Die Naga: Eine Einführung
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Die Naga: Eine Einführung Die Naga: Eine Einführung Der Eintritt der Naga in die geschriebene Weltgeschichte hat ein Datum. Am 24. Februar 1826 unterzeichneten Vertreter des Königreichs Burma und des britischen Militärs den Ver- trag von Yandabo, mit dem die Burmesen auf alle Herrschafts- ansprüche in Assam und Manipur verzichteten. Die westwärts gerichtete Expansionspolitik Burmas – des damals mächtig- sten Königreichs Südostasiens – hatte in den Achtzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts begonnen, als burmesische Truppen das damals unabhängige Königreich von Arakan besetzten und damit erstmals die Ostgrenze des britisch Indi- ens erreichten, die zu jener Zeit ziemlich genau den heutigen Grenzen Bangladeschs und Nordbengalens entsprach. 1817 fielen die Burmesen in Assam ein und 1819 ins unabhängige Königreich Manipur. 1823 eroberten sie auch das Königreich Kachar, ein Schlüsselgebiet für eine mögliche Invasion Ben- galens. Im März des darauffolgenden Jahres erklärte England Burma offiziell den Krieg, der mit dem erwähnten Vertrag von Yandabo zwei Jahre später endete. England besetzte nach und nach ganz Assam und vertiefte seine diplomatischen und mili- tärischen Beziehungen mit Manipur, dem es eine Schlüsselrol- le in der Bewachung und allenfalls Verteidigung der Grenzen zwischen Burma und dem britischen Einflussgebiet zudachte. Britisch Indien hatte den Fuß der Naga-Berge erreicht – die damals noch mit Primärurwald bewachsenen südöstlichen Ausläufer des Himalaya im heutigen Dreiländereck von Indien, Burma und China. ê Abb. 1. Konyak-Mädchen aus Shiong. (CFH 1936) 11 Die ersten Naga, mit denen die Engländer in Berührung ka- Wer heute nach Nagaland fährt, findet eine gänzlich andere men, waren die Tengima (Hutton 1914: 476). Es waren die Kultur vor, als sie in den alten Monographien beschrieben wur- häufig wiederkehrenden Überfälle von Naga-Gruppen auf die de. Die Naga kämpfen heute um eine gemeinsame, stammes- nunmehr britischen Untertanen der Dörfer und Teeplantagen übergreifende Identität, die sich in der Praxis als schwer fassbar Assams – zweiundzwanzig allein im Jahre 1851 –, welche Ver- erweist. Vor allem die junge, urbane Generation empfindet ein geltungszüge, sogenannte ›Strafexpeditionen‹, der Engländer Gefühl der inneren Zerrissenheit. Ihre traditionelle Kultur ist provozierten und schließlich zur sukzessiven Einnahme der weitgehend vergessen und verloren, während einer neuen, glo- Naga-Gebiete führten. Eine Annexion war ursprünglich nicht balen Identität zahlreiche Hindernisse im Weg stehen: ökono- vorgesehen: Das unwegsame, zerklüftete und spärlich besiedel- mische und infrastrukturelle Rückständigkeit, Tribalismus, te Land war für die Kolonialherren strategisch und wirtschaft- der religiöse Fundamentalismus der Elterngeneration, der lich nutzlos, doch konnten sie es auf die Dauer nicht zulassen, schwelende ›Indo-Naga-Konflikt‹ und ein mediales Kultur- dass ihre Schutzbefohlenen als Sklaven oder Kopftrophäen in verständnis aus zweiter Hand, d. h. aus den zahlreichen auslän- den benachbarten Bergen endeten. dischen Programmen der Satellitensender und dem Internet. Im Laufe der zögerlichen und nicht überall erfolgreichen Die Suche nach einer Identität zwischen Kopfjagd und Bibel, Besetzung und Verwaltung von Teilen der Naga-Gebiete zwischen Dorfstruktur und Nationalgefühl, orientiert sich oft entstanden während der nachfolgenden hundert Jahre jene an jenen wenigen Elementen, mittels derer es derzeit noch ge- Berichte, Monographien und Objektsammlungen – häufig ver- lingt, eine Verknüpfung zwischen der alten, traditionellen Kul- fasst bzw. angelegt von britischen Offizieren und Verwaltungs- tur und den heutigen Lebensstilen zu finden. Um diese identi- beamten –, die noch heute das wichtigste Quellen material zu tätsstiftenden Elemente geht es im vorliegenden Buch. den Naga bilden. Das dort gezeichnete Bild von den Naga als stolze Krieger und Kopfjäger und von ihren Verdienstfesten und Ritualzyklen gehört inzwischen der Vergangenheit an. Die vorkolonialen Naga: Terra Incognita Denn mit den Kolonialherren kamen auch die Missionare, die die Naga von den früheren animistisch geprägten Religions- Über die vorkoloniale Geschichte der verschiedenen Naga- formen zum evangelikalen Baptismus konvertierten. Gruppen ist bis heute nur wenig bekannt. Linguistisch gehö- ren die Naga-Sprachen zur tibetobirmanischen Sprachfamilie. Nachdem die ursprünglich weitgehend autonomen ›Dorfrepu- »Alle möglichen Ursprungsorte schrieb man dieser Rasse zu«, bliken‹ der Naga von der britischen Administration zu ›Stäm- bemerkt Hutton. »Man brachte sie einerseits in Verbindung men‹ zusammengefasst worden waren, entstand schon früh mit den Kopfjägern Malaysiens und den Rassen der südlichen im zwanzigsten