und viele Kosa- Material dafür wurde von historischen, kInnen tschetschenische Großmütter, welche ethnographischen, literarischen und sich gegenseitig auch oft als Blutsverwandte pseudowissenschaftlichen Quellen geliefert: „I wahrnehmen (Arutiunov 1995: 16). Im Bezug put the blame here on those who through su- auf den ersten Tschetschenienkrieg 1994 geht perficial historical analyses and cultural essen- Galina Starovoitova soweit zu behaupten, dass tialism reduce a whole group to the level of a es sich dabei nicht um einen interethnischen ‚premodern nation’ with a unique fighting mor- Konflikt gehandelt hat. Ihrer Meinung nach al” (Tishkov 2004: 219). haben die ethnischen RussInnen in Tsche- 77 tschenien mindestens genauso stark unter der ten fortan, eine eigenständige ethnische Grup- Bombardierung Groznys durch die russischen pe zu sein. In weiterer Folge kam es zu einem Truppen gelitten wie die „tschetschenische“ Interessenskonflikt zwischen Tschetschenien Bevölkerung. Insofern sieht sie diesen Krieg und Inguschetien über den von Orstkhoy be- nicht gegen die tschetschenische Ethnie ge- wohnten Sunja-Bezirk. Die InguschInnen zähl- richtet, da auch viele russlandstämmige Be- ten diesen offiziell zu ihrem Territorium, wäh- wohnerInnen zu Tode gekommen sind. Zudem rend die TschetschenInnen diesen für sich konnten und wollten nach der Bombardierung beanspruchten (Shnirelman 2008: 140). Groznys viele RussInnen nicht aus der Stadt 1992 wurde die „Public Movement for the Re- fliehen, da sie – im Gegensatz zu den Tsche- vival of the Orstkhoy Ethnicity” von bekannten tschenInnen – in der Regel keine erweiterten Orstkhoy-HistorikerInnen, SchriftstellerInnen, Familiennetzwerke außerhalb der tschetsche- LokalverwalterInnen und religiösen FührerIn- nischen Hauptstadt hatten. Die ethnischen nen ins Leben gerufen, um den Bestand der RussInnen, die Jelzin zufolge durch den Krieg eigenen ethnischen Gruppe zu legitimieren. „gerettet“ werden sollten, wurden somit Opfer Dabei berief man sich etwa – wie auch die der „eigenen“ Luftwaffe (Smith 1998: 149; Sta- TschetschenInnen – auf den Kaukasus-Krieg rovoitova 1995: 12). im 19. Jahrhundert und die Deportation unter Ein weiteres interessantes Beispiel über den Stalin als chosen traumas, um die eigene Zusammenhang von Kultur und Ethnizität bil- Gruppenidentität zu konsolidieren. So behaup- det das Aufkommen einer ethnischen ten lokale Intellektuelle, dass sich die Orstkhoy Orstkhoy-Identität in Tschetschenien und Ingu- als separates wainachisches Volk trotz aller schetien, welches abschließend diskutiert wer- Assimilationsprozesse über die Jahrhunderte den soll. hinweg erhalten haben. Auf einer Makro- Ebene appellierten sie für die Zugehörigkeit zum Volk der WainachInnen – welchem neben 4.2.3. Das Aufkommen einer Orstkhoy- den TschetschenInnen und InguschInnen auch Identität die Orstkhoy, Melkhi- und Akkin- TschetschenInnen angehören (ebd.: 141ff). Seit dem Zerfall der Sowjetunion haben land- Die tschetschenische Führung lehnte jedoch rechtliche Streitigkeiten dazu geführt, dass die Interpretation eines separaten Volkes der neue ethnische Identitäten „geschaffen“ wor- Orstkhoy ab und behauptete, dass diese zum den sind bzw. angeblich „alte“ und „ursprüngli- Volk der TschetschenInnen gehören und ein che“ Identitäten wiederbelebt wurden. Anhand integraler Bestandteil ihrer Republik seien; des Beispiels der Orstkhoy zeigt Victor Shni- bestimmte AutorInnen sprachen in diesem relman (2008) auf, wie eine Gruppe unter Be- Zusammenhang auch von einer „Tschetsche- rufung auf eine gemeinsame mythische Ver- nisch-Orstkhoyschen“-Identität. Tschetscheni- gangenheit eine eigene ethnische Identität sche Medien spielten die Diskussion um eine konstruiert, um so einen Anspruch auf ein ei- separate Orstkhoy-Identität herunter und be- genes Territorium geltend zu machen. zichtigten Russland, bewusst einen Konflikt Die Orstkhoy oder Karabulak gehörten der zwischen Tschetschenien und Inguschetien wainachischen Stammesgruppe an und kämpf- schüren zu wollen. In der Zwischenzeit ver- ten im 19. Jahrhundert im Zuge der kaukasi- suchten beide benachbarte Republiken die schen Kriege unter Imam Schamil gegen die ansässige Orstkhoy-Bevölkerung davon zu russischen Truppen. Nach dessen Niederlage überzeugen, sich in ihren Reisepässen als verloren sie ihre Macht, und viele von ihnen TschetschenInnen bzw. InguschInnen zu de- sind in das Osmanische Reich migriert. Der klarieren (ebd.: 143f). Rest ist im Nordkaukasus geblieben, hat sich Unter lokalen tschetschenischen PolitikerInnen in die Völker der TschetschenInnen und Ingu- ist auch die Idee der Gründung einer gemein- schInnen eingegliedert und sich seitdem nicht samen wainachischen Republik – in welcher mehr auf ihren einst gemeinsamen Ursprung TschetschenInnen, InguschInnen und berufen. Nachdem sich 1991 die Tschetsche- Orstkhoy miteinander leben – aufgekommen.86 no-Inguschische ASSR aufgelöst hat, be- Jedoch lehnte ein Großteil der inguschischen schlossen die InguschInnen innerhalb der Bevölkerung eine solche Vereinigung gemäß Russischen Föderation zu verbleiben, während einer Meinungsumfrage im Jahre 1999 ab sich die TschetschenInnen von Russland un- (ebd.: 144). Auch der ehemalige tschetscheni- abhängig machten. Zu diesem Zeitpunkt be- schlossen die in dem Grenzland zwischen 86 Tschetschenien und Inguschetien lebenden Dudajew plante 1991 sogar das Konzept eines waina- chischen „Großtschetscheniens“, welches neben Tsche- BewohnerInnen angesichts der drohenden tschenInnen und InguschInnen die großteils in Dagestan Trennung sich auf ihre gemeinsamen lebenden Akkin-TschetschenInnen und die zum Teil in Orstkhoy-Vorfahren zu berufen und behaupte- Georgien lebenden Melkhi-TschetschenInnen umfassen sollte (Tishkov 2004: 50f). 78 sche Präsident Achmad Kadyrow kam laut wäre etwa die norwegische ethnische Identität, Shnirelman zu einer ähnlichen Ansicht: „(…) welche sich auf die WikingerInnen als Vorfah- Achmad Kadyrow (…) also stated that Chech- rInnen beruft und sich somit von den Schwe- nya and Ingushetia were separate republics dInnen und DänInnen abgrenzt. Eine andere even though the Chechens and Ingush were a Variante der Ethnogenese wäre die Größe ‚single Vainakh people‘“ (ebd.). Aus dieser einer ethnischen Gruppe zu minimieren, das Aussage sowie generell aus diesem Fallbei- heißt, dass man sich etwa auf VorfahrInnen in spiel lassen sich drei relevante Implikationen der jüngeren Vergangenheit beruft und somit ableiten: Zum einen zeigt es, dass sich die die möglichen Mitglieder der Gruppe aufgrund nordkaukasischen Völker kulturell sehr ähnlich geringerer gemeinsamer Abstammung be- sind und manche sogar einer gemeinsamen schränkt (Eriksen 2002: 68f). Ein wichtiger wainachischen Identität untergeordnet werden Punkt hierbei ist, dass es zu spezifischen Re- können, aber trotzdem verschiedene Gruppen Interpretationen der Vergangenheit kommt, in eine eigene ethnische Identität behaupten – deren Prozess historische und kulturelle Sym- war wiederum belegt, dass Kultur und Ethnizi- bole oft manipuliert werden: „(…) ethnic identi- tät nicht ident sein müssen. Zweitens illustriert ty can in an important sense be consciously das Beispiel ein weiteres Mal, dass die Tsche- constructed (…)“ (ebd.: 69). Spezifische Inter- tschenInnen nicht als ethnisch homogenes pretationen vergangener Ereignisse, die Beru- Volk zu verstehen sind, da sich etwa im 19. fung auf eine gemeinsame Abstammung und Jahrhundert ein Teil der Orstkhoy unter diese die so hergestellte Kontinuität mit den Vorfah- gemischt hat. rInnen können somit als wichtige Quellen poli- Schließlich zeigt auch dieses Fallbeispiel die tischer Legitimität in der Gegenwart dienen. So oftmalige Konstruiertheit von Ethnizität auf. haben etwa HistorikerInnen große Anstren- Über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg ha- gungen unternehmen müssen, um europäi- ben sich die Orstkhoy als TschetschenInnen sche Nationalstaaten als „alt“ darzustellen und bzw. InguschInnen verstanden, aber als es so zu legitimieren, obwohl diese moderne ihnen politisch opportun erschien deklarierten Konstrukte und in der Regel erst im 19. sie sich als eigene ethnische Gruppe mit ei- Jahrhundert entstanden sind (ebd.: 71). Dies nem historischen Kernland, welches sie in macht somit einen Fokus auf die diesem Sinne beanspruchten. Intellektuelle, Konstruiertheit ethnischer Identitäten IdeologInnen und HistorikerInnen versuchten – notwendig: „Interpretations of the past are im Sinne Benedict Andersons (1996) – einen important to every ethnic identity, and the rela- imaginierten Zusammenhang zwischen den tionship between such interpretations and ‚ob- Mitgliedern dieser „vorgestellten“ politischen jective history‘ is necessarily contestable“ Gemeinschaft herzustellen und dieser eine (ebd.: 72). „eigene Geschichte“ zuzuschreiben. Der Fall Innerhalb der anthropologischen Disziplin gibt der konstruierten Orstkhoy-Identität weist auf es unterschiedliche Positionen bezüglich der einen wichtigen Aspekt in der anthropologi- Frage, ob ethnische Gruppen etwas „Ur- schen Ethnizitätstheorienbildung hin, nämlich sprüngliches“ sind (primordialism) oder ob auf die vermeintliche „Ursprünglichkeit“ von diese nur sozial konstruiert sind und aus- ethnischen Gruppen und auf das Wechselspiel schließlich der Durchsetzung partikularer Inte- zwischen primordialism und instrumentalism. ressen dienen (instrumentalism).87 Mehrere Dieser Aspekt soll im Hinblick auf die tsche- anthropologische Studien haben sich eher der tschenisch-russischen Ethnizitätsbeziehungen zweiten Position angeschlossen und den politi- im nächsten Kapitel näher erläutert werden. schen Aspekt ethnischer Gruppen hervorge- hoben, wodurch jedoch der symbolische As- pekt und die Fähigkeit von Ethnizität, ein star- 4.3. Die Entstehung ethnischer kes Gefühl von Zugehörigkeit zu erzeugen, Gruppen und die Kontroverse zwi- unterminiert wird. Einen plausiblen Kompro- miss bietet hierbei die Sicht von Abner Cohen, schen primordialism und instrumen- welcher konstatiert, dass Ethnizität gleicher- talism maßen Aspekte von meaning und utility bein- haltet. Somit gibt ethnische Identität einerseits Die Entstehung ethnischer Gruppen – auch Antworten auf Fragen der Herkunft und den Ethnogenese genannt – kann laut Eriksen Sinn des Lebens und erfüllt somit das psycho- prinzipiell durch zwei verschiedene Möglichkei- logische Bedürfnis der Zugehörigkeit, und kann ten erfolgen. Einerseits können bereits existie- rende Kategorien erweitert werden, etwa durch 87 die Berufung auf eine genealogische Kontinui- Der Anthropologe Marcus Banks hat die Auseinander- setzung zwischen primordialism und instrumentalism tät mit VorfahrInnen, die oft schon vor Jahr- passenderweise als die Unterscheidung zwischen ethnicity hunderten gelebt haben. Ein Beispiel hierfür in the heart und ethnicity in the head beschrieben (Jenkins 2002: 127). 79 andererseits auch als ein Instrument zur führen Said zufolge oft zu xenophobem Natio- Durchsetzung politischer Interessen und im nalismus und Chauvinismus. Insofern kommt Wettstreit um knappe gesellschaftliche Res- er zu dem Schluss, dass jeder Mensch ein sourcen benutzt werden (Eriksen 2002: 44ff; Fundament benötigt, auf welchem seine Identi- 53f). Auch Richard Jenkins kommt tät fußt; jedoch stellt sich die Frage, wie extrem diesbezüglich zu einer ähnlichen und unveränderbar sich die Definition dieses Schlussfolgerung: Fundamentes gestaltet (Said 2003: 332f).

„On the one hand, ethnic and national identi- ties mean a great deal to the individuals who 4.3.1. Instrumentalism und Sezession claim them and offer enormous potential for collective mobilization. (…) On the other hand, Das Beharren auf der Ursprünglichkeit der however, ethnicity and nationality appear to be eigenen ethnischen Gruppe, die Überbetonung flexible, capable of transposition and transplan- der eigenen ethnischen Identität und deren tation. (…) From this point of view, their mean- Instrumentalisierung durch Führerpersonen hat ing is not dictated by history or blind passions oft opportunistische Gründe. So haben etwa of the ‚blood’, but made by us, as individuals or die SchottInnen just in dem Moment ihre natio- collectivities, in response to our needs and nale Identität „wiederentdeckt“, als die Regie- interests” (Jenkins 2002: 117).88 rung in London Profit aus dem Verkauf von Ölbohrlizenzen vor der schottischen Meeres- Die Annahme, dass ethnische Identitäten aus- küste machte. Auch die italienische nationale schließlich konstruiert sind und keinen histori- Identität wurde dadurch in Frage gestellt, dass schen und kulturellen Bezug zur entsprechen- manche Regionen aus dem wohlhabenden den Gruppe aufweisen, würde darüber hinaus Norden des Landes sich darüber beschwerten, zu einem überzogenen Konstruktivismus füh- die ärmeren Regionen im Süden Italiens mitfi- ren, der jede ethnische Identität – unabhängig nanzieren zu müssen (Bauman 2004: 56). In von kulturellen Faktoren und Herkunft – vor- beiden Beispielen sind vorwiegend ökonomi- stellbar machen würde. Da jedoch ethnische sche Motive für das Beharren auf einer eige- Identifikationen Aspekte von utility und mea- nen ethnischen bzw. regionalen Identität aus- ning umfassen, scheint es eher plausibler, schlaggebend. dass deren Entstehung innerhalb eines be- Auch Sezessionsbewegungen – darunter auch stimmten historischen Frameworks stattfindet die tschetschenische – verfolgen eine ähnliche und bei ethnischen Gruppen oft eine kulturelle Strategie, wenn sie die Ursprünglichkeit und Kontinuität mit der Vergangenheit besteht. Beständigkeit der eigenen Ethnie postulieren Damit eine ethnische Identität als solche funk- um so die Bildung eines eigenen, unabhängi- tionieren kann, muss diese in Kontakt mit den gen Staates zu erreichen. Coppieters und tatsächlichen Erfahrungen der Mitglieder einer Huysseune (2002) verweisen hierbei vor allem ethnischen Gruppe stehen, um von diesen als auf die Rolle von Intellektuellen, die versuchen solche akzeptiert zu werden. Darüber hinaus die Unabhängigkeitsbestrebungen durch ein muss die ethnische Identität einer Gruppe historisches und wissenschaftliches Funda- auch von anderen Gruppen für plausibel aner- ment zu legitimieren. Dem evolutionistischen kannt werden, um Gültigkeit zu besitzen (Erik- Schema von Miroslav Hroch zufolge führt wis- sen 2002: 91-95). senschaftliches Interesse in Nationalismus oft Edward Said (2003) weist darauf hin, dass die in einem weiteren Schritt zu patriotischer Agita- meisten Menschen sich verständlicherweise tion, welche schließlich eine Mobilisierung der der Tatsache widersetzen, dass menschliche Massen zur Folge hat. Intellektuelle tragen Identitäten nicht nur „unnatürlich“, sondern insofern zu solchen Mobilisierungsprozessen auch konstruiert und in bestimmten Fällen bei, indem sie sogenannte nationalising dis- sogar „erfunden“ sind. Die Gründe hierfür sind, courses bzw. discours nationalitaires schaffen dass man sich nicht damit abfinden will, dass (Coppieters/Myhul/Huysseune 2002: 15, 24). die menschliche Realität einem ständigen Diese wiederum beinhalten Mythen, welche Wandel unterworfen ist und somit die eigene sich auf bestimmte Aspekte aus dem kulturel- Identität immer instabil und veränderbar ist. len Erbe und den Traditionen der entspre- Angstgeleitete Reaktionen auf diesen Umstand chenden ethnischen Gruppe beziehen und so einen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe herstellen: 88 Bauman plädiert ebenfalls für das Zusammenwirken von utility einerseits und meaning andererseits: „The two things „Various solidary myths, such as those pertain- go together – the thinness of the set of beliefs, symbols and rules that bind all polity members, and the richness, ing to a common national ancestry, language, density and diversity of alternative (ethnic, historic, reli- history, and so on, constitute important ele- gious, sexual, linguistic, etc.) tokens of identity” (Bauman ments of any such discourse. ‚Nationalising 2004: 80). 80 discourses‘ help to forge a collective Nichtsdestotrotz darf man aber auch nicht die ‚sharedness‘ and ‚togetherness‘, or an ‚imag- Bedeutung, die nationale Mythen für ethnische ined‘ national community (…) myths are in- Gruppen haben können, aus dem Auge verlie- strumental in moulding a late nation’s identity“ ren (Coppieters/Myhul/Huysseune 2002: 28). (ebd.: 24).

So kommt er verständlicherweise zu einem 4.3.2. Konkurrierende nationale Narrative Wettstreit zwischen den nationalen Mythen im Tschetschenienkonflikt nach Unabhängigkeit strebender so genannter late nations89 wie Tschetschenien (siehe Kapi- Um Anfang der 1990er Jahre die Unabhängig- tel 3.4.) auf der einen Seite und der russischen keit von Russland zu erlangen, propagierte auf der anderen, welche Sezessionsbewegun- auch die tschetschenische nationale Bewe- gen entgegenwirken will und auf die Existenz gung eine Redefinition einer tschetscheni- unterschiedlicher ethnischer Gruppen inner- schen nationalen Identität, indem sie das kol- halb der russischen Grenzen beharrt. Somit lektive Gedächtnis „umformte“ und geschichtli- sind solche oft von WissenschaftlerInnen pro- che Fakten neu interpretierte (vgl. Kapitel 3.3. duzierten nationalising discourses von großer und 3.4.). Diese Reinterpretation der tsche- Bedeutung für verschiedene politische Akteu- tschenischen Geschichte wurde dabei vor rInnen (ebd.: 24f). Hier lässt sich auch eine allem von tschetschenischen Autoritäten, der Parallele zu dem schon in Kapitel 2.2.2. er- Nationalbewegung und der tschetschenischen wähnten Umstand ziehen, dass Russland die Intelligentsia – welche aus HistorikerInnen und TschetschenInnen als eine ethnische Gruppe anderen Personen mit höherer Ausbildung in einem russischen Vielvölkerreich definiert, bestand – getragen und in akademischen und während die tschetschenische Unabhängig- öffentlichen Diskursen fortgeschrieben. Diese keitsbewegung diese eher als eigenständige neu formulierte tschetschenische Geschichts- Nation betrachtet. interpretation hatte dabei zwei grundlegende Die Instrumentalisierbarkeit wissenschaftlich Ziele: Zum einen die russischen Argumente produzierten Wissens für nationalistische Zwe- gegen eine tschetschenische Sezession zu cke macht eine kritische Selbstreflexion in den entkräften und so die eigene Unabhängigkeit betroffenen Disziplinen notwendig. So meint zu legitimieren; und zum anderen den Tsche- auch Eric Hobsbawm: „For historians are to tschenInnen sowjetisches Gedankengut „aus- nationalism what poppy-growers in Pakistan zutreiben“ (Gammer 2002: 117f). are to heroin-addicts: we supply the essential Gerade aufgrund dieses zweiten Zieles der raw material for the market“ (Hobsbawm 1992: Nationalbewegung verwundert es jedoch, dass 3). In diesem Sinne schreiben auch viele Histo- das neue tschetschenische historische Narrativ rikerInnen gegen „primordiale“ Konzeptionen dennoch sehr stark von einer sowjetischen von ethnischen und nationalen Identitäten an Denkweise geprägt ist. So zeigt dieses immer und weisen Behauptungen über die Unverän- noch eine starke Verbundenheit zur ehemali- derbarkeit nationaler Gruppierungen zurück.90 gen Sowjetunion auf, indem etwa darauf ver- wiesen wird, wie loyal und heroisch die Tsche-

89 tschenInnen im „Großen Vaterländischen Coppieters und Huysseune definieren Tschetschenien Krieg“ – dem Zweiten Weltkrieg – an der sow- insofern als late nation, als die tschetschenische Unab- 91 hängigkeitsbewegung erst in den 1990er Jahren nach jetischen Seite gekämpft haben. Weiters einer internationalen Anerkennung der tschetschenischen haben auch viele tschetschenische Historike- de facto-Unabhängigkeit strebte (Coppie- rInnen hauptsächlich auf russische und sowje- ters/Myhul/Huysseune 2002: 23). 90 tische Quellen zurückgegriffen, um Fakten zu Ein bekanntes Beispiel für eine solche Theorie ist die der „invented traditions“ von Hobsbawm und Ranger. finden, die mit ihrem Narrativ konsistent sind. Hobsbawm (1995) postuliert, dass viele – als „uralt“ darge- Dies zeigt auch, dass die russische Sprache stellte – nationale Traditionen einer ethnischen Gruppe oft die von gebildeten TschetschenInnen am häu- relativ neuen Ursprungs sind und von NationalistInnen und figsten gesprochene Sprache ist und zudem Intellektuellen in Verfolgung ihrer partikularen Ziele oft bewusst konstruiert werden. Basierend auf seiner Analyse auch oft die einzige Fremdsprache, die sie verschiedener „invented traditions“ seit der industriellen beherrschen (ebd.: 118ff). Die Verbundenheit Revolution identifiziert Hobsbawm zudem mehrere – teil- aufgrund der gemeinsamen Sprache ist hierbei weise überlappende – Funktionen, welche diese inneha- wiederum ein gutes Beispiel für eine ethnic ben können. So können „invented traditions“ durch eine Herstellung von Kontinuität mit der Vergangenheit einen sozialen Zusammenhalt innerhalb einer ethnischen Grup- pe herstellen, bestimmte Institutionen und Machtverhält- nisse festschreiben und einer Gruppe bestimmte Glau- einer Gruppe eher als etwas „Imaginiertes“ zu verstehen bensvorstellungen und Verhaltensweisen „einimpfen“ sind (Coppieters/Myhul/Huysseune 2002: 28). (Hobsbawm 1995). In diesem Kontext muss jedoch darauf 91 Vgl. hierzu exemplarisch einen Bericht über den tsche- hingewiesen werden, dass Nationen und ihre Traditionen tschenischen Piloten Dasha Akaev, welcher in der sowjeti- in der Regel nichts „Erfundenes“ sind, sondern aufgrund schen Armee große Heldentaten bei der Blockade von des Bezuges zum kulturellen Erbe und der Vergangenheit Leningrad vollbracht hat (Kashurko 2005). 81 complementarisation zwischen RussInnen und nen auch schon seit 300 Jahren erbitterten TschetschenInnen. Widerstand gegen Russland. Speziell die- Die Hauptmotive der von nationalistisch moti- se zwei Motive von Widerstand und Geno- vierten TschetschenInnen sowie RussInnen zid nehmen eine zentrale Stellung in die- geäußerten Narrative gestalten sich – verkürzt sem nationalen Narrativ ein, was auch dargestellt – laut Gammer folgendermaßen schon im Rahmen des Kapitels 3.3. disku- (ebd: 119ff): tiert wurde.