Jahrhundert eine nationalistische Bewegung, Meere und versuchte andererseits, ihren Ursprung in China die einen eigenen, von Indien und Burma unabhängigen Staat nachzuweisen« (1921a: 8). Und Mills (1926c: xii-xiii) erwähnt forderte. Die Folge war ein blutiger Konflikt zwischen der in- zur Erklärung der zahlreichen, verblüffenden Parallelen zwi- dischen Armee und den Unabhängigkeitskämpfern der Naga, schen Elementen der Naga-Kulturen und solchen Ozeaniens der dazu führte, dass die Naga-Berge nach 1947, also nach der und des indonesisch-philippinischen Inselbogens die Theorie indischen Unabhängigkeit, für Besucher gesperrt wurden. des amerikanischen Ethnologen Fay-Cooper Cole, der ihren Über ein halbes Jahrhundert lang war es sowohl für Ausländer gemeinsamen Ursprung in jenem Gebiet Südchinas sieht, wo wie auch für indische Staatsbürger von außerhalb fast unmög- sich auf vergleichsweise engem geographischen Raum die lich, das Gebiet zu bereisen. Quellen und Oberläufe fünf großer Ströme befinden – des Brahmaputra, Irrawaddy, Salween, Mekong und Jangtse –, entlang derer sie sich im Zuge späterer Migrationen in unter- schiedlichste Richtungen verbreiteten. 12 Die Naga: Eine Einführung é Abb. 2. Asienkarte, basierend auf der Geographia des Claudius Ptolemaeus, erschienen in Venedig 1511. (Geographia 1511) 13 î Abb. 3. Friedensschluss zwischen J.P. Mills und Mongsen, dem Anführer des aufsässigen Dorfes Pangsha. (CFH 1936) 3 Abb. 4. Blick ins Tal des Dikhu-Flusses, der lange die östliche Grenze der britisch verwalteten Gebiete markierte. (HEK 1937) Als früheste Erwähnung der Naga wird – heute insbesondere lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, denn viele andere Grup- von Naga-Intellektuellen selbst – gewöhnlich auf die Geogra- pen dürften zu Ptolemaeus' Zeiten als ›nackt‹ bezeichnet wor- phia des griechischen Philosophen Ptolemaeus verwiesen, den sein. Allerdings plazierten mittelalterliche Kartenmaler, der schon um 150 n. Chr. vom sogenannten Land der ›Nan- die nach Ptolemaeus' Vorgaben zeichneten, die ›Nanga‹ in galogen‹ berichtete: »16. Nördlich der Kirradia (Kirradine)/ ungefähr jenes Gebiet, wo die heutigen Naga leben. Ost-Nepal, in welcher, so wird berichtet, das schönste Mala- bathron wächst, wohnen entlang dem Maiandros-Gebirge In diesem Band wagen zwei Beiträge unterschiedlichster Wis- die menschenfressenden Tameren (Gameren). 17. Nördlich senschaftsrichtungen einen Einblick in die frühe Geschich- des Silbernen Landes/Arakan, in welchem es, so wird berich- te der Naga. Tiatoshi Jamir und Ditamulü Vasa legen mit tet, sehr viele Silberminen gibt, liegt nahe den Besyngiten das ihrem Artikel (siehe S. 323) den Stand der archäologischen Goldene Land; auch dieses hat sehr viele Goldminen, und des- Forschung in Nagaland dar und zeigen einerseits auf, wie die sen Bewohner sind ebenfalls hellhäutig, dicht behaart, klein- Zusammenarbeit zwischen einheimischer Bevölkerung und wüchsig und stumpfnasig. 18. Ferner bewohnen die nördlich- Archäologen fruchtbare Ergebnisse zur Altersbestimmung sten Gebiete zwischen dem Bepyrron-(Bepyron-) Gebirge von Lokalkulturen ergeben kann, andererseits, wie über den und dem Damasa-(Dabasa-) Gebirge die Aninachen, südlich stilistischen Vergleich von Keramik Verbindungen zwischen von diesen wohnen die Indaprathen (Indatrathen), nach die- einzelnen Naga-Gruppen überprüft werden können. Einen sen die Iberingen, dann die Dabasen und bis zum Maiandros- linguistischen Ansatz präsentiert George van Driem (siehe S. Gebirge die Nangalogen, was ›Welt der Nackten‹ bedeutet. 19. 311), der mit seiner Theorie der ›gefallenen Blätter‹ – in Erwei- Und zwischen dem Damasa-(Dabasa-) Gebirge und der Gren- terung zu dem in der Linguistik üblichen Modell des ›Spra- ze zum Land der Sinen wohnen ganz im Norden die Kakoben chen-Stammbaumes‹ – Verbindungen (bzw. deren Fehlen) und südlich von diesen die Basanaren« (Stückelberger & der verschiedenen Naga-Gruppen untereinander und zu ande- Graßhoff 2006). Ob sich dieser Begriff der ›Nangalogen‹ auf ren tibetobirmanischen Sprachen der Großregion beleuchtet. jene Gruppen bezog, die heute als Naga bezeichnet werden, 14 Die Naga: Eine Einführung Kolonialisierung: Die ›Stämme‹ werden geschaffen Bereits die Ahom, die Gebiete des heutigen Assam vom drei- zehnten bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts be- Die britischen Offiziere, denen die Nomenklatur der tribes herrschten, bezeichneten in den Ahom Buranji, ihren Chro- Nordostindiens in vielen Fällen zuzuschreiben ist, legten bei niken, die Bewohner der östlichen Berge als ›Naga‹ (Barua der Benennung von Gesell schaften, denen sie auf ihrem Weg 1985). Je nach deren Herkunftsdörfern oderduar – den Pfaden nach Osten begegneten, eine forsche Unbekümmertheit an aus den Bergen in die Ebene, die sie benützten – unterschie- den Tag: »Das gesamte Bergland