 Das russische Narrativ: Die Tschetscheno- Was bei diesen beiden Narrativen besonders Inguschische ASSR war eine autonome auffällt, ist, dass bestimmte historische Fakten Republik innerhalb der Sowjetunion, hatte je nach Sichtweise ausgespart worden sind. keine Souveränität und somit auch kein So findet man etwa im russischen Narrativ Recht auf Sezession von der Sowjetunion kaum Hinweise auf die unzähligen Kriege, die bzw. der Russischen Föderation. Vor der in den letzten Jahrhunderten gegen die Tsche- Entstehung dieser ASSR existierte kein tschenInnen geführt worden sind, oder auf die tschetschenischer Staat. Die Tschetsche- traumatische Deportation 1944. Im tsche- nInnen sind eine „geschichtslose Nation“; tschenischen Narrativ dagegen werden die ein Staat wurde ihnen erst durch die sow- russisch-tschetschenischen Beziehungen als jetischen Autoritäten zuteil. Die Tsche- ein permanenter Konflikt dargestellt, der einen tschenInnen waren „primitiv“ und „unzivili- 300-jährigen Widerstand seitens der Tsche- siert“, bis sie durch die RussInnen „aufge- tschenInnen mit sich gebracht hat. Diese An- klärt“ und „zivilisiert“ wurden. Dies zeigt sicht wiederum vernachlässigt den Fakt, dass sich auch daran, dass die städtische, ge- Generationen von TschetschenInnen mehr bildete Schicht in Tschetschenien weitge- oder weniger friedlich unter russischer und hend sowjetisiert war. Der Widerstand ge- sowjetischer Herrschaft gelebt haben und dass gen das Zarenreich und die Sowjetunion dabei auch gute Kontakte zu RussInnen unter- wurde nur von wenigen „Reaktionären“ halten wurden (ebd.: 121). Die Konstruktion und „kriminellen Elementen“ heraufbe- solcher Narrative ist deshalb beiderseits von schworen, die jedoch nicht repräsentativ bewusster Erinnerung und bewusstem Ver- für die überwiegende Mehrheit des tsche- gessen geprägt: tschenischen Volkes gewesen seien. Zu- dem wäre ein unabhängiger tschetscheni- „The dramatic nature of historical narratives scher Staat u.a. aufgrund ökonomischer emerges most clearly in the case of Chechnya, Gründe nicht überlebensfähig. which shows how the construction of such memories combines memory and oblivion: the  Das tschetschenische Narrativ: Die Tsche- rediscovery of the Chechen past (…) is com- tschenInnen bzw. das Volk der Waina- bined with an obliviousness of those aspects of chInnen waren eine antike zivilisierte Nati- the past that show the collaboration and ac- on, die ihr jetziges Territorium zumindest commodation between Chechens and the seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. so gut wie Russian and Soviet authorities. Here the resto- ohne Unterbrechung bewohnt hat. Sie er- ration of national pride is translated into a dis- richteten im Laufe der Zeit verschiedene course that highlights military resistance” Staaten und politische Einheiten, wie (Huysseune/Coppieters 2002: 286f). bspw. den wainachischen Staat (4. und 3. Jahrhundert v. Chr.), den Serir-Staat (5.-9. Dieses Beispiel zeigt die enge Verbindung Jahrhundert n. Chr.), den Alaniya-Staat zwischen der Reinterpretation von nationaler (10.-11. Jahrhundert) und den Simsim- Geschichte einerseits und politischer Mobilisie- Staat (16. Jahrhundert). Vor den ersten rung zum Zwecke der Unabhängigwerdung russischen Übergriffen konstituierten sie andererseits. Da Sezessionsbewegungen sich eine demokratische Gesellschaft, wobei im als stellvertretend für die gesamte ethnische Mehk Khel (dem „Council of the Land“) Gruppe sehen und die nationale Identität be- entsprechende Entscheidungen getroffen sonders dann hervorheben, wenn diese wurden. Im 19. Jahrhundert wurden sie schwach erscheint, beinhaltet Sezession auch freiwillig Teil des Imamats, welches als is- immer in einer gewissen Weise ein Programm lamischer Staat im Kampf gegen das Za- für Nation-Building. Der heroische Widerstand renreich errichtet wurde. Somit bildeten die in der Vergangenheit legitimiert dabei den TschetschenInnen immer schon eine „his- bewaffneten Unabhängigkeitskampf in der torische Nation“, und die Angriffe der Rus- Gegenwart, wobei im Falle Tschetscheniens sInnen seien in diesem Sinne als Imperia- die kämpferischen Werte der Widerstandshel- lismus und Genozid zu bezeichnen. Auf- dInnen im 18. und 19. Jahrhundert auf die grund dessen leisten die TschetschenIn- kontemporären WiderstandskämpferInnen 82

übertragen wurden. Nationalising discourses der tschetschenischen Sozialstruktur auf Lewis führen bei Sezessionsprozessen – wie auch Henry Morgans Beschreibungen der Iroquois beim Tschetschenienkonflikt – oft eine Radika- und verwendete verschiedene Termini wie lisierung der Situation herbei und verschlim- kinship, clans und lineages, um so ein Bild der mern bereits vorhandene interethnische Trenn- traditionellen tschetschenischen Clan- bzw. linien durch die ausschließliche Fokussierung teip-Strukturen92 zu entwerfen. Diese Sichtwei- auf eine Gruppe und die damit verbundene se, obwohl weitgehend akzeptiert, wird jedoch Verunglimpfung anderer Gruppierungen. Dabei von bestimmten WissenschaftlerInnen stark werden die weitgehenden Transformationen – angezweifelt. Erstens ist das Wort teip kein welche ethnische Gruppen oft im Laufe der emischer, indigener Begriff, sondern wurde Zeit durchlaufen – ignoriert und stattdessen zu aus dem Arabischen importiert. Zudem wurden beweisen versucht, dass diese schon immer die „vormodernen“ teip- innerhalb eines bestimmten Territoriums an- Verwandtschaftsstrukturen durch Bevölke- sässig waren (Huysseune/Coppieters 2002: rungsbewegungen und sozialen Wandel stark 276-286). Die mannigfaltigen Transformations- fragmentiert, u.a. da viele Gemeinschaften die prozesse, welche „die TschetschenInnen“ als pastoralen Regionen im kaukasischen Berg- ethnische Gruppe im Rahmen der interethni- land verlassen haben, um sich im Flachland schen Beziehungen mit Russland durchge- niederzulassen. Die zaristische Kolonialisie- macht haben, werden versucht in diesem Kapi- rungs- und sowjetische Kollektivierungspolitik tel 4 ansatzweise darzustellen. hat darüber hinaus diese Verwandtschaftsver- bindungen noch weiter unterminiert (Hughes 2007: 3). 4.3.3. Die Frage der kulturellen „Authentizi- Ekaterina Sokirianskaia untersuchte in einer tät” und die Rolle der teips kürzlich durchgeführten Studie die Rolle der teips in Tschetschenien und Inguschetien und Im 18. und 19. Jahrhundert stellte sich inner- identifizierte dabei zwei unterschiedliche Be- halb der anthropologischen Disziplin die Frage, deutungen des Begriffes unter den Tsche- inwiefern bestimmte Kulturen als „authentisch“ tschenInnen: Erstens beschreibt dieser eine wahrzunehmen sind. So postulierten viele großflächig imaginierte territoriale Identität AnthropologInnen damals, dass indigene Völ- einer gemeinsamen lineage93 und zweitens ker eine „wahre“, alte und somit „authentische“ kleine soziale Netzwerke unter dem Einschluss Kultur besitzen, welche jedoch durch Moderni- von blutsverwandten erweiterten Familien. Sie sierungseinflüsse „kontaminiert“ wurde und kam zu dem Ergebnis, dass letztere teip- somit zu einer neuen und „künstlichen“ Kultur Strukturen eine Rolle im Sinne von politischen mutierte. Diese Unterscheidung ist jedoch aus klientelistischen Netzwerken spielen, während einer kontemporären anthropologischen Sicht das breiter gefasste Konzept von teip keine nicht zulässig, da sie selbst kulturell produziert Rolle in der Staatsbildung und in der Politik worden ist und somit der Interpretation des hat. Kontemporäre tschetschenische politisch- Forschers/der Forscherin unterliegt. Zudem ist militärische Gruppen und Netzwerke (Clans) Kultur nicht statisch, sondern dynamisch und sind dagegen eher ideologisch, territorial (ba- immer im Wandel begriffen. Weiters werden sierend auf dem Herkunftsort) und durch per- die Kriterien für eine „authentische“ ethnische sönliche Kontakte definiert – ein Beispiel hier- Identität ständig in einem intraethnischen so- für wären etwa die „Kadyrowzy“ bzw. der Ka- wie in einem interethnischen Rahmen produ- dyrow-Clan. Der oft benutzte Begriff „Clan“ ziert (Eriksen 2002: 130f). bezieht sich im tschetschenischen Kontext Auch im Zuge der Kriege mit Russland in den somit eher auf klientelistische Netzwerke, wel- 1990er Jahren wurden den TschetschenInnen che jedoch mit ursprünglichen verwandt- u.a. von WissenschaftlerInnen und Kriegsre- schaftsbezogenen Clanstrukturen nur mehr porterInnen „authentische“ kulturelle Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben, welche 92 Laut Götz und Halbach (1994: 332) waren die Tsche- zumindest auf das 18. Jahrhundert zurückge- tschenInnen traditionellerweise stark durch Familien- und hen. So wurden in mehreren akademischen Clanstrukturen miteinander verbunden; jeder war Mitglied und journalistischen Berichten die „vor- eines teips, einer Sippeneinheit, die zwei oder drei Sied- modernen“ tschetschenischen Clanstrukturen lungen umfasst, sich auf eine/n gemeinsame/n Ahnen/in – normalerweise um 12 Generationen – zurückführt und dem und die soziale Organisation übertrieben ro- jede/r Tschetschene/in loyal ergeben war. Die soziale mantisierend dargestellt. Diese Darstellungen Organisation der TschetschenInnen zeichnete sich vor waren dabei stark von sowjetischen Anthropo- allem durch ihr hohes Maß an Egalitarität aus – Adel und Fürstenherrschaft waren weitgehend ungekannt. logInnen geprägt, welche in der Regel zu ro- 93 Ein Beispiel hierfür ist der Benoj-teip, welchem die mantisierenden Beschreibungen neigten. Der Kadyrow-Familie und 15% der tschetschenischen Bevölke- tschetschenische Ethnologe Mahomet Mama- rung angehören. Diese teip-Identität hat jedoch eher eine kaev bezog sich etwa bei der Beschreibung symbolische Bedeutung und ist für die politische Organisa- tion heute weitgehend unerheblich (Hughes 2007: 4). 83 wenig gemeinsam haben.94 Sokirianskaia chen wurde und wiederbelebt werden konnte“ kommt wie Hughes und Lieven zu dem (Interview mit Kappeler, Wien 2009). Schluss, dass, wenn die teips jemals eine Rol- le für die politische Organisation der Tsche- „Während der sowjetischen Jahrzehnte haben tschenInnen gespielt haben, diese Funktion die Tschetschenen ihre traditionellen Struktu- durch die russische Kolonialisierung, die zaris- ren beibehalten (…) Natürlich hatten sie im- tischen und sowjetischen Modernisierungs-, mer noch ihre traditionellen Konfliktregelungs- Industrialisierungs-, Säkularisierungs- und sitzungen, bei denen die Dorf- und teip- Kollektivierungsprogramme sowie die folgen- Ältesten eine bedeutende Rolle gespielt haben reiche Deportation 1944 weitgehend zerstört (…) Diese traditionellen tschetschenischen wurde (ebd.: 4f). Strukturen und die sowjetischen Strukturen Die heutige Bedeutung der teips hängt auch haben somit parallel zueinander existiert“ (In- von der regionalen Herkunft der Tschetsche- terview mit Szyszkowitz, Wien-Moskau 2009). nInnen ab. So sind teip-Strukturen traditionel- lerweise in den Berggebieten immer tiefer ver- Laut Malek (2008: 42) kam es dann nach Jahr- ankert gewesen, während im tschetscheni- zehnten der sowjetischen Unterdrückung in schen Flachland rund um Grozny – wo Moder- den 1980er Jahren zu einer Wiederbelebung nisierungsprozesse und der Kontakt mit Rus- der teips in Tschetschenien. Insofern veränder- sInnen stärker ausgeprägt waren – die Identifi- te sich das Konzept des teips durch unzählige kation mit dem Clan eher geringer ist. Wäh- soziale und politische Umbrüche im Laufe der rend der 1990er Jahre schrieben zudem viele letzten Jahrhunderte und hat – wie Sokiri- NationalistInnen der Nation eine größere Be- anskaia aufzeigt – heute gänzlich unterschied- deutung zu als den traditionellen teip-Formen liche Bedeutungen und Funktionen als etwa (Lieven 1998: 342; Malek 2008: 33). In den im noch im 18. Jahrhundert. Zudem spielen sie Rahmen dieser Arbeit geführten Interviews u.a. laut Bisaev heute keine große Rolle mehr zeigt sich, dass den teips jedoch immer noch für die politische Organisation Tschetsche- ein gewisser Stellenwert zugeschrieben wird. niens. Dennoch reproduzierten russische Eth- Auf die Frage, welche Bedeutung diese heut- nologen wie Jan Chesnov und Sergei Arutiu- zutage noch haben, meinte der Tschetschene nov das Bild einer unveränderten, traditionellen Khawasch Bisaev: tschetschenischen Gesellschaft und trugen dadurch zur Entstehung des Mythos der „ur- „Ich glaube, dass die Rolle der teips von den sprünglichen“ und uralten tschetschenischen Medien und der Forschung immer übertrieben Zivilisation und des 400-jährigen Krieges zwi- wird. Sie spielen nicht so eine wichtige Rolle schen Russland und Tschetschenien bei.95 (…) für die prinzipiellen, politischen Entschei- Tishkov kritisiert dieses Phänomen des anth- dungen der Bevölkerung, im sozialen Bereich ropologischen Reduktionismus scharf, da dagegen sind sie jedoch durchaus von Bedeu- durch diesen ein kulturell unverkennbares aber tung“ (Interview mit Bisaev, Wien 2009). dennoch modernes tschetschenisches Volk als eine „vormoderne Nation“ oder eine „antike Kappeler und Szyszkowitz betonen dabei, tribale Ethnie“ dargestellt wird. Durch die Zitie- dass die tschetschenische Sozialstruktur trotz rung und den Bezug auf solche – oft nur man- der sowjetischen Politik und der Deportation in gelhaft nachweisbare oder sogar erfundene – einer bestimmten Form erhalten worden ist: ethnographische Daten werden somit kulturelle Gemeinsamkeiten und Hybridität mit anderen „Die sowjetische Politik hat mit Sicherheit vie- ethnischen Gruppen negiert und nationale les zerstört, was an sozialen Normen in Tsche- Mythen geschaffen, wie sie auch in den 1990er tschenien existiert hat (…) Jedoch zeigte sich, Jahren aufgetreten sind (Tishkov 2004: 220f). dass unter dieser sowjetischen Oberfläche in Weiters sieht Lieven (1998: 338f) auch die Zentralasien die alten sozialen Strukturen (…) russische „Niederlage“ im ersten Tschetsche- noch erhalten geblieben sind und heute wieder nienkrieg durch die falschen Informationen weiterexistieren (…) Deswegen würde ich be- über die Sozialstruktur der TschetschenInnen haupten, dass eine Tradition des teips existiert, bedingt. So haben das russische Militär und die nicht – oder jedenfalls nicht ganz – gebro- die russische Führung angenommen, die tschetschenischen Clans seien statisch, unfle- 94 Auch Lieven (1998: 344) zufolge spielen die teips kaum xibel, untereinander zerstritten und hätten sich eine Rolle mehr in der tschetschenischen Politik. Seiner über die letzten Jahrhunderte kaum verändert. Meinung nach ist die tschetschenische Sozialstruktur heutzutage weitgehend von Clans geprägt, welche teilwei- se auf teips basieren, aber auch Mitglieder aus erweiterten 95 Arutiunov etwa bezeichnet Tschetschenien immer noch Familien, bürokratischen, ökonomischen und regionalen als eine „military democracy“, die sich ähnlich wie die Interessensgruppen und Geschäfts- und Mafiaverbindun- Iroquois oder die Zulu in Kriegszeiten zusammenschließt, gen miteinschließen. während sie in Friedenszeiten oft in hunderte verfeindete Clans zersplittert ist (Tishkov 2004: 220). 84

Dementsprechend überrascht waren die russi- zu verleihen. Barth ermahnt diesbezüglich, schen Truppen, als sie aufgrund der vereini- dass „(…) a great amount of attention must be genden Wirkung des tschetschenischen Natio- paid to the revival of historical traditions to nalismus auf einen starken Widerstand gesto- justify and glorify the idioms and the identity” ßen sind. (Barth 1969: 35). Um eine kulturelle Kontinuität Auch in kontemporären sozialwissenschaftli- mit der Vergangenheit herzustellen, trugen chen Diskursen wird die „Ursprünglichkeit“ etwa Anfang der 1990er Jahre der damalige bzw. Konstruiertheit der TschetschenInnen – Militärkommandant an Dudajews Seite also die Auseinandersetzung zwischen primor- Maskhadov und Vizepräsident Yandarbiev dialism und instrumentalism – oft kontrovers öfters den paphka – einen Hut aus Lammfell, diskutiert. Verschiedene AutorInnen und politi- der traditionellerweise von tschetschenischen sche AkteurInnen bemühen Stereotype des Stammesälteren getragen wurde. Hughes „edlen“ bzw. „unzivilisierten“ Wilden – welche zufolge war das zur Schau Stellen dieses kul- aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen turellen Symbols eine bewusste Strategie in und v.a. auf literarische Darstellungen zurück- den Jahren 1990-91, um durch den Rückbezug zuführen sind96 – und berufen sich darauf, die auf eine traditionelle tschetschenische Identität „authentische“ tschetschenische Kultur darzu- Unterstützung und Anerkennung in Tsche- stellen. Dabei projizieren sie diese stereotypen tschenien zu erlangen (Hughes 2007: 13). Vorstellungen auf die TschetschenInnen der Ähnlich verhält es sich mit der Rolle der teips, Gegenwart und suggerieren damit implizit, welche wie schon erwähnt für die politische dass sich diese seitdem kaum verändert haben Organisation der TschetschenInnen heute und – in einer (wohl oft unbewussten) Über- kaum mehr eine Rolle spielen, jedoch in den nahme des tschetschenischen nationalen Nar- 1990er Jahren als Symbole nationaler Identifi- rativs – gemäß ihren „Traditionen“ immer noch kation durchaus von Dudajew benutzt wurden, heroisch gegen Russland kämpfen. Lieven um Zustimmung bei der Bevölkerung zu erhal- etwa betont, dass die tschetschenische Ethnie ten. So inszenierte dieser zwischen 1990-1993 schon seit Urzeiten besteht, und beschreibt eine Wiederbelebung der teips und organisier- ihren „kriegerischen Charakter“ und ihre hel- te auch öfters öffentliche Treffen mit den Ältes- denhafte Solidarität. Tishkov dagegen relati- ten der unterschiedlichen tschetschenischen viert in seinen Ausführungen die nationale teips (Lieven 1998: 342f). Identität der TschetschenInnen und überbetont Zusammenfassend lassen sich somit Diskurse die säkulare tschetschenische sowjetische über kulturelle „Authentizität“ sowohl in kon- Identität vor 1991 (Hughes 2007: 4-7).97 temporären Beschreibungen über Tschetsche- Diese Auseinandersetzung verdeutlicht die nInnen finden wie auch in der nationalistischen Gefahr, sich ausschließlich auf „primordiale“ Rhetorik und Argumentation der tschetscheni- bzw. „instrumentalistische“ Argumente zu stüt- schen Unabhängigkeitsbewegung. zen. Mit Sicherheit sind die TschetschenInnen nicht als eine statische Gruppe, die seit Jahr- tausenden in derselben Form Bestand hat, zu 4.3.4. Exkurs: Die Frage der Unabhängigkeit verstehen. Andererseits kann man diesen auch nicht ihre Identität absprechen, da sich diese Nach der Diskussion historischer und kulturel- auf bestimmte kulturelle Elemente in der Ver- ler Legitimationen für die Unabhängigkeit gangenheit bezieht, welche in der Gegenwart Tschetscheniens soll an dieser Stelle kurz die für die betroffenen Mitglieder der ethnischen rechtliche Dimension dargestellt werden. Tish- Gruppe relevant sind. Insofern beinhaltet kov zufolge treffen im Falle Tschetscheniens Ethnogenese – wie schon erwähnt – Teile von zwei widersprüchliche völkerrechtliche Prinzi- meaning und politics; oder wie Jenkins (2002) pien aufeinander: einerseits das Recht auf die dies ausdrückt, ist Ethnizität „imagined but not territoriale Integrität eines Staates – auf wel- imaginary“ (vgl. auch Kapitel 2.1.4.). ches sich Russland beruft; und andererseits Jedoch wurde das Konzept der kulturellen das Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung, „Authentizität“ nicht nur von WissenschaftlerIn- welches die tschetschenische Nationalbewe- nen und JournalistInnen bei der Beschreibung gung einfordert. Zusätzlich wird diese Diskus- der TschetschenInnen benutzt, sondern auch sion durch den Umstand erschwert, dass sich seitens der tschetschenischen Führung propa- die Praxis der internationalen Gemeinschaft giert, um die eigene ethnische Gruppe als bezüglich der Gewährung des Selbstbestim- „authentisch“ darzustellen und somit den eige- mungsrechts inkonsistent gestaltet und dass nen Unabhängigkeitsforderungen Nachdruck der Begriff „Volk“ nie präzise definiert wurde (Tishkov 2005: 159f). Die Schwierigkeit und 96 Vgl. dazu Kapitel 4.1.4. Komplexität der Frage, was ein „Volk“ oder 97 In der Auseinandersetzung mit den Werken ebenge- eine „Ethnie“ ausmacht, wurde in den vorher- nannter Autoren im Rahmen dieser Arbeit wurden diese gehenden Kapiteln aufgezeigt. Aspekte kritisch hinterfragt. 85

James Hughes (2005) verweist auf die Zentra- fähig sein muss, um die Unabhängigkeit zu lität der Unabhängigkeitsfrage in den rezenten erlangen, stark zu hinterfragen. So blieben Tschetschenienkriegen. Entgegen historizisti- etwa viele ehemalige europäische Kolonien schen Erklärungsversuchen des russisch- wirtschaftlich abhängig von den entsprechen- tschetschenischen Konfliktes, welche wie das den Kolonialmächten; bzw. sind in einer zu- tschetschenische nationale Narrativ die Kriege nehmend globalisierten Welt die wenigsten der 1990er Jahre in Kontinuität mit den kriege- Länder als wirtschaftlich unabhängig von ande- rischen Auseinandersetzungen der letzten ren Staaten und dem Weltmarkt zu betrachten. Jahrhunderte sehen, ist Hughes zufolge der In Tschetschenien wurden während der rezen- Hauptgrund für die aktuellen Tschetschenien- ten Kriege große Teile der wirtschaftlichen kriege vorrangig in der tschetschenischen For- Infrastruktur zerstört, weshalb wohl auch in derung nach Unabhängigkeit zu sehen (Hug- diesem Fall eine „eigenständige“ ökonomische hes 2005). Die Anerkennung von neuen Staa- Unabhängigkeit in naher Zukunft eher undenk- ten durch die internationale Gemeinschaft war bar ist (Hughes 2005: 270).99 in großem Maße durch den Dekolonisierungs- Was das moralische Argument betrifft, so lässt prozess Mitte des 20. Jahrhunderts gekenn- sich die tschetschenische Forderung nach zeichnet und fand seinen Ausdruck in der uti Unabhängigkeit bezüglich zweier Aspekte possidetis juris-Doktrin, welche im Sinne des hinterfragen. So wurden zwischen 1991 und internationalen Gewohnheitsrechts angewandt 1993 – vor allem russische – Minoritäten aus wurde. Dieser Doktrin zufolge können neue Tschetschenien gewaltsam vertrieben, um so Staaten auf Basis der administrativen Grenzen eine ahistorische ethnische Homogenität zu der höchsten administrativen Einheiten, die erzwingen und den Unabhängigkeitsforderun- während der Kolonialzeit Bestand hatten, ge- gen Nachdruck zu verleihen. Es stellt sich die gründet werden. Nach dem Fall der Sowjetuni- Frage, ob die internationale Gemeinschaft on wurde die Gründung von neuen Staaten auf einer Sezession zustimmen sollte, welche sowjetischem Gebiet in der Regel im Sinne der durch solche Taten neue Fakten schafft. Zu- uti possidetis juris-Doktrin geregelt. Während dem ist die Behauptung eines genuinen, histo- die 15 Unionsrepubliken als neue unabhängige rischen tschetschenischen Heimatlandes Nationen anerkannt wurden, war dies im Falle schwer nachzuweisen, da das tschetscheni- der autonomen Republiken – zu welchen auch sche Territorium stets unterschiedliche Gren- Tschetschenien gehörte – nicht der Fall. Je- zen aufgewiesen hat und mehrere Völker darin doch wurden im Zuge der Perestroika im Jahre gewohnt haben (ebd.: 270f, vgl. auch Kapitel 1990 drei Gesetze98 von Seiten der Sowjetuni- 4.2.2.). Auf der anderen Seite muss man je- on beschlossen, welche die konstitutionelle doch auch die historische Unterdrückung und Unterscheidung zwischen Unionsrepubliken die unzähligen Massaker berücksichtigen, die und autonomen Republiken größtenteils auf- das tschetschenische Volk durch russische hob und somit beiden den gleichwertigen Sta- Truppen erlitten hat – was wiederum eine Se- tus als „Subjekt der Föderation“ zusprach. zession Tschetscheniens aus moralischer Artikel 1 des Gesetzes vom 26. April gab hier- Sicht rechtfertigen könnte (siehe Kapitel 3). bei allen Subjekten der Föderation das Recht Ungeachtet ebengenannter Fakten und Argu- zur freien Selbstbestimmung. Jedoch stellte mente wurde jedoch von Seiten des internatio- sich bald heraus, dass die politischen Führun- nalen Systems die Anfang der 1990er Jahre gen dieser Republiken, die russische Regie- einseitig erklärte Unabhängigkeit Tschetsche- rung sowie die internationale Gemeinschaft niens nicht anerkannt und somit die oben ge- unterschiedliche Auffassungen davon hatten, nannten Gesetze aus der Gorbatschow-Ära wie diese „Selbstbestimmung“ in der Praxis aussehen sollte (ebd.: 269-72; Hughes 2007: 99 Robert Jackson unterscheidet in diesem Zusammen- 16f). hang auch zwischen negative sovereignty und positive Neben diesem rechtlichen Aspekt bezieht sich sovereignty. Erstere bezieht sich auf die offizielle Aner- Hughes zudem auf ein materielles und ein kennung von Staatlichkeit seitens der internationalen Gemeinschaft, auf den Status der empirischen Staatlich- moralisches Argument im Hinblick auf die Un- keit, welche vielen Ländern der so genannten „Dritten abhängigkeit Tschetscheniens. Was das mate- Welt“ im Zuge der Dekolonialisierung zuerkannt wurde. rielle Argument anbelangt, so ist die Behaup- Positive sovereignty dagegen bezieht sich auf die Fähig- tung, dass ein Staat ökonomisch überlebens- keit eines Staates, den BürgerInnen eines Staates auch zivile und sozioökonomische Leistungen und Güter zu- kommen zu lassen und mit anderen Regierungen bilatera- 98 Hierbei handelt es sich um die Gesetze vom 3. April le Beziehungen aufzubauen. Die Diskrepanz zwischen 1990 („On the Procedure for Deciding Questions Concern- diesen beiden Formen der Souveränität ist in so genann- ing the Withdrawal of a Union Republic from the USSR”), ten „Entwicklungsländern“ besonders groß (Jackson 1990: vom 10. April 1990 („On Principles of Economic Relations 26ff). Auch im Falle Tschetscheniens würde sich die Frage of the USSR, the Union and Autonomous Republics”) und stellen, ob nach einer offiziellen internationalen Anerken- vom 26. April 1990 („On the Delimitation of Powers Be- nung der Unabhängigkeit die Regierung imstande wäre, tween the USSR and the Subjects of Federation”) (Hughes für die Bedürfnisse der Bevölkerung zu sorgen und den 2005: 271). Kriterien einer positiven Souveränität gerecht zu werden. 86 ignoriert. Anstatt ihr Potential für eine friedliche grund von Zuschreibungen von außen einer Lösung der Tschetschenienfrage zu nützen, Gruppe auferlegt. Die Frage, inwiefern katego- unterstützte die internationale Gemeinschaft rische Zuschreibungen von AkteurInnen selbst die Politik der Jelzin-Regierung, wohl um durch bewusst ausgesucht werden können oder ob deren Stärkung eventuellen Instabilitäten nach diese ihnen von gesellschaftlichen Strukturen dem Zusammenbruch der Sowjetunion entge- aufgezwungen werden, spiegelt sich auch in genzuwirken, was jedoch den Ausbruch zwei der zentralen Diskussion in den Sozialwissen- verheerender Kriege in Tschetschenien nicht schaften über den Einfluss von structure und verhindern konnte (ebd.: 274). agency wider. Mehrere Ethnizitätsstudien be- tonen hierbei das Wechselspiel zwischen choi- ce auf der einen Seite und constraint auf der 4.4. Die Situationsbezogenheit von anderen: Ethnizität „(…) social life is seen as fundamentally dual, Eine weitere wichtige anthropologische Er- comprising both agency and structure simulta- kenntnis ist, dass Ethnizität, sowie auch sozia- neously; both freedom and constraint, if one le Identitäten im Allgemeinen, oft relativ und in prefers (…) Ethnic identities are neither as- einem gewissen Maße situationsbezogen sind. cribed nor achieved: they are both. They are Individuen können über mehrere mögliche wedged between situational selection and Identitäten verfügen, und es ist eine empiri- imperatives imposed from without” (Eriksen sche Frage, welche von diesen in welcher 2002: 55f). Situation relevant wird – vor allem ist hierbei deren Bedeutung in bestimmten sozialen Situ- Eine genaue Analyse über ethnische Zu- ationen ausschlaggebend. Eriksen weist dar- schreibungen muss somit immer beide Aspek- auf hin, dass Ethnizität somit in bestimmten te von choice und constraint miteinbeziehen. Fällen überkommuniziert, in anderen unter- Darüber hinaus kann man zwischen verschie- kommuniziert werden kann. Die ethnische denen Abstufungen ethnischer Inkorporation Minderheit der Sami in Norwegen etwa ist seit differenzieren. So kann Ethnizität einerseits Jahrzehnten von Teilen der Mehrheitsbevölke- nur als ein Mittel dienen, um seine soziale rung als „rückständig“ klassifiziert und diskri- Umwelt zu determinieren, andererseits aber miniert worden, woraufhin mehrere Sami ihre auch konstitutiv für die eigene Identität sein ethnische Identität in öffentlichen Situationen und zu einem starken Zusammenhalt innerhalb unterkommuniziert und Aspekte ihrer norwegi- der eigenen Gruppierung führen. Don Handel- schen Identität überkommuniziert haben. Um man hat diesbezüglich eine Typologie ver- das ethnische Stigma der Sami zu überwinden, schiedener Abstufungen ethnischer Inkorpora- präsentierten sich somit viele von ihnen als tion erstellt und vier Typen herausgearbeitet „echte“ NorwegerInnen (Eriksen 2002: 29ff). (ebd.: 41ff): Abhängig vom jeweiligen Kontext können so- mit unterschiedliche Identitäten betont werden,  ethnic category: in dieser ist Ethnizität nur die auch an bestimmte Lokalitäten geknüpft in einem sehr geringen Maße ausgeprägt sein können. Beispielsweise kann man sich als und dient vorrangig dazu, andere Men- Mitglied eines Dorfes, einer Region, einer Na- schen zu klassifizieren und das eigene tion oder gar einer Kontinentes identifizieren, Verhalten ihnen gegenüber zu bestimmen. abhängig davon welche Verbundenheit man gerade zum Ausdruck bringen will und wo man  ethnic network: dieses umfasst darüber sich zurzeit befindet. Wenn man aus Europa hinaus die Fähigkeit, Ressourcen inner- stammt und sich etwa in Afrika aufhält, wird halb der eigenen Gruppe zu verteilen, wo- man sich eher als Europäer/in definieren, in durch ein Großteil der Interaktion innerhalb einem lokalen Kontext dagegen wird wahr- einer Gesellschaft entlang ethnischer Li- scheinlich eher der eigene Herkunftsort von nien verläuft. identifikatorischer Bedeutung sein. Somit hat man einerseits die Möglichkeit, bestimmte  ethnic association: aufgrund ähnlicher Facetten der eigenen Identität zu betonen, Interessen innerhalb einer ethnischen abhängig davon ob dies vorteilhaft für einen Gruppe werden – oft politische – Organisa- ist. Andererseits jedoch gibt es auch soziale tionen gegründet, um diesen gemeinsa- Situationen, in denen man bestimmte Aspekte men Interessen etwa auf nationaler Ebene nicht hervorheben will beziehungsweise auch Gehör zu verschaffen und hierbei die Mit- nicht kann (Jenkins 2002: 226f). Somit können glieder der eigenen Gruppierung zu reprä- in bestimmten Fällen ethnische Identitäten sentieren. nicht von den handelnden Personen selbst aktiv „gewählt“ werden, sondern werden auf- 87

 ethnic community: zuzüglich zu den bereits zu einer bestimmten ethnischen Gruppe oft genannten Faktoren zeichnet sich eine überlebenswichtig war. Demgegenüber steht ethnische Gemeinschaft dadurch aus, auf der anderen Seite etwa die Situation von dass diese über ein Territorium mit mehr FarmerInnen mit norwegischer Abstammung in oder weniger fixierten Grenzen verfügt. South Dakota, welche gelegentlich ihre Ur- Mitglieder dieser Gruppe müssen in der sprungskultur zelebrieren und deren Abgren- Regel diese Grenzen verteidigen, wie dies zung gegenüber anderen Gruppen somit ge- beispielsweise bei Nationalstaaten der Fall ringer ausgeprägt ist (Eriksen 2002: 33). Wäh- ist. rend der Tschetschenienkriege in den 1990er Jahren spielte ethnische Zugehörigkeit eine Diese Typologie von Handelman kann nun auf große Rolle, da man sich gegenseitig be- drei unterschiedliche Arten verstanden werden. kämpfte und etwa im Zuge der russischen Einerseits kann sie als Entwicklungsschema „Säuberungsaktionen“ bewusst Tschetsche- dienen, in welchem sich eine Gruppe von einer nInnen – darunter auch viele ZivilistInnen – ethnic category hin zu einer ethnic community verschleppt und gefoltert wurden (Hughes entwickelt. Zweitens können alle vier Formen 2007: 118ff). In diesem Sinne erhielt die Kate- gleichzeitig innerhalb einer Gesellschaft exis- gorie „Russe/in“ bzw. „Tschetschene/in“ eine tieren. Schließlich können diese typologischen besondere emotionale Intensität, weshalb in Klassifizierungen auch als Aspekte von Ethni- diesem Fall wohl auch vom Vorhandensein zität verstanden werden, das heißt, dass für von hot ethnicity die Rede sein kann. ein Mitglied einer ethnischen Gruppe im Laufe Besonders nach dem Beginn des zweiten des Tages in bestimmten sozialen Situationen Tschetschenienkrieges wurde – in Rückgriff jeweils eine andere Ebene ethnischer Inkorpo- auf die Stereotype der letzten Jahrhunderte – ration relevant ist, was erneut für die Situati- das Feindbild „Tschetschene/in“ in öffentlichen, onsbezogenheit von Ethnizität spricht (ebd.). politischen und medialen Diskursen in Russ- land propagiert (vgl. Kapitel 4.1.4.). Insofern kann man auch – ähnlich wie bei den Sami – 4.4.1. Die Festschreibung von Ethnizität im von einem ethnic stigma sprechen, welches Kontext des Tschetschenienkonfliktes den TschetschenInnen auferlegt wurde. Dies äußert sich auch in dem Umstand, dass Über- Wie schon in Kapitel 2.2.1. erwähnt, verfügen griffe gegen Menschen „kaukasischer Her- TschetschenInnen über eine Vielzahl von po- kunft“ – die in der Regel eine etwas dunklere tentiellen Identitäten, die sich beispielsweise Hautfarbe besitzen – in den letzten Jahren in über die Region (Nordkaukasus), die ethnische Russland dramatisch zugenommen haben Gruppe, sub-nationale Identitäten (z.B. Clans) (Halbach 2003b: 17f, 40). In diesem Fall haben oder islamische religiöse Zugehörigkeiten defi- TschetschenInnen kaum agency, um die nega- nieren. Diese werden in bestimmten Situatio- tive Wahrnehmung von KaukasierInnen in nen – manchmal bewusst, manchmal auch Teilen der russischen Bevölkerung und das unbewusst – hervorgehoben. Somit müsste damit einhergehende ethnische Stigma abzu- man konkret anhand spezifischer sozialer All- schütteln, welches ihnen durch strukturelle tagssituationen untersuchen, welche Identitä- Mechanismen zugeschrieben worden ist. Hug- ten für eine/n Tschetschenen/in relevant sind hes (2007: 170f) weist auch auf die praktische und über welchen Grad ethnischer Inkorporati- Dimension und die damit einhergehenden on – gemäß der Handelmanschen Typologie – Probleme bei der Zuschreibung von ethni- sie verfügen. Da die vorliegende Arbeit eher schen Identitäten hin. So wurde im Rahmen theoretischer Natur ist, können solche spezifi- der beiden Kriege den BewohnerInnen Tsche- schen Alltagssituationen nicht bis in die letzten tscheniens das pauschalisierende ethnische konkreten Einzelheiten verfolgt werden. Label „Tschetschene/in“ zugeschrieben. Je- Dennoch lässt der Einfluss der rezenten doch wusste das russische Militär trotz dieser Tschetschenienkriege auf die TschetschenIn- Zuschreibung oft nicht zwischen pro- nen als ethnische Gruppe einige Schlussfolge- russischen, „loyalen“ TschetschenInnen und rungen bezüglich der Relevanz ethnischer „feindlichen“ tschetschenischen Rebellen/innen Identitäten zu. So weist Steve Fenton darauf zu unterscheiden. Dass daraufhin beinahe alle hin, dass die soziale Bedeutung von Ethnizität TschetschenInnen – unabhängig von ihrer höchst variabel ist, und man zwischen hot und Einstellung zu Russland – gleichermaßen cold ethnicity unterscheiden kann. Diese Beg- bombardiert und oft auch getötet wurden, hat riffe beziehen sich auf die unterschiedliche verständlicherweise die Aussicht auf ein friedli- soziale Relevanz und emotionale Intensität, ches Zusammenleben mit Russland nur noch welche Ethnizität annehmen kann. Als Beispiel weiter unterminiert (siehe auch Kapitel 3.3.3.). für hot ethnicity nennt er die Situation während des Genozids in Ruanda, wo die Zugehörigkeit 88

4.5. Modernisierung als Grund für Massenmedien, welche die Mobilisierung von das vermehrte Aufkommen politi- ethnischen Gruppen entlang ethnonationaler Linien erleichtert haben (Kaufman 2001: 25). sierter ethnischer Identitäten Ein ähnlicher Prozess lässt sich anhand der Bewusstwerdung ethnischer Identität unter Eine zentrale Ursache für das vermehrte Ent- indigenen Gruppen beobachten. Diese nützen stehen ethnischer Gruppen und Identitäten bestimmte Möglichkeiten der Moderne und weltweit stellen häufig Modernisierungsprozes- neue Technologien wie beispielsweise das se dar. Ethnogenese ist somit auch als eine Internet, transnationale Netzwerke und NGOs Reaktion auf Modernisierung zu verstehen: um sich global zu vernetzen100, ihre Identität zu „(…) ethnic organisation and identity, rather betonen und auf ihre Anliegen als ethnische than being ‚primordial‘ phenomena radically Gruppe aufmerksam zu machen (Eriksen opposed to modernity and the modern state, 2002: 125ff). Große Bedeutung hatte dabei are frequently reactions to processes of mod- auch die Zunahme an Bildung und Alphabeti- ernisation“ (Eriksen 2002: 9). Tambiah hat sierung, um eine gewisse kulturelle Reflexivität zudem einige „moderne“ Aspekte herausgegrif- zu erreichen und Vorstellungen der eigenen fen, welche zu einer stärkeren Bewusstwer- Identität zu konkretisieren: „Groups which have dung ethnischer Identität geführt und die Politi- ‚discovered that they have a culture‘, who have sierung von Ethnizität vorangetrieben haben. invented and reified their culture, can draw on Diese Entwicklungen sind einerseits auf ver- myths of origin and a wide array of potential besserte Kontakt- und Kommunikationsmög- boundary-markers that are unavailable to illite- lichkeiten – etwa durch moderne Medien – und rate minorities (…)“ (ebd.: 128). auf ein effizienteres Transportwesen zurückzu- Die Hervorhebung von ethnischer Identität ist führen. Dadurch dass Straßentheater und öf- darüber hinaus auch im Zusammenhang mit fentliche Plätze immer populärer wurden, fan- Globalisierungsprozessen zu sehen. Die In- den sich immer größere Menschenmassen korporation neuer Gruppen in das Weltwirt- zusammen und die Durchführung von Streiks, schaftssystem, die Entstehung neuer National- Demonstrationen und Massenprotesten wurde staaten und deren Eingliederung in das inter- ermöglicht. Durch die starke Zunahme an nationale Staatensystem sowie weitreichende Schulen und Universitäten entstanden Platt- Migrationsbewegungen haben zu vermehrtem formen, von denen aus Leute für politische Kontakt unterschiedlicher ethnischer Gruppie- Aktivitäten mobilisiert werden konnten (Tambi- rungen und aufgrund dessen zu einer Akzentu- ah 1994: 436). ierung von Ethnizität bzw. der eigenen ethni- In weiten Teilen der so genannten „Dritten schen Identität geführt. Trotz der Annahme, Welt“ wurde im Zuge der Dekolonisation die dass Globalisierungs- und Modernisierungs- Macht von den Imperialmächten an die lokale prozesse und deren Auswirkungen – wie etwa Bevölkerung übertragen und auch westliche kulturelle Homogenisierung – zu einer Relati- parlamentarische Grundsätze wie eine staatli- vierung von Kultur und deren Vielfalt führen, so che Verfassung und das Primat einer reprä- haben diese doch in erheblichem Maße zu sentativen Regierung weitergegeben. Auf die- einem Aufleben von ethnischen Identitäten se Weise wurde den am Land lebenden Mas- beigetragen: „Modernisation may be said to sen und MigrantInnen die Möglichkeit gege- reduce the scope of cultural variation in the ben, am politischen Prozess teilzuhaben – world. However, the emerging cultural self- diese erkannten nun, dass sie PolitikerInnen consciousness or reflexivity brought about und Parteien wählen und von diesen Reformen through these very processes has also inspired und Privilegien einfordern können. Da die Idee the formation of ethnic identities stressing cul- von Demokratie jedoch in der postkolonialen tural uniqueness” (ebd.: 128). Welt in vielen Fällen nicht die erwarteten Er- gebnisse mit sich brachte, wurden stattdessen die ethnischen Gruppen in den jeweiligen neu gegründeten Nationalstaaten zu politischen

AkteurInnen und setzten selbst Maßnahmen, 100 Ein Beispiel für die weigehende weltweite Vernetzung um ihre Privilegien wiederherzustellen und indigener Völker stellt etwa das „United Nations Perma- eine ethnische Gleichstellung herbeizuführen nent Forum on Indigenous Issues“ (UNPFII) dar – eine (ebd.: 436f). Zudem trugen in diesem Kontext Unterorganisation der Vereinten Nationen, welche regel- auch die internationale Anerkennung und Pro- mäßig dem Economic and Social Council (ECOSOC) berichtet. Im Rahmen von regelmäßigen Zusammenkünf- pagierung des Konzeptes des Nationalstaates ten treffen sich die VertreterInnen verschiedenster indige- dazu bei, dass viele unterschiedliche Gruppen ner Gruppen und machen auf die oft diskriminierenden nun selbst einen eigenen Nationalstaat für sich Praktiken und Menschenrechtsverletzungen der National- einforderten. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist staaten, in denen sie ansässig sind, aufmerksam. Weiters versuchen diese unter Mithilfe der Vereinten Nationen und Kaufman zufolge auch das Aufkommen von NGOs ihrer Lage Gehör zu verschaffen und ihr Recht zur Geltung zu bringen. 89

4.5.1. Modernisierungsprozesse in den viele TschetschenInnen, sich der „modernen tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbe- Welt“ – welche sie mit Russland assoziierten – ziehungen zu öffnen und zogen es stattdessen vor, in ihren Dörfern ihrer „traditionellen“ Lebensweise Auch bei den TschetschenInnen haben Mo- nachzugehen. So nahmen viele auch nicht die dernisierungsprozesse in Form von „Russifizie- Möglichkeit wahr, ihre Kinder in kostenlose und rung“ und „Sowjetisierung“ durch das Zaren- „moderne“ russische Schulen zu schicken, bzw. Sowjetreich zu einer vermehrten Heraus- woraufhin diese stattdessen traditionelle isla- bildung und Politisierung von ethnischer Identi- mische Schulen (maktabs) besuchten. Um tät geführt. Aber auch Schamils Imamat ist als 1914 waren somit beinahe alle TschetschenIn- eine der ersten Versuche zu nennen, Tsche- nen der arabischen Sprache mächtig, jedoch tschenien zu modernisieren und quasi- hatte nur eine verschwindend kleine Minderheit staatliche Institutionen einzuführen (Zelkina eine „moderne“, „westliche“ Ausbildung genos- 2000: 235ff, vgl. auch Kap. 3.1.1.). So fasste sen und konnte somit zur Schicht der Intelli- unter Schamil etwa die sufistische Naqsch- gentsia gezählt werden. Stattdessen erfuhr die bandi-Bruderschaft in Tschetschenien Fuß, Qadiriyya-Bruderschaft einen starken Zuwachs welche zwar nach dessen Ableben stark an – laut sowjetischen Quellen waren in den Bedeutung verloren hat, jedoch durch die bis in 1920er Jahren zwischen 70 und 80% der die Gegenwart vorherrschende sufistische tschetschenischen Bevölkerung AnhängerIn- Qadiriyya-tariqa ersetzt wurde. Ein weiterer nen verschiedener sufistischer sheikhs (Gam- Aspekt dieser religiösen Transformation ist die mer 2006: 106-109). Einführung der scharia unter Schamil, welche Nach der Übernahme Tschetscheniens durch das traditionelle Gewohnheitsrecht (adat) stark die Sowjetmacht versuchte diese, das Volk zu geschwächt hat. Die lange Periode des Wider- „sowjetisieren“. In einem ersten Schritt wurden stands gegen das Zarenreich hat darüber hin- die scharia-Gerichte abgeschafft und das latei- aus zu einer gewissen Entfremdung und Ab- nische Alphabet eingeführt, um so das arabi- grenzung gegenüber den benachbarten Völ- sche zu ersetzen. Weiters versuchte man wie- kern geführt. Einerseits nahmen die Ingu- der einmal staatliche Schulen als Alternative schInnen nicht voll und ganz an diesem Wider- zu den traditionellen arabischen maktabs zu standskampf teil, was ein erster Schritt in der propagieren. Diesmal machte sich jedoch in Entwicklung hin zu einem von den Tsche- den 1920er bis 1930er Jahren erstmals ein tschenInnen unterschiedlichen, eigenständigen Wandel in der Führung des anti-russischen Volk war. Auf der anderen Seite führten der Widerstandes bemerkbar. So bildete sich eine oftmals zu enge Kontakt mit und die Unterord- neue Generation heraus, die eine sowjetische nung unter die DagestanerInnen – Schamil wie Ausbildung genossen hatte, die religiösen auch mehrere vorangegangene AnführerInnen FührerInnen teilweise ersetzte und sich an die des Widerstandes gegen Russland stammten Spitze der Widerstandsbewegung stellte. Die- aus Dagestan – zu Ressentiments gegen das ser Kompetenzwandel zeigte sich vor allem an benachbarte Volk, welche in Form von gele- der ideologischen und organisatorischen Aus- gentlichen Konflikten ihren Ausdruck fanden richtung dieser Generation (ebd.: 146, 164). (Gammer 2006: 64ff). Die sowjetischen Autoritäten versuchten die Im Zuge einer Modernisierungswelle Ende des tschetschenische Bevölkerung zu modernisie- 19. Jahrhunderts wurden mehrere Städte, ren, um so eine kommunistische Gesellschaft Straßen, Schulen, Industriekomplexe und eine von „modernen und produktiven AtheistInnen“ Eisenbahninfrastruktur errichtet, auch um die zu schaffen. Die sowjetische Vorstellung von Tätigkeit russischer Bauern und Bäuerinnen – „Moderne“ richtet sich dabei gegen Religion die sich nach 1860 vermehrt im Kaukasus und jegliche nationalen Traditionen, welche als angesiedelt haben – zu ergänzen. Die Schwä- „reaktionär“ bezeichnet wurden. Um diese der chung der traditionellen teip-Strukturen durch Modernisierung zuwiderlaufenden „Elemente“ Modernisierungsprozesse hat hierbei zu einer zu beseitigen, wurden deshalb in den 1950er neuen Kluft innerhalb der tschetschenischen bis 1980er Jahren mehrere Kampagnen vom Gesellschaft geführt – nämlich zwischen den sowjetischen Staat durchgeführt. Da sich Mo- oft säkularen und „modernisierten“ Gemein- dernisierung bzw. „Sowjetisierung“ über die schaften im Flachland und den peripheren russische Sprache und Kultur ausdrückten, BergbewohnerInnen, welche eher an traditio- kam es in diesem Sinne zu einer „Russifizie- nellen Werten und am Pastoralismus fest- rung“ der „nicht-russischen“ Nationalitäten – gehalten haben (Hughes 2007: 9f). Um 1870 oder wie es Chruschtschow in einem prägnan- wurde Grozny aufgrund des Ölbooms zu einer ten Slogan ausdrückte, einem „(…) getting bedeutenden Stadt in der Region, jedoch wa- together [sblizhenie] the peoples of the Soviet ren vorwiegend RussInnen in der regionalen Union“ (Gammer 2006: 190). Nachdem Atatürk Ölbranche tätig. Laut Gammer weigerten sich Ende der 1920er Jahre in der Türkei das latei- 90 nische Alphabet eingeführt hatte, wurde das Schluss, dass nur wegen des Umstands, dass erst kürzlich in Tschetschenien implementierte sich viele TschetschenInnen nicht Russland lateinische durch das kyrillische Alphabet er- unterordnen wollten, diese nicht Modernisie- setzt. Nach der Rückkehr aus der Deportation rung per se abgelehnt haben: gab es keine tschetschenischsprachigen Schu- len mehr und tschetschenische SchülerInnen „Also in the case of the Chechens modern and wurden in russischsprachige Schulen ge- Soviet elements were combined with traditional schickt – erst Anfang der 1990er Jahre unter ones. As with other peoples, the Chechens dem Einfluss der Perestroika wurde Tsche- adopted modern, Soviet and Russian elements tschenisch zumindest als Fremdsprache in den compatible with their traditions, while traditional Grundschulen zugelassen. Dennoch übte laut elements had to adapt to the realities of the sowjetischen Statistiken in der 1970ern beina- modern world in its Soviet version” (Gammer he die gesamte tschetschenische Bevölkerung 2006.: 194). weiterhin ihre muslimischen Traditionen aus (Gammer 2006: 190ff). Somit sind auch die Veränderungen der traditi- In den 1960-1980er Jahren nahm vor allem die onellen Sozialstruktur (siehe Kapitel 4.3.3.) auf industrielle Produktion in der tschetscheni- Modernisierungsprozesse zurückzuführen, was schen Republik stark zu, und beinahe das auch andere „traditionelle“ Gesellschaften gesamte im Nordkaukasus extrahierte Gas und erleben mussten. Die sufistischen Bruder- Öl wurde in den Raffinerien von Grozny wei- schaften dagegen, welche schon lange vor den terverarbeitet. Aber auch Schmier- und Motor- „Russifizierungsversuchen“ Bestand hatten, öle sowie Maschinen und Pumpen für die Ölin- boten hier eine alternative Möglichkeit der dustrie und Traktorenanhänger wurden in Identifikation. Speziell nach der Rückkehr aus Tschetschenien produziert. Die lokale Wirt- der Deportation, als die traditionelle Sozial- schaft war jedoch ethnisch segregiert, d.h. struktur zersetzt war und die meisten Mo- dass im Bereich der Ölindustrie vorrangig eth- scheen in der Tschetscheno-Inguschischen nische RussInnen angestellt waren, während Republik zerstört waren, boten die sufistischen die „Einheimischen“ eher nur in der Landwirt- tariqas – besonders die Qadiriyya – die einzige schaft, der Wanderarbeit und gezwungener- Möglichkeit für die TschetschenInnen, ihrem maßen auch in der kriminellen Sphäre Be- spirituellen Leben nachzugehen. Diese waren schäftigung fanden (Tishkov 2004: 41). In den zudem auch eine Alternative zum sowjetischen 1980er Jahren zogen viele TschetschenInnen System und schufen eine Art „Parallelgesell- aufgrund von Überbevölkerung vermehrt aus schaft“ mit einer florierenden Schattenwirt- den Bergregionen in die Städte des Flachlan- schaft, welche sich von der „offiziellen“ sowje- des, um dort eine Anstellung und Bildung in tischen Lebenswelt abgrenzte (ebd.: 194-97). Anspruch zu nehmen und die kulturellen Mög- Darüber hinaus waren diese sufistischen Bru- lichkeiten zu nutzen. Dabei verdrängten sie in derschaften ein Ausdruck der Modernisierung einer gewissen Weise die dort schon seit min- Tschetscheniens, bei welcher traditionelle destens 150 Jahren ansässigen „ethnischen Elemente in einem neuen Kontext neu definiert RussInnen“, welche zum Teil – beunruhigt von worden sind – das verstärkte Aufkommen der den demographischen Veränderungen – aus tariqas kann somit als eine Reaktion auf die Tschetschenien wegzogen. Gemäß einer „Russifizierungsprozesse“ des sowjetischen Volkszählung von 1989 wurde die tschetsche- Staates interpretiert werden. Auch waren sie nische Gesellschaft somit ethnisch homogener die Träger eines „modernen“ Nationalismus und war vor allem von einer jüngeren Genera- und führten somit zu einer Akzentuierung von tion dominiert, welche durchgehend sowjeti- Ethnizität, wie Gammer anmerkt: „(…) the siert, säkularisiert und urbanisiert war. Rund ta’ifas have become alternative, non-Western die Hälfte der Bevölkerung lebte nun in Städ- (in this case non-Soviet) agents of modernisa- ten und ein Drittel der TschetschenInnen war tion. In terms of political modernisation they in Grozny beheimatet (Hughes 2007: 11f). have become the agents of modern national- ism“ (ebd.: 197). Die Problematik bei der sowjetischen Vorstel- Somit haben Modernisierungsprozesse das lung von Moderne war, dass sie Tradition und Aufkommen einer tschetschenischen ethni- Moderne als gegensätzliche, bipolare Opposi- schen Identität in zweierlei Art und Weise be- tionspaare definiert hat, was jedoch kaum der einflusst: Einerseits war deren Hervorhebung empirischen Realität entspricht. Viel nahelie- eine Reaktion auf die von Russland unter- gender ist es, dass sich in einer Gesellschaft nommenen „Russifizierungs“- und „Sowjetisie- traditionelle und moderne Elemente zusam- rungsversuche“, wobei den sufistischen Bru- menmischen und Tradition somit nicht als et- derschaften eine besondere Rolle zukam. An- was Statisches und Unveränderbares zu ver- dererseits führten auch zunehmende Urbani- stehen ist. So kommt auch Gammer zu dem sierung, Bildung, Alphabetisierung sowie das 91

Aufkommen einer eigenen Sprache – und in vorrangig die gebildeten und qualifizierten weiterer Folge von Radiosendungen, Zeitun- EinwohnerInnen. Die „Demodernisierung“ führ- gen und Büchern – zur Herausbildung und te auch zu einem Zerfall sozialer Institutionen, Stärkung einer tschetschenischen Identität Familien wurden durch die Kriege auseinan- (diese Prozesse wurden bereits in Kapitel dergerissen und die Bevölkerung hat bis heute 2.2.3. näher beschrieben). Auch im Rahmen an den erlittenen Traumata und neu entstan- der rezenten Tschetschenienkriege griffen die denen Problemen zu leiden (ebd.). tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung Ein weiterer Aspekt dieser Entwicklung ist der bzw. auch in Tschetschenien kämpfende Isla- Umstand, dass externe Konzepte übernom- mistInnen auf moderne Medien wie das Inter- men werden, die der Gesellschaft fremd sind, net zurück, um ihre Sicht der Dinge und Inter- weil sie nicht den akzeptierten Normen und pretationen der tschetschenischen Geschichte Werten entsprechen. Ein Beispiel hierfür ist zu schildern (vgl. hierzu bspw. die Homepage etwa die Einführung der sudanesischen scha- des islamistischen Widerstandes im Nordkau- ria sowie der radikale Islam der WahhabitIn- kasus: http://kavkazcenter.com, Zugriff: nen, welcher in Tschetschenien traditionell 12.9.2009). keine Rolle gespielt hat (siehe auch Kapitel 4.1.5.). Durch den ständigen Rückbezug auf die Vergangenheit, die Berufung auf fremde 4.5.2. Der Prozess der „Demodernisierung“ Konzepte und die Suche nach bereits vergan- genen Idealen – wie etwa nach einer idealisier- In Gesellschaften, in denen gewalttätige Kon- ten tschetschenischen Gesellschaft, die so flikte ausgetragen werden, existiert Tishkov wohl nie existiert hat101 – wird eine Gemein- (2005: 170ff) zufolge auch das anthropologi- schaft der Innovation und Kreativität beraubt, sche Phänomen der „Demodernisierung“. Sei- die notwendig wäre, um ihre Zukunft positiv zu ner Meinung nach ist auch die tschetscheni- gestalten (Tishkov 2005.: 173).102 Die Über- sche Gesellschaft während der kriegerischen nahme der scharia hatte aber auch praktische Auseinandersetzungen mit Russland in den Funktionen. Da etwa viele männliche Tsche- 1990er Jahren in eine Phase der „Demoderni- tschenen und somit potentielle Ehemänner im sierung“ eingetreten. Dies zeigt sich beispiels- Zuge von Kampfhandlungen gestorben oder weise daran, dass die Bevölkerung durch eine geflüchtet sind, war die Einführung der Poly- massive Propaganda seitens tschetscheni- gamie ein Mittel, um mehrere Frauen versor- scher NationalistInnen auf eine vereinfachte gen zu können (Tishkov 2004: 163). Aufgrund und selektive Interpretation vergangener und des starken Rückganges an Männern ist es gegenwärtiger Geschehnisse sowie auf eine zudem auch zu einer Umkehr von Gender- von außen importierte Rhetorik der „nationalen Rollen gekommen. So haben nun auch viele Befreiung“ konditioniert worden ist. Durch die- Tschetscheninnen Jobs angenommen, um ihre se radikale Propaganda tschetschenischer Familien zu versorgen; teilweise haben sie NationalistInnen ist die Auswahl an vorhande- sogar führende Rollen in der Gesellschaft be- ner Information eingeschränkt und auf die Op- setzt – wodurch sich jedoch wiederum tsche- tion des „Sterbens für das eigene Volk“ einge- tschenische Männer herabgesetzt fühlten (Ma- schränkt worden. Diese Radikalisierung führte lek 2008: 37). dazu, dass „Instead of a Chechen people in Ein weiteres Charakteristikum der „Demoder- tune with its own culture and identity within an nisierung“ ist das Vorherrschen von Apathie multi-ethnic environment, we now observe an und die Geringschätzung menschlichen Le- ethnically homogenous Chechnya, whose bens. Dies manifestierte sich vor allem in dem leadership has been usurped by its armed brutalen Verhalten mancher tschetschenischer element” (ebd.: 172). WiderstandskämpferInnen gegenüber feindli- Überdies kam es nach der nationalen Revolu- chen Personen und auch gegenüber Nicht- tion 1991 zu einem brain drain und einer mas- KombattantInnen – Beispiele hierfür sind etwa siven Emigration aus Tschetschenien. Zuerst die Ermordung von PolizistInnen in Dagestan verließ der Großteil der nicht- und Stavropol, die Hinrichtung von Gefange- tschetschenischen Bevölkerung die Region, nen und die Verstümmelung von Geiseln gefolgt von vielen der gebildeten und erfolgrei- (Tishkov 2005.: 174f). Gammer weist darauf chen TschetschenInnen. Manche wollten nicht, dass ihre Kinder in einem gewalttätigen Umfeld 101 Diese idealisierte tschetschenische Gesellschaft wird aufwachsen, andere wiederum wollten nichts etwa auch im Mythos der „ancient nation“ verkörpert, mit der mühsamen Errichtung eines neuen welcher ja eine Rückkehr zum „Goldenen Zeitalter“ propa- giert (siehe Kapitel 3.4.1.). tschetschenischen Staates zu tun haben. So- 102 In diesem Sinne definiert Tishkov „Demodernisierung” mit verließ mehr als die Hälfte der tschetsche- folgendermaßen: „Demodernization is thus a radical trans- nischen Bevölkerung im Laufe der 1990er formation of social links and institutions that undermines Jahre die kaukasische Republik, unter ihnen the otherwise universal capacity of human communities for self-organization” (Tishkov 2004: 14). 92 hin, dass aufgrund von Modernisierungspro- ständige Nachrichten oder Bilder empfangen zessen und den rezenten Kriegen traditionelle könnten – im Gegensatz dazu zirkulieren je- Kontroll- und Regulationsmechanismen unter- doch auch Bilder und Videos des tschetsche- miniert und die Regeln des nokhchalla – der nischen Präsidenten in Begleitung leicht be- traditionelle Normen, Verhaltensregeln und kleideter Damen im Internet. Darüber hinaus den Ehrenkodex miteinschließt – kaum mehr wurde 2008 in Grozny eine der größten Mo- beachtet wurden. Die Kriege der 1990er Jahre scheen Europas errichtet (Seierstad 2008: zerstörten zudem den sozialen Zusammenhalt 102-105, 220). Szyszkowitz führt diese „islami- und die Moral der Gesellschaft und führten sierende Tendenz“ u.a. auf die radikalisierende verstärkt zu drastischem Fehlverhalten – was Wirkung der rezenten Kriege zurück: Gammer exemplarisch anhand des „Sklaven- handels“ mit Geiseln in der Zwischenkriegszeit „Was jetzt unter Ramzan Kadyrow passiert, illustriert (Gammer 2006: 5f). Die Leiterin eines könnte man als eine Art Mischform bezeich- Waisenhauses in Tschetschenien weist eben- nen. Kadyrow hat sich diese scharia- falls darauf hin, dass es durch den Verfall ge- Regelungen zu Herzen genommen – die bei sellschaftlicher Normen im Rahmen der beiden den Tschetschenen traditionell eigentlich kaum Tschetschenienkriege auch vermehrt zu ge- eine Rolle gespielt haben – und hebelt dadurch walttätigen Übergriffen gegen Kinder – vor die traditionellen Stammesstrukturen und die allem durch die eigene Familie – gekommen ist Aufteilung in die verschiedenen Regionen aus (Seierstad 2008: 83). (…) Wie immer in Kriegen werden die Leute Jedoch muss an dieser Stelle auch darauf nicht moderater, sondern immer radikaler (…) hingewiesen werden, dass es durch die rezen- Mir ist auch nicht ganz klar, wohin das führt, da ten Kriege selbstverständlich nicht zu einer es bei den Tschetschenen aufgrund ihrer su- kompletten Erosion sozialer Normen gekom- fistischen Traditionen an sich keine Basis für men ist. So betont Kappeler, dass etwa auch in flächendeckenden Islamismus unter friedlichen Afghanistan trotz aller Kriege und sozialen Bedingungen gibt (…) Aber Ramzan Kadyrow Umbrüche der letzten Jahrzehnte fundamenta- ist auch ein Kind des Krieges. Er hat alles ver- le Konzepte sozialer Ordnung weiter Bestand sucht, um sich eine Nation zurechtzuzimmern, haben. Auch in Tschetschenien existieren die deren Gesellschaft von den rezenten Kriegen teips weiterhin – wenn auch in einer anderen vollkommen traumatisiert und zerrüttet ist“ Form als früher (siehe Kapitel 4.3.3.). Vor al- (Interview mit Szyszkowitz, Wien-Moskau lem in der Emigration wurden diese wiederbe- 2009). lebt, wie folgendes Beispiel aus Österreich zeigt:

„Ein Tschetschene, den ich ganz gut kenne, hat eine Braut aus seinem teip gesucht und (…) hat sofort herausgefunden, wo überall in Österreich Angehörige seines teips leben (…) Schließlich hat er tatsächlich in Vorarlberg eine Braut aus seinem teip gefunden und diese auch geheiratet, obwohl er sie vorher noch nicht gekannt hat. Das Wichtigste war für ihn, dass sie auch aus seinem teip stammt“ (Inter- view mit Kappeler, Wien 2009).

Ein weiteres Paradoxon der „Demodernisie- rung“ ist, dass es unter Ramzan Kadyrow zu einer schleichenden Islamisierung Tsche- tscheniens gekommen ist, obwohl sein Vater ja ein hoher sufistischer Führer der Republik war, die islamistische Doktrin streng abgelehnt hat und Ramzan in diesem Sinne gegenwärtig auch brutal gegen IslamistInnen in Tsche- tschenien vorgeht. So ist der Konsum von Alkohol verboten, man muss fünfmal täglich zu Allah beten, und die Rolle der Frau im öffentli- chen Raum wurde stark eingeschränkt. Neben entsprechenden Bekleidungsvorschriften ver- bot Ramzan etwa jungen Frauen den Besitz eines Mobiltelefons, da sie mit diesem unan- 93

5. Schlussfolgerungen Regel zu einem security dilemma zwischen den ethnischen Gruppen und zum Ausbruch In diesem abschließenden Kapitel wird nun gewalttätiger Auseinandersetzungen. versucht, aufgrund der gewonnenen Erkennt- nisse die Forschungsfragen dieser Arbeit zu beantworten, Schlussfolgerungen aus diesen Über die Anwendung der „Symbolic Politics zu ziehen und Lösungsansätze herauszuarbei- Theory“ auf die rezenten Tschetschenien- ten. kriege und die Rolle von nationalen Mythen und „ancient hatreds“ im tschetscheni- schen nationalistischen Mobilisierungspro- zess Anfang der 1990er Jahre: 5.1. Ergebnisse der Arbeit Die „Symbolic Politics Theory“ lässt sich inso- Bezüglich der Kriterien und Mechanismen, fern auf die rezenten Tschetschenienkriege die laut Stuart Kaufman zu einem bewaffne- anwenden, als die tschetschenische nationale ten Konflikt zwischen ethnischen Gruppen Mythologie eine große Rolle im Mobilisie- führen können: rungsprozess gespielt hat, alle drei Vorausset- zungen für den Ausbruch eines ethnischen Stuart Kaufmans (2001) „Symbolic Politics Konfliktes gegeben waren und es auch zu Theory“ zufolge sind Menschen „reluctant de- einem security dilemma zwischen Tschetsche- cision makers“, d.h. dass Emotionen die Präfe- nien und Russland gekommen ist. Zunächst renzen und somit auch die Entscheidungen begünstigten der Zusammenbruch der Sowjet- von Menschen oft mehr beeinflussen als ratio- union und die damit einhergehende Schwä- nale Kosten-Nutzen-Kalkulationen. In der Poli- chung des staatlichen Gewaltmonopols sowie tik geht es in der Regel darum, die Emotionen die Reformen unter Gorbatschow die Formie- von Menschen zu manipulieren, und dies er- rung einer nationalen Sezessionsbewegung in folgt durch Symbole, welche ihre Bedeutung Tschetschenien. Aufgrund der nun öffentlich durch emotional aufgeladene Mythen erhalten zugelassenen Vergangenheitsbewältigung und bestimmten Ereignissen einen besonderen sahen sich viele Völker der Sowjetunion als Sinn geben. Dieses Netz von Mythen und Opfer Russlands, was den Forderungen nach Symbolen nennt Kaufman den myth-symbol Unabhängigkeit auch eine moralische Legiti- complex, welchem eine wichtige Rolle bei der mation verlieh. Überdies waren auch in großen ethnischen Mobilisierung von Gruppen zu- Mengen Waffen in Tschetschenien vorhanden kommt. So gibt es drei Voraussetzungen für und wurde die Unabhängigkeitsbewegung den Ausbruch von kriegerischen Handlungen durch islamistische Organisationen aus dem zwischen ethnischen Gruppen: Zunächst muss Ausland unterstützt. Die ethnischen Ängste der die Gelegenheit (opportunity) gegeben sein, TschetschenInnen vor einer erneuten Unter- um eine Gruppe mobilisieren zu können. Diese drückung durch Russland waren insofern weit kann etwa durch interne Faktoren wie dem verbreitet, als die tschetschenisch-russische Nachlassen von staatlicher Repression be- Geschichte geprägt ist von russischen Kriegen, günstigt werden oder aber auch durch externe Massakern und Deportationen der tschetsche- Faktoren wie die finanzielle oder militärische nischen Ethnie. Diese im „kollektiven Gedächt- Unterstützung durch AkteurInnen von außen. nis“ verhafteten Ereignisse fanden wiederum Ein zweiter Aspekt ist die Angst vor der „Aus- ihren Ausdruck in Mythen der Viktimisierung, löschung“ der eigenen ethnischen Gruppe. welche Anfang der 1990er Jahre reaktiviert Durch das Schüren von extremen Ängsten wurden – der damalige tschetschenische Prä- wird so eine feindselige Haltung gegenüber sident Dudajew schürte etwa die Angst vor einer feindlichen Gruppe propagiert und au- einer erneuten Deportation der Tschetsche- ßerordentliche Maßnahmen zwecks Selbstver- nInnen durch Russland. Der tschetschenische teidigung legitimiert. Die Tatsache, dass in myth-symbol complex ist dagegen geprägt von vielen Fällen eine ethnische Gruppe durch eine heroischen Mythen des Widerstandes gegen andere Unrecht erlitten hat, macht solche Russland, welche ebenfalls instrumentalisiert Ängste nur umso plausibler. Schließlich gibt es wurden, um eine Kontinuität des tschetscheni- noch den myth-symbol complex, welcher schen Unabhängigkeitskampfes vom 18. Jahr- Feindseligkeiten gegen eine andere Gruppe hundert bis in die Gegenwart herzustellen und rechtfertigt und diese als einen mythischen so die Sezession von Russland zu legitimieren. Feind definiert. Wenn nun diese drei Faktoren Durch diese Mythen sollte auch gezeigt wer- vorhanden sind und ethnische AnführerInnen den, dass aufgrund der „ancient hatreds“ zwi- nationale Mythen, Symbole und Ängste in- schen den beiden Gruppen eine friedliche strumentalisieren um die eigene Gruppe zum Koexistenz mit Russland nicht möglich sei. Die Kämpfen zu mobilisieren, kommt es in der Motive von Genozid und Widerstand bzw. von 94

Viktimisierung und Heroismus lieferten somit nen legitimen Anspruch auf Unabhängigkeit in ein mythenreiches ideologisches Fundament der Gegenwart besitzen. Diese selektive Inter- für die tschetschenische Unabhängigkeitsbe- pretation der Vergangenheit und Herstellung wegung. Aufgrund der schon weit verbreiteten einer ethnischen Homogenität vernachlässigt Antagonismen gegenüber Russland und des jedoch, dass Generationen von Tschetsche- konfliktreichen historischen Verhältnisses kann nInnen auch friedlich mit RussInnen zusam- diese nationale Bewegung nach Kaufman auch mengelebt haben und es über die Jahrtausen- als mass-led bezeichnet werden, d.h. dass den de sehr wohl auch zu interkulturellen Vermi- ethnischen AnführerInnen im Mobilisierungs- schungen mit anderen Gruppen gekommen ist. prozess eher eine geringere Rolle zugekom- Eng mit diesem Konzept verbunden ist der men ist. Mythos des „ewigen Krieges“ bzw. des „300- Schließlich kam es zu einem security dilemma jährigen Krieges“ mit Russland, welcher kons- zwischen Russland und Tschetschenien. Auf tatiert, dass Tschetschenien sich seit den ers- der einen Seite verfügte die tschetschenische ten Kontakten mit den RussInnen im 18. Jahr- Republik über ein großes Waffenarsenal, es hundert im Krieg mit diesen befindet und die entstand unter Dudajew eine blühende Schat- rezenten Kriege nur das letzte Kapitel in einem tenökonomie, es gab kriminelle Übergriffe auf „durchgehenden, jahrhundertelangen Kriegs- die Nachbarregionen und vor allem bestand für zustand“ darstellen. Neben der Funktion der Russland die Gefahr eines Dominoeffektes – Mobilisierung der eigenen ethnischen Gruppe d.h. der Abspaltung anderer russischer Regio- erfüllte dieser Mythos auch den Zweck, das nen. Auf der anderen Seite versuchte die Rus- nationalistische tschetschenische Regime sische Föderation in mehreren erfolglosen Anfang der 1990er Jahre zu legitimieren, wel- Versuchen, Dudajews Regierung zu stürzen, ches trotz des Risikos einer militärischen Kon- und patrouillierte an der tschetschenisch- frontation mit Russland auf der tschetscheni- russischen Grenze, was die für eine gütliche schen Unabhängigkeit beharrte um so den Einigung notwendige Vertrauensbasis unter- „Kampf der Vorväter“ weiterzuführen. So zeigte grub und die Gefahr einer russischen Invasion sich auch, dass Dudajews Popularität vor al- nahelegte. Aufgrund dieser russischen Droh- lem auf der Abgrenzung von Russland und der gebärden konnten nun die tschetschenischen Konstruktion eines russischen Feindbildes NationalistInnen umso mehr auf die Bedrohung beruhte. der eigenen Gruppe und die Mythen der Vikti- Die Imame Mansur und Schamil verkörpern misierung verweisen. Somit erzeugten die – darüber hinaus wichtige Helden in diesem durchaus begründeten – ethnischen Ängste, „ewigen Krieg“, und Dudajew versuchte sich der myth-symbol complex und das daraus mit diesen in eine Reihe zu stellen um auf die entstehende security dilemma ein angespann- Kontinuität des Widerstandes gegen Russland tes Klima, in welchem dann 1994 der erste zu verweisen. So wurden in den 1990er Jahren Tschetschenienkrieg ausbrach. auch Gedenkfeiern für Mansur – den „Initiator“ Jedoch muss darauf hingewiesen werden, des „300-jährigen Krieges“ – und Schamil – dass „ancient hatreds“ nicht ursächlich für den den erfolgreichsten kaukasischen Wider- rezenten Tschetschenienkonflikt verantwortlich standskämpfer gegen Russland – veranstaltet sind, sondern dass Geschichte und Ethnizität und entsprechende Denkmäler errichtet, um so in der Form von nationalen Mythen von der eine Verbindung zum damaligen Widerstands- jeweiligen politischen Führung bewusst für ihre kampf herzustellen. Der Mythos des Imam Zwecke instrumentalisiert wurden. Die zugrun- Schamil wurde dabei von unterschiedlichen deliegenden Motivationen der jeweiligen Ent- Interessensgruppen oft unterschiedlich instru- scheidungsträger Krieg zu führen sind dabei mentalisiert: während die RussInnen seine eher auf (geo)politische, ökonomische und Bedeutung nach Beendigung der Kaukasi- territoriale Gründe zurückzuführen. schen Kriege betonen und ihn als einen „Be- wunderer“ der russischen Kultur darstellen, ist er etwa für IslamistInnen im Nordkaukasus ein Über die in diesem Kontext relevanten wichtiger religiöser Führer, der die scharia in tschetschenischen Mythen, Symbole und der Region eingeführt und das für sie nachah- nationalen Narrative: menswerte islamische Imamat im Kaukasus gegründet hat. In Tschetschenien dagegen Zunächst war der Verweis auf die Existenz wird ihm mit gemischten Gefühlen begegnet: einer seit Jahrtausenden bestehenden tsche- während ihn die einen als einen wichtigen tschenischen Nation und der Mythos der „an- Widerstandskämpfer im „ewigen Krieg“ vereh- cient nation“ von großer Bedeutung, da man ren, ist er für andere dagegen ein Verräter, da dadurch beweisen wollte, dass sich „die er sich Russland ergeben hat. Letztere Positi- TschetschenInnen“ niemals einer fremden on soll darauf hinweisen, dass Schamils Kapi- Macht unterworfen haben und somit auch ei- tulation nicht mit einer Billigung der russischen 95

Herrschaft gleichzusetzen ist und der Unab- in den 1990er Jahren wiederbelebt und mehre- hängigkeitskampf 1859 noch nicht zu Ende re tschetschenische KämpferInnen als solche war. Alternativ wird deshalb auch oft auf einen dargestellt. von Schamils Kommandanten namens Bay- sungur verwiesen, der nach der Aufgabe des Imams noch ein Jahr heldenhaft bis zum Tode Zur Entwicklung der interethnischen Bezie- weitergekämpft hat. hungen zwischen TschetschenInnen und Der tschetschenische „nationale Charakter“ RussInnen seit den ersten aufgezeichneten wird gerne mit dem Symbol des Wolfes gleich- interethnischen Kontakten: gesetzt, welcher freiheitsliebend und furchtlos ist und nicht zögert, einen größeren Feind Zunächst muss darauf hingewiesen werden, anzugreifen. Darüber hinaus ist dieser seiner dass es sich bei „den TschetschenInnen“ und Verwandtschaft gegenüber loyal und opfert „den RussInnen“ nicht um homogene Blöcke sich für diese auf. Schließlich kann ein Wolf handelt, sondern dass diese Gruppen aus auch nicht gezähmt werden und würde eher unterschiedlichen Individuen mit unterschiedli- sterben, als sich zu ergeben. Diese Eigen- chen Präferenzen und Einstellungen bestehen. schaften werden vom tschetschenischen nati- So gab es etwa im Rahmen der rezenten Krie- onalistischen Narrativ auch dem „freiheitslie- ge neben den UnterstützerInnen der nationa- benden tschetschenischen Volk“ zugeschrie- len tschetschenischen Revolution auch pro- ben, welches sich mit dem „stärkeren“ Russ- russische BürgerInnen, die sich gegen Duda- land angelegt hat und eher sterben würde, als jew stellten und eine Integration Tschetsche- sich diesem unterzuordnen oder zu ergeben – niens in die Russische Föderation anstrebten. eine Annahme, die jedoch die historischen und Durch die russische „Tschetschenisierungspo- multikulturellen Realitäten in Tschetschenien litik“ richtet sich nun zudem der nationale oder vernachlässigt. Um dem Symbol des Wolfes islamistische tschetschenische Widerstand und dessen Bedeutung Rechnung zu tragen nicht nur gegen Russland, sondern auch ge- wurde dieses in der Flagge der unabhängigen gen pro-russisch eingestellte tschetschenische tschetschenischen Republik Ichkeria abgebil- Clans wie etwa den Kadyrow-Clan. Auch gibt det, in der tschetschenischen Poesie verarbei- es in Tschetschenien traditionell eine Kluft tet und schließlich auch nationale FührerInnen zwischen BergbewohnerInnen – unter welchen nach Wölfen benannt. der Widerstand gegen Russland und alte Tra- Abschließend war der Mythos der militärischen ditionen besonders stark verankert sind – und Tapferkeit auch eine bedeutsame Motivation den BewohnerInnen des Flachlandes um für TschetschenInnen, sich an den Kampf- Grozny, welche eher „modernisiert“ sind und handlungen zu beteiligen. Da Mythen einer stets enge Kontakte mit RussInnen unterhalten Kultur eingeschrieben sind und je nach spezifi- haben. scher Situation hervorgehoben werden kön- Weiters verfügen Menschen über eine Vielzahl nen, wurde so auch Anfang der 1990er Jahre unterschiedlicher potentieller Identitäten, wel- an den „kämpferischen Heldenmut“ des tsche- che in bestimmten Situationen betont bzw. tschenischen Volkes erinnert. Eng verbunden heruntergespielt werden können. In diesem mit diesem Kriegerethos ist auch das Konzept Sinne hatten und haben viele TschetschenIn- von Ehre (jach) und Heldentum, welches tief in nen neben verschiedenen lokalen, regionalen der tschetschenischen Kultur verankert ist und und religiösen wohl auch eine sowjetische oder auch die Verteidigung der Freiheit als wichti- russische Identität. So waren etwa mehrere ges Gut ansieht. Weiters herrschte in Tsche- FührerInnen des nationalen Widerstandes der tschenien seit langem ein Waffenkult vor, wel- 1990er Jahre zuvor in der sowjetischen Armee cher sich dadurch äußerte, dass traditioneller- tätig, weitgehend „sowjetisiert“ und betonten weise beinahe jede/r Tschetschene/in eine dann in einem überhöhten Maße ihre Identität Waffe mit sich trug, diese in Häusern zur als TschetschenInnen – ein Paradebeispiel Schau gestellt wurden und auch die Herstel- hierfür ist der erste Präsident des unabhängi- lung von Waffen als eine prestigeträchtige gen Tschetscheniens, Dudajew, welcher als Beschäftigung galt. Die Bezeichnung für den Luftwaffengeneral in der sowjetischen Armee berühmten Damaskus-Stahl (bulat), aus wel- Karriere gemacht hat und selbst kaum in chem Waffen gefertigt wurden, findet sich auch Tschetschenien gelebt hat. Achmad Kadyrow heute noch in verschiedenen Abwandlungen in dagegen kämpfte im ersten Krieg gegen Russ- tschetschenischen Namen wieder. Als Verkör- land und wechselte im zweiten auf die Seite perung der militärischen Tapferkeit gelten auch der russischen Führung. Weiters haben sich die abreks – Robin Hood-ähnliche nationale TschetschenInnen und RussInnen selbstver- HeldInnen, die in den Bergen die zaristischen ständlich über die letzten Jahrhunderte auf- und später sowjetischen Truppen bekämpft grund von weitreichenden historischen, sozia- haben. Auch die Mythologie der abreks wurde len und politischen Umbrüchen stark verän- 96 dert, weshalb man auch keinesfalls die „Tsche- Zarenreiches und seiner BürgerInnen zu ord- tschenInnen“ des 18. Jahrhunderts mit denen nen und die unzähligen ethnischen Gruppen von heute gleichsetzen kann. Zudem muss voneinander unterscheiden zu können. Ande- man bei den interethnischen Beziehungen rerseits konnte man dadurch auch die eigenen zwischen den Gruppen auch zwischen einer ethnischen Grenzen und den Machtbereich persönlichen und einer politischen Ebene un- imaginieren und definieren, um dadurch eine terscheiden, wie Bisaev anmerkt: positive Gruppenidentität zu schaffen. Das damals vorherrschende Paradigma der zaristi- „Man muss zwischen den menschlichen Ver- schen MachthaberInnen lässt sich gut mit dem hältnissen auf der einen Seite und den staatli- Konzept des „Orientalismus“ von Edward Said chen, politischen Verhältnissen auf der ande- erklären. So diente die russische Auseinander- ren unterscheiden. Was die staatlichen Ver- setzung mit und die Wissensproduktion über hältnisse betrifft, so kam es immer zu Kriegen, den „kaukasischen Orient“ vor allem dazu, da Russland versuchte seine Herrschaft zu diesen zu beherrschen. Während sich das verbreiten und Tschetschenien zu unterwerfen Zarenreich selbst als „rational“, „entwickelt“ (…) Bezüglich der menschlichen Verhältnisse und „aufgeklärt“ wahrgenommen hat, wurden haben insbesondere die 70 Jahre der Sowjet- den Kaukasusvölkern die gegenteiligen Eigen- union einen Einfluss auf die Tschetschenen schaften zugeschrieben und somit deren Un- gehabt, vor allem auf die Sprache (…) Die terwerfung unter dem Vorwand der „Zivilisie- Tschetschenen haben auch in der Schule über rung“ legitimiert. Russische Schriftsteller wie die russische Kultur gelernt (…) und gewisse Lermontov oder Puschkin trugen dazu bei, Gewohnheiten von Russland übernommen“ diesen hegemonialen Diskurs fortzuschreiben, (Interview mit Bisaev, Wien 2009). obwohl es auch mehrere AutorInnen gab, die gegen den russischen Kolonialismus ange- Auch Tishkov und Gammer weisen auf diese schrieben und die Kaukasusvölker als edel und Unterscheidung hin. So hat eine „fact-finding „frei“ im Gegensatz zur russischen Gesell- mission“ der NGO „International Alert“ 1992 schaft dargestellt haben. herausgefunden, dass die meisten Tsche- Neben dem Prozess der negativen Abgren- tschenInnen unterscheiden zwischen „den zung (dichotomisation) existierte aber auch der RussInnen“ in einem abstrakten Sinne und der dazu komplementäre Vorgang der complemen- gegenwärtigen russischstämmigen Bevölke- tarisation, durch welchen Gemeinsamkeiten rung Tschetscheniens, und dass Ende Sep- hervorgehoben und ein Feld der interkulturel- tember 1992 die alltäglichen interethnischen len Interaktion geschaffen wurde. So kamen Beziehungen zwischen RussInnen und Tsche- etwa selbst nach Beginn der Kaukasuskriege tschenInnen relativ „ungezwungen“ verliefen. im 19. Jahrhundert immer noch viele Bergvöl- Der tschetschenischen Soziologin Zalpa Ber- ker in die russischen Forts, um dort Handel zu sanova zufolge machten viele TschetschenIn- treiben – die Marktplätze waren beliebte Orte nen auch 1995 noch die Unterscheidung zwi- der interethnischen Begegnung. Terek- schen den russischen Autoritäten und den KosakInnen beispielsweise kauften und trugen RussInnen als Volk; dass letzteren von einem dann auch traditionelle tschetschenische Klei- Großteil der TschetschenInnen keine Vorwürfe dung, weshalb die beiden ethnischen Gruppen für den Ausbruch des ersten Krieges gemacht oft nicht voneinander zu unterscheiden waren. wurden, ist laut Bersanova auch ein Indiz für Viele KosakInnen sprachen nicht nur die tsche- das Vorhandensein eines hohen Toleranzpo- tschenische Sprache, sondern verbrüderten tentials (Gammer 2006: 11; Tishkov 2004: 2). sich auch mit tschetschenischen Sippen und nahmen diese oftmals als ihnen näherstehend Es sollte ganz zum Schluss nicht versäumt wahr als die russischen SoldatInnen – weshalb werden, noch einmal eine chronologische Ana- man dieses interethnische Verhältnis durchaus lyse der interethnischen Beziehungen seit den als ein analoges im Sinne von Eriksen (2002), ersten aufgezeichneten Kontakten vorzuneh- d.h. als eines des Grades, verstehen kann. men. Laut den ältesten Überlieferungen gestal- Laut Tishkov (2004: 49) unterscheidet man tete sich das erste Aufeinandertreffen zwi- zudem auch heutzutage oft in einem analogen schen den beiden ethnischen Gruppen im 16. Sinn zwischen den BürgerInnen Russlands Jahrhundert prinzipiell friedlich. Jedoch fiel die unabhängig ihres ethnischen Ursprungs (Ros- Phase der russischen Eroberung des Kauka- siyanin) und ethnischen RussInnen (Russkie). sus zeitgleich mit der nationalen Identitätsbil- Insofern besteht auch hier keine digitale, bipo- dung des Russischen Reiches zusammen, das lare Unterscheidung und Abgrenzung zwi- sich in der Folge nun von den „unzivilisierten“ schen „den TschetschenInnen“ und „den Rus- NordkaukasierInnen abgegrenzt und diese mit sInnen“, sondern man trägt durch diese termi- Stereotypen belegt hat. Dies diente einerseits nologische Unterscheidung den historischen dem Zweck, die komplexe soziale Umwelt des Gemeinsamkeiten Rechnung. Ebenso sind die 97

TschetschenInnen nicht als ein ethnisch ho- meinsamer Koexistenz und Kooperation ande- mogenes Volk zu verstehen, obwohl dies von rerseits. Somit koexistieren diese Wahrneh- der nationalistischen Bewegung Anfang der mungen, ohne sich gegenseitig auszuschlie- 1990er Jahre vermehrt propagiert wurde. Ne- ßen, wie dies in den oben genannten nationa- ben Mischehen mit KosakInnen und RussIn- len Narrativen behauptet wird. Jedoch haben nen haben die TschetschenInnen vor allem die beiden rezenten Kriege aufgrund des bru- viele kulturelle Gemeinsamkeiten mit anderen talen Vorgehens der russischen Truppen an Kaukasusvölkern, was sich auch anhand der der tschetschenischen Bevölkerung die memo- oftmaligen Versuche, eine pan-kaukasische ries of success und memories of multicultural politische Vereinigung zu gründen, zeigte. existence untergraben und beschädigt. Da- Trotz der kulturellen Ähnlichkeit wurden jedoch durch ist es auch zu einer Festschreibung der bewusst die ethnischen Grenzen einer tsche- ethnischen Kategorie „Tschetschene/in“ im tschenischen Republik hervorgehoben, was Sinne einer hot ethnicity gekommen – d.h. wiederum dafür spricht, dass Kultur und Ethni- dass dieses ethnische Label aufgrund der zität nicht gleichzusetzen sind. Das rezente Kriegshandlungen besonders betont wurde, Beispiel der Orstkhoy – eine Volksgruppe, die um „RussInnen“ von „TschetschenInnen“ zu zwischen Tschetschenien und dem benachbar- unterscheiden. Dies bedeutet auch, dass hyb- ten Inguschetien aufgeteilt ist – illustriert, wie ride oder inklusive Formen ethnischer Identität, Ethnizität bewusst instrumentalisiert werden wie etwa die der Rossiyanin, in den Hinter- kann und ethnische Grenzen daher nicht fi- grund gedrängt worden sind. Weiters ist den xiert, sondern sozial konstruiert und wandelbar TschetschenInnen durch die öffentliche Diffa- sind. Als diese die Anerkennung und Unab- mierung als „TerroristInnen“ und „BanditInnen“ hängigwerdung einer eigenen Orstkhoy-Ethnie auch ein ethnisches Stigma auferlegt worden, forderten, wurden diese Ambitionen von der das sich oft in gewalttätigen Übergriffen gegen tschetschenischen Führung unterminiert und KaukasierInnen manifestiert und nur schwer die Orstkhoy als ein integraler Bestandteil der „abgelegt“ werden kann. „tschetschenischen Nation“ definiert. Auch die im Rahmen dieser Arbeit befragten Bezüglich des interethnischen Zusammenle- ExpertInnen kommen zu dem Schluss, dass bens zwischen RussInnen und TschetschenIn- das interethnische Verhältnis durchwegs von nen wurden auch Anfang der 1990er Jahre Konflikt und Kooperation zugleich geprägt war: zwei nationale Narrative propagiert: Das tsche- tschenische berief sich auf die „Ursprünglich- „Für die Mehrheit der Tschetschenen und keit“ und das „ewige Bestehen“ der tsche- Tschetscheninnen ist die Erinnerung an die tschenischen Nation, während das russische Konflikte mit Russland eindeutig dominant. Vor die „ewige Völkerfreundschaft“ und die „freiwil- allem nach den beiden rezenten Kriegen wer- lige Integration“ der Kaukasusvölker in das den diese alten Konflikte in eine lange Traditi- Zarenreich thematisierte. Beide Narrative ver- on gestellt. Selbstverständlich gab es aber gessen oder überbetonen dabei bewusst be- auch Perioden des Miteinanders, das war stimmte Aspekte wie etwa die Gemeinsamkei- schon aus pragmatischen Gründen gar nicht ten zwischen beiden Gruppen oder die Kriege anders möglich. Speziell nach der Rückkehr und Konflikte zwischen ihnen. Sokirianskaia der Tschetscheninnen und Tschetschenen in (2008) dagegen hat drei Arten von Erinnerun- den Kaukasus Ende der 1950er Jahre war das gen an die interethnischen Beziehungen der Verhältnis relativ entspannt. In Grozny gab es beiden Gruppen herausgearbeitet. So eine sehr große russische Bevölkerung und existieren neben memories of grievance auch das Zusammenleben hat einigermaßen funkti- memories of success und memories of multi- oniert (…) Selbstverständlich kann von keinem cultural existence. Während sich erstere auf ‚ewigen Konflikt‘ die Rede sein und auch im Mythen der Heroisierung und Viktimisierung 19. Jahrhundert gab es durchaus Perioden der beziehen, behandeln zweitere die kollektive Kooperation (…) Auch heute noch gibt es eine Beteiligung an wichtigen historischen Ereignis- sehr große Anzahl von Tschetschenen, die in sen wie russischen Kriegen, Modernisierungs- Russland arbeiten und sich mit Russen und und Industrialisierungsprozessen und kulturel- Russland arrangieren müssen – was jedoch len Errungenschaften, an die sich Tschetsche- aufgrund der zunehmenden anti- nInnen auch heute noch mit Stolz erinnern. Die tschetschenischen Affekte immer schwieriger Erinnerungen an die multikulturelle Koexistenz wird (…) Diese dominierende Erinnerung des beziehen sich auf die tägliche Routine des ‚ewigen Krieges‘ deckt sich somit weder mit Zusammenlebens in einem multiethnischen den Realitäten in der Vergangenheit noch mit Umfeld. Dies legt den Schluss nahe, dass die denen der Gegenwart“ (Interview mit Kappeler, interethnischen Beziehungen zwischen Tsche- Wien 2009). tschenInnen gleichermaßen geprägt sind von Kriegen und Konflikten einerseits und von ge- 98

„Was ich bei den Tschetschenen bewundere, bis in die Gegenwart fort“ (Interview mit Szysz- ist, dass sie nicht alle russlandfeindlich sind – kowitz, Wien-Moskau 2009). sogar hier im Exil, wenn die Tschetschenen Russen treffen, plaudern sie auf Russisch (…) Sie sind nicht russenfeindlich, obwohl sie ge- Zur Bedeutung des Faktors „Religion“ für genüber der russischen Politik und Macht die interethnischen Beziehungen: durchaus feindlich eingestellt sind (…) Auch heutzutage wohnen hunderttausende Tsche- Da Religion durchaus als ein Aspekt von tschenen in Russland und haben dort schon Ethnizität verstanden werden kann, lässt sich längst Fuß gefasst (…) obwohl Sie dort auch Religion selektiv in bestimmten Situationen zunehmend diskriminiert werden“ (Interview hervorheben bzw. kann sie auch eine geringe- mit Bisaev, Wien 2009). re Rolle bei der ethnischen Selbst- und Fremddefinition spielen. In den tschetsche- „Abgesehen davon, dass man das interethni- nisch-russischen Beziehungen war der religiö- sche Verhältnis aufgrund der kriegerischen se Faktor über die Jahrhunderte hinweg eben- Auseinandersetzungen als furchtbar bewerten falls von wechselnder Bedeutung. Zur Zeit der könnte, so hatten die sowjetischen Beziehun- russischen Eroberung des Kaukasus wurden gen und die ‚große Völkerfreundschaft‘ auch alle nicht-christlichen Gruppen im Sinne einer einen seltsamen Effekt. Dieser äußerte sich digitalen Abgrenzung als inorodtsy bezeichnet, darin, dass die Tschetschenen jahrzehntelang als nicht-christliche beziehungsweise nicht- quasi wie ein „normales“ Sowjetvolk in der russische UntertanInnen des Zarenreichs. Das Sowjetunion gelebt haben. In diesem Sinne Selbstverständnis des „zivilisierten“ und vor- gab es natürlich auch ganz enge Kontakte wiegend christlichen Russischen Reiches zwischen Tschetschenen und Russen, da es in stand damit im Gegensatz zu den angeblich ganz Grozny viele Russen gab, die dort in der „wilden“ und nicht-christlichen Bevölkerungen Ölindustrie gearbeitet haben. Umgekehrt gibt und entsprach in etwa Edward Saids (2003) es auch in ganz Moskau viele Tschetschenen Prinzip des „Orientalismus“. Der Islam verbrei- – das ist eine sehr verwachsene Geschichte. tete sich im 16. Jahrhundert in Tschetsche- Man vergisst manchmal in der Außensicht, nien, aber erst durch das gewaltsame Vordrin- dass die Leute auch ganz normal miteinander gen der russischen Truppen in ihr Gebiet ver- leben (…) Dadurch, dass die Ethnie an sich festigte sich der sufistische Glauben unter den jahrzehntelang überhaupt nicht diskutiert wer- Bergvölkern und wurde der religiöse ghasawat den durfte, haben die Leute teilweise wirklich gegen das „ungläubige“ Russland geführt. Vor ein bisschen vergessen und haben versucht, allem die Verbindung der militärischen Koloni- ein normales Leben miteinander zu führen – sierung mit der angestrebten Konvertierung und das auf der Basis von unfassbaren Grau- der „Wilden“ zum Christentum akzentuierte die samkeiten, die man sich gegenseitig angetan unterschiedlichen religiösen Einstellungen und hat (…) Dadurch, dass in der Sowjetunion machte den religiösen Faktor zu einem wichti- niemand – auch kein ‚ethnischer Russe‘ – gen Aspekt der Abgrenzung in den interethni- darüber diskutieren konnte, was mit seiner schen Beziehungen. Die versuchte Konvertie- gesamten Familie passiert ist, die in den GU- rung der nicht-christlichen Völker ist aber auch LAG geschickt wurde – dadurch haben auch auf geopolitische Interessen zurückzuführen, die Tschetschenen nach ihrer Rückkehr aus da die zaristische Führung befürchtete, die der Deportation nicht unbedingt das Gefühl muslimischen Bergvölker des Kaukasus könn- gehabt, dass sie die einzigen waren, die so ten sich mit dem Osmanischen Reich zusam- schlecht behandelt wurden (…) Dieser Mangel menschließen und so gemeinsam eine Opposi- an ‚Russenhass‘ hat mich in meinen Gesprä- tion gegen das Zarenreich bilden. Aufgrund der chen mit Tschetschenen oft gewundert – der engen Verbindung der Konzepte der „Zivilisati- Kummer und die Wut über die Deportation und on“ und des Christentums dachten die russi- ihre Schlechtbehandlung hat sich somit nicht schen Autoritäten, die nicht-christlichen Völker unbedingt gegen die Russen gerichtet (…) durch Bildung und Begeisterung für Kunst Seitdem sich Russen und Tschetschenen be- auch automatisch zur Übernahme des christli- kriegen – also seit etwa 200 Jahren – gab es chen Glaubens bewegen zu können. Nichts- eine endlose Abfolge an interethnischen Kon- destotrotz gab es immer wieder Phasen, in flikten, die in Wellen und über Generationen denen die Glaubensausübung der muslimi- hinweg immer wieder eskaliert sind. Dabei ist schen BewohnerInnen des Zarenreiches gebil- es hauptsächlich um Unterwerfung und Land- ligt wurde. nahme gegangen – nicht um grundsätzliche Nach dem Ende des russischen Bürgerkrieges Antipathien, sondern um Machtinteressen, wie Anfang der 1920er Jahre wurde dann zunächst das immer so ist. Und dieses Muster setzt sich die Religion der Bergvölker gebilligt, unter Stalins Herrschaft jedoch weitgehend unter- 99 drückt. Dennoch konnten sich in Tschetsche- gonismus zwischen „Islam“ und „Orthodoxie“ nien die sufistischen Bruderschaften im Unter- beherrscht. Vielmehr wurde Religionszugehö- grund weiter erhalten und bildeten eine Art rigkeit dazu instrumentalisiert, um die eigenen Parallelwelt zu den sowjetischen Realitäten. politischen Interessen durchzusetzen. So hat Durch die Unterdrückung des religiösen As- sich etwa auch das „christliche“ Georgien im pektes spielte dieser dann wohl auch zu Zeiten Kampf gegen benachbarte Gruppen an das der Sowjetunion eine geringere Rolle als Mittel „muslimische“ Osmanische Reich gewandt, zur Abgrenzung zwischen den ethnischen nachdem es vom Zarenreich keine Unterstüt- Gruppen. Stattdessen kam es eher zur Schaf- zung erhalten hatte. Genauso haben auch fung einer „atheistischen sowjetischen Identi- muslimische Bergvölker im Kaukasus die Hilfe tät“ bzw. im Laufe der Jahrzehnte zur Heraus- des später als „ungläubig“ definierten Russi- bildung von ethnonationalen Identitäten. Dieser schen Reiches in Anspruch genommen, um Umstand äußerte sich dann auch in der natio- sich gegen ihre lokalen Feinde durchzusetzen. nalen Revolution in Tschetschenien 1991, die Somit hatte der religiöse Faktor in verschiede- einen vorwiegend säkularen Staat propagierte, nen historischen Perioden und Situationen der laut Dudajew von der Religion getrennt immer ein unterschiedliches Gewicht für die sein sollte. Während in den frühen 1980er ethnische Abgrenzung zwischen „RussInnen“ Jahren aufgrund des Afghanistankrieges wie- und „TschetschenInnen“. der ein negatives Bild des Islam in russischen politischen und medialen Diskursen gezeichnet wurde, änderte sich dies jedoch wieder mit Über den Einfluss der tschetschenisch- Gorbatschows Reformen von Glasnost und russischen Ethnizitätsbeziehungen auf die Perestroika. Erst im Zuge der Islamisierung Herausbildung einer tschetschenischen Tschetscheniens Mitte der 1990er Jahre und nationalen Identität: vor allem aufgrund der damit einhergehenden islamistischen Terroranschläge und Geisel- Da sich das tschetschenische Volk immer nahmen in Russland wurde der Islam wieder schon gegenüber anderen Gruppen in einer zum Feindbild erkoren, und es fand eine Ab- gewissen Weise abgegrenzt hat, verfügte es grenzung gegenüber den „muslimischen seit jeher über eine gewisse „ethnische Identi- TschetschenInnen“ statt, die nun von russi- tät“, wie Szyszkowitz anmerkt: schen PolitikerInnen und Medien pauschal als „islamistische TerroristInnen“ stigmatisiert wur- „Die Tschetschenen haben innerhalb dieses den. immensen Vielvölkergemisches, das es im Obwohl es durch den zunehmenden Einfluss Kaukasus gibt, ihre eigene Identität gehabt (…) der IslamistInnen in Tschetschenien und durch Sie hatten seit Jahrhunderten ihre eigene eth- die Überhöhung des Konfliktes zu einem glo- nische Zusammengehörigkeit, weil sie sowohl balen „Kampf gegen den Terrorismus“ durch ein angestammtes Land, eine Sprache und Putin zu einer Radikalisierung auf beiden Sei- eine eigene Religion besaßen (…) Diese Ab- ten gekommen ist, kann jedoch von einem grenzung ist seit langer Zeit klar und ist nicht „Kampf der Kulturen“ im Sinne Samuel Hun- als eine Folge von russischem Imperialismus tingtons nicht die Rede sein. Denn gerade das zu verstehen (…) Die Tschetschenen haben russische Vielvölkerreich kann wohl kaum als ihre teips und Clans, und (…) es war offen- ausschließlich der „orthodoxen Zivilisation“ sichtlich, ob es sich um einen inguschischen zugehörig betrachtet werden und auch die oder einen tschetschenischen teip handelte TschetschenInnen sind erst seit dem 16. Jahr- (…) Die Abgrenzung gegenüber anderen hundert allmählich zum Islam konvertiert. Wei- Gruppen manifestierte sich nicht nur gegen- ters haben auch nicht alle MuslimInnen in über den Russen, sondern etwa auch gegen- Russland geschlossen die tschetschenische über den Tscherkessen“ (Interview mit Szysz- Unabhängigkeit unterstützt, da viele islamische kowitz, Wien-Moskau 2009). FührerInnen dem russischen Staat sehr nahe stehen. Darüber hinaus wurde das Verhältnis Wann genau nun ein „nationales“ konsolidier- anderer islamischer Staaten mit Russland tes Bewusstsein – welches die teip- und Clan- durch die beiden Kriege in Tschetschenien zugehörigkeiten transzendiert hat – entstanden nicht übermäßig belastet, da diese bilateralen ist, lässt sich aus der gegenwärtigen Perspek- Beziehungen vor allem von wirtschaftlich- tive schwer feststellen. Nichtsdestotrotz lassen pragmatischer Kooperation geprägt waren und sich bestimmte historische Ereignisse und sind. Auch aus historischer Sicht waren die Prozesse im Rahmen der tschetschenisch- Auseinandersetzungen zwischen dem Russi- russischen Beziehungen herausarbeiten, wel- schen Reich, dem Persischen Reich und dem che zur Schaffung einer nationalen Identität Osmanischen Reich im Gebiet des Kaukasus unter den TschetschenInnen beigetragen ha- nicht vorrangig von dem grundsätzlichen Anta- ben. So kam es seit dem 16. Jahrhundert zu 100 einer Erforschung und Kategorisierung der Durch die Einteilung des Reiches in mehr als unterschiedlichen Völker des Russischen Rei- 50 nationale Einheiten und mehr als 100 ethni- ches durch russische WissenschaftlerInnen, sche Nationalitäten kam es zu einer Institutio- um diese besser einteilen und beherrschen zu nalisierung ethnischer Nationalität, zur Schaf- können. Durch die Zuschreibung von ethni- fung gemeinsamer politischer Interessen und schen Labels, Bevölkerungszählungen, die letztendlich auch zur Entstehung einer ge- Erstellung von geographischen Karten und die meinsamen politischen Identität. Da die Sow- Darstellung dieser Völker in Museen konnte – jetunion ihren Völkern nicht die Möglichkeit wie dies auch Benedict Anderson (1996) dar- gab, ihre Interessen im Rahmen von zivilen legt – das Zarenreich seinen Herrschaftsbe- Institutionen auf lokaler Ebene durchzusetzen, reich besser definieren und imaginieren. So kam es zu einem Rückbezug auf die eigene wurden auch mehrere Gruppen in verschiede- ethnonationale Identität, um den eigenen For- ne Völker zusammengefasst, die sich bis zu derungen Nachdruck zu verleihen. Unter ande- diesem Zeitpunkt nicht als ein eigenes Volk rem aufgrund dieser Ambivalenz von Homoge- definierten und auch keinen eigenen Namen nisierungsbestrebungen des kulturell hetero- für diese konstruierte Identität hatten. Diese genen Sowjetreiches auf der einen Seite und Kategorien wurden in weiterer Folge von vielen dem Aufkommen nationaler Identitäten ande- Völkern übernommen, jedoch förderte auch rerseits kam es dann schließlich zum Zusam- der Kontakt mit RussInnen die Konstruktion menbruch des sowjetischen Systems. Aber und Aufrechterhaltung der eigenen Identität in auch Modernisierungsprozesse haben im Lau- Abgrenzung zur russischen Kolonialmacht. fe der vergangenen Jahrhunderte zur Heraus- In weiterer Folge schuf vor allem der Kampf bildung einer nationalen tschetschenischen gegen und die Abgrenzung von Russland eine Identität beigetragen. Einerseits ist die Hervor- wichtige Rolle für die Konsolidierung der hebung dieser Identität bzw. auch der sufisti- TschetschenInnen, da Identität besonders schen Bruderschaften als Reaktion auf die dann hervortritt, wenn sie umkämpft ist, und „Russifizierungs“- und „Sowjetisierungsversu- weil Kriege eine konsolidierende Funktion ha- che“ zu sehen. Andererseits haben zuneh- ben. Auch die Gründung des Imamats unter mende Urbanisierung, Bildung, Alphabetisie- Schamil im 19. Jahrhundert sowie die Einfüh- rung und das Aufkommen einer gemeinsamen rung quasi-staatlicher Institutionen vereinte Sprache die „Vorstellung“ einer gemeinsamen laut Zelkina (2000) erstmals die Tschetsche- tschetschenischen Nation ermöglicht. nInnen über lokale Formen der Identifikation In diesem Zusammenhang spielt auch die hinaus.103 Weiters erleichterte die Verschriftli- Frage der „kulturellen Authentizität“ eine be- chung und Vereinheitlichung der tschetscheni- deutende Rolle. Da viele russische und auch schen Sprache in den 1920er Jahren und das „westliche“ EthnologInnen, WissenschaftlerIn- damit einhergehende Aufkommen von tsche- nen und JournalistInnen die „Ursprünglichkeit“ tschenischen Zeitschriften und Radiosendern der tschetschenischen Ethnie und die „Konser- die „Imagination“ einer tschetschenischen Na- vierung uralter Traditionen“ betont haben, ver- tion erheblich. Auch die Deportation 1944 unter nachlässigten diese dadurch, dass sich die Stalin konsolidierte die TschetschenInnen als ethnische Gruppe aufgrund von Modernisie- Volk, sie stellt auch heute noch ein potentes, rungsprozessen und historischen Umbrüchen mobilisierungsfähiges chosen trauma in ihrem durchaus verändert hat und dass auch angeb- „kollektiven Gedächtnis“ dar. Schließlich führte lich uralte Traditionen als „modern“ zu betrach- auch die sowjetische Nationalitätenpolitik zur ten sind, da sie in Reaktion auf die Herausfor- Schaffung ethno-nationaler Identitäten.104 derungen der Moderne geformt wurden. Somit sind Tradition und Moderne keine bipolaren, 103 Auch Malek (2008: 29) verweist auf die Bedeutung der exklusiven Prozesse, sondern es kommt heut- Errichtung eines zentralen, militärisch-theokratischen zutage oft zu einer Vermischung „traditioneller“ Staates unter Schamil: „prior to the Russian invasion, und „moderner“ kultureller Elemente. Solch Chechnya had not known any coherent political structure“. kulturessentialistische Annahmen über die Sokirianskaia (2008: 104) zufolge kristallisierte sich eben- falls zum ersten Mal im Rahmen des Kaukasuskrieges im „Ursprünglichkeit“ der TschetschenInnen un- 19. Jahrhundert eine tschetschenische „ethnische Einheit“ bzw. Ethnie – d.h. nach Anthony Smith eine ethnische Gemeinschaft mit einem entsprechenden Ethnozentrismus das schweißt zusammen (…)“ (Interview mit Kappeler, – heraus. Wien 2009). Laut Halbach (1995: 200) waren die kaukasi- 104 Kappeler diesbezüglich: „Die sowjetische Nationalitä- schen Bergvölker in vorsowjetischer Zeit weit von einer tenpolitik hat bewusst die Nationsbildung gefördert und Nationsbildung entfernt und hatten andere Identifikations- Schriftsprachen geschaffen – so auch bei den Tsche- und Loyalitätsmuster. Im Zuge der stalinistischen Nationa- tschenen (…) Ich würde sagen, dass die 1920er Jahre litätenpolitik wurden dann nichtverwandte Ethnien wie die diese Entwicklung befördert haben, wobei auch die Depor- KabardinerInnen und BalkarInnen zusammengefasst und tation mit Sicherheit ein entscheidendes Ereignis darstell- verwandte Gruppen wie die KabardinerInnen und Tscher- te. Seither würde ich ohne Abstriche von einer tschetsche- kessInnen getrennt. Somit wurden auch neue ethnische nischen Nation sprechen. Das gemeinsame Leiden – und nationale Kategorien in den ethnisch heterogenen wovon so gut wie alle TschetschenInnen betroffen waren – Kaukasus hineingetragen. 101 terstützten dabei nur das tschetschenische Zwang erfolgen müssen. Kappeler sieht dies nationalistische Narrativ, dass „die Tsche- ähnlich: tschenInnen“ als Ethnie schon seit Jahrtau- senden bestehen und sich nie jemandem un- „Wenn der erste Tschetschenienkrieg nicht terworfen haben, wodurch jedoch komplexe 1994 von Russland begonnen worden wäre, Prozesse des kulturellen Austausches, Ge- dann hätte sich das interethnische Verhältnis meinsamkeiten mit anderen ethnischen Grup- zwischen Tschetschenen und Russen womög- pen und Modernisierungsprozesse vernach- lich anders entwickelt (…) Dass in der spät- lässigt werden. So belebten in den 1990er sowjetischen Zeit dieses Verhältnis nicht (…) Jahren auch Dudajew und Yandarbiev die durchwegs antagonistisch war und dass sowje- teips und trugen den traditionellen tschetsche- tische Werte und Traditionen bei beiden Grup- nischen papkha-Hut, um eine Kontinuität mit pen geschaffen wurden – die durchaus bis der Vergangenheit herzustellen und ihre Herr- heute weiter existieren –, das ist unbestritten“ schaft zu legitimieren. Aber auch auf der ande- (Interview mit Kappeler, Wien 2009). ren Seite trugen solch essentialisierende Vor- stellungen von der „Ursprünglichkeit“ der „ar- Durch den Ausbruch des ersten Krieges 1994 chaischen“ TschetschenInnen zu einer Fort- wurden jedoch wie schon erwähnt die memo- schreibung der seit Jahrhunderten bestehen- ries of success und memories of multicultural den negativen Stereotype in russischen Me- existence sowie die kulturellen Ähnlichkeiten dien und in öffentlichen und politischen Diskur- mit den RussInnen und den anderen Kauka- sen bei. susvölkern in den Hintergrund gerückt. Statt- Abschließend soll noch auf die von Sozialwis- dessen kam es zu einer strikten, digitalen senschaftlerInnen verwendeten Begrifflichkei- Trennung zwischen TschetschenInnen und ten und Konzepte hingewiesen werden, mit Nicht-TschetschenInnen, welche zudem die denen von außen oft eine Gruppe kategorisiert Gruppensolidarität innerhalb der tschetscheni- wird, die für diese jedoch nicht immer identifi- schen Ethnie gesteigert hat. Somit „imaginier- katorische Relevanz besitzen. Angesprochen ten“ sich die beiden Konfliktparteien in einer auf die Frage, ob und seit wann die Tsche- exklusiven und einander ausschließenden Art tschenInnen eine Nation darstellen, antwortete und Weise, anstatt kulturelle Gemeinsamkeiten Khawasch Bisaev: hervorzuheben (Tishkov 2004: 10). Auch in der Zwischenkriegszeit hätten sich laut Ware „Ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht. (2005: 105) viele TschetschenInnen aufgrund In Tschetschenien leben über eine Million der schlechten sozioökonomischen Situation Tschetschenen, (…) Russland dagegen hatte und der zunehmenden Islamisierung für eine immer über 100 Millionen Einwohner. Trotz Integration in die Russische Föderation ausge- aller Unterwerfungsversuche konnten sie je- sprochen. Durch den Beginn des zweiten doch die Tschetschenen nicht assimilieren. Tschetschenienkrieges 1999 wurden stattdes- Wären sie keine Nation, wie hätten die Tsche- sen jedoch wieder neue memories of grievan- tschenen ihre Sprache und ihre Kultur erhalten ce sowie nationale Symbole und Mythen ge- können? (…) Ich glaube, dass sie immer eine schaffen, die wiederum das Potential zu einer Nation waren“ (Interview mit Bisaev, Wien erneuten ethnischen Mobilisierung in sich tra- 2009). gen. Aufgrund dieser traumatisierenden Aus- wirkungen des Krieges ist somit eine „Normali- sierung“ der interethnischen Beziehungen in 5.2. Lösungsansätze und Ausblick naher Zukunft eher unwahrscheinlich:

Im Rahmen dieser Arbeit wurde versucht auf- „Solche Konflikte, die enorm viele Menschen- zuzeigen, dass Vorstellungen von so genann- leben gekostet haben, können nicht so einfach ten „ancient hatreds“ zwischen RussInnen und aus dem Gedächtnis getilgt werden (…) In TschetschenInnen nicht fundiert sind und dass Tschetschenien sehe ich kurz- und mittelfristig auch nicht von einem „ewigen Krieg“ zwischen überhaupt keine Lösung, da durch diese bei- diesen beiden Gruppen gesprochen werden den Kriege so viel zerstört worden ist (…) Die kann. Laut Kowaljow (1997: 177f) waren auf- Wunden des Krieges sind tief und beinahe grund der Unzufriedenheit vieler Teile der jede tschetschenische Familie hat Opfer zu tschetschenischen Bevölkerung mit Dudajew beklagen. Dass in Zukunft eventuell ein weni- im Jahre 1994 sogar nicht wenige Tschetsche- ger extremer Anführer eine zumindest äußerli- nInnen dazu bereit, sich Moskau unterzuord- che Stabilisierung schaffen kann, das schließe nen. Dieses wurde von vielen als „kleineres ich nicht aus. Aber dass sich das Verhältnis Übel“ gesehen, jedoch hätte eine Reintegration (…) zwischen Russen und Tschetschenen Tschetscheniens in die Russische Föderation mittelfristig wieder normalisieren könnte, das freiwillig und ohne Gewaltanwendung und 102 halte ich für sehr unwahrscheinlich“ (Interview acceptance, invested interests and goals in mit Kappeler, Wien 2009). developing peaceful relations, as well as fully normalized, cooperative political, economic Aufgrund der zwei opferreichen Tschetsche- and cultural relations“ (Bar-Tal/Bennink 2004: nienkriege und der Gräueltaten an der tsche- 15). Reconciliation ist als politischer und sozia- tschenischen Zivilbevölkerung kann somit ler Prozess zu verstehen, und Wiederversöh- Russland auch nicht mehr glaubwürdig die nungsinitiativen reichen von den Schuldeinges- „Große Völkerfreundschaft“ aus den Zeiten der tändnissen politischer FührerInnen und von Sowjetunion heraufbeschwören. In Grozny NGOs organisierten Problemlösungswork- steht heute in Erinnerung an diese „Völker- shops bis hin zu kulturellen Events, Medienini- freundschaft“ und die Tschetscheno- tiativen und Bildungsreformen. Kaufman greift Inguschische Republik eine Statue, die aus auf das forgiveness model of reconciliation von einem Russen, einem Inguschen und einem Long und Brecke (2003: 28-31) zurück, wel- Tschetschenen besteht. Diese werden von ches aus vier grundsätzlichen Elementen be- vielen TschetschenInnen laut Seierstad (2008: steht, und erweitert dieses um mehrere Aspek- 139) heute nur mehr als „die drei Idioten“ (tri te (Kaufman 2006: 206-15): duraka) bezeichnet. Ende der 1980er Jahre kam es dann im Zuge von Gorbatschows Re-  Zunächst ist die Anerkennung des Un- formen zu einer Revision der sowjetischen rechts, das man einer anderen Gruppe Geschichtsschreibung und oftmals zur Wider- angetan hat, von zentraler Bedeutung um legung der Behauptung, dass sich die nord- gegenseitige Anerkennung zu erreichen kaukasischen Völker freiwillig Russland ange- (truth-telling). So war etwa Willy Brandts schlossen hätten. Diese Debatte spiegelt sich emotionaler Besuch in Auschwitz ein wich- auch in den einander gegenüberstehenden tiger Schritt für den deutschen Aussöh- russischen und tschetschenischen Narrativen nungsprozess mit seinen Nachbarn und wider, die in Kapitel 4.3.2. dargestellt wurden. mit Israel. Dabei sollte man wenn möglich Aber auch bezüglich der Ursachen der rezen- Symbole betonen, die feindselige Mythen ten Kriege wird man sich nicht auf eine ge- unterminieren, um so Unterstützung für ei- meinsame Version einigen können. Vielen nen Friedensprozess zu erhalten. TschetschenInnen, westlichen BeobachterIn- nen und der Tschetschenienresolution des  Zweitens muss die eigene Gruppen- Europaparlamentes zufolge sind russische Mythologie dahingehend modifiziert wer- Truppen 1994 in Tschetschenien unrechtmä- den, dass man die eigene Identität und die ßig eingedrungen. Die russische Version da- des Gegenübers positiver sieht. So sollte gegen – die von der russischen Führung, dem etwa die eigene Gruppe nicht vorwiegend russischen Militär, einem Großteil der russi- als Opfer und die andere als Täter gese- schen Öffentlichkeit und einigen Tschetsche- hen werden, um eine positivere Gruppen- nInnen geteilt wird – sah in dem Aufkommen identität zu befördern. Dies kann etwa da- eines aggressiven paramilitärischen Regimes durch erfolgen, dass man Menschen von unter Dudajew eine Bedrohung für den russi- beiden Seiten zusammenbringt, so dass schen Staat (Tishkov 2004: 48, 215). Diese diese ihre „mythischen Vorstellungen“ des unterschiedlichen Darstellungen befördern jeweils anderen abbauen und aufgrund der auch einen bestimmten Unwillen bzw. eine erhaltenen Informationen dem anderen Unfähigkeit, die eigenen Fehler einzugestehen statt mit Hass und Angst zunehmend mit und Verantwortung zu übernehmen: „Peoples Verständnis begegnen. Diese Informatio- who believe themselves to be victims of ag- nen sollten dann innerhalb der eigenen gression have an understandable incapacity to Gruppe kommuniziert werden und beein- believe that they too have committed atrocities. flussen dann idealerweise die öffentliche Myths of innocence and victimhood are power- Meinung in einem positiven Sinn. Vor al- ful obstacles in the way of confronting respon- lem junge Menschen sollten an solchen sibilities“ (Ignatieff 1998: 176). Programmen teilnehmen, da sie in der Re- gel weniger voreingenommen sind. Ein Jedoch wären genau solche Schuldeinges- weiterer wichtiger Aspekt ist die Minimie- tändnisse eine wichtige Voraussetzung dafür, rung der Bedeutung von chosen traumas Wiederversöhnungsprozesse sowie eine fried- in der Gruppenmythologie, um so auch liche Koexistenz zwischen ethnischen Gruppen das kollektive Gefühl der Viktimisierung zu zu fördern. Kaufman (2006) zufolge ist neben reduzieren. In diesem Kontext können et- einer politischen Einigung vor allem Wieder- wa öffentliche Trauer- und Wiederversöh- versöhnung (reconciliation) eine Grundvoraus- nungsrituale eine wichtige Rolle spielen. setzung für einen stabilen Frieden. Diese „(…) Bedeutend ist zudem auch das Verbot von is characterized by mutual recognition and Hasspredigten durch politische und religiö- 103

se Autoritäten sowie die Massenmedien, ten Bürokratie nur wenige TschetschenInnen da durch diese feindschaftliche Emotionen tatsächlich an dieses Geld gelangen. So konn- hervorgerufen und Wiederversöhnungs- ten von 50.000 TschetschenInnen, die zwi- prozesse untergraben werden. Massen- schen April und Dezember 2005 einen Antrag medien sollten den ehemaligen Feind etwa auf Kompensation gestellt hatten, nur 3.033 durch Fernseh- und Filmdokumentationen Deportierte entschädigt werden (Szyszkowitz oder eine entsprechende Nachrichtenbe- 2008: 101). richterstattung humanisieren. Für Journa- Ein friedensstiftendes Symbol, das Wiederver- listInnen könnte man etwa Weiterbildungs- söhnung befördern und feindselige Mythen kurse anbieten, um Voreingenommenhei- unterminieren könnte, wäre eventuell die Figur ten zu reduzieren. Auch in Schulen sollten des Kunta Hadschi, welcher im Gegensatz zu feindselige Mythen gegenüber einer ande- Imam Schamil ursprünglich eine friedliche ren Gruppe abgebaut und stattdessen Einigung mit Russland gepredigt und jede Art ausgewogene Geschichtsdarstellungen von Waffengewalt abgelehnt hat (Lieven 1998: unterrichtet werden. 367). Aufgrund der großen Popularität der von ihm gegründeten Qadiriyya-tariqa in Tsche-  Drittens müssen beide Parteien die Hoff- tschenien wird er auch heute noch von vielen nung auf eine „umfassende Gerechtigkeit“ TschetschenInnen als religiöser Führer ver- aufgeben und sich stattdessen mit einer ehrt. Man könnte aber auch die durch russi- „partiellen Gerechtigkeit“ zufriedengeben, sche SchriftstellerInnen hervorgerufene große besonders was etwa die Bestrafung von Kaukasusbegeisterung der 1820er Jahre her- Kriminellen und TäterInnen angeht. Zudem vorheben, welche den Kaukasus zu einem müssen PolitikerInnen die ökonomischen wahren Tourismusziel transformiert hatte. Vorteile eines Friedensabkommens kom- Schließlich gibt es heute in Russland auch munizieren, ihre eigenen Parteien mobili- mehrere NGOs, die sich einer Verbesserung sieren und mit autonomen Friedensbewe- der interethnischen Beziehungen angenom- gungen zusammenarbeiten. Diesbezüglich men haben, vor allem die Organisation „Memo- können etwa auch kunst- und theaterbe- rial“. Das „Andrej Sakharov Museum“ in Mos- zogene Programme wie der von UNICEF kau setzt sich vermehrt mit den Opfern und gesponserte „Circus of Peace“ in Mozam- den Gräueltaten des Stalinismus an der russi- bique, welcher Wiederversöhnung propa- schen Zivilbevölkerung auseinander. Die be- giert, sehr effektiv sein. kannte tschetschenische Zeitschrift „Dosh“ (auch online abrufbar unter www.doshdu.ru,  Schließlich müssen beide Parteien dazu Zugriff: 12.9.2009) hat es sich ebenfalls zum bereit sein, ihre Beziehungen zu verbes- Ziel gesetzt, die jahrhundertelange friedliche sern. Dies kann durch friedliche Koopera- Koexistenz und Zusammenarbeit zwischen tion auf den verschiedensten Ebenen er- unterschiedlichen ethnischen und religiösen reicht werden, wie etwa im Bereich der kul- Gruppen in Russland hervorzuheben. turellen und administrativen Zusammenar- Trotz dieser Initiativen ist jedoch eine weitge- beit (im Bereich des Transportwesens, der hende Wiederversöhnung zwischen Russland Rechtsprechung, usw.). und Tschetschenien aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzungen und traumati- Im Kontext des Tschetschenienkonfliktes wur- sierenden Ereignisse der Tschetschenienkrie- de ein erster zaghafter Schritt in Richtung ge sowie angesichts der rezenten Terroran- Wiederversöhnung durch die Anerkennung der schläge in Moskau auch mittelfristig äußerst Deportation 1944 als Verbrechen gegen die unwahrscheinlich. Kaufman (2006: 214) deutet TschetschenInnen getan. Im Zuge des 2005 darauf hin, dass die meisten reconciliation- abgeschlossenen Autonomieabkommens für Initiativen daran scheitern, dass die entspre- Tschetschenien wurde vereinbart, die 1991 chenden EntscheidungsträgerInnen diese nicht beschlossenen Entschädigungen für die tsche- konsequent verfolgen. Dies ist wohl auch vor tschenischen Opfer des Stalinismus nun auch allem darauf zurückzuführen, dass sich durch auszuzahlen. Durch die im April 2005 initiierte chauvinistische Politik und Schaffung von „Operation Entschädigung“ sollten Tsche- Feindbildern oft leichter Leute mobilisieren und tschenInnen, die 1944 zwangsdeportiert wur- die eigenen Machtpositionen absichern lassen. den und zu diesem Zeitpunkt ein Haus besa- Auch der russische Staat ist sich keiner Schuld ßen, 10.000 Rubel erhalten. In der Verban- in den beiden Tschetschenienkriegen bewusst nung Geborene sollten die Hälfte dieses Be- und erkennt auch nicht das Unrecht an, das trages bekommen und auch PensionistInnen von russischen SoldatInnen an tschetscheni- durch eine geringfügig höhere Pension ent- schen ZivilistInnen begangen wurde. Wie schädigt werden. Jedoch konnten aufgrund der schon erwähnt ist heute in vielen Teilen Russ- vorherrschenden Korruption und der ineffizien- lands die Meinung vorherrschend, dass der 104

Einmarsch russischer Truppen in Tschetsche- viele RussInnen das tschetschenische Volk nien 1994 durch das aggressive paramilitäri- auch für die beiden Kriege und die rund 15.000 sche Regime von Dudajew provoziert worden getöteten russischen SoldatInnen verantwort- ist. Weiters wird auch der Tschetschenienkon- lich. Zudem sind auch viele junge russische flikt – u.a. aufgrund der russischen „Tsche- RekrutInnen schwer verwundet und traumati- tschenisierungspolitik“ – heute nicht mehr als siert aus Tschetschenien zurückgekehrt und solcher wahrgenommen und die Situation in haben große Probleme, sich wieder in die Ge- der nordkaukasischen Provinz von staatlicher sellschaft zu reintegrieren. Seite als „normalisiert“ dargestellt. Da jedoch Eine Aufarbeitung der Tschetschenienkriege, immer noch TschetschenInnen unter der Will- eine ausgewogene Darstellung der Kriegsur- kür des Kadyrow-Regimes leiden müssen und sachen und entsprechende Schuldeingeständ- auch ums Leben kommen, wird dadurch nur nisse wären somit von großer Bedeutung. Laut erneut Hass gegen die russische Führung und Szyszkowitz ist jedoch die Debatte über Ras- deren StellvertreterInnen in Grozny geschürt sismus in Russland nur sehr schwach ausge- und somit jegliche Wiederversöhnungsbemü- prägt: hungen untergraben. Durch die mangelnde Strafverfolgung von russischen SoldatInnen „In Russland wurde bisher kaum eine Debatte durch den russischen Staat erfahren die darüber geführt, was Rassismus eigentlich ist. TschetschenInnen zudem nicht einmal „partiel- Zu Zeiten der Sowjetunion wurde dieses The- le Gerechtigkeit“. Oft sind russische Behörden ma in einer gewissen Weise totgeschwiegen sogar an einer Vertuschung von Menschen- und nicht diskutiert (…) Dennoch wäre es un- rechtsverletzungen beteiligt. Auch aufgrund geheuer wichtig und sinnvoll, wenn man dar- der unterschiedlichen russischen Kampfeinhei- über diskutieren würde, was interethnische ten im zweiten Tschetschenienkrieg, die nicht Beziehungen und Minderheiten bedeuten und alle der Jurisdiktion der russischen Militär- warum nicht pauschal behauptet werden soll, staatsanwaltschaft unterliegen, ist eine ent- dass alle Tschetschenen Kriminelle sind (…) sprechende Strafverfolgung nicht effizient Die Russen stehen am Anfang jeglicher Debat- (Reynolds 2003). te über Rassismus und es wäre höchste Zeit, Weiters wächst laut Sokirianskaia (2008) die diese zu führen“ (Interview mit Szyszkowitz, Jugend in Tschetschenien in einem monoeth- Wien-Moskau 2009). nischen Umfeld auf, ist aufgrund der beiden Kriege stark traumatisiert und hat aufgrund der Somit liegt es an der russischen Führung bzw. weitgehend zerstörten Republik nur schlechte den gesellschaftlichen EntscheidungsträgerIn- Zukunftsperspektiven. Insofern kann diese nen, der multikulturellen Zusammensetzung jüngere Generation auch auf keine memories der Russischen Föderation Rechnung zu tra- of success und memories of multicultural gen und ein friedliches Zusammenleben zwi- existence zurückgreifen, welche jedoch für schen allen ethnischen Gruppen zu fördern. eine Versöhnung zwischen den beiden Grup- Und so kommt auch der aus Tschetschenien pen von großer Bedeutung wären. Schließlich emigrierte Khawasch Bisaev zu dem Schluss, herrscht im politischen und medialen Diskurs in dass der erste Schritt zur Lösung des Konflik- Russland immer noch ein negatives Bild von tes und zur Wiederversöhnung von Russland TschetschenInnen vor, welche als „BanditIn- ausgehen muss: nen“ oder „TerroristInnen“ gebrandmarkt wer- den. Eine humanisierende Darstellung von „Der Krieg geht immer irgendwie weiter und KaukasierInnen in den russischen Massenme- deshalb muss es eine Lösung geben. Um das dien und durch PolitikerInnen wäre jedoch eine Feindbild des ‚Tschetschenen‘ zu entschärfen, wichtige Grundvorrausetzung, um einen Wie- muss sich die russische Politik ändern, aber derversöhnungsprozess in Gang zu setzen. auch die Massenmedien hätten die Macht, Diese negative Darstellung und Stigmatisie- diesem negativen Bild entgegenzuwirken (…) rung findet dann wiederum in gewalttätigen Zunächst müssten somit die politischen und xenophoben Übergriffen gegen Tsche- Machthaber in Russland den Willen haben, tschenInnen in Russland sowie bürokratischer den Konflikt tatsächlich zu lösen“ (Interview mit und polizeilicher Diskriminierung seinen Aus- Bisaev, Wien 2009). druck. Laut Seierstad (2008: 253-310) machen

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Interviews:

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Interview mit Khawasch Bisaev (Vize-Präsident der Europäisch-Tschetschenischen Gesellschaft) am 15.6.2009 in Wien.

Interview mit Andreas Kappeler (Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte, Uni Wien) am 26.5.2009 in Wien.

114

7. Anhang

Abbildung 1: Landkarte von Tschetschenien und vom Kaukasus (Quelle: Hassel 2003: 6).

115

Abbildung 2: Denkmal an die Deportation in Grozny, das im Zuge des zweiten Tschetschenienkrie- ges bereits zum zweiten Mal zerstört wurde (Quelle: Foto eines Denkmals, ausgestellt im Andrej Sak- harov Museum in Moskau; fotografiert von Georg Leitner, Moskau, September 2008).

Abbildung 3: Portrait von Imam Schamil in russischer Gefangenschaft (Quelle: Zelkina 2000: 235).

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Abbildung 4: Fahne der unabhängigen tschetschenischen Republik Ichkeria mit Emblem des Wolfes (Quelle: http://www.chechenpress.co.uk/content/2009/01/17/main01.shtml, Zugriff: 1.7.2009).

Abbildung 5: Bild mit dem Namen „Cherkess Returning from a Raid“, welches 1878 in der populären russischen Zeitschrift „Niva“ erschienen ist (Quelle: Layton 1997: 95).

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Abbildung 6: Terek-KosakInnen zu Beginn der 1860er Jahre, die „papakhas“, „cherkesas“ und Waf- fen tragen, die sie wahrscheinlich von den Bergvölkern erhalten haben. Weiters haben sie auch einen „kinjal“ an ihrem Gürtel befestigt (Quelle: Barrett 1997: 236).

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8. Abstract

Vorliegende Arbeit beschäftigt sich eingehend mit den ethnischen Mobilisierungspro- zessen und der Instrumentalisierung tschetschenischer nationaler Mythen und Sym- bole in den rezenten Tschetschenienkriegen und versucht dabei aus einer sozial- anthropologischen und historischen Perspektive, die Entwicklung der interethnischen Beziehungen zwischen TschetschenInnen und RussInnen seit der russischen Kolo- nialisierung des Kaukasus bis in die Gegenwart nachzuvollziehen. Nach dem Zu- sammenbruch der Sowjetunion versuchte die tschetschenische Unabhängigkeitsbe- wegung die seit Jahrhunderten bestehenden und auf die konfliktreiche Geschichte mit Russland zurückgehenden Mythen des Widerstandes und der Viktimisierung zu instrumentalisieren, um so eine Kontinuität mit der Vergangenheit herzustellen und die eigene Unabhängigkeit in der Gegenwart zu legitimieren. In Bezugnahme auf die „Symbolic Politics Theory“ von Stuart Kaufman sollen dabei die Mechanismen her- ausgearbeitet werden, die zum Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges 1994 geführt haben. Besondere Beachtung finden dabei die Symbole und Mythen der reichhaltigen tschetschenischen Mythologie, die vom Mythos des „ewigen Krieges gegen Russland“ und dem Topos der „militärischen Tapferkeit“ bis hin zum identi- tätsstiftenden Symbol des „Wolfes“ reichen. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich daraufhin den interethnischen Beziehungen zwischen TschetschenInnen und RussInnen seit deren ersten Kontakten, um so auch auf Phasen der friedlichen Koexistenz und kulturelle Gemeinsamkeiten hinzu- weisen, die im Zuge der rezenten Kriege zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden sind. Neben der Wahrnehmung des oft idealisierten kaukasischen Bergvol- kes durch das zaristische Russland, die klassische russische Literatur und kontem- poräre russische Medien soll auch das Verhältnis zu den benachbarten kaukasi- schen Völkern und die Rolle der Religion für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der beiden Gruppen behandelt werden. Vor allem die Darstellung des Tschetschenien- konfliktes als ein „Kampf der Kulturen“ nach Samuel Huntington wird dabei einer kriti- schen Überprüfung unterzogen. Schließlich sollen die Faktoren herausgearbeitet werden, die über die Jahrhunderte hinweg zur Herausbildung einer tschetscheni- schen nationalen Identität geführt haben und Lösungsansätze für eine Verbesserung der interethnischen Beziehungen skizziert werden.

This paper deals with ethnic mobilisation processes and the instrumentalisation of Chechen national myths and symbols in the recent Chechen wars and tries to depict – from an anthropological and historical perspective – the development of the inter- ethnic relations between Chechens and Russians from the Russian colonisation of the Caucasus up to the present. After the collapse of the Soviet Union the Chechen independence movement tried to instrumentalise the myths of resistance and victimi- sation, which developed over the centuries in the framework of the wars with Russia, in order to establish continuity with the past and legitimise the Chechen independ- ence in the present. By referring to Stuart Kaufman’s „Symbolic Politics Theory” this paper tries to work out the mechanisms that led to the outbreak of the in 1994. Special attention is paid to the symbols and myths of the comprehensive Chechen mythology, which range from the myth of the „eternal war against Russia” and the topic of „military braveness” to the identity-defining symbol of the „wolf”. The second part of the paper is dedicated to the interethnic relations between Che- chens and Russians since their first encounters in order to also emphasise phases of peaceful co-existence and cultural similarities, which were increasingly overshad- 119 owed by the recent wars. In addition to the perception of this often idealised Cauca- sian mountain people by Tsarist Russia, classical Russian literature and contempo- rary Russian media also the relation to the neighbouring North Caucasian peoples and the role of religion for the self-perception of these ethnic groups will be elabo- rated on. Especially the depiction of the Chechen conflict as a „Clash of Civilisations” according to Samuel Huntington will be critically examined. Finally it is tried to work out the factors that over the centuries led to the construction of a Chechen national identity and to point out solutions to improve the interethnic relations between Che- chens and Russians.

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Zum Autor:

Georg Leitner (1983) studierte Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und Universität Oslo und spezialisierte sich im Rahmen seines Studiums auf Friedens- und Konfliktforschung. Er war 5 Jahre als Praktikant und Mitarbeiter in der Außenstelle Wien des ÖSFK tätig, assistierte bei der Organisation der Internationa- len Sommerakademien, ko-organisierte und –leitete den jährlichen JungforscherIn- nenworkshop und publizierte mehrere Artikel über Konflikte im Kaukasus. Seit 2010 ist er beim „International Institute for Peace“ (IIP) in Wien beschäftigt und absolviert zurzeit einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt bei einer Menschenrechtsorgani- sation in Armenien.

Danksagung:

Zunächst möchte ich Frau Präsidentin Evelyn Messner sowie Thomas Roithner für die Möglichkeit danken, meine Diplomarbeit im Rahmen der SAFRAN-Reihe des ÖSFK zu veröffentlichen und so einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Weiters bin ich meiner Familie sowie Zsuzsanna Vig für ihre moralische Unterstüt- zung und Geduld im Entstehungsprozess der Arbeit zu großem Dank verpflichtet. Schließlich danke ich auch Franz Zeder, der die Arbeit korrekturgelesen und mit wertvollen Anmerkungen versehen hat.

In der ÖSFK-Publikationsreihe „SAFRAN. Schlaininger Arbeitspapiere für Frie- densforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung“ sind bislang er- schienen:

Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), Thomas Roithner (Hrsg.): Georg Leitner: „Wölfe“ in einem „ewigen Krieg“? Ethnische Mobili- sierungsprozesse und nationale Mythen in den rezenten Tschetschenienkriegen und die tschetschenisch-russischen Ethnizitätsbeziehungen, SAFRAN – Schlaininger Ar- beitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und Nachhaltige Entwicklung, Paper 10, ISBN 978-3-900630-30-0, € 7,--, 123 Seiten, Wien – Stadtschlaining, Mai 2012 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/safran10-leitner.pdf).

Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution (ASPR), Zsolt Sereghy, Sarah Bunk, Bert Preiss (eds.): The Arab Revolutions. Reflections on the Role of Civil Society, Human Rights and New Media in the Transformation Processes, SA- FRAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und Nach- haltige Entwicklung, Paper 09, ISBN 978-3-900630-28-7, 60 pages, Stadtschlaining, April 2012 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/sak2011/safran 09.pdf).

Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), Paul Rie- ner, Moritz Moser, Thomas Roithner (Hrsg.): „Vergessene Kriege“ – Konflikte abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Analysen und Perspektiven einer jungen Forsche- rInnengeneration, SAFRAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und Nachhaltige Entwicklung, Paper 08, ISBN 978-3-900630-29-4, ca. 180 Seiten, Wien – Stadtschlaining, Mai 2012 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/sak2010/safran08.pdf).

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Austrian Study Centre for Peace and Conflict Resolution (ASPR), Michael Lidauer, Thomas Roithner (eds.): Peace, Conflict, and Identity. Social Anthropological Explo- rations on the Continuities and Ruptures between Conflict, Post-conflict, and Peace. SAFRAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nach- haltige Entwicklung, Paper 07, ISBN 978-3-900630-27-0, € 4,--, 54 pages, Wien – Stadtschlaining, March 2010 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/safran07.pdf).

Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), Georg Leit- ner, Andreas Hackl, Thomas Roithner (Hrsg.): Kriege, Konflikte und Gewaltaustra- gung im Wandel – Analysen und Perspektiven einer jungen ForscherInnengenerati- on, SAFRAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung, Paper 06, ISBN 978-3-900630-26-3, € 7,--, 154 Seiten, Wien – Stadtschlaining, März 2010 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/sak2009/ safran06.pdf).

Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), Georg Leit- ner, Rita Glavitza, Thomas Roithner (Hrsg.): Krieg und Armut – Analysen und Per- spektiven einer jungen ForscherInnengeneration, SAFRAN – Schlaininger Arbeitspa- piere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung, Paper 05, ISBN 978-3-900630-25-6, € 4,--, 98 Seiten, Wien – Stadtschlaining, März 2009 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/sak2008/safran05.pdf).

Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), Georg Leit- ner, Rita Glavitza, Thomas Roithner, Alexandra Elbling (Hrsg.): Rohstoff- und Ener- giesicherheit. Analysen und Perspektiven einer jungen ForscherInnengeneration, SAFRAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nach- haltige Entwicklung, Paper 04, ISBN 978-3-900630-24-9, € 4,--, 105 Seiten, Wien – Stadtschlaining, Juli 2008 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/sak2007/safr an04.pdf).

Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK), Rita Glavit- za, Georg Leitner, Thomas Roithner, Alexandra Elbling (Hrsg.): Medien und Krieg. Analysen und Perspektiven einer jungen ForscherInnengeneration, SAFRAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Ent- wicklung, Paper 03, ISBN 978-3-900630-23-2, € 4,--, 52 Seiten, Wien – Stadtschlai- ning, Februar 2007 (abrufbar unter: http://www.aspr.ac.at/sak2006/safran03.pdf).

Rita Glavitza: Failed Somalia? Strategien und Prozesse lokaler Akteure zum Nation- und Statebuilding, SAFRAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung, Thomas Roithner, Alexandra Elbling, Öster- reichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.), Paper 02, ISBN 978-3-900630-22-5, € 2,--, 36 Seiten, Wien – Stadtschlaining, Juli 2006, sowie 2. überarbeitete Auflage, November 2006.

Georg Leitner: Die Bedeutung von Nationalismus im Tschetschenien-Konflikt, SAF- RAN – Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhalti- ge Entwicklung, Thomas Roithner, Alexandra Elbling, Österreichisches Studienzent- rum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.), Paper 01, ISBN 978-3-900630-21-8, € 2,- -, 28 Seiten, Wien – Stadtschlaining, Juli 2006.

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Studienzentrum Friedensburg Schlaining

Das Österreichische Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) hat das Ziel, zur weltweiten Förderung des Friedens und zur Förderung einer friedlichen Kon- fliktlösung auf allen Ebenen beizutragen. Entsprechend engagiert sich das ÖSFK in Forschung, Ausbildung und friedenspolitischer Praxis. Den Ausbildungsschwerpunkt bilden Programme zur Qualifizierung von Fachkräften für Regierungs- und Nichtre- gierungsorganisationen, die sich mit Friedenseinsätzen in Konfliktregionen beschäfti- gen, wie das »International Civilian Peace-keeping and Peace-building Training Pro- gram« (IPT), das »Mission Preparation Training Program for the OSCE« (MPT) und die »Summer Academy on OSCE«. Für die Europäische Union ist das ÖSFK ein wichtiger Partner zur Entwicklung von EU-weiten Ausbildungsstandards und Trai- ningsprogrammen. Seit dem Jahr 2000 betreibt das ÖSFK das Europäische Museum für Frieden. Die viel besuchte deutschsprachige Sommerakademie findet im Jahr 2012 zum 29. Mal statt.

Im Bereich Mediation in Krisenregionen konnten Dialogworkshops und Vermittlungs- projekte in Kooperation mit dem österreichischen Außenministerium durchgeführt werden. Seit 1996 werden spezifische Programme in Südosteuropa, dem Südkauka- sus und Zentralasien – seit 1997 auch in Afrika – durchgeführt.

Konflikt-, Friedens- und Demokratieforschung ist in Zeiten wie diesen stärker gefor- dert als zuvor. Als Antwort auf diese Situation wurde mit Jahresbeginn 2011 ein aus vier Institutionen bestehender, vorerst bis 2013 befristeter Cluster geschaffen und an Österreichs einziger Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (iff) an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Wien und Graz eingerichtet. Die beteiligten Institute bleiben erhalten, eine innovative Vernetzungsstruktur soll aber permanente inhaltliche und strukturelle Zusammenarbeit ermöglichen.

Die European Peace University (EPU), wurde vom Österreichischen Akkreditierungs- rat als Privatuniversität akkreditiert, führt englischsprachige Studienprogramme in »Peace and Conflict Studies«, »European Peace and Security Studies« und »Peacebuilding« durch. Sie verbinden akademische Analyse mit Praxisorientierung und sind durch die Dynamik einer internationalen und multikulturellen Studienge- meinschaft geprägt. Die EPU und das ÖSFK haben beide ihren Sitz in der Friedens- burg Schlaining.

Für seine Aktivitäten hat das ÖSFK 1987 den UN-»Peace Messenger«-Status erhal- ten und 1995, gemeinsam mit der EPU, den UNESCO-Price for Peace Education.

Das ÖSFK veröffentlicht die Reihe »dialog. Beiträge zur Friedensforschung« sowie die Publikationsreihen »workingpapers«, »SAFRAN« (Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung) und »SONIC BOOM« (Schlaining Online International Booklet on Missions and Trainings). Das Institut ver- fügt über eine Infrastruktur mit den in der Burg Schlaining befindlichen Büroräumlich- keiten, dem »Haus International«, der Friedensbibliothek in der einstigen Synagoge, dem Hotel Burg Schlaining und dem Konferenz- und Seminarzentrum in der Burg.

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Seit Jahrhunderten ist das Verhältnis zwischen Tschetschenien und Russland von Kriegen und gewalt- samen Konflikten geprägt, was zur Herausbildung einer reichhaltigen tschetschenischen nationalen My- thologie geführt hat. In diesem Zusammenhang wurde das tschetschenische Volk – u.a. auch in der klas- sischen russischen Literatur – oft als „freiheits- liebend“ und „unbeugsam“ beschrieben, als „Wölfe“, die sich in einem „ewigen Krieg“ gegen den Erzrivalen Russland befinden. Als 1994 der erste Tschetscheni- enkrieg ausbrach, wusste die tschetschenische Natio- nalbewegung diese emotional aufgeladenen Mythen und Symbole geschickt zu nutzen, um so Unterstützung für die Unabhängigwerdung Tschetscheniens zu erlangen.

Welche Rolle kommt der Instrumentalisierung tsche- tschenischer nationaler Mythen und Symbole in den rezenten Tschetschenienkriegen zu? Wie entwickelten sich die interethnischen Beziehungen zwischen TschetschenInnen und RussInnen über die Jahrhunderte hinweg und welche Rolle spielte der Faktor „Religi- on“ in diesem Zusammenhang? Wie kam es unter diesen historischen Rahmenbedingungen zur Herausbildung einer tschetschenischen nationalen Identität und welche Lösungsansätze können zu einer Verbesserung der interethnischen Beziehungen beitragen?

Die vorliegende Arbeit geht obenstehenden Fragen auf den Grund und versucht anhand sozialanthropolo- gischer, politikwissenschaftlicher und historischer Theorien und Erklärungsansätze, die Bedeutung von nationalen Mythen und Symbolen in ethnischen Kon- flikten anhand des Tschetschenienkonfliktes aufzu- zeigen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf kul- turelle und historische Gemeinsamkeiten zwischen TschetschenInnen und RussInnen gelegt, um so angeb- liche „ancient hatreds“ zwischen den Gruppen kri- tisch zu hinterfragen und die Komplexität von eth- nischen und kulturellen Interaktionsprozessen aufzu- zeigen.

SAFRAN Schlaininger Arbeitspapiere für Friedensforschung, Abrüstung und nachhaltige Entwicklung ISBN: 978-3-900630-30-